Im Labor der Visionen : Anmerkungen zur phantastischen Literatur : 19 Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 2000-2012 9783940679727

Der Sammelband enthält 19 Aufsätze und Vorträge des bekannten österreichischen Autors, Herausgebers und Kritikers Dr. Fr

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Im Labor der Visionen : Anmerkungen zur phantastischen Literatur : 19 Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 2000-2012
 9783940679727

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Franz Rottensteiner

IM LABOR DER VISIONEN

Franz Rottensteiner

Im Labor der Visionen Anmerkungen zur phantastischen Literatur

19 Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 2000-2012

Dieter von Reeken • Lüneburg

Dr. Franz Rottensteiner wurde 1942 in Waidmannsfeld (Niederösterreich) geboren. Er studierte Publizistik, Anglistik und Geschichte an der Universität Wien. Nach seiner Promotion (1968) zum Dr. phil. war er rund 15 Jahre als Bibliothekar an einem Forschungsinstitut tätig und betreute daneben u. a. die Phantastik- und Science-Fiction-Programme mehrerer Verlage. Dr. Rotten­ steiner ist Herausgeber zahlreicher Anthologien und Verfasser der Bildbände The Science Fiction Book (1975) und The Fantasy Book (1978). Er ist Mitar­ beiter an mehreren Lexika der Science Fiction und Fantasy, u. a. Herausge­ ber des im Corian-Verlag erscheinenden Werkfuhrers durch die utopisch­ phantastische Literatur, und seit 1963 Herausgeber der Zeitschrift Quarhcr Merkur. Seit 1985 ist er freiberuflicher Autor und Vcrlagskonsulent.

Umschlagillustration: Copyright © by Helmut Wenske

Copyright © 2013 für Satz und Gestaltung by Dieter von Recken, Lüneburg Herausgeber und Verlag der DvR-Buchreihe: Dieter von Recken, Brüder-Grimm-Straße 10, 21337 Lüneburg www.dieter-von-reeken.de Druck und Verarbeitung: Schaltungsdienst Lange oHG, Berlin 1. Auflage 2013

ISBN 978-3-940679-72-7

Inhalt Einleitende Bemerkungen ..................................................................... 7

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Die Zukunft der Science Fiction......................................................... 11 Einige Anmerkungen zum sozialkritischen Gehalt von Science Fiction............................................................................... 32

Zur Kritik an der Zukunft ................................................................... 47 Eine kurze Geschichte der Zeitreise ................................................... 72 Science-Fiction-Literatur zwischen Außenseitertum und Bestsellerstatus. Die Subkultur des Science-Fiction-Fandoms......... 84

Religion und Science Fiction ............................................................... 99

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Der „Seelenwanderer“ Paul Busson ................................................. 113

Lovecrafts transhumane Transformationen. Geschichten von der Begegnung mit den maximal Fremden ............................. 132 Erich Dolezal. Science Fiction als Erziehung zur Weltraumfahrt .... 151

Stanislaw Lern und die letzten Dinge .............................................. 160 Solaris. Ein Roman und seine Verfilmungen ................................. 174

Peter Schattschneider. Das Spiel mit der Wirklichkeit................... 189 Wolfgangjeschkes Kurzprosa .......................................................... 199

Michael K. Iwoleits posthumane Zukunft ....................................... 205 5

Herbert W. Franke. Science Fiction als Gedankenexperiment .... 212 Die gespenstische Eufemia Adlersfeld-Ballestrem.......................... 221

Der streitbare Feminismus der Joanna Russ ................................... 236

Mein Freund Kalju Kirde ................................................................. 251

Helmut Wenske. Maler fremder Dimensionen und Welten ......... 257 *

Quellenverzeichnis ............................................................................. 263 Bildnachweis....................................................................................... 266

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Einleitende Bemerkungen ie Beiträge dieses Bandes entstanden aus den verschiedensten Anlässen, oft für ein Publikum, das mit phantastischer Literatur und Science Fiction überhaupt nicht vertraut ist. Das bedingt gewisse Wiederholungen und Feststellungen, die für eingeschworene Fans der phantastischen Gattungen Binsenweisheiten sein mögen. Manche wa­ ren Vorträge, andere Vor- und Nachworte zu Sammlungen von Kurzgeschichten und anderen Büchern, Würdigungen von mir ge­ schätzter Personen - oder entsprangen Einladungen, Beiträge für Sammelbände zu liefern. Ich gehöre zu jenen privilegierten Personen, die ihr Hobby zum Beruf machen konnten, wobei ich in mehrfacher Hinsicht großes Glück hatte. Ich war immer ein unermüdlicher Leser, und zwar aller Arten von Literatur, aber mit einer Vorliebe für alles Phantastische, auch wenn sich mein Interesse - und meine berufliche Beschäftigung mit Texten - nicht darauf beschränkte. Anders als die meisten Fans, die später „Pros“ wurden, habe ich nie Science Fiction geschrieben, sondern immer nur darüber, was natürlich meine Möglichkeiten stark einschränkte. Vom Schreiben von Science Fiction konnten im deutschen Sprachraum zwar immer nur einige wenige leben, von der Herausgabe von SF noch weniger (vom Schreiben von Fantasy ist das heute sehr gut möglich). Manches wurde bezahlt, einiges sogar sehr gut, anderes wieder gar nicht, und ich habe nie auf die Höhe von Ho­ noraren - oder ihr Fehlen - geachtet; irgendwie hat sich das immer ausgeglichen, auch wenn es ungerecht sein mag, dass manche zeitauf­ wändige Arbeiten praktisch nicht honoriert werden, während man andererseits zuweilen für irgendeinen Klacks lächerlich viel bekommt. Ich hatte das Glück, dass ich zuerst im Insel-Verlag, später dann bei Suhrkamp, phantastische Literatur herausgeben konnte, was ich Kalju Kirde verdanke; von Österreich aus, ohne dass ich je in das Verlagsgeschehen als Angestellter direkt involviert gewesen wäre -

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was heute auch kaum mehr ginge. Im Laufe der Zeit beurteilte ich aber auch Texte der verschiedensten Art, meist englische, für alle möglichen Verlage - Zsolnay (wo ich auch einige phantastische Rei­ hen herausgab), die Buchgemcinschaft Donauland (ein österreichi­ scher Buchklub, einst selbstständig, dann Bertelsmann-Ableger), Scherz, Deuticke, Heyne und Piper. Verschiedene Anthologien in Verlagen wie Insel, Suhrkamp, Fischer-Taschenbuch-Verlag, Eich­ born, Scherz kamen dazu - auch amerikanische und englische bei Seabury Press, Harcourt Brace Jovanovich, Liverpool University Press, Wesleyan University Press und anderen. Für den von mir ge­ meinsam mit Michael Koseier herausgegebenen Werkfuhrer durch die utopisch-phantastische Literatur bei Corian habe ich vor allem seltene und obskure phantastische Bücher besprochen. Dass ich klar und direkt schrieb, ohne den germanistischen Jar­ gon, mit dem Lektoren in der Praxis des Verlagswesens nichts anfan­ gen können (sie wollen nur wissen, ob ein Buch etwas taugt und wel­ che Leserkreise sie damit ansprechen können), wurde von vielen Lek­ toren geschätzt. Ich glaube, dass ich ein sicheres Urteilsvermögen ha­ be, und zwar für verschiedene Ebenen literarischen Niveaus (ich habe auch unzählige Heimatromane bewertet!), und ich habe es immer als meine wichtigste Aufgabe betrachtet, Texte, die es wert sind, zugäng­ lich oder wieder zugänglich zu machen. So konnte ich als Herausge­ ber Stanislaw Lern im deutschen Sprachraum bei Insel und Suhr­ kamp durchsetzen und auch international als sein Agent einiges für ihn tun. Das endete ziemlich hässlich, denn in Amerika hat er sich dann von einem Agenten vor Ort mehr versprochen, aber ich kann nicht alles falsch gemacht haben, denn nach meiner Zeit als sein Agent erschien kein einziges neues Buch mehr von ihm - und die letz­ te neue Lem-Ubersetzung in den USA datiert immerhin schon von 1994. Auch die Strugatzkis und einige deutschsprachige Autoren konnte ich ein bisschen fordern. Die Kritik der Science Fiction, die ich durchaus als Amateur be­ trieb, vor allem in meinem eigenen Fanzine Quarber Merkur, aber auch in zahlreichen amerikanischen Publikationen, von Amateurzeit­ schriften wie Riverside Quarterly, Zenith, Australian SF Review, SF Commentary bis zu akademischen Zeitschriften wie Science Fiction Studies und Nachschlagewerken zur SF, war nur ein Nebenprodukt. Es gibt zahlreiche Kritiker, die besser und raffinierter schreiben und gewandt alle Intellektuellen zu zitieren wissen, die gerade modisch sind -Jacques Lacan,Jean-François Lyotard, Michel Foucault, Slavoj

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Dr. Franz Rottensteiner

2izek, Roland Barthes etc. Ich habe mich immer bemüht, möglichst klar und einfach für jene Leser zu schreiben, die vor allem wissen wol­ len, was in einem Buch eigentlich drinnen steht und ob es sich lohnt, sich damit zu beschäftigen. So sind auch die Aufsätze in diesem Band aufzufassen. Mich inte­ ressiert vor allem die Science Fiction, von der Phantastik vor allem die ältere Spielart. Die moderne Fantasy allerdings bräuchte es meinetwe­

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gen nicht zu geben (von einigen schon klassisch gewordenen Werken abgesehen), und ich muss gestehen, dass auch Heft- und TV- bzw. Film-Serien wie Perry Rhodan, Star Trek und Star Wars - wie über­ haupt so ziemlich das ganze SF-Kino - an mir vorübergegangen sind. SF als „Genre im Medienverbund“ (Manfred Nagl) hat mich, muss ich gestehen, nie interessiert, ich war immer extrem auf das geschrie­ bene Wort fixiert, was gewiss eine Beschränkung ist. Als ich 1963 meine eigene kritische SF-Zeitschrift, den Quarber Merkur (er feiert in diesem Jahr seinen Fünfziger), gründete, geschah das ursprünglich in der Absicht, dort meine eigenen Arbeiten zu ver­ öffentlichen und zu sammeln. Wie es aber kam, habe ich dort kaum größere eigene Arbeiten veröffentlicht, nur unzählige Einzelrezensio­ nen sehr unterschiedlicher Qualität, so dass der Quarber Merkur hier gar nicht vertreten ist. Zu manchen Autoren, die ich herausgegeben habe und sehr schätze, habe ich außer Rezensionen nichts geschrie­ ben, vor allem zu den Strugatzkis, woran vor allem Erik Simon schuld ist, weil er die Strugatzkis viel besser kennt und ich nicht glaube, dass ich seinen Analysen etwas Wesentliches hinzufugen könnte. Dieses Fehlen gehört zu den Mängeln dieses Buches. Die meiste SF ist ziemlich schlecht - aber auf sehr vielfältige Art; dennoch gibt es auf diesem weiten Acker der Literatur auch erstaunli­ che Entdeckungen zu machen, und wenn es mir gelingen sollte, Inte­ resse für einige von ihnen zu wecken, so wurden diese Aufsätze nicht vergeblich geschrieben. Mein Dank gebührt außer den Personen, welche die Entstehung dieser Texte angeregt haben, vor allem Helmut Wenske, der die Verwendung des schönen Umschlagmotivs (dessen Original er mir vor vielen Jahren schenkte) gestattete, sowie Rainer Eisfeld und Dieter von Reeken, die sich erfolgreich bemühten, in die Schreibweise der disparaten Texte Ordnung zu bringen. Schließlich bedanke ich mich bei Robert N. Bloch (für Kalju Kirde), Robert Christ, Herbert W. Franke und Susanne Päch, Michael K. Iwoleit, Wolfgang Jeschke und dem Heyne-Verlag, Peter Schattschneider sowie Helmut Wenske da­ für, dass sie Fotografien zur Verfügung gestellt haben.

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Die Zukunft der Science Fiction rovokant gefragt: Hat die Science Fiction überhaupt eine Zu­ kunft? Eine ironische Frage bei einer Literatur, die sich nach ei­ ner weit verbreiteten Meinung mit der Zukunft beschäftigen soll aber in ihren Spitzenwerken doch zumeist die Gegenwart im Auge hat. Hängt das etwa auch mit der Lust am Untergang zusammen, der Katastrophenphantasie, die stets eine Triebfeder vieler SF war, die sich nun auf die Science Fiction selbst richtet? Die Stimmen mehren sich, die das Ende der Science Fiction als Genre der Literatur verkün­ den oder zumindest für diskussionswürdig halten. Mit Mark Twain könnte man antworten, dass die Nachrichten vom Ableben ein biss­ chen übertrieben sind, aber ein Dahinsiechen ist nach dem Boom der siebziger und achtziger Jahre unleugbar. Auf dem Buchmarkt - zu­ mindest in den deutschsprachigen Ländern - fuhrt die Science Fiction inzwischen ein Aschenputteldasein, sie ist ein winziges Nischenpro­ gramm im Meer der Fantasy mit ihren Orks, Elfen, Drachen, Zwer­ gen, Trollen, Magiern, Hexen, dem Liebesleben von Vampiren und Werwölfen, und dem genre-übergreifenden „Mystery“-Brei, der alles mit einer dunklen Brühe von okkulten Geheimnissen, gewürzt mit einem kräftigen Schuss Verschwärungstheorien, überzieht. Das Irrati­ onale feiert Triumphe. Der derzeit geringe Stellenwert der Science Fiction im deutschen Sprachraum hängt zum einen damit zusammen, dass die Jugend kaum mehr liest, und wenn, dann nur die Frauen, die gefühlsbetonte­ re Stoffe vorziehen und sich darum vor allem der Fantasy zuwenden. Jugendliche lernen die Science Fiction vor allem durch Computer­ spiele kennen, und das sind meist Schießspiele, in denen das Reakti­ onsvermögen, weniger das Denkvermögen, trainiert wird. Weiters hat der Niedergang der geschriebenen SF paradoxerweise auch mit dem Erfolg der Science Fiction zu tun. Die tägliche Umwelt ist so voller futuristisch anmutender technischer Vorrichtungen, die

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Zukunft ist bereits in der Gegenwart angekommen, Begriffe aus der Science Fiction sind aus Alltag und Werbung kaum wegzudenken, so dass keine Notwendigkeit besteht, SF zu lesen, und sie gar nicht mehr als SF wahrgenommen wird. Bereits Manfred Nagl hat 1981 von der SF als einem Segment populärer Kultur im Medienverbund gespro­ chen. Science-Fiction-Filme fuhren die Liste der ertragreichsten Filme an, SF findet man im Fernsehen, damit verbundenen Büchern und Serien, auf CD und DVD, in Computerspielen, dem Merchandising. SF hat längst den technologisch orientierten Thriller erobert, Michael Crichton und im deutschen Sprachraum Andreas Eschbach und Frank Schätzing sind Paradebeispiele dafür. Aber auch in der allge­ meinen Literatur gibt es immer mehr SF, die nicht als solche bezeich­ net wird, siehe etwa Audrey Niffeneggers Die Frau des Zeitreisenden (The Time Traveler’s Tale, 2003) die das beliebte Thema der Zeitrei­ se aufgreift; Gore Vidal, Doris Lessing, Philip Roth, Margaret Atwood und viele andere haben Ausflüge in die SF unternommen Zuweilen wird behauptet, dass die Science Fiction in der allgemei­ nen Literatur, im Jargon der SF-Fans als „Mainstream“ bezeichnet, aufgehen wird. Aber von einem allgemeinen Aufgehen der SF in der allgemeinen Literatur, ohne jede Zusatzbezeichnung, kann ebenfalls keine Rede sein. Der Film arbeitet mit der Macht der Bilder, und viele SF-Filme sind denn auch nur eine Abfolge von „Special Effects“ mit den Ikonen der Science Fiction: Robotern, außerirdischen Wesen, die meist als Ungeheuer daherkommen, Raumschiffen und fremden Planeten. Der gedankliche Inhalt ist dagegen oft vemachlässigbar. Aber auch die digitalen Bilder lassen genau betrachtet zu wünschen übrig: Jeder Na­ turfilm der BBC oder jede österreichische „Universum“-Folge zeigt intelligenter gebaute und ästhetisch weit befriedigendere Hervorbrin­ gungen der Evolution - auch als Ungeheuer betrachtet. Die Schwä­ che der menschlichen Phantasie im Vergleich zur Natur hat schon Egon Friedell in seiner Fortsetzung von Wells’ Zeitmaschine, Die Rei­ se mit der Zeitmaschine (posthum 1946, späterer Titel Die Rückkehr der Zeitmaschine), festgestellt: Denn die Wirklichkeit ist viel phantastischer und phantasievoller als alle Klügeleien und Stoppeleien der Dichter. Es ist ihnen zum Beispiel noch niemals gelungen, ein Fabeltier zu ersinnen, das zugleich originell und überzeugend wäre; aber in der Natur stoßen wir immer von neuem auf Modelle sowohl vorwcltlicher als noch lebender Geschöpfe von phantas­ tischstem Einfall, die sie mühelos komponiert hat. Teleskop-Fische, Rä-

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Gore Vida Messias i"i.. M.: : ■■■

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Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977

Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997

dertiere, Seesterne, Seehunde, Flughunde, Vogelechsen, Schrecksaurier! In einer einzigen kleinen Leberblume steckt mehr Konzeption und Gestaltungskraft als in sämtlichen Künstlergehirnen der Welt. Selbst der Drache ist nicht unsere eigene Erfindung, sondern eine Reminiszenz aus der Zeit der Flugreptilien.1

Jüngstes Beispiel ist der Blockbuster-Film Avatar (2009), der aus lauter bekannten Versatzstücken zusammengesetzt ist und gewiss be­ eindruckende Bilder mit einer armseligen Handlung verbindet. Es spricht nicht für den SF-Film, dass den meisten Kritikern als der weit­ aus beste SF-Film noch immer Stanley Kubricks 2001: A Space Odys­ sey gilt, und der stammt immerhin schon aus dem Jahre 1968. Die Ansicht ist weit verbreitet, dass die geschriebene Science Fiction an­ spruchsvoller ist als die filmische. Unter den Liebhabern der Gattung gibt man sich gerne auch der beruhigenden Wunschvorstellung hin, dass die SF von eher primitiven Formen sich im Lauf der Zeit weiter­ entwickelt hat. Als solche krude Form galt die „space opera“ (in Ana­ 1 Egon Friede!!: Die Reise mit der Zeitmaschine. München: R. Piper & Co. 1946, S. 19f.

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logie zum Western, den „horse operas“). Der Begriff, einst abwertend gemeint, für märchenhafte Geschichten, „Weltraumopern“ mit ihren mit „Blastem“ (Strahlenwaffen, inzwischen Lasern) ausgerüsteten Helden, die schöne Frauen vor Ungeheuern oder bösen Schurken ret­ ten, die ihr Leben oder ihre Unschuld bedrohen, gegen schurkische Tyrannen kämpfen oder eine Bedrohung der ganzen Erde abwehren müssen, gilt inzwischen fast als Adelszeichen. Den Triumph der Space Opera kann man George Lucas’ Erfolgsprodukt Star Wars (4977) an­ setzen, das die Rückkehr dieser modernen Mystico-Technomärchen auch in die geschriebene Literatur bedeutete. Mit allen tie-ins sind die Star-Wars-Filme das weitaus erfolgreichste Erzeugnis der Filmindust­ rie. Nichts verschwindet in der SF wirklich, weil es überholt wäre, al­ les kehrt wieder, und es ist kein Geheimnis, dass die meiste SF von sehr geringer Qualität ist. 90 % von allem ist Schund, ist ein bekanntes Diktum des SF-Schriftstellers Theodore Sturgeon. Mittlerweile ist die Space Opera auch auf einer höheren Stufe salonfähig geworden; für den Kritiker Istvan Csicsery-Ronay etwa ist sie die reinste Verkörpe­ rung aller Tugenden der SF, und ein beträchtlicher Teil der gegen­ wärtigen (und wohl auch der künftigen) SF besteht aus Space Operas, welche die Möglichkeit bieten, vor einem gewaltigen galaktischen Hintergrund, in dem der Raum zur Unendlichkeit und die Zeit zur Ewigkeit wird, eine Galerie der seltsamsten Fremdwesen und planeta­ ren oder Weltraum-Gesellschaften mit futuristischen Techniken (vor allem Waffen, Raumschiffe und Weltraumhabitate) auszubreiten. Die verschiedensten Kulturen zeichnen sich meist hinsichtlich Farbigkeit und Bizarrerie weniger durch kognitives Potenzial aus, sie sind voller übersteigerter Seltsamkeiten. Eine gewisse Entwicklung zu höherer Komplexität gibt es in der Tat in der SF, aber sie ist nicht linear zu sehen und trifft beileibe nicht für die Gesamtheit zu, denn es ist viel­ mehr eine Fragmentarisierung, eine Aufspaltung der SF in viele Sub­ formen, aufgetreten. D i e SF, als einheitliche Form wie in anderen Genres der Unterhaltungsliteratur, gibt es nicht. Es gibt bis heute keine unumstrittene Definition der Science Ficti­ on, und jeder Versuch einer Einigung führt nur zu blutigen Nasen, wie es der SF-Kritiker Dämon Knight einmal ebenso drastisch wie treffend ausdrückte. Es herrscht Uneinigkeit darüber, ob die SF ein Genre, eine Gattung oder ein Modus des Erzählens sei. Der SFForscher Hans-Edwin Friedrich nennt die SF, im Unterschied zum Kriminalroman etwa, ein „Total-Genre“, das die verschiedensten Formen umfasst. 14

Zu den Subformen der SF zählt die „military' SF“, die mit Vorlie­ be militärische Konflikte im Weltraum ausmalt, Schlachten im Welt­ raum zwischen gewaltigen Raumschiff-Verbänden und Landungsope­ rationen auf anderen Planeten. Ebenso gibt es vielfältige Beziehungen zum Agenten- und zum Kriminalroman - und zum historischen Ro­ man. Man denke an die beliebten „future histories", von Robert A. Heinlein bis zu den Strugatzkis. Die SF beschäftigt sich auch nicht notwendigerweise mit der Zukunft, es gibt eine Richtung, die Parallel­ oder Alternativwelten entwirft, kontrafaktische Geschichtsabläufe, die als Allohistoria, auch als Parahistorie oder Uchronie bezeichnet wird und die nicht fragt, „Was wäre wenn“, sondern „Was wäre gewesen wenn?“ Zuweilen wird dies mit der Viele-Welten-Theorie der Quan­ tenphysik gerechtfertigt. Diese Subgattung erfreut sich gegenwärtig großer Beliebtheit, was sich vielleicht auch daraus erklärt, dass jede SF, die eine Zukunft entwirft, die nicht eingetreten ist, eine Alternativ­ welt erschafft. Eine einflussreiche Definition ist die von Darko Suvin, der die SF ein literarisches Genre nennt, „dessen notwendige und hinreichende Bedingung das Vorhandensein und das Aufeinanderwirken von Ver­ fremdung und Erkenntnis sind, und deren formaler Hauptkunstgriff ein imaginativer Rahmen ist, der als Alternative zur empirischen Um­ welt des Autors fungiert“2. Was u. a. die überraschende Folge hat, dass Suvin 90-98 % aller SF als nicht zur SF gehörig ansieht. Die meisten Definitionen stellen auf einen Zusammenhang mit Wissenschaft und Technik ab und die Möglichkeit, imaginierte Wirk­ lichkeiten menschlicher Erfahrung im narrativen Medium zu untersu­ chen. Brauchbar ist z. B. die von Kingsley Amis, in seinen New Maps of Hell (1960): „Science Fiction ist jene Klasse von Prosaerzählungen, die eine Situation darstellt, die in der Welt, die wir kennen, nicht ent­ stehen könnte, die jedoch hypothetisch auf Basis einer Neuerung in Wissenschaft oder Technik, oder Pseudo-Wissenschaft oder PseudoTechnik ob menschlichen oder außerirdischen Ursprungs behandelt wird.“ 1 ■ Darko Suvin: Die Poetik der Science Fiction. Zur Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung (Suhrkamp-Taschenbuch 31). Frankfurt/Main: Suhr­ kamp 1979, S. 27 ’ „Science Fiction is that class of prose narrative treating of a situation that could not arise in the world we know, but which is hyothesised on the basis of some innovation in science or technology or pseudoscience or pseudo-technologv, whether human or extra-terrestrial in origin.“ Kingsley Amis: New Maps of Hell. A Survey ofScience Fiction. London: The Science Fiction Book Club 1962, S. 18

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Typischerweise erschafft die SF nach Friedrich eigengesetzliche fiktionale Welten und kann mit Hilfe einiger formaler Operationen jegliches Gattungsmuster transformieren. Der Name Science Fiction könnte darauf hinweisen, dass diese Literatur eine besonders innige Beziehung zur Wissenschaft hat. Science Fiction entwirft denn auch meist Konstellationen des Möglichen, zuweilen sehr weit in Raum (andere Galaxien) und Zeit entfernt, beschreibt deren Auswirkungen auf Gesellschaft und Men­ schen und verlängert extrapolierend reale wissenschaftliche und tech­ nische Entwicklung und erweitert sie hypothetisch um fiktionale Spe­ kulationen. Die Unterform der so genannten Hard Science Fiction legt besonderen Wert auf naturwissenschaftliche Faktengenauigkeit. Im Mittelpunkt dieser Geschichten stehen die Naturwissenschaften wie Kosmologie, Physik, Biologie (Gentechnik) und technische Fort­ schritte wie Nanotechnik. Gerade Naturwissenschaftler, die SF lesen, sind oft gar nicht an der literarischen Qualität interessiert, sondern lesen die SF allein wegen ihrer „Ideen“. Es ist auch nicht zu leugnen, dass unter den Autoren der Science Fiction viele mit wissenschaftli­ cher Bildung oder sogar praktizierende Wissenschaftler sind. Die Wissenschaft der Science Fiction kann aber wesentlich nicht die Wissenschaft von heute sein, sondern die fiktive Wissenschaft der Zukunft. Gregory Benford, ein amerikanischer Physikprofessor an der University of California in San Diego und prominenter Autor von „hard SF“, schreibt denn auch, dass diese Art erhöhten Wert auf die Richtigkeit der Fakten legt, sich jedoch Freiheiten bei der Theorie he­ rausnimmt. Nun lassen sich zwar wissenschaftliche Entwicklungen in die Zukunft verlängern, was aber die unausweichliche Konsequenz hat, dass die SF, wenn sie absehbare Entwicklungen extrapolativ in die Zukunft verlängert, sich nur mit minder wichtigen Entwicklungen auseinandersetzen kann, weil die wahrhaft revolutionären Entdeckun­ gen und Erfindungen nicht vorhersehbar sind. Was die SF richtig vor­ hergesehen hat, hängt immer mit den alten Sehnsüchten der Mensch­ heit zusammen, wie dem Traum vom Fliegen. Ihre Sehnsucht galt eher dem künstlichen Menschen, den Androiden und Robotern, weni­ ger gänzlich neuen Entwicklungen, wie dem Computer und den In­ formationstechnologien. Die historische Entwicklung des Genres Science Fiction, das den Namen der Wissenschaft emblematisch im Titel trägt, wird gewiss durch die Interaktion mit der realen Welt und ihrer Wissenschaft beeinflusst, was sich in der zunehmenden Beschäf­ tigung etwa mit Gentechnik, virtuellen Welten, Computervernetzung,

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in kosmologischen Theorien wie Stringtheorie, schwarzen Löchern, Wurmlöchern und dgl. zeigt, ebenso aber auch durch innerliterari­ sche Entwicklungen innerhalb der Science Fiction selbst. Anders ge­ sagt, die Probleme, mit denen sich die Science Fiction häufig oder vorwiegend beschäftigt, entsprechen nicht notwendigerweise den Problemen, mit denen sich die Wissenschaft vorrangig beschäftigt oder die als vordringlich für die künftige Entwicklung der Menschheit und der Welt gelten. Bei vielen SF-Themen handelt es sich eher um literarische Motiv­ gruppen, die mit Vorliebe behandelt werden, weil sie ein besonderes Potenzial für dramatische Möglichkeiten aufweisen, obwohl ihr Reali­ tätscharakter zweifelhaft ist, oder sie sogar schlechterdings als unmög­ lich gelten. Ein Beispiel für die erste Gruppe sind die paranormalen Phänomene, von denen nach überwältigend umfangreicher Literatur noch immer nicht feststeht, ob es sie überhaupt gibt. Ein Beispiel für (physikalische) Unmöglichkeit sind Zeitreisen und die Möglichkeit, vermittels Eingriffen in der Zeit, den Geschichtsverlauf zu verändern: das berühmte Großvaterparadoxon: Was wäre, wenn man in der Zeit zurückreiste und den Großvater umbrächte, bevor er Gelegenheit hatte, den Vater zu zeugen? Zeitreisen mögen unmöglich sein, aber sie öffnen ein grenzenloses Feld für intellektuelle Spiele, Gedankenex­ perimente, bei denen die Autoren darin wetteifern, sich möglichst raf­ finierte Paradoxa als Resultat von Zeitreisen auszudenken (eines der elegantesten Beispiele ist Robert A. Heinleins „All you Zombies“, in der der Held zu seiner Mutter und zu seinem eigenen Vater wird, buchstäblich sich selbst ex nihilo erschafft) - oder umgekehrt Randbe­ dingungen, mit denen sich Paradoxa vermeiden lassen. Die Entwicklung der Science Fiction hängt natürlich auch sehr von den Autoren und Herausgebern ab, welche talentierte Schöpfer es unter ihnen gibt, die andere Autoren beeinflussen. Die seinerzeitige geradezu missionarische Voreingenommenheit des Herausgebers des Magazins Astounding Science Fiction (später Analog Science Fact & Science Fiction), John W. Campbell, im Hin­ blick auf PSI-Phänomene hat etwa dazu geführt, dass viele Autoren Geschichten nach seinen Erwartungen zurechtschneiderten. Es haben sich in der Science Fiction ferner gewisse Konventionen ausgebildet, die von einzelnen Autoren geschaffen oder wesentlich beeinflusst und in der Folge auch von anderen Autoren übernommen wurden. Musterbeispiel hierfür sind Asimovs drei Gesetze der Robo­ tik, die da lauten: 17

1. Ein Roboter darf kein menschliches Wesen (wissentlich)4 ver­ letzen oder durch Untätigkeit gestatten, dass einem menschli­ chen Wesen (wissentlich) Schaden zugefügt wird. 2. Ein Roboter muss den ihm von einem Menschen gegebenen Befehlen gehorchen - es sei denn, ein solcher Befehl würde mit Regel eins kollidieren.

3. Ein Roboter muss seine Existenz beschützen, solange dieser Schutz nicht mit Regel eins oder zwei kollidiert.

Das sind ziemlich vage Regeln, die sich technisch kaum umsetzen lassen, zumal man endlos darüber diskutieren kann, was z. B. „Schaden“ bedeutet. Eine weite Auslegung des Begriffs könnte zu ei­ ner völligen Entmündigung der Menschen fuhren, wie es etwa Jack Williamson schon in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in seinem Roman Wing 4 (The Humanoids, 1949) dargestellt hat. Stanislaw Lern hat argumentiert, dass ein Roboter, der diesen drei Gesetzen gehorcht, notwendigerweise dumm ist, weil ihm viele Denk­ möglichkeiten verschlossen sind. Der Einwand scheint mir nicht be­ rechtigt, es kommt darauf an, wem man ontologisch Priorität bei­ misst: dem Denken oder dem Handeln. Es ist denkbar, dass eine Ma­ schine zwar alles Mögliche überlegen und in Erwägung ziehen kann, aber dennoch völlig machtlos wäre, aufgrund „böser“ Gedanken zu handeln. Eine solche „Einschränkung“ müsste allerdings in jedem denkenden Wesen, auch einer denkenden, bewussten Maschine, zu gewaltigen Konflikten führen, da sie sich ihrer „Sklaverei“ bewusst sein müsste und diese wohl als unerträgliche Fessel empfinden würde, und es ist anzunehmen, dass eine Maschine ohne alle Beschränkun­ gen weit effektiver wäre. Die drei Robotergesetze sind daher eher eine literarische Konven­ tion, vergleichbar mit Sherlock Holmes’ Methode der Deduktion: „Wenn man alles ausgeschaltet hat, was unmöglich ist, bleibt am En­ de etwas übrig, das die Wahrheit enthalten muss“, und Roboterge­ schichten, die sich an die drei Gesetze halten, beziehen ihren Reiz daraus, dass die Autoren Fälle konstruieren, in denen eine scheinbare Verletzung dieser Gesetze vorliegt, und dann zeigen, dass diese An­ nahme irrig war und die Gesetze in Wahrheit nicht durchbrochen wurden, dieser Eindruck lediglich aus einem unvollkommenen Ver­ ständnis der Robotergesetze resultierte. 4 „Wissentlich“ zusätzlich in Die nackte Sonne (The Naked Sun. 1957)

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BIBLIOTHEK DER SCIENCE FICTION LITERATUR

1 Jack Williamson

WING 4

Roman

Düsseldorf: Rauch 1952

München: Heyne 1986

Die SF kann keine Wissenschaft betreiben, aber sie kann, abgese­ hen von der eher trivialen Funktion, (populär-)wissenschaftliche Kenntnisse zu vermitteln (es gibt Zeugnisse von Wissenschaftlern, die belegen, dass ihr Interesse für die Wissenschaft durch SF geweckt wurde, und vor allem viele Jugendbücher widmeten sich der Förde­ rung des „Weltraumgedankens“), sich der Rhetorik der Wissenschaft bedienen und wissenschaftliches Denken in Aktion zeigen. Die SF kann aber auch die Wissenschaft problematisieren. Die Ziele von Wis­ senschaft und Literatur sind dabei jedoch gegensätzlicher Art. Wäh­ rend die Wissenschaft nach Erkenntnisgewinn, Vereinfachung, dem Herausarbeiten allgemeiner Gesetze strebt, zielt die Literatur auf Am­ bivalenz, Vieldeutigkeit, Welthaltigkeit, konkrete Situationen und Handlungsverläufe. Literarisch ambitioniertere SF-Autoren haben sich deshalb ver­ mehrt den „weichen Wissenschaften“ wie Psychologie und Soziologie zugewandt, dem gesellschaftlichen Umfeld des Menschen, utopischen und antiutopischen Gesellschaftsentwürfen (gerade im deutschen Sprachraum galt ja die Utopie oft als eigentliche Wurzel der SF) oder auch philosophischen Fragestellungen, bis hin zur Theologie. Der Kritiker Adam Roberts sieht die SF geradezu als theologisches Genre. In vielen SF-Texten ist von den letzten Dingen die Rede: von Endzeit,

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von der finalen Bestimmung des Menschen. Man hat behauptet, und ich stimme dem zu, dass die Zentralfrage der Science Fiction die nach der Natur des Menschen, seinen Konstanten und seiner Wandlungsfä­ higkeit, sei. Das hat der englische Autor Brian W. Aldiss in seiner Geschichte der SF, Der Jahrmilliarden-Traum (Billion Year Spree, 1973) nachdrücklich betont. Seine Definition der Science Fiction lau­ tet denn auch: Science Fiction ist die Suche nach einer Definition des Menschen und seiner Stellung im Universum, die vor unserem fortgeschrittenen, aber verunsicherten Stand des Wissens bestehen kann, und sie ist im allgemei­ nen in einer romantischen oder postromantischen Weise gehalten, wie sie durch die „Gothic novel“ geprägt wurde. ’

Was auch heißt: die SF ist neuartig im Inhalt, aber altmodisch in der Form der Erzählung. Die Vorstellung von den „zwei Kulturen“, einer naturwissen­ schaftlich und einer geisteswissenschaftlich geprägten, wie sie vor al­ lem von C. P. Snow entwickelt wurde und der auch SF-Autoren wie etwa der österreichische Physiker H.W. Franke anhängen, ist häufig kritisiert worden, aber sie hat doch sehr viel für sich, und eine Vorah­ nung davon findet sich schon in Robert Musils Der Mann ohne Ei­ genschaften (1930), ein Roman, der übrigens mit einer meteorologi­ schen Schilderung beginnt, wie man sie in dieser Exaktheit in kaum einer wissenschaftlichen Schilderung in einem SF-Roman findet. Mu­ sil spricht von „zwei Geistesverfassungen“, die einander nicht nur bekämpfen, sondern die gewöhnlich, was schlim­ mer ist, nebeneinander bestehen, ohne ein Wort zu wechseln, außer daß sie sich gegenseitig versichern, sic seien beide wünschenswert, jede auf ihrem Platz. Die eine begnügt sich damit, genau zu sein, und hält sich an die Tatsachen; die andere begnügt sich nicht damit, sondern schaut im­ mer auf das Ganze und leitet ihre Erkenntnisse von sogenannten ewigen und großen Wahrheiten her. Die eine gewinnt dabei an Erfolg, und die andere an Umfang und Würde. Es ist klar, daß ein Pessimist auch sagen könnte, die Ergebnisse der einen seien nichts wert und die der anderen nicht wahr. Denn was langt man am Jüngsten Tag, wenn die menschli­ chen W’erke gewogen werden, mit drei Abhandlungen über die Ameisen­ säure an, und wenn es ihrer dreißig wären? Andererseits, was weiß man ■’ Brian W. Aldiss: Der Milliardeiijaluv-Traiim. Die Geschichte der Science Fiction (Bastei-Lübbe-Taschenbuch 28160). Bergisch Gladbach: Bastei-Lübbe 1987, S. 30

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vom Jüngsten Tag, wenn man nicht einmal weiß, was alles bis dahin aus der Ameisensäure werden kann?!6

Es müsste in der Literatur möglich sein - und auch wünschens­ wert -, eine imaginierte, von der Wissenschaft weitgehend bestimmte Welt nicht nur phänomenalistisch zu beschreiben, sondern auch die Prinzipien zu erläutern, anhand deren sie funktioniert, sie theoretisch zu durchdringen, ohne auf die „großen und ewigen Wahrheiten“ zu verzichten. Wenn Science Fiction als eigenes Genre eine Berechtigung hat, dann nur aufgrund bestimmter Inhalte: weil sie sich literarisch mit Dingen beschäftigt, die gemeinhin in der Literatur ignoriert (oder, wenn sie überhaupt vorkommen, sogar dämonisiert) werden, nämlich dem naturwissenschaftlich-technischen Denken. Natürlich, wenn in der Literatur ein Autor beschreibt, wie sich jemand rasiert, wird er den Leser nicht mit einer Beschreibung langweilen, wie ein so alltägli­ cher Gegenstand wie ein Rasierapparat funktioniert. Aber in der SF, wenn etwas beschrieben wird, was es noch nicht gibt, sollte man mei­ nen, hat der Leser das Recht zu erfahren, wie es um die Prinzipien dieses Funktionierens steht. Vor allem im deutschen Sprachraum hat man das Gedankenexpe­ riment, das Ausloten zukünftiger Möglichkeiten, von Hypothesen, eine Denkweise des „Als ob“ immer als vornehmste Aufgabe und Daseinsberechtigung für SF angesehen. Eine solche SF würde auch hinter die Oberfläche der Dinge blicken, nicht nur eine andere Welt entwerfen, und sich mit den Grundlagen und Gesetzen beschäftigen, anhand derer diese Welt funktioniert. Selbst jemand wie Hans Jonas sieht in seinem Buch Das Prinzip Verantwortung in der SF eine imaginative Kasuistik am Werk, die der Aufspürung und Entdeckung noch unbekannter Prinzipien dient. „Die ernste Seite der science fiction liegt eben in der Anstellung sol­ cher wohlinformierter Gedankenexperimente, deren plastischen Er­ gebnissen die hier gemeinte heuristische Funktion zukommen kann.“ 7 Wenn ein Gedankenexperiment sinnvoll sein soll, muss es fest umrissene, exakte Parameter und originelle Fragestellungen aufweisen was in der Science Fiction leider selten der Fall ist. Soweit SF Massen­ literatur ist, dominiert das Wiederkäuen ewig gleicher, nur leicht vari­ ierter Inhalte. Für das Gedankenexperiment mit seinen sehr konkre­ *' Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften I. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, S. 248 ' Hansjonas: Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt/Main: Insel 1979, S. 67fT.

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ten Fragestellungen bietet sich vor allem die kürzere Erzählung an die lange die SF dominierte, aber aus der gegenwärtigen deutschen kommerziell bestimmten Verlagslandschaft, wo die Verlage die Kurz­ geschichte furchten wie der Teufel das Weihwasser und umfangrei­ che, platte Romane dominieren, völlig verschwunden ist. Die letzte bedeutendere Entwicklung in der SF war der so genann­ te Cyberpunk. Der Cyberpunk war meiner Ansicht nach so erfolg­ reich, nicht weil er wesentliche Aussagen über die Zukunft der Infor­ mationsgesellschaft gemacht hätte, sondern weil er einen Nerv der Zeit getroffen hat. Die Idealgestalt des Cyberpunks ist der „Hacker“, der keine Ahnung von den theoretischen Grundlagen seines Handelns hat, aber intuitiv das Richtige tut, und der als einsamer Konsolencow­ boy einerseits den Big Corporations, welche den modernen Dschun­ gel der krebsartig wuchernden Städteagglomerationen beherrschen, als Söldner dient, sich andererseits mit ihnen anlegt. In diesen Roma­ nen gibt es nichts an abstrakten Denkprozessen, der Cyberspace ist ein geometrisch beschriebener poetischer Raum, offensichtlich beein­ flusst vor allem von Computerspielen, der mit beliebigen Inhalten ge­ füllt werden kann und wird, von denen einige Extensionen menschli­ cher Akteure sind, andere KIs (Künstliche Intelligenzen) heißen, aber auch „Voodoo-Götter“ auftreten. Hier trifft die oft zitierte Aussage des Futurologen und SF-Autors Arthur C. Clarke zu, dass jede genü­ gend fortgeschrittene Technik von Magie ununterscheidbar ist. Die Zauberworte in der modernen SF heißen Info-, Quanten-, Nano-, Cyber-, Astro-, Psycho-, Xeno-, Sozio-Physik. Die letzte Tendenz geht gegenwärtig zur „Singularität“, die der SFAutor Vernor Vinge in seinem einflussreichen Essay „The Coming Technological Singularity“ 1993 erstmals formuliert hat und die der „Zukunftsdenker“ Ray Kurzweil mit dem Schlachtruf „The Singularity is Near“ aufgegriffen hat, der sie für spätestens das Jahr 2049 voraus­ sieht. Kurzweil bezeichnet die „Singularität“ als eine zukünftige Zeit­ spanne, in der die Geschwindigkeit des technischen Wandels so rasch sein wird und seine Auswirkungen so tief, dass das Menschenleben irre­ versibel verändert wird, so dass alle unsere althergebrachten Anschau­ ungen von Sinn ihre Bedeutung verlieren, sogar der Tod. Er meint, dass innerhalb weniger Jahrzehnte auf Information basierende Techno­ logien jedwedes menschliche Wissen und alle menschlichen Fertigkei­ ten, einschließlich der Fähigkeit zum Erkennen von Mustern und zum Lösen von Problemen, letztlich auch die gefühlsmäßige und moralische Intelligenz des menschlichen Gehirns umfassen werden. Und dass die

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London: Chatto & Windus 1932

Frankfurt/Main: Fischer 1993

Veränderungen, die diese technischen Entwicklungen mit sich bringen, das Gefüge der menschlichen Geschichte zu zerreißen scheinen. Die Singularität ist der Augenblick, wenn der Mensch eine tech­ nische Schwelle überschreitet und zu etwas Transhumanem wird. Das exponentielle Wachstum der Rechenleistung von Computern, Nanoproduktionsweisen und das Geningenieurswesen wird die Natur des Menschen grundlegend verändern. Der Mensch wird entweder von Denkmaschinen, Kls (Künstlichen Intelligenzen) abgelöst oder eine innige körperliche und geistige Gemeinschaft mit Maschinen eingehen. Wie das geschehen soll, ist völlig unvorstellbar, was einer­ seits ein Handikap für Autoren ist, andererseits ein Freibrief für unge­ hemmtes Spekulieren. Der Weg ist das Ziel, das schrankenlose, expo­ nentiell beschleunigte Wachstum der Computer-Kapazitäten. Wir haben, wie es Henry Miller vor langer Zeit in seinem Essay über lf Siehe Ray Kurzweil: Homo heben im 21. Jahrhundert it.i» bleibt vom .Menschen.' München: Leon 2000; KI. Das ¿eittiher der künstlichen Imelligen/.. München. Wien: Carl Hauser 1993. Sehr kritisch dazu Michael K. Koleit: „Prophet der Singularität. Die leere Zukunft des Ray Kurzweil". in Sascha Mamezak, Wolfgang Jeschke iHrsg.}: Das Science Fiction Jahr 2007. München: Heyne 2007, S. 537 Ü63

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Rimbaud 9 ausgedrückt hat, „Kenntnisse ohne Weisheit“, und es gilt, was Hans Jonas über die Maßlosigkeit dieses Nihilismus gesagt hat, nämlich, dass sich „größte Macht mit größter Leere paart, größtes Können mit geringstem Wissen davon, wozu“ l0. Die Schilderung ei­ ner Superintelligenz ist ein gravierendes Problem für den Schriftstel­ ler, denn es fallt jeder fiktiven Figur in einem erzählerischen Werk schwer, intelligenter als sein Autor zu sein; und völlig unmöglich ist es, einer Figur Motive zuzuschreiben, die sich menschlicher Vorstellungs­ kraft entziehen, so dass eben in vieler SF Figuren auftreten, die Robo­ ter oder KIs heißen, aber sich nicht essenziell von Menschen unter­ scheiden. Höhere Intelligenz kann sich in der Literatur nur sprachlich ausdrücken, und an dieser Ausdrucksfahigkeit mangelt es den Autoren meist, und gerade die modernen Kommunikationsformen wie das In­ ternet führen oft zu einer sprachlichen Verarmung - und zu einem Wust erdrückender pseudotechnischer Begriffe. Der innovativste SFRoman einer fortwährenden technischen Entwicklung bis zur Singu­ larität and darüber hinaus ist Accelerando (2005) von Charles Stross, und er zeigt die Grenzen der Methode auf, weil bald auch die Gren­ zen der Verständlichkeit erreicht sind und das Interesse des Leser nicht mit abstrakten Erwägungen, sondern vor allem mit exotischen Eigenheiten seiner Entitäten geweckt und gefesselt werden soll. Und mit einer Neigung zum Bizarren, worin sich zeigt, dass Aldiss recht hat und die SF in der Tradition des gotischen Schauerromans steht und sich einer romantischen bzw. postromantischen Erzählweise be­ dient. In der Fortsetzung von Accelcrando, Glasshouse (2006), wird es rasch peinlich, wenn die Menschen einer solchen nanotechnischen Informationszukunft versuchen, soziale Mikrostrukturen der Vergan­ genheit im Realexperiment zu erforschen.

Eine Lieblingsidee der neuesten SF ist die Vorstellung, dass der Geist des Menschen ein Informationspaket, ein Programm ist, das beliebig in Computer hinaufgeladen werden und dort virtuell laufen kann bzw. auch wieder aus der Maschine ins Fleisch heruntergeladen werden kann. Philosophisch gesehen ist das eine informationstechni­ sche Umsetzung der bekannten ontologischen Dichotomie von Geist und Stoff. Der Stoff, das ist jetzt die Hardware, also der Computer 9 Henry Miller: Vom großen Aufstand. Henry Miller über Rimbaud. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1976 10 Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. V ersuch einer Ethik dir die tech­ nologische Zivilisation. Frankfurt/Main: Insel 1979, S. 57

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aber auch der menschliche Körper, der Geist die Information, Be­ wusstsein, die Persönlichkeit des Menschen, die als Programmpaket aufgefasst wird, das sich eindeutig vom Stoff, der Materie trennen lässt. Diese Vorstellung erscheint einigermaßen naiv und wird der Komplexität des Problems schwerlich gerecht, weil die geistigen Pro­ zesse des lebenden Gehirns kaum vom materiellen Substrat, den Le­ bensfunktionen, zu trennen sind. Die Vorstellung, dass man einen Menschen digitalisieren könne, geht letztlich auf Norbert Wiener zurück, der schon in Mensch und Menschmaschine (1952) meinte, dass der Mensch in Information ver­ wandelt, „telegrafiert“ werden könnte. Allerdings mit dem wesentli­ chen Unterschied, dass Wiener noch an den ganzen Menschen dachte, in seiner biologisch-genetischen Beschaffenheit, ohne eine Trennung von Körper und Geist oder Hardware und Programm. In manchen neueren SF-Romanen, etwa denen von Richard K. Morgan, wechseln die Figuren beliebig von der Maschinenexistenz in eine fleischlich­ körperliche, wobei nicht einmal der ursprüngliche Körper reproduziert wird, sondern die Persönlichkeit in beliebige „Sklavenkörper“ überge­ hen kann, was so etwas wie eine informationstechnische positiv gesehe­ ne Variante dämonischer Besessenheit ist. Merkwürdigerweise spielt dabei die Beschaffenheit des Wirtskörpers, das komplexe genetische Gefüge der Zellen, der neuronalen Verbindungen, so gut wie keine Rolle, denn es treten bei dieser Übertragung, einer Abart der Metempsychose, der Seelenwanderung, keinerlei Probleme auf. Bedenkt man, dass schon ein so einfacher Vorgang wie eine Blut­ übertragung infolge der verschiedenen unverträglichen Blutgruppen nicht von jedem Menschen zu jedem Menschen möglich ist, so verwundert es, dass ein so unendlich komplexerer Prozess wie die Übertragung einer Persönlichkeit ohne medizinische Komplikationen möglich sein soll, so dass sich nicht einmal Kopfschmerzen einstellen, außer vielleicht beim Leser. Eine groteske Note erhält der Prozess bei Morgan dadurch, dass die Menschen im Genick einen „Stack“, ei­ nen „Seelenspeicher“ eingepflanzt haben, der ihre Unsterblichkeit sichert (wenn das Ding nicht herausgeschnitten und zerstört wird). Wenn ein Mensch stirbt, lebt der betreffende Mensch einfach in ei­ nem beliebigen anderen Körper weiter. Ein solches Hüpfen von Kör­ per zu Körper (mit eventuellen Zwischenstationen in Maschinen), das zu einem „Versteck“-Spiel ausarten kann, böte natürlich großartige Möglichkeiten für eine groteske Humoreske, aber ernst durchgeführt, erscheint die Sache ziemlich lächerlich. Der Vorgang, diese Art von 25

„Unsterblichkeit“, wird von den Figuren in diesen Romanen ohne die geringste Kritik als positiv gesehen, auch wenn die Handlung meist zeigt, dass ihr Schicksal nur darin besteht, gefoltert und erneut getötet zu werden. Sie lassen sich aber lieber zu Tode schinden, um der Chance auf eine Auferstehung nicht verlustig zu gehen, als den end­ gültigen Tod, für sie die grauenvollste Vorstellung, zu erleiden. Ist der Tod wirklich mehr zu furchten als ein grauenvolles Sterben? Und will der Mensch wirklich ewig leben oder bloß nicht sterben? Aber auch wenn man annimmt, dass eine solche Übertragung in fremde Körper nicht möglich ist, aber die ganze Information eines Menschen, die im Computer gespeichert war, eine physische Reinkar­ nation erfahren kann, der Originalkörper durch die Wunder von Informations-, Bio- und Nanotechnik rekonstituiert wird, werden fas­ zinierende Dilemmata sichtbar, denn eine solche Technik würde ge­ waltige Probleme aufwerfen: philosophischer, theologischer und auch juristischer Natur. Wenn ein Mensch als Programmpaket darstellbar ist, so kann dieses Programm nicht nur an einen Ort gesendet oder an einem gespeichert werden, sondern an mehreren, d. h. ein und dassel­ be Individuum könnte vervielfacht werden. Wer ist dann das „richtige“ Individuum? Wenn die Gewinnung des Informationsge­ halts eines Menschen nicht auf zerstörungsfreie Weise zu erhalten ist, würde das ferner bedeuten, dass der Mensch durch die Digitalisierung zuerst „ermordet“ werden müsste (oder Selbstmord verüben müsste), ehe er im Computer fortleben oder versendet werden könnte - die beliebte Form des „Beamens“ oder Reisens durch einen Materietrans­ mitter. Die Identität eines Menschen mit sich selbst wäre eine des Musters und damit eine Frage der Definition: alle Kopien eines Men­ schen wären identisch, auch wenn sie sich, von dem Augenblick ihrer Aktivierung durch die verschiedenen Umgebungseinflüsse sogleich wieder auseinander entwickeln würden. Wer kann dann als dieser Mensch gelten? Und was bedeutet dann überhaupt „Tod“? Ein Mensch könnte intermittierend existieren: als Lebewesen im Fleisch, als aktives Com­ puterprogramm oder latent gespeichert, sozusagen „eingefroren“, und ein bloßes Abschalten des Computers könnte die emulierte Existenz beenden. Speicher- oder Übertragungsfehler wären eine Veränderung der Persönlichkeit. Die persönliche Freiheit würde noch immens ver­ letzlicher, ihr würden neue Gefahren erwachsen, denn ein Computer­ programm lässt sich sicher leichter abändern und manipulieren als ein Wesen aus Fleisch und Blut. Und es böten sich dann einfachere, er-

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Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994

München, Zürich: Piper 1994

folgreichere und bedrohlichere technische Möglichkeiten einer Über­ wachung, Kontrolle und Manipulation des Individuums. Die Freiheit digitalisierter Persönlichkeiten wäre in. E. eine höchst gefährdete, pre­ käre Sache. Es müsste dann aber auch möglich sein, Persönlichkeiten in die Welt zu setzen, die nie existiert haben, indem man sie als Programm „schreibt“. Auch die „Erinnerung“ müsste neu definiert werden, denn wie will man feststellen, ob sich jemand an etwas erinnert, was er real erlebt und gefühlt hat, oder ob es sich nur um eine manipulative Än­ derung seines Erinnerungsvermögens oder etwas, was er nur virtuell erlebt hat, handelt? Der Physiker Frank Tipler hat in seiner Physik der Unsterblichkeit (The Physics of Immortality) allen Menschen, auch wenn es keine Un­ sterblichkeit von Gottes wegen geben sollte, wie auch sein Kollege Moravec und andere, Unsterblichkeit im Computer, und das ganze Weltall soll zu einem riesigen Computer werden, verheißen. Das igno­ riert den Umstand, dass, im Gegensatz zu Gott, keine Technik perfekt ist, es immer zu Maschinenversagen kommen kann, dass Maschinen einfach abgeschaltet werden können, und dass es Computer-Viren gibt, die Programmpakete, d. h. auch „Seelen“, zerstören können, so

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dass niemand die Garantie für ein technisch garantiertes ewiges Le­ ben im Computer haben kann. (Siehe Lems „Non Serviam“.) Vom erzählerischen Standpunkt aus krankt die Idee eines Seelen­ transfers an dem dramatischen Mangel, dass es schwer fällt, Mitgefühl mit einer Figur zu empfinden, für die der Tod nichts Endgültiges ist, wodurch das fiktionale Geschehen völlig beliebig wird und alles nach Lust und Laune umgekehrt werden kann. Auch die dichterische Ergiebigkeit der beliebten virtuellen Räume erschöpft sich bald, weil dem menschlichem Einfallsreichtum enge Grenzen gesetzt sind und die Inhalte, mit denen diese Räume gefüllt werden, sich rasch wiederholen und jedweder Phantastik und Phan­ tasterei Tür und Tor geöffnet ist. „Virtuelle Räume“ sind in der Lite­ ratur ohnedies insofern nichts Neues, als sich sagen lässt, dass jedwede Art von Literatur „virtuelle“ Räume schafft, keine Literatur die „Wirklichkeit“ abbilden kann, sondern immer ein Vorstellungsraum geschaffen wird, der metaphorischen Charakter hat. Technisch generierte virtuelle Räume in der Literatur eignen sich vor allem dazu - wie auch Drogen, Fieberträume und halluzinatori­ sche Zustände - die Wirklichkeit in Frage zu stellen, Zweifel zu erwe­ cken, was real und was illusionär ist. Somit sind die virtuellen Räume der Informationstechnologie nur eine von mehreren literarischen Möglichkeiten, Lesergewissheiten darüber, was real ist, zu erschüt­ tern. Die Situation, die sich mit Computersimulationen und virtuellen Welten am besten abbilden lässt, ist eine der Grundkonstellationen menschlicher Existenz: die des Tests; das Individuum kann immer neuen Situationen ausgesetzt werden, in denen es sich bewähren muss. (In der Praxis würde vor allem die Pornografie davon profitie­ ren.) Derartige Möglichkeiten hat etwa Herbert W. Franke in seinen frühen Romanen Das Gedankennetz und Der Orchideenkäfig bereits 1961 ausgelotet. Auf längere Sicht liegt die Zukunft der Science Ficti­ on schwerlich in der Schilderung virtueller Welten, und die Überla­ dung mit technischem Jargon, der viele derartige Erzählungen aus­ zeichnet, löst beim Leser bald nur Langeweile aus. Bei allen diesen Entwicklungen des Menschen zum „Trans­ humanen“, vom genetisch verbesserten Individuum, über MenschMaschine-Verbindungen (mechanische Einbauteile im Menschen bis zu direkten Verbindungen in Computernetzc und KIs, der Cyborg ist eine bekannte .symbolträchtige Gestalt) bis hin zu rein elektronischen Daseinsformen in Computern, stellt sich die meist ignorierte Frage,

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wo der Mensch bleibt: Wie viel Veränderung verträgt ein Mensch, um noch ein Mensch zu bleiben? Es ist auch anzunehmen, dass die Autoevolution, die Umgestaltung des Menschen durch sich selbst, nicht zu einem „Einheitsmenschen“ fuhren wird, sondern zu einer Diversifikation, zu vielen Evolutionslinien, die ebenso sehr - oder noch mehr - Modeströmungen unterworfen sein werden als rationa­ len Überlegungen zur Verbesserung des Individuums und der Gat­ tung. Man denke nur an die Zunahme medizinisch überflüssiger Schönheitsoperationen. Zwei Dinge sollten SF vor allem auszeichnen: Offenheit und Kri­ tik. Offenheit für das Wagnis unorthodoxes Denken, aber gepaart mit Kritik und nicht mit Leichtgläubigkeit. Dystopische Versionen malen vor allem das Bild des Menschen, der als Ersatzteillager für jene, die es sich leisten können, ausgebeutet wird, Stichwort „organlegging“, Organhandel und den Überwachungsstaat, was angesichts der gegen­ wärtigen Terrorismus-Hysterie nur allzu wahrscheinlich ist. SF wird von Extremsituationen am meisten angezogen. Apokalyptische Bilder vom Ende der Zeiten werden bereits in H. G. Wells' The Time Machine (1895) präfiguriert. Kaum je behandelt wird in der SF das Prob­ lem der Arbeit, das schon in den klassischen Utopien angesprochen wird. Dort wird es meist als Erlösung von einer unerträglichen Fron gesehen, das den Menschen freimacht für geistiges und künstlerisches Schaffen. Das ist eine ebensolche Illusion wie die Begeisterung der Anhänger des „Transhumanen“ für diese neuen Existenzformen, de­ ren stärkste Komponente eine utopische Hoffnung ist. Hier wie da ergibt sich jedoch das Problem, was die Masse der Menschheit tun soll, die nicht in die schöne Neue Welt der Informationstechnologie eingehen kann, sei es wegen Mangel an intellektuellen Fähigkeiten oder auch einfach aus Geldmangel, weil alle diese Techniken etwas kosten, und das nicht wenig. Wie sollen die Menschen beschäftigt werden, wenn cs keine sinnvolle Arbeit für sie mehr gibt? Nur ein winziger Bruchteil der Menschen kann wohl an der Entwicklung zum Transhumanen (der Selbstabdankung des Menschen?) mitwirken, aber für die überwiegende Mehrheit bleibt nur das alte Rezept von „panem et circenses“: öde Gomputerspiele und massengefertigte Unterhaltung, die inhaltlich immer kläglicher wird. Und das ewige Leben im Computer bedeutet wohl in erster Linie ein Leben in uner­ träglicher Langeweile. Wie Hans Jonas überzeugend argumentiert, sind mangels sinnvoller Arbeit auch „erfüllende“ Hobbies kein prakti­ kabler Ausweg.

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Wie die Science Fiction schon bisher keine geschlossene Gattung war, so ist ähnliches auch für die Zukunft zu erwarten. Innerhalb ernst zu nehmender Science Fiction kann ich mir zwei hauptsächliche Richtungen vorstellen:

1. Eine, die in der Tat „Gedankenexperimente“ mit klar umrissenen Parametern durchführt, vielleicht täuschend simple aber bedeutungsmäßig höchst komplexe Geschichten, wie etwa die von Aldous Huxley (Schöne Neue Welt, Brave New World, 1932) Margaret Atwood (Der Report der Magd, The Handmaid’s Tale, 1985) oder kürzlich von Kazuo Ishiguro oder Juli Zeh, in den es vor allem um moralische Fragen, die nach­ drückliche Bewahrung der Würde und die Verantwortung des Menschen für sich und die Welt geht, was auch andere Wesen, ob intelligent oder nicht, und die Natur einschließt, die immer mehr durch eine künstliche zweite Natur ersetzt wird. Oder um die Grenzen der Erkenntnis, wie in vielen ernst ange­ legten oder auch grotesken Texten von Stanislaw Lern, in de­ nen philosophische und kulturelle Konstruktionen die wahren Helden sind und die Dramatik aus dem Aufeinanderprall in­ kompatibler Theorien entsteht. Kazuo Ishiguro entwirft in Alles, was wir geben mussten (Never Let Me Go, 2005) das erschütternde Bild einer Gesellschaft, in der Menschen als lebende Ersatzteillager für andere Menschen gehalten werden, ein eindrücklicher Roman, der ganz ohne plakative Anklagen auskommt, insgesamt aber eine anrührende Verurteilung eines un­ menschlichen Systems ist. In Juli Zehs thesenhafterem (und deswegen zuweilen auch von der Literaturkritik zerzaustem) Corpus Delicti (2009) ist die Sorge um die eigene Gesundheit zu einer von der Obrig­ keit verordneten Staatsbürgerpflicht geworden, was auf einen uner­ träglichen Überwachungsstaat hinausläuft. Mittelpunkt dieser Erzäh­ lungen ist der Mensch, seine Würde und deren Bedrohungen, und diese Art von SF beschäftigt sich vor allem auch mit Werten.

2. Eine narrativ und inventiv überschwängliche, verspielte, ideen­ verliebte, sich vor Einfällen und erzählerischen Finessen Über­ schlagende, zum Absurden neigende, sarkastisch-ironisierende, intertextuelle, postmodern ausgerichtetc, das rein Phantasti­ sche und Absurde nicht verschmähende Science Fiction, auch mit parodistischen Elementen, in der alles in Fluss ist, Gat30

tungsgrcnzen überschritten und literarische Konventionen gebrochen werden, das ganze Universum als Spielwiese für Veränderungen aller Art dient, auch die menschliche Natur zum Transhumanen umgeformt wird, wofür etwa Neal Stephenson (Snow Crash, 1992), Charles Stross, Greg Egan, auch Iain Banks, als Beispiel dienen können. Natürlich wird jene SF, die die Speerspitze der Kognition sein will, um mit Stanislaw Lern zu sprechen, stets eine kleine Minderheit sein. Es ist schwer, richtige Prophezeiungen zu machen, vor allem, wenn die Zukunft betroffen ist; aber da sich die talentiertesten Schöpfer im­ mer bemühen werden, Grenzen zu überschreiten und Gattungskon­ ventionen aufzubrechen, darf man getrost annehmen, dass die wirk­ lich originellsten zukünftigen Vertreter etwas Überzeugendes schaffen werden, was man sich heute noch gar nicht vorstellen kann, ein echtes Novum, um einen Zentralbegriff Darko Suvins zu verwenden. Als Gattung im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Literatur hat die SF jedenfalls die Aufgabe eines kritischen Korrektivs, wenn man will, auch die eines Hofnarren im Reich der Wissenschaft.

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Einige Anmerkungen zum sozialkritischen Gehalt von Science Fiction ass sich die Science Fiction, kurz SF, mit der Zukunft beschäfti­ ge, ist ein weit verbreiteter Irrtum, der durch die ältere deut­ sche Bezeichnung „Zukunftsroman“ ebenso bestärkt wird wie etwa durch eine Liste möglicher Auffassungen, was SF sei. Im Vorwort zur Norton Anthology of Science Fiction bezieht sich Le Guin auf Ant­ worten, die Menschen geben würden, die weder eingeschworene Le­ ser der SF („Fans“) noch Literaturwissenschaftler sind, dort steht die Zukunft an erster Stelle. SF spielt zwar meist, aber nicht notwendi­ gerweise in der Zukunft, und in irgendeiner Form bezieht sie sich immer zurück auf die Gegenwart - oder auch die Vergangenheit. Sie fragt zwar zumeist, „was wäre wenn“, aber vor allem derzeit populär ist auch eine Spielart, die historische Hypothesen aufstellt und fragt, „was wäre geschehen wenn“. Diese wird als Allotropie, kontra­ faktische Geschichtsschreibung, Uchronie, Parallelwelt- oder Alter­ nativweltgeschichte bezeichnet. Die gegenwärtige Popularität dieser Subform mag sich auch daraus erklären, dass jede in der Zukunft lokalisierte SF-Geschichte, die etwas schildert, was nicht eingetreten ist, sozusagen die alternative Entwicklung einer Parallelwelt be­ schreibt. Die Science Fiction ist ein Haus mit vielen Zimmern, sie kann für die verschiedensten Zwecke benutzt werden, den verschiedensten Ideologien dienen, als Magd des Bestehenden ebenso wie gegen den Stachel locken und Bilderstürmerci betreiben. Sie kann die Wissen­ schaft auf ihre Banner schreiben wie gegen sie polemisieren; als Vehi­ kel für religiöse Ideen dienen, wie die Religion zu einer menschlichen Verirrung erklären. Sie übernimmt Erzählformen der verschiedensten Genres, vor allem der Abenteuerliteratur, des Kriminalromans, des Reiseberichts, des historischen Romans, des Thrillers, des Schauerro­ mans, aber auch des Kriegsromans, der Liebesromanze; sogar in die Zukunft transplantierte Wildwestgeschichten finden sich. Hans-Edwin

D

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Friedrich,* 1 Autor einer umfänglichen Kompilation über den For­ schungsstand, nennt die SF ein Totalgenre, zum Unterschied von den oben genannten, die Partialgenres seien. Im deutschen Sprachraum das höchste Ansehen genießt wohl die Auffassung von SF als Gedan­ kenexperiment, und hier wieder jene Form des Gedankenexperi­ ments, die sich mit der Ausmalung gesellschaftlicher Probleme und Zustände befasst. Für Martin Schwonke, einen der ersten deutschen Autoren, die sich wissenschaftlich mit der SF beschäftigten, war die SF der legitime Erbe der Utopie, dem Entwurf idealer - oder zumin­ dest besserer - Gesellschaften, wie schon der Titel seiner Arbeit, Vom Staatsroman zur Science Fiction: Eine Untersuchung über Geschichte und Funktion der naturwissenschafdich-technischen Utopie', pro­ grammatisch verkündet. Statt der besseren Welt liefere die SF eine generalstabsmäßige Fülle möglicher Modelle. Der englische Roman­ cier Kingsley Amis sah in seinem New Maps of Hell: A Survey of Science Fiction ! in der Gesellschaftssatire die höchste Entwicklungs­ stufe der Science Fiction. Und auch der Philosoph Hans Jonas, in Das Prinzip Verantwortung^, gesteht der SF eine gewisse kasuistische Funktion in der Anstellung von vernünftigen Gedankenexperimenten zu, wie es etwa Aldous Huxley in Brave New World (1932) tut. Die Science Fiction ist natürlich eine Massenliteratur; in der neue­ ren Zeit hat sich ihre größte Verbreitung von der geschriebenen Form auf Film, Fernsehen und Computerspiele verlagert, und es gibt nur wenige Werke, die einer so anspruchsvollen Aufgabe gerecht werden, wie eine relevante Kritik der Gegenwart zu liefern. Sie ist in der Mehrzahl nur ein Indikator der Zeit, in der sie geschrieben wurde, ein Spiegel des geistigen Klimas. Eine ihrer vornehmsten Aufgaben sollte aber die Nestbeschmutzung sein - die des eigenen, nicht des fremden Nestes. Einige Beispiele: Seit dem Deutsch-Französischen Krieg bis zum Ersten Weltkrieg waren Fiktionen von Zukunftskriegen sehr populär, es erschienen Dutzende davon und hatten zum Teil Auflagen, die in die Hundert­ tausende gingen. Diese Geschichten, ausgehend von George Tomkyn 1 Hans-Edwin Friedrich: Science Fiction in der deutschsprachigen Literatur (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 7. Sonder­ heft). Tübingen: Max Niemeyer 1995, S. 5 2 Stuttgart: Enke 1957 1 New York: Harcourt, Brace & Co. 1960 4 Frankfurt/Main: Insel 1979

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Edinburgh, London: Blackwood & Sons 1871

Stuttgart: HofTmann 1910

Chesneys The Battle ofDorking (1871), dem Urahn der ganzen Rich­ tung, hatten kaum literarische Bedeutung, sie waren reine Zweck- und Agitationsliteratur, indem sie eine feindliche Bedrohung von außen postulierten, gegen die es galt gerüstet zu sein. Diese Literatur malt meist einen katastrophal verlorenen Krieg aus und wollte nur den Bo­ den für mehr Rüstung vorbereiten, so etwa, wie die amerikanischen Geheimdienste die von der Sowjetunion ausgehende Bedrohung syste­ matisch übertrieben, wenn sich das Militär mehr Waffen und neue Waffensysteme wünschte. Nebenbei bemerkt ist „military SF“, in den Kosmos verlagert, auch heute wieder eine beliebte Untergattung der Science Fiction - allerdings ohne konkreten Gegner auf der Erde. Für England war es das Schreckgespenst einer deutschen (seltener einer französischen) Invasion Großbritanniens, für Frankreich ein übermächtiges Deutsches Reich, für Deutschland mal England, mal Frankreich oder ein Bündnis beider. Seltener wurde auch die Bedro­ hung des Abendlandes durch die gelbe Gefahr beschworen. Ein Titel wie Wehrlos zur See. Eine Flottenphantasie an derJahrhundertwende von Gustav Adolf Erdmann (1900) verrät bereits, worum es geht, um die maritime Aufrüstung des Deutschen Reiches, um der englischen Flotte zum Schutz der deutschen Kolonien gewachsen zu sein. Rudolf

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Berlin: Schwetschke 1912

Madison, Wise.: University oi'Wisconsin Press, 1991

Martin wiederum, ein preußischer Ministerialbeamter, setzte in Bü­ chern wie Berlin-Bagdad. Das deutsche Weltreich im Zeitalter der Luftschiffahrt 1910-1931 (1907), Der Verlust des Luftkreuzers. Eine Anklage (1908) oder Der Weltkrieg in den Lüften (1909) ganz auf die Luftrüstung mittels Zeppelinen und bekam deshalb sogar Schwierig­ keiten, weil die offiziellen Stellen den Ausbau der Flotte für dringli­ cher hielten. Nach dem verlorenen Weltkrieg setzte sich diese militaristische Richtung in Deutschland fort in einer Flut revanchistischer Romane ’, in denen Deutschland das Joch des „Schandfriedens von Versailles“, meist mit Hilfe von Wunderwaifen und unter der autoritären Füh­ rung eines charismatischen Techniker-Politikers, abschüttelt und seine alten Besitzungen - und vielleicht noch etwas mehr - zurückgewinnt und einen Zwangsfrieden errichtet, wobei die Autoren meist die „Bescheidenheit“ der deutschen Ziele betonen. Insbesondere der Ein­ satz farbiger Kolonialsoldaten im besetzten Rheinland, die als Bestien dargestellt wurden, die auf nichts sannen als die Vergewaltigung deut’ Eine hervorragende Darstellung liefert Peter S. Fisher in Fantasy and Politics. Visions ofthe Future in the Weimar Republic. Madison, Wisc.: University of Wisconsin Press 1991.

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Leipzig: Oldenburg 1924

München: Weismann 1980

scher Frauen, wurde von den Autoren dieser völkischen Traktate pro­ pagandistisch ausgeschlachtet und bereitete den Boden für die spätere Nazi-Propaganda und die Gräuel des 2. Weltkrieges vor. Es gab weni­ ge Autoren, die sich dieser von Hysterie geprägten allgemeinen Kriegslüsternheit entgegenstellten. Einer von ihnen war Paul Scheerbart (1863-1915), der allerdings nicht, wie Bertha von Suttner, „Die Wallen nieder!“ forderte, son­ dern, in bester Swift’scher Manier, den Weg zur Überwindung des Krieges in dessen größtmöglicher Brutalisierung sah. In „A Modest Proposal“ (1729) hatte Swift ja zur Überwindung der irischen Armut vorgeschlagen, die Eltern mögen ihre Kinder als Nahrungsmittel an die Engländer verkaufen. In unzähligen Geschichten und Traktaten, darunter Die Entwicklung des Luftmilitarismus und die Auflösung der europäischen Land-Heere, Festungen und Seeilotten. Eine Flugschrift (Berlin 1909) setzte sich Scheerbart satirisch mit dem Militär ausein­ ander. Noch schärfer in der Artikulation war Georg Lamszus (18811965), der als so ziemlich einziger Schriftsteller, im Gegensatz zu den patriotischen Hurra-Schriftstellern, die verheerende Wirkung des Ma­ schinengewehrs, des Trommelfeuers und des Kampfes im Schützen­ graben richtig einschätzte. Sein Roman Das Menschenschlachthaus,

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KONRAD LOELE

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Einsiedeln, Waldshut, Köln: Benziger & Co. 1912; Frontispiz und Titelseite

nimmt" (im Prolog zu Der Herr der Welt The Dawn cdAH (1911, dt. Im Dämmerschein der Zukunft, 1912). In diesem Roman ist in den 1970er Jahren die Wahrheit der katholischen Kirche allgemein anerkannt worden. Die zXusbreitung populären Wissens und die unge­ heure Entwicklung mancher Wissenschaften hatten zunächst die Auf­ merksamkeit von dem abgezogen, was jetzt in allen zivilisierten Ländern ein Axiom des Denkens ist, von der Er­ kenntnis nämlich, daß die Offenbarung Gottes in einer lebendigen Autori­ tät verkörpert sein muß, die unter Gottes Schutz und Schirm steht. Über­ dies hatte zu jener Zeit die Wissenschaft im allgemeinen noch nicht den Punkt erreicht, den sie etwas später erreichte, nämlich die Offenbarung Gottes, die als Katholizismus bekannt ist, in ihren Einzelheiten zu bestäti­ gen, so weit sie dazu fähig ist, und da, wo sic das nicht vermag, ihre eige­ nen Grenzen zu erkennen. 12

Das Christentum des Romans hat entschieden mittelalterliche Zü­ ge, die Menschen sind in Gilden eingeteilt, was sich auch in ihrer Kleidung ausdrückt, der Papst ist der oberste Schiedsrichter der Nati­ onen, Demokratie ist für Benson nur der Umsturz der ganzen ewigen 12 Robert Hugli Benson: Im Dämmerschein der Zukunft. Einsiedeln, Walds­ hut: Benzinger & Co. 1912, S. 34f.

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und logischen Ordnung der Dinge“ und die „Erlaubnis für den Uner­ fahrenen, den Erfahrenen zu regieren und für den Ungebildeten und den Schlechtunterrichteten durch ihre Stimmen - das heißt durch das bloße Uebergewicht der Zahl - über den Gebildeten und Wohlunter­ richteten zu herrschen.“ 11 Religiöse Toleranz gibt es nur, solange mit dem weltlichen Deutschland, wo die Sozialisten mächtig sind, die Andersgläubigen eine Schutzmacht haben, mit der zu rechnen ist, bis auch der unent­ schiedene Kaiser konvertiert; nachher wird auch in England der Katholizismus zur Staatsreligion erklärt und die Gesetze gegen An­ dersgläubige werden verschärft. Massachusetts wird aber als Ketzer­ kolonie eingerichtet, in die Nichtgläubige per Luftschiff verbracht werden. Und es gibt, wie im Kirchenstaat des Herrn der Welt, die To­ desstrafe für Ehebruch, Götzendienst und Abfall vom Glauben. Der Roman zeigt die „erbarmungslosen Konsequenzen“ der übernatürli­ chen Autorität anhand des Dom Adrian Bennett, der auf Gebieten (der Rolle der Wunder) arbeiten will, auf denen die Kirche schon ent­ schieden hat und der nicht abschwören will, weil ihm sein Gewissen etwas anderes sagt. Er wird zum Tode verurteilt und auch hingerich­ tet, doch nimmt er dieses Schicksal willig auf sich, verteidigt sogar das Recht der Kirche, so zu handeln. Die Kirche tötet selbst nicht, sie lie­ fert die Verurteilten vielmehr der weltlichen Gewalt aus, sogar mit Bitten um Strafverschonung, denen aber nicht entsprochen wird, denn da die Grundlagen des neuen Staates christliche sind, ist jede Ketzerei zugleich eine Gefährdung der staatlichen Ordnung, und da­ für gibt cs keine Schonung, kann es keine Schonung geben, meint Benson. Die monarchische Ordnung ist gottgewollt und logisch. Diese katholische Welt hat Züge, die den heutigen Leser befremden werden, aber Benson hat sie als Utopie intendiert, und man kann seinem Ent­ wurf, auch wenn man seine entschieden zeitgebundenen Ansichten nicht teilt, Überzeugungskraft und Folgerichtigkeit nicht absprechen. Inhaltlich dem Herrn der Welt ähnlich, aber intellektuell vergrö­ bert, ist Die Herren der Erde (1923), eine „Erzählung aus zukünftigen Tagen“ von Ferdinand Brockes (1867-1927), von dem ich nicht weiß, ob er Katholik oder Protestant war, und der, wie er schreibt, aus Buchhändlerkreisen gebeten wurde, einen Zukunftsroman zu schrei­ ben, der die Weissagungen der Heiligen Schrift einem weiteren Publi­ kum verständlich machte. Auch er ist der Ansicht, dass ein H umanis11 Ebendort, S. .34

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mus ohne göttliches Fundament kein wahrer Humanismus sein kann und notwendigerweise von Sittenlosigkeit und Verkommenheit ge­ kennzeichnet sein muss. Das Licht der Vernunft ist nur eine Tranfun­ zel. In Russland und bald auch in Deutschland siegt die Revolution, ein Weltbund aller kommunistischen Staaten wird gegründet, der Krieg für abgeschafft erklärt. Aber das Reich des Friedens, welches das Christentum fälschlich zu bringen versprochen habe, ist Teufels­ werk, der Weltbundpräsident ist in Wahrheit der Antichrist, das „Tier aus dem Abgrund“. Der Papst Pius XII. wird gewaltsam aus Rom vertrieben, ein neuer Papst Leo XV. gewählt, bald beginnen Unter­ drückungsmaßnahmen gegen die Kirche. Palästina wird zur Zu­ fluchtsstätte für die Christen, und auf dem Feld von Harmageddon wird von einem himmlischen Meteorregen des Heer vernichtet, das der Weltbundpräsident in Palästina zusammengezogen hat. Die wah­ re Religion siegt, auch die Juden bekehren sich in Scharen zum Messi­ as Jeschua. Der Autor vertritt sehr reaktionäre soziale Ansichten, er erklärt z. B. den Achtstundentag und Betriebsräte als Schwindel, die Demokratie ist ihm verdächtig, die aristokratische Herrschaftsform ist die gottgegebene Ordnung. Literarisch am banalsten ist Der Antichrist (1939), „Zukunfts­ roman auf Grund der biblischen Prophezeiungen und der heutigen Kulturentwicklung“ von Franz Heinrich Achermann (1881-1946), einem Vikar aus Krienz bei Luzern und Trivialschriftsteller vor allem von Abenteuerliteratur, der vor allem durch seine Urzeit-Romane (Kannibalen der Steinzeit etc.) bekannt wurde. Tötung der Alten, Schwachen und Abnormen ist die Regel im Reich des Antichrist, Vi­ visektion eine beliebte Strafe. Achermanns Antichrist heißt Bar Dan und lässt sich als Gott huldigen. Als er am Höhepunkt seiner Herr­ schaft das größte je gewesene Festspiel der Erde, eine Olympiade, bei der die Kreuzigung nachgespielt werden soll, veranstaltet, tritt ihm der echte Jesus entgegen, in den sich der Darsteller desjesus verwan­ delt hat, und Bar Dan wird von der Erde verschlungen. Ein vielgelesener Apologet des Christentums von ganz anderem Kaliber war C.S. Lewis (1898-1963), auch er ein Konvertit. Seine berühmten Narnia-Romane sind keine Utopien, sondern Fantasies, sie führen den Leser in eine ganz von unserer abgehobene Parallel­ welt, bieten aber eine christliche Allegorie, in der Löwe Aslan eine Christusgestalt ist, welche Narnia überhaupt erst ins Dasein ruft (singt) und in der es im letzten Buch, The Last Battle (1956) zur Apokalypse, dem Untergang Narnias und seinem Wiedererstehen als einer perfek­ 65

ten Welt kommt. In den ersten beiden Romanen seiner RansomTrilogie Out of the Silent Planet (1938, dt. Jenseits des schweigenden Sterns) und Pcrelandra (1943) hat Lewis jedoch die Form des Plane­ tenromans dazu benutzt, um christliche Inhalte zu vermitteln, vor al­ lem die Frage aufzuwerfen, ob die Bewohner anderer Planeten, so es sie gibt, auch der Erbsünde unterliegen und der Erlösung bedürfen. In einem bald nach Veröffentlichung des Romans Out of the Silent Pla­ net geschriebenen Brief bekannte C. S. Lewis, was ihn veranlasste, den Roman zu schreiben. Nämlich die Entdeckung, daß einer meiner Schüler den ganzen Traum von der interplanetaren Kolonisation völlig ernst nahm, und die Erkenntnis, daß Tausende von Menschen sich auf die eine oder andere Weise an die Hoffnung klammern, der einzige Sinn des Universums sei es, das Menschengeschlecht fort­ zupflanzen und zu verbessern daß .die wissenschaftliche' Hoffnung auf einen Sieg über den Tod ein echter Konkurrent des Christentums sei. 1 *

Die Frage nach den Bewohnern anderer Planeten ist uralt und geht bis auf die Griechen zurück. Lange vor Bernard de Fontenelles Entretiens sur la Pluralite des Mondes (1686) warf bereits Plutarch die Frage nach dem Sinn solcher Schöpfungen auf: Wenn andere Welten unbewohnbar wären (Plutarch bezog sich speziell auf den Mond), wä­ ren sie vergeblich und ohne Sinn geschaffen worden. C. S. Lewis be­ antwortet die Frage in seinem Marsroman, der zu den poetischsten seiner Art gehört, dahingehend, dass die Bewohner Malakandras (so der wahre Name des Mars in diesem Buch) sittlich höherstehende Wesen sind, die durch die schändlichen Pläne des Lewis’schen Schur­ ken, des Wissenschaftlers Weston, nur korrumpiert werden können. Auch die Bewohner Perelandras (= der Venus) sind Geschöpfe, die noch nicht gesündigt haben, und die Fabel dieses Romans befasst sich mit einem abgewendeten Sündcnfall auf diesem Planeten. Weston aber ist von der Idee besessen, die gegenwärtig in obskuren Werken der Scientifiction, in Gesellschaften und Klubs für Weltraumforschung und Raketentechnik sowie in scheußlichen Magazinen und Comic-Heften unseren Planeten überschwemmt, verspot­ tet oder ignoriert von den Gebildeten, aber bereit, wenn die Macht dazu jemals in die Hände ihrer Anhänger gelegt wird, ein neues Kapitel des Elends für das Universum aufzuschlagen. Es ist die Idee, daß die Mensch­ heit, nachdem sie ihren Heimatplaneten nun hinreichend verdorben und

1 C. S. Lewis: The Leiters of C. S. Lewis. London: Geoflrev Bles 1966. S. 167. zitiert nach Brian Murphy: „C. S. Lewis“, in C.S. Lewis: Der schweigende Stern. Die komplette Perclandra-Trilogie. München: Heyne 2000, S. 1020

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verwüstet hat, um jeden Preis versuchen müsse, sich über ein größeres Gebiet auszubreiten; daß die ungeheuren astronomischen Entfernungen, die Gottes Quarantänemaßnahmen sind, irgendwie überwunden werden müssen. Das ist der Ausgangspunkt. Alter dahinter liegt das süße Gift der falschen Unendlichkeit der abenteuerliche Traum, daß Planet nach Planet, Sonnensystem nach Sonnensystem und schließlich Galaxis um Galaxis gezwungen werden könnten, überall und lür alle Zeit die Art von Leben zu erhalten, die in den Lenden unserer eigenen Gattung enthalten ist - ein Traum, der dem Haß gegen den Tod und der Furcht vor der wahren Unsterblichkeit entspringt und der von Tausenden von Unwissen­ den und Hunderten von Wissenden heimlich genährt wird. Die Vernich­ tung oder Versklavung anderer Spezies im Universum, falls es solche gibt, ist für diese Geister eine willkommene Folgeerscheinung.1 ’

Durch die Schilderung ethisch hochstehenderer Wesen impliziert der Roman eine Kritik irdischer Zustände - wie es ja auch sein muss, wenn ein Roman nicht völlig im leeren Raum schweben soll; das All ist ein Spiegel irdischer Zustände, auch hinsichtlich Metaphysik und Religion. Es gibt nicht wenige SF, die sich mit den Glaubensüberzeugungen der Bewohner anderer Planeten befassen, oft in satirischer oder auch grotesker Form, um menschliche Überzeugungen zu verspotten. Da kann es zum Beispiel passieren, wie in einer Geschichte von Harry Harrison, dass Außerirdische den Missionaren, die voll glühendem Eifer von den Qualen der Märtyrer für den Glauben sprechen, dieses Martyrium zuteil werden lassen, weil sie annehmen, dass das ist, was sich die frommen Männer ersehnen. Aus der Flut solcher Werke, die zu zahlreich sind, als dass man sie auch nur bloß aufzählen könnte, möchte ich nur zwei herausgreifen. Das ist ein älterer Roman von James Blish, der auch einen kriti­ schen Artikel über religiöse SF, „Cathedrals in Space“ geschrieben hat, worin er diese Beschäftigung mit der Religion in der SF ebenfalls auf eine chiliastische Sehnsucht zurückführt. In seinem A Ca.se of Conscience (1959, dt. Ein Gewissensfall) konfrontiert er einen Jesui­ tenpater namens Ramon Ruiz-Sanchez mit einer paradiesischen Ge­ sellschaft auf einem anderen Planeten, dessen Bewohner keinerlei Glauben an ein metaphysisches Wesen kennen, aber dennoch „gut“ sind, ganz nach den Geboten einer Religion leben, deren Vorschriften sie gar nicht kennen. Der Pater ist darüber so tief erschrocken, wie es11 11 C. S. Lewis: Der schweigende Stern, a. a. O (wie Anm. 14), S. 299f. (aus Perelandra, in der Übersetzung von Waller Brumm)

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Benson nicht besser hätte sein können, und er kommt zu der Über­ zeugung, dass der ganze Planet nur Teufelswerk sein kann, eine Falle, vom Widersacher aufgestellt, um Gläubige in Versuchung zu führen. Er erlebt einen tiefen Gewissenskonflikt und verfällt auf eine alte, längst verworfene Häresie, den Manichäismus, der dem Widersacher ebenfalls Schöpferkraft zuschrcibt. Der Fall wird nicht gelöst, denn der Priester fuhrt einen Exorzismus durch und dabei fliegt der ganze Planet in die Luft, wobei offen bleibt, ob das die Folge dieses Exorzis­ mus war oder eine ganz natürliche Ursache hatte, denn der Planet ist reich an Lithium, einem wasserstoflbombenfähigen Material - das auch der Grund ist, warum der Planet für die im kalten Krieg gefan­ gene Menschheit, die in unterirdischen Bunkern lebt, begehrenswert ist. Der polnische SF-Autor Lern hat den Roman deswegen kritisiert, weil er eine längst verworfene Ansicht wieder aufgreift, die für den Helden zu einem Gewissenskonflikt wird, was er für unzutreffend er­ klärt, weil das Problem von den Theologen längst entschieden sei. Ich glaube nicht, dass diese Kritik stichhaltig ist, denn es kann ja durchaus sein, dass eine Sache, die dogmatisch entschieden ist, dennoch wieder virulent wird, denn Lehrmeinungen können sich ändern, und die Probleme der Metaphysik kehren immer wieder und werden immer wieder aufgegriflen. Zweifelhaft scheint mir aber, ob es irgendwo im All eine Gesellschaft geben kann, der der Gedanke an einen jenseiti­ gen Schöpfer nie gekommen ist. Das würde meiner Meinung nach bedeuten, dass diese Wesen sehr dumm sind, was die außerirdischen Lithianer in dieser Geschichte offensichtlich nicht sind; intelligente Wesen aber müssen sich unvermeidlich die Frage nach dem Ursprung der Welt gestellt und erkannt haben, dass es darauf nur prinzipiell zwei Antworten geben kann, nämlich Immanenz oder Transzendenz, und selbst wenn sie nicht gläubig sein sollten, müsste ihnen die Idee von einem Schöpfergott als Denkmöglichkeit gekommen sein. Ein Roman der jüngsten Zeit ist Sparrow (1996, dt. Sperling) von Mary Doria Russell. Auch der Held Emilio Sandoz dieses Romans ist ein Jesuit, Angehöriger einer jesuitischen Weltraumexpedition, die in aller Heimlichkeit zum von intelligenten Wesen bewohnten Planeten Rakhat aufbricht, um die „anderen Kinder Gottes“ kennen zu lernen. In bester SF-Manier findet er auf diesem Planeten ein xenologisches Puzzle, eine verwirrende soziologische Situation, ein Zusammenspiel zweier Rassen, das er zunächst völlig missversteht. Erst sehr spät er­ kennt er die furchtbare Wahrheit, dass die einen Wesen nur die Skla­ ven (und Nahrungsmittel) der anderen sind, ähnlich den Eloi und 68

Morlocks bei H. G. Wells, und dass die wahren Herren des Planeten eine furchtbare Bevölkerungskontrolle ausüben. Die gutgemeinten, befreienden Eingriffe des Paters bringen das ganze soziale Gleichge­ wicht des Planeten aus dem Lot, haben aber auch für ihn persönlich entsetzliche Folgen, denn er wird zum sexuellen Spielzeug der Herr­ schenden, wird fürchterlich missbraucht und erleidet schwerste kör­ perliche und noch ärgere seelische Erniedrigungen. Der Roman ist spannend, wenn auch reichlich melodramatisch, angefangen von der Kindheit des Helden, der aus ärmsten Dritte-Welt-Verhältnissen in das Priesteramt aufsteigt. Verwunderlich ist nur, dass der Roman, obwohl die Jesuiten gefinkelte Theologen sind, keinen Gedanken an eigentliche theologische Probleme verschwendet; welche Glaubens­ überzeugungen die Bewohner des fremden Planeten haben, ob sie der Erlösung bedürfen, ob sie missioniert werden sollen, ob die Offenba­ rung speziell für die Menschen bestimmt ist oder für das ganze Uni­ versum, ob also die Bewohner anderer Welten von der Erde aus missi­ oniert werden müssen/dürfen. Der Roman geht aber in erster Linie darauf ein, wie Gott es zulassen kann, dass einer seiner Diener so er­ niedrigt wird, solche Qualen erleiden muss. Dazu aber bedarf es kei­ nes anderen Planeten und keiner fremden Lebewesen, denn ob ein Priester auf der Erde oder einem anderen Planeten vergewaltigt wird und als Sex-Sklave herhalten muss, ist prinzipiell dasselbe. So scheint mir der Roman des Genre-Autors Blish vom intellektuellen Stand­ punkt interessanter zu sein als der sentimentalische Roman der Mary Dorset Russell, dessen Stärke die exotischen Einzelheiten einer frem­ den Gesellschaft sind, während in der Priesterrolle des Helden nur ein pikantes Gewürz für ihre Mixtur zu sehen ist. Die wenigen angeführten Beispiele haben gezeigt, welch vielfältige Rolle das Christentum oder die Religion in der Literatur von der Zu­ kunft spielen kann; das Spektrum reicht von der rigorosesten Apolo­ gie, die sich nicht um zeitgebundene Strömungen kümmert, sondern einem sehr konservativen Standpunkt verpflichtet ist, über Indifferentismus bis zu Verspottungen der Religion. Lassen Sie mich mit einem vielleicht provokativen Gedanken über Utopie und Antiutopie schließen: Vom Standpunkt des religiösen Glaubens aus scheint die Utopie bedenklicher zu sein als die Antiuto­ pie. So verständlich der Wunsch nach der perfekten Gesellschaft ist, so tief verwurzelt und lobenswert das Streben nach sozialer Gerechtig­ keit, die Utopie nimmt letztlich an, dass die sozialen Umstände nicht bloß verbessert werden können (wonach wir ja alle streben), sondern 69

dass schließlich der Mensch perfektionierbar und dass der „Himmel auf Erden“ erreichbar ist. Die Schaffung eines Utopia würde das En­ de der Geschichte bedeuten, und zwar eines ganz ohne Gott, dank eigener Anstrengung, in Ausschöpfung der immanenten Fähigkeiten des Menschen. Die Utopie tritt mit dem Anspruch auf Wahrheit auf, „Utopia“ ist keine Täuschung, die dem Volk vorgespiclt wird, es gibt keine geheimen Herren, die es lenken. Anders die Anti-Utopie, die auf Lüge und/oder Unterdrückung aufbaut. In den Anti-Utopien gibt es immer einen kleinen Kreis, der über den wahren Zustand der Dinge Bescheid weiß - bei Samjatin der „Wohltäter“ und sein Kreis, bei Orwell die „innere Partei“, bei Huxley der Weltaufsichtsrat. Je­ mand muss es geben, der weiß, wie die Welt wirklich funktioniert, und sie am Laufen hält, wie schrecklich auch immer. Diese Wissenden be­ trachten sich, wie bei Huxley, zuweilen sogar als Märtyrer, die ihr Los auf sich nehmen, damit die Masse der Menschen in glückseligma­ chender Unwissenheit und Unbeschwertheit ihre Tage verbringen können, sie opfern sich auf für die Gemeinschaft. Nicht umsonst gibt es in diesen Utopien Schlüssclszenen, in denen Besucher oder Dissi­ denten einen (mehr an den Leser gerichteten) Aufschluss über die Me­ chanismen ihrer Welt erhalten. Diese entscheidenden Szenen knüpfen an die berühmte „Legende vom Großinquisitor“ im 5. Buch von Dos­ tojewskis Roman Die Brüder Karamasow an. In dieser Parabel kehrt Christus im 16. Jahrhundert auf die Erde zurück, nach Sevilla, und wird vom Volk sofort erkannt und verehrt. Er wird vor den KardinalGroßinquisitor gebracht, der ihn fragt, warum er gekommen sei, das Werk der Kirche zu stören, das in seinem Namen, aber in Wahrheit im Sinne des Satans, von einigen Hunderttausend wissenden Un­ glücklichen vollbracht werde, welche die Bürde des Unglücks trügen, damit die Milliarden der Menschheit gehorsam und glücklich sein können. Christus sagt während der ganzen Rede kein Wort, dann küsst er den Inquisitor und geht. Dostojewski war, anders als Solowjew, kein Freund der katholischen Kirche. Huxley greift diese Legen­ de in der Unterredung des Weltaufsichtsrates mit dem Wilden wieder auf; sein WAR befindet sich in einer ähnlichen Position, auch ihm liegt das Glück der Massen am Herzen, für das er sich aufopfert, er will überzeugen (während Orwells Inquisitor O’Brien aus Grausam­ keit handelt, seine Erklärung ist ein Teil der Folter). Beide Utopien bauen auf Täuschungen auf (auch wenn sie aus verschiedenen Moti­ ven erfolgen), aber damit die geschilderten Gesellschaften funktionie­ ren können, muss es an der Spitze Leute geben, welche die Wahrheit

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kennen und die Freiheit zu handeln haben, womit auch bereits der Keim des Unterganges gesät ist: Man kann sich nicht vorstellen, dass diese Systeme, die notwendigerweise an der Spitze ein Element der Freiheit enthalten, wirklich ewig währen. Für die Gläubigen bedeuten die antiutopischen Systeme allenfalls Verfolgung, aber die göttlichen Wahrheiten werden davon in keiner Weise berührt: Die eigentliche Hoffnung ist transzendent, sie richtet sich auf ein Reich, „das nicht von dieser Welt ist“, während die Utopie die meines Erachtens ketze­ rische Meinung äußert, dass Vollkommenheit auf Erden schon vor dem Ende der Zeiten möglich wäre und damit in direktem Wettstreit zu jenseitigen Heilserwartungen tritt. R. H. Benson hat daher völlig recht (was man auch von seinen sozialen Ansichten halten mag), dass eine Herrschaft des Humanismus auf Erden, selbst wenn sie erreich­ bar wäre, das Zentralproblem des religiösen Menschen, das Verhält­ nis zu Gott, noch nicht einmal berühren würde. Man sieht auch bei dem gläubigen Franz Werfel, wie sich in Der Stern der Ungeborenen das utopische Wunschbild unversehens zur Antiutopie wandelt, infol­ ge des dem Menschen inhärenten Bösen, der Erbsünde. Damit gelan­ gen wir zum Problem der Theodizee, warum es das Böse in der Welt gibt, warum der allmächtige Schöpfer unvollkommene, mit Freiheit ausgestattete und damit mit Fehlern behaftete Geschöpfe geschaffen hat, aber das ist eine ganz andere Frage, über die schon Bibliotheken gefüllt worden sind.

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Eine kurze Geschichte der Zeitreise n der modernen Physik sind Zeit und Raum untrennbar in einem Raum-Zeit-Kontinuum verknüpft, die Zeit ist die vierte Dimensi­ on, und das liefert auch die Rechtfertigung für literarische Zeitreisen: In der Science Fiction ist das Reisen in der Zeit ein Thema, das fast so häufig ist wie die Weltraumfahrt, eines der Kernthemen dieser Litera­ tur1. Erzähltechnisch gesehen ist die Zeitreise ein Kunstgriff, ähnlich wie der Traum2, der heute als ungeschicktes Mittel gilt, um den Hel­ den in eine andere Zeit zu transportieren und mit einer anderen Ge­ sellschaft zu konfrontieren, sei cs der Vergangenheit oder Zukunft. Die narrative Entwicklung der Science Fiction ging dahin, von einem gegenwärtigen Besucher, der in eine fremde Zeit reist oder geworfen wird, direkt die zukünftige oder andere Welt zu schildern, gleich in medias res zu gehen, ohne jedes Verbindungsglied mit der Gegen­ wart. Nach herkömmlicher Vorstellung fließt die Zeit unabänderlich von der Vergangenheit in die Zukunft, und cs gibt eine Art der Zeit­ reise in die Zukunft, die sich zumindest wissenschaftlich rechtfertigen lässt: Nach der speziellen Relativitätstheorie altert ein Mensch, der sich an Bord eines mit fast Lichtgeschwindigkeit befindlichen Raum­ schiffes befindet, weniger rasch als ein in einem ruhenden System zu­

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1 Gute Erörterungen des Themenkreises findet man etwa in Jörg Hienger: Literarische Zukunftsphantastik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1972, Kapitel „Experimente mit der Consccutio Temporum“. S. 104-117; Bernd Rull­ kötter: Die Wissenschaftliche Phantastik der Soujetunion. Bern: Herbert Lang; Frankfurt/Main: Peter Lang 1974, „Zeitexperimente“, S. 157-172, oder Stanislaw Lern: Phantastik und Futurologie I. Frankfurt/Main: Insel 1977, Kapitel „Phantastik“, S. 312-332). Vom Standpunkt des Historikers siehe Michael Salewski: Zeitgeist und Zeitmaschinc. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1986. " Beispiele dafür sind etwa Charles Dickens’ „A Christmas Carol“ (1843) und Edgar Allan Poes „A Tale of the Ragged Mountains“ (1844).

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rückgebliebener (das „Zwillingsparadoxon“), was das Erreichen einer fernen Zukunft und die Begegnung mit einer fremd gewordenen Ge­ sellschaft ermöglicht. Ein bekannter Roman dieser Art ist Stanislaw Lents Rückkehr von den Sternen (1961, deutsch meist unter dem Titel Transfer). Ein ältere Vorstellung ist das Hinüberschlafen in die Zu­ kunft, das „Rip van Winkle“-Phänomen, so genannt nach dem Hel­ den von Washington Irvings bekannter Kurzgeschichte (1819), in der ein Mann in einer Höhle überwintert und erst in der Zukunft er­ wacht - auch ein bekanntes Sagenmotiv, man denke nur an den Kai­ ser Barbarossa im Kyffhäuser, der erwachen soll, wenn Not am Mann ist. H. G. Wells hat diese Methode noch in When the Sleeper Wakes (1899, dt., Wenn der Schläfer erwacht) benutzt, ein bekanntes öster­ reichisches Beispiel ist Rudolf Hawels (1860-1923) Im Reiche derHomunkuliden (1910); auch Max Winter (1870-1937) verwendet diesen Kunstgriff, um seinen Helden in Die lebende Mumie (1929) in die Welt des Jahres 2025 zu befördern. In Grant Aliens Pausodyne (1881) wird die Aufbewahrung in die Zukunft durch Drogen bewirkt. Eine wissenschaftliche Begründung für eine solche Überwinterung liefert die Kryonik, das Einfrieren eines Menschen und seine mögliche Auftauung in der Zukunft, etwa von Todkranken, die auf diese Weise er­ halten bleiben, bis es eine Kur für ihr Leiden gibt, wie es in den sech­ ziger Jahren von R. G. W. Ettinger (The Prospects of Immortality, 1964) propagiert und von zahlreichen SF-Autoren aufgegriffen wurde; aber auch vorher war eine Art von „suspended animation“, vor allem zur Überwindung interstellarer Distanzen bei Unterlichtgeschwindig­ keit, in der Science Fiction nicht gerade selten. Das alles sind „zahme“ Formen einer Einbahn-Zeitreise, in der das Altern verlangsamt oder ausgesetzt wird, der Zeitpfeil aber als Einbahn nur in die Zukunft geht. Problematisch wird es erst, wenn die Vorstellung vom in die Zu­ kunft gerichteten Pfeil der Zeit aufgegeben wird und man beliebig in der Zeit vor- und zurückreisen kann - oder doch im Prinzip, wenn auch mit gewissen Einschränkungen, etwa nur als Beobachter, der ohnmächtig ist, in das Geschehen einzugreifen. Dr. Gotthard Gün­ ther, als Philosophieprofessor Vorkämpfer für eine non-aristotelische Logik und Anfang der fünfziger Jahre Herausgeber von „Rauchs Weltraumbüchern“, dem ersten erfolglosen Versuch, Science Fiction im deutschen Sprachraum einzuführen, sah in der SF, die man ein­ mal das „amerikanische Märchen“ nennen würde, den Vorläufer ei­ ner neuen Weltanschauung, die verschiedene Grundannahmen der

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abendländischen Philosophie in Frage stellte. Dazu gehörte seiner Auffassung nach auch die Natur der Zeit. Die große Umwälzung brachte H. G. Wells’ The Time Machine (1895, dt. Die Zeitmaschine) ’. Wells etablierte die Zeit fest als die vierte Dimension. Sein Zeitreisender argumentiert folgerichtig: „Offensichtlich, ... muß jeder feste Körper eine Ausdehnung in vier Di­ mensionen aufweisen: er muß Länge, Breite, Höhe und Dauer besitzen. Aber infolge einer naturbedingten menschlichen Schwäche, die ich Ihnen gleich erläutern werde, neigen wir dazu, diese Tatsache zu übersehen. Es gibt also wirklich vier Dimensionen: drei, die wir die drei Ebenen des Raumes nennen, und eine vierte, die Zeit. Der Mensch neigt jedoch dazu, eine unrealistische Unterscheidung zwischen den drei ersten und der vier­ ten Dimension zu treffen, weil sich sein Bewußtsein nun einmal von An­ beginn bis zum Ende seines Lebens mit Unterbrechungen entlang der vierten Dimension bewegt.“ 1II

Es handle sich lediglich um eine andere Betrachtungsweise der Zeit, und er behauptet ferner: „Es gibt keinen Unterschied zwischen der Zeit und einer der vier Dimen­ sionen des Raumes, abgesehen davon, dass unser Bewußtsein sich entlang der Zeitlinie bewegt.“ ’

Sein Einfall, die Zeitreise mittels einer Maschine zu bewältigen, war zwar nicht gänzlich neu b, aber sie lieferte der Science Fiction mit einem dem technisch-wissenschaftlichen Zeitalter angemessenen Fort­ bewegungsmittel einen entscheidenden Durchbruch: Nicht Träume, nicht Wahn, eine Maschine ermöglicht das Reisen in der Zeit, so wie andere Maschinen das Reisen im Raum. Die Maschine selbst ent­ spricht durchaus viktorianischen Vorstellungen, sie ähnelt einem 1 Verschiedene Vorformen erschienen bereits früher in Zeitschriften, vor al­ lem „The Chronic Argonauts“ 1888 in The Science School'sJournal. I H. G. Wells: Die Zeitmaschine. Eine Erfindung. Neu übersetzt von Peter Naujack (detebe 67/3). Zürich: Diogenes 1974, S. 8 ’ Ebendort, S. 8 II So wird der Ludditische Steinklopferhans in der „G’schicht’ von der Wa­ schin'“ aus den Märchen vom Steinklopferhans (1884) vom Geist der von ihm zerstörten Maschine auf eine Fahrt in die Zukunft entführt, wo er nur glückliche Arbeiter sieht, denen die Maschine die Bürde der manuelle Arbeit abgenommen hat, was ihm eine Lehre ist; siehe Roland Innerhofer: Deutsche Science Fiction 1870-1914. Rekonstruktion und Analyse der Anlange einer Gattung. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1996, S. 416. Natürlich mag man geteilter Meinung sein, ob es sich beim Geist einer beliebigen Maschine, was eine übernatürliche Erscheinung bemüht, um eine echte Zeitmaschine handelt.

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Minden: Bruns 1904

Zürich: Diogenes 1974

Fahrrad mit einem Sattel und ist aus Nickel, Elfenbein, Bergkristall und Quarz gefertigt - vielleicht ein Indiz, wie unwichtig für Wells die Beschreibung einer Maschine war, über deren Beschaffenheit sich nichts Vernünftiges sagen ließ. Die „Zeitmaschine“ ist weniger me­ chanischer als vielmehr literarischer Natur, ein bloßes Vehikel, um den namenlosen Zeitreisenden (durch seine Namenlosigkeit drückt sich aus, dass er als Individuum keine Bedeutung hat, sondern ein Repräsentant der Menschheit ist und ein bloßer Beobachter) in die Zukunft zu befördern, die es ist, die Wells interessiert, nämlich die in Eloi und Morlocken, die Nachfahren der einstigen Arbeiter- und Ka­ pitalistenklasse, aufgespaltene seltsame und erschreckende Gesell­ schaft des Jahres 802 701; und später ins apokalyptische Szenario vom Ende der Zeiten und dem Untergang der Welt. H. G. Wells interes­ siert in der Zeitmaschine, so wenig wie in Die Ersten Menschen im Mond, die Reise selbst, sondern nur das Ziel der Reise, die seltsame Gesellschaft dort. Das Ziel der Zeitreise ist ein anderer Ort. Als eine Art Zeitreise kann man auch jene Geschichten betrachten, in denen die Zeit nicht dank menschlicher Einwirkung, sondern als unerklärte und unerklärliche Naturerscheinung, nach rückwärts läuft, wie in Ilse Aichingers berühmter „Spiegelgeschichte“ (1949). J. L. Bor­ ges, F. Scott Fitzgerald („The Gurious Gase of Benjamin Button“),

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J. G. Ballard, Philip K. Dick, aber auch Franz Werfel im Stern der Ungeborenen (1946) haben sich alle an diesem Spiel beteiligt, am pro­ vokativsten wohl Martin Amis in Times’ Arrow (1991, dt. Pfeil der Zeit, 1993) in denen die KZs zu Geburtsstätten des Judentums wer­ den. In einer von Fredric Browns Kurz-Kurz-Geschichten („The End“ in Nightmares and Geezenstacks, 1961) bewirkt eine Zeitma­ schine das Rückwärtslaufen der Zeit, was sich auch darin äußert, dass die zweite Hälfte der Geschichte in umgekehrter Reihenfolge erzählt wird. Sehr früh ist die Richtung der Zeitreise nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit. Motive für solche Zeitreisen sind die Erforschung der Vergangenheit, man will Geschichte selbst erleben, sehen, wie es wirklich gewesen ist, aber auch aus purem Unterhaltungsbedürfnis. In manchen Geschichten entwickelt sich ein Zeittourismus mit allen unangenehmen Nebenerscheinungen eines solchen, so dass sich die Leute gegenseitig fast auf die Füße treten (etwa John Wyndhams „Pawley’s Peepholes“). Katastrophenbesichtigungszcitrcise findet in C. L. Moores „Vintagc Season“ (1946) statt. Beliebtestes Ausflugsziel, in manchen Geschichten selbst für Außerirdische, ist natürlich die Kreuzigung. Harmlose Geschichten wicj. J. Benitcz’ Operation Jesus, der Augenzeugenbericht eines Zeitreisenden von den letzten elf Tagen des Jesus von Nazareth (1993, im spanischen Original Cahallo de Troya, 1984), bestätigen bloß, dass die Bibel in allen Einzelheiten recht hat. Aber Michael Moorcocks Held Karl Glogaucr in Behold the Man ( 1966, überarbeitet 1969) findet beim besten Willen keinen historischen Jesus und ist dazu bestimmt, selbst zu Jesus zu werden und am Kreuz zu sterben: ein definitiv unheiliger Mann. Auch das Bedürfnis der Menschen nach Großwildjagd lässt sich durch Zeitrei­ sen befriedigen, vor allem die Jagd auf Dinosaurier. Eines der be­ rühmtesten Beispiele, Ray Bradburys „A Sound of Thunder“ (1954) wird gerne zur Illustration der Chaos-Theorie herangezogen: Ein achtlos zertretener Schmetterling verändert die ganze folgende Evolu­ tion und führt zu einer ganz anderen Weltgeschichte. Andere Ge­ schichten dieser Art sind Brian W. Aldiss’„Poor Little Warrior“ (1958) oder L. Sprague de Camps „A Gun for Dinosaur“ (1956). Oder aus einer friedlichen Zukunft kehren Sadisten oder Masochisten in die Vergangenheit zurück, um dort ihre Triebe auszuleben (z. B. Alfred Besters „The Roller Coaster“, 1953). Schon die ersten Nachfolgegeschichten der Zeitmaschine, etwa Wilhelm Bastines sehr triviales Die wiedergefundene Zeitmaschine 76

München: Piper & Co. 1946

Zürich: Diogenes 1974

(1914), Fred Hildcnbrandts (1892-1963) Die Uhr läuft falsch im Stun­ denglas (1930) oder Egon Friedells posthumes Die Reise mit der Zeit­ maschine (1946), späterer Titel Die Rückkehr der Zeitmaschine, prä­ sentieren Reisen in die Vergangenheit. Bastine und Friedell knüpfen direkt an die Wclls’sche Geschichte an und bieten Fortsetzungen; bei Bastine frischt der Held vor allem Jugenderinnerungen auf, während Friedell sich in geschichtsphilosophischcn Erörterungen ergeht; alle drei Autoren nehmen die Geschichte vor allem von der humoristi­ schen Warte. Hildebrands Roman liefert eine Tour durch die Ge­ schichte; alle Versuche, sie zu verändern, scheitern aber an Kleinig­ keiten. Sehr früh taucht auch der Wunsch auf, Geschichte nicht nur als Augenzeuge zu beobachten, sondern auch mitzugestalten, die Ver­ gangenheit zu verändern. Oswald Levett (1884-1942, ermordet in Maly Trostinec bei Minsk), ein Bekannter von Leo Perutz, lässt den Helden von Verirrt in den Zeiten (1933) im Dreißigjährigen Krieg stranden und einen vergeblichen Versuch machen, die Barbarei der Zeit zu zivilisieren. Der Gedanke taucht schon bei Mark Twain in A Yankee in King Arthur’s Court (1889) auf, dessen Held den unbe­ kümmerten Versuch macht, das Mittelalter zu technisieren, vor allem

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die Kriegführung durch die vorzeitige Einführung von Schießpulver und Sprengstoff, aber auch Elektrizität, was zu einem Gemetzel führt, aber nichts zur Zivilisierung der Welt beiträgt. Erfolgreicher ist da schon der Held von L. Sprague de Camps Lest Darkness Fall (1941, 1949), dem es gelingt, den Untergang des Römischen Weltreichs zu verhindern. In Antoni Slonimskis Torpeda czasu (1924, dt. Der Zcittorpcdo, 1984), einem polnischen Klassiker, fuhren die Eingriffe in die Napoleonischen Kriege nur dazu, dass eine Art von Elend durch eine andere abgelöst wird. Zuweilen wird die gegenwärtige Geschichte nur durch einen Eingriff in die Vergangenheit erst herbeigeführt. Berühm­ testes Beispiel ist vielleicht Ward Moores Bring the Jubilee! (1953, dt. Der tiefe Süden), wo die Zeitmaschine eines Militärhistorikers aus der Zukunft die Truppen General Lees so in Verwirrung stürzt, dass Lee die Schlacht und der Süden den Sezessionskrieg verliert. In Porges’ Kurzgeschichte „Rescuer“ (1953) wiederum wird versucht, Jesus Christus vom Kreuzestod zu erretten, was Wissenschaftler, welche die Vernichtung der jüdisch-christlichen Kultur befürchten, verhindern.

Die Reise in die Vergangenheit mit der Möglichkeit des Eingriffs wirft ernsthafte philosophische Probleme und Paradoxa auf, welche die Autoren entweder herausstellen und auf die Spitze zu treiben ver­ suchen oder aber durch die Einführung von Nebenbedingungen aus­ schalten wollen, welche die Entstehung von Paradoxa verhindern sol­ len. Bekannt ist das Großvater-Paradoxon geworden: Was wäre, wenn man in der Zeit zurückginge und den eigenen Großvater tötete, ehe er Gelegenheit hätte, den Vater zu zeugen? Würde man damit selbst aus der Welt verschwinden? Die Zeitreisc ermöglicht durch ihre Paradoxa auch eine Variante jener Münchhausen-Episode, in der er sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht. Bekanntestes Beispiel ist Robert A. Heinleins „By His Bootstraps“ (1941), in dem der Held unabänderlich in einem Zeitkreis vom Typ, „Wer war früher, die Henne oder das Ei“ ' gefangen ist. Von demselben Autor stammt auch das ultimate Beispiel einer Selbstzeugung: In dieser Geschichte wird der Held durch Zeitreise cum Geschlechtsumwandlung zu sei­ nem eigenen Vater und der eigenen Mutter, also wer hat ihn in die Welt gesetzt? („All you Zombies“, 1959). Manche Autoren nehmen zur Vermeidung solcher Paradoxa an, dass die Zeitreisenden die Vergangenheit nur beobachten, aber nicht 7 Bernd Rullkötter: Die Wissenschaftliche Phantastik der Sowjetunion, a. a. O. (wie Anm. 1), S. 162

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in sie eingreifen können; andere, dass sie wohl aktiv werden, aber durch jede Reise in die Vergangenheit eine eigene Zeitlinie schaffen, die völlig getrennt von anderen ist. Die Schaffung einer „Zeitpolizei“, die unerwünschte Eingriffe in die Vergangenheit verhindern soll, ist nur eine Notlösung und die Er­ öffnung einer Plattform für die vielfältigsten Abenteuergeschichten oft blutiger Art (wie die „Time Patrol“-Geschichten von Poul Anderson oder H. Beam Pipers Serie von der Parazeit-Polizei), weil sich durch polizeiliche Maßnahmen die ontologische Wirklichkeit nicht zähmen lässt. „Temporal engineering“, teils kritischer, teils zustimmender Art gibt es etwa in Isaac Asimovs Thc End of Etcmity (1955), in dem die Institution der „Ewigen“, Zeitinspektoren, die Konflikte verhindern sollen, schließlich aufgegeben wird, weil dadurch auch viele Genies nie zur Entwicklung kämen. Das Grundproblem ist ja, wenn man in der Zeit zurückgehen und die Vergangenheit verändern kann, dann bedeutet das nicht nur das Ende der Determination, sondern auch das Ende der Geschichte, dann gibt es keine feste Vergangenheit mehr, weil jedes Ereignis wie jede Veränderung eines Ereignisses nur vorläufigen Charakter hat, bis es wieder von jemand anderem geändert wird. Das wird in Fritz Leibers Erzählungen vom „Change War“ deutlich. Ein Autor hat das schöne Bild gebraucht von einer Tafel, die man beliebig beschriften

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und das Geschriebene wieder wegwischen und durch etwas anderes ersetzen kann8. Das wäre ebenso das Ende der Utopie wie jeder eschatologischen Geschichtsauffassung. Eine mögliche Lösung, die Vielwelten-Theorie der Quantenphysik, die viele Physiker für wahr halten, dass sich nämlich die Welt an der Wegkreuzung jeder Ent­ scheidung tatsächlich verzweigt (das Paradoxon von Schrödingers Katze, die entweder tot oder lebendig oder eben beides ist), liefert kei­ nen wirklichen Ausweg, sondern müsste erst recht in Nihilismus oder einem heroischen Existenzialismus münden: wenn es bei jeder mögli­ chen Entscheidung zwischen einer guten und einer bösen Entwick­ lung beide in verschiedenen Welten realisiert werden, so würde das nur die Vergeblichkeit alles menschlichen Tuns bedeuten, weil es für jede gute Tat in einer anderen Welt auch das böse Gegenstück geben müsste. Dann wäre jede Anstrengung der Weltverbesserung vergeb­ lich, weil es zwangsläufig auch unendlich viele schlechte Welten geben müsste, und, auf die Gesamtheit der Welten bezogen, sich gar nichts verbessern würde. Jeder könnte höchstens die Welt für sich verbes­ sern, eine neue Form des Egoismus; oder eines heroischen Existenzia­ lismus, dass man sich bemühen sollte, für sich, auch wenn das im Weltenganzen gar nichts ändert. Ein Beispiel einer solchen heroischen Haltung liefert Philip K. Dicks Roman Now Wait for Last Year, wäh­ rend sich etwa Gregory Benfords preisgekrönter Roman Timescapc (1980) dieser Problematik nicht stellt, sondern naiv eine Weltverbesse­ rung anhand von aus der Zukunft empfangenen Daten betreibt, ohne zu erkennen, dass diese Weltverbesserung (einer Welt unter unzähli­ gen gleichberechtigten) gar nichts bedeutet. Aber mit den philosophi­ schen Implikationen der Zeitreise, die oft eine Reise durch alternative Zeitlinien ist, beschäftigen sich die Autoren nur selten. Stephen Baxters The Time Ships (1995) ' eine „autorisierte“ Fortsetzung der Zcit" Michio Kaku: Im Hyperraum. Eine Reise durch Zeittunnel und Paralleluni­ versen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1998, S. 10: „Was wäre, wenn man die Geschichte so leicht verändern könnte, wie man eine Tafel abwischt? Unsere Geschichte wäre wie Sand am Strand, der mal hierhin und mal dorthin weht. Jedes Mal wenn jemand die Wählscheibe einer Zeitmaschine betätigte und irgend­ wo durch die Vergangenheit reist, würde sich die Geschichte verändern. So wäre Geschichte, wie wir sie kennen, nicht mehr möglich. Es gäbe sie nicht mehr.“ 1 Eine ausführliche Darstellung dieses Romans liefert Konrad Paul Liessmann in „>Zum Raum wird hier die Zeit