Die magische Schreibmaschine :Aufsätze zur Tradition des Phantastischen in der Literatur 9783964566911


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Inhalt
Vorwort
ÜBERLEGUNGEN ZUR TEXTSORTE 'FANTASTIK' ODER BORGES UND DIE NEGATION DES FANTASTISCHEN: RHIZOMATISCHE SIMULATION, 'DIRIGIERTER ZUFALL' UND SEMIOTISCHES SKANDALON
ZUR ENTWICKLUNGSSTRUKTUR DER TSCHECHISCHEN PHANTASTIK BIS ZU KAREL CAPEKS KRAKATIT: REPRÄSENTATION, INNERER BAU DER DINGE UND ZEICHENAUFLÖSUNG
"WUNDERLICHE FANTASIE". VORAUSSETZUNGEN UND MÖGLICHKEITEN 'LITERARISCHER FANTASTIK' IN DER DEUTSCHEN LITERATUR DES 18. JAHRHUNDERTS
"DASS DAS WUNDERBARE NUR SCHEINBAR IST UND BLOSSES SPIEL"? REALISATIONEN DES PHANTASTISCHEN IN DER DEUTSCHEN LITERATUR DES 19. JAHRHUNDERTS
PHANTASTIK UND/ODER PSYCHOANALYSE. ANMERKUNGEN ZU EINIGEN ASPEKTEN EINER PROBLEMATISCHEN BEZIEHUNG
DIE VERGANGENHEIT ALS ALPTRAUM - DYSTOPIEN1 IN DER AMERIKANISCHEN FRAUENLITERATUR
JACQUES CAZOTTE: LE DIABLE AMOUREUX. NOUVELLE ESPAGNOLE. VORSCHLAG ZU EINER ANDEREN LESWEISE
DAS PHÄNOMEN DES SPUKHAUSES IN DER PHANTASTISCHEN LITERATUR UND DER ESOTERISCHEN GRUNDLAGENFORSCHUNG UM 1900
PHANTASTIK IM ERZÄHLERISCHEN SCHAFFEN VON JULIO CORTÁZAR
"DAS ANDERE IN DER ZEIT UNSERES EIGENEN DENKENS DENKEN": PHANTASTISCHES FABULIEREN IM SPANISCHEN REALISMUS
RADIUM UND LITERATUR
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Die magische Schreibmaschine :Aufsätze zur Tradition des Phantastischen in der Literatur
 9783964566911

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Elmar Schenkel, Wilfgang F. Schwarz, Ludwig Stockinger, Alfoiso de Toro (Hrsg.) Die magisch; Schreibmaschine

Leipziger Schriften zur Kultur-, Literatur-, Sprachund Übersetzungswissenschaft Bd. 8 HERAUSGEBER / EDITORS: Anne Koenen; Elmar Schenkel; Wolfgang F. Schwarz; Anita Steube; Ludwig Stockinger; Alfonso de Toro; Gerd Wotjak BEIRAT / ADVISORY BOARD: Angelika Hoffmann-Maxis; Karlheinz Kasper; Edgar Mass; Albrecht Neubert; Monika Ritzer; Ekkehard Stärk REDAKTION (Bd. 8): Claas Kazzer Silke Munsky

Elmar Schenkel, Wolfgang F. Schwarz, Ludwig Stockinger, Alfonso de Toro (Hrsg.)

Die magische Schreibmaschine Aufsätze zur Tradition des Phantastischen in der Literatur

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main • 1998

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die magische Schreibmaschine : Aufsätze zur Tradition des Phantastischen in der Literatur / Elmar Schenkel... (Hrsg.). - Frankfurt am Main : Vervuert, 1998 (Leipziger Schriften zur Kultur-, Literatur-, Sprach- und Übersetzungswissenschaft ; Bd. 8) ISBN 3-89354-268-X

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1998 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann, unter Verwendung einer Abbildung aus Willem 'sGravesande: Physices elementa mathematica Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigen Papier Printed in Germany

Inhalt

Vorwort

7

Alfonso de Toro: Überlegungen zur Textsorte 'Fantastik' oder Borges und die Negation des Fantastischen: Rhizomatische Simulation, 'dirigierter Zufall' und semiotisches Skandalon

11

Wolfgang Friedrich Schwarz: Zur Entwicklungsstruktur der tschechischen Phantastik bis zu Karel Capeks Krakatit: Repräsentation, innerer Bau der Dinge und Zeichenauflösung

75

Ludwig Stockinger: "Wunderliche Fantasie". Voraussetzungen und Möglichkeiten 'Literarischer Fantastik' in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts

103

Monika Ritzer. "Dass das Wunderbare nur scheinbar ist und blosses Spiel"? Realisationen des Phantastischen in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts

139

Kai-Ulrich Hartwich: Phantastik und/oder Psychoanalyse. Anmerkungen zu einigen Aspekten einer problematischen Beziehung

173

Anne Koenen: Die Vergangenheit als Alptraum - Dystopien in der amerikanischen Frauenliteratur

199

Brigitte Hocke: Jacques Cazotte: Le diable amoureux. Nouvelle espagnole. Vorschlag zu einer anderen Lesweise

227

Ralf P'annowitsch: Das Phänomen des Spukhauses in der phantastischen Literatur und der esoterischen Grundlagenforschung um 1900 273 Claudia Gatzemeier: Phantastik im erzählerischen Schaffen von Julio Cortázar

301

6 Kian-Harald Karimi: "Das Andere in der Zeit unseres eigenen Denkens denken": Phantastisches Fabulieren im spanischen Realismus 327 Elmar Schenkel: Radium und Literatur

387

Vorwort Der Sammelband, der aus einer Ringvorlesung der Philologischen Fakultät der Universität Leipzig hervorgegangen ist, will der Differenzierung der Schreib- und Lesweisen des Fantastischen und seiner Funktionalität im kulturellen Kontext Raum geben, ohne methodische Dogmatik und in unterschiedlichen Literaturarealen. Die Poetologie des Fantastischen, die Funktionsanalyse der 'magischen Schreibmaschine', hat durch Tzvetan Todorovs Darstellung der invarianten Strukturgegebenheiten des Genres entscheidende Impulse erhalten. Die heute schon klassische Definition in Introduction à la littérature fantastique (1970, dt. 1972)1 macht deutlich, daß es sich im Kern der Sache um ein ästhetisches Unbestimmtheitsphänomen, um eine Ambiguität narrativer Strukturen handelt, einen semantischen Balanceakt auf der Demarkationslinie zwischen disparaten Seinsbereichen: zwischen dem empirisch Plausiblen, QuasiRealen (vraisemblance), rational Faßbaren einerseits und dem Kontraempirischen, Übernatürlichen, Irrational-Imaginären, zumindest einem sich der Ratio entziehenden Rest, dem Verstoß gegen ein "fundamental-ontologisches Basispostulat" (Wünsch 1991: 19)2 andererseits. "Realität oder Traum? Wahrheit oder Illusion?" - Unschlüssigkeit, das Zögern (l'hésitation) ist es, was Leser und Personen der Geschichte bannt (Todorov 1970: 29 - 30, 36 u. 46). Todorovs Definition geht allerdings von einem ziemlich engen Werkkorpus aus. Sie stützt sich im wesentlichen auf eine exemplarische Auswahl fantastischer Narrativik des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts, insbesondere Texte von Jacques Cazotte, Jan Potocki, E.T.A. Hoffmann, Edgar A. Poe, Nikolaj Gogol1 - Texte aus einer Hochphase der Fantastik, welche die Übergänge aufklärerischer/romantischer und romantischer/realistischer Diskurs einschließt, eine Epochenspanne, die nachhaltig geprägt ist von einer 1. Einführung in die fantastische Literatur. München: Hanser. 2. Die fantastische Literatur der frühen Moderne (1890 - 1930). Definition. Denkgeschichtlicher Kontext. Strukturen. München: Wilhelm Fink Verlag.

8 "métaphysique du réel et de l'imaginaire". Aus der Rückschau mag dann die fantastische Literatur vor allem als Produkt des "schlechten Gewissens dieses positivistischen 19. Jahrhunderts" (Todorov 1970: 176) erscheinen, als Genre, das schließlich (wie Todorov es pointiert hat) durch die Psychoanalyse "ersetzt", damit seiner Funktion und seiner Existenzfahigkeit beraubt worden sei. Nun hat sich, wie die Entwicklung gezeigt hat, die Fantastik mit der Entfaltung des künstlerischen Realismus aber ebensowenig erübrigt wie mit der Behandlung von Verdrängungskomplexen durch die Psychoanalyse. Die magische Schreibmaschine ist Todorovs Diktum zum Trotz nicht stillgestanden, im Gegenteil, ihr Aktionsradius hat sich erweitert. Dies zeigt sich in der Vielfalt der in diesem Band vertretenen Schreibkulturen. Die Modellierung literarischer Welten unterliegt als Semioseprozeß den sich wandelnden epistemischen Bedingungen der Zeichenverwendung epochen- und kulturabhängig. Daß es deshalb einer "Historizitätsvariablen" für die Fantastik bedarf, hat zuletzt Marianne Wünsch (1991: 14) deutlich gemacht. Fantastik ist nicht nur Produkt des späten 18. und des 19. Jahrhunderts, sondern lebt über diese Zeit hinaus und hat Bezüge auch zu früheren und späteren Epochen. Wenn wir vom kultursemiotischen Entwicklungsmodell Foucaults {Les mots et les choses) ausgehen, wird die literarische Fantastik gerade in der Phase besonders produktiv, die durch das Eindringen in den 'inneren Bau der Dinge' charakterisiert ist. Dieser Prozeß wird von ihr auf vielfaltige Weise reflektiert. Eine elementare Rolle spielt dabei die Referentialität, bzw. der Umgang mit dem Prinzip der Mimesis. Nach einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit einigen zentralen Thesen zur fantastischen Literatur seit den fünfziger Jahren, bis hin zu Wünsch (1991), versucht Alfonso de Toro im Verlauf einer Diskussion, während der er seinen eigenen Standort bezüglich der Definition der Fantastik bestimmt, abweichend von der bisherigen Borges-Forschung nachzuweisen, daß Jorge Luis Borges im Kontext des postmodernen Denkens eine Simulation und damit zugleich auch eine Auflösung des fantastischen Genres betreibt. Im epistemologischen Zusammenhang fragt Wolfgang F. Schwarz nach der Diachronie des Fantastischen am Beispiel der tschechischen Literatur, ausgehend vom sicherlich bedeutendsten tschechischen SF-Autor unseres

9 Jahrhunderts, Karel Capek. In den Blick kommt dabei auch die Entwicklung der Allegorie vom Spätmittelalter ("Tkadlecek") über das Barock (bei J.A. Comenius) bis zur Moderne. Speziell der deutschen Literatur sind die Beiträge von Ludwig Stockinger und Monika Ritzer gewidmet. Konzentriert sich der erstere auf die Gestaltung, Reflexion und Funktionalisierung fantastischer Strukturen vor dem Hintergrund der Spannung zum Diskurs der Aufklärung im späten 18. Jahrhundert, exemplarisch vorgeführt am Beispiel von Goethes "Erlkönig"Ballade, bietet Ritzer eine Entwicklungsbetrachtung zum Fantastischen in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. Der Beitrag von Kai-Ulrich Hartwich und die gender-study von Anne Koenen unterziehen aus verschiedenen Blickwinkeln das Verhältnis von Psychoanalyse und fantastischer Literatur der Kritik. Jenseits von Freuds "Falschlesen" von E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann" - Beispiel für dessen "emblematisches Nicht-Sehen des Weiblichen" - erschließt Koenen eine normbrechende Funktion des Fantastischen in dessen Artikulation "der marginalisierten Perspektiven von Frauen und Minoritäten". Als Erklärungsrahmen für das Auftreten und die Entwicklung von Fantastik verdient der sich wandelnde epistemische Kontext besondere Beachtung. Im Zusammenhang mit der Dynamik dieses Kontextes stellt sich die Frage nach der Herausbildung von spezifischen Schreibweisen oder auch Varianten Lektüren, wie zum Beispiel in Brigitte Hockes Cazotte-Analyse. Dies gilt sowohl für den von Todorov erfaßten Ausschnitt als auch darüber hinaus, für verschiedene kulturelle Entwicklungsstränge und Kontexte, in synchroner und diachroner Perspektive. Ralf Pannowitsch geht am Phänomen des Spukhauses der Frage nach der Identität des Fantastischen in der Gegenüberstellung von fiktionalen Texten und okkultistischen oder parapsychologischen Fallbeschreibungen (Camille Flammarion, 1923) nach. Französische, deutsche und angloamerikanische Literatur sind hier im Blickfeld. Claudia Gatzemeier setzt sich mit dem Stellenwert und der poetischen Grundlage moderner Fantastik bei Julio Cortázar auseinander, dessen Konzeption in eine bemerkenswerte Umwandlung der traditionellen Gattung im 20. Jahrhundert mündet.

10 Kian Harald Karimi erörtert die epistemologischen Voraussetzungen und ihre Konsequenzen für die Funktion von Fantastik im Roman des spanischen Realismus (Pérez Galdós- mit Blick auf Honoré de Balzac). Einen besonders markanten Aspekt des Rezeptionszusammenhangs zwischen Naturwissenschaft und Fantastik beschreibt Elmar Schenkel am Beispiel der Thematisierung des Radiums und der Röntgenstrahlung. In den Beschreibungskontext gehen dabei fantastische Literatur, Alltags- und Unterhaltungskultur ein. In der Pluralität der Schreibweisen zeigt sich, daß das Ausloten der Funktionsvariationen und Entwicklungspotenzen des Fantastischen eine semiotische Metamorphose zum Vorschein bringt, die mit Veränderungen der poetischen Positionen in der Kulturentwicklung korrespondiert. - Die magische Schreibmaschine tippt weiter. Die Herausgeber

Leipzig, Oktober 1997

Alfonso de Toro

ÜBERLEGUNGEN ZUR TEXTSORTE 'FANTASTIK' ODER BORGES UND DIE NEGATION DES FANTASTISCHEN: RHIZOMATISCHE SIMULATION, 'DIRIGIERTER ZUFALL' UND SEMIOTISCHES SKANDALON Man könnte sagen, daß die fantastische Literatur beinahe eine Tautologie ist, denn alle Literatur ist fantastisch. (Borges 1985: 18)' With "The Approach to al-Mu'tasim", "Pierre Menard", and "Tlön, Uqbar, Orbis Tertius", Borges has created a new literary genre, part essay and part fiction. These stories, exercises in unceasing intelligence and buoyant imagination, devoid o f heaviness or of any human element - either emotional or sentimental - are destined for intellectual readers, for students o f philosophy, and almost for specialists in literature. (Bioy Casares 1972: 228)

I DIE FANTASTIK IN DER AKTUELLEN FORSCHUNG EINIGE AUSGEWÄHLTE POSITIONEN Der Titel dieses Beitrags mag bei Ihnen Befremden auslösen. Es behagt mir selbst in der Tat nicht, eine Ringvorlesung über die Fantastik mit einer Negation zu eröffnen. Es wäre sicher viel sinnvoller, eine solche Vorlesung mit der Darstellung der verschiedenen Theorien über die Fantastik im allgemeinen und über jene bezüglich der Borgesschen Fantastik zu beginnen. Kann man überhaupt so ohne weiteres über die Fantastik oder über die Novelle reden eine Erzählform, die eng mit der Fantastik verbunden ist? Sollten nicht vielmehr einige Anmerkungen zum Forschungsstand und zu allen mit dem zu behandelnden Gegenstand verbundenen Problemen am Anfang einer solchen Vorlesung stehen? Ferner wird der frappierte Hörer bzw. Leser unter Ihnen sicher mit Staunen feststellen, daß Borges plötzlich keine fantastische Literatur verfaßt haben soll, was eine kühne, ja in hohem Maße willkürliche und unakzeptable Behauptung darstellt, da sie sich beinahe gegen die gesamte spezialisierte Borges-Forschung - und nicht nur gegen diese - stellt. Sie wer-

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den argumentieren, daß Borges und Kafka untrennbar mit dem Terminus 'Fantastik' verbunden sind, so wie Stanislav Lern mit dem Begriff der Science Fiction in Zusammenhang gebracht wird; daß Borges und die Fantastik wohl einen unumstößlichen literaturwissenschaftlichen Topos bilden. Sie haben Recht, meine Position kann durchaus skeptisch bewertet werden. Ich möchte aber zu bedenken geben, daß ich freilich nicht soweit gehen und die Fantastik bei Borges völlig ausschließen will. Es sei jedoch hier erlaubt, eine bestimmende Rolle dieser Textsorte2 bei zentralen Texten von Borges anzuzweifeln und die bisher favorisierte Forschungsmeinung - wenn nicht gänzlich umzustoßen - so doch stark zu relativieren. Um dies zu erreichen, möchte ich in zwei Schritten vorgehen: Zuerst sollen einige repräsentative Forschungsmeinungen über die Fantastik und andere, die speziell über die Fantastik bei Borges geäußert wurden, in aller Kürze kritisch beleuchtet werden (so wird der Zuhörer und spätere Leser nicht allzu enttäuscht von diesem Initiationsbeitrag). Schließlich soll vor dem Hintergrund der Forschungsmeinungen, die Borges als einen Vertreter der Fantastik par excellence verstehen, diese Einschätzung anhand eines Gegenvorschlags relativiert werden, wobei wir aufzeigen möchten, daß bei Borges ein Diskurs existiert, der der Fantastik zuwiderläuft. Ich fasse also in einem ersten, allgemeinen Abschnitt die ersten zwei Vorhaben zusammen und behandle Borges und die Negation des Fantastischen in einem zweiten Teil. Das Hauptziel dieses Beitrags besteht darin zu belegen, daß das, was manche Texte bei Borges als fantastisch erscheinen läßt, auf einem theoretischen Mißverständnis beruht, denn Borges entledigt sich der Mimesis und damit sowohl der Wirklichkeit als auch der Fantastik und ersetzt die herkömmlichen Vertextungsverfahren durch die der Simulation und des Rhizoms im Sinne von Baudrillard und Deleuze/Guattari, wie ich bereits in anderen Beiträgen gezeigt habe (de Toro 1992/21995; 1994; 1995). Dies macht es wiederum erforderlich, daß ich mit einer Erläuterung darüber beginne, was ich unter Fantastik verstehe. Allerdings werde ich nur jene Aspekte der internationalen wissenschaftlichen Diskussion erörtern, die mir für meinen eigentlichen Gegenstand - Borges und die Negation des Fantastischen - als adäquat erscheinen, weil sich meiner Ansicht nach die theoretische Diskussion über die (v. a. herkömmliche) Fantastik, wie sie sich in den Arbeiten von Castex

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(1951/ 3 1968); Schneider (1964); Caillois (1965); Todorov (1970/ 1975); Vax (1960/ 3 1970); Jacquemin (1974); Suvin (1979); Finne (1980); Thomsen/ Fischer (1980/ 2 1985); Marzin (1986); Cersowsky (1983); Wörtche (1987); Wright (1989); Wünsch (1991) niederschlägt, weitestgehend erschöpft hat, darüber hinaus jedoch eine Reihe von Gemeinsamkeiten zeigt, die als Ausgangspunkt für jegliche Reflexion über die Textsorte dienen können. Dabei scheint sich die Position Todorovs, trotz der zuweilen erbitterten Kritik, durchgesetzt zu haben, was u. a. die Arbeiten von Marzin (1982) und Cersowsky (1983) deutlich belegen. Mein Ziel sollte also nicht darin bestehen, einen weiteren Beitrag zur Definitionsproliferation zu leisten, sondern im Gegenteil darin, den Versuch zu unternehmen, darzustellen, wie bestimmte literarische Manifestationen des 20. Jahrhunderts, wie etwa die von Borges (ich könnte auch Kafka, Calvino, Pynchon, Sukenick, Federman, Barth nennen), die sich ganz offensichtlich allen möglichen Einordnungsversuchen zu entziehen scheinen, behandelt, benannt und definiert werden könnten, ohne bei der bloßen Feststellung stehen bleiben zu müssen, daß es sich hierbei um ein Novum handle. Die Definition der Fantastik sowie der dazu gewählte Textkorpus bedingen sich gegenseitig, daher muß man wohl bei jeder Erörterung der Textsorte Fantastik entscheiden, von welcher Definition man ausgeht, um sich zumindest im eigenen Kontext intersubjektiv zu äußern.

1.1 Die Textsorte des Fantastischen und ihr struktureller und epistemologischer Status Es ist allgemein bekannt, daß der Begriff'fantastische Literatur1 innerhalb der Literaturtheorie - sieht man von Nodier einmal ab3 - neueren Datums ist, was nicht verwundert, da sich die Textsorte 'Fantastik' in Europa - speziell in Frankreich - am Ende des 18. Jahrhunderts als Textsorte konstituiert und im 19. dann ihren Höhepunkt erreicht (Vax 1960/31970; Todorov 1970/1975; Schneider 1964; Blüher 1985), worauf auch Jehmlich (1980/ 2 1985: 13 ff.), Penning (1980; 2 1985: 34 ff.) und Wünsch (1991: 7) hinweisen. Man spricht von 'fantastischer Literatur' vor allem in der französischen (mit eindeutig

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internationalem theoretischen Einfluß) und englischen Literaturwissenschaft, auch dann, wenn im englischen Bereich dieser Begriff nicht immer direkt verwendet wird. In der Regel wird er dort umschrieben und mit anderen, sich aus den Textkorpora ergebenden Denotaten versehen4, eine Praxis, die bis heute üblich ist, wie ein Blick in die gegenwärtige angelsächsische Diskussion über Fantastik zeigt (Scholes/Rabkin 1977; Suvin 1979; Thomsen/ Fischer 1980/21985; Hoffmann 1982: 267 - 364; Olsen 1987: 124 - 132). Da unterschiedliche Termini unterschiedliche Textsorten erfassen, erweist es sich als unerläßlich, sowohl die logisch-semantische 'Extension' als auch die 'Intensión' dieses Begriffes zumindest für den vorliegenden Beitrag zu bestimmen5. Sicher wird man den Begriff nicht mit dem Rekurs auf thematische, sondern auf strukturelle bzw. diskursive Elemente abgrenzen können; hierüber besteht im übrigen ein Konsens in der Forschung. Gattungen resp. Textgruppen oder -klassen (z. B. Drama), Texttypen (z. B. Tragödie) und Textsorten (etwa die Liebestragödie) betrachte ich nicht als feste Wesenheiten, sondern als funktionale Merkmalsbündel. Gattungen lassen sich vor dem Horizont der Diachronie und in der Vertikalität der Synchronie beschreiben. Sie sind also in diachronisch-synchronischen Systemen erfaßbar. Das hat zur Folge, daß eine Textsorte, z. B. die 'Fantastik', sich im Vergleich zur vorhergehenden, gegenwärtigen und nachfolgenden Textsorte des gleichen Typs definieren läßt bzw. definiert werden muß6. Ein weiteres Problem betrifft die Ebene, auf der man sich mit der Kategorie 'Fantastik' befaßt, d. h. die Begriffsextension. Es gibt ja nicht nur fantastische Literatur, sondern ebenso fantastische Photographie, Malerei, Filme, wobei das Medium einen entscheidenden Einfluß auf die poetologischen Kriterien hat, die als fantastisch gelten oder nicht (Thomsen 1980: 4, Teil III). Während die fantastische Literatur auf narrative Strukturen nicht verzichten kann, können die bildenden Künste wie Photographie, aber auch der Film sehr wohl ohne diese auskommen. Daher schlägt Wünsch (1991: 1 2 - 13) vor, die Fantastik neben den anderen historischen Gattungen wie etwa der Lyrik oder dem Drama als eine historische Gattung mit einer "elementaren Struktur" zu erfassen, die von einem bestimmten Texttyp unabhängig ist7. Damit wäre - so Wünsch weiter - die fantastische Literatur "keine elementare, sondern eine abgeleitete Größe" der Elementarstruktur 'Fantastik'. Ich

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werde mich demzufolge mit der Textsorte Fantastik im Sinne einer abgeleiteten Größe kurz befassen. Und noch eine Vorbemerkung: Wenn fantastische Literatur auf narrativen Strukturen fußt, in denen es darum geht, eine topographische oder normative Grenze zu überschreiten bzw. zu verletzen (Lotman: 1973), so sind diese Strukturen nach einem bestimmten historisch-kulturell variablen Weltbild geschaffen und damit mimetischer Natur. Was als Norm oder als Grenze bzw. als Verletzung angesehen wird, ist freilich von Kultur zu Kultur, von Epoche zu Epoche verschieden. Hier haben wir eine Gegenüberstellung von 'Wirklichkeit' und 'Fiktion' in der Art, wie sie Jakobson (1921/1971: 373 - 391), Tynjanov (1924/1971: 3 9 3 - 431) und Höfner (1980) beschrieben haben. Diese Klarstellung ist insofern notwendig, weil Wünsch (1991: 17) der fantastischen Literatur ihren mimetischen Status abspricht (dazu mehr 25 ff.). Über den grenzüberschreitenden und mimetischen Charakter bzw. Status der Fantastik besteht jedoch ansonsten ein Konsens in der Forschung. Werfen wir einen kurzen Blick auf die Erforschung der Textsorte 'Fantastik', so erfahren wir, daß sie im Gegensatz zum realistischen Roman bzw. zur realistischen Novelle auf der Grundlage der Opposition 'Wirklichkeit vs. Wunderbares' definiert wird, wobei man davon ausgeht, daß die Fiktion bemüht ist, die Wirklichkeit naturgetreu nachzuahmen bzw. diese zu modellieren oder zu problematisieren und in einen Wettkampf mit dieser einzutreten 8 . Daher läßt sich die Relation 'Literatur/Wirklichkeit' in der Opposition 'Wirklichkeit vs. Fiktion' erfassen, wobei der Fiktion - Lotman (1973) folgend der Status eines sekundärmodellbildenden Systems zugewiesen wird. Ohne die Gegenüberstellung des Unerklärlichen und des Wirklichen kann die Textsorte 'Fantastik' nicht definiert werden. Dabei betrachtet man jegliche Verletzung der in einer bestimmten Welt geltenden Gesetzmäßigkeiten (z. B. die Grenzüberschreitung von Wahrscheinlichkeitsnormen) als fantastisch. Die Welt des Fantastischen besitzt alle Merkmale der Alltagswelt, plötzlich aber haben die Figuren mit Ereignissen zu tun, die über die normale Erfahrungswelt hinausgehen. Todorovs Arbeit (1975: 25 ff.) geht eben von dieser Konzeption aus, die in einigen bekannten Definitionen der Fantastik, wie etwa von Castex (1951/ 3 1968: 8): "Das Fantastische [...] ist gekennzeichnet durch

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das brutale Eindringen des Mysteriums in den Bereich des wirklichen Lebens", Vax (1960: 5): "Die fantastische Erzählung [...] zeigt uns gern, wie Menschen wie wir, die in derselben wirklichen Welt leben, in der wir uns befinden, plötzlich mit dem Unerklärlichen konfrontiert werden" oder Caillois (1965: 161): "Das Fantastische ist stets ein Bruch mit der geltenden Ordnung, Einbruch des Unzulässigen in die unveränderliche Gesetzmäßigkeit des Alltäglichen" formuliert worden waren9. Todorov (1970/1975: 31 passim)10 definiert das rein Fantastische im Anschluß an die genannten Publikationen ausgehend von der "Unschlüssigkeit des Lesers" gegenüber der Unschlüssigkeit einer der handelnden Figuren, was eine Identifikation zwischen Figur und implizitem Leser voraussetzt. Dieses Kriterium ist äußerst problematisch, auch wenn es bei Todorov kein sine-qua-non-Prinzip, sondern nur eine hinreichend zu erfüllende Bedingung darstellt. Kann man wirklich die Leserhaltung des impliziten Lesers im Rahmen eines Identifikationshandlungsmusters voraussetzen, vor allem dann, wenn der Leser mit zwei Angeboten konfrontiert wird? Und was geschieht, wenn die ambivalente Haltung gegenüber dem Vorgefallenen nicht in der Figur, sondern in der Textstruktur steckt, d. h. wenn die Ambiguität nur durch eine Interpretation auf der Metaebene festzustellen ist? Und was, wenn diese gar nicht da ist oder wenn der implizite Leser sich trotz eines ambivalenten Angebots für eine Lösung entscheidet? Wer will darüber befinden, wie der Leser zu verstehen hat und wer soll seinen Lektüreakt bewachen? Eine solche Fragestellung entzieht sich jeglicher wissenschaftlicher Überprüfbarkeit und dürfte gerade im Rahmen einer strukturalen Gattungstheorie nicht gestellt werden, weil sie unbrauchbar ist". Die Antwort Todorovs - ausgehend von einem relativ kleinen Textkorpus - und hier setzt die Kritik an Todorov z. T. zu Recht an (Finne 1980: 3 0 - 3 1 ; Lern 1974: 109, 119, 1 2 0 - 1 2 1 ) - ist lapidar: die meisten Werke erfüllen beide Bedingungen, die Unschlüssigkeit des Lesers ergibt sich aus der im Werk dargestellten Ambiguität. Theoretisch ist dies eine allzu verständliche und logische Folge, denn wir hätten sonst ein Dilemma mit der unsinnigen Konsequenz, daß die Bildung von Gattungen abhängig von der Leserinterpretation würde12. Eine dritte Bedingung für die Definition des Fantastischen kommt hinzu: Der Leser darf den Text weder "poetisch" noch "allegorisch" lesen. Unter 'poetisch' versteht Todorov einen

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nicht-deskriptiven und nicht-referentiellen Diskurs, bei dem das Gesagte wortwörtlich zu lesen ist. Der poetische Diskurs resultiere - so Todorov (ebd.: 57) - aus der "Kombination von Wörtern, nicht von Dingen". Dieser verweist also nicht auf Außertextuelles und steht damit in Opposition zum Begriff 'Fiktion', der ein Referenzsystem außertextueller Beziehungen aufbaut. Die 'Allegorie' erfaßt Todorov (ebd.: 59 - 60) im Sinne Quintilians als eine "fortgesetzte Metapher", als eine Struktur also, die mindestens zwei Bedeutungen für dasselbe Lexem aufweist. Allegorisch lesen ist das Gegenteil von wortwörtlich lesen. 'Wortwörtlich' wird aber hier in einer anderen Bedeutung als in der Opposition 'poetisch vs. fiktional' verwendet, denn in diesem Fall bedeutet 'wortwörtlich' 'nicht-referentiell, nicht-darstellend', im Fall der Allegorie - in der Opposition 'allegorisch vs. wortwörtlich' also bedeutet der Term 'nicht im übertragenden Sinne zu lesen'. Dies ist sicher eine sehr unglückliche terminologische Vermischung. In beiden Fällen geht es aber um den Verzicht auf das Referenzsystem, auf einen äußeren Verweis. Zum einen handelt es sich um selbstreferentielle Zeichen, zum anderen um symbolhafte Zeichen, die über eine in der Allegorie verankerte Bedeutung hinaus verweisen. Diese beiden Vertextungs- bzw. Lesarten, die poetische und die allegorische, werden deshalb aus dem Fantastischen ausgeschlossen, weil sie die Ambivalenz zwischen Realem und Übernatürlichem unterminieren, und weil all das, was als übernatürlich eintritt, entweder sprachlich für sich bestünde (selbstreferentiell), also nicht auf die Wirklichkeit hinweisen würde und daher nur als das Übernatürliche als solches, als hingenommene, nicht weiter störende Gegebenheit bestehen bleiben würde - oder weil das Übernatürliche für etwas anderes stünde, eine überlagerte Bedeutung erhielte, die weder referentiell noch selbstreferentiell wäre. Und genau an diesem Punkt, meine Damen und Herren, begannen meine Zweifel einerseits, Borges' Werk der Fantastik zuzuschreiben, und meine Überlegungen andererseits, zahlreiche Texte seines Schaffens eher als deren Negation zu verstehen, was ich näher begründen werde. Die Definition von Todorov (1975: 43) führte zur Aufstellung seines berühmten Modells für die Fantastik, bestehend aus vier Termini:

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Unvermischt Unheimliches

FantastischUnheimliches

FantastischWunderbares

Unvermischt Wunderbares

1 I

Das rein Fantastische liegt in diesem Modell gerade im Grenzbereich dessen, was das 'Fantastisch-Unheimliche' und das 'Fantastisch-Wunderbare' ausmacht, wobei sich das 'Fantastisch-Unheimliche' als jenes unheimlich erscheinende Ereignis definieren läßt, das zum Schluß eine rationale Erklärung (wie Traumsituation, Trance, Halluzination usw.) erhält, im Gegensatz zu dem 'Fantastisch-Wunderbaren', bei dem das unheimlich erscheinende und Erstaunen erregende Ereignis zum Schluß als solches bestätigt wird. Während das 'unvermischt Unheimliche' durch völlig unglaubwürdige Begründungen erklärt wird, wird das 'unvermischt Wunderbare' als selbstverständlich akzeptiert. Wichtig sind in unserem Zusammenhang ebenfalls die Zuordnungen, die Todorov (1975: 108 - 109; 141) bezüglich des Ich-Themas vornimmt13, so z. B. die Behandlung der Relation Ich/Welt und der Teilmengen Wahrnehmung/Bewußtsein als Zugang zum Sehen, die Betrachtung des Spiegels als Mittel zum "Eindringen ins Universum des Wunderbaren", sowie die Möglichkeit, mit Hilfe der Textsorte Fantastik Grenzen zu überschreiten. Zu den von uns hier berücksichtigten Definitionen zählen die von Finné (1980: 123; 155), für den die Fantastik - im Rahmen seiner Untersuchung über die "kanonische Fantastik" (am Beispiel von Maurice Sandoz' Le labyrinthe, Jean Rays La cité de l'indicible peur u.v.a.) - aus der imposition fantastique (aus dem Sichaufdrängen, aus dem Sichdurchsetzen des Fantastischen) und aus den aventures fantastiques besteht. Zur ersten Kategorie gehören alle geheimnisvollen Vorkommnisse, die Versuche, diese Vorkommnisse rational zu erklären, die logische Darstellung, das Pendeln zwischen Imagination und Vernunft sowie die Durchsetzung der Erklärung des Übernatürlichen. Die zweite Kategorie erfaßt alle übernatürlichen Themen und die Akzeptanz des Übernatürlichen seitens der Figuren. Wesentlich für ihn ist die Erzählstrategie, d. h. der rhetorische Wille des Autors, dem Leser seine Geschichte als wahr zu präsentieren (ebd.: 123). Dieser Definitionsversuch beruht auf einer reichlich tautologischen und daher zunächst unbrauchbar anmutenden Definition: "Es wird jede Erzählung als fantastisch betrachtet, in der es sich um ein fantastisches Thema handelt oder zu handeln scheint"

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(ebd.: 13)14. Jede fantastische Erzählung muß demnach, was der Vf. den souffle fantastique - also den Hauch des Fantastischen - nennt, in sich tragen (ebd.: 41). Die Fantastik sei - so fahrt Finné fort - außerdem durch ein Spannungs- und ein Entspannungselement zwischen dem magischen und unerklärlichen Augenblick und dessen Erklärung (ebd.: 36 ff.) geprägt, wobei die Erklärung innerhalb der Logik des Übernatürlichen gegeben wäre, d. h. es müsse keine rationale Erklärung sein, denn das Übernatürliche ereigne sich durch den Eingriff einer an der Grenze stehenden übernatürlichen Kreatur (Finné 1980: 3 8 - 39)15. Den gemeinsamen Nenner für die Konstitution der Textsorte der 'kanonischen Fantastik' sieht Finné aber in erster Linie im Vorhandensein unheimlicher Ereignisse und nicht in der "Angst" oder in den fantastischen Themen als solchen, wie es bei einem Teil der Forschungsarbeiten zum Begriff der Fall ist. In der "Irritation" des Rationalen und in deren Auflösung liegt nach Finné die Kerndefinition des Fantastischen. Hier bewegt er sich aber auf einer Argumentationsebene, die jenen Definitionen ähnelt, bei denen Todorov das Kriterium der Angst als gattungsbestimmendes Merkmal der Fantastik moniert. Ein solches Kriterium gehört nicht zur Textstruktur, sondern zum intendierten Ziel einer Struktur, und dessen Eintreten oder Ausbleiben würde eine bestimmte Rezeption voraussetzen, wie Wünsch zu Recht bemerkt (Wünsch 1991: 8)16. Das Problem kann aber sicher gelöst werden, indem man die "Irritation" auf der Ebene der Textstruktur ansiedelt, und indem man das kulturelle Referenzsystem benennt und beschreibt, auf das sich das Unheimliche, das Irrationale, die Angst, die Irritation usw. beziehen17. Die Fantastik lebt ja von der steten Verletzung des Realitätsbegriffs und von der Alltagserfahrung des Rezipienten. Wichtig in unserem Zusammenhang ist die aus Caillois' Arbeit entliehene Auffassung Finnés, daß sich die fantastische Literatur auf der Ebene der "reinen Fiktion", des "Spiels", der "l'art pour l'art", der Beliebigkeit ansiedelt und daß sich der fantastische Diskurs der Wirklichkeit verweigert und keine Glaubenssätze vermitteln, sondern erfreuen und entspannen will.18 Allerdings verläßt Finné mit seiner Behauptung, das Fantastische beziehe sich nicht auf die Wirklichkeit, den Fundus an gemeinsamen Positionen in einem zentralen Aspekt der Definition des Fantastischen (vgl. oben Todorovs und unten Blühers Definition). Damit kündigt er die einzig solide Basis auf, um inter-

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subjektiv verständlich über den gattungstheoretischen Begriff der 'Fantastik' sprechen zu können. Ferner entgrenzt er damit die Extension des Begriffes Fantastik derart, daß dieser als 'Fantasie' bzw. als Kunst schlechthin zu verstehen wäre (Finné 1980: 1 5 - 17; vgl. auch Borges' Mottozitat). Von hier aus geht Finné zur Abgrenzung der 'kanonischen Fantastik' von der Neofantastik über, die für uns insofern von Interesse ist, da gerade Borges als Beispiel par excellence für diese Subtextsorte genannt wird. Die Neofantastik wird von Finné als ein Diskurs definiert, der sich vom Fantastischen absetzt, der Ideen verbreiten will und einen psychologischen und philosophischen Relativismus vertritt, der von metaphysischem und theologischem Denken umgeben ist und logische Postúlate zugunsten des Unfaßbaren und der subjektiven Wahrnehmung verkündet, die an eine Darstellung der Relativität des Realen, der Faszination, des Grauens und des Unendlichen gekoppelt sind. Die Neofantastik, an Borges exemplifiziert, gründe sich - so Finné weiter - auf die Angst vor der Opposition Endliches-Unendliches, sie suche eine "tröstende Harmonie" auf der Basis eines a priori festgelegten Diskurses (Finné 1980: 15 17). Finné unterscheidet insgesamt drei Subtextsorten des Fantastischen: a) die kanonische Fantastik, die immer mit der Wirklichkeit verbunden ist bzw. diese Verbindung als Konstitutionsvoraussetzung hat; sie besitzt einen ludischen und zweckfreien bzw. ungebundenen Status; b) die Fantastik ohne Bezug zur Wirklichkeit; c) die Neofantastik, die das Fantastische benutzt, um etwas zu vermitteln (sie ist analytisch und zweckgerichtet). Er schließt mit der Favorisierung der ersten Subtextsorte ab, weil sich in ihr das Fantastische ohne eine präexistierende Konvention mitten in der Alltagswelt entfaltet und in der normalen menschlichen "Erfahrung" als unmöglich erscheint (Finné 1980: 15). Für den Augenblick lasse ich die Äußerungen, die Borges betreffen, weitestgehend unkommentiert, da ich mich mit der sogenannten Fantastik bei Borges später (in Teil II) befassen werde und begnüge mich vorerst damit, daraufhinzuweisen - ohne auf die üble Polemik einzugehen, die Finné gegen Todorov vom Zaun bricht" daß Finné - wie auch Todorov, aus anderweitigen Gründen - eine Reihe von Texten und Verfahren aus der Untersuchung

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ausschließt und sich auf eine Subtextsorte des Fantastischen beschränkt. Finné hat dennoch in einigen Punkten seiner Kritik an Todorov Recht. Daß auch Finnés Definitionen und Abgrenzungen nicht unproblematisch sind, läßt sich nicht bestreiten und kann vor allem am unterscheidenden Kriterium zwischen der kanonischen Fantastik und der Neofantastik, wie erwähnt, dem Vorhandensein oder dem Fehlen des Ludischen und der Zweckungebundenheit, leicht gezeigt werden. Denn Borges' Diskurs das Ludische und die Zweckungebundenheit abzusprechen, wäre mit Sicherheit unzutreffend (Olsen 1986: 35 - 43, 40), obwohl Finné in diesem Punkt die Meinung eines großen Teils der traditionellen Borges-Forschung vertritt (dazu später mehr). Dennoch liefert er uns in seinem verdienstvollen und klugen Buch einige Anregungen, um unsere Frage zu beantworten, ob die Borgesschen Erzählungen eine Negation des Fantastischen darstellen oder nicht, wie etwa die Auffassung, daß der Diskurs von Borges einen psychologischen, philosophischen und theologischen Relativismus darstelle bzw. die Wirklichkeit relativiere oder daß das Fantastische sich im rein Fiktionalen abspiele. Blüher (1985) schließt sich in seinem als Standardwerk zu bezeichnenden Buch über die französische Novelle in der Hauptsache der herkömmlichen Forschungsmeinung an und bringt vor allem im Anschluß an Todorovs Arbeit (1975), der Blüher speziell im Bereich des 20. Jahrhunderts viel zu verdanken hat, eine Reihe von Klärungen und wesentlichen Unterscheidungen, bei denen manche für unseren Argumentationszusammenhang von Bedeutung sind. Er sieht (143- 147) im Anschluß an Castex (1951/31968), Schneider (1964) und Caillois (1975) die Innovation und das Kernmerkmal der Textsorte 'Fantastik' in der fantastischen Novelle des 19. Jahrhunderts, nach deren Anfängen mit Jacques Cazottes Le Diable amoureux (1772), Williams Beckfords Vathek (1786) im 18. Jahrhundert, mit Le Manuscrit trouvé à Saragosse (Teilausgabe 1805; zweiter Teil Avadoro. Histoire espagnole 1813) und mit der Gesamtausgabe von 1814, Les dix Journées de la vie d'Alphonse van Worden), wo das "in der Literatur anzutreffende FantastischÜbernatürliche nun innerhalb eines sonst strikt mimetischen Diskurses präsentiert wird" (143), und in einer

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intertextlichen Paradoxie, [die dadurch entsteht], daß das Novellengeschehen einerseits dem Prinzip einer absolut illusionistischen Wirklichkeitsdarstellung unterworfen wird, das dem Leser eine von natürlichen Gesetzen beherrschte Welt suggeriert, daß aber andererseits gewisse Handlungselemente eingebracht werden, die diesem Anspruch der Wahrscheinlichkeit und Logik absolut zu widersprechen scheinen. Auf der einen Seite wird die angebliche Realität der dargestellten Gegebenheiten mittels einschlägiger Erzähl verfahren [...] mit allem Nachdruck bekräftigt, auf der anderen Seite wird der Anschein der Intervention eines Übernatürlichen erweckt, das sich auf unerklärliche Weise in das Alltägliche und Natürliche mischt (144)

sowie im Anschluß an Todorov (1975) in einer "fundamentalen " besteht. Bei den verschiedenen Merkmalen der fantastischen Novelle hebt Blüher (ebd.: 149) außerdem die "Psychologisierung" der Fantastik hervor, d. h. die Einfuhrung von "subjektiv-psychischen Erklärungsangeboten" an den impliziten Leser, ein Merkmal, das mit der zunehmenden Bedeutung der Tiefenpsychologie im Laufe des 19. Jahrhunderts und erst recht im 20. Jahrhundert prägend sein wird. Hier fände sich Stoff aus den Bereichen des Illuminismus und Okkultismus sowie aus dem Religiös-Mythisch-Philosophischen. Hierzu gehörten "Traum- und Halluzinationserlebnisse oder Phänomene des Hellsehens, der Vorahnung oder der Telepathie" (ebd.: 150; 160). Die beliebteste Erzählform wäre der Ich-Code, der für eine Strategie zugunsten eines Wahrheitsanspruchs stünde. Grundsätzlich klassifiziert Blüher (ebd.: 156) die Fantastik des 19. Jahrhunderts als eine " Fantastik, die eine folkloristische oder okkultistisch-mythische Begründung erhält" und auch als eine " Fantastik, die eine psychologische oder parapsychologische Erklärung suggeriert". Die fantastische Novelle des 19. Jahrhunderts mit ihrer grundlegenden Opposition 'Wirklichkeit vs. Imaginäres' verliert - so Blüher weiter - aufgrund der Krise des Symbolismus um die Jahrhundertwende, der Abwendung von der Darstellung subjektiv-morbider Geisteszustände, der Abkehr von mystischen und okkultistischen Strömungen, von der dekadenten L'Art-pour-l'Art-Haltung [...] und der gleichzeitig einsetzenden Hinwendung zu einer [...] Begeisterung für das sinnliche Leben und die unmittelbar erlebte Natur, oder auch zum Engagement für gesellschaftskritische und politische Aktionen

an Bedeutung (ebd.: 163).

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Hinzu komme noch die Krise des realistischen Diskurses, die die Opposition 'Wirklichkeit vs. Imaginäres' relativierte, was letztlich zur Aufgabe des Wahrscheinlichkeitsprinzips - von Alfred Jarry an - fuhren würde (ebd.). Die fantastische Novelle des 20. Jahrhunderts wird sodann unter diesem Zeichen gedeihen. Die Grenzen zwischen "sinnlich Erfahrbarem und Rationalem" auf der einen Seite und zwischen "Übersinnlichem und Irrationalem" auf der anderen Seite beginnen sich zu verwischen (Blüher: 234 - 235). Hier spielen die surrealistische Novelle im Zuge der Kafka-Rezeption sowie die Novelle unter der Kapitelüberschrift "Vom nicht-mimetischen Text zur Mythenerzählung der Moderne: als Zeichenprozeß" (ebd.: 245, 258) eine bedeutende Rolle. Ich möchte mich hier nicht bei einigen terminologischen und theoretischen Problemen der Klassifikation aufhalten, sondern die Klassifikation dieser zwei Arten von Novellen lediglich kurz besprechen20. Die surrealistische Novelle verzichte, so Blüher, auch auf die bewußte Vertextung philosophisch-symbolischer Positionen des Autors - im Gegensatz zur symbolischen Novelle - sowie auf die Mimesis, sie greife auf die Freudsche Theorie des Unbewußten zurück und übernehme ein traumhaftallegorisches textuelles Konstruktionsprinzip. Die Nicht-Wirklichkeit bilde hier etwas Selbstverständliches, eine "autonome Textwirklichkeit", die zu einer "totalen Aufhebung der Opposition zwischen dem Wahrscheinlichen und dem Unwahrscheinlichen" führe, wodurch sich dieser Typ von Novelle grundsätzlich von der herkömmlichen Novelle unterscheide, die ja von der genannten Opposition lebe und sich auch durch sie definiere (ebd.: 245 246). Hier wird vor allem durch den Hinweis auf Todorovs Kriterium der Ambivalenz ersichtlich, warum Blüher auf den Term 'fantastisch' verzichtet: Auch für ihn bildet die stets präsente Opposition 'Wirklichkeit vs. Übernatürliches' den Inbegriff der Fantastik, eine Position, der ich mich voll anschließe. Von hier aus wird das Werk Kafkas aus der Kategorie 'Fantastik' ausgeschlossen und die Möglichkeit einer Botschaft (ob diese bewußt oder unbewußt vertextet ist, sei dabei gleichgültig) getilgt. Diese Position Blühers stammt ebenfalls von Todorov (1975: 1 5 0 - 156), der Kafkas Verwandlung dem Bereich des Unheimlichen und des Wunderbaren zuordnet und eine allegorische Lektüre zugunsten einer eindeutigen wortwörtlichen ausschließt21. Man könnte vielleicht die surrealistische und die symbolische Novelle, die ja eine

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"besondere Akzentuierung [einer] Tiefenstruktur" (Blüher: 247) zum gemeinsamen Merkmal haben, als 'Neofantastik" im Sinne Finnés definieren. Blühers Position macht auch deutlich, warum er - ebenso wie Todorov - Borges unerwähnt läßt, obwohl er zahlreiche andere, nicht-französische Autoren (v.a. deutsche) stets in seiner Argumentation berücksichtigt: Borges paßt weder in die Definitionen der herkömmlichen Fantastik oder in die von Todorov, noch in seine eigenen22. Die Blühersche Kategorie der nicht-mimetischen Novelle bzw. der mythischen Erzählung, charakterisiert als ein neuer Illusionismus, als eine sprachmythische Konzeption des Erzählens im Zuge der SemiotikRezeption eines de Saussure, Pierce, Morris, Barthes und Eco, bleibt uns unverständlich, wie auch die Relation zwischen den von Blüher erwähnten Autoren (Clézio und Tournier) zur Semiotik unerklärt ist. Geht man aber von anderen Beispielen wie etwa vom nouveau roman und Tel Quel aus, dann kann man gut verfolgen, was Blüher mit diesen Kategorien intendiert. Es handelt sich um eine Novelle, oder - genauer gesagt - um eine Textualität, die grundsätzlich durch eine doppelte Textstruktur konstituiert ist, bestehend aus einer objektsprachlichen und einer metasprachlichen Ebene, bei der der Schreibakt im Mittelpunkt des Textinteresses steht und die écriture als solche einen Haupttextgegenstand bildet; (Blüher ebd.: 2 5 9 - 273; de Toro 1986: Kap. 2.3; 1987: 31 - 7 0 ; 1992/21995: 145 - 184). Es handelt sich um eine in höchstem Maße selbstreferentielle Literatur, die weder das Ziel hat, eine fiktionale Welt zu anthropomorphisieren, d. h. die fiktionale Welt nach der "realen Welt" zu modellieren, noch eine wie auch immer geartete Welt des Fantastischen bzw. der Science Fiction, die immer innerhalb einer Alltagswelt oder im Kontrast zu ihr aufgebaut wird, zu gestalten. Es handelt sich vielmehr um eine Literaturpraxis, die den Schwerpunkt auf die Vertextungsverfahren, d. h. auf die Neutralisierung der Wirklichkeit durch die Sprache legt. In diesem Zusammenhang erwähnt Blüher (ebd.: 260) Borges als Vorbild der nouveaux romanciers bzw. dieses Textmodells überhaupt. Der Hinweis ist in der Tat bedeutsam, bleibt aber unbelegt (de Toro 1982/21995: 145 - 148, 177, Fn. 4; 1995: 27 - 30). Unsere Position ist, anknüpfend an Todorov (1970/1975) und Blüher (1985), einfach zu erläutern: Das Fantastische läßt sich nur im Rahmen der

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Opposition 'Wirklichkeit vs. Übematürliches/Wunderbares/Unheimliches' definieren, wobei im Text eine Figuren-, Text- und/oder Erzählinstanz (implizit/explizit) vorhanden sein muß, die die Opposition 'Wirklichkeit vs. Übernatürliches' aufbaut, formuliert bzw. wahrnimmt (Todorov 1970/1975; Finne 1980; Blüher 1985)23. Ob die Textstruktur eine Ambiguität zuläßt oder nicht, ist theoretisch-poetologisch, aber nicht historisch-pragmatisch entscheidbar, auch dann, wenn ich im Anschluß an Todorov (1970/1975) meine, daß die beste Fantastik jene wäre, die beide Terme der Opposition gelten läßt und sich nicht für das eine, das Unheimliche, oder für das andere, das Wunderbare, entscheidet. Die Begründung liegt darin, daß die Ambiguität das Prinzip der Wirklichkeit durch eine bestimmte Mimesis und den Aufbau einer Referenzbeziehung auf der einen Seite aufrechterhält, auf der anderen Seite aber zuläßt, daß diese realistische Mimesis durch übernatürliche Ereignisse verletzt oder zumindest in Frage gestellt wird. Diese Position ist freilich eine wissenschaftlich-normative (poetologische) und keine historisch-pragmatische und daher nicht bindend. Allerdings ist für Todorov (1970/1975: 31 33) und im Anschluß daran für Wünsch (1991: 50 ff.) die Unentscheidbarkeit des vorgefallenen/wahrgenommenen fantastischen Ereignisses eine Grundbedingung für das Fantastische. Eine wichtige Komponente der Fantastik ist auf jeden Fall ihr mimetischer Status, und hierbei sollen folgende Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Ich verwies oben auf Wünsch (1991: 17), die die fantastische Literatur als grundsätzlich "nicht-mimetisch" definiert. Diese Definition ist meiner Meinung nach unzutreffend, wenn damit nicht die Selbstreferenz der literarischen Tätigkeit, sondern das Eintreffen eines übernatürlichen Ereignisses gemeint ist, weil dieses "in der normalen Realitätserfahrung" nicht vorkommt und in ihr keinen Platz hat" (Wünsch ebd.: 17). Hier wird offensichtlich der übernatürliche Status eines Ereignisses mit dem narrativen Kontext, in dem dieses Ereignis vorkommt, verwechselt. Nicht also die fantastische Literatur ist nicht-mimetisch, sondern ein Einzelereignis, ein Element von ihr. Ferner müßte man wohl unterscheiden, wie dieses übernatürliche Ereignis beschaffen ist: Handelt es sich hierbei um ein wie auch immer geartetes unerklärliches Ereignis, das im Rahmen einer bestimmten Kultur und einer bestimmten Epoche als akzeptabel oder als unmöglich erscheint (Lotman 1973;

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Höfner 1980)? Ist dieses Ereignis trotz seiner Fremdheit nach plausiblen Postulaten einer bestimmten Kultur modelliert, oder handelt es sich um etwas völlig außerhalb der Kultur bestehendes? Denn auch fremde Welten und fremde Wesen - in der Science Fiction etwa - sind nach unserem Weltbild konzipiert. Damit meine ich, daß diese Wesen und Gegenstände nicht erdacht werden können, ohne daß sie auf das Existierende bzw. auf das Vorstellbare zurückfuhrbar wären. Daher brechen die Ereignisse der fantastischen Literatur, gleichgültig auf welche Weise sie aus dem Rahmen unserer vertrauten Welt fallen mögen, in unsere "Alltagswelt" ein. Sie lassen sich nur im Kontext als 'übernatürlich' in einer natürlichen Welt definieren. Hierin stimmen die Positionen u.a. von Castex' (1951/31968); Schneider (1964); Caillois (1965); Todorov (1970); Vax (1960/31970); Jacquemin (1974); Suvin (1979); Finne (1980); Marzin (1982); Cersowsky (1983); Wörtche (1987); Wright (1989) und Blüher (1985) zum Kern der Fantastik voll überein: Wir haben es mit einer Paradoxie zu tun, insofern fantastische Handlungselemente einer illusionistischen, respektive mimetischen Wirklichkeitsdarstellung gegenübergestellt werden, die der im Kultursystem verankerten Wahrscheinlichkeitslogik widerspricht. Die Textsorte 'fantastische Literatur' ist daher sehr wohl mimetisch, aber es handelt sich dabei nicht um eine vollständige Mimesis, da die Alltagswelt mit ihrem Normengefüge in Frage gestellt wird. Das Fantastische setzt nur zeitweilig das Realitätsprinzip außer Kraft, es sei denn, es ist "fantastisch-unheimlich" bzw. "fantastisch-wunderbar". Das bedeutet, daß sich in all diesen Fällen das Fantastische durch Realitätsbegriffe und Regularitäten der Alltagsnorm bzw. des kulturellen Wissens definiert. Gerade das rein Fantastische läßt sich nur durch den Realitätsbegriff bzw. durch Regularitäten definieren, da hier beide Bereiche - Realität und Nichtrealität - bestehen bleiben, was von Wünsch (1991: 36) ausdrücklich bestätigt wird: Wenn somit zum fantastischen Ereignis immer auch die Präsenz eines Klassifikators der Realitätskompatibilität gehört, dann gilt zugleich auch, daß jeder Text, der auch nur ein fantastisches Ereignis aufweist, notwendig in sich die Opposition zweier Welten, einer realitätskompatiblen und einer nicht-realitätskompatiblen, aufbaut.

Auch Todorov (1970/1975: 149- 150) verweist ausdrücklich auf das Kriterium der Mimesis, wenn er unterstreicht:

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Der Leser und der Held müssen [...] entscheiden, ob dieses oder jenes Phänomen der Realität oder dem Imaginären angehören, ob es also real ist oder nicht. Es ist folglich die Kategorie des Realen, die für unsere Definition des Fantastischen grundlegend gewesen ist. [...]. Weit davon entfernt, ein Lobgesang des Imaginären zu sein, setzt die fantastische Literatur den größten Teil des Textes als dem Realen zugehörig, oder genauer gesagt, als von diesem provoziert; der Text als solcher ist also eine Bezeichnung für bereits Existierendes. (Penning 1980/21985: 40)

Realität läßt sich nur durch die Mimesis, durch Nachahmung des textexternen Systems 'Wirklichkeit', in bezug zu einem jeweils von einer Kultur Y zu einem Zeitpunkt X bestimmten Realitätsbegriff Q definieren. Daher plädiere ich dafür, den Begriff 'mimetisch1 als "Nachahmung von einer x-beliebigen Größe" zu verstehen (dabei können verschiedene Referenzsysteme nachgeahmt werden: die Wirklichkeit, Bücher usw.) und den Begriff 'nicht-mimetisch1 für eine Literatur vorzubehalten, die auf zeichenhafter Selbstreferenz beruht, oder bei der diese Art der Referenz dominant ist. Dabei ist es zunächst gleichgültig, wie der historisch bedingte Mimesis-Begriff jeweils definiert wird, denn Mimesis soll nur Nachahmung bedeuten. Wie diese Nachahmung umgesetzt wird, d. h. was als mimetisch - also als realitätskompatibel, sei es zum Realismusbegriff oder zur Erfahrungswelt, oder als nichtrealitätskompatibel - verstanden wird, ist sicher historisch-pragmatischen Variabilitäten unterworfen, nicht aber das Phänomen der Nachahmung als solches. Außerdem kann ich gerade im Kontext der strukturalistischen Theoriebildung nicht nachvollziehen, warum Wünsch (1991: 23) die Erzähl- bzw. die Vermittlungsebene, die im Mimesis-Begriff seit der Poetik Aristoteles' enthalten ist, mit dem Einwand ausschließt, daß es sich bei der Fantastik um Phänomene auf der Ereignisebene handle, die nur auf dieser Ebene zu definieren seien. Gerade der Strukturalismus hat gelehrt, daß die hermeneutische Trennung zwischen "Inhalt" und "Form" unsinnig ist, weil sich beide Ebenen gegenseitig bedingen, so daß ein Thema unterschiedliche, auch abweichende Interpretationen zuläßt, wenn es auf unterschiedliche Weise vermittelt wird. Wenn in der Fantastik eine Figur bzw. eine Erzählfigur (ein Ich-Erzähler) bzw. ein "Klassifikator" notwendig ist, um den Status des unerklärlichen Ereignisses einzuordnen und über seinen letztlichen Status zu entscheiden, und wenn bei der Bestimmung der Fantastik die Vermittlungsinstanz als gattungsdifferenzierendes Kriterium fungiert, wenn z. B. die

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frage ich mich schon, warum hier die Darstellungsebene ausgeschlossen wird. 1.2 Borges, die Fantastik und die Forschung Die Literatur von Jorge Luis Borges ist in der Tat eines der wichtigsten Zeugnisse der lateinamerikanischen Kultur und Literatur in diesem Jahrhundert überhaupt, aber ich bezweifle die u. a. von Carlos Fuentes (1969: 25 26) geäußerte Meinung, daß der Autor wesentlich für die Entwicklung der lateinamerikanischen Literatur gewesen sei. Ich habe den Eindruck, man versucht hier, Borges a posteriori die Anerkennung zukommen zu lassen, die ihm in Lateinamerika weitestgehend verweigert wurde. Borges bildete immer eine eigene Größe und paßte in keine Entwicklung der Zeit.24 Diese Feststellung ist insofern wichtig, weil neuerdings das, was man als 'lo real maravilloso' (das reale Wunderbare) bzw. den magischen Realismus zu bezeichnen pflegt, als der Gattung Fantastik zugehörig angesehen wird, was zumindest der Theorie Carpentiers und der Ästhetik García Márquez1 zuwiderläuft. Zu allem Überfluß wird Borges seit geraumer Zeit wieder als der Vater des 'real maravilloso' bezeichnet25. Am weitesten geht Mentón (1982: 411 - 426) bei der Klassifizierung von Borges' Erzählungen als 'magischrealistisch'. Sein Beitrag beinhaltet jedoch zwei grundlegende Probleme: er erklärt weder den Terminus 'magischer Realismus' noch die 'Fantastik' hinreichend. Er ersetzt bzw. umgeht eine Strukturbeschreibung dieser zwei Textsorten durch Beispiele aus der Literatur- und Kunstgeschichte. Das zweite Problem besteht darin, daß die von ihm selbst vorgeschlagenen Unterscheidungskriterien, die "authentischeren Erzählungen" dem magischen Realismus und die "essayistischeren Erzählungen" der Fantastik zuzuordnen (ebd.: 417), nicht nur diffus sind und nicht weiter erläutert werden, sondern auch nicht greifen. So muß er etwas später (ebd.: 418) im Falle des Textes Der Garten der Pfade, die sich verzweigen einräumen, daß auch dort essay-

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istische Passagen vorkommen. Ärgerlich sind in diesem Beitrag solche NichtErklärungen, die als Definitionen wiedergegeben werden, wie z. B. "the story may be better understood in terms of the world view as stylistic traits of Magic Realism" (ebd.: passim). Wir haben hier einen dürftigen Versuch, den magischen Realismus als die Darstellung einer alltäglichen Welt zu definieren, in der sich plötzlich Dinge ereignen, die den Leser in Staunen und Verwunderung versetzen. Diese Definition, die durch die Jungsche psychoanalytische Kulturtheorie ergänzt wird, deckt sich im weitesten Sinne mit jener Todorovs, dessen Arbeit Mentón hinreichend bekannt ist und von ihm auch zitiert wird. Daher ist es um so erstaunlicher, daß er gerade die Todorovsche Definition der Fantastik für den magischen Realismus wählt, um den magischen Realismus und die Fantastik auseinanderzuhalten. Was bei der Anwendung des Begriffes 'magischer Realismus' auf Borges völlig übersehen wird, ist die Tatsache, daß in Texten des 'magischen Realismus' die magischen Momente oder Vorkommnisse als absolut normal und die sogenannten alltäglichen als Wunder dargestellt sind und so auch von den Figuren wahrgenommen werden (A. de Toro 1986: Kap. 2.1). Ein weiterer historisch-ästhetischer Aspekt bezieht sich auf das Faktum, daß es gerade 'lo real maravilloso' bzw. der 'realismo mágico' ist, der eine Gruppe von lateinamerikanischen Autoren verbindet, so z. B. Asturias, Carpentier, Fuentes, Sábato und García Márquez, nicht aber Borges. Das ist rein chronologisch gar nicht möglich, da Borges seine zwei entscheidenden Erzählzyklen, Ficciones und El Aleph zwischen 1937 und 1945 geschrieben und publiziert hat, während die Ästhetik des realen Wunderbaren oder des magischen Realismus in den 50er Jahren mit Rulfo und Carpentier entwickelt wurde (wenn ich Asturias zunächst aus bekannten Gründen ausblende). Man hätte sagen können, daß Borges diese Ästhetik vorweggenommen habe, so, wie ich versucht habe nachzuweisen, daß Borges ein postmoderner Autor par excellence ist, weil er zentrale Theorien der Postmoderne vollständig eingeleitet hat, obwohl ich den Beginn der Postmoderne am Ende der 5 Oer/Anfang der 60er Jahren ansetze. Allerdings besteht ein gravierender Unterschied zu der postmodernen Ästhetik von Borges: Allein die Ästhetik des realen Wunderbaren oder des magischen Realismus unterscheidet sich derart von Borges' Diskurs, daß es geradezu absurd anmutet, einen derartigen Vergleich

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anzustellen; ich begnüge mich mit diesen Bemerkungen und verweise auf den bereits erwähnten Beitrag von Rodriguez Monegal, auf Jara Cuadra (1970), Janik (1976) und auf die Borges-Forschung in der Hoffnung, daß der sachkundige Leser zur gleichen Feststellung kommen möge. Bioy Casares (1972: 222 - 230) schlägt in seinem einleitenden Essay zur Antologia de la literatura fantästica von 1940 eine Reihe von Kriterien für die Definition des Fantastischen vor. Borges wird nur in Verbindung mit Tlön, Uqbar, Orbis Tertius bei unterschiedlichen Typen von fantastischen plots zitiert. Die Erzählung wird hier als "metaphysical fantasies" bezeichnet Dieser Bezeichnung folgt die Klassifizierung von Tlön, Uqbar, Orbis Tertius durch Casares als "eine neue Textsorte, bestehend aus einer Mischung zwischen Essay und Fiktion für Intellektuelle". Allerdings bezeichnet Borges selbst in seinem Prolog zu Der Garten der Pfade, die sich verzweigen (im ersten Teil von Fiktionen) Tlön, Uqbar, Orbis Tertius sowie Pierre Menard, Las ruinas circulares, La loteria de Babilonia, Examen de la obra de Herbert Quain und La biblioteca de Babel als 'fantastisch'. Die Erzählung Der Garten der Pfade, die sich verzweigen wird lediglich als policial, also als eine Art Detektiverzählung klassifiziert. Ferner werden alle Erzählungen dieses Bandes, die in Artificios (im zweiten Teil von Fiktionen) enthalten sind, von Borges als mit den vorhergehenden verwandt angesehen. In Das Aleph gibt es keinen Prolog, aber im Epilog werden fast alle Erzählungen als fantastisch bezeichnet. In seinem Essay mit dem Titel El arte narrativo y la magia (Die Kunst des Erzählens und die Magie) aus dem Jahre 1932 sowie in dem Prolog zu Bioy Casares' Die Erfindung von Morel erhalten wir von Borges einige relevante Aussagen zum Status der Fantastik. Beide Texte wurden von Rodriguez Monegal (1976) meisterhaft analysiert, so daß ich mich nur auf einige wenige, aber wesentliche Bemerkungen zu beschränken brauche. Ich teile Monegals Meinung, daß Borges dem sogenannten realistischen und psychologischen Roman eine Absage erteilt und diesem die fantastische Literatur gegenüberstellt, wobei Monegal auf die Bedeutung des Begriffes 'Fantastik' im Sinne von arte/artificio unmißverständlich hinweist (de Toro 1992/21995; 1994; 1995). Literatur wird also als etwas bewußt Gemachtes begriffen, das nicht nachahmen will. Inbegriff dieser Definition der Fantastik von Borges ist

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die Aufhebung der Realität als Referenzsystem und damit der Kausalität sowie der räumlich-zeitlichen Dimension, was Borges in seinem o.g. Prolog zu Casares und im Anschluß an seinen Beitrag Die Kunst des Erzählens und die Magie erneut bestätigt. Fantastik ist für Borges also äquivalent mit Fiktionalität, mit Literarizität, mit Literatur also, was er in einem Interview (1985: 18) nochmals wiederholt26. Hier sagt Borges etwas, was er zuvor in einem Vortrag aus dem Jahre 1945 in Montevideo mit dem Titel La literatura fantästiccF1 äußerte und was sich in Coleridges Blume und in Magische Einschübe im "Quijote" wiederfindet: "Man könnte sagen, daß die fantastische Literatur beinahe eine Tautologie ist, denn alle Literatur ist fantastisch"28, womit er eine unmißverständliche Homologie zwischen 'Fantastik/Literatur/ Fiktion1 aufstellt. Es spielt absolut keine Rolle, ob die Vorkommnisse übernatürlich sind oder nicht: sie sind nicht "realistisch" im Sinne eines Realismusbegriffs des 19. Jahrhunderts. Dies wird noch deutlicher, wenn Borges im gleichen Interview behauptet: "Der zweite Teil des Quijote ist absichtlich fantastisch; allein die Tatsache, daß die Figuren des zweiten Teiles den ersten gelesen haben, ist magisch, oder wir empfinden sie als magisch". Wie wir wissen, hat sich Borges intensiv mit Don Quijote befaßt29, und diese Textstelle ist in Don Quijote vor dem Hintergrund der Textsorte des 'pikaresken Romans' zu lesen. Don Qujiote und Sancho Pansa erfahren durch Ginesillo de Pasamontes (einem zur Zwangsarbeit verurteilten Sträfling), daß er dabei ist, sein Leben und seine Abenteuer unter dem Titel La vida de Gines de Pasamonte zu verfassen, so wie es im Lazarillo de Tormes geschieht. Cervantes parallelisiert das Leben in actu mit der Niederschrift dieses Lebens und dekonstruiert parodistisch diese 'veristische Textsorte', die angibt, die Wirklichkeit, so wie sie ist, wiedergeben zu können. So stellt Cervantes einen weiteren Parallelismus auf, und zwar derart, daß Don Quijote und Sancho mit einer ihrer eigenen Geschichte konfrontiert werden. Sansön Carrasco berichtet Don Quijote und Sancho Pansa (Teil II, Kap.l), daß ihre Geschichte in einem Buch mit dem Titel El Ingenioso Hidalgo don Quijote de la Mancha festgehalten wurde. Plötzlich sind also die fiktiven Figuren Teil der "Realität" geworden: Was als Fiktion entstand, mündete in ein echtes Buch im Buch. Für die Helden ist dieses Werk ein Teil der Historiographie. Die Helden werden zu Lesern und streiten sich mit ihrem Chronisten um einige Ungereimt-

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heiten. Sansön Carrasco interveniert und belehrt unsere Helden darüber, daß der Dichter die Geschichte nach dem Prinzip erzählen muß, wonach "die Ereignisse so hätten stattfinden können" und nicht wie "diese tatsächlich stattgefunden haben, denn dies wäre Aufgabe der Historiographen". Hier haben wir eine direkte Auseinandersetzung mit der Aristotelischen Poetik und mit dem Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Fiktion (Wahrscheinlichkeitsprinzip). In Tlön, Uqbar, Orbis Tertius brechen die vom imaginären Planeten Tlön stammenden hrönir in die "Wirklichkeit der Fiktion" ein. Bei Cervantes werden die Helden, die in einem fiktionalen Buch ihren Ort haben, "real", sie springen aus dem Buch in die Wirklichkeit; bei Borges jedoch handelt es sich um Gegenstände. Darüber hinaus geht die Figur des Don Quijote aus den fiktionalen Ritterromanen hervor; ein fiktionales Werk hat also seinen Ursprung in anderen fiktionalen Werken. Beim Borgesschen Text wird der Ursprung der imaginären Welt von Tlön in einem Artikel beschrieben, der über das Land Uqbar berichtet; außerdem ist dieses Land Teil einer erfundenen Enzyklopädie. Insofern ist das Vorgehen beider Autoren analog. Die Differenz liegt in der Einstellung bzw. im Ergebnis der Beziehung Wirklichkeit Fiktion. Während für Cervantes beide Größen als problematisch und damit als thematisierbar erscheinen, ist das für Borges nicht mehr der Fall. Die Frage, die sich bei Borges gar nicht stellt, ob sich Wirklichkeit überhaupt in Sprache fassen läßt, steht bei Cervantes noch im Mittelpunkt, wobei er aufgrund der Komplexität der damaligen Wirklichkeit - die nicht durch Providern, sondern durch Kontingenz charakterisiert ist - an der Beantwortung der Frage scheitert. Borges dagegen erhält seine aus Zeichen bestehende Welt, weil seine Bücher nur eine Referentialität zu Zeichen und keine andere kennen.30 Cervantes kümmert sich also nicht darum, ob er Fantastik produziert, sondern er ist dabei, die lästige Übermacht der Nachahmung und der Wahrscheinlichkeit loszuwerden, er ringt zwar noch mit der Wirklichkeit, nimmt aber literarische Muster als Referenzsystem für die Auseinandersetzung mit dieser. Cervantes eröffnet hiermit jene Auseinandersetzung, die später Sterne, Fielding und Diderot fortsetzen werden, nämlich den Streit um die Opposition 'Wirklichkeit vs. Fiktion'. Hier geht es also nicht mehr um die Opposition

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'Wirklichkeit vs. Übernatürliches', sondern um ein literarisches Problem; so erklärt auch Cervantes nicht, wie seine erfundenen und gespenstischen Figuren plötzlich zu realen, ernstzunehmenden Personen, der Geschichtsschreibung würdig, geworden sind: Cervantes entledigt sich der Opposition 'Realität vs. Imaginäres' durch die Nicht-Erklärung: Der Einbruch des Geschichtsbuches in die Wirklichkeit bleibt ein Rätsel. Dieser Vergleich mit Cervantes soll - so hoffe ich - zur Erklärung beigetragen haben, daß Borges mit Fiktion eine nicht-referentielle textuelle Tätigkeit meint und keine Oppositionen mehr aufbaut, wenn er unter Fiktion gleichzeitig Fantastik versteht. Dies wird besonders deutlich, wenn Borges in seinem Vortrag La literatura fantástica einige Kategorien für die Definition des Fantastischen liefert wie "das Werk im Werk", "die Kontamination der Wirklichkeit durch den Traum", "die Reise in der Zeit" und "der Doppelgänger". Allerdings legt er sich in dem bereits genannten Interview (1985: 25) auf keine Definition des Fantastischen fest, das Fantastische bleibt unverbindlich und beliebig: Alles ist möglich..., ich weiß es nicht, zum Beispiel im Fall von Wells haben wir ein fantastisches Ereignis unter vielen anderen alltäglichen Ereignissen; aber in der Welt von Kafka nicht, alles erscheint als fantastisch. Alles kann versucht werden, aber das wichtigste ist, daß das Ergebnis geglückt ist.31

Das wichtigste für Borges sind die Vorstellungskraft (imaginación) und der Traum {sueño). Auf die Frage, was er davon halte, daß die Funktion eines Schriftstellers nach Arthur Machen die sei, eine unheimliche bzw. wundersame Geschichte zu erfinden, und diese auf eine unheimliche bzw. wundersame Weise zu erzählen, antwortet Borges (1985: 17) mit der Feststellung, daß ehrlich träumen das wichtigste sei, daß Literatur ohne Träume unmöglich wäre, und daß er immer einen Traum erlebe, bevor er schreibe.32 Der Vortrag von Borges im Jahre 1945 und das hier zitierte Interview decken sich in den Beispielen bezüglich des Don Quijote und in der Feststellung, daß die fantastische Literatur die ältere, die realistische Literatur die jüngere Textsorte sei (Borges 1985: 25). Aber es gibt eine gravierende Divergenz in der Funktion, die Borges der Fantastik damals und heute zuweist: Er betrachtet die Fantastik nicht nur als Literarizität, sondern nunmehr als

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"wahre Symbole von Zuständen emotioneller Prozesse, die bei allen Menschen vorkommen können. Daher ist die fantastische Literatur nicht weniger wichtig als die realistische"33. Emotionelle Zustände bzw. Prozesse muten fast wie subjektive Wahrnehmungen bzw. Wahrnehmungen mystischer Art an. In dem gleichen Interview räumt Borges auf die Frage, ob er von der Mystik beeinflußt worden wäre, ein, kaum mystische Autoren, mit Ausnahme der Illuministen Swedenborg und Blake sowie der Sufis, also der islamischen Mystik, gelesen zu haben. II DIE NEGATION DES FANTASTISCHEN RHIZOMATISCHE SIMULATION ODER DER 'DIRIGIERTE ZUFALL' II. 1 Die Aufkündigung oder Entledigung der Mimesis In verschiedenen Arbeiten, die ich über Borges seit 1990 veröffentlicht habe (1990: 71 - 100; 1992/21995: 145 - 184; 1994: 5 - 32; 1995; 1995a: 1 - 35), war ich bemüht zu zeigen, daß Borges ein neues Paradigma in der Literatur des 20. Jahrhunderts eröffnet, zumindest entscheidend mitinitiiert hat. Dieses neue Paradigma sah und sehe ich in einer literarischen Konzeption begründet, die zwei prinzipielle Haltungen kennt: Die eine besteht darin, daß Borges die literarische Tätigkeit (Fiktion) nicht mehr als eine 'Mimesis der Wirklichkeit' begreift (und zwar gleichgültig, was die Forschung unter dieser Formel verstehen vermag), und so hat seine Literatur mit Realismus nichts mehr gemeinsam. Es postuliert vielmehr auf den ersten Blick die literarische Tätigkeit als 'Mimesis der Literatur/Fiktion' im Sinne eines Spiels mit literarischen Referenzen, mit einem Geflecht literarischer Beziehungen also, die zunächst als Intertextualität erscheinen. Borges zitiert die topische Opposition 'Wirklichkeit vs. Fiktion/Mimesis der Wirklichkeit' lediglich, um den Term der 'Wirklichkeit' durch die Aufteilung des zweiten in 'Mimesis der Fiktion/Literatur' vs. 'Literatur' zu ersetzen. Damit wird schon hier erklärt, daß

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die Welt, die Wirklichkeit aus Zeichen besteht. Der Autor entledigt sich somit der ontologischen Kategorie 'Wirklichkeit'. Die zweite prinzipielle Haltung stellt eine Radikalisierung der ersten dar, insofern die Opposition 'Mimesis der Fiktion vs. Literatur' als Voraussetzung literarischer Tätigkeit durch die weitergehende Opposition 'Mimesis der Fiktion/Literatur' vs. 'Pseudo-Mimesis der Fiktion/Literatur' ersetzt wird. Der Term 'Wirklichkeit' wurde durch den Begriff der 'Mimesis der Fiktion/Literatur' und der Term 'Fiktion' durch den von 'Pseudo-Mimesis der Fiktion/Literatur' ersetzt. Damit stelle ich nicht nur die Präsenz der Fantastik in Borges' Werk in Frage und negiere sie, sondern zugleich die sogenannte Intertextualität, die Borges' Schreiben inhärent sein soll. Die Texte von Borges unterhalten im besten Falle Beziehungen zu anderen Texten, aber nicht mehr zur Wirklichkeit. Diese erscheint nur noch als Zitat, und wenn sie evoziert wird, stammt sie aus anderen Texten. Die Beziehung zu anderen Texten ist aber nur scheinbar eine intertextuelle, wenn man darunter eine intertextuelle Tätigkeit im Sinne Genettes (1982) und der herkömmlichen Forschung (Lachmann 1982, 1984; Pfister/Broich 1985) versteht. Borges gibt jedoch nur vor, seine Texte ausgehend von anderen Texten zu schöpfen (AlsOb-Prinzip). Er betreibt jedoch keine Intertextualität, da die Prätexte nicht kontextuell als solche verwendet werden und er darüberhinausgehend Texte erfindet. Borges' Literatur ist ein großes 'Simulacrum', sie ist deshalb hyperreell (dazu später mehr), weil in ihrem Diskurs die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion nicht mehr bestehen. Derartige Grenzen, sollte es sie überhaupt noch geben, bestehen nur noch zwischen Büchern und werden von ihm ebenfalls gelöscht. Dies wird mustergültig in Pierre Menard, Autor des Quijote gezeigt. Die Literatur wird an die Stelle der Wirklichkeit gesetzt, sie ist Wirklichkeit, sie macht Wirklichkeit, daher ist sie hyperreell. Die Klärung des ontologischen und epistemologischen Status' des Borgesschen Diskurses ist essentiell für die Behandlung der Frage der Fantastik, die ich nun hier für eine Reihe seiner Texte als inexistent betrachte. Die Fantastik, dies sei schon an dieser Stelle vorweggenommen, wird von Borges (so wie die intertextuellen Vertextungsverfahren) zitiert bzw. simuliert, aber kaum verwendet, sondern relativiert und literarisiert, sie wird zum Thema der Literatur gemacht. Wir haben es stets mit einer Literatur dritten Grades, mit

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einem ternären modellbildenden System zu tun (wenn nach Lotman das primäre System die Wirklichkeit und das sekundäre die Kunst, respektive die Literatur sein soll), einer Literatur, die auf selbstreferierenden Zeichen basiert, sich der Mimesis entledigt und zum reinen Denken bis hin zum NichtDenkbaren, zum Bereich der reinen Wahrnehmung transzendiert. Die zahlreichen Zitate in den Texten von Borges erweisen sich nur als allgemein motivierende Strukturen. Oft befinden sich diese in keiner oder in einer äußerst schwachen Signifikantenbeziehung zu seinen Texten. Der Prätext wird folglich in seiner Semantik erst gar nicht aufgenommen; ganz im Gegenteil dazu fuhrt ein solcher Text des öfteren noch zu anderen Semantemen oder Signifikationsstrukturen oder konkretisiert sich in bloßen Signifikanten. Was Borges allerdings mit den von ihm zitierten Autoren verbindet, ist eine affine intellektuelle Haltung und eine daraus resultierende Diskursähnlichkeit, die durch den Umgang mit eklektischen, fragmentarischen und esoterischen Texten, durch eine Mischung aus Dilettantismus, Gelehrsamkeit, kolloquialer und wissenschaftlicher Sprache, aus Clownerie und Metaphysik, aus Fiktion und Wissenschaft usw. gekennzeichnet ist. In meinem Beitrag El productor 'rizomórfico' y el lector como 'detective literario': la aventura de los signos o la postmodernidad del discurso borgesiano (intertextualidadpalimpsesto-rizoma-deconstrucción) (1992: 1 4 5 - 184) glaube ich nachgewiesen zu haben, daß Borges sich ausschließlich auf Texte bezieht, Realität vortäuscht und diese simuliert. In meinen daran anknüpfenden und darauf aufbauenden folgenden Beiträgen Borges y la 'simulación rizomática dirigida': percepción y objetivación de los signos (1994: 5— 32) und Die Wirklichkeit als Reise durch die Zeichen: Cervantes, Borges und Foucault (1985) habe ich gezeigt, daß die von Borges benutzten Prätexte keinen Beitrag zur Interpretation leisten, weil diese in den Posttext weder semantisch noch pragmatisch eingebunden sind. Ein kurzes Beispiel zu beiden Behauptungen; zunächst ein Beispiel zum vorgetäuschten Realitätsbezug. Die Erzählung Der Süden ist bekannt. Es geht hier um Dahlmann, einen Argentinier deutscher Herkunft, der von romantischen Vorstellungen seiner argentinischen Ahnen, von einer literarisierten Vorstellung der Pampa und durch die Lektüre von 1001 Nacht sowie von Martín Fierro, aber auch von Paul et Virginie geprägt ist. Die Erzählung nimmt ihren Anfang, als Dahlmann in

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seine Wohnung eilt, um neugierig und ungeduldig eine Ausgabe der 1001 Nacht von Weil zu untersuchen. Dabei nimmt er nicht den Aufzug, sondern die Treppe und wird unterwegs von einem geöffneten Fensterflügel an einer Augenbraue verletzt. Als Folge der Verletzung fallt er in Fieberträume, die mit Bildern aus 1001 Nacht und der Figur des Martin Fierro gefüllt sind; sein Zustand wird so prekär, daß er in ein Krankenhaus eingeliefert werden muß. Man weiß nicht, ob er stirbt, man erfahrt lediglich, daß er sich "in der Hölle glaubt" und daß er sich mit 1001 Nacht in der Hand und mit Martin Fierro und Paul et Virginie in der Erinnerung auf eine Reise in das Land der Ahnen begibt, wobei nicht nur er, sondern auch sein Zug und die Landschaft eine Transformation erfahren. Derjenige, der hier eine volkstümliche kreolische Geschichte vor sich glaubt, wird enttäuscht, denn es handelt sich um eine Reise durch die Literatur, eine Umsetzung von literarischen Vorstellungen in Bilder. Die Reise der Figur zum Ursprung erweist sich als eine Reise durch Martin Fierro, aber zugleich als eine Reise ins Nichts. Diese Erzählung könnte ohne weiteres als 'fantastisch' im Sinne Todorovs verstanden werden, wenn nicht die Bücher da wären, die diese Textsorte dekonstruieren und umkodieren. Entscheidend ist hier, daß Dahlmanns Transformation bzw. seine Reise in die Vergangenheit sich als eine Reise in die Dantesche Hölle erweist, die er ignorieren will. Diese neue Realität, diese Fantastik, will er mit der Literatur überdecken, ausradieren: [...] als die Wagen sich in Bewegung setzten, öffnete er ihn und holte, nach einigem Zögern, den ersten Band von Tausendundeiner Nacht heraus. Mit diesem Buch zu reisen, so eng mit der Geschichte seines Mißgeschicks verknüpft, war soviel wie eine Bestätigung, daß dieses Mißgeschick behoben war, und eine heitere und geheime Herausforderung an die gescheiterten Mächte des Bösen. Zu beiden Seiten des Zuges löste die Stadt sich in Vororte auf; dieser Anblick und dann der der Gärten und Landhäuser zögerten den Beginn seiner Lektüre hinaus. In Wahrheit las Dahlmann wenig; der Magnetberg und der Dschinn, der geschworen hat, seinen Wohltäter zu töten, waren natürlich wunderbar, aber nicht viel wunderbarer als der Morgen und die Tatsache des Seins. Das Glücksgefuhl lenkte ihn von Scherezade und ihren überflüssigen Wundern ab; Dahlmann schloß das Buch und überließ sich einfach dem Leben [...]. [...] sah Gräben und Lagunen und Vieh; sah breite, leuchtende Wolken, die wie aus Marmor schienen, und all diese Dinge waren zufallig, wie Träume der Ebene. Er glaubte auch, Bäume und Feldfrüchte wiederzuerkennen, die er nicht hätte nennen

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Alfonso de Toro können, da seine unmittelbare Kenntnis des Landes erheblich geringer war als seine nostalgische und literarische Kenntnis [...]. Dahlmann konnte sich einbilden, er fahre in die Vergangenheit, nicht bloß in den Süden. Aus dieser fantastischen Vorstellung riß ihn der Schaffner [...]. Die am anderen Tisch schienen sich gar nicht um ihn zu kümmern. Verwirrt beschloß Dahlmann, daß nichts geschehen sei, und öffnete den Band von Tausendundeiner Nacht, wie um die Wirklichkeit zu verdecken (Fiktionen: 157,158, 160).34

Diese Beispiele belegen, daß Dahlmann sich - in einer Mischung aus Traum und literarischen Vorlagen oder in einem Zustand der Ohnmacht - vielleicht in den letzten Augenblicken seines Lebens eine Geschichte zusammenbastelt (und zwar unabhängig von den drei Geschichten, die man in dieser Novelle lesen kann, wie Borges selbst sagt (Barnstone 1982)), die aus literarisch tradierten Mustern besteht. Gerade der Hinweis, daß er die Naturgegenstände nicht benennen kann, sondern daß er diese nur durch die Literatur nostalgisch, also literarisiert/romantisiert/verklärt erkennt bzw. erfahrt, zeigt, daß es sich um eine literarische Reise zu den Ahnen handelt. Realität wird also durch Literatur erfahrbar gemacht, die diese Realität ersetzt und zu einer Hyperrealität wird. Das zweite Beispiel entnehme ich aus dem Prolog zu Der Garten der Pfade, die sich verzweigen in Ficciones (OC: 429; Fiktionen: 13), wo Borges Thomas Carlyles (1795 - 1881) Sartor Resartus The Life and Opinions of Herr Teufelsdröckh (1833/34) zitiert, ein Werk, das sich für Borges als Musterbeispiel eines Autors darstellt, der nicht nur Bücher zusammenfaßt und kommentiert, sondern sogar simuliert. So verfaßt Borges ebenfalls "imaginäre Bücher", nämlich The Anglo-American Cyclopaedia. Hier befindet sich - wie bereits gesagt - ein Artikel über Uqbar und ein anderer über Tlön, wobei Tlön expressis verbis als ein imaginärer Planet im Rahmen einer fantastischen Kultur beschrieben wird. Wenn wir also fragen, was man bei der Lektüre von Carlyles Buch für die Interpretation dieser Erzählung gewonnen hat, so ist die Antwort: nichts. Eine ähnliche Erfahrung machen wir bei der Erwähnung von Johannes Valentinus Andreae (1586- 1654), der 1616 das Buch Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz anno 1459 in Straßburg veröffentlichte, ein völlig fiktives Werk, das aber für wahr gehalten wurde und für das sich Andreae sogar ein Verfahren wegen Häresie einhandelte. Borges schreibt dem württembergischen Theologen Lesbare und lesertswerthe Bemerkungen über das Land Ukkbar in Klein-Asien (1641) zu. Während es sich beim Autor um eine authentische geschichtliche

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Figur handelt, ist das ihm zugeschriebene Werk so erfunden wie die Erzählung von Borges selbst. Das wahre Werk von Andreae wird in Borges' Erzählung erst gar nicht zitiert, sondern lediglich sein Name, und zwar ausgehend von Thomas De Quinceys (1785 - 1859) Writings, vol. XIII (Böiges OC: 433). Dort findet sich eine längere Zusammenfassung von Person und Werk Andreaes. Und was haben wir im Sinne einer traditionellen bedeutungsstiftenden Interpretation gewonnen? Nichts. Die Erkenntnis, zu der wir gelangen, zu der man allerdings erst kommen muß, erschöpft sich in der recht banalen Feststellung, daß all diese von Borges zitierten Autoren dabei sind, Wirklichkeit durch Bücher zu ersetzen und Bücher zu simulieren. Das bedeutet, daß Borges die Intertextualität nur nachahmt und daß er, wie bereits gesagt, so tut, als ob er Texte anderer Provenienz verwenden würde. Aber warum verfahrt Borges so? Wenn ich es recht betrachte, ist Intertextualität das Resultat eines Nachahmungsprinzips, das darin besteht, daß ein Posttext mit einem Prätext in dialogische Beziehung tritt und so ein Intertext entsteht. Bestimmte stilistische oder semantische Strukturen werden übernommen35. So benutzt Cervantes für seinen Don Quichote vor allem die Ritterromane als dialogische hypertextuelle, d. h. als eindeutig kodierte und kodifizierte Folie. Man kann dort genau beschreiben, warum ein System übernommen und wie es umgewandelt wurde. Aber auch bei Werken, in denen nur eine hypotextuelle Aktivität festzustellen ist, d. h. wo die literarische Dialogizität nicht so evident ist, können durch mühevolle und geduldige Analyse das zugrundegelegte Palimpsest ans Tageslicht gefördert und die Funktionsänderungen beim Übergang von einem System in das andere nachgewiesen werden. Damit meine ich folgendes: Spricht man von Intertextualität, muß man das literarische Mimesisprinzip voraussetzen, wobei das intertextuelle Verfahren auf mehr oder weniger stark/schwach kodifizierte Systeme zurückgreift, die sich auch mehr oder weniger stark/schwach dekodifizieren lassen. Andernfalls könnte man nicht von Intertextualität sprechen, weil diese wissenschaftlich nicht erkennbar und damit nicht verwertbar wäre. Es geht also nicht darum, ein ganzes System nachzuahmen, oder ein Syntagma oder nur ein Lexem zu übernehmen, denn auch kleine Strukturen haben die Kraft, eine ganze Tradition, eine Gattung oder ein Systembündel wachzurufen. Es geht mir hierbei um die Funktionalität solcher Strukturen und um den Erkenntniswert einer solchen intertextuellen Dialogizität.

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Nun zitiert Böiges zwar eine große Zahl von Texten, z. B. in Tlön, Uqbar, Orbis Tertius, diese werden aber weder als Ganzes noch als Ausschnitte objektsprachlich 'benutzt' bzw. 'gebraucht'. Der anzitierten Teilmenge aus dem Prätext wird im Posttext keine eigene syntagmatische, mit Sinnveränderung ausgestattete Funktion zugewiesen. Darum entsteht kein Intertext, und demzufolge gibt es keine Intertextualität; wir haben also eine simulierte Intertextualität. Wenn der Diskurs von Borges nicht als eine elitäre Form des L'art pour l'art, des sprachlich-literarischen Spiels, eingestuft werden soll - wogegen ich im übrigen nichts einzuwenden hätte - und wenn ihm nicht jeglicher 'vernünftige' Sinn abgesprochen werden soll, dann müssen wir die Frage stellen, warum Borges simuliert. Die Frage habe ich auf der epistemologischen Ebene, d. h. jenseits der fiktionalen Literatur, im Bereich der reinen Zeichen gefunden, nämlich in einer Auffassung von Welt als absolutem Zeichen und von Literatur als einer gnostisch-semiotischen Tätigkeit sowie als Resultat eines tiefen Skeptizismus und der Erkenntnis, daß Welt und Wirklichkeit nicht erfaßbar, sondern das Resultat subjektiver und fragmentarischer Wahrnehmungen sind. Damit verwirft Borges das 'Ich' als Zentrum, begibt sich in die Simulation und beginnt, rhizomatisch zu denken. Die Haltung Borges' erreicht sogar die Qualität eines semiotischen Mystizismus, indem er den gnostischen Diskurs literarisiert und als Zeichentyp verwertet. Die Wahrheit gibt es fur Borges nicht mehr, es sei denn als entleertes Signifikat, das sich unter anderen herumirrenden und sich ausbreitenden Signifikaten auflöst, wie etwa in den Erzählungen Undr und Die Inschrift des Gottes. Man kann eine Wahrheit nur für einen einzigen winzigen Augenblick erahnen oder erblicken, diese kann nur noch als Vision, als Traum, als mystische Trance erfahren werden, und damit ist sie nicht vermittelbar. Letztlich leugnet Borges die Möglichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis, wie Flaubert dies bereits im 19. Jahrhundert mit seinem Roman Bouvard et Pécuchet getan hat. Es kommt mir so vor, als ob Borges' literarische Motivation in dem Versuch bestünde, derartige Offenbarungen zu literarisieren und sie ins Zeichenhafte umzusetzen, weshalb ich den Begriff der 'rhizomatisch-dirigierten Wahrnehmung' geprägt habe, der eben die Mühsal meint, subjektiv-sinnliche, einmalige Wahrnehmungen durch Zeichen zu vermitteln. Es geht also um die Umwandlung von Wahrnehmung in einen Diskurs:

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Da geschah, was ich weder vergessen noch mitteilen kann. Es geschah die Vereinigung mit der Gottheit, mit dem Universum (ich weiß nicht, ob zwischen diesen Worten ein Unterschied ist). Die Ekstase wiederholt ihre Zeichen nicht; der eine hat Gott in einem Leuchten erblickt, der andere in einem Schwert oder in den Kreisen einer Rose. Ich sah ein himmelhohes Rad, das nicht vor meinen Augen, nicht in meinem Rücken, nicht seitwärts, sondern allenthalben und gleichzeitig war. Dieses Rad war aus Wasser gemacht, aber auch aus Feuer und es war [...] unendlich.[...] Hier waren die Ursachen und die Wirkungen, und ich brauchte nur dieses Rad anzusehen, um alles zu begreifen, ohne Ende. O Seligkeit des Begreifens, größer als die des Vorstellens oder Empfindens. [... ] es gelang mir auch, die Schrift des Tigers zu verstehen. (Borges 1995: 104)36

Aber nun zu unserer ursprünglichen Fragestellung zurück. Was hat diese ganze Erörterung mit der Fantastik zu tun? Die Fantastik läßt sich definieren als eine Dialogizität zwischen textuellen Zeichen und Wirklichkeit bzw. zwischen einer sich als fantastisch verstehenden Textsorte und der Tradition der 'fantastischen Literatur'. Die Fantastik ist ein mimetisches System par excellence, da sie durch illusionistische Vertextungsverfahren eine Realität aufbauen muß, ein System, das sich aus der Gegenüberstellung zwischen unerklärten Ereignissen und Wirklichkeit definiert. Das hat zur Folge, daß alle Texte, die mit dem Prädikat 'fantastisch' definiert werden, mimetischer Natur sein müssen. Wenn nun Borges keine mimetische Literatur produziert, weil er erwiesenermaßen nie oder kaum auf die Realität Bezug nimmt, und wenn Borges' Diskurs sogar die literarische Mimesis simuliert, dann können die Texte von Borges per definitionem nicht als fantastisch eingestuft werden. Borges entledigt sich jeglicher Prinzipien der Mimesis gegenüber der Wirklichkeit oder gegenüber der Literatur und ersetzt dieses Prinzip durch das Prinzip der Simulation dritten Grades im Sinne Baudrillards (1980) und des Rhizoms im Sinne von Deleuze und Guattari (1976).37 Bevor ich einige Beispiele gebe, erlauben Sie, daß ich das Behauptete näher beleuchte. Ich habe wiederholt gesagt, daß Borges sich der Realität entledigt, dies ist, glaube ich, ein nicht mehr abzustreitendes Faktum. Wenn das so ist, dann kann Borges schwerlich fantastische Texte produziert haben, weil in der Struktur seiner Werke ein gattungsbestimmender bzw. -konstituierender Term fehlt (die Wirklichkeit), ohne den die Gegenüberstellung mit dem Term 'übernatürlich' hinfallig wird. Damit können Borges' Texte weder dem rein Fantastischen noch dem Wunderbaren noch dem Unheimlichen zugeordnet werden. Gehen wir nun von den Oppositionspaaren aus, die

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Todorov aufgestellt hat, in denen der Term 'Fiktion' denen von 'poetisch' und 'allegorisch' gegenübergestellt wird, so bedeutet Fiktion immer eine mimetische referenzbildende Literatur im Gegensatz zu einer allegorischen oder poetischen, also zu einer andersmeinenden Vertextung gegenüber dem Dargestellten. Das zwingt uns, unsere eigenen Oppositionspaare zu überdenken. Ich sagte oben, daß Borges die topische Opposition 'Wirklichkeit vs. Fiktion', letztlich durch die von 'Mimesis der Fiktion' vs. 'Pseudo-Mimesis der Fiktion' ersetze. Hier muß ich eine terminologische Klärung bezüglich meiner vorangegangenen Publikationen vornehmen: man muß bei der Opposition 'Wirklichkeit vs. Fiktion' unter 'Fiktion' zunächst eine mimetisch referenzbildende Literatur verstehen. Bei dem Term 'Mimesis der Fiktion' ist 'Fiktion' aber als eine nicht-mimetisch referenzbildende literarische Tätigkeit aufzufassen, die sich auf Literatur bezieht, also Literatur als reine Zeichenhaftigkeit begreift. Wenn ich also mit einem Teil der Forschung der Meinung bin, daß bei Borges mit Fiktion nicht eine textexterne Referenzialität gemeint ist, sondern Sprache, und daß Literatur bzw. Literarizität für ihn Fantastik bedeuten, so haben wir hier eine gewaltige Umwandlung des bisher geltenden Begriffs des Fantastischen38. Genette erklärte die Gelehrsamkeit als Voraussetzung für die moderne Fantastik und Chiacchella (1987: 103), ausgehend von Genette, schließt sich dieser Auffassung an. In einem wesentlichen Punkt differiere ich aber von meinen Kollegen, nämlich insofern hier mit Gelehrsamkeit Intertextualität gemeint ist. Borges simuliert nicht nur die intertextuellen Vertextungsverfahren, sondern er verwendet darüber hinaus die Verfahren des Rhizoms und der Simulation. Es ist ferner auch wenig hilfreich, wenn etwa Blüher (1992: 431 - 549) Borges' Werk vor dem Hintergrund einer Erörterung der Paradoxie als "Neophantastik" bezeichnet, und zwar aus verschiedenen Gründen: zuerst einmal deshalb, weil der Begriff "Neophantastik" Fantastik impliziert. Es handelt sich um eine Fantastik, die zwar anders als die des 19. Jahrhunderts vertextet wird, dennoch geht es aber um Fantastisches, sonst wäre der Begriff 'NeoPhantastik' irreführend, wie es bei Blüher in der Tat der Fall ist. Dieser (1985: 208 - 273) hat in seinem Buch Die französische Novelle, was das 20. Jahrhundert betrifft, zu Recht auf den Begriff der Fantastik verzichtet und

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realitätsabweichende Literaturformen mit Termini wie "psychologische", "symbolische", "surrealistische" bzw. "nicht-mimetische" Novelle umschrieben, wobei er Borges in der letzten Rubrik nennt, worauf ich bereits hingewiesen habe, und zwar deshalb, weil die neuere Literatur sich von der Fantastik völlig entfernt. Dazu ein Beispiel: Die Tiefenpsychologie Freuds eröffnet das Es bzw. das Unbewußte als eine real erlebbare, sich manifestierende Dimension des Menschen für die Literatur. Diese Dimension ist nichtreferentiell und schlägt sich daher in einer antimimetischen, d. h. selbstreferentiellen Literatur nieder, die mit der traditionellen Fantastik nichts mehr gemeinsam hat, da diese ja von einer mimetischen Referentialität ausgeht. Außerdem ist seine Definition der "Neophantastik" wissenschaftlich für mich nicht nachvollziehbar: "Dagegen zeichnet sich das neophantastische Erzählen dadurch aus, daß der gesamte Text von Anfang an die Wahrscheinlichkeitsnormen des mimetischen Diskurses durchbricht und das Phantastische hierbei vornehmlich aus rein sprachlichen Verfahren der Textkomposition entwikkelt" (1992: 531 - 532)39. Wenn die Fantastik sich vornehmlich auf der Ebene mimetischer und narrativer Strukturen, d. h. auf der Basis der Opposition von 'Wirklichkeit vs. Übernatürliches' definieren läßt - und darüber besteht ein Konsens, auch nach Blühers Meinung, dann kann es sich bei dieser Definition nicht um "Neophantastik" handeln, denn die Definition Blühers bewegt sich ausschließlich auf der Ebene der Verfahren, wobei er die Mimesis (in unserem Sinne) verwirft. Außerdem gibt er als eines "der wichtigsten Merkmale dieser neophantastischen Erzählungen [...] die Verwendung der Paradoxie" (ebd.: 532) an, ein Kriterium, das er in seinem Buch über die französische Novelle als zentral für die Definition der Fantastik des 19. Jahrhunderts ansieht (s.o.: 12). Daher bleibt die Anwendung "einer neuen Phantastik" oder einer "Neophantastik" beliebig und erweist sich als bloße Behauptung. Dies wird nicht zuletzt an den Beispielen deutlich, die Blüher (ebd.: 545 - 547) für die neofantastische Paradoxie von Borges angibt: Der Süden, ein Beispiel, in dem keine Paradoxie vorkommt und bei dem es sich eher um eine herkömmliche fantastische Novelle handeln könnte (s.o.: 2 6 - 27), oder bei Pierre Menard, Autor des Quijote. Hier interpretiert Blüher die Tatsache als Paradoxie, die historisch-pragmatisch-logisch als völlig normal gilt, nämlich, daß eine Textstelle aus dem Don Quijote bezüglich der Bedeutung von Ge-

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schichte, die im 20. Jahrhundert ausgehend vom kulturellen Wissen dieser Epoche und vor dem Hintergrund des Werkes von William James gelesen wird, eine gewaltige Bedeutungsänderung erfahrt. Bedauerlicherweise bricht Blüher dort, wo er zumindest einige Beispiele für Paradoxie aus dem Werk von Borges gibt, seinen Beitrag ab40. II. 2 Rhizomatische Simulation oder der 'dirigierte Zufall' II.2.1 Rhizomatische Simulation Was den Begriff des 'Rhizoms' betrifft, ist unschwer zu erkennen, daß ich von Deleuze/Guattari ausgehe, die das Rhizom - basierend auf sechs Prinzipien (der Konnexion, der Heterogenität, des asignifikanten Bruchs, der Kartographie und der Dekalkamonie (Deleuze/Guattari: 11 - 34; A. de Toro 1992/ 2 1995; 1994) - als ein Verfahren der ad libitum Proliferation (Überwucherung) definieren, bei dem es kein Zentrum und keinen Ursprung gibt, als ein Verfahren, das die Dualität etwa von Subjekt/Objekt, Ich/Du verneint und dessen Elemente auf kein übergeordnetes System zurückzufuhren sind. Das Rhizom macht die Sammlung von unterschiedlichen Systemen (geschichtlichen Ereignissen, Individuen, sozialen Gruppen, Theorien usw.) an einem Ort nebeneinander möglich: Die unterschiedlichsten Formationen werden ohne eine Hierarchie zusammengebracht. Das so agierende rhizomatische Denken hat die Fähigkeit, Systeme zu 'deterritorialisieren' und zu 'reterritorialisieren'. Bei dem so gearteten Rhizom gibt es weder die Nachahmung noch die Ähnlichkeit, sondern das Zusammentreffen von zwei oder mehreren heterogenen Systemen. Das Krokodil nimmt nicht die Form eines Baumstammes an, d. h. es ahmt diesen nicht nach, sondern es "macht Baumstamm" mit dem Baum, es "ist Baum" und nimmt seinen Platz ein. Dadurch beraubt es den Baumstamm - trotz der Verschiedenartigkeit - seiner Wirklichkeit, und es entsteht eine andersartige Realität: ein Baumstamm, der ein Krokodil ist, oder umgekehrt, ein Krokodil, das zugleich Baumstamm ist.

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Dies alles hat sehr viel mit der virtuellen Wirklichkeit und mit der Simulation zu tun, die sich als Wirklichkeit etabliert. Hier liegt der Verbindungspunkt zwischen der Rhizom- und der Simulationstheorie. Baudrillard (1980) versteht unter Simulation eine virtuelle Wirklichkeit, eine nicht empirische, sondern digitale Wirklichkeit, die kein Referenzsystem hat, weil sie nicht auf Objekte verweist, sie ist selbst Objekt. Um dies zu verstehen, muß man sich davor hüten, das Referenzverhältnis mit dem Referenten zu verwechseln, also die Referenz mit dem Referenten gleichzusetzen. Es handelt sich um eine erfundene Wirklichkeit, die das wiedergibt, was nicht existiert, und die sich als die Wirklichkeit als solche, also als HYPERREALITÄT etabliert: Heute ist die Abstraktion nicht mehr jene der Landkarte, des Doppelgängers, des Spiegels oder des Konzepts. Die Simulation ist nicht mehr jene eines Territoriums, eines referentiellen Wesens, einer Substanz. Sie ist das durch Modelle generierte Reale, und zwar ohne Ursprung und Realität: das Hyperreelle. Das Territorium geht der Landkarte weder voran, noch überdauert es diese. Von nun an ist die Landkarte diejenige, die dem Territorium vorangeht - ein Vorangehen von Simulationen - , sie ist es, die das Territorium erzeugt [...].'41

Die digitale Simulation bietet ein gutes Beispiel für die Schaffung einer virtuellen Wirklichkeit. Im Fernsehen hat man kürzlich im Rahmen des Wirtschaftsmagazins WISO eine derartige Technik gezeigt. Der moderierende Journalist befand sich in einem leeren Raum des Hamburger TV-Studios, wobei er sich an bestimmten, ihm zugewiesenen Punkten aufhielt. Daraufhin wurde ein Mainzer TV-Studio eingeblendet, in dem der Journalist sich nun angeblich befand. Der leere Raum in Hamburg wurde also virtuell mit der Innenausstattung des Mainzer Studios ausgefüllt. Dann "fuhr" man den Journalisten digital mit einem virtuellen Fahrstuhl zu einer U-Bahn-Station: Damit hatte er das Hamburger Studio zwar physisch nicht verlassen, aber dafür virtuell. Für den Zuschauer hatte er den Ort gewechselt. All das waren PC-Projektionen, virtuelle Kulissen, die sich an Stelle der Wirklichkeit als Wirklichkeit etablieren und diese ersetzen (das Krokodil "macht Baumstamm mit dem Baumstamm"). Man könnte den Journalisten sogar mittels einer "interaktiven Kommunikation" ersetzen, die sich im Augenblick fulminant im pornographischen Bereich ausbreitet. Die Gefahren dieser Technik, deren Entwicklung nicht mehr aufzuhalten ist, und die eine der größten Wachstumsraten vorweisen

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wird, wurden ebenfalls besprochen. Sie bestehen darin, daß Nachrichten mit montierten und digitalisiert zusammengesetzten Bildern und Reden manipuliert werden können, indem z. B. bekannte lebende Persönlichkeiten mit Kennedy zusammentreffen. Die Manipulation dieses Bildes ist hier vergleichsweise einfach festzustellen, denn Kennedy ist tot, und die Persönlichkeit hätte aufgrund ihres Alters Kennedy nicht begegnen können. Aber was passiert, wenn es sich um uns in der Gegenwart bekannte Personen handelt oder um Personen, die wir nicht kennen? Der wirklichen Welt droht die Gefahr, durch eine digitale, virtuelle Welt ersetzt zu werden. Daher meint Baudrillard (1980: 12 - 13), daß die Simulation die Eliminierung der Referenz, und daher frei und hochgradig kombinatorisch sei. Es handelt sich nicht um eine Nachahmung z. B. in Form einer Parodie, sondern schlicht um die Ersetzung der ontologischen Kategorie 'Wirklichkeit' (dissuasion du réel). Die Simulation bietet alle Zeichen des Realen, aber de facto simuliert/ersetzt sie nur (sie reproduziert nicht bzw. gibt nicht wieder). Die Simulation verneint den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fiktion, zwischen wahr und falsch und zwischen Quelle und Wirkung und hebt damit die Kausalitätsbeziehungen auf und setzt dem hemmungslosen Spieltrieb keine Grenzen. Dieses Phänomen ist relativ einfach: Es gibt Zeichen, die angeben, etwas zu verbergen, andere, die das simulieren, was nicht da ist. Der erste Zeichentyp vertritt die Tradition des Wahren und Geheimnisvollen, der zweite eröffnet das Zeitalter der Simulation (Baudrillard 1980: 16 - 17). Das Medium wird zur Botschaft (Baudrillard 1980: 41). Damit verschlingt das Medium die Botschaft. Auch die Massierung von Informationen reduziert deren Gehalt oft auf Null.

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II.2.2 Der 'Dirigierte Zufall' Den Begriff'dirigierter Zufall1 habe ich (1987: 33 - 34) im Zusammenhang mit Robbe-Grillets Werk und mit der seriell-aleatorischen Musik Boulez1 entwickelt. Während die serielle Musik sich durch die (Prä)-Determination ihres Materials charakterisiert, wird die Aleatorik als ein Verfahren definiert, durch das die Vorgänge nur grob festgelegt und einzelne Vorgänge dem Zufall überlassen werden. Allerdings verlangt Boulez eine Einschränkung der möglichen Modifikationen durch deren Implizierung im Notentext. Dadurch wird die "Notwendigkeit des Zufalls" in die Interpretation eingeführt, was Boulez den "dirigierten Zufall" nennt. Der Unterschied zwischen dem Boulezschen Begriff und meiner Übertragung auf Borges liegt darin, daß bei Boulez dieser Begriff zwischen einer offenen und einer geschlossenen Struktur schwankt, während dieses Verfahren bei Borges im Rahmen einer rhizomatischen, also völlig offenen, nicht geordneten Struktur angewendet wird. Dabei werden Träume oder mystische Offenbarungen literarisiert und bestimmt, also 'dirigiert'. Wir müssen hier eine weitere Transformation oder eher eine Erweiterung unserer letzten Opposition 'Mimesis der Fiktion' vs. 'Pseudo-Mimesis der Fiktion' vornehmen. Die Frage lautet erneut, warum Borges Bücher erfindet und simuliert. Hier bot sich uns die vorläufige Antwort, nämlich daß Borges versuche, Wahrnehmungsprozesse im Rahmen eines 'semiotischen Traums' zum Ausdruck zu bringen, d. h. eines Traums, der in Zeichen umkodiert wird. Vor dem Hintergrund dieser Überlegung kann man eine neue Opposition bilden, die der 'Pseudo-Mimesis der Fiktion vs. Wahrnehmung/Traum/Mythische Erfahrung'. Hier haben wir also Signifikanten, die nicht mehr nach Signifikaten oder Referenzen suchen, sondern sie werden zum verzweifelten Symbol, zur Chiffre von Träumen, die versuchen, das weiterzugeben, was praktisch nur durch die totale subjektive und intime Erfahrung nachvollzogen werden kann. Und hier erlangt die zunächst etwas einfach anmutende Erklärung Borges an Bedeutung, daß für ihn der Traum vor der Literatur, d. h. vor dem Schreibakt liegen muß. Diese zeichenhafte Organisation der Texte ist in einer Dialektik zwischen rhizomatischer Offenheit der Wahrnehmung

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(Zufall) und Dirigiertheit/Zielgerichtetheit der Literatur anzusiedeln, die sich z. B. im semiotischen Dreieck und in der Linearität des Diskurses niederschlägt.42 Dieses Verfahren des 'dirigierten Zufalls' ist das, was ich auch 'rhizomatische Simulation' nenne, und was literarisch-rhizomatische Akte kennzeichnet. Ich habe diese Form, Literatur zu betreiben, bereits als den Versuch bezeichnet, Zeichen, die längst aufgrund des Verlaufs der Geschichte verlorengegangen und die deshalb nicht mehr zurückzugewinnen sind (Beispiel Pierre Menard) [...], neu zu schöpfen (Schulz-Buschhaus 1991: 390 - 391).

Ich fuge nun hinzu, daß Borges sich jenseits der Literatur bewegt, indem er an die Grenze des Denkbaren (bei der Klassifikation von Tieren einer chinesischen Enzyklopädie in Die analytische Sprache von John Willkins) stößt oder indem er die Zeichen vom Signifikat befreit und sie in mythisch, magisch und grundlegend offen klingende Signifikanten umwandelt, die die mythische Offenbarung zeichenhaft evozieren (so in Undr). Die hier behandelten Oppositionstransformationen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Oppositionen 'Wirklichkeit vs. Fiktion', 'Wirklichkeit vs. Fiktion' vs. 'Mimesis der Fiktion' 'Mimesis der Fiktion' vs. 'Pseudo-Mimesis der Fiktion' Auflösung der Oppositionen 'Pseudo-Mimesis der Fiktion' ('rhizomatisch-dirigierte literarische Tätigkeit')

'Wahrnehmung/Traum/Mythische Erfahrung' RHIZOM/SIMULATION

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III ZUSAMMENFASSUNG: BORGES UND DIE NEGATION DES FANTASTISCHEN Borges1 Fantastik bedeutet die Entledigung der Wirklichkeit; da Literatur bzw. Fiktion in der Regel als illusionistisch gelten, muß sich Borges auch der Literatur entledigen. Er verwirft jene für Todorov und auch Blüher der Textsorte 'Fantastik' inhärente "intertextliche Paradoxie", die aus einer "illusionistischen Wirklichkeitsdarstellung" gekoppelt an " Handlungselemente" besteht, wobei Literatur das wiederholt, was schon längst gesagt worden ist. Da die Zeichen bedeutungsschwanger sind, muß Borges - um einen Terminus von Lyotard zu übernehmen - die Zeichen wieder-schreiben. Dabei gelangt Borges an die Grenzen des Denkens, des Denkbaren, des Erdenklichen. Insofern schafft er in der Tat "sprachliche Monstrositäten" (Foucault), und hier liegt die "eigentliche Fantastik" - im semiotisch-epistemologischen Sinn - bei Borges. Sie besteht in seinem Denken und den Grenzen, die er damit berührt, das zu denken, was er denkt und auf Papier bringt, was ich bereits im Anschluß an Foucault zu erkennen geglaubt habe (de Toro 1992/21995; 1994; 1995)43. Dies erreicht Borges, indem er "keinen wirklichen Körper [verändert] und in Nichts das Bestiarium der Vorstellungskraft [modifiziert]. Sie verbirgt sich nicht in der Tiefe irgendeiner fremden Kraft" (Foucault 131995: 1 7 - 20), d.h. wir haben es mit einer rhizomatischen Simulation zu tun, indem Borges "Literatur mit der Literatur macht", sowie das Krokodil "Baumstamm mit dem Baumstamm macht". Was im Rahmen herkömmlicher Vorstellungskraft und herkömmlichen Denkens als irritierend und grenzüberschreitend erscheint, sind einfach die unterschiedlichen, einander gegenüber erscheinenden fremden Bereiche, die Borges aufgrund der von ihm hergestellten Kontiguität miteinander verbindet, einer Kontiguität von semantisch und pragmatisch unvereinbaren Termen. Die Monstrosität des Borgesschen Diskurses liegt nicht so sehr in der Aneinanderreihung und in der Nachbarschaft der Terme, sondern vielmehr darin, daß sie in einem gemeinsamen Raum (Text, beschriebenes Blatt) vorkommen, der auf jegliche gemeinsame Semantik und Pragmatik (Kontext) verzichtet. Damit wird die herkömmliche Sprache zerstört und durch das absolute Zeichen ersetzt. Hier

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sieht man deutlich, daß der gemeinsame Sprach-Logos zerstört wird. Hier entsteht der 'Terror' von Borges' Texten, hier tut sich der Abgrund der Unverständlichkeit, des Nicht-Nachvollziehen-Könnens auf. Hier ist der Ort der Fantastik als reiner Fiktion (Sprache/Literatur), wie ihn Finné für die Fantastik postuliert, jedoch ohne einen mimetischen Hintergrund. Hier ist der Ort des Spiels, der Beliebigkeit (des Rhizoms), der Selbstreferenz, was der "Fantastik" als Textsorte prinzipiell widerspricht. Borges schafft eine Unordnung, die die Bruchstücke einer großen Zahl von möglichen Ordnungen in der gesetzlosen und ungeometrischen Dimension des Heterokliten aufleuchten läßt. Und dieses Wort muß man möglichst etymologisch verstehen - die Dinge sind darin »niedergelegt«, »gestellt«, »angeordnet« an - in dem Punkte unterschiedlichen Orten, so daß es unmöglich ist, für sie einen Raum der Aufnahme zu finden und unterhalb der einen und der anderen einen gemeinsamen Ort zu definieren (Foucault131995: 1 7 - 2 0 ) .

Das Gesagte mag nun verdeutlicht haben, daß Finné weit davon entfernt ist, Borges korrekt interpretiert zu haben, wenn er Borges' Werk dem Neofantastischen zuschreibt, in dem mittels Symbolhaftem einmal eine Ordnung, ein anderes Mal ein Denkrelativismus verkündet und aus Borges ein Metaphysiker gemacht wird, der nach Gott sucht und seinen Diskurs a priori festlegt. Gerade das Konzept der Bibliothek gibt bildlich wieder, was Borges tat und Foucault verstand: die Schaffung einer Unordnung bestehend aus Bruchstücken einer unendlichen Zahl von möglichen Ordnungen, die sich rhizomatisch reproduzieren. Borges evoziert zwar einen Diskurs, der a priori besteht, desartikuliert, dekonstruiert diesen aber und beraubt ihn seines Logos. Daß sich in dieser - wenn man so will - metaphysischen Leere, die Borges "Fantastik", und zwar eine nicht-mimetische oder nicht-ordnungsbringende, sondern spieltreibende Tätigkeit nennt44, die Sehnsucht nach einer Ordnung artikuliert, darf nicht mit einem gegen die Ordnung operierenden Diskurs, mit dessen Vertextung und mit seiner transzendierenden Wirkung verwechselt werden, was bei Finné eindeutig der Fall ist. Die Wirkung dieser Vertextung besteht gerade im Unfaßbaren und in dessen subjektiver Wahrnehmung gekoppelt an die Darstellung der Relativität des Realen als Leere, was die Faszination des Unendlich-Grauenvollen ausmacht und auf keinen Fall zu einer "tröstenden Harmonie" (Finné 1980: 10), sondern, im Gegenteil, zu deren Negation führt, was sich in Sehnsucht bestätigt. Daraus ergibt sich ebenfalls

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die Zweckungebundenheit von Borges' Diskurs, der gerade durch den Relativismus (ikonisiert im Symbol des "rhizomatischen Labyrinths") bis zu seiner Selbstauflösung (Die Auflösung des Geheimzeichens "Undr ist Undr") getrieben wird. Borges (1984: 25) sagt selbst auf die Frage nach dem Symbol des Labyrinths als Chiffre der Fantastik, daß vielleicht das Ziel des Labyrinths - sollte das Labyrinth ein Ziel haben - darin besteht, unsere Intelligenz zu stimulieren, uns zum Denken über das Geheimnisvolle und nicht über die Lösung zu bewegen. Es ist sehr selten, eine Lösung zu verstehen, wir sind nichts weiter als Menschen. Aber nach einer Lösung zu suchen und zu wissen, daß wir sie nicht finden werden, ist etwas schönes, mit Sicherheit. Vielleicht sind die Rätsel viel wichtiger als die Lösungen.45

Damit verläßt Borges die gemeinsame Erfahrung von Sprache, Welt und Wissen, er zersprengt die Finalität als ein Ziel, und so führt er uns zur absoluten Selbstreferenz, ohne zu fragen, woher und wohin. Borges geht über Foucaults Theorie der Ähnlichkeiten und Differenzen hinaus, indem er sie zerstört, es bleiben nur noch das Rhizom und eben die Simulation. Wollte man an dem Begriff des Fantastischen festhalten, dann könnte man sagen, daß sich bei Borges das Fantastische gerade in der Negation der Realien, in der absoluten intellektuellen Spekulation verwirkliche, daher auch die Feststellung, daß "die Metaphysik ein Zweig der fantastischen Literatur" wäre. Damit ist die Welt nur Produkt der Fantasie, der Wahrnehmung und der auf sich selbstreferierenden Zeichen. Um rezipiert zu werden, muß sich die Welt in Zeichen verwandeln. Diese Zeichen haben aber nicht die Funktion, die Welt zu bestätigen oder zu erklären, sondern diese durch die Zeichen überhaupt erst wahrnehmbar zu machen, diese erst zu erschaffen. Fantastik wäre also die Welt als Zeichen, eingebettet in ein auf sich selbsthinweisendes Zeichensystem. Daher ist Borges' Nachahmung die Simulation einer erfundenen Zeichenwelt, als virtuelle/fraktale Literatur (und nicht mehr eine virtuelle Wirklichkeit!). Diese virtuelle Zeichenwelt bewegt sich in einer absoluten Raum- und Zeitlosigkeit, im Bereich der Wahrnehmung, des Traums also und schafft eine nicht mehr sinnstiftende Bedeutungswelt46. Wie heißt es in Dem Unsterblichen?: Er lag ausgestreckt im Sand, in den er plump eine Reihe von Zeichen grub und wieder auswischte, gleich den Lettern in einem Traum, die man beinahe versteht,

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Alfonso de Toro ehe sie ineinanderfließen. Zunächst dachte ich, es handele sich um eine barbarische Schrift; dann sah ich ein, daß es sinnlos ist, sich einzubilden, Menschen, die es nicht zu Worten gebracht haben, könnten es zur Schrift bringen. Auch war keine der Formen einer anderen gleich, was die Möglichkeit, daß es sich um symbolische Zeichen handelte, ausschloß oder beseitigte. Der Mann zeichnete sie auf, betrachtete und verbesserte sie. Plötzlich, als sei er des Spiels müde, wischte er sie mit der Handfläche und dem Unterarm aus. Er blickte mich an, schien mich nicht wiederzuerkennen. [...] an diesem Abend nahm ich mir vor, ihm ein paar Worte beizubringen, ihn sie vielleicht nachsprechen zu lassen. [...] Reglos, mit stumpfen Augen, scheint er die Laute, die ich ihm einzuprägen versuchte, nicht aufzunehmen. Obwohl nur ein paar Schritte von mir entfernt, schien er weit weg zu sein. Im Sand ausgestreckt wie eine kleine verwirrte Sphinx aus Lava, ließ er den Himmel über sich kreisen, von der Früh- bis zur Abenddämmerung. [...] Ich dachte, Argos und ich gehörten verschiedenen Universen an; ich dachte, unsere Wahrnehmungen seien zwar die gleichen, doch fiige Argos sie anders zusammen und bilde aus ihnen andere Gegenstände; ich dachte, es gebe für ihn vielleicht keine Gegenstände, sondern nur ein schwindelerregendes und fortwährendes Zusammenspiel blitzschneller Eindrücke. Ich dachte an eine Welt ohne Gedächtnis, ohne Zeit, ich erwog die Möglichkeit einer Sprache, die Substantive nicht kennt, einer Sprache aus unpersönlichen Verben oder deklinierenden Beiwörtern. [...] Alles wurde mir klar an diesem Tage. Die Troglodyten waren die Unsterblichen; [...] Aus den Überresten ihrer Trümmer erbauten sie an derselben Stelle die unsinnige Stadt, die ich durchstreift hatte: als eine Art Parodie oder Kehrseite und auch als Tempel der irrationalen Gottheiten, die mit der Welt ihr Spiel treiben und von denen wir nichts wissen, außer, daß sie nicht dem Menschen gleichen. Diese Gründung war das letzte Symbol, zu dem sich die Unsterblichen herabließen; sie bezeichnet eine Stufe, auf der sie zu der Einsicht gelangt, alles Tun sei eitel, im Denken zu leben beschlossen, in der reinen Spekulation. Sie errichteten den Bau, vergaßen ihn und zogen in die Höhlen. Versunken nahmen sie die physische Welt fast nicht mehr wahr. (Borges 1995: 19 - 22)

Auf diese Weise wird für Borges "die Irrealität des Imaginären zum einzig authentischen Ereignis" (Schulz-Buschhaus 1984: 100), und Es scheint so zu sein, daß das letzte vertraute Refugium des postmodernen Menschen die Fantasie (die eigene subjektive Wahrnehmung) ist, was das einzig noch mögliche Ereignis darstellt, weil wir wissen, was wir wahrnehmen. Wenn das stimmen sollte, dann kann der Diskurs von Borges als der verzweifelte Versuch einer sehnsüchtigen Suche nach sinnstiftenden Wahrnehmungen und nach deren zeichenhaften Umsetzungen oder als Wunsch nach Kommunikation verstanden werden (de Toro 1995),

ein Versuch, der aber an der herkömmlichen Organisation der Zeichen scheitert, insofern Sinnhaftigkeit und Kommunikativität sich versagen und sich als

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Autismus und epistemologische Ungewißheit, als absoluter Relativismus entlarven (Olsen 1986: 3 5 - 43; 1987: 1 2 4 - 132). Dieser Relativismus ermöglicht Borges aber, das zu überwinden, was er dekonstruierte, wie Barth (1967: 32) zutreffend und scharfsinnig bereits in den 60er Jahren sagte: [...] by doing so he transcends what had appeared to be his refiitation, in the same way that the mystic who transcends finitude is said to be enabled to live, spiritually and physically, in the finite world.

Da für Borges die Wirklichkeit nicht mehr zur Verfügung steht und die Nachahmung von Literatur ebenfalls nicht, entschließt er sich, imaginäre Bücher zu schreiben, die Produkte von Träumen und von Spekulationen sind: Ein mühseliger und strapazierender Unsinn ist es, dicke Bücher zu verfassen; auf fünfhundert Seiten einen Gedanken auszuwalzen, dessen vollkommen ausreichende mündliche Darlegung wenige Minuten beansprucht. Ein besseres Verfahren ist es, so zu tun, als gäbe es diese Bücher bereits [zu simulieren, daß es diese Bücher bereits gäbe], und ein Resümee, einen Kommentar vorzulegen. So machten es Carlyle in Sartor Resartus, so Butler in The Fair Havert; Werke, behaftet mit der Unvollkommenheit, daß sie eben auch Bücher sind, nicht minder tautologisch als die anderen. Aus größerer Gewitztheit, größerer Unbegabtheit, größerer Faulheit habe ich das Schreiben von Anmerkungen zu imaginären Büchern vorgezogen. Diese sind Tlön, Uqbar, Orbis Tertius und Untersuchung des Werkes von Herbert Quain,47

und dabei schöpft er Unikate, Texte, die eine Nachahmung eine Wiederholbarkeit ausschließen. Würde man den Begriff des Fantastischen bei Borges Werk verwenden, müßte dieser im nicht herkömmlichen gattungstheoretischen Sinne verstanden werden, und die sogenannte Fantastik würde in der Entledigung der Wirklichkeit und in dem Verzicht auf einen Dialog mit tradierten Zeichen liegen. Da ich aber den Begriff Fantastik weiterhin mit einer gattungstheoretischen - in der Forschung allgemein üblichen - Extension und Intension beibehalten möchte, um den Term 'Fantastik' nicht völlig unbrauchbar zu machen, betrachte ich die Literatur von Borges zu großen Teilen eben als eine Negation des Fantastischen, und ich kann durchaus behaupten, daß Borges eine neue Textsorte, die der 'Literatur der Wahrnehmung', auf der Basis der Vertextungsverfahren der rhizomatischen Simulation begründet. Ist also die Fantastik im 20. Jahrhundert, spätestens nach Kafkas Verwandlung, tot, wie Todorov zum Ärger von Lern behauptet? Eine solche Frage

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ließe sich wissenschaftlich und fern von jeglicher Polemik mit Sicherheit lösen, würde aber eine gründliche Überprüfung der bisherigen Theorien über Fantastik voraussetzen. Daß die herkömmliche Fantastik im 20. Jahrhundert eine gewaltige Umwandlung erfahren hat und in eine neue literarische Form eingegangen ist, steht für mich auf der Grundlage von Borges' Werk (oder Teilen davon), nach der geleisteten Analyse und nach zahlreichen Forschungsmeinungen - wie gezeigt - allerdings fest.

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ANMERKUNGEN 1. Übersetzung des Verfassers; der Originaltext lautet: Podría decirse que la literatura fantástica es casi una tautología, pero toda literatura es fantástica. [...] La segunda parte del Quijote es deliberadamente fantástica; ya el hecho de que los personajes de la segunda parte hayan leído la primera es algo mágico, o al menos lo sentimos como mágico. (Borges 1985: 18) 2. Ich begnüge mich mit einer Minimaldefinition des Begriffs Textsorte', die ich bereits in de Toro (1993: 216) entwickelt habe: Unter Textsorten' verstehe ich solche Texte wie etwa 'Sc/zö/erroman/novelle', 'Abenteuerroman/novelle', 'fantastische Novelle', die eine spezifische, d. h. distinktive, narrative Struktur aufweisen und die zu einem übergeordneten 'Texttypus' gehören wie etwa 'Roman', 'Novelle', 'conte', 'Erzählung'. 'Textsorten' bzw. 'Texttypen' werden dann den historisch gewachsenen Hauptgattungen, in unserem narrativen Kontext, der 'Narrativik' zugeordnet. Im Kontext der Fantastik unterscheidet sich meine Terminologie von manchen herkömmlichen gattungstheoretischen Definitionen des Fantastischen, in denen die 'fantastische Literatur' als eine Gattung (was in meinem Sprachgebrauch einer Textgruppe' entsprechen würde) eingestuft wird, wobei die fantastische Erzählung' als eine "Untergattung" definiert wird (was sich mit meinen Begriffen des 'Texttypus' bzw. der 'Textsorte' decken würde). So ist es der Fall bei Todorov (1970/1975: 7 - 24). Wünschs (1991: 10 ff.) Begriff des 'Texttyps' entspricht meinem der 'Textgruppe', auch im Sinne eines historisch-pragmatisch determinierten Oberbegriffs; ihr Begriff der Textsorte' (worunter sie auch den der 'Gattung', also der 'Textgruppe', subsumiert) ist mit meinem des Texttyps' bzw. der 'Textsorte' äquivalent. Ich verwende den Begriff 'Gattung' als Sammelbegriff für 'Textgruppe'/Texttyp'/Textsorte'; desweiteren s.u.: 3 ff. 3. Ich beziehe mich hier auf Nodiers Du fantastique en littérature, zunächst erschienen in La Revue de Paris (November 1830) und dann wiederabgedruckt in Contes fantastiques (Paris 1861: 5 - 30); diese Angaben

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Alfonso de Toro und die darin enthaltenen Textzitate haben wir aus Schneider (1964: 145 ff.) entnommen; vgl. auch Castex (1951/31968).

4. In der englischen Literaturtheorie greift man mit Vorliebe auf geläufige Begriffe wie "gothic novel", "ghost story" oder "tale of terror" bzw. auf den Begriff "supernatural" zurück. Vergleichbare Termini kommen auch im Deutschen vor, wie etwa Geister/Gespenstergeschichte oder Schauerromane und ebenfalls im Französischen, wie etwa "roman noir"; vgl. hierzu auch Jehmlich ( 2 1985: 1 2 - 16), Blüher (1985: 140, 143 ff., 164); Wünsch (1991: 7). 5. Desweiteren verweise ich hierzu auf die sowohl gründliche als auch einleuchtende Diskussion in Wünsch (1991: 7 - 10); es handelt sich hier um eine anregende Arbeit, die ich erst nach meinem Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung, und zwar durch den Hinweis von Herrn Kollegen Ludwig Stockinger, nun bei der Schlußredaktion meines Artikels habe berücksichtigen können; dabei stelle ich eine Reihe von Gemeinsamkeiten, aber auch manche relevante Unterschiede fest. 6. Bereits die russischen Formalisten, etwa Tynjanov (1927/1971: 433 - 46), haben Gattungen in diesem Sinne auf der Basis von Begriffen wie etwa der 'literarischen Evolution', der Bildung von 'Reihen' und der 'Ablösung von Systemen', systematisch beschrieben, was Allgemeingut für die Gattungstheorie geworden ist. Die Gattungsunterscheidungen bezüglich der Fantastik von Todorov (1970/1975: 7 - 24) und von Wünsch (1991: 10 ff.) fußen auf diesem theoretischen Konzept. 7. Ähnlich argumentiert Jehmlich (21985: 24 - 25), der allerdings den nächsten Schritt, diese "elementare Struktur" zu beschreiben, völlig ausläßt, was Wünsch jedoch leistet. 8. Zur Frage des Realismus, s. Jakobson (1921/1971: 3 7 3 - 391); Brinkmann (1974); Kohl (1977); Höfner (1980); Blüher (1985). Wünsch (1991: 17 ff.) befaßt sich ebenfalls mit dem Realismusproblem im Verhältnis zur Fantastik ausgehend von einem "epochenspezifischen Realitätsbegriff". Auffallend ist hier nicht nur, daß ihr theoretischer Standpunkt, sondern auch ihre Terminologie der Konzeption Höfhers frappierend ähnlich, wenn nicht gleich mit dieser sind, obwohl Höfhers Arbeit

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von ihr nicht erwähnt wird, die im übrigen für mich eine der bahnbrechenden Publikationen zum Thema Realismus darstellt. Das ist ein desto erstaunlicherer Befund, da Höfner zu einem Kreis Münchner Strukturalisten in den 70er Jahren gehörte, mit dem u. a. Titzmann und Wünsch eng verbunden waren. Ebenso auffallend ist die Nichterwähnung von Thomsen/Fischers (21985: Teil I) Sammelband, von Jehmlich ( 2 1985: 24) und Penning ( 2 1985: 3 7 - 38, 50), Arbeiten, in denen das Problem erörtert wird und in denen Fragen in den richtigen Rahmen gestellt werden. 9. Die deutsche Fassung der hier angeführten Zitate ist aus Todorov (1975: 30 ff.) entnommen, die Seitenangaben entsprechen aber den Seiten der von mir benutzten französischen Publikationen, wie in der Bibliographie angegeben. 10. Ich zitiere aus der deutschen Ausgabe von 1975. 11. Hierzu die massive Kritik von Lern (1974: 114). Ich teile Wünschs (1991: 10, Fn. 7) Bewertung bezüglich der Kritik von Lern an Todorov, diese sei "argumentativ ziemlich wertlos" keineswegs, denn Lern nimmt den Strukturalismus als eine Disziplin ernst, die den Begriff "Wissenschaft" voll in Anspruch nimmt (Lern schätzt den Strukturalismus, nicht aber das Vorgehen Todorovs), und zwar so wie es Titzmann (1977) im Rahmen des deutschen Strukturalismus beschrieb, als ein analytisches wissenschaftstheoretisches Konzept nämlich, an das sich Wünsch ja anschließt. Gerade die Einwände Lems fußen auf diesem Wissenschaftskonzept. Todorov geht bei der Behandlung von Gattungen von einem naturwissenschaftlichen Konzept aus, bei dem die Analysekriterien a priori festgelegt sind. Daher ist nicht verwunderlich, daß Lern gerade in diesem Bereich die größten Einwände vorbringt. Es ist auf der anderen Seite sicher überzogen (z. B. bei der Auswahl von einem Korpus nach Relevanzkriterien) mathematische Kriterien auf die Literaturwissenschaft zu übertragen und von dieser umgesetzt sehen zu wollen (ebd.: 120 - 121). Seine sehr emotionale Polemik ist ebenso überflüssig, entbehrt jedoch nicht des Humors ("Das Begriffschaos, das ein Strukturalist hervorzubringen imstande ist, könnte eine Kompanie von Mathematikern kaum in Ordnung bringen",

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Alfonso de Toro ebd.: 105). Enttäuschend finde ich die Tatsache, daß Lern den Begriff Fantastik verwendet, unter dem er alle möglichen Textsorten, darunter die Science Fiction subsumiert, jedoch nicht einmal den Versuch unternimmt, seinen Begriff der Fantastik zu definieren, geschweige denn ein alternatives Modell anzubieten. Wenn man sich eine derartig massive Kritik erlaubt, muß schon ein Gegenvorschlag gemacht werden. Die Begriffsverwirrung, die er selbst zustandebringt, sehen wir z. B. bei der Bezeichnung von Borges' Werk als "phantastische Philosophie", Theologie und Wissenschaft (ebd.: 112 - 113, 120 - 121); (dazu mehr 17 ff.). Im Gegensatz dazu hat das Modell von Todorov - trotz aller Kritik - Konsistenz und eine gewisse Kohärenz, von der man ausgehen und weiterarbeiten kann. Zur Kritik an Todorov s. Zondergeld (1974/1976/1978) und für einen Überblick über den Stand der Forschung und der Todorov-LemZondergeld Debatte s. Wörtche (1987: 21 - 62).

12. Man muß allerdings diese Forderung von Todorov für die Bildung der Textsorte 'Fantastik' wohlwollend in Hinblick auf die Ambiguität der Textstruktur interpretieren, denn ansonsten - würde man die Ambiguität dem Bewußtsein des Lesers überlassen - würde Todorov selbst den Vorwurf bekommen, den er den herkömmlichen Gattungsdefinitionen der Fantastik macht, "daß die Gattung eines Werkes von der Nervenstärke seines Lesers abhängt", wenn das Gefühl der Angst als gattungsdifferenzierendes Kriterium gewählt würde. Vgl. hierzu die berechtigte Kritik von Lern (1974: 1 1 4 - 119). 13. Ich lasse hier die Zu- oder Unzulässigkeit der prinzipiellen Aufteilung der fantastischen Themen in Ich- und Du-Themen unberücksichtigt, da dieser in unserem direkten Argumentationszusammenhang keinerlei Bedeutung zukommt, und verweise auf die Kritik von Finné (1980: 3 0 - 40) an dieser Todorovschen Aufteilung sowie auf die alternativen Möglichkeiten von Caillois (1975) und Blüher (1985: 156). 14. Finné (1980: 13): "Sera done consideré comme fantastique tout récit où intervient, où semble intervenir, un thème fantastique. La lapalissade exige, cette fois, un accord sur le fantastique".

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15. Eine ähnliche Position findet sich bei Jacquemin (1974: 28): "L'ordre qui règne avant l'apparition du fantastique n'est lui-même qu'apparent. Il y a eu désordre du préalable, et le désordre nouveau amené par le fantastique contribue, par une sorte de mouvement de balance, à rétablir l'ordre". 16. Dasselbe Problem finden wir bei der Diskussion um die '¡catharsis ' im Bereich der Tragödie; s. hierzu A. de Toro (1993: 195,220 - 224). 17. Ein ähnliches Problem finden wir bei dem Begriff der Iserschen 'Leerstellen', der von Titzmann (1977: 330 ff.) kritisiert wird, weil eben der Hinweis auf das Referenzsystem fehlt, worauf etwas in einem Text als 'Leerstelle' zu bezeichnen ist oder nicht. 18. Finné (1980: 15): "La littérature fantastique se situe d'emblée sur le plan de la fiction pure [...]. Le fantastique est jeu. [...] Le fantastique est donc une forme de l'art pour l'art, un jeu, une gratuité, non un tremplin. [...] le récit fantastique ne se veut plus un reflet de la réalité, ne cherche plus à accréditer certaines croyance, mais bien â divertir - j'ose à peine écrire: à détendre"; s. auch Callois (1975: 22). Die Definition des "kanonischen Fantastischen" von Finné deckt sich mit jener Blühers zur "Neofantastik", wobei die Finnésche Definition des "Neophantastischen" wiederum völlig von der Blüherschen abweicht (s. u. 32). 19. Obwohl er Todorovs Theorie der Fantastik weitgehend folgt, belegt er Todorov mit Prädikaten wie Zynismus, Ignoranz und anderem mehr, die "typisch strukturalistisch" wären. 20. Ein offensichtliches Problem in der breit dokumentierten Arbeit von Blüher (1985: 245, 258) besteht darin, daß oft unterscheidende Merkmale für eine Sorte auch bei einer anderen zu treffen sind, so daß diese an Schärfe verlieren. Bei der surrealistischen Novelle wird als Merkmal "der Verzicht auf mimetische Wirklichkeitsdarstellung" hervorgehoben, dieses Merkmal gilt aber auch für die Novelle der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. 21. Wünsch (1991: 38) schließt wie Todorov (1975: 1 5 2 - 155, 154) und Blüher (1985: 248) ebenfalls Kafkas Verwandlung aus der Fantastik aus, weil hier ein "Klassifikator" fehlt, der die Verletzung des Realitätsbegriffs

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Alfonso de Toro oder der Alltagserfahrung artikuliert. Sie kann dieses Werk aber weder der Science Fiction, noch dem Märchen oder der Utopie aufgrund des Fehlens mythischer bzw. wissenschaftlicher Erklärungen bzw. Projektionen negativer/positiver Welten zuordnen. Auch die Allegorese und die Parabel scheiden aus, obwohl sich diese hier als Textsorten anbieten würden, und Wünsch kommt zu der sicher richtigen, aber weder neuen noch sehr hilfreichen Feststellung, daß Die Verwandlung von Kafka ein Novum darstelle. Die Frage ist nun, wie dieses Novum zu benennen wäre. Allerdings ist das Fehlen eines Klassifikators wenig ausschlaggebend, denn die Textstruktur baut zwei unterschiedliche Welten auf, die der Eltern und die Gregors als Käfer, und der Leser fungiert als Richtinstanz. Ferner ordnet Todorov Die Verwandlung eindeutig (als eine Subtextsorte des Fantastischen) dem Unheimlichen und dem Wunderbaren zu und gibt damit eine Gattungsbezeichnung an. Daß Kafka und Borges als Vertreter einer "neueren Art" von Fantastik betrachtet werden, scheint inzwischen Allgemeingut der Forschung geworden zu sein. Allerdings muß hier auf einen bedeutsamen Unterschied zwischen den Texten hingewiesen werden: Während Kafka in Die Verwandlung die Metamorphose eines Menschen in einen Käfer als eine neue, nicht zu legitimierende Realität darstellt, und zwar im Rahmen einer ordnungsgemäßen Welt, in der seine Eltern das Ereignis nicht bewerten, sondern sich lediglich gegen das Ungetüm wehren, nimmt Borges dagegen keinerlei Bezug mehr zur Wirklichkeit, sondern zur Literatur, und zu dieser nur in den wenigsten Fällen direkt, da Borges das Referenzsystem 'Literatur' simuliert (de Toro 1992/21995; 1994; 1995). Kafka läßt die Verwandlung noch in einer rationalen Welt geschehen, kümmert sich aber nicht mehr um diese Welt. Borges begibt sich auf die Suche nach ganz eigenen Ich-zentrierten, narzistischen Zeichen. Daher wäre Kafka der Beginn eines Paradigmas, das mit Borges nicht nur fortgesetzt wird, sondern an die Grenze der Ausdrückbarkeit gelangt; s. 37 ff. und unten.

22. Blüher (1992) betrachtet Borges (offenbar in Anlehnung an Lern) in der Nachfolge Kafkas als den Gründer einer 'Neophantastik' (s. u. 31 - 32). Wie schwer man sich mit der Zuordnung Borges' zur Fantastik tut, zeigt der textlinguistisch und sprachtheoretisch orientierte, recht anregende und

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exemplarische Beitrag von Reisz (1982: 161 - 202). Die Vf. behandelt zwar alle möglichen Aspekte von Ibn Hakkan al-Bokhari, gestorben in seinem Labyrinth, nur nicht die Fantastik, die Textsorte, die im Titel als Hauptthema der Untersuchung angegeben wurde. Außer der steten Beschwörung des Terms 'Fantastik' erfahren wir darüber nichts in bezug auf das Werk Borges' bzw. auf diese spezielle Novelle. Einen vergleichbaren Fall bietet die Arbeit von Wright (1989: 2 9 - 36), indem die Vf. völlig am Thema der Fantastik vorbeischreibt. 23. Gerade dieser Aspekt und das Festhalten an der ambivalenten Struktur des Fantastischen machen deutlich, daß die Arbeit von Wünsch in bezug auf die gattungstheoretische Klärung der Fantastik bzw. des Realitätsbegriffes und des kulturellen Wissens über die Arbeiten von Vax, Suvin, Todorov und Blüher bzw. Titzmann, Lotman und den unerwähnt gebliebenen Höfher nicht hinausgeht. Der Ertrag ihrer Arbeit liegt in einer nach analytisch-wissenschaftlichen Argumentationsprämissen (die auch bei Titzmann 1977 fiir die Literaturwissenschaft erschöpfend herausgearbeitet wurden) sauber, klar und brillant geführten Diskussion und in der Differenzierung von Argumentationsebenen; d. h. was die Gattungstheorie zur Fantastik manchmal intuitiv oder ungenau bzw. nicht ganz systematisch zur Sprache gebracht hat, wird nun hier wissenschaftstheoretisch reformuliert, was übrigens der Vf. voll bewußt ist; s. Wünsch (1991: 9 10, passim). Mit Sicherheit ist diese Arbeit aber ihrer Klarheit wegen ein Gewinn für die gattungstheoretische Diskussion, denn sie hat gezeigt, daß die Gattungsfrage wissenschaftlich-systematisch gewinnbringend und nicht allein historisch behandelt werden kann. 24. Die folgende Äußerung Borges' (1985: 20) belegt meine Meinung eindeutig: "Yo perdí mi vida de lector el año 1955, y resolví releer a los clásicos, a mis clásicos mejor dicho, ya no sé nada de lo que ha pasado con la literatura contemporánea, ni española, ni argentina, ni ninguna otra. Soy hombre del siglo XIX. No sé por qué la gente cree que soy moderno. Yo no me siento moderno. Yo me siento bastante perdido". Man täte gut daran, den Beitrag von Rodríguez Monegal (1976: 188 - 189) in bezug auf die Behandlung und Einschätzung von Borges in Argentinien, in Lateinamerika und in der Literaturkritik sorgfältig zu lesen: Hier wird

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Alfonso de Toro verdeutlicht, daß die nouvelle critique, trotz der von mir (A. de Toro: 1995a) monierten Mißachtung Borges', einen wesentlichen Beitrag zum richtigen Verständnis des Autors gegenüber der sonstigen, v.a. lateinamerikanischen Literaturkritik leistet. Vgl. auch in diesem Zusammenhang das Buch von Jurado (1964), das mir von großer Aktualität erscheint.

25. Siehe Mentón (1982: 411 - 426) und die Artikel von Rodríguez Monegal (1955; 1975; 1976), in denen man sich mit dieser Beziehung befaßt und diese überzeugend ablehnt. Rodríguez Monegal bezeichnet den Beitrag von Angel Flores (1955: 187 - 192), den ersten Beitrag, in dem Borges als der Gründer des "Magischen Realismus" angesehen wird, als Produkt einer "undokumentierten Imagination" (1976: 177), dem ich hier nur zustimmen kann. 26. Mignolo (1985: 481 - 486) vertritt, ausgehend von den gleichen, also den von Rodríguez Monegal analysierten Texten, eine vergleichbare Meinung. Daher ist es auffallend, daß Mignolo die Beiträge von Rodríguez Monegal nicht zitiert, zumal der Beitrag aus dem Jahr 1976 in der vor allem in den USA aber auch international äußerst bekannten Zeitschrift Revista de Literatura Iberoamericana erschien. Im übrigen findet sich eine solche Äquivalenz zwischen Literatur und Fantastik ebenfalls bei Todorov (1975: 149), die bei ihm aber ein Merkmal der herkömmlichen Fantastik des 19. Jahrhunderts darstellt. Nach der einleuchtenden Feststellung, daß ein Infragestellen der Grenzen zwischen Wirklichem und Übernatürlichen nur in der Literatur stattfinden kann, betrachtet er die fantastische Literatur als "die Quintessenz der Literatur". Dieses Infragestellen wäre eigentlich "jeder Literatur eigen", die Fantastik erhebe es aber "explizit zum Zentrum". Der Unterschied zwischen meiner Position und der Todorovs sei aber noch einmal betont: Meine Behauptung, Borges verlasse die Fantastik u. a., weil er die Fantastik als Literatur definiert und damit Extension und Intensión des Terminus sprengt, beruht auf dem Faktum, daß sich Borges der Mimesis/Fiktion entledigt und die Zeichen als Referenzsystem benutzt bzw. so tut, als ob er sich auf andere Zeichen beziehe. Todorov hingegen hält an der Opposition 'Wirklichkeit vs. Fiktion' im tradierten mimetischen Sinne fest, und in diesem Rahmen

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ist freilich jegliche Fiktion etwas Erfundenes und damit potentiell fantastisch. 27. Nähere Angaben s. Rodríguez Monegal (1976: 185 ff.). 28. S. Fn. 1. Eine ähnliche, wenn nicht gleiche, Auffassung vertritt Jehmlich (1980/21985: 23 - 24) ausgehend von Scholes/Rabkin (1977: 169). 29. Borges: Pierre Menard Autor des "Quijote" in Fiktionen (1993: 35 - 45); Magische Einschübe im "Quijote" in Inquisitionen (1992: 5 6 - 59); Die Parabel von Cervantes und Quijote in Borges und Ich (1993: 36); s. auch spanisches Original (1989:1, OC: 444 - 495; 667 - 669; 799). 30. S. hier auch zu Cervantes' Don Quijote Horst Weich (1989, 95 ff., 159 und passim). 31. Übersetzung des Verfassers; Borges (1985: 17), der Originaltext lautet: "Todo es posible ... no sé, por ejemplo, en el caso de Wells tenemos un hecho fantástico entre muchos hechos cotidianos; en cambio en el mundo de Kafka no, todo parece fantástico. Todo puede ensayarse, pero lo importante es que el resultado sea feliz". 32. Borges (1985: 17): "Pero yo creo que lo importante es soñar sinceramente, creo que si no hay un sueño anterior la escritura es imposible. Yo empiezo siempre por soñar, es decir, por recibir un sueño" s. auch (ebd.: 22).

33. Meine Übersetzung stammt aus einem Zitat in Rodríguez Monegal (1976: 188): Im Originaltext lautet der ganze Passus wie folgt: "Y lo mismo ocurre con los demás temas de la literatura fantástica, porque son como verdaderos símbolos de estados emocionales de procesos que se operan en todos los hombres. Por eso, no es menos importante la literatura fantástica que la realista". 34. Ich zitiere aus Der Süden in Fiktionen; siehe auch das spanische Original (OC: I, 527 - 529). 35. Zur Verwendung dieser Begriffe s. de Toro (1992/* 1995: 145 - 184). 36. Ich zitiere aus Die Inschrift des Gottes in Das Aleph (1995); siehe auch das spanische Original (OC: Bd. I, 598 - 599).

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37. Allerdings stuft Baudrillard den Borgesschen Diskurs als eine Simulation 2. Grades ein. Ich habe aber versucht nachzuweisen, daß Baudrillard hier irrt, denn bei Borges handelt es sich in der Tat um eine reine Simulation; vgl. auch A. de Toro 1992/21995; 1994; 1995; 1995a. 38. Lern (1974: 1 1 2 - 114) ist sich dieser Umwandlung der Fantastik bei Borges und zugleich des Novums, das sein Diskurs darstellt bewußt, er verbindet Borges und Kafka in diesem Zusammenhang als Teil eines "kafkaesken Paradigmas" bzw. im Rahmen einer "neuzeitlichen Phantastik". Allerdings gelingt es Lern keineswegs - wie oben bereits erwähnt (Fn.ll) mit seinem Terminus der "phantastischen Philosophie" den gattungstheoretischen und epistemologischen Status des Borgesschen Diskurses zu bestimmen; Blühers (1985: 531 u. passim) Arbeit leidet unter dem gleichen Problem; er erkennt und benennt (viel deutlicher als Lern sogar) die Neuigkeit Borges' Werk, kommt aber zu keiner Beschreibung der Umwandlung und gerät auch noch in Aporien; Jehmlich (1980/21985: 26) und Penning (ebd: 40) schreiben Borges ebenfalls eine neue Dimension des literarischen Schaffens zu. 39. Damit kündigt Blüher unbeabsichtigt das Ende der Phantastik an, denn ich wiederhole - das "Neo-" kann nur auf der Grundlage des Fantastischen existieren. Der Verweis auf Freud und die Psychoanalyse - der sich bei Todorov ebenfalls findet - bestätigt, daß eine bis zu Freuds Entdekkung des Es als inexistent betrachtete Dimension im Menschen, zwar verborgen, gleichwohl aber als Realität anzusehen ist. Von hier aus erinnern wir uns - begründet Todorov (1975: 143 - 144) das Ende der Fantastik im 20. Jahrhundert:"[...] die Psychoanalyse hat die fantastische Literatur ersetzt (und damit überflüssig gemacht)". Dieser Aussage schließt sich Penning (1980/21985: 40) weitgehend an und erwähnt Borges' Tlön, Uqbar, Orbis Tertius aus Fiktionen als Musterbeispiel für diese "neue Qualität" des Schreibens. Bereits Alazraki (1983: 1 5 - 80, 75) verwendet den Term "neo-fantástico" in der gleichen Bedeutung wie Blüher bei der Behandlung der Kurzerzählungen Cortázars. 40. Blühers Beitrag erschöpft sich in einer traditionellen "Quellenuntersuchung", bei der er bemüht ist nachzuweisen, daß Borges einiges von

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Valéry und Kafka übernommen hat. Offenbar hat man aus dem Pierre Menard nichts gelernt. Der eigentlichen Thematik, der Paradoxie, wird eine halbe Seite gewidmet. Allerdings bin ich mit manchen seiner Einschätzungen, was das Borgessche Werk betrifft, wie z. B. die Entledigung der Mimesis und die dekonstruktionistischen Vertextungsverfahren durchaus im Einklang, was ich in meinen Beiträgen (1992; 1993; 1994; 1995) auch umfassend dargelegt habe. 41. Es handelt sich an dieser Stelle um meine eigene Übersetzung von Baudrillard (1980: 10). 42. Bezüglich des Begriffes 'Zufall' und Borges vgl. Schulz-Buschhaus (1991: 390 ff.), der den Standpunkt vertritt, daß Borges sowohl das Zufallsprinzip als auch die Notwendigkeit eines Systems thematisiert. 43. Ich nehme hier Bezug auf folgende Textstellen von Borges und Foucault: Borges: Die analytische Sprache von John Willkins, in Inquisitionen (1992) 115- 116: Auf ihren uralten Blättern steht geschrieben, daß die Tierarten sich wie folgt unterteilen: a) dem Kaiser gehörige; b) einbalsamierte, c) gezähmte, d) Milchschweine [Spanferkel], e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) streunende Hunde, h) in dieser Einteilung aufgenommene, i) sich wie toll gebärdende, j) unzählbare, (k) mit feinstem Kamelhaarpinsel gezeichnete, (1) und so weiter, m) die [gerade eben] den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen. (Vgl. Originaltext; Borges: 1989,1, OC, 708). Foucault: Die Ordnung der Dinge ( I3 1995: 17 - 20): Bei dem Erstaunen über diese Taxinomie erreicht man mit einem Sprung, was in dieser Aufzählung uns als der exotische Zauber eines anderen Denkens bezeichnet wird - die Grenze unseres Denkens: die schiere Unmöglichkeit, das zu denken. [...] Die Monstrosität verändert hier keinen wirklichen Körper und modifiziert in Nichts das Bestiarium der Vorstellungskraft. Sie verbirgt sich nicht in der Tiefe irgendeiner fremden Kraft. [...] Was jede Vorstellungskraft und jedes mögliche Denken überschreitet, ist einfach die alphabetische Serie (A, B, C, D), die jede dieser Kategorien mit allen anderen verbindet. [...] Die Monstrosität, die Borges in seiner Aufzählung zirkulieren läßt, besteht dagegen darin, daß der gemeinsame Raum

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Alfonso de Toro des Zusammentreffens darin selbst zerstört wird. Was unmöglich ist, ist nicht die Nachbarschaft der Dinge, sondern der Platz selbst, an dem sie nebeneinandertreten könnten. Die Tiere [...] könnten sich nie treffen, außer in der immateriellen Stimme, die ihre Aufzählung vollzieht, außer auf der Buchseite, die sie wiedergibt. Wo könnten sie nebeneinandertreten, außer in der Ortlosigkeit der Sprache? Diese aber öffnet stets nur einen unabwägbaren [undenkbaren] Raum, wenn sie sie entfaltet. [...] Das wäre die Unordnung, die die Bruchstücke einer großen Zahl von möglichen Ordnungen in der gesetzlosen und ungeometrischen Dimension des Heterokliten aufleuchten läßt. Und dieses Wort muß man möglichst etymologisch verstehen - die Dinge sind darin »niedergelegt«, »gestellt«, »angeordnet« an - in dem Punkte unterschiedlichen - Orten, daß es unmöglich ist, für sie einen Raum der Aufnahme zu finden und unterhalb der einen und der anderen einen gemeinsamen Ort zu definieren. (Vgl. Originaltext 1966: 7 - 9).

44. Borges: Tlön, Uqbar, Orbis Tertius in Fiktionen (1993) 23: "Die Metaphysiker auf Tlön suchen nicht die Wahrheit, nicht einmal die Wahrscheinlichkeit: Sie suchen das Erstaunen. Sie halten die Metaphysik für einen Zweig der fantastischen Literatur"; vgl. Borges (1989: I, OC, 436). Diese Behauptung wiederholt Borges in seinem Interview (1985: 23): " - Son el ápice de la literatura fantástica. El Dios de Spinoza, por ejemplo, supera a todo lo inventado por Kafka o Poe. Y no lo digo contra la teología o filosofía, al contrario, es una exaltación de ellas. Una obra como la Etica de Spinoza o El mundo como voluntad y representación, de Schopenhauer, o el sistema del Buda son obras maestras de la imaginación, sí". "Sie sind die Spitze der fantastischen Literatur. Der Gott von Spinoza zum Beispiel übertrifft all das, was von Kafka oder Poe erfunden wurde. Und ich sage das nicht gegen die Theologie oder Philosophie, im Gegensatz, es handelt sich um eine Überhöhung von diesen. Ein Werk wie die Ethik von Spinoza oder Die Welt als Wille und Vorstellung von Schopenhauer oder das System Buddhas sind Meisterwerke der Phantasie, aber sicher" (Übersetzung des Vf.). 45. Es handelt sich an dieser Stelle um meine eigene Übersetzung von Borges; der Originaltext (1985: 25) lautet: " - Quizá el fin del laberinto -

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si es que el laberinto tiene un fin - , sea el de estumilar nuestra inteligencia, el de hacernos pensar en el misterio, y no en la solución. Es muy raro entender la solución, somos seres humanos, nada más. Pero buscar esa solución y saber que no la encontramos es algo hermoso, desde luego. Quizá, los enigmas sean más importantes que las soluciones [...]." 46. In diesem Zusammenhang möchte ich Hoffmann (1982: 313 ff.) erwähnen, der in einem bemerkenswerten Beitrag zur Fantastik und zur postmodernen Fiktion einen Katalog von Merkmalen für den postmodernen narrativen Diskurs an Hand u. a. von Werken von Pynchon, Federman, Barth, Brautigan, Coover, Sukenick erarbeitet hat, der unseren bisherigen Ausfuhrungen zu Borges' Diskurs (de Toro 1991: 155 - 156; 1992/51995: 145 - 184; 1994: 5 - 32; 1995; 1995a: 1 - 35) weitgehend entspricht, mit dem Unterschied, daß ich aus den oben genannten Gründen diesen Typ von Diskurs nicht mehr als fantastisch betrachte. Wichtig sind hier die von Hoffmann entwickelten Merkmale unter den Kategorien der "Disruption of Situational Logic" (hierzu gehört die Darstellung eines Geschehens in verschiedenen Variationen und dessen Existenzmöglichkeiten ohne die Favorisierung eines bestimmten Geschehens, so wie die Proliferation von Ausgangsmöglichkeiten einer Geschichte oder die sich logisch ausschließenden oder sehr unwahrscheinlich sich gleichzeitig ereignenden Vorkommnisse bzw. die pragmatische Dekontextualisierung und Extrapolierung von bestimmten Größen, die jegliche kombinatorische Ordnung oder rationale Hierarchie verneint); ferner muß die Kategorie des "Contrast between Situation and Linguistic Representation" erwähnt werden (wozu z. B. die Umwandlung des semiotischen Dreiecks gerechnet wird) so wie auch die "Abstraction of the Narrative Situation" (wo die Bereiche Raum, Zeit, Figuren und Handlung eine besondere Behandlung erfahren, im Rahmen des Labyrinths und zwar derart, daß sie in ihrer herkömmlichen Bedeutung durch die Sprache, durch die sie konstituiert sind, zur "Nichtsignifikanz" aufgelöst werden).

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47. Die deutsche Fassung von Borges' Text (1993: 13) übersetzt das Wort 'simulación' in der Originalfassung nicht, was sich hier als geradezu verhängnisvoll für die Interpretation Borges' erweist, da wir es mit einem zentralen Begriff zu tun haben. In der spanischen Fassung, Borges (1989: I, OC, 429) lautet diese Textstelle: Mejor procedimiento es simular que esos libros ya existen [...].

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Wolfgang Friedrich Schwarz ZUR ENTWICKLUNGSSTRUKTUR DER TSCHECHISCHEN PHANTASTIK BIS ZU KAREL CAPEKS

KRAKATIT:

REPRÄSENTATION, INNERER BAU DER DINGE UND ZEICHENAUFLÖSUNG [...1 Noch heute fuhren in aller Herrgottsfrühe zwei hinkende Soldaten Josef Svejk mit aufgepflanztem Bajonett den Weg herunter vom Hradschin, über die Karlsbrücke in die Altstadt. Im umgekehrten Sinne geleiten noch heute zwei feiste und dicke Komödianten, zwei Figurinen aus dem Panoptikum, zwei Roboter in Schoßmänteln und Zylindern Josef K. des Nachts im Mondlicht über die gleiche Brücke zum Strahover Steinbruch, seiner Richtstatt. [...]

Angelo Mario Ripellino hat in seinem Buch Magicka Praha (Das Magische Prag, 1978: 6 - 8) mit dem Wort "Roboter" einen unsichtbaren Dritten zu Hasek und Kafka herbeizitiert, dessen Werk nicht minder Gewicht hat - hinsichtlich seines über den engen Kreis der eigenen Nationalliteratur hinausragenden existenzkritischen Gehalts, seiner Publikumswirksamkeit und seines Entwicklungswertes für die tschechische Literatur. Dabei stehen die "Roboty" (Roboter) aus Capeks Drama R.U.R. - Rossum's Universal Robots (1920, Urauff. 1921), ein aus dem alten tschechischen Wort 'robota' (Fronarbeit) abgeleiteter Begriff, mit dem er den internationalen Wortschatz und die moderne Science Fiction (weiterhin: SF) bereichert hat1, bereits in einer Tradition: Die Prager Legende vom künstlichen Homunkulus, dem aus Lehm geschaffenen Golem des 'hohen Rabbi Low', den Gustav Meyrink (1915) und erneut Isaac Bashevis Singer (1982) in die Weltliteratur eingebracht haben, gehört ebenso zu dieser Tradition wie Werke, die kaum über ihre Epoche und schon gar nicht über ihren nationalkulturellen Horizont hinausgewirkt haben: z. B. die phantastischen romaneta (Kurzromane) eines Jakub Arbes aus der Zeit, als die moderne SF entstand. Ein besonderer Platz gebührt hier Arbes' Newtonuv mozek (Das Gehirn Newtons, 18772), eine Geschichte um eine Zeitmaschine - die also in Prag früher erfunden wurde als in England - , vor H.G. Wells' The Chronic Argonauts (1888) und The Time Machine (1895).3 Aber bleiben wir zunächst bei Karel Capek:

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Nach dem Erfolg von R. U.R. brachte Capek eine Reihe phantastischer Werke heraus: 1921 das Drama Ze zivota hmyzu (Aus dem Leben eines Insekts, zusammen mit seinem Bruder Josef Capek), 1922 den Roman Tovârna na absolutno (Die Fabrik des Absoluten, auch: Das Absolutum oder die Gottesfabrik) sowie Vec Makropulos (Die Sache Makropulos), 1924 den Roman Krakatit. 1936 folgt schließlich der Montage-Roman Vâlka s mloky (Der Krieg mit den Molchen) und 1937 noch einmal ein SF-Drama: Bilä nemoc (Die weiße Krankheit). Bei dieser Werkdichte ist man geneigt, nach dem Entwicklungskontext für eine solche literarische Einzelleistung zu fragen. Ôapeks Kontakte zum PEN, seine Reisen nach England - in seinen Englischen Blättern (Anglické listy) dokumentiert - , seine Anglophilie, die er mit T. G. Masaryk teilte, ließen den Eindruck eines unikalen Œuvres entstehen, das im weiteren europäischen Kontext zu erklären war. So setzt z. B. Joachim Kleins Analyse des Kriegs mit den Molchen beim Spätwerk Capeks an, beim Vergleich mit A. Huxley und H.G. Wells, und macht einen antiutopisch-satirischen Zug aus, der Capek mit Huxley verbinde und ihn vom Fortschrittsdeterminismus in Wells' scientific romances kritisch abhebe (Klein).4 Es dürfte aber zumindest ebenso interessant sein, nach der "literarischen Reihe" (Tynjanov), bzw. der "Entwicklungsstruktur" (Mukarovsky, Vodicka) zu fragen, aus der Capeks früheres Werk aus der tschechischen Literatur herausgetreten war und in die Weltliteratur eingetreten ist. Was die Tradition der Phantastik in der tschechischen Kultur mitgeprägt hat, ist ein existenzkritischer Zug, der in Ripellinos Nachtschwärmervision mit den Namen Kafka und Hasek angedeutet ist. Bei dem Schriftstellerphilosophen Capek erhält er eine ganz spezifische Ausrichtung: Die Phantastik wird bei ihm bewußt zur Relativierung der logisch-rationalistischen Denkweise entwickelt. Suvin hat in seiner Poetik der Science Fiction (1977; dt. 1979: 27, 306) die SF generell ausgehend vom Verfremdungsbegriff (unter Berufung auf Bert Brecht und Viktor Sklovskij) definiert als "ein Aufeinanderwirken von Verfremdung und Erkenntnis", in "einem imaginativen Rah-

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men, der als Alternative zur empirischen Umwelt des Autors fungiert". Die ¿apeksche Spezifik ortet er in dessen Absicht, sich mit den "großen sozialen Interessen und den kollektiven geistigen Problemen" zu befassen, die sich aus den "Leitideen der Wissenschaft, Vermutungen über die Zukunft und Errungenschaften der Technik" ergaben - das heißt, sie sollten sich mit den destruktiven Bedrohungen befassen, die das Hereinbrechen der modernen Massenproduktion für den kleinen Mann mit sich bringt. (Suvin: 306)5

Was hier als 'geistige Probleme* angesprochen wird, läßt sich genauer fassen: Capeks Existenzkritik zielt weniger auf den sozialdidaktischen Bewußtmachungseffekt der Verfremdung ä la Brecht, den Suvin anvisiert, auch die Funktion der Verfremdung im Sinne eines allgemeinen ästhetischen Verfahrens ä la Sklovskij würde zu pauschal bleiben. Verfremdung liegt schließlich jeder ästhetisch funktionalen Konstruktion zugrunde, indem sie das 'neue Sehen' des Gewohnten herausfordert. Nicht nur die Phantastik basiert darauf, sondern Literatur und Kunst überhaupt. Insofern ist Suvins Charakteristik der Phantastik, der SF Capeks, zu unspezifisch. Um Capeks Grundansatz zu entdecken, muß man vor den SF-Autor zurückgehen und bei einem Phantastikmodell ansetzen, das in seinem Frühwerk Bozi muka (Die Gottesmarter, geschr. 1913 - 1917) glasklar, parabelhaft und aufs Allerwesentlichste reduziert, definiert ist: in den "Fußspur"-Geschichten (Slepej I, II und Slepeje). Kurz zur Fabel der ersten Geschichte: Zwei Männer begegnen sich in einer Landschaft, die vom frischen Schnee bedeckt ist. Die einzig erkennbaren Details im Schnee sind zunächst die beiden Personen und deren aufeinander zulaufende Fußspuren. Aber da ist auf einmal ein weiteres Detail: ein einzelner Fußstapfen, "ca. 6 m vom Straßenrand entfernt, an dem sie stehen." - Zu weit, um im Zusammenhang mit den anderen Fußabdrücken zu stehen. Auch nach allen möglichen Überlegungen, wie so ein einzelner, noch dazu besonders großer und überaus deutlicher Abdruck dahingelangt sein könnte, gibt es keine plausible, empirisch haltbare Erklärung für dieses singulare 'Indexzeichen' (Begriff von Peirce). Die Kausallogik greift hier nicht mehr: "Wir sind doch beide Idioten", meinte Boura nachdenklich. "Andauernd suchen wir eine 'natürliche' Erklärung; wir klammern uns an die kompliziertesten, unsinnigsten und gewaltsamen Ursachen, nur wenn sie natürlich sind. Aber vielleicht wäre es weit einfacher und natürlicher, wenn wir sagten, daß dies einfach ein Wunder sei." (Capek 1973:11)6

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Die Geschichte "Slepej I" wirkt in ihrer modellhaft experimentellen Komprimiertheit wie eine Spiegelverkehrung zu Becketts Godot-Fabel: Dort warten zwei auf jemanden, der aber nicht kommt und eine Mystifikation bleibt, hier war offensichtlich einer oder etwas da und es wird gerätselt, wer oder was es gewesen sein könnte. Auch hier bleibt die Mystifikation, das Rätsel ohne Lösung. In der zweiten "Slepej"-Geschichte (Untertitel: "Elegie"), die den ersten Teil der Gottesmarter zyklisch abschließt, kommt zur Erklärung die Seele ins Spiel: "Wenn die Dinge so geschähen, wie es unserer Seele natürlich ist, würden Wunder geschehen. " (Capek 1973: 65) Wie weit reicht also menschliche Noetik, das rationale Erkenntnisvermögen, die Phänomenologie? - Der eine menschliche Fußabdruck, den Robinson Crusoe am Strand seiner Insel entdeckte, war rational erklärbar: Wind und Meer hatten den zugehörigen zweiten verwischt. Bei Defoe dient die Entdeckung des Abdrucks als dramatisches Spannungselement (Freise 1995), bei Capek ist aber noch mehr im Spiel: Innerhalb der narrativen Struktur ist eine Grenzüberschreitung angelegt, die Todorov für die Phantastik als essentielles Merkmal ausgemacht hat. Innerhalb der "sekundären Modellierung" des literarischen Textes (Lotman), innerhalb der Fiktionalität also, bedeutet dies eine weitere Schichtung, den Übergang auf eine tertiäre Fiktionsebene, auf der die Quasirealität der sekundären Modellebene außer Funktion gesetzt ist. Wir kommen in den Bereich der Phantastik im engeren Sinne, die mit Überfiktionalisierungen arbeitet, die auf dem Oszillieren zwischen zwei Erscheinungsebenen basiert, auf der Ambivalenz zwischen einer empirisch plausiblen und einer kontraempirischen Ebene, "einem imaginativen Rahmen, der als Alternative zur empirischen Umwelt des Autors" - und/oder Lesers empfunden wird, wie Suvin definiert hat.7 Ein Seitenblick zur Illustration dieser Phantastik im engeren Sinne: Nikolaj Gogol's Erzählung "Nos" (Die Nase, 1836) ist hierfür ein exemplarisches Beispiel. Kovalevs Nase, die ihm morgens beim Blick in den Spiegel im Gesicht fehlt und später in Staatsratsuniform in St. Petersburg gesehen wird, "balanciert", wie Ljubomir Dolezel analysiert hat, "auf der Grenze der fiktionalen Existenz", ist entweder "bloße Halluzination" oder "authentisches Double" ihres Besitzers. In der ersten - ungedruckt gebliebenen - Version

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wollte Gogol' den Spuk durch eine empirisch plausible Erklärung auflieben: alles sei nur ein Traum gewesen. In der zweiten, der gedruckten, hat er sich für die autonome Ambivalenz des Phantastischen entschieden, gegen die rationale Erklärung, für die Nichtaufhebung der Mystifikation (Dolezel). Bleiben wir aber im Bereich der tschechischen Literatur. Was in der Evolutionslinie der tschechischen Phantastik bei Karel Capek aufscheint, ist nicht zuletzt ein semiotisches Problem: Reichen unsere Begriffe, konventionell eingebunden in unser Zeichensystem, aus, um die Realität zu erkennen? Ist, im Begriffssystem von Michel Foucault (Les mots et les choses) gedacht, die Repräsentation der Dinge durch Zeichen gesichert? II Auf diese Fragen hat die tschechische Phantastik in ihrer langen Geschichte seit dem Hochmittelalter je nach dem semiotischen Stadium, in dem sie sich befand, unterschiedlich geantwortet. Lassen Sie mich nun kurz meine 'Zeitmaschine' konstruieren, mit der wir auf die Zeitreise durch die literarische Entwicklungsreihe der phantastischen Semiosen gehen: Die Capeksche Fußspur-Parabel macht gleichsam experimentell bewußt, daß im Phantastik-Diskurs die Referentialität eine entscheidende Rolle spielt: die Art, wie Wörter für Dinge stehen, die sie bezeichnen. Die Modellierung phantastischer Welten ist ein Semioseprozeß, der den sich wandelnden epistemischen Bedingungen der Zeichenkonstitution unterliegt. Mit Foucault lassen sich in der semiotischen Evolution drei Stadien ausmachen: Das Stadium der Repräsentation. Vom Mittelalter bis zur Wende zum Barock im 17. Jahrhundert. Hier dominiert das Prinzip der klassischen Mimesis: Das Sprachzeichen ist Abbild von den Dingen, steht für sie. Zeichen und Referent sind einander homolog. Die Homologie ist prästabilisiert, in der Scholastik durch die Hegemonie des alles entscheidenden normativen Textes, die Verschriftlichung des göttlichen Weltplans. - Wir werden es am tschechischen Tkadlecek, dem Gegenstück zum mittelhochdeutschen Ackermann, sehen. Das Stadium der Repräsentation der Repräsentation (17.-18. Jh.). Der Akt der Referenztätigkeit schiebt sich sozusagen vor die Repräsentation des Sta-

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diums 1. Die Repräsentation tritt auseinander: Sinnfällig wird diese semiotische Dissoziation in Doppelungen, Spiegelungen, im Spiel von Trugbildern, Masken, im Manierismus des Barock. - Comenius' Labyrinth der Welt und Paradies des Herzens wird uns noch als Beispiel dienen. Die Orientierung auf den 'inneren Bau der Dinge', ab 19. Jahrhundert. Das Experiment erkundet die innere Konstruktion der Dinge nach dem Prinzip des naturgesetzhaften Kausaldeterminismus. Gesucht wird nach Konstituenten und ihrem Zusammenwirken in einer Ursache-Wirkungskette. (Sti;hworte: Darwins Entwicklung der Arten, Taines Kulturdeterminismus raa milieu - moment, Wundts experimentelle Psychologie, die junggrammatische Sprachwissenschaft, die Kausalketten der Indogermanistik8). Suerbaum/Broich/Borgmeier machen an dieser Epochenschwelle die Krise der seit dem 18. Jahrhundert etablierten Evolutions- und Fortschrittsidee aus: Ein starkes Bedürfnis nach einer Vorwegnahme der Zukunft durch die Fiktion tritt erst dann auf, wenn die Gesellschaft zwar noch von der Bedeutung der Evolution und des wissenschaftlich-technischen Fortschritts überzeugt ist, aber nicht mehr nai ' glaubt, daß diese Entwicklung bislang Gutes gebracht hätte und automatisch zu einer besseren Zukunft weiterführen würde. Die Wurzeln der Erdichtung der Zukunftsgeschichte liegen also in gegenwärtigem Zweifeln. Dieses Stadium ist gegen Mitte des 19. Jh. allgemein erreicht. Von da an kann man in der utopischen Literatur die Verbindung von Zukunftsfiktion und Zweifel erkennen. (Suerbaum/BroiclV Borgmeier: 43 ff.)

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II. 1 In der Evolution der tschechischen Phantastik haben wir es in den Stadien Repräsentation und Repräsentation der Repräsentation, vom Mittelalter bis ins Barock, mit Allegorie zu tun. Sie macht vom ersten bis zum zweiten semiotischen Stadium einen Funktionswandel durch. Kurz zur Definition: Die einschlägigen Begriffslexika bestimmen Allegorie als Veranschaulichung eines Abstraktums durch ein rational faßbares Bild. Die Allegorie steht dabei nicht nur logisch für das Gemeinte, sondern das ist der springende Punkt - verkörpert es, ist es. Der Allegorie liegt ein Identitätsanspruch von Zeichen und Dargestelltem zugrunde. Im Mittelalter wird ihre Entschlüsselung, die Allegorese, als Verfahren angesehen, das hinter den sensus literalis eine verborgene tiefere Wahrheit sucht: den sensus spiritualis oder allegoricus. Die in der Allegorie enthaltene logische Grenzüberschreitung (abstrakt - konkret) prädestiniert sie als Verfahren in der Evolutionslinie der Phantastik. Im alttschechischen Tkadlecek (ca. 1409) ist ebenso wie in seinem deutschen Gegenstück, dem Ackermann aus Böhmen des Johannes von Tepl, die Grenzüberschreitung innerhalb des Textes dialogisch-antithetisch konstruiert in der Konvention des Streitgesprächs. Der Verliebte (milenec), eine reale Person, deren Name zwar in einem Kryptonym verschlüsselt ist, streitet mit einem personifizierten Abstraktum, dem Unglück (Nestestif - im deutschen Ackermann hat der Tod diese Opponentenrolle. Gemeinsam ist beiden Kontrahenten ihr demonstratives Kodiertsein: unterschiedliche Fälle von Kryptonymie. Auf der einen Seite: die Kodierung der realen Person des Klägers (zalobnik). Sein Kryptonym ist leicht zu entschlüsseln, wenn man über den Kode der Schrift verfügt: Mein richtiger Name ist zusammengesetzt und gewebt aus acht Buchstaben des Alphabets [...]. Der erste Buchstabe am Anfang meines Namens ist im Alphabet der 11. und dann kommt der 20. und dann der 4. und nach diesen allen wieder der 20. und gleich danach der 9. und am Schluß der 10. [...]. (Kap. III, Ulbrich: 15)10

Der Name ist Ludvik.n Dieser leichten Dechiffrierbarkeit, der relativen Transparenz, steht die Opakheit der Allegorie der abstrakten Instanz gegen-

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über. Hier zeigt sich eine grundsätzliche Disparatheit des Diskurses, ein semiotischer Konflikt. Gefragt nach seiner Identität, antwortet das Unglück: Wir möchten dich keinesfalls abweisen oder dir falsche Angaben machen, sondern wir wollen dir nur die Wahrheit offenbaren. Den größeren Teil mußt du selbst ergründen. - Frag, wie die Römer uns malten [...]: "Es war die Person oder die Gestalt eines großen Mannes; und dieser Mann saß auf einem Hirsch, und dieser Hirsch sah aus, als wollte er zum Sprung ansetzen. Dieser Mann auf dem Hirsch hatte die Augen verbunden, sodaß er gleichsam nichts sah. Diesem Manne sprühten aus dem Munde feurige Funken, und diese Funken flogen hierhin und dorthin. Die einen setzten alles in Brand, was sie erfaßten und sie breiteten sich aus. Die anderen erloschen und verschwanden. Dieser Mann hielt in jeder Hand einen beschriebenen Zettel. Auf dem in seiner rechten Hand war so geschrieben: "Mit mir ist der Widersinn \protivnost]." Auf dem andern Blatt in seiner linken Hand stand geschrieben: "Durch mich ist Kummer und Trübsal [smutek a zämutek]". Über dem Kopf dieses Mannes schwebte gleichsam in der Luft noch ein anderer Zettel, auf dem geschrieben stand: "Ich bin die Gegenmacht und die Gegenkraft [moc a sila protivnä]." Zu Füßen dieses Mannes befand sich noch ein Blatt mit der Aufschrift: "Ich bin die Schnelligkeit und die Geschwindigkeit des Augenblicks [rychlost a bystrost oka mzenie]." Dieser Mann zog auch hinter sich einen fetten Ochsen mit 10 Hörnern [... ich kürze ab:] alle hauten und schlugen auf diesen Mann ein, und sie schleuderten ihre Waffen gegen ihn, [...] aber sie konnten ihm nicht schaden. (Kap. 14, Ulbrich: 81 f.,12 hier korrigiert, WFS)

Das Prinzip dürfte klar geworden sein. Das unfaßbare Abstrakte, Nestesti, (im Tschech. Neutrum: Unglück) ist als Allegorie repräsentiert, es definiert sich selbst im Zirkelschluß durch ein allegorisches Bild, durch das gerade zitierte berühmte "römische Bild des Todes" (das auch im Ackermann vorkommt13). Der Verliebte ist metaphorisch als Weber - textor. hier zu lesen als 'Weber' von Texten - repräsentiert. Sein Name ist zwar kryptonymisch, aber leicht dechiffrierbar. Der Diskurs der Allegorie (A) ist dagegen hermetisch, eine Art Denkzirkel: Identität per se. Erklärung des Bildes (A) aus dem Bild (A'). Die Erklärung verweist demonstrativ auf den geheimen Code zurück. Auf den Zetteln sind Selbstdefinitionen inskribiert. Dieser Diskurs sperrt sich gegen die Erklärung: "Du sollst nicht nach etwas fragen, was wir dir nicht verraten dürfen", hatte das Unglück seiner Erklärung vorausgeschickt: "Wer ein ihm anvertrautes Geheimnis preisgibt, der ist ein Schädling und ein Zerstörer des geheimen himmlischen Siegels" (Ulbrich: 82). Stabilität des Sinns, der wah-

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ren Bedeutung wird nur erreicht durch den Bezug auf einen - opaken - normativen Prätext. "Trotz ihres indirekten, verschleierten Repräsentationsmodus sucht die Allegorie paradoxerweise die reine unvermittelte Sichtbarmachung der Wahrheit" (Thomas). Die Allegorie, so Alfred Thomas (24 f.), kennzeichnet die heikle Lage der Repräsentation selbst - [im Bestreben,] die Wahrheit zu enthüllen, während sie in Worten verborgen ist. Paul De Man definierte die Allegorie als 'Manifestation der universellen Tendenz der Repräsentation, ihre eigene rhetorische Autorität zu bestätigen und zu verneinen.' Diese Tendenz kann interpretiert werden als Juxtaposition von Diskursen, die nicht völlig zu vereinen sind. (Hervorh. WFS).

- In den Konflikt der inkompatiblen Diskurse ist die Grenzüberschreitung der Phantastik am Ende des Hochmittelalters eingekeilt. II. 2

Nun zum Barock, zu Johann Arnos Comenius'/Jan Arnos Komenskys Utopie Labyrinth der Welt und Paradies des Herzens (Labyrint sveta a räj srdce, entst. 1623, ersch. in Amsterdam 1663). Der Ich-Erzähler, der Pilger (poutnik), der als quasi-reale Autoreninstanz auftritt, trifft auf seinem Weg durch das Labyrinth der Welt ständig auf neue Allegorien, wie z. B. Weisheit (Moudrost), Wissbegier14 (Vsezved), Verblendung (Mämeni), Fortuna, Tod (Smrt). Die Konstruktion des allegorischen Pols ist entscheidend verändert. Die Allegorie erscheint nun geradezu hyperbolisiert, manieriert. Die Fiktion ist jedoch in sich noch einmal geschichtet: Teil I (Kap. 1 - 36) entwirft antiutopisch-satirisch das Modell der äußeren Welt, mit einer auf den ersten Blick scheinbar harmonischen Ordnung (von Comenius selbst gezeichnet, s. Fig. 1). Bei näherer Hinsicht jedoch herrscht Chaos, Disharmonie, Zerfall. Teil II (ab Kapitel 37) setzt als Modell der positiven Utopie die innere Welt des Herzens entgegen, in dem Gott wohnt: eine Welt echter Ordnung und seelischer Harmonie. Der zweiteilige Titel mit Untertitel signalisiert bereits diese innere Fiktionsschichtung.15

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Fig. I: Komensky/Comenius: Eigene Zeichnung des "Labyrinths der Welt"

In der Adresse an den Leser beruft sich der Verfasser auf Authentizität aus zweierlei Quellen: Erstens aus der Bibel, also auf eine das göttliche Wort repräsentierende Instanz, den Prediger Salomo. Kurzum, alle suchen [ihr Gutes] in den weltlichen Dingen./ Aber daß man es dort nicht findet, dafür ist Salomo, der Weiseste unter den Menschen, ein Zeuge. Auch er begehrte zur Ruhe zu kommen, durchlief die ganze Welt und stellte zuletzt fest: "Da haßte ich das Leben, denn das Tun, das unter der Sonne getan wird, war mir zuwider." [Folgender Satz eig. Üb. WFS 16 : "Denn alles ist eitel und Elend" (proto vse Jen vsecko marnost jest a bida)]. Als er sie dann nach alledem doch erreichte, verkündete er: die wahre Erfüllung besteht darin, daß der Mensch die Welt unbeachtet läßt und allein auf Gott, den Herrn, schaut, ihn achtet und seine Gebote hält. (Komensky 1992: 9 f.)

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Zweitens beruft er sich auf seine eigene Lebenserfahrung: Der Repräsentationsanspruch wird in der direkten Adresse an den Leser noch weiter untermauert: Die Steuerinstanz wird erkennbar, das auktoriale Ich, das seinerseits die Repräsentation (re)präsentiert, vermittelt authentisch-biographische Erfahrung: Was du, lieber Leser, hier lesen wirst, ist keine Dichtung, auch wenn es die Form [einer Dichtung] 17 hat. Aber die Begebenheiten sind wahr. Das wirst Du erkennen, wenn du mein Leben und meine Geschichte kennst. Denn zum großen Teil erzähle ich meine eigenen Geschichten, die ich in den wenigen Jahren meines Lebens selbst erlebte, aber auch einige, die ich bei anderen beobachtete. (Komensky 1992: 10)

Die Repräsentation wird sozusagen verdoppelt: Gotteswort im Menschenwort des Predigers Salomo, weiter vermittelt durch die auktoriale Instanz: Repräsentation der Repräsentation. Die Doppelungsphänomene ziehen sich durch die gesamte Textstruktur. Es beginnt bereits bei der Begleiterfunktion.18 Komenskys Pilger hat deren zwei: es sind zwei Allegorien, die ihn durch das Labyrinth führen sollen: "Überalldabei" (Vsudybud) und "Blendwerk" (Mämeni). Beide Führer versehen den Pilger mit je einem Instrument: Vom ersten erhält er "den Zaum des Vorwitzes" {uzda vsetecnosti) und vom zweiten die "Brille der Verblendung" (bryle mämeni). Von diesen Begleitern wird die gesamte Welterfahrung des Pilgers gesteuert. Er fragt z. B. Vsudybud'. "Wer bist du denn?" und erhält als Antwort: Mein Name ist Allwissend [VSezvSd, dt. 1992: Allschnüffler], mit dem Beinamen Überalldabei [VSudybud], Ich durchwandere die ganze Welt, spähe in alle Winkel, und forsche den Taten eines jeden Menschen nach; ich sehe alles, was zutage liegt und spüre das Verborgene auf; kurz, ohne mich darf nichts geschehen, alles zu überwachen ist meine Pflicht; und wenn du mir Gefolgschaft leisten willst, so werde ich dich an viele geheime Orte führen, wohin du ohne mich nimmermehr gelangen würdest. (Komensky 1970: 30; 1984: 41)

Sogar der Name der Allegorie ist doppelt: Vsezved, mit dem Beinamen VsudybudSie spaltet sich sozusagen selber noch einmal im Signifikanten semiotisch a u f - in Name und Beiname. Eine allegorische Inszenierung, Welttheater, phantastische Weltkonstruktion mit Doppelungen und Spiegelungen, Diskrepanzen von Schein und Sein allenthalben:

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Wolfgang Friedrich Schwarz Blendwerk meinte: "Hier hast du das edle Menschengeschlecht! [...]. Das Bild des unendlichen Gottes, dessen Ähnlichkeit es in sich trägt, [...] wie im Spiegel erblickst du die Würde deines Geschlechts." Ich sah sie mir schärfer an und bemerkte erst jetzt, daß jeder, solange er in der Menge ein- und ausgeht, eine Maske trägt. (Komensky 1992: 21, Hervorh. WFS)

Primäre Repräsentation ist deformiert: Perversion des Menschen, der eigentlich Bild Gottes sein sollte. Unter der Maske sahen sie so aus: Ohne Ausnahme waren sie pickelig, hatten die Krätze oder den Aussatz, dieser hatte Saulippen, jener Hundezähne, dieser Ochsenhörner, jener Eselsohren, dieser Basiliskenaugen, jener einen Fuchsschwanz, ein anderer Wolfskrallen. [...] Die meisten aber waren den Affen ähnlich. Ich war entsetzt. "Aber da sehe ich ja nur Mißgeburten!" schrie ich auf. "Was sagst du, du Naseweis, Mißgeburten?" drohte mir Blendwerk mit der Faust, "schau nur gut durch diese Spekuliereisen, dann siehst du, daß es Menschen sind." (Komensky 1992: 22) Die Doppelungen, Spiegelkonstruktionen, reichen bis in die Chiasmen 20 der Syntax, z. B. in Kap. X, "Unter den Gelehrten": "Einige hatten Augen aber keine Zunge; andere hatten eine Zunge aber keine Augen; jene hatten bloß Ohren und keine Zunge und keine Augen etc." (Komensky 1992: 50). Der Pilger flieht aus dieser Welt (Kap. 36 Ende; Komensky 1992: 14521). Gott ruft ihn schließlich zur Umkehr: "Kehre zurück, von w o du ausgegangen bist, in das Haus deines Herzens und schließe die Tür hinter dir."22 Komensky versucht hier, einer elementaren Verunsicherung über die menschliche Erkenntnis entgegenzuwirken, ihr mit der Einsicht in die Auflösung des prästabilisierten Zeichensystems ein restabilisiertes entgegenzusetzen. Er geht gegen die Semiotik seiner Zeit an. Foucault hat in Les mots et les choses diesen Epochenübergang folgendermaßen markiert: Die Ähnlichkeit - und die Allegorie ist eine besondere scharfe Form dieser Ähnlichkeit, eine voraussetzungslose Identität [personifizierter Logos, WFS] - ist nicht mehr die Form des Wissens, sondern eher die Gelegenheit des Irrtums, die Gefahr, der man sich aussetzt, wenn man den schlecht beleuchteten Raum der Konfusion nicht prüft. [...] Das Zeitalter des Ähnlichen ist im Begriff sich abzuschließen. (Foucault 1971, dt. 1981:83) 'Ähnlich' geht nicht mehr mit 'identisch' auf, deutet nicht mehr apodiktisch auf Identität, dagegen wird man sich des Imaginationscharakters der Ähnlichkeitsverfahren (der Allegorie) bewußt (102 f.):

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Überall zeichnen sich die Gespinste der Ähnlichkeit ab, aber man weiß, daß es Chimären sind. Es ist die Zeit der Sinnestäuschungen, die Zeit, in der die Metaphern, die Vergleiche und die Allegorien den poetischen Raum der Sprache definieren. (Foucault 1971, dt. 1981: 83 f.)

Es scheint, als ob das alte System der Mimesis in eine Hypertrophie von Ähnlichkeiten, Spiegelungen, inklusive täuschender Spiegelungen, expandiert, geradezu wuchert. In dieser Phase der Evolution der Phantastik tritt eine auffallige Verdoppelung der Welten auf: Das 'Labyrinth der Welt' vs. 'Paradies des Herzens'. Komenskys Versuch, mit dieser Konstruktion die gestörte Stabilität der Welterkenntnis zu retten, der Diskursauflösung entgegenzuwirken, Identität zu stiften, gründet in der Annahme, daß Eindeutigkeit, wahre Identität hinter den Trugbildern der weltlichen Dinge liegt. III Kommen wir nun zum dritten epistemischen Stadium, zur Orientierung auf den 'inneren Bau der Dinge', ab dem 19. Jahrhundert. Das Experiment erkundet die Konstruktion der Dinge, und die Wissenschaft erklärt sie induktiv nach dem Prinzip des naturgesetzhaften Kausaldeterminismus. In der tschechischen Literatur wird dieses Epochenschweilenphänomen sehr deutlich bei Jakub Arbes, der mit seinem 'Romaneto' Das Gehirn Newtons (begonnen 1868, publiz. 1877) als Begründer der modernen tschechischen SF gelten kann. Zauberei (eskamotäz), schauerromantisches Gruseln beim nächtlichen Besuch eines totgeglaubten Freundes, ein Gang durch das nächtliche spukhafte Prag - mit romantisch personifizierter Natur als Kulisse - und ein Labyrinth im Schloß des Grafen Kinsky, in das man durch eine geheime Tapetentür gelangt, eine experimentelle Inszenierung der Wiedererweckung eines Toten, eine Gehirntransplantation coram publico und eine Zeitreise in einer mit dem transplantierten Gehirn Newtons erfundenen Zeitmaschine zurück über das Schlachtfeld des Preußisch-Österreichischen Krieges 1871- die Schlacht bei Königgrätz- und die Schlachtfelder der Menschheitsgeschichte stehen auf dem Programm. Am Ende entpuppt sich jedoch alles als Traum eines überspannten Erzählergehirns und wird damit im Sinne des Positivismus des 19. Jahrhunderts kausaldeterministisch aufgelöst.

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Das sozialdidaktische Anliegen des Autors, der sich nicht nur am phantastischen Gogol' und Poe orientierte (Prchlikovä; Janäckovä 1975) sondern auch am sozialkritischen Roman (E. Zola), wird in seiner Anklage des Kriegs deutlich, den er als Vergehen an der Menschheit anprangert. Dieser Kausaldeterminismus blieb jedoch in der Entwicklung der tschechischen Phantastik nicht ohne dialektisches Gegenkonzept: Zeitlich parallel zu Arbes finden wir das Gegenstück in der phantastischen Prosa von Julius Zeyer, wie Robert B. Pynsent festgestellt hat: auf dem "Pfad zur Dekadenz". Zeyers Vänocni povidka (Weihnachtserzählung, 1879; ders. 1906) zum Beispiel, eine Geschichte um die Erlösung einer Vampirin durch menschliche Zuwendung, durch Liebe in einem höheren Sinn, beläßt es gerade bei der Ambivalenz von realistischer Kausalerklärung (alles könnte ein Fiebertraum gewesen sein) und phantastischer Deutung. Arbes dagegen löst in seinen romaneta die Ambivalenz zwischen realistischer und phantastischer Erklärung immer empirisch auf. Anna, die Heldin der in Märchenstruktur entwikkelten Geschichte Zeyers, hat bei der mysteriösen Begegnung mit dem Schattenwesen Mara am Heiligabend als Lohn für deren Erlösung einen Ring erhalten. Zuvor hatte sich Michal, Annas Ehemann, der Vampirin Mara mit diesem Ring symbolisch verpfändet. Und eben diesen Gegenstand hält Anna in der Hand, als sie aus schwerem Fieber erwacht. Dafür gibt es keine rationale Erklärung. Sowohl die Personen der Geschichte, als auch der Leser werden einer "Deutungsunsicherheit" ausgesetzt, jenem echten "Grauen" auf das Ludwig Stockinger am Beispiel des Goetheschen "Erlkönigs" hingewiesen hat (im vorliegenden Band). Was ihnen bleibt, ist "gläubiges Gruseln" (Stockinger ebd.). Phantastik und Realitätsfiktion haben sich hier unauflösbar ineinander verkeilt. Abgesehen von der im Vergleich zu Arbes wesentlich stringenteren Präsentation der Geschichte korrigiert Zeyer damit zugleich auch die Fehlstelle in der Entwicklungsstruktur der tschechischen Phantastik, die Arbes mit seiner einseitig logizistischen Adaption von Poe und satirischsozialkritischen Interpretation Gogol's hinterlassen hätte.23 Die Arbessche Linie ist bereits bei Neruda erkennbar, der Arbes als Autor gefördert und den Genrebegriff romaneto für seine Erzählweise geprägt hat. Ich möchte hier auf die ironische Relativierung des Phantastischen in Nerudas "Wenzelsmesse" (Svatoväclavska mse) in den Kleinseitner

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Geschichten (Povidky malostranske, 1867- 1877) hinweisen: Der erwachsene Ich-Erzähler berichtet aus der Perspektive des kleinen Jungen, der er selber einmal war. Das von dem Jungen erhoffte und zwischen Wachen und Traum erfahrene, übersinnliche Erlebnis der nächtlichen Messe im Prager Veitsdom findet seine logische Erklärung als überspannte Kinderphantasie, angeheizt durch Geheimnistuerei und mystische Erzählungen der Erwachsenen. Den phantastischen Gegenpol hatte zuvor die Ballade Karel Jaromir Erbens eingenommen, die ihre Inspiration aus der Volksmythologie bezog, z. B. in der Ballade "Der Schatz" (Poklad) aus der Sammlung Kytice (1853). IV Doch nun zurück zu Capek: Wie ist er in diese Entwicklungsstruktur einzuordnen? Wir haben am Anfang kurz gesehen, wie Capek die Frage der Grenzen der Noetik zur Grundlage seiner Fußspur-Parabeln gemacht hat. Besondere Signifikanz hat in diesem Zusammenhang sein Roman Krakatit (1924), eine verwickelte und vieldeutige Geschichte um einen besessenen Erfinder, der einen Sprengstoff von ungeheurer Detonationskraft, Atomkraft vergleichbar, entwickelt hat. Das Ergebnis seines experimentellen Eindringens in den 'inneren Bau' der Dinge ist die Explosion der Stadt Grottup. Prokop schaut zurück auf das Inferno - Vorwegnahme einer Atomexplosion. Die Denotation wird zurückgenommen, Raum und Zeit (Chronotopie) öffnen sich ins Unbestimmt-Imaginäre und Paradoxe. Eine Schicht der Phantastik in der Phantastik entsteht: Prokop erhob sich, starr vor Entsetzen und stolperte davon. Er lief, schwer keuchend eine Straße entlang, über einen Hügel und weiter in ein Tal hinab. Die Feuerflut entschwand hinter ihm. Auch die Dinge und ihre Schatten lösten sich im Nebel auf. Es war, als treibe er reglos, gespenstisch davon wie auf einem uferlosen Fluß ohne Wellengeplätscher und Mövenschrei. Er erschrak vor seinem eigenen Schritt in dem stillen, unendlichen Fließen; da verlangsamte und dämpfte er seine Schritte und wanderte lautlos in den trüben Nebel hinein. (Capek 1972, dt. 1984: 238)

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Der phantastische Grenzübergang ist durch Negativ-Oxymora markiert ("uferloser Fluß ohne Wellengeplätscher"). Im Nebel taucht ein Plachenwagen mit Pferd und die mysteriöse Gestalt eines alten Mannes auf: "Bist du es Prokop?" fragte er mit zittriger Stimme [woher kennt er seinen Namen?] [...] "Wißt Ihr, Alter, daß Grottup in die Luft geflogen ist?" Der Alte nickte wehmütig. "Und wieviel Menschen damals [!] zugrunde gegangen sind! [Damals: Ein Zeitsprung, im Roman war die Explosion gerade erst passiert], [...] "Was habt Ihr da unter der Plache?" fragte Prokop. Der Alte wandte sich ihm zu und lachte. "Die Welt. Hast du die Welt noch nicht gesehen?" "Nein". - "Warte, ich zeig' sie dir." (Capek 1972, dt. 1984: 239, Einschübe in eckiger Klammer und Kursiva WFS)

Prokop schaut in eine Art laterna magica, erleuchtet mit Öl, dem "Ewigen Licht" (ebd.), wie es heißt. - Intertextuell ergibt sich ein Bezug zur Aufgabe des Pilgers bei Komensky: "speculare" - schauen; auch das Motiv des theatrum mundi ist präsent - wie bei Komensky. "Komm, sieh dirs an! Du mußt dich bücken, um ganz klein zu werden, wie ein Kind!" (Capek 1972, dt. 1984: 240). Die Schau des Zeichenhaften durchläuft die uns bekannten semiotischen Evolutionsphasen. Die Vorführung beginnt mit mythischer Repräsentation: "Das ist der griechische Tempel in Girgenti auf Sizilien [...] er ist einem Gott und der Juno geweiht [...]. Das ist die heilige Stadt Benares in Indien; der Fluß ist heilig und wäscht die Sünden rein. Tausende haben hier gefunden, was sie suchten. [...]" (Capek 1972, dt. 1984: 240)

Der Alte zeigt Prokop ein Schloß: "Das ist Zanubien [Zahur]24, das schönste Schloß der Welt" - das märchenhaft Schöne, menschlichem Zugang entrückt: "Wo ... wo liegt Zanubien?" fragte Prokop. Der Alte zuckt mit den Achseln. "Dort irgendwo" meint er unsicher, "wo es am schönsten ist. Der eine findet hin, der andere nicht." (Ebd.)

Wiederum ist die Motivik aus dem Labyrinth der Welt Komenskys bekannt: Auch Komenskys Pilger suchte sein "Zanubien", fand zunächst aber unter den weltlichen Dingen im Chaos der Repräsentation der Repräsentation nur das morbide Schloß der Fortuna, zuletzt aber doch sein eigenes "Paradies". "'Dreh weiter, Alter', bat Prokop zitternd." Gleichsam kataloghaft - eine Art

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konfuse Taxonomie, wie sie im Labyrinth häufig vorkommt - folgt in Capeks Krakatit eine Aufzählung mit zufalliger Faktenreihung. Prokop sah den Hamburger Hafen, eine Polarlandschaft bei Nebel im Nordlicht, den Vesuv, Krakatau, die Brücke von Brooklyn, Nötre Dame, ein Eingeborenendorf auf Borneo, Darwins Haus in Down, eine Straße in Schanghai, die Viktoriafälle, Burg Pernstein, die Petroleumstürme in Baku. (Ebd.)

Der Kreis schließt sich bei der bekannten Katastrophe: "Und das ist die Explosion von Grottup." [...] Auf dem Bild sah man rötliche Rauchballen, die von einer schwefelgelben Flamme gegen den Himmel geschleudert wurden. Im Rauch und in den Flammen hingen zerfetzte Menschenleiber. [...] "Das war das letzte Bild. Nun, hast Du die Welt gesehen?" "Nein", brummte Prokop wie betäubt. Der Alte nickte enttäuscht. "Du willst zuviel sehen. [...] Denke einmal scharf nach, und besinne dich, woraus deine Erfindung besteht, wie man es macht." (Capek 1972, dt. 1984: 241 - 2 4 2 . )

Doch Prokop befallt eine eigenartige Aphasie. Das Zeichen "Krakatit", sein Forscher - und Lebensziel, sein Leitzeichen, hat Sinn und Substanz verloren. Es löst sich auf, Signifikant und Signifikat schwinden: "Alter" flüsterte er [...] "Ich weiß es nicht mehr" [...] "... wie ... man ... Krakatit herstellt!" "Siehst du", sagte der Alte zufrieden, "nun hast du etwas gefunden." (Capek 1972, dt. 1984:242)

Capek läßt wie montagehaft im Aufriß epistemische Entwicklungsphasen vor Prokops Augen ablaufen: von der mythischen Repräsentation über das Verwirrspiel der Repräsentation auf der Suche nach dem Schloß, in einem Labyrinth zwischen Empirie und Rationalität phantastischer Vision und Emotionalität andererseits (Prokops Liebesgeschichte mit der Prinzessin, sein unmäßiger Forscherdrang) bis zum Resultat des Eindringens in den inneren Bau der Dinge. Das letzte Stadium ist symbolisch verdichtet in der onomatopoetischen Struktur des Signifikanten Kra-ka-tit, dem Supersprengstoff. Am Ende der epistemischen Kette steht gleichsam als Erlösung die Aufhebung des Zeichens. Prokop findet auf den Brettern einer alten Scheune die Aufschrift "K...R...A...K...A...T...I...T". "'Das ist nichts' besänftigt ihn der Alte, die Lettern auslöschend: 'Nun ist es weg. Leg Dich jetzt nieder.'" Rückkehr in den Unschuldszustand, einem Kind gleich, der Alte schläfert ihn

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mit einem wiegenliedartigen Singsang ein: "Lalala hou, dadada pa, binkeli bunkeli hou tata'" (Capek 1972, dt. 1984: 248). V Krakatit ist ein kompositioneil und gehaltlich vielschichtiger Roman, in dem sich märchenhafte Elemente ( S c h l o ß - Prinzessin- der unerlöste Prinz Prokop) und SF verbinden. Versuchen wir zum Schluß ein Fazit im Hinblick auf den Entwicklungswert dieses Textes für die Phantastik zu ziehen. Capeks besessener Experimentator war, ohne eigentlich zu wissen wie, in den inneren Bau der Dinge eingedrungen, hatte mit "Krakatit" ein Teufelszeug hergestellt, dessen Reaktion er nicht unter Kontrolle hatte. Der Sprengstoff hat ihm, gleichsam Materie und Idee zugleich, nicht nur die Hände verstümmelt, sondern auch sein Leben zerrissen und das einer ganzen Stadt vernichtet. Prokop ist an die Grenzen des rationalen Vermögens der Naturwissenschaft gestoßen, ¿apeks Erkenntniskritik ist grundsätzlicher Natur und hat ihre (natur-) wissenschaftlichen Bezugspunkte, mögen sie ihm selber klar gewesen sein oder nicht. Wir brauchen z. B. nur an die "Unschärferelation" in der Quantenphysik zu denken, an die auch durch noch so genaue Messungen nicht aufhebbare Dualität von Welle und Teilchen: sie haben keine feste Position, sondern sind (mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit) verschmiert.25 W. Heisenberg hätte m. E. mit einer anderen Metaphorik auch von einer bestimmten Art von 'Polysemie' sprechen können (Vgl. Heisenberg 1930). An mehreren Stellen des Romans stoßen wir auf strukturelle Unschärfen, Unbestimmtheitsstellen, Komplementaritäten, Polysemieeffekte, die zunächst zufallig oder gar als Fehler bzw. unmotivierte Sprünge der Sujetkonstruktion anmuten. Z. B. die Doppelgänger-Motivik - noch dazu in zwei Varianten: die Verwirrung über die Identität der beiden Carsons (zwei Personen - ein Identitätsanspruch) oder der Namenswechsel vom quasi-realen adligen D'Hemon zum phantastischen Daimon, dem Herrscher über eine Art Magnetberg (zwei Existenzweisen der gleichen Person). 26 Mukarovsky (1934/1967) hat bereits auf die Doppelschichtigkeit der Erzählung ("Technik der doppelten Ebene")

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als Charakteristikum der Schreibweise Capeks hingewiesen.27 Hier handelt es sich um eine speziell phantastische Variante dieses Prinzips: All dies führt dazu, daß sich auch die sichtbare Handlung stets an der Grenze von Wirklichkeit und Traum bewegt: sie scheint uns 'wirklich', wenn wir ihre kontinuierliche Entwicklung betrachten, 'traumhaft', wenn wir uns vergegenwärtigen, daß mehrere Fäden ihrer Motivation sich im Unbekannten verlieren. Ebensowenig wie wir wissen, ob der alte Mann am Ende des Romans Gott sei, der Menschengestalt angenommen hat, oder ein Mensch, der sich wie Gott gebärdet, ist es klar, ob nicht die ganze Handlung ein Fiebertraum des überarbeiteten Gehirns des Erfinders sei. (Mukafovsky 1967: 73; 1958).

Die 'Unschärferelation' hat in der theoretischen Physik ja bekanntlich den Traum vom Determinismus erschüttert (Heisenberg 1963: 28). Und eben das war es auch, worauf es Capek letztlich in seiner Phantastik ankam. Seine Konsequenz war 1924 in Krakatit: Besser die Zeichen auslöschen, bevor sie in falsche Hände geraten, sie suggerieren eine falsche Erkenntnis, der die Ethik fehlt. Stattdessen gilt es, zum Leben zurückzufinden, wie Prokop. Prokop ist übrigens der Name eines böhmischen Landespatrons - Gründer des slavischen Klosters Säzava (gestorben ist er 1053). Wem dies jedoch zu eindeutig sein mag: Ich hätte eine weitere Deutungsvariante. Es gibt auch noch den anderen Prokop, den Andreas Prokop (um 1380 - 1434), den Hussitenstreiter (Nachfolger Jan Zizkas), der Franken, die Oberpfalz und Sachsen plündern ließ. Capeks literarischer Prokop hätte ihn an Verwüstungskraft weit übertroffen, hätte er nicht von seinem Irrweg zurückgefunden- wie Komenskys Pilger im Labyrinth der Welt und Paradies des Herzens. Capek eröffnet am Ende der Geschichte mit seinem "alten Mann" eine säkularisierte Variante für die Stimme Gottes im Labyrinth der Welt von Komensky. Auch die Emblematik verbindet: "Glaube, Liebe und Hoffnung" steht auf der Trinkschale des alten Mannes, "ein Anker, ein Herz und ein Kreuz waren darauf gemalt [...]. Prokop wagte nicht, die Augen zu erheben. Der liebe Gott selbst hätte nicht anders zu ihm reden können" (247). Die Phantastik - einschließlich SF - ist ein Genre, in dem Grenzüberschreitung, und damit auch der Entwurf von Grenzerfahrung, ein konstitutives Strukturelement ist. Auf dieser Grundlage formieren sich in der Entwicklungsstruktur der tschechischen Phantastik Denkmodelle, wie bei Komensky und Capek, welche die Grenze der Noetik ausloten und die Frage

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der Umkehr aufwerfen. Ein Detail einer spezifischen Kulturtradition wird erkennbar, die in die neuere tschechische Philosophie hineinreicht: Jan Patocka, philosophischer Kopf der Charta 77 - Bewegung, hat in seinen "Ketzerischen Essays zur Philosophie der Geschichte" (1975) mit dem Begriff "METANOEIN" 28 diese Thematisierung der Grenzerfahrung fortgesetzt.

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ANMERKUNGEN 1. Erfunden hat das Wort allerdings sein Bruder Josef Capek. S. zuletzt Malevic: 16. 2. Ein erster unveröffentlicht gebliebener Entwurf dieses romaneto stammt aus dem Jahre 1867 (Prchlikovä 1939). 3. Zur Zeitmaschine vgl. Schenkel.- Arbes' Zeitmaschine funktioniert allerdings anders als die von Wells. Bei Arbes handelt es sich um einen optischen Apparat, ausgestattet mit besonderen Brillen und angetrieben vom Motor 'Imagination', mit dessen Hilfe die Grenze der Lichtgeschwindigkeit überwunden wird. Dem Erfinder, einem Eskamoteur, gelingt damit die Umkehrung des Zeitpfeils: die Zeitreise fuhrt in die Vergangenheit. 4. Allerdings bedürften darüber hinaus auch determinismuskritische Züge bei Wells der Beachtung. 5. Capek ist hier zit. n. Matuska: 93. 6. In seiner späteren Schaffensphase, 1929, in den "Erzählungen aus der einen Tasche" und "[...] aus der anderen Tasche" gibt es noch eine "Slepej "-Erzählung: diesmal im Plural benannt: "Slepeje" (Die Fußstapfen). Das Problem ist ähnlich gestellt wie im ersten Fall. Hier ist es eine normale zweireihige Fußspur, die plötzlich vor der Wohnung des Herrn Rybka endet, ohne daß zu sehen wäre, ob sie ins Gebäude hineinfuhrt oder vorher abzweigt. Derjenige, der sie gelegt hätte, müßte sich praktisch in die Luft enthoben haben. Selbst der herbeigerufene Kommissar kann die Sache mit aller Logik nicht aufklären. Für Wunder ist die Polizei nicht zuständig. Die Variante zeigt, daß Capeks grundsätzliche Fragestellung über den Zeitraum seiner frühen Phantastik hinweg konstant geblieben ist. 7. Eine neuere Deutung der Geschichte durch Freise will besagen, Capek habe hier einen symbolischen Diskurs konstruiert, in dem als eigentlicher Urheber des Fußstapfens letztlich nur der Autor in Frage kommen könne.

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Wolfgang Friedrich Schwarz Freise hat mit dieser metapoetischen Deutung allerdings das aus dem Spiel genommen, was Capeks Sujetkonstruktion ausmacht: Die phantastische Wirkung innerhalb der Fiktion. Ein metapoetisches Heraustreten aus der Fiktionalität, das einen Sprung vom inneren Kommunikationssystem ins äußere voraussetzt, ist meines Erachtens nicht erkennbar.

8. Der Positivismus des 19. Jahrhunderts ruft im dialektischen Gegenzug in der Literatur einen Boom der phantastischen Literatur bis zur Entstehung der modernen SF auf den Plan, in der die Ambivalenzen der positivistisch verengten Perspektive des aufklärerischen Rationalismus verarbeitet werden. Das phantastische Inventar der Romantik interferiert mit rationaldeterministischen Zügen in den literarischen Texten. 9. Im Tschech. ist der allegorische Streitpartner ein Neutrum, im deutschen Ackermann wird mit dem männlichen Tod gestritten, im Tschech. wäre er weiblich: smrt. Diesem Polwechsel entgeht der Autor des Tkadlecek durch die Wahl des Neutrums. Auf die damit gegenüber dem deutschen Ackermann gegebene semantische Verschiebung brauche ich hier nicht einzugehen. 10. Tschech. in der Ausgabe Simek: 32. 11. Auf die gleiche Weise ist der Name seiner Geliebten Adlicka kodiert. 12. Tschech. Sim.: 142 f., desgl. zit. bei Baumann: 109, Anm. 50. 13. Siehe den Kommentar zu dieser Stelle bei Jungbluth. (Die dortige Übersetzung fußt auf der tschechischen Ausgabe des Tk. von Knieschek 1877). 14. In der dt. Ausg. 1970 übersetzt als "Allwisser", Ausg. 1992: "Allschnüffler". 15. "Labyrinth der Welt und Paradies des Herzens / ist / ein in grellsten Farben ausgemaltes Bild von der Welt und all ihren Angelegenheiten; / da ist nichts anderes als Tumult und Taumel, / Raserei und Plackerei / Blendung und Täuschung, / Elend und Ekel / und zuletzt Wehmut und Verzweiflung, // wer aber / Gott in seinem Herzen wohnen läßt / und mit ihm als alleinigem Herrn einen Bund schließt, / der findet den einzig wahren

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Frieden / und wird mit vollkommener Freude erfüllt." (N. d. Text der Ausg. Amsterdam 1663, dt. 1992: 5, Hervorh. WFS) 16. Die Übers. 1992 weicht hier (bedingt durch das Zitat aus Prediger 1, 14: "[...] alles ist Wahnwitz und ein Haschen nach dem Wind", i.d. 7) vom Wortlaut Komenskys ab. 17. In der Ausg. v. 1992 ist hier sehr frei übersetzt: "eines Romans". 18. Begleiter sind ein altes Mittel des utopischen Genres. Bereits Plato fuhrt mit der Person des Glaukon in Politeia einen Begleiter ein. 19. Wir kennen diese Identitätsfrage bereits aus dem Tkadlecek, als der Weber das Unglück auffordert, seine Identität zu offenbaren (s. o.). Auch bei Komensky haben wir wieder die Antwort einer Allegorie, aber nicht mehr als Allegorie der Allegorie, keine Zirkeldefinition wie im Tkadlecek, sondern als Erklärung der Funktion. Das ist ein entscheidender Unterschied in der Erklärungsweise: Die Allegorie erklärt ihr Wesen und Wirken - jedoch nicht mehr analog verschlüsselt im Bild, sondern funktional, vom Zweck her. 20. Chiasmen dienen nicht der Harmonie, sondern der Darstellung des Absonderlichen, einer Verkehrtheit der Symmetrie. "Diese stopften alles, was ihnen in die Hände kam, in sich hinein. [...] Und alles, was sie in sich hineingestopft hatten, kam unverdaut aus ihnen wieder heraus - von vorne und von hinten. [...]." (Komensky 1992: 50; "vrchem i spodkem" hier übers, "von vorne und von hinten", wörtl. "von oben und von unten", WFS). 21. Ich schleuderte Blendwerks Brille weg, rieb mir die Augen, lehnte mich soweit ich konnte hinaus und sah die gräßliche Finsternis, deren Grund der menschliche Verstand nicht finden kann, und dort waren Würmer, Kröten, Schlangen, Skorpione, Eiter, Gestank, Schwefel- und Pestgeruch, summa summarum unaussprechliches Grauen. (Komensky 1992: 145 f). 22. Der Pilger befolgt den Ruf: "Ich gehorchte, sammelte mich, schloß die Augen, Mund, Ohren, Nase und alle Eingänge und trat in mein Herz. [...]" (Komensky 1992: 146).

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23. Auf die typologische Differenz zwischen den Altersgenossen Arbes und Zeyer hat Krejöi 1975 hingewiesen. Arbes schreibt nach seiner Auffassung realistisch, Zeyer romantisch. 24. Der Phantasiename Zahur im tschech. Originaltext (Capek 1972: 224) ist in der deutschen Übersetzung durch "Zanubien" ersetzt. 25. N. Bohr hatte zur Lösung des Deutungsproblems den Begriff der 'Komplementarität' verwendet (vgl. dazu v. Weizsäcker: 132). 26. Vgl. Dolezel zur Typologie der Doppelgänger-Motivik. 27. Vgl. a. Mukarovsky 1958. 28. A.a.O.: 300. Patocka meint eine bewußte Umkehr (z. B. aufgrund von "Fronterfahrung" im Krieg) - im Gegensatz zu dem eher irrational agierenden und zufallsgetriebenen Prokop Capeks, der ebenfalls eine Art Fronterfahrung hinter sich hat: auf dem Feld der Wissenschaft, mit einer Explosionskatastrophe als Konsequenz.

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Ludwig Stockinger

"WUNDERLICHE FANTASIE". VORAUSSETZUNGEN UND MÖGLICHKEITEN 'LITERARISCHER FANTASTIK' IN DER DEUTSCHEN LITERATUR DES 18. JAHRHUNDERTS. I Die Bezeichnung 'fantastische Literatur' bzw. 'literarische Fantastik' ist erst in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts zu einem literaturwissenschaftlichen Begriff geworden (Wünsch: 7), und es gibt für die damit bezeichnete narrative Struktur in der Sprache des 18. Jahrhunderts auch keinen anderen Terminus, weil das Phänomen in dieser Eingrenzung nicht Gegenstand des ästhetischen Diskurses war. Dennoch läßt sich ein impliziter Diskurs über das Phänomen des Fantastischen rekonstruieren, der uns Aufschluß darüber zu geben vermag, in welchen kulturellen Kontexten 'literarische Fantastik' entstehen und sich im anerkannten System der Vertextungsregeln etablieren konnte. Einen Hinweis auf diesen Diskurs in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts gibt die Bezeichnung "wunderliche Fantasie", die sich in Johann Christoph Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst von 1730 am Ende des Kapitels 1.6 ("Von der Wahrscheinlichkeit in der Poesie") findet (Gottsched 1972: 172). Gottsched verwendet diese Bezeichnung in der Übersetzung eines Zitats von Shaftesbury für "odd Fancy", in dem dieser Kritik an Poeten übt, die sich gegen eine Überprüfung der Produkte ihrer Phantasie durch die Vernunft zur Wehr setzen. Nicht die Phantasie als solche wird hier der Kritik unterzogen, sondern eine Sonder- bzw. Fehlform der Phantasie, die Vorstellungen produziert und diese in Texten formuliert, die den Regeln der Vernunft widersprechen. Gegen welche neuen, für die Durchsetzung aufklärerischer Denk- und Verhaltensmuster hinderlichen Phänomene der Literatur sich Gottscheds Kritik richtet, wird zwei Jahrzehnte später in der 4. Auflage seiner Poetik verdeutlicht, wo er das Shaftesbury-Zitat in die Anmerkung setzt und stattdessen eine Passage einfügt, in der es unter anderem heißt:

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Was soll man also von denen denken, oder sagen, die uns auf gut miltonisch, mit der Geisterwelt, den Cherubim und Seraphim, den Teufeln aller Arten, oder den Feien und Hexen plagen? die uns in allen diesen Dingen Geheimnisse der Religion vortragen, die über alle Vernunft, und folglich über alle Wahrscheinlichkeit sind? Dieses, daß sie uns die Sphäre der Dichtkunst über den menschlichen Begriff hinaus erstrecken und sich alle Augenblick in die Gefahr begeben, wider die Wahrheit und Wahrscheinlichkeit zu verstoßen. Denn nicht zu gedenken, daß es gottlos ist, die geoffenbarte Religion mit ihren abgeschmackten Erdichtungen zu erweitern, d. i. die Wahrheit mit Lügen zu verbrämen und sie solchergestalt der heidnischen Mythologie gleichzumachen, die jeder Poet drehete und wendete wie er wollte: so sündigen solche Dichter auch wider die vernünftige Poesie selbst, die nicht fiir Schwärmer, sondern für gescheide Leser arbeitet. (Gottsched 1751: 224)

Unabhängig von dem konkreten Anlaß dieser Polemik, nämlich der Verteidigung der "miltonischen" Art von Dichtung durch die Schweizer Bodmer und Breitinger (Stahl), läßt sich hier die hellsichtige Wahrnehmung eines literarischen Verfahrens beobachten, von dem der Frühaufklärer Gottsched Verbündete auch auf der Seite der Theologie suchend - behauptet, daß es nicht nur die Vernunft, sondern auch den christlichen Glauben verwirrt, indem es sich von keiner der beiden Autoritäten leiten läßt. Indirekt verweist Gottsched damit auf eine Kunst, die sich theologischen oder philosophischen Zwecksetzungen entzieht, bzw. darauf, daß sein Projekt einer disziplinierenden Umformung der Kunst zu einem Medium der Vernunft an Grenzen stößt. Diese Grenzen werden für ihn erkennbar bei Phänomenen, die mit dem heutigen Begriff der 'literarischen Fantastik' erfaßt werden können. Ein solcher Vorwurf ist allerdings nur dann sinnvoll, wenn die kritisierten Texte sich nicht an die mythologische Bildwelt einer historisch abgeschlossenen Kultur halten, wie dies bei der Verwendung antiker Mythologie in der Moderne der Fall ist, sondern wenn sie Bildwelten und Deutungssysteme, die in der Gegenwart noch geglaubt werden, benutzen und verwirren. Es macht für Gottsched einen Unterschied, ob griechische Götter oder Geister erscheinen, die in der christlichen Mythologie einen festen und von der Theologie gedeuteten Platz haben, wie z. B. Engel oder Teufel. Zu diesem Bereich, den Gottsched mit dem Begriff der 'wunderlichen Fantasie' eingrenzt, gehören auch Phänomene, die zwischen theologisch zugelassener Deutung und Volksaberglauben changieren, aber auf jeden Fall der Kritik der aufklärerischen

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Vernunft verfallen sind, wie z. B. das materielle Wirken von Teufeln, Dämonen und Hexen.1 Die folgenden Überlegungen sind ein Versuch, mit Hilfe des FantastikBegriffs die zeitgenössische Diskussion über dieses bei Gottsched polemisch apostrophierte Phänomen analytisch so zu fassen, daß sich daraus auch Folgerungen für eine historische Einordnung des Verfahrens der fantastischen Literatur als einer spezifischen Reaktion auf eine bestimmte Konkurrenzsituation kultureller Deutungsmuster der Neuzeit und für die Funktionsbestimmung von Literatur in einer solchen Situation ableiten lassen. II Der Begriff der fantastischen Literatur, den ich im folgenden voraussetze, hält sich an den Vorschlag Todorovs (Todorov 1992), ergänzt durch Präzisierungen von Wünsch, und er umgrenzt damit einen vergleichsweise engen Bereich von Texten. Todorov entwickelt seine Begriffserläuterung an Cazottes Erzählung Le Diable amoureux von 1772: Der Held Don Alvare de Maravilla trifft hier auf ein Wesen weiblichen Geschlechts, das ihm einerseits als liebende Frau begegnet, sich andererseits aber als dämonisches Wesen offenbart, wobei Alvare unschlüssig bleibt, für welche der beiden Deutungen dieses Phänomens er sich entscheiden soll: In einer Welt, die durchaus die unsere ist, die, die wir kennen, eine Welt ohne Teufel, Sylphiden oder Vampire, geschieht ein Ereignis, das sich aus den Gesetzen eben dieser vertrauten Welt nicht erklären läßt. Der, der das Ereignis wahrnimmt, muß sich für eine der zwei möglichen Lösungen entscheiden: entweder handelt es sich um eine Sinnestäuschung, ein Produkt der Einbildungskraft, und die Gesetze der Welt bleiben, was sie sind, oder das Ereignis hat wirklich stattgefunden, ist integrierender Bestandteil der Realität. Dann aber wird diese Realität von Gesetzen beherrscht, die uns unbekannt sind. Entweder der Teufel ist eine Täuschung, ein imaginäres Wesen, oder aber er existiert wirklich, genau wie die anderen Lebewesen - nur daß man ihm selten begegnet. Das Fantastische liegt im Moment dieser Ungewißheit; sobald man sich für die eine oder die andere Antwort entscheidet, verläßt man das Fantastische und tritt in ein benachbartes Genre ein, in das des Unheimlichen oder das des Wunderbaren. Das Fantastische ist die Unschlüssigkeit, die ein Mensch empfindet, der nur die natürlichen Gesetze kennt und sich einem Ereignis gegenübersieht, das den Anschein des Übernatürlichen hat. (Todorov 1992: 25 f.)

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Weitere Bedingungen für die Einordnung eines Textes in das Genre des Fantastischen sind nach Todorov (Todorov 1992: 25 f.), daß (1) das Ereignis nicht nur den Helden, sondern auch den Leser im Hinblick auf dessen Deutung als natürlich oder jenseits der bekannten Naturgesetze liegend unschlüssig lassen muß und daß (2) der Text keine Signale enthalten darf, die zu einer 'uneigentlichen', beispielsweise einer allegorischen Lektüre auffordern, oder Signale, die es dem Leser nahelegen, den Text 'poetisch', d. h. in einer Weise zu lesen, daß der Text keinen Anspruch erhebt, Mimesis der Wirklichkeit zu sein, sondern primär auf sich selbst oder auf andere Texte, nicht aber auf einen Referenten verweist. Dieser Eingrenzung gemäß gibt es das Fantastische nur in Texten, die sich dem Konzept einer prinzipiell mimetischen Literatur zuordnen lassen. Marianne Wünsch (Wünsch: 65 - 67) präzisiert diese Begriffserläuterung durch eine Reformulierung mit Begriffen der strukturalen Analyse narrativer Texte. Ausgehend von Todorovs Unterscheidung von 'histoire' und 'discours' (Todorov 1972) und dem Begriff des 'Ereignisses' im Sinne einer 'Grenzüberschreitung' (Lotman: 329 - 340), legt sie fest, daß das 'Ereignis' in einer fantastischen narrativen Stuktur auf der histoire-Ebene angesiedelt sein müsse, und zwar dergestalt, daß etwas "Außer- oder Übernatürliches" eintritt, "das die geglaubte Weltordnung fundamental in Frage stellt" (Wünsch: 15). Ein Text, in dem ein solches Ereignis nur in der Rede einer Figur erzählt bzw. der erkennbar eingeschränkten Wahrnehmungsperspektive einer Figur zugeordnet wird wie z. B. einem Wahn- oder Traumzustand, hat keine fantastische Struktur. Auf der histoire-Ebene müssen die Figuren sich über dieses Ereignis verwundern, es als Störung ihrer geglaubten Weltordnung empfinden und darüber reflektieren, denn nur so läßt sich der Unterschied zwischen der fantastischen Literatur und dem Volksmärchen markieren (Wünsch: 36).2 Das Fantastische - und dies ist auch für die historische Einordnung dieser narrativen Struktur von Belang - setzt demnach Figuren voraus, die überhaupt ein Bewußtsein der Differenz von Naturordnung und Außernatürlichem haben, die Ereignisse und Phänomene einem der beiden Bereiche zuordnen und in deren Weltbild Ereignisse außer der geglaubten Naturordnung 'eigentlich' gar nicht möglich sind. Nur in diesem Fall werden

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die "fundamental-ontologischen Basispostulate" (Wünsch: 19) durch ein solches Ereignis in Frage gestellt. Entsprechend reformuliert Wünsch auf der discours-Ebene diejenigen Bestimmungen, die bei Todorov den Text-Leser-Bezug meinen. Dazu gehört wiederum das Fehlen von Signalen für eine 'uneigentliche' bzw. nicht-mimetische Lektüre.3 Die von Todorov geforderte Ungewißheit des Lesers über die Erklärung und Deutung des Ereignisses wird bei Wünsch ebenfalls wieder aufgenommen, 4 an dieses Merkmal knüpft sie aber weiterfuhrende Überlegungen zu den Voraussetzungen einer solchen Ungewißheit in bestimmten historisch eingrenzbaren kulturellen Kontexten. Wünsch fordert aufgrund dieser Überlegungen, daß der Begriff des Fantastischen mit einer "Historizitätsvariablen" (Wünsch: 14)5 verbunden wird. Wenn nämlich bei Autor und Leser ein Kontext kulturellen Wissens vorausgesetzt werden kann, in dem Zauberei, Erscheinungen von Gespenstern oder Verstorbenen und dergleichen prinzipiell in der geglaubten Weltordnung möglich sind, sind solche Ereignisse allenfalls überraschend und unheimlich, insofern sie auch hier nicht gerade zur Alltagswelt gehören und durchaus bedrohlich sein können, nicht aber fantastisch. Setzt man andererseits einen Kontext von kulturellem Wissen voraus, in dem das Weltbild nur solche Ereignisse als Realität akzeptiert, die einer kausalen Erklärung innerhalb der physikalischen Gesetze zugänglich sind, dann sind alle Ereignisse, die sich einer solchen Erklärung entziehen, nur scheinbar außernatürlich, denn in einem solchen naturalistisch-physikalischen kulturellen Code sind derlei Phänomene immer nur auf Grund des derzeitigen eingeschränkten Wissensstandes noch nicht einer natürlichen Erklärung zugeführt, aber prinzipiell in diesem Rahmen irgendwann einmal erklärbar. Eine solche Einstellung wird im 17. und 18. Jahrhundert in der philosophischen Diskussion des theologischen Wunderbegriffs greifbar. Ereignisse vom Typ des fantastischen Ereignisses können in diesem Fall weder als Wunder rezipiert werden, da sie in diesem Weltbild ja nichts anderes als bisher noch nicht erklärte Naturphänomene sind, noch als fantastische Ereignisse im Sinne der Fantastik-Definition wahrgenommen werden.6 Daraus läßt sich folgern: Literarische Fantastik kann es nur in kulturellen Kontexten geben, in denen eine noch nicht entschiedene Deutungskonkurrenz zwischen 'natura-

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listischen' und 'nichtnaturalistischen' Modellen der Wirklichkeitserfahrung zu konstatieren ist, und zwar dergestalt, daß sich diese Deutungskonkurrenz auch als Deutungsunsicherheit bei einer genügend großen Anzahl von potentiellen Lesern auswirkt, die zwischen den beiden Deutungsmustern schwanken.7 Diese Situation ist in Deutschland im 18. Jahrhundert bei jenem zahlenmäßig zunächst sehr kleinen Teil der Bevölkerung gegeben, der die Möglichkeit hatte, die Ergebnisse der neuzeitlichen Philosophie und Naturwissenschaft zu rezipieren, gleichzeitig aber mit dem Problem konfrontiert war, nicht kompatible Wissensbestände und Gefuhlsdispositionen aus anderen Traditionen und Diskursen, die man nicht ohne weiteres preisgeben konnte, damit in Beziehung zu setzen. Zu achten ist darüber hinaus auch auf wiederkehrende Entwicklungsstadien der Naturwissenschaft selber, in denen das mechanistische Erklärungsmodell mit seinem Kausalitätskonzept vorübergehend nicht zu funktionieren scheint. Insofern solche Situationen prinzipiell bis in die Gegenwart möglich sind, ist fantastische Literatur eine immer noch aktualisierbare Möglichkeit, unter der Voraussetzung freilich, daß Literatur in mimetischer Konzeption noch ernstgenommen wird. Bei der Frage, in welchen Funktionen diese narrative Struktur Verwendung findet, wird man allerdings mehrere Möglichkeiten offen halten müssen, die sich erst in einer historisch differenzierenden Analyse erschließen lassen.8 III

Eine Möglichkeit der Gestaltung, Reflexion und Funktionalisierung fantastischer Strukturen unter den Voraussetzungen des 18. Jahrhunderts in Deutschland soll zunächst an einem bekannten Textbeispiel illustriert werden, an Goethes Ballade Erlkönig. Dabei ist auch der Kontext der Erstveröffentlichung von 1782 zu berücksichtigen, das Singspiel Die Fischerin (Goethe: 281).

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Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind; Er hat den Knaben wohl in dem Arm, Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm. "Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?" "Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit Krön und Schweif?" "Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif." "Du liebes Kind, komm, geh mit mir! Gar schöne Spiele spiel1 ich mit dir; Manch bunte Blumen sind an dem Strand; Meine Mutter hat manch' gülden Gewand." "Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, Was Erlenkönig mir leise verspricht?" "Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind! In dün-en Blättern säuselt der Wind." "Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn? Meine Töchter sollen dich warten schön; Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn Und wiegen und tanzen und singen dich ein." "Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am düstern Ort?" "Mein Sohn, mein Sohn, ich seh' es genau: Es scheinen die alten Weiden so grau." "Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt." "Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids getan!" Dem Vater grauset's, er reitet geschwind, Er hält in Armen das ächzende Kind, Erreicht den Hof mit Müh und Not; In seinen Armen das Kind war tot. Reduziert man das in dieser Ballade erzählte Ereignis hypothetisch auf dasjenige, w a s der im Weltbild der Aufklärung und der neuzeitlichen Naturwissenschaft zugelassenen Realitätswahrnehmung zugänglich ist, dann ergibt sich folgendes: Ein Vater, der sein Kind im Arm hält, reitet bei unfreund-

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lichem Wetter nachts seinem Haus zu. Das Kind ist offenbar auf den Tod krank, und es versucht, dem Vater die Empfindungen und Ängste sprachlich zu signalisieren, die es im Sterbevorgang hat. Es versprachlicht diese Empfindungen allerdings in einem Code, der aus der Sicht des aufklärerischen Normalbewußtseins dem Bereich des geschichtlich überwundenen Volksaberglaubens zugehört: In diesem Code können Geisterwesen, sowohl gute als auch dämonisch-böse, in die vom Menschen erfahrene Wirklichkeit rettend oder vernichtend eingreifen. In unserem Fall ist das vom Kind benannte Wesen einer spezifischen Überlieferung des europäischen Volksaberglaubens zugeordnet, die allerdings in der frühen Neuzeit schon einmal in den 'magischen Wissenschaften' Gegenstand der Bearbeitung innerhalb der intellektuellen Kultur gewesen ist,9 nämlich dem System der Elementargeister: Der Erlkönig, in der Stoffgeschichte des Motivs eigentlich der Elfenkönig, ist ein Elementargeist. Er bewohnt oder repräsentiert die Luft, so wie die Wassermänner und Nixen das Wasser, die Salamander das Feuer und die Zwerge oder Gnome die Erde. Daß dieses Kind seine Todesangst und seine Sterbeerfahrung in dieser Codierung artikuliert, ist für das aufklärerische Normalbewußtsein psychologisch wahrscheinlich, da man voraussetzen kann, daß es von abergläubischen Bezugspersonen solche Märchengeschichten gehört hat und damit in der Ausbildung einer adäquaten Wahrnehmung der Realität behindert worden ist - es gibt ja in vielen Texten der Aufklärung die stereotyp wiederholte Warnung vor derlei Ammenmärchen in der Kindererziehung. Dieses aufklärerische Normalbewußtsein vertritt gegenüber dem Kind der Vater. Die Deutungskonkurrenz scheint also entschieden zu sein, da der Erwachsene mit väterlicher Autorität diesen Code vertritt, andererseits ist es aber der Vertreter der jüngeren Generation, der den voraufklärerischen Code gebraucht. Ähnlich wie in der euhemeristischen Deutung von Mythen, die typisch ist für den aufklärerischen Umgang mit dem Mythos, versucht nun der Vater, die Empfindungen des Kindes als Produkte einer Phantasie zu deuten, die sich letztlich auf Wahrnehmungen von Natureindrücken durch die Sinne zurückführen läßt. Daß solche aus der Sicht des Vaters inadäquaten Phantasien entstehen können, ist psychologisch plausibel, weil die Natursituation eine klare und deutliche Wahrnehmung der Gegenstände nicht er-

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möglicht: Es ist Nacht, die wahrgenommenen Objekte haben zudem die Eigenschaft, daß sie keinen festen Umriß und keinen Bestand als Objekte haben (Nebelstreif, Wind). Zum Verständnis einer solchen Auslegung muß man die gängigen Begriffe aus der Schulpsychologie der deutschen Aufklärung voraussetzen (vgl. z. B. als grundlegenden Text Leibniz 1985 b): Das Erkenntnisvermögen der Seele hat drei Stufen: Empfindung, Verstand und Vernunft. Bei den Empfindungen werden gemäß der gewählten Metaphorik aus dem Bereich der optischen Wahrnehmung dunkle Empfindungen (cognitiones obscurae) von klaren ((cognitiones clarae) unterschieden, welche hinreichend sind, einen Gegenstand von anderen abzugrenzen und ihn zu identifizieren. In den Metaphern des Sehens gesprochen: Eine hinreichende Erkenntnis durch die Empfindung erfordert nicht nur scharfe Augen, sondern auch genügend helles Licht. Wenn man nun auch noch die Merkmale erkennt, aufgrund derer man einen Gegenstand identifizieren kann, dann ist die Empfindung klar und deutlich (cognitio clara et distincta). Auf der Basis von klarer und deutlicher Empfindung ordnet der Verstand die Objekte zu Klassen und Begriffen. Da aber die Empfindung raumzeitlich begrenzt ist, bedarf es noch eines höheren Erkenntnisorgans, der Vernunft, deren Leistung erfahrungsunabhängige Schlüsse sind. Im System dieser Begrifflichkeit ist die dargestellte Natursituation in der Ballade bestimmt durch Lichtverhältnisse, die nur dunkle Wahrnehmungen an der Schwelle zur Klarheit erlauben, und es ist aus der Sicht des Vaters deswegen auch verständlich, daß die dunkel-klaren Wahrnehmungen mit Hilfe einer fehlgeleiteten Einbildungskraft inadäquate Vorstellungen erzeugen. Gegen solche Phantasiebilder werden vom Vater als einem Erzieher, der seinem Sohn das Weltbild des erwachsenen und aufgeklärten Mannes vermitteln will, zwei Einstellungen ins Feld gefuhrt: (1) Das nur dunkel Wahrzunehmende wird nach einer Regel der Vernunft gedeutet, derzufolge es ein Phänomen wie den Erlkönig nicht geben kann, weswegen prinzipiell eine 'natürliche' Erklärung der Wahrnehmung angenommen werden muß; (2) der Vater beruft sich auf eine adäquatere Wahrnehmung der Situation durch die Sinne. Gerade dies ist freilich problematisch, weil der Vater ja auch nur in

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der Dunkelheit sehen kann. Er beruft sich zwar dem Kind gegenüber auf seine sinnliche Wahrnehmung, aber es zeigt sich, daß es nur Vernunftschlüsse sind, deren Ergebnis er als sinnliche Wahrnehmungen ausgibt. Das läßt sich an Rede und Gegenrede gut erkennen: Was das Kind zu sehen glaubt und hört, wird vom Vater zunächst in der Form von Vernunftschlüssen gedeutet (Nebelstreif, die alten Weiden, Säuseln des Windes in dürren Blättern). Als das Kind aber zum dritten Mal eine Wahrnehmung behauptet, die dem Weltbild des Vaters nicht entspricht, beruft dieser sich nun explizit auf sein Auge als sinnliches Wahrnehmungsorgan, allerdings in einer Weise, daß auf der Textebene die behauptete Sicherheit seiner Deutung als Anmaßung erscheint: "Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau: /Es scheinen die alten Weiden so grau." "Genau" kann der Vater hier nicht sehen, denn seine Wahrnehmung kann den behaupteten Grad der Klarheit nicht erreichen, und dies wird in seiner Äußerung auch erkennbar: "Es scheinen die alten Weiden so grau." Das, was der Wahrnehmung erscheint, ist also nichts als eine schemenhafte Gestalt von grauer Farbe, einer 'Nichtfarbe', die eine Unterscheidung der Objekte nicht ermöglicht. Daß diese graue Erscheinung als die "alten Weiden" zu identifizieren ist und nicht als "Erlkönigs Töchter", das kann auch der Vater in diesem Moment nur mit Hilfe seiner vernunftgeleiteten Einbildungkraft erschließen: Die Erscheinung muß nach den Regeln der Vernunft von einem natürlichen Objekt ausgehen, und da der Vater sich daran erinnern kann, daß er bei Tageslicht an dieser Stelle alte Weiden gesehen hat, müssen sie es folglich auch jetzt sein. "Ich seh' es genau" dürfte der Vater allerdings zu seinem Kind nicht sagen. Der Aufklärer ist hier nicht ganz wahrhaftig. Aus den beschwichtigenden Reden des Vaters ist also auf der Textebene ein impliziter Diskurs über die Grenzen der empirischen Erkenntnis und über das Verdecken dieser Grenzen in der aufklärerischen Rede zu erschließen. Daß dieser Vater nun seinerseits die Realität verfehlt, und zwar gerade auch die empirisch erfaßbare Realität innerhalb seines Weltbildes, das zeigen die letzten beiden Strophen, denn indem er beständig versucht, die Angst des Kindes durch rationale Erklärungen zu beschwichtigen, entgeht ihm deren realer Grund: Daß das Leben des Kindes wirklich bedroht ist und daß das Kind ihm in seinem Code diese Bedrohung signalisiert, erkennt er nicht, und

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er reagiert darauf erst in dem Moment, in dem das Kind in einer expressiven Äußerung auf einen körperlichen Schmerz verweist: "Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!/ Erlkönig hat mir ein Leids getan." Was dann in den Äußerungen des Kindes noch folgt, ist jenseits der durch die unterschiedlichen Codierungen entstandenen Mißverständnisse unmittelbar verständlich, weil hier der Bereich der artikulierten Sprache verlassen wird.10 In der bisher erprobten Lektüre läßt sich der Text ohne Berücksichtigung eines Begriffs von Fantastik lesen: Ein Kind befindet sich in einem Todeskampf, aber der Vater kann dies nicht wahrnehmen, weil er nicht fähig ist, die in einem nichtaufklärerischen Code gegebenen sprachlichen Signale des Kindes zu verstehen. So kann das Gedicht allenfalls im Kontext eines selbstkritischen Diskurses der Aufklärung gelesen werden, und zwar als Hinweis auf Grenzen, die sich dann einem adäquaten Verständnis der Mitmenschen in den Weg stellen, wenn man sich weigert, sprachliche Äußerungen in nichtaufklärerischen Codes in eine der Aufklärung zugängliche Wahrheit zu übersetzen. Eine solche Lektüre wäre aber nur dann möglich, wenn (1) die Reaktion des Vaters auf der histoire-Ebene anders ausfiele und wenn (2) die Wahrnehmung des Kindes auf der discours-Ebene psychologisch motiviert würde. Zu (1): Im System der Aufklärung müßte der Vater den realen Grund der Phantasien wenigstens am Ende erkennen und versuchen, adäquat, d. h. medizinisch, zu helfen. Stattdessen wird nun der Vater selbst von der Geisterfurcht des Kindes erfaßt, er ergreift die panische Flucht, um die vertraute Welt von Haus und Hof zu erreichen. In dieser Verwirrung des väterlichen Deutungscodes zeigt sich jene Unsicherheit, die ein Merkmal des fantastischen Ereignisses ist. Es ist die Verwirrung des Aufklärers. Zu (2): Betrachtet man die narrative Vermittlung der Stimme des Erlkönigs, so fallt auf, daß von der Erzählerinstanz die Anbindung der Welt des Erlkönigs an die Perspektive des Kindes nicht eindeutig bestimmt wird. Vermieden wird beispielsweise in der Erzählerrede deren Vermittlung aus der Reflektorperspektive des Kindes durch den Gebrauch von verba sentiendi, die nur dort verwendet werden, wo das Kind selbst spricht ("Siehst Vater"). Damit bleibt zwar die Möglichkeit einer psychologischen

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Deutung als Sterbephantasie erhalten, aber gleichzeitig wird die Rede des Erlkönigs selbst ohne explizite Anbindung an die Perspektive des Kindes unvermittelt 'aus dem Off formuliert. So entsteht der Eindruck, daß diese Stimme auf der selben Stufe von Realität angesiedelt werden kann wie die Rede von Vater und Kind. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, daß die Erzählerrede nicht im Imperfekt, sondern im Präsens mit Bezug auf ein gegenwärtig ablaufendes Geschehen formuliert ist. Zu dieser Gegenwart gehört auch die Stimme des Elementargeistes, die direkt die Erzählerrede unterbricht. Der Erlkönig nimmt auf diese Weise zwar keine von den Phantasien des Kindes unabhängige Gestalt als sichtbare Spukerscheinung an, aber er gewinnt doch eigenständige Realität durch seine hörbare Rede. Da es unter den Voraussetzungen der aufklärerischen Metaphysik besondere Probleme gerade mit der Sichtbarkeit von Geistern gegeben hat, weil diese ja per definitionem eine immaterielle Natur haben, ist die Unsicherheit über die Deutung des Ereignisses auch auf der Ebene des narrativen Diskurses auf eine Weise hergestellt, daß ein Leser des 18. Jahrhunderts nicht von vornherein einen groben Verstoß gegen die Wahrscheinlichkeit konstatieren mußte. Nun könnte man versuchen, dieses fantastische Ereignis selbst in 'uneigentlicher' Bedeutung zu lesen, und zwar wieder als Rede über die Grenzen der Aufklärung in einer anderen Version, nämlich über deren Ohnmacht vor einer Wirklichkeit, die sich handelnd nicht bewältigen läßt. Der Elementargeist wäre dann ein Symbol für die Wirklichkeit des Todes und der todbringenden Gewalt der Natur, gegen die der Handelnde, auch wenn er die Signale des Kindes richtig verstehen würde, nichts ausrichten kann. Eine solche Thematisierung der Überwältigung des Subjekts durch eine weder im Denken begreifbare, noch im Handeln beherrschbare Natur läßt sich schon beim jungen Goethe in den siebziger Jahren feststellen." In den Rahmen einer solchen 'uneigentlichen' Deutung des Erlkönigs als Symbol einer verleugneten und nicht zu kontrollierenden Macht der Natur würde auch gehören, daß der Erlkönig ein tabuisiertes sexuelles Interesse an dem Knaben äußert.12 Wenngleich eine solche Lektüre möglich und naheliegend ist, enthält der Text kein explizites Signal, das sie eindeutig vorschreiben würde; die Antwort auf die Frage, ob der implizite Autor die Realität des Ereignisses bejaht oder ver-

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neint, bleibt offen, und damit weist die Ballade ganz klar eine fantastische Struktur auf. Zu fragen ist dann nach der Funktion einer solchen Textstruktur. IV Hinweise auf die Funktion der fantastischen Struktur der Ballade gibt der Kontext der Erstveröffentlichung, das Singspiel Die Fischerin, in dessen Handlung eine mögliche Funktionalisierung exemplarisch vorgeführt wird: Dortchen, die Tochter eines Fischers, steht am späten Abend vor der Fischerhütte und wartet schon seit Stunden auf die Rückkehr von Vater und Bräutigam, die wieder einmal nicht pünktlich von der Arbeit zurückgekommen sind. In dieser Situation singt sie zum Zeitvertreib den Erlkönig und sagt im Anschluß daran: Nun hätt ich vor Ungeduld alle meine Lieder zweimal durchgesungen, und es täte not, ich finge sie zum drittenmal an. Sie kommen noch nicht! kommen nicht! und bleiben wieder wie gewöhnlich unerträglich außen, so heilig sie versprochen haben, heute recht beizeiten wieder da zu sein. Die Erdäpfel sind zu Mulm verkocht, die Suppe ist angebrannt, mich hungert, und ich schiebe von jedem Augenblick zum andern auf, meinen Teil allein zu essen, weil ich immer denke, sie kommen, sie müssen kommen. Bei den Mannsleuten ist alle Mühe verloren, sie sind doch nicht zu bessern. (Goethe: 262 f.)

Besonders beklagt sich Dortchen über das Verhalten ihres Bräutigams Niklas, "denn er will wunder tun, als wenn er mich liebhätte, als wenn er mir alles an den Augen absehn wollte, und dann treibt er's doch, als wenn ich schon seine Frau wäre" (Goethe: 263). Das lange Ausbleiben des Bräutigams hat nach ihrem Urteil nichts damit zu tun, daß der Verlobte außerhalb der häuslichen Welt durch Arbeit den ökonomischen Pflichten eines Ehemanns als Ernährer von Frau und Familie nachkommt, obwohl die Männer dies vorgeben. 13 Dortchen konstatiert somit nicht nur die Differenz zwischen Liebe und Ehe, sondern sie enthüllt auch die Trennung von Intimbereich und Arbeitsbereich als Täuschung der Männer. Damit zieht sie die beiden zentralen Legitimationsmuster der im späten 18. Jahrhundert neuentwickelten Ehekonzeption in Zweifel. 14 Als Ausdruck dieser Einsichten und als Mittel des Widerstands fallt Dortchen ein makabrer Scherz ein: Sie will vortäuschen,

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daß sie im See ertrunken sei.15 Durch die Thematisierung der todbringenden Natur korreliert dieser Plan mit dem Ereignis in der vorher gesungenen Ballade, und gleichzeitig bekommt damit die Ballade eine neue Bedeutungsdimension als poetischer Ausdruck einer Beziehungskrise, die mit einer innerfamiliären Verständigungsschwierigkeit zu tun hat. Die nächste Szene des Singspiels zeigt nun, wie bei den heimkehrenden Männern - wiederum durch einen Text mit partiell fantastischer Struktur die Beziehung zwischen Niklas und Dortchen wiederhergestellt wird. Vater und Bräutigam treffen Dortchen nicht an, kümmern sich aber weiter nicht darum, sondern setzen sich zu Tisch. Um sich die Zeit zu vertreiben, singt Niklas dem Vater das Lied Wie der Wassermann das Mädchen aus der Kirche holt vor.16 Wie im Erlkönig geht es um den Tod, der durch die Liebe eines Elementargeistes zu einem Menschen verursacht wird, was auf die Sexualität als unkontrollierbare und Ich-auflösende Naturkraft verweist. Dieses Ereignis hat allerdings eine Volksmärchenstruktur, da die Realität des Wassermanns weder von den handelnden Figuren, noch auf der Ebene des narrativen Diskurses in Zweifel gezogen wird. Fantastische Struktur bekommt dieses Lied aber durch den Kontext, denn es ist eingebettet in ein Gespräch über die reale Möglichkeit von solchen Ereignissen und in die Reaktionen der Figuren. VATER: NIKLAS: VATER: NIKLAS: VATER:

NIKLAS: VATER: NIKLAS: VATER: NIKLAS: VATER: NIKLAS:

Sollte denn dadran was Wahres sein? Behüte Gott! Es ist ein Märchen. Du meinst, es wäre ganz und gar erlogen? Freilich! Ich habe doch manchmal auch wundersame Geschichten gehört, und oft geschieht einem auch so was, wo es nicht just ist. Bist du niemals getickt worden? Ach ja, aber bei Tage. Ich rede nicht gern davon. Es sind Einbildungen. Er fängt an zu singen. Es platzte dahinten doch etwas. Nicht doch, es ist das Wasser. So sing nur. Ich bin nun schon so alt geworden, und manchmal überläuft mich's doch. Nun hört denn auch, es ist eher lächerlich als grauslich.

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In diesem Dialog repräsentiert der Vertreter der jüngeren Generation den Code der Aufklärung, indem er die Wassermanngeschichte als bloße "Einbildungen", als Produkt einer nicht realitätsadäquaten Phantasie bezeichnet, die man seit der Kindheit als Überlieferung der Volkspoesie kennt und, wie in der gegebenen Situation, allenfalls nur mehr zur Unterhaltung und zum Zeitvertreib nutzen kann, während der Vater noch in dem alten Aberglauben befangen scheint, den das Lied repräsentiert. Während des Singens hört aber Niklas im Hintergrund einen Schrei, was nun umgekehrt der Vater als "Einbildungen" bezeichnet: VATER: NIKLAS: VATER: NIKLAS: VATER: NIKLAS: VATER: NIKLAS: VATER: NIKLAS: VATER: NIKLAS: VATER: NIKLAS:

Ein lustiger Tanz! Eine schöne Invitation! Habt Ihr nichts schreien gehört? Einbildungen! Wenn ich mich nicht fürchte, hör ich nichts; dir fallt noch was aus dem Lied ein. Es schrie wahrhaftig. Mir fiel's unterm Singen so aufs Herz, und ich wollte schwören, ich hörte was. Fängst du nun an? du Großhans! Ich ruh Euch nicht eher, bis ich weiß, wo sie ist. Sie ist kein klein Kind, sie wird nicht ins Wasser fallen. Der Wassermann ist mir zuwider. Siehst du nicht gar die Nixe! Nein, es ahnet mir was. Es träumt dir. Es gibt ein Unglück! ein Unglück! Geh nur! Lauf nur, du machst mir bange. Ich will auch suchen. Dortchen! Dortchen!

Hier verkehrt sich die Zuordnung der Codes, indem nun der Vater wie im Erlkönig den Part des Aufklärers übernimmt, während der Sohn, offenbar durch den eigenen Gesang emotional erregt und in seinen Deutungsmustern verwirrt,17 nun doch die Realität des Wassermanns zu fühlen glaubt und dabei erstmals um die abwesende Braut besorgt ist. Dies löst dann eine Suchaktion aus, die zur Versöhnung fuhrt. Auf der Textebene ist an dieser Stelle klar, daß Niklas etwas Wahres und Falsches zugleich fühlt, wenn er plötzlich fürchtet, Dortchen sei vom Wassermann geholt worden, denn das Lied erinnert ihn an eine psychische Realität, nämlich die Defizite in seiner Beziehung, so wie der Erlkönig Dortchens drastisch-makabren Ausdruck dieser

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Defizite induziert hat. Diese Realität nimmt allerdings nicht seine Vernunft, sondern sein Herz wahr, und die Wahrnehmung ist eine 'Ahnung'. Auf diese Weise bietet der Kontext der beiden Gedichte eine uneigentliche Lesart mit einer Funktionalisierung des Fantastischen an, die gleichzeitig, wie der Bezug auf Herder zeigt, den zeitgenössischen Diskurs über die Wirkung von Poesie herbeizitiert.18 Die Pointe dieses Kontextes ist aber, daß die vom Fantastischen ausgelöste Wahrnehmung der psychischen Realität erst in dem Moment wirksam wird, in dem der vorgebliche Aufklärer in eine Deutungsunsicherheit gerät und damit von einem echten Grauen, von einem gläubigen Gruseln, erfaßt wird. Erst als Niklas unter der Suggestion des Liedes an den Wassermann zu glauben beginnt, bekommt er Angst um Dortchen. Das elementare Gefühl der menschlichen Zusammengehörigkeit angesichts einer überwältigenden Natur ist also untrennbar verbunden mit dem Glauben an die magische Gewalt der bedrohlichen Naturgeister. Anders ausgedrückt: Die Bedrohung der Liebe durch die innere und äußere Natur wird erst dann spürbar, wenn man sich von dem tradierten Ausdruck dieser Bedrohung in den Bildern des Volksaberglaubens bis zum vorübergehenden Glauben an deren Realität beeindrucken läßt. V Eine solche Verbindung von Strukturen literarischer Fantastik mit der Thematisierung ihrer Wirkungen und kommunikativen Funktionen läßt sich im Horizont der vorausgegangenen Diskussion über die poetische Phantasie und das Wunderbare als eine der möglichen Antworten auf das Problem des Verhältnisses von aufklärerischer Philosophie, moderner Naturerfahrung und 'vernunftwidriger' Dichtung verstehen. Wie konnte man mit der Erfahrung umgehen, daß solche Produkte einer 'wunderlichen Fantasie' auch und gerade in der Gegenwart Glauben fanden und in poetischer Form eine tiefe emotionale Wirkung ausübten, obwohl sie wahrheitswidrig zu sein schienen? Und unter welchen Voraussetzungen läßt sich diese Wirkung im Weltbild der Aufklärung legitimieren? Die Phantasie bzw. die Einbildungskraft, die solche Produkte hervorzubringen vermag, hat im System der Schulphilosophie der deutschen Auf-

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klärung als Vermögen der Seele einen so zentralen Platz bei der Erklärung der menschlichen Welterkenntnis, daß man auf ihre Leistungen auf keinen Fall verzichten konnte.19 Sie ist das Vermögen der Seele, sich abwesende Gegenstände als gegenwärtig vorzustellen, und dies ist die Voraussetzung für die Fähigkeit, aus zeitlich einander folgenden Einzelerfahrungen allgemeine Begriffe zu bilden und die Gegenstände der jeweils gegenwärtigen Erfahrung diesen Begriffen zuzuordnen. Um diese Gegenstände mit ähnlichen abwesenden vergleichen zu können, bedarf es der Einbildungskraft; ohne sie gibt es weder Erinnerung noch Prognose, die bei der realitätsgerechten Einschätzung der Folgen von Handlungen unverzichtbar sind. Aufgrund dieser Fähigkeit ist es der Einbildungskraft auch möglich, Elemente von Erfahrungen und Einbildungen neu zu kombinieren, und dies ist nicht nur die Basis wissenschaftlicher Kreativität, sondern auch die Grundlage der Produktion und Rezeption von poetischen Fiktionen. Solche Fiktionen sind nicht nur unbedenklich, sondern auch nützlich, aber nur dann, wenn diese Kombinationen durch die Vernunft kontrolliert werden, so daß sie den vernünftigen Gesetzen der Welt analog strukturiert werden können. Nur auf diese Weise kann in der poetischen Fiktion etwas zustande kommen, was sie in der Frühaufklärung ins Zentrum des Interesses rückt: ein konkretes und anschauliches Bild vom geordneten Ganzen der Welt, das die sinnliche Wahrnehmung der empirischen Welt allein ja nie hervorbringen kann. Die Einsicht in diese Ordnung ist sonst nur durch abstrakte Schlüsse der Vernunft zu erreichen, wie dies für das 18. Jahrhundert traditionsbildend Leibniz in der Theodizee und der Monadologie vorführt (Leibniz 1985: 218 - 220; Leibniz 1985 a: 4 5 5 - 4 6 3 ) . Die schon Gottsched beunruhigende Entdeckung ist es nun aber, daß dieses unverzichtbare Vermögen auch Einbildungen ohne Vernunft produzieren kann und - was noch beunruhigender ist - daß solche Einbildungen poetisch dargestellt und mit illusionierender Wirkung rezipiert werden können. Das vernunftwidrige Produkt der Einbildungskraft, die 'wunderliche Fantasie1, kann den Schein der Wahrheit annehmen, und man kann sich nicht darauf verlassen, daß eine kontrollierende Vernunft diese Täuschung verhindert. Das Organ der Erkenntnis, auf das man nicht verzichten kann, ist unzuverlässig und unkontrollierbar; das weiß man schon auf dieser Stufe der

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deutschen Aufklärung nur zu genau. Gottsched, der dieses Problem schor. in seiner philosophischen Propädeutik von 1733 in aller Deutlichkeit ausspricht, muß deswegen in seiner Poetik einen scharfen Kampf gegen solche Produkte der vernunftwidrigen Einbildungskraft fuhren. Da er dabei fast gegen die ganze literarische Überlieferung antreten muß, versucht er in einem Diskurs über das Wunderbare und das Wahrscheinliche das Tolerierbare vom Unzulässigen zu scheiden.20 Zugelassen ist bei ihm selbstverständlich das Wunderbare im Sinne des Überraschenden und Seltenen, da es im Kausalzusammenhang der Natur prinzipiell möglich ist. Wogegen er aber polemisiert, ist das "Wunderbare, was von Göttern und Geistern herrühret" (Gottsched 1751: 171), wobei er bei seinen Lesern voraussetzt, daß sie derartige Ereignisse in der empirischen Welt für unmöglich halten, aber durch die Macht solcher Bilder in ihrer Vernunft schwankend gemacht werden könnten. Für die historische Einordnung der literarischen Fantastik ist es nun interessant zu sehen, daß Gottsched, wie einleitend schon angedeutet, innerhalb dieses Wunderbaren in seinem Urteil historisch differenziert. Es ist noch plausibel und tolerierbar in Dichtungen der Antike und des Mittelalters, nicht aber in der Dichtung der Gegenwart: Was die heidnischen Poeten von ihren Göttern vor Wunderdinge geschehen lassen, das haben die christlichen Dichter den Engeln und Teufeln zugeschrieben. [...] Ein heutiger Poet hat [...] große Ursache in dergleichen Wunderdingen sparsam zu seyn. Die Welt ist nunmehro viel aufgeklärter, als vor etlichen Jahrhunderten, und nichts ist ein größeres Zeichen der Einfalt, als wenn man [...] alles, was geschieht, zu Zaubereyen macht. (Gottsched 1751: 182 f.)

Problematisch für Gottsched sind also weniger die Produkte vergangener Zeiten, in denen derartige Ereignisse mit dem Weltverständnis übereinstimmten, problematisch sind für ihn auch nicht Zitate konventionalisierter literarischer Motive und Strukturen aus dieser Tradition in der Gegenwart, da diese nicht mehr auf das gegenwärtig geltende Weltverständis bezogen werden,21 sondern, wie sich aus den bei Gottsched angeführten Beispielen ergibt, die Darstellung von Ereignissen aus dem Grenzbereich von christlicher Theologie und christlicher Mythologie und modernem Aberglauben, angefangen von den Eingriffen von Engeln und Teufeln in die Wirklichkeit bis hin zu Geistererscheinungen und Zauberei. Damit tangiert der Aufklärer

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auf der einen Seite einen gefahrlichen Bereich des zeitgenössischen Diskurses über das Verhältnis der christlichen Religion zur Vernunft, weil die Diskussion der Frage nach der Möglichkeit von Geistererscheinungen, Zauberei und Eingriffen von Engeln und Teufeln grundsätzlich nicht zu trennen war von den daraus abzuleitenden Konsequenzen nicht nur für die Beantwortung der Frage nach der vernünftig begründbaren Existenz des Teufels, sondern auch für die Beurteilung der biblischen Wunder, ja der Möglichkeit des Wunders im strengen theologischen Sinn überhaupt. Auch der christliche Glaube an das Leben nach dem Tode ist von dieser Diskussion, etwa bei der Frage, ob Verstorbene als Geister erscheinen können, immer mit berührt. Auf der anderen Seite thematisiert Gottsched den ganzen Bereich der seit der frühen Neuzeit diskutierten magischen Naturauffassung, die als konkurrierendes säkulares Deutungsmodell neben der mechanistischen Physik immer vorhanden war. In der poetologischen Diskussion ist in der Reaktion auf Gottsched schon sehr früh ein Ausweg gesucht worden, der in die Richtung einer wirkungsästhetischen Legitimation der Darstellung solcher Phänomene weist (vgl. zum Folgenden Wilpert: 108 ff.). Schon bei Bodmer und Breitinger gibt es das Argument, daß das Unvernünftige und Unwahre durch die Kraft einer illusionierenden Darstellungsweise für den Leser wahrscheinlich gemacht werden könne, und entsprechende Hinweise auf die Wirkung von Geisterdarstellungen auf ein aufgeklärtes Theaterpublikum gibt es auch im 10.-12. Stück von Lessings Hamburgischer Dramaturgie. Dieser Weg fuhrt allerdings in eine Richtung, die vom Fantastischen in dem von mir erläuterten Sinn wegfuhrt, nämlich zu einer Trennung von Dichtung und Wahrheitsanspruch und damit auch zu einer Preisgabe der mimetischen Funktion. Der Text des Erlkönig steht nach meiner Analyse noch gerade diesseits der Grenze mimetischer Literatur, weswegen der Kontext nicht in dieser poetologischen Diskussion, sondern im philosophischen Diskurs über jene Phänomene aufgesucht werden muß, die in der Fantastik dargestellt werden.22 Symptomatisch für den Diskussionsstand noch um die Mitte des 18. Jahrhunderts sind die einander widersprechenden Artikel "Zauberer" und "Zauberei" im 61. Band des Lexikons von Zedier von 1749. Unter dem Stichwort "Zauberer" wird die Frage nach der Realität von Zauberei mit ei-

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nem Vernunftargument gegen deren Möglichkeit eindeutig verneint, das aus der Cartesianischen Trennung von res cogitans und res extensa abgeleitet ist: Dann, weil die Seele auf ihren Leib nicht würcken kan, so kan auch ein anderer endlicher Geist aus eigenem Vermögen nicht einen Leib annehmen, auch keine Bewegungen an den Cörpem hervor bringen. (Zedier: Bd. 61, 54)

Daß dies der nervus rerum ist, zeigt sich in dem Artikel "Zauberei", der zumindest von deren Möglichkeit ausgeht und dementsprechend auch die immer noch geltenden Verfahrensvorschriften bei Hexenprozessen ausfuhrlich erläutert. Hier wird nämlich zunächst der Begriff des Teufels definiert, und zwar als "eine geistliche Substanz, welche einen Verstand und Willen, auch auf gewisse Weise eingeschränkte Macht, die Cörper zu bewegen" (Zedier: 67) hat. Die grundsätzliche Bereitschaft, die Wirklichkeit nach dem Code der mechanistischen Physik als immanent-materiellen Zusammenhang von Ursachen und Zwecken zu sehen,23 kann demnach auch um die Jahrhundertmitte nicht bei den potentiellen Adressaten dieses Lexikons vorausgesetzt werden. Einer der Gründe für diese Situation wird wiederum in Zedlers Lexikon unter dem Stichwort "Wunder" erkennbar. Der Verfasser, der hier die Möglichkeit des Wunders im strengen Sinn eines göttlichen Eingriffs in die kausale Naturordnung verteidigt, weil er nur so die Wahrheit und die Bedeutung der biblischen Wunder für die Begründung des Glaubens behaupten kann, sieht sich veranlaßt, über siebzig Spalten hinweg die Einwände der neueren Philosophie zu referieren und zu kritisieren, die alle aus jenen Prinzipien abgeleitet sind, die auch zur Bestreitung der Möglichkeit von Zauberei angeführt worden sind (Zedier: Bd. 59, 1930 - 2005). Nach dem selben Code der strengen Trennung von Geist und Materie kann im 18. Jahrhundert auch das sichtbare Erscheinen von Geistern, wie von Engeln, Teufeln und von Seelen Verstorbener, in Zweifel gezogen werden. Mit Argumenten aus diesem Arsenal versucht beispielsweise Nathan in Lessings Nathan der Weise (1/2) seine Pflegetochter Recha davon zu überzeugen, daß nicht ein Engel, sondern ein Mensch sie aus dem Feuer gerettet haben muß. Auch damit berührt man aber wieder zentrale Ereignisse der Bibel, die bei diesem Typ der Argumentation mit allgemeinen Vernunftgründen immer implizit mitgemeint sind.

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Aus den bisher angeführten Belegen ergibt sich, daß die Diskussion sehr unterschiedliche Themenbereiche erfassen konnte, einmal die Frage des Verhältnisses von Geist und Natur, die grundsätzlich auch die Erklärung von Naturphänomenen beeinflussen konnte, zum andern Fragen auf dem gemeinsamen Gebiet von Theologie und Philosophie, die die Möglichkeit des Wunders und das Leben von körperlosen Geistern wie Engeln oder menschlichen Seelen betreffen. Eine neue Stufe in der Diskussion dieser Phänomene im 18. Jahrhundert, die nun zum engeren Kontext von Goethes Text fuhrt, wird in Kants Abhandlung Träume eines Geistersehers von 1766 erreicht (Kant). Kant diskutiert hier, veranlaßt durch die Wirkung der Bücher Swedenborgs, die Möglichkeit der Erfahrung von Geistererscheinungen in zwei Varianten. In einem "Fragment der geheimen Philosophie" (Kant: 936 ff.) geht er hypothetisch von der Existenz einer Geisterwelt und von der Möglichkeit der Einwirkung aus dieser Welt auf den Menschen aus. Da sich aus dem Begriff des Geistes aber ergibt, daß der Mensch von diesen Einwirkungen keine unmittelbare Erfahrung haben kann, können diese nur dann "in das Bewußtsein übergehen [...], wenn sie Phantaseien erregen, die mit ihnen verwandt sein" (Kant: 949). Bei Personen mit außergewöhnlicher Reizbarkeit ihrer Einbildungskraft könne es dann geschehen, daß sie in gewissen Augenblicken mit der Apparenz mancher Gegenstände als außer ihnen angefochten sein, welche sie vor eine Gegenwart von geistigen Naturen halten würden, die auf ihre körperlichen Sinne fiele, ob gleich hiebei nur ein Blendwerk der Einbildung vorgeht, doch so, daß die Ursache davon ein wahrhafter geistiger Einfluß ist, der nicht unmittelbar empfunden werden kann, sondern sich nur durch verwandte Bilder der Phantasie, welche den Schein der Empfindungen annehmen, zum Bewußtsein offenbaret" (Kant: 949). 24

Auf der Grundlage einer solchen Hypothese wären dann Erfahrungen von Geistererscheinungen zwar bloße Gebilde der Einbildungskraft, sie hätten aber eine vermittelte Ursache in der Einwirkung eines Geistes auf die Seele des Menschen. Löst man diese Erklärung von Geistererscheinungen aus dem Zusammenhang von Kants Text heraus, so hat man eine zeitgenössische Deutung dieser Phänomene zur Verfugung, in welcher der Glaube an deren Möglichkeit mit der Grundannahme der Aufklärungsphilosophie - der prinzi-

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piellen Unsichtbarkeit und Unerfahrbarkeit von Geistern - erstmals vereinbar zu sein scheint. Diese Deutung von 1766 macht das Fantastische innerhalb der Aufklärung möglich. Dieser Hypothese setzt Kant nun allerdings im "Fragment der gemeinen Philosophie" (Kant: 952 ff.) eine materialistische Erklärung solcher Erscheinungen entgegen, die ohne die Annahme der Einwirkung aus einem Geisterreich auskommt und sich auf die bloße Erfahrung beruft. Danach erklären sich solche Phänomene aus einer "Störung des Gemüts, die man Wahnsinn und im höhern Grade die Verrückung nennt" (Kant: 956). Bei einem davon betroffenen Menschen seien die Strukturen des Gehirns in der Weise "verrückt", daß "die Bewegung der Nerven, die mit einigen Phantasien harmonisch beben, nach solchen Richtungslinien geschieht, welche fortgezogen sich außerhalb dem Gehirne durchkreuzen würden" (Kant: 957). Deswegen sei der "focus imaginarius" (Kant: 957), d. h. der Punkt, an dem das Gehirn den Ausgangspunkt der es affizierenden Einbildungen lokalisiert, "außerhalb dem denkenden Subjekt gesetzt, und das Bild, welches ein Werk der bloßen Einbildung ist, wird als ein Gegenstand vorgestellt, der den äußeren Sinnen gegenwärtig wäre" (Kant: 957). Damit ist für Kant nicht nur eine plausible Erklärung der Geistergeschichten formuliert, sondern es wird auch eine Erklärung für die verbreitete Vorstellung von einer Geisterwelt selbst angeboten, von der aus die Hypothesen der "geheimen Philosophie" entwickelt worden sind. Diese werden damit eigentlich obsolet.25 Das Problem einer solchen empirischen Erklärung ist nun allerdings für Kant, daß sie die "Hoffnung der Zukunft" (Kant: 961), d. h. die christliche Hoffnung auf Unsterblichkeit, zu zerstören scheint: Ja dieses scheint auch überhaupt von der Beglaubigung der Geistererzählungen, welche so allgemeinen Eingang finden, die vornehmste Ursache zu sein, und selbst die erste Täuschungen von vermeinten Erscheinungen abgeschiedener Menschen sind vermutlich aus der schmeichelhaften Hoffnung entsprungen, daß man noch auf irgend eine Art nach dem Tode übrig sei, da denn bei nächtlichen Schatten oftmals der Wahn die Sinne betrog, und aus zweideutigen Gestalten Blendwerke schuf, die der vorhergehenden Meinung gemäß waren, woraus denn endlich die Philosophen Anlaß nahmen, die Vernunftidee von Geistern auszudenken und sie in Lehrverfassung zu bringen. (Kant: 961)

Die größte Stütze für diese Annahme ist nach Kant die Behauptung, daß die

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"Überzeugung von dem Dasein nach dem Tode [...] zum Bewegungsgrunde eines tugendhaften Lebens sehr nötig sei; die müßige Neubegierde aber setzt hinzu, daß die Wahrhaftigkeit der Erscheinungen abgeschiedener Seelen von allem diesen so gar einen Beweis aus der Erfahrung abgeben könne" (Kant: 968).

Es kommt deswegen für Kant darauf an, zunächst die vorliegenden Berichte Swedenborgs als Produkte einer "verrückten" Einbildungskraft zu analysieren, um dann eine Version der Moralbegründung anzudeuten, die auf Geisterseherei und naiven Unsterblichkeitsglauben verzichten kann. Obwohl Kant in seinem Text keinen Zweifel darüber läßt, daß für ihn die Hypothese der "gemeinen Philosophie" die besseren Argumente für sich hat, bringt er in den aufklärerischen Diskurs dieser Phänomene eine neue Wendung, indem er (1) eine isolierbare spekulative Deutung anbietet, die eine Vereinbarkeit von Geisterglauben und Aufklärung als möglich erscheinen läßt, und (2) dem Geisterglauben eine so ernstzunehmende Funktion in der Moralbegründung zugesteht, daß er nach einer konkurrenzfähigen Kompensation suchen muß. Das bei der Analyse des Erlkönig erschlossene Konzept einer Funktionalisierung des Fantastischen als eines Ausdrucks von wahren moralischen Gefühlen ließe sich mit diesem Diskussionsstand durchaus vermitteln - vorausgesetzt allerdings, man ignoriert Kants Präferenz für die materialistische Deutungshypothese. Ein weiteres Argument innerhalb der Aufklärungsphilosophie, das nun auch die Wahl des besonderen Typs von Geistererscheinung in Goethes Erlkönig plausibel machen kann - es erscheint ja nicht die Seele eines Verstorbenen, sondern es spricht ein Elementargeist - , findet sich beispielhaft in einem kurzen Aufsatz von Christoph Martin Wieland mit dem Titel Über den Hang der Menschen, an Magie und Geistererscheinungen zu glauben (Wieland 1796: 71 - 92). Neben dem schon bekannten auf die Erscheinung Verstorbener bezogenen Standardargument, daß der Geisterglaube ein Ausdruck der "Hoffnung, [...] nach diesem Leben in einem andern persönlich fortzudauern" (Wieland 1796: 86), sei, verweist Wieland auf eine Entwicklung innerhalb der modernen Naturwissenschaft selbst, die eine andere Form von Gespensterglauben als Ausdruck eines berechtigten Gefühls von Wahrheit erscheinen läßt:

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Die Natur [...] erscheint immer wundervoller, geheimnisreicher, unerforschlicher, je mehr sie gekannt, erforscht, berechnet, gemessen und gewogen wird. Die unendliche Mannigfaltigkeit und der grenzenlose Schauplatz ihrer Wirkungen verschlingt unsern Geist; er verliert sich in einem Ocean von Wundern, an welchen, wie viel wir auch erklären und begreifen zu können meinen, doch noch immer unerklärbares und unbegreifliches genug übrig bleibt, um die verlegene Imaginazion in ihre alte Lage zurück zu werfen. Denn was haben wir auch mit den scharfsinnigsten und unwidersprechlichsten Erklärungen alles dessen, was im Himmel, auf Erden und unter der Erden ist, am Ende, zu Befriedigung unsers Vorwitzes gewonnen, als - Erscheinungen zu kennen, deren Ursachen - Wirkungen zu berechnen, deren Kräfte - noch immer Geheimnisse sind? Und wenn wir auch das ganze Uhrwerk der Körperwelt bis auf seine ersten Bestandteile aus einander legen können; so nöthigt uns doch am Ende ein Gefühl, dem die Vernunft selbst nachgeben muß, geistige Kräfte anzunehmen, welche der Materie Zusammenhang, Bewegung, Leben, Empfindung und Gedanken geben, die nicht ihr eigen sind: und so befinden wir uns immer wieder da, wo uns die Filosofie gefunden hatte; glauben immer, daß sie uns gerade das nicht sagen könne, was wir am liebsten wissen möchten; und fühlen uns also um so geneigter, jedem Gehör zu geben, der unsre Einbildungskraft in Erwartung setzt, und ihr eine Befriedigung zu versprechen scheint, die sie bey jener vergebens gesucht hatte. (Wieland 1796: 80 f.)

Wieland thematisiert hier nicht nur die widersprüchliche Erfahrung, daß der Erkenntnisfortschritt in der Naturwissenschaft das Feld des Unbekannten vergrößert statt verringert, sondern er verweist auch auf die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sich vermehrende Kenntnis von Naturphänomenen, die sich einer Erklärung mit den Mustern der materialistisch-mechanistischen Physik zu entziehen schienen und Argumente für die naturmagischen Traditionen lieferten, wie etwa die Phänomene der Elektrizität, der chemischen Prozesse und der organischen Gestaltbildung. Eine vitalistische Naturauffassung, die von der Hypothese des Wirkens von "geistigen Kräften" in der Natur ausgeht, hat in diesem Zusammenhang eine größere Plausibilität, und dies wird auch am Jahrhundertende und in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in dem vorübergehenden Erfolg der idealistisch-romantischen Naturphilosophie erkennbar.26 In diesem Deutungsmuster liegt, so meint Wieland, der alte Glaube an Elementargeister wieder sehr viel näher als in dem Muster der mechanistischen Physik. Wenngleich nun Wieland diesen Glauben als gegenaufklärerisch kritisiert, kann er in seinem Aufsatz dem damaligen Stand der Naturwissenschaft entsprechend - kein Angebot machen, diese Naturphänomene mechanistisch zu deuten. In dieser für das

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letzte Jahrhundertdrittel typischen Situation ist Goethes Wahl eines Naturgeistes für die Gestaltung eines fantastischen Textes plausibel: Er entgeht der gefahrlichen Zone des christlichen Wunder- und Unsterblichkeitsglaubens, und er plaziert seinen Text in die Nähe eines modernen Diskurses über die Natur, in dem die Stimme eines Naturgeistes auch außerhalb des Volksaberglaubens eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen konnte.

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ANMERKUNGEN 1. Zum Kampf Gottscheds gegen den Teufels- und Hexenglauben vgl. Martens: 246 - 249. Die Argumentation, die Gottsched in seiner Moralischen Wochenschrift Der Biedermann (1727/28) gegen diesen Glauben vorträgt, versucht, den Teufelsbegriff der christlichen Theologie, der nicht angetastet werden soll, scharf vom Teufel des Aberglaubens zu trennen. 2. Zu diesem Merkmal des Volksmärchens vgl. die Zusammenfassung der Forschungsdiskussion bei Klotz: 10 f. Diese Abgrenzung gilt auch für Erzählungen, die im Rahmen eines geschlossenen mythologischen Systems verbleiben. 3. Vgl. Wünsch: 66: "Der Text darf keinen Indikator für Nicht-Wörtlichkeit [...] des nicht-realitätskompatiblen Phänomens enthalten. [...] Der Text darf keinen Indikator für Übersetzbarkeit (für allegorische, parabolische, bloße Zeichenhaftigkeit) des nicht-realitätskompatiblen Phänomens enthalten." 4. Vgl. die Unterscheidung des "potentiell Fantastischen" von dem "faktisch Fantastischen" bei Wünsch: 64 - 67, die daran gebunden wird, ob eine dem dominanten Realitätsverständnis kompatible Erklärung des Ereignisses angeboten wird oder nicht. Ein illustratives Beispiel für diesen Unterschied aus der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts ist Theodor Storms Novelle Der Schimmelreiter. Der in den Mustern der Aufklärung argumentierende Schulmeister, der Hauke Haiens Lebensgeschichte erzählt, versucht rational-naturwissenschaftliche Erklärungen für den Gespensterglauben der Bevölkerung zu geben, aber der Rahmenerzähler behauptet unwidersprochen, daß ihm das Gespenst des Schimmelreiters tatsächlich begegnet sei. Noch in den Fahnen zum Erstdruck hatte der Schluß eine Fassung, die sowohl für die Entstehung des Volksaberglaubens als auch für das dem Rahmenerzähler begegnende Phänomen eine Erklärung lieferte, die dem Weltbild des Schulmeisters auch auf der

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Textebene den Vorzug gab. Die Endfassung hingegen läßt die Deutung und Erklärung auf der Textebene offen. Vgl. Storm: 1059 - 1062. 5. Vgl. auch Wünsch: 62 f.: "Mir scheint, die bisherige Fantastik-Theorie habe ihren Gegenstand zu sehr isoliert und aus seinen historischen Kontexten herausgenommen; mir scheint, sie habe ihn, darin der herkömmlichen Utopieforschung ähnlich, im Grunde als einen Texttyp mit autonomer Geschichte behandelt, zu dessen Verständnis es weder des denkgeschichtlichen noch des literaturgeschichtlichen Kontextes bedürfe." 6. Diese Abgrenzung bleibt bei einem Begriff wie 'Gespenstergeschichte' im Vergleich zum Begriff des Fantastischen unscharf. Vgl. hierzu die nicht sehr klaren Begriffserläuterungen bei Wilpert: 23 f., bei denen man nicht präzise erfahrt, auf welchen Fantastik-Begriff sich Wilpert eigentlich bezieht. Bei der Erörterung von Funktionen der Gespenstergeschichte im 18. Jahrhundert kommt Wilpert allerdings - ohne sich explizit darauf zu beziehen - dem Fantastik-Begriff von Todorov und Wünsch sehr nahe: "Solange Gespenster geglaubt werden oder zumindest ihre mögliche Existenz zugestanden wird, fehlte der Gespenstergeschichte ihr wichtigstes Ingrediens: Die Reibung an der Vernunft. [...] Erst wenn der Gespensterglaube erlischt, entsteht in der Gespenstergeschichte das Skandalon, daß in einer realistisch gezeichneten, alltäglich-rationalen Welt das unvorstellbar Irrationale geschieht: daß das Netz der erfahrenen, gesicherten wirklichen Welt zerreißt und in die von Vernunft regierte Welt das Übernatürliche einbricht. [...] Die Intensität seiner Wirkung hängt ab von der Ausschließlichkeit des rationalen Weltbildes beim Leser und von der Überzeugungskraft des erzählten Übernatürlichen, von der Glaubhaftmachung seiner Faktizität durch den Erzähler." (61) An einer anderen Stelle geht Wilpert aber für die selbe Epoche von einer Transposition des Gespenstermotivs in uneigentliche Rede aus: "Das Gespenst der Gespenstergeschichte [...] entspricht nur noch als frei verfügbares Motiv, nicht mehr als Glaubensinhalt der vorrationalistischen Epoche und kann daher mit neuen Inhalten assoziiert werden, Zeichen für andere und tiefere Vorstellungen werden." (49 f.) Die von Wilpert ebda, angedeutete Verbindung zwischen dem erstgenannten und dem zweiten Merkmal ist

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Ludwig Stockinger das eigentlich Interessante. Sie läßt sich mit Hilfe des Fantastikbegriffs präzisieren.

7. Die Schwierigkeiten, die sich bei der konkreten Bestimmung einer solchen geschichtlichen Situation ergeben, zeigen sich bei Wünsch dort, wo sie die Voraussetzungen für die Akzeptanz des Fantastischen in bestimmten Epochen genauer einzugrenzen versucht (54 f.). Die von Wünsch vorgeschlagene Bestimmung, daß vom naturalistisch-physikalischen Wissen abweichende Wissensformen "kulturell relevant" sein müßten, läßt sich im konkreten Fall schwer operationalisieren, eine solche Unschärfe ist aber beim derzeitigen Stand der Diskussion über die Präzisisierung des Begriffs 'kulturelles Wissen' wohl unvermeidlich. Praktikabel erscheint mir Wünschs Hinweis auf einen Indikator für eine solche Situation: Sie ist dann zu vermuten, wenn die Vertreter der 'dominanten Kultur' sich verstärkt und explizit mit diesen Wissensformen auseinandersetzen, im Fall des von Wünsch untersuchten Zeitabschnitts z. B. in der öffentlichen Diskussion des Okkultismus. Solche Situationen sind dadurch gekennzeichnet, daß die Vertreter des naturalistischphysikalischen Weltbildes eine ernsthafte Bedrohung der Dominanz ihres Deutungsmusters durch konkurrierende Muster konstatieren. 8. Die These bei Todorov 1992: 143. daß die Psychoanalyse die literarische Fantastik "ersetzt" und damit funktionslos gemacht habe, reduziert deren Funktion zu sehr auf den Ausdruck der zensierten sexuellen Begierden und des Unbewußten. 9. Vgl. dazu die knappe Zusammenfassung bei Wilpert: 77. Zur Bedeutung der frühneuzeitlichen Magieauffassung für das Werk des jungen Goethe vgl. Gaier: 103 - 119. Grundlegend zur Rezeption dieser Tradition durch den jungen Goethe: Zimmermann. 10. Zum Ächzen des Kindes und seiner Wirkung vgl. als Bezugstext Herder. Dort heißt es in 1,1 (5 - 14): "Schon als Tier hat der Mensch Sprache. Alle heftigen und die heftigsten unter den heftigen, die schmerzhaften Empfindungen seines Körpers, alle starken Leidenschaften seiner Seele äußern sich unmittelbar in Geschrei, in Töne, in wilde, unartikulierte Laute. Ein leidendes Tier sowohl als der Held Philoktet, wenn es der

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Schmerz anfallet, wird wimmern, wird ächzen [...]. Unsre künstliche Sprache mag die Sprache der Natur so verdränget, unsre bürgerliche Lebensart und gesellschaftliche Artigkeit mag die Flut und das Meer der Leidenschaften so gedämmet, ausgetrocknet und abgeleitet haben, als man will; der heftigste Augenblick der Empfindung, wo und wie selten er sich finde, nimmt noch immer sein Recht wieder und tönt in seiner mütterlichen Sprache unmittelbar durch Akzente. [...] Da unsre Töne der Natur zum Ausdruck der Leidenschaft bestimmt sind, so ists natürlich, daß sie auch die Elemente aller Rührung werden! Wer ists, dem bei einem zuckenden, wimmernden Gequälten, bei einem ächzenden Sterbenden, auch selbst bei einem stöhnenden Vieh [...] dies Ach nicht zu Herzen dringe?" 11. Vgl. Die Leiden des jungen Werthers, Brief vom 10.5.1771 und vom 18.8.1771. Auch in Goethes früher Hymne Ganymed von 1774, die nur in oberflächlicher Lektüre als Darstellung einer gelungenen Vereinigung mit der göttlichen All-Natur aufgefaßt werden kann, ist das vom Ich verspürte Begehren der Frühlingsnatur richtungslos und für die sinnliche Erfahrung ungreifbar. Im zweiten Teil der Hymne wird Ganymed dann nicht vom "Geliebten", sondern von einer Vaterinstanz umfangen und emporgehoben; diese Bewegung fuhrt aber aus dem Bereich der sinnlichen Erfahrung hinaus und löst die Ich-Identität auf. 12. In der literarischen Tradition der Elfenkönig-Figur ist dieses Merkmal präsent. Schon Oberon in Shakespeares A Midsummer Night's Dream begehrt einen schönen Knaben (Vgl. II/l). Mit dem weiteren Bezug auf die Zeus-Ganymed Beziehung wird dieses Motiv mit dem Problem der Bewahrung des Ich in der Beziehung zu einer Natur verknüpft, die zugleich als liebend und als zerstörerisch-überwältigend empfunden wird. 13. Vgl. Goethe: 263: "Verlohnte sichs nur der Mühe, so möchte noch alles gut sein. Kämen sie immer von ihrem Fange recht beladen zurück, daß das Schiff sinken möchte und man was zu Markte tragen könnte, da möcht's noch gut sein; man könnte nachher auch wieder etwas auf sich wenden und brauchte nicht immer schlecht zu essen, zu trinken und einherzugehn. Gerade das Gegenteil! je weniger gefangen, je später kom-

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Ludwig Stockinger men sie nach Haus. Neulich abend habe ich ihnen vom Hügel zugesehen, wie sie's machen, und wäre fast vor Ungeduld vergangen. Anstatt hübsch frisch zu rudern, lassen sie den Kahn treiben und rauchen ihr Pfeifchen in Ruh. [...] Bald fahren sie da an, bald dorten, und das größte Unglück ist, daß die Schenke am Wasser liegt. Sie sind gewiß wieder ausgestiegen und lassen sich's wohl sein, und wann sie nach Hause kommen, sind sie wieder durstig. Es ist mir recht zuwider! recht ernstlich zuwider!"

14. In der im späten 18. Jahrhundert sich allmählich durchsetzenden Konzeption von Liebe und Ehe geht man davon aus, daß für den Mann der Unterschied von Familie und Öffentlichkeit mit der "Rollendifferenz von Privatmann und Rollenträger in anderen Sozialsystemen" (Schmidt: 114) zusammenfallt (vgl. die Zusammenfassung der neueren Forschung dazu bei Schmidt: 77 - 131). Die Legitimation der auf das Haus beschränkten Frauenrolle basiert deswegen wesentlich auf der Vorstellung, daß der Mann 'draußen' keinen Ort hat, wo er wie in der Familie nur 'er selbst' sein kann. Diesem Legitimationsbedarf entspricht der geschichtliche Trend zur Einheit von Liebe und Ehe (Luhmann: 183 - 190.). Dortchen befurchtet schon vor der Eheschließung das Mißlingen dieses Musters, und sie sieht und benennt mit Haus und Familie ernsthaft konkurrierende Situationen und Orte, an denen Männer aus ihren sozialen Rollen fallen können, ohne der Frauen zu bedürfen: die Arbeitspause und die Kneipe. 15. Vgl. Goethe: 264 f.: "Wenn ich nur was anstellen könnte, was sie recht verdrösse! Wenn ich böse tue, sind sie freundlich, und wenn ich ihnen die Schüssel hinstoße, so essen sie ganz gelassen. Wenn ich mich in eine Ecke setze, so sprechen sie unter sich. Man sagt immer, die Weiber schwätzten viel, und wenn die Männer anfangen, so hat's gar kein Ende. [...] Ich bin so wild! so toll! daß ich gar nicht weiß, was ich anfangen soll. Ich möchte mir selbst was zuleide tun! [...] Und wenn's gar zu bunt wird, so spring ich ins Wasser! [...] Wann ich tot bin, da werden sie sehn, was sie an mir gehabt haben, werden sich ihre Undankbarkeit vorwerfen; es wird aber zu spät sein, und es wird mir und ihnen nichts helfen. [...] Ich könnte sie schon strafen, daß sie mich so oft in Sorgen lassen für nichts und wieder nichts; und wenn ich denke, es ist einem ein Unglück geschehen, so lassen sie sich's beim Branntewein wohlschmecken. — Ja,

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das will ich tun! Es soll aussehen, als wenn ich ins Wasser gefallen wäre. Den einen Eimer will ich verstecken und den andern aufs Brett hinaufstellen und mein Hütchen ins Gebüsch hängen: Sie sollen glauben, ich sei ins Wasser gefallen, und am Ende will ich sie recht auslachen." 16. Vgl. Goethe: 269 f. Im Unterschied zum Erlkönig ist Der Wassermann Zitat eines Volkslieds, das Goethe dem zweiten Teil von Herders Sammlung Volkslieder von 1779 entnommen hat. 17. Zu dieser Wirkung vgl. Herder: 15 f.: "Diese Töne, diese Gebährden, jene einfachen Gänge der Melodie, diese plötzliche Wendung, die dämmernde Stimme - was weiß ich mehr? Bei Kindern und dem Volk der Sinne, bei Weibern, bei Leuten von zartem Gefühl, bei Kranken, Einsamen, Betrübten würken sie tausendmal mehr, als die Wahrheit selbst würken würde, wenn ihre leise, feine Stimme vom Himmel tönte. Diese Worte, dieser Ton, die Wendung dieser grausenden Romanze usw. drangen in unsrer Kindheit, da wir sie das erstemal hörten, ich weiß nicht, mit welchem Heere von Nebenbegriffen des Schauders, der Feier, des Schreckens, der Furcht, der Freude in unsre Seele. Das Wort tönet, und wie eine Schar von Geistern stehen sie alle mit einmal in ihrer dunklen Majestät aus dem Grabe der Seele auf: [...] Das Wort ist weg, und nur der Ton der Empfindung tönet. Dunkles Gefühl übermannet uns: der Leichtsinnige grauset und zittert - nicht über Gedanken, sondern über Silben, über Töne der Kindheit, und es war Zauberkraft des Redners, des Dichters, uns wieder zum Kinde zu machen. Kein Bedacht, keine Überlegung, das bloße Naturgesetz lag zum Grunde: Ton der Empfindung soll das sympathetische Geschöpf in denselben Ton versetzen!" Wichtig ist hier für die Deutung der Situation in Goethes Singspiel, daß einer solchen Poesie die Funktion zugeschrieben wird, in der gegenwärtigen Gesellschaft das Gefühl elementarer Verbundenheit zwischen den Menschen hervorzurufen. Darüber hinaus legt der Kontext dieser Passage nahe, daß auch der Glaube an die christliche Religion in der Gegenwart im Grunde nur mehr von entsprechenden Wirkungen des überlieferten und in der Kindheit verinnerlichten Rituals abhängt.

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18. Zu entsprechenden Überlegungen in Lessings Hamburgischer turgie von 1767 (11. und 27. Stück) vgl. Wilpert: 110 f.

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19. Ich referiere im folgenden die Darstellung eines verbreiteten zeitgenössischen Lehrbuchs der Philosophie: Gottsched 1733: § 451 - 460. 20. Vgl. Gottsched 1751: 1 7 0 - 224 (V. und VI. Hauptstück). Eine knappe Übersicht über die zeitgenössische Diskussion gibt Wilpert: 105 - 112. 21. Dahin gehören z. B. der konventionelle Musenanruf oder die Tierfabel. Niemand wird dabei auf die Idee kommen, daß es wirklich Musen gibt oder sprechende Tiere. 22. Vgl. dazu den knappen Überblick über die wichtigsten Titel zur Diskussion über die Möglichkeit von Gespenstern im 18. Jahrhundert bei Wilpert: 9 8 - 105. 23. Vgl. dazu die Formulierung bei Gottsched 1733: § 401: "Auch heute zu Tage erkennet man noch bey weitem nicht die Gründe alles dessen, was in der Welt verhanden ist. Gleichwohl macht unsre Unwissenheit nicht, daß solches aufhöre natürlich zu seyn." Ein illustratives Beispiel aus der zeitgenössischen Philosophie für den Versuch, unerklärte und für abergläubische Deutungen offene Phänomene ohne zureichende naturwissenschaftliche Grundlagen dennoch physikalisch zu erklären, findet sich bei Wolff: § 336, wo Wolff versucht, das Phänomen der Irrlichter im Moor zu erklären. Er geht von dem Glauben aus, es handle sich um eine Geistererscheinung und "es habe der Teuffei sein Werck dabey"; er nimmt nun in seine Aufzählung der Merkmale alles auf, was im Volksaberglauben von den Irrlichtern gesagt wird, so z. B. daß sie "denen sich näherten, die beteten, und denen vom Halse giengen, die tapffer fluchten". Diese Merkmale werden nun als empirisch richtig beobachtete Phänomene physikalisch erklärt, indem Wolf von der Annahme ausgeht, daß es sich bei den Irrlichtern um ein Gas mit den Eigenschaften der Luft handelt: "Wenn einer in Furcht ist und mit starckem Seuffzen betet; so zieht er die Lufft an sich, und kan daher wohl geschehen, daß dadurch das Irrlicht, was nicht allzuweit von einem ist, mit der zuschiessenden Lufft näher zu einem gezogen wird. Hingegen wenn einer fluchet und poltert; so stosset er die Lufft starck heraus und machet mit Händen und Füssen

"Wunderliche Fantasie"

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einen Wind: derowegen kan es auch gar wohl geschehen, daß dadurch das Irrlicht von einem gestossen wird." 24. Vgl. auch Kant: 950: "Nunmehro kann man nicht verlegen sein, von denen Gespenstererzählungen, die den Philosophen so oft in den Weg kommen, imgleichen allerlei Geistereinflüssen, von denen hie oder da die Rede geht, scheinbare Vernunftgründe anzugeben. Abgeschiedene Seelen und reine Geister können zwar niemals unsem äußern Sinnen gegenwärtig sein, noch sonst mit der Materie in Gemeinschaft stehen, aber wohl auf den Geist des Menschen, der mit ihnen zu einer großen Republik gehört, wirken, so, daß die Vorstellungen, welche sie in ihm erwecken, sich nach dem Gesetze seiner Phantasei in verwandte Bilder einkleiden, und die Apparenz der ihnen gemäßen Gegenstände als außer ihm erregen." 25. Vgl. Kant: 958: "Die gemeine Geistererzählungen laufen so sehr auf dergleichen Bestimmungen hinaus, daß sie den Verdacht ungemein rechtfertigen, sie könnten wohl aus einer solchen Quelle entsprungen sein. Und so ist auch der gangbare Begriff von geistigen Wesen [...] dieser Täuschung sehr gemäß, und verleugnet seinen Ursprung nicht." Wilpert: 101 - 103, kontaminiert Zitate aus beiden Kapiteln, ohne zu bemerken, daß Kant hier von zwei völlig unterschiedlichen Hypothesen ausgeht. Dadurch entsteht ein ganz falsches Bild von Kants Argumentation. 26. Wie dieser Stand der Naturwissenschaft und Naturphilosophie auch als Argumentationsbasis für die Verteidigung des tradierten christlichen Glaubens an die Möglichkeit von Geistererscheinungen Verstorbener verwendet werden konnte, zeigt sich beispielhaft bei Jung-Stilling. Zur Reaktion der Spätaufklärung auf diesen Diskussionsstand vgl. Wieland 1805.

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Ludwig Stockinger

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Wunderliche Fantasie"

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Monika Ritzer

"DASS DAS WUNDERBARE NUR SCHEINBAR IST UND BLOSSES SPIEL"? REALISATIONEN DES PHANTASTISCHEN IN DER DEUTSCHEN LITERATUR DES 19. JAHRHUNDERTS Als der junge Hofmannsthal den Modemen Musenalmanach auf das Jahr 1893 rezensiert, ist sein Eindruck zwiespältig. Die "Moderne", die sich hier präsentiert - Maler wie Uhde, Thoma und Stuck; Dichter wie Hartleben, Henckell, Bleibtreu, Holz und Schlaf - , ist in der Tat, wie das Vorwort behauptet, "zu vielfaltig, um mit ein paar Worten 'erschöpft' zu werden". Doch kann man die Beiträge "gruppieren", und dann zeigt sich etwas Eigentümliches: "Vorherrschend ist" nämlich, so Hofmannsthal, "das phantastische Element". Es regt sich ein Heimweh nach Märchenpracht, [...] nach romantischer Flucht aus dieser Welt der deutlichen Dinge. Namentlich die Farbenfreude und Farbensucht machen sich wunderlich und aufdringlich geltend. Die rosigen Wolken, des Flieders Lilafarbe und die bernsteingelbe Glorie des ganzen Mondes leuchten immer wieder auf, und immer wieder gehen die prunkenden Bilder schwarzer Schwäne [...] und amethystener Hügel vorüber. (Hofmannsthal 1979: 169 ff.) 1

Zu diesem, wie es Hofmannsthal nennt, "naiv-phantastischen Element" ästhetischer Verdichtung gesellt sich als weitere Form des Phantastischen eine "geistreiche und komplizierte Phantasie, die das Fernste und Wunderbarste mit dem lebendigsten verwandtesten Leben erfüllt", indem sie altbekannte mythologische Geschöpfe (Faun, Engel, Tod) mit der plastischen Manier des späten 19. Jahrhunderts "fast körperlich fühlbar" macht (169 f.). Auch diese Form des Phantastischen ist freilich durch eine Weltferne geprägt, der sich die zweite, kleinere Gruppe von Beiträgen widersetzt. Hier zeigen sich "lebendig-bunte, nüchtern-poetische" Bilder, wie in der Lyrik von Arno Holz, oder gar qualvoll genaue Schilderungen, wie in einem Prosafragment Johannes Schlafs. Doch erkennt Hofmannsthal hinter solchem Naturalismus weniger künstlerisches Interesse an der Natur als eine forcierte Gegenposition: "ein gewaltsames Hinabpressen der eigenen Sehnsucht nach Schönheit und Kunst vor den Forderungen des allgemeinen, des gemeinen Elends" (172 f.).

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So findet der Rezensent zwei konträre Antworten auf die Frage, "was Kunst und Leben miteinander zu schaffen haben": Zum einen die Fixierung auf ein von Häßlichkeit entstelltes Leben; zum andern den Eskapismus derer, die dem entfliehen ins Reich der Phantasie. In den Versen Paul Scheerbarts: Laß die Erde [...]! / Laß sie liegen, bis sie fault. / Über schwarzen Wiesen triften / Fliegen große Purpurengel, / Ihre Scharlachlocken leuchten / In dem grünen Himmel /Meiner Welt... (173)

Da sich das Leben den Bedürfnissen der Phantasie verweigert, hat die Phantasie, wie Hofmannsthal sieht, die Bindung zum Leben gekappt: Ja alle unsere Schönheits- und Glücksgedanken liefen fort von uns, fort aus dem Alltag, und halten Haus mit den schöneren Geschöpfen eines künstlichen Daseins. [...] Bei uns aber ist nichts zurückgeblieben als frierendes Leben, schale öde Wirklichkeit. (174)

Diese Divergenz ist durchaus zeittypisch. "Heute scheinen zwei Dinge modern zu sein", notiert Hofmannsthal in einem Essay über D'Annunzio: "die Analyse des Lebens und die Flucht aus dem Leben [...]. Man treibt Anatomie" (der Verhältnisse wie der eigenen Seele) "oder man träumt, Reflexion oder Phantasie, Spiegelbild oder Traumbild. [...] Modern ist das psychologische Graswachsenhören und das Plätschern in der reinphantastischen Wunderwelt [...]; das Zerschneiden von Atomen und das Ballspielen mit dem All" (176). Neben der "Mikroskopwahrheit" der Wissenschaft, die nur Faktum und System kennt, erhebt sich die "Traumwahrheit" der Kunst mit wunderbar geheimen Bezügen. Für die Flucht ins Phantastische nennt Hofmannsthal zwei Gründe: Zum einen die Lust am Aufsprengen einer als beengend empfundenen Realität Symbol des "unsterblichen, des notwendigen Aberglaubens, des [...] Durstes nach dem Wunder, [...] der gerade die sehr positiven, sehr logischen [...] Menschen unwiderstehlich" befallt (136). Zum andern die Sehnsucht nach dem Sinn, dem "großen Weltzusammenhang" (192) - eine Sehnsucht, die am Ende dieses naturalistisch gewordenen Jahrhunderts nur noch in einer ästhetizistischen Gegenwelt Befriedigung findet: im "Rausch der Phantasie" und durch die Magie der Kunst.2

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Nun ist der junge Hofmannsthal selbst weit davon entfernt, einer schlechthin mimetischen Form von Dichtung das Wort zu reden; doch bedrückt ihn deren Realitätsverlust. Mit "Phantastik" kritisiert er daher, wie deutlich wurde, den Ästhetizismus einer quasi "wurzellos" gewordenen Kunst3, in der sich Autor wie Leser dem Leben verweigern, das Sich-Verlieren in der phantastischen Bezauberung des Gedichteten, als ein Vergessen des eigenen Daseins [...], eine kurze und schale Faszination (78).

I Hofmannsthals Wortgebrauch reflektiert die Krise, in der das Phantastische wenige Jahre vor der Wende zum 20. Jahrhundert steckt: aufgerieben zwischen einem Naturalismus, der sich aller fiktiv-poetischen Elemente entschlägt, und einem Ästhetizismus, der jeden mimetischen Aspekt negiert. Denn phantastische Literatur - hierzu ein paar Vorbemerkungen - braucht im Prinzip beides: den Wirklichkeitsbezug wie die Autogenität einer fiktiven Welt. "Phantastik" bezieht sich seit der frühen Neuzeit auf eine Extension, ja Hypertrophie der Phantasie. Die aber wird für die Literatur erst dort relevant, wo die künstlerische Einbildungskraft ein Maß in Gestalt der fiktionstranszendenten Welt erhält - einer Welt, deren Eigenheit sich zunächst im Begriff der "Natur" artikuliert, ehe sie mit der Erschließung spezifischer Natur-Gesetze (im späten 18. Jahrhundert) eigene Dimension gewinnt. Phantastik in der Literatur finden wir daher erst dort, wo die Autogenität der fiktiven Welt (im Text) in dezidierten Gegensatz zu den Normen und Gesetzen des herrschenden Wirklichkeitsbegriffs4 tritt. Der Leser registriert dann einen Bruch mit seiner Erfahrungswelt; die fiktive Wirklichkeit erscheint ihm "phantastisch". Das heißt: Ihre Formen und Bestimmungen sind ihm im Rahmen seines Wirklichkeitsbegriffs nicht mehr verständlich ohne daß der Text andere (mythische, allegorische, poetische) Verständnisweisen evozieren würde. Denn formt sich die fiktive Welt zum gänzlich autonomen Raum, so fehlt die phantastische Qualität; wir leben dann im Mythos, im Märchen, im Kunstwerk.

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Die bekannten Theorien phantastischer Literatur - wie die Todorovs (1972) - konstatierten als Grundbedingung des Phantastischen daher stets die Polarität von Norm (textexterne Wirklichkeit, Mimesisprinzip) und Abweichung (Irrealismen, Irrationalismen). Was bei den Analysen dieser primär strukturalistischen Phantastik-Forschung allerdings in den Hintergrund trat, ist die Historizität dieser Polarität.5 Der Dualismus zwischen Natürlichem und Übernatürlichem, den die phantastische Literatur in Kunstintention, Textaufbau und Wirkungsästhetik voraussetzt, ist in dieser Form ja ein Produkt des 19. Jahrhunderts, das in seinem Verlauf gerade geprägt ist durch den spannungsvollen Übergang von ideellen Voraussetzungen (Religion, Idealismus) zu den natürlich-materiellen Begründungen der neu etablierten Wissenschaftsdisziplinen. Von daher endet jener Dualismus auch im frühen 20. Jahrhundert, wo die naturgesetzlich bestimmte Welt (für die Künstler) ihre Substantialität verliert und Bewußtseinsphänomene integriert. Diese historischen Bedingungen wären bei der Diagnose des Phantastischen eigentlich zu berücksichtigen, ebenso wie die wechselnden Funktionen, die seine dualistische Struktur im Wandel der Zeiten erfüllen kann. Hier setzen daher die folgenden Ausfuhrungen an: Der kleine und notwendig kursorische Streifzug durch die Literatur des 19. Jahrhunderts soll, in Theorie wie Praxis, Genese, Spielraum und Grenzen des Phantastischen erhellen. II Beginnen wir eine Jahrhundertwende früher, in der Epoche der Romantik. Sie teilt mit den Epigonen um 1900 die, so Hofmannsthal, "Unzufriedenheit mit der Welt" (Hofmannsthal, 226). Doch ist ihre Lösung des Problems zunächst noch nichtphantastisch: Unter dem rein idealistischen Aspekt der Frühromantik sind Phantasie und Leben nämlich nicht prinzipiell getrennt. "Unzufriedenheit mit der Welt" - das meint im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts die Reserve gegen die aufgeklärte Welt verständiger Praxis, in der man (wie es in E. T. A. Hoffmanns Märchen Klein Zaches heißt) Wälder umhaut, den Strom schiffbar macht, Kartoffeln anbaut, Dorfschulen verbessert und die Kuhpocken einimpft (Hoffmann 19852: 16). All das optimiert gewiß das "Alltagsleben" der "Philister", meinen Frühromantiker wie Novalis

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über jene, die keine höheren als "irdische" Zwecke kennen (Polheim 140); doch es läßt den Menschen in seinem Wesen verkümmern. Friedrich Schlegel sieht daher hier geradezu einen "Quell der Gemeinheit": Denn "alles ist gemein, was gar nichts hat vom Weltgeiste, der Philosophie und der Poesie" (Polheim 83) - Sphären, Vermögen, die den Menschen erst seiner ursprünglichen Freiheit und idealen Bestimmung zufuhren. Erst im Denken, im Dichten verwirklicht sich der Mensch. Denn beides sind kreative Tätigkeiten, und der Mensch ist, als geistig-moralisches Wesen, Subjekt, also schöpferisches Prinzip seiner Welt. "Die erste Idee ist natürlich die Vorstellung von mir selbst, als einem absolut freien Wesen", heißt es im sogenannten Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus. Und weiter: "Mit [diesem] freien, selbstbewußten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt - aus dem Nichts hervor" (Frank/Kurz 110). Damit gewinnen Kunst und Künstler, Inbegriff der Weltbildung, zentrale Bedeutung. "Der Mensch dichtet gleichsam diese Welt", sagt Friedrich Schlegel; aber nur der Künstler weiß es und realisiert bewußt sein weltbildendes Potential. In dieser Produktionsästhetik erhält die Phantasie eine prominente Position. Sie wird, als transzendentales Vermögen des autonomen Subjekts, zum alleinigen Ursprung von Dichtung überhaupt. "Ja keine Nachahmung der Natur", schreibt Novalis; "die Poesie ist durchaus das Gegenteil" (Polheim 151). Dichtung kann nur dann zur reinen Offenbarung des Geistes werden, wenn sie jedes bedingende Moment und damit jeden mimetischen Aspekt von vornherein vermeidet. Kunst ist (so August Wilhelm Schlegel) ganz poiesis, und das meint: "frei schaffende Wirksamkeit der Phantasie", die sich - und hier liegt der wesentliche Punkt - ganz selbst das Gesetz gibt (Polheim 80). Damit wird schon deutlich, was die romantische Phantasie von allen späteren Konzeptionen unterscheidet: Sie ist absolut. "Die romantische Dichtart", so Friedrich Schlegel, "ist allein unendlich, weil sie frei ist, und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide" (Polheim 80). Romantische Poesie strebt daher nach Unabhängigkeit von äußeren Voraussetzungen oder Transzendierung der Gegenstandsbedingungen. "Ein reiner Gedanken - ein reines Bild - eine reine Empfindung" werden, so Novalis, nicht "durch ein correspondirendes Object er-

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weckt", sondern durch die "außermechanische Kraft" einer spontan assoziativen Phantasie (Novalis 1960 ff.: Bd. 4, 430). Daher entbehren die frühromantischen Werke noch jener Interferenz der Wirklichkeitsbereiche, die phantastische Literatur ausmacht. Ein Roman wie Novalis' Heinrich von Ofterdingen ist zwar als Werk der Phantasie tendenziell a-mimetisch; aber er wäre nicht "phantastisch" zu nennen. Denn die poetische Imagination erschließt für Novalis zwar das "Unbekannte, Geheimnisvolle", sie "sieht das Unsichtbare, fühlt das Unfühlbare" (Polheim 144). Doch diese Übersinnlichkeit entsteht durch die Konstruktion einer Welt aus dem Geiste, der zeichenhaft, durch Bilder und Symbole Ganzheit reflektiert. Novalis' Roman bewegt sich daher von einem reliktär mimetischen Beginn, in dem Heinrichs Traum von der blauen Blume noch als "Schutzwehr gegen die [...] Gewöhnlichkeit des Lebens" und "freie Erholung der gebundenen Phantasie" (Novalis 31987: 134) fungiert, zur Totalität einer höheren, rein nach ideellen Prinzipien gestalteten Welt.6 In einem derart "echt poetischen Buche" wäre jeder Dualismus aufgehoben: Es wäre, so Novalis, "alles so natürlich - und doch so wunderbar".7 Wir sehen: Romantische Phantasie kompensiert nichtgegebene Realität - sie erzeugt vielmehr, so Novalis, das "echt absolut Reelle" (Polheim 144): die eigentliche Wirklichkeit. III

Doch schon für die zweite Generation der Romantiker erhält die andere, die Lebensrealität neues Gewicht. Zwar trägt noch der idealistische Glaube an die weltbildende Kraft des Geistes; aber das Vertrauen in die Absolutheit der Phantasie schwindet in dem Maße, wie die Erfahrungswirklichkeit im 19. Jahrhundert an Eigenwert gewinnt. 1815/16 erscheint ein Werk, das die von Friedrich Schlegel stets beschworene "Willkür und Laune" der dichterischen Phantasie (Schlegel 258) auf die Spitze treibt und damit zugleich die Diskussion über Potential und Funktion dieser Phantasie initiiert: E. T. A. Hoffmanns Elixiere des Teufels. Der Roman - die Biographie des Mönchs Medardus, der nach dem Genuß sinnlich berauschender Elixiere das Kloster verläßt und eine von haarsträubenden Erlebnissen durchzogene Rom-Reise unternimmt - ist durch die

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Dialektik von Lebenschaos und ideeller Ordnung strukturiert. Im Visier hat Hoffmann die Ordnung: eine gleich teleologische Stringenz, wie sie des Novalis' Held besaß. Im Vorwort versichert der fiktive Herausgeber daher dem Leser, es werde "das gestaltlos Scheinende, sowie du es schärfer ins Auge faßt, sich dir bald deutlich und rund darstellen".8 Und Hoffmann selbst schreibt an seinen Verleger, er habe mit seinem Buch nichts Geringeres gewollt, als in dem krausen, wunderbaren Leben eines Mannes, über den schon bey seiner Geburt die himmlischen und dämonischen Mächte walteten, jene geheimnißvollen Verknüpfungen des menschlichen Geistes mit all' den hohem Prinzipien, die in der ganzen Natur verborgen und nur dann und wann hervorblitzen, welchen Blitz wir dann Zufall nennen, recht klar und deutlich zu zeigen. (Hoffmann 1967/8: Bd. 1, 454)

Antithetische Formulierungen wie "wunderbares Verhängnis" (48) oder "wahre geheime Beziehung des Zufalls" halten daher im Verlauf des wirren Geschehens die biographische Sinntendenz präsent: den "geheimen Faden", der sich "durch unser Leben zieht" (79), als Zeichen des "über uns, in uns waltenden höheren Geistes".9 Doch im Gegensatz zu Novalis stellt sich diese ideelle Qualität bei Hoffmann nicht mehr progressiv, sondern nur noch regressiv dar. Und vor allem: Im Zentrum des Romans steht nicht mehr die geistige Dimension, sondern das Leben, das des Teufels ist. (Denn im spätromantischen Weltbild erscheint auch der Bereich des Objektiven als antagonistisches Prinzip.) - So verweist schon das Vorwort auf einen "verborgenen Keim", den ein dunkles Verhängnis gebar, und der [...] fort wuchert in tausend Ranken, bis eine Blüte, zur Frucht reifend, allen Lebenssaft an sich zieht, und den Keim selbst tötet. (8)

Grund des teuflischen Verhängnisses ist die Sünde wider den Geist, der alle Figuren des Romans schuldig werden, vom Urahn, der durch "freveliche Triebe" (Sexualität, Ruhmsucht) dem "Irdischen" verfallt (233), bis herab zu Medardus. Mit diesem Fall in die Sinnlichkeit aber geraten sie gleichsam auf die Nachtseite der Welt, auf der die geistigen Bezüge "dämonisch" verzerrt erscheinen, so daß Sinn-Verwirrungen zu immer neuen Verbrechen reizen.10

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Chaos herrscht folglich im Geschick des Helden. Der Leser hat, wie der Herausgeber warnt, mit Medardus durch die "bunteste Welt zu ziehen, und [...] das Schauerliche, Entsetzliche, Tolle, Possenhafte seines Lebens zu ertragen" (8). Zwar nutzt Hoffmann phantastische Motive dazu, um die Spannung zwischen Chaos und Ordnung zu markieren. So hat etwa der Fremde, der Medardus im Kloster zum Genuß der Elixiere provoziert, eine klare ideelle Bedeutung. Doch tritt diese hinter des Autors Lust am "Schauerlichen" zurück: [Der Mann] hatte auf seltsam fremde Weise einen dunkelvioletten Mantel umgeworfen [...]. Sein Gesicht war leichenblaß, aber der Blick der großen schwarzenstieren Augen fuhr wie ein glühender Dolchstich durch meine Brust. Mich durchbebte ein unheimliches grauenhaftes Gefühl [...] Wie von einer fremdenzauberischen Gewalt getrieben, mußte ich immer wieder hinschauen, und immerstarr [...] stand der Mann da, den gespenstischen Blick auf mich gerichtet. (33)

Literaturhistorisch knüpft Hoffmanns Roman daher an Motivik und Stil der Schauerliteratur, der Gothic Novel nach dem Muster von Matthew Lewis' Ambrosio, the Monk (1796) an - ein spätaufklärerisches Genre, das durch ein düsteres Szenarium aus unheimlichen Schauplätzen, fatalen Verwechslungen und verbrecherischen Figuren den Eindruck vermittelt, daß im Dasein statt der aufklärerischen Werte (Ratio, Autonomie und Gesetz) das Sinnlose (Irrationalität, Heteronomie, Kontingenz) dominiert. Diese Rolle der Phantasie provoziert Kritik - zuerst die des Autors selbst. Wenige Jahre später geht Hoffmann auf Distanz zu seinem Roman: "Ich möchte beinahe wünschen", heißt es in den Serapions-Brüdern, "jenes fantastische Buch [...] nicht in die Welt geschickt zu haben" - sieht es doch so intensiv "in die schauerliche Tiefe der Natur", daß es den Blick des Lesers fixiert auf den Verfall und damit ein verzerrtes Bild erstellt (28 f.). Zur Diskussion steht nun - in dem fiktiven Freundeskreis, dessen Gespräche den Rahmen abgeben für die eingelagerten Erzählungen - die Funktion der Phantasie, die zwar unwidersprochen Begriff und Qualität der Kunst ausmacht, die aber zu einer "Fantastik"11 entarten kann, in der das "Wunderbare" "Maß und Ziel" verliert und daher "Verstand und Geist [verwirrt]" (52). Indem Hoffmann so das "Fantastische" als Grenzbereich der intellektuellen

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Anschauung definiert, rücken Bedingung, Gegenstand und Zweck der Phantasie auf ganz neue Weise ins Blickfeld. Hoffmanns Lösung ist, wie bekannt, das "Serapiontische Prinzip". Der Namensgeber, Held der ersten Geschichte, zieht sich von der Welt zurück, um, wie er meint, als Inkarnation des Priesters Serapion, eines frühchristlichen Märtyrers, einsiedlerisch im Wald zu hausen. Man unternimmt verschiedene erfolglose Versuche, den sichtlich geistig Verwirrten für die Welt zurückzugewinnen. Schließlich schickt sich Cyprian, der Erzähler der Geschichte, an, "Serapions fixe Idee an der Wurzel anzugreifen" (20), indem er ihn systematisch mit der Realität konfrontiert: Er verweist auf die Historizität des frühchristlichen Priesters, auf die Topographie der Einsiedelei, auf die Wahmehmbarkeit dessen, was wirklich sei. Doch Raum und Zeit bieten für Serapion keine Anhaltspunkte, um "Einbildung" von Realität zu unterscheiden. Denn nur der Geist, so Serapion, erzeuge schließlich Wirklichkeit: Viele haben [...] gemeint, ich bilde mir nur ein, das vor mir im äußern Leben wirklich sich ereignen zu sehen, was sich nur als Geburt meines Geists, meiner Fantasie gestalte. Ich halte dies nun für eine der spitzfindigsten Albernheiten [...]. Ist es nicht der Geist allein, der das, was sich um uns her begibt in Raum und Zeit, zu erfassen vermag? Ja was hört, was sieht, was fühlt in uns? - vielleicht die toten Maschinen, die wir Auge - Ohr - Hand etc. nennen [...]? [...] Ist es nun also der Geist allein, der die Begebenheiten vor uns erfaßt, so hat sich das auch wirklich begeben, was er dafür anerkennt.

Daher sei es nur "Mangel höherer Erkenntnis", meint Serapion, wenn der geistige Mensch den "Gebilden seiner Fantasie" die äußere Existenz bestreite und das, "was er vermöge seiner besonderen Sehergabe vor sich in vollem Leben erschaue, in den engen Raum seines Gehirns einschachteln wolle" (26).

Wir begegnen hier noch einmal dem absoluten Anspruch des Geistes, den wir aus der Frühromantik kennen. Doch Hoffmann relativiert ihn durch seine Figur: Der sich für Serapion haltende Graf P. ist, nach menschlichem Ermessen, verrückt. Zwar zieht sich Cyprian, beeindruckt von der spirituellen Kraft und beschämt über seine eigene banal realistische Argumentation, zurück. Doch auch ihn befallt Unbehagen ob des "methodischen Wahnsinns, in dem [Serapion] das Heil seines Lebens fand" (27). Wie aber wäre dieser

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"Serapionismus" (in Leben wie Kunst) von der prinzipiellen Intellektualität jeder höheren Weltsicht zu trennen? Im Verlauf der Gespräche12 kommt man schließlich zu einem Resultat, das Geist und Empirie vermittelt. "Es gibt eine innere Welt, und die geistige Kraft, sie in voller Klarheit [...] zu schauen", stellt ein Gesprächsteilnehmer fest; "aber es ist unser irdisches Erbteil, daß eben die Außenwelt, in der wir eingeschachtet, als der Hebel wirkt, der jene Kraft in Bewegung setzt." Wenn Serapion daher mit grauenhaftem Scharfsinn [behauptete], daß es nur der Geist sei, der sehe, höre, fiihle, [...] so [vergaß er], daß die Außenwelt den in den Körper gebannten Geist zu jenen Funktionen der Wahrnehmung zwingt nach Willkür (54 f.).

So bestand Serapions "Wahnsinn" nur darin, daß er "die Erkenntnis der Duplizität" verlor, "von der eigentlich allein unser irdisches Sein bedingt ist" (ebd.). Diesen neuen Dualismus berücksichtigt das "Serapiontische Prinzip" (56): Demnach bleibt der Geist Organ einer höheren Schau, die sich im "Wunderbaren" der Dichtung offenbart; noch liegt der Akzent bei Hoffmann ganz auf der Idee. Doch weiß sich der Geist (im Leben) nun gebunden an die Erfahrung, die allem Spirituellen die Bedingungen vorgibt - sei es, daß das Gegenständliche die Inspiration initiiert, sei es, daß sie den inneren Bildern Ausdruck verleiht. Diese epochal neue Überlagerung der Wahrnehmungsbereiche wird Hoffmanns großes Thema; sie prägt seine Texte nach Konfliktentwurf, Handlungsaufbau, Figurenkonstellation und Wirkungsästhetik. Wir sehen uns daher stets mit beiden Bereichen, dem "Wunderbaren" und der Pragmatik, konfrontiert: Wir begegnen Magiern wie Philistern, erheben uns mit den Helden über das Irdische zur Idee oder werden durch das Schicksal der Helden vor der Sogkraft der Phantasie gewarnt. Denn fehlt die Erkenntnis der Wirklichkeit, dann kommt es zur Verabsolutierung des Geistes, der den Bildern seiner Innenwelt verfallt {Sandmann). So erzielt Hoffmann durch die Vermischung von ideellen Strukturmotiven und Gegenständlichkeit in mimetischer Plastizität jene Interferenz der Seinsebenen, die ihn zum Stammvater der (hauptsächlich in Frankreich kultivierten) phantastischen Literatur werden ließ.

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IV Wir bleiben im deutschen Sprachraum, gehen nur ein, zwei Jahre weiter und passieren damit doch zugleich eine Epochengrenze, die durch die neue Relevanz der von Hoffmann beschworenen "Außenwelt" entsteht. 1817, kurze Zeit nach den Elixieren des Teufels und wohlbekannt mit dergleichen Schauerliteratur, verfaßt der junge Franz Grillparzer eine "Geistergeschichte" fürs Theater mit dem vielsagenden Titel Die Ahnfrau, die Kontinuität und Innovation des Phantastischen in der Restaurationsliteratur deutlich macht. Im Mittelpunkt des Stücks stehen Graf Borotin und seine Tochter Bertha, die Letzten eines einstmals vornehmen Geschlechts, das durch eine Reihe rätselhafter Geschehnisse dem Untergang geweiht scheint. Diese Frage nach dem Grund der innerfamiliären Dekadenz ist das uns interessierende Moment. Hier überschneiden sich nämlich zwei Verständnisweisen, die wiederum zwei verschiedenen Wirklichkeitsbereichen - einem phantastischen und einem empirischen - zuzuordnen sind. Graf Borotin selbst neigt zu einer ideellen Deutung seines Geschicks, wie sie Hoffmanns fiktiver Herausgeber dem Leser der Elixiere nahelegte. Als der alte Graf zu Beginn des Dramas die Mitteilung vom Ableben seines letzten Verwandten erhält, verdichtet sich ihm diese Reihe von Schicksalsschlägen, die ihm drei Brüder und den einzigen Sohn kostete, zur Vision einer fatalen Kette, die in der Ahnfrau - der, wie die Sage geht, sündigen Stammutter seines Geschlechts - ihren Anfang nimmt. Der Gedanke scheint für den Zuschauer keineswegs unbegründet. Denn atmosphärisch dichte Regieanweisungen ("gothische Halle", "später Winterabend"), fatale Requisiten ("verrosteter Dolch") und eine morbide Metaphorik - Stilmittel, die Grillparzer vom modischen Genre des Schicksalsdramas übernimmt suggerieren Fatalität. Und schließlich wandelt die Ahnfrau tatsächlich (in Berthas Gestalt) über die Bühne, wann immer ihrem Geschlecht Gefahr droht. Das aber ist forciert der Fall: Der junge Jaromir, der Bertha vor Räubern errettete und dafür ihre Liebe erhält, entpuppt sich als Anführer eben dieser Räuber - wenngleich innerlich zerrissen über seine Räuberexistenz. Und nicht genug: Im Kampf gegen die ihn verfolgenden Soldaten verletzt er Graf Borotin tödlich, kurz bevor beide erfahren, daß sie Vater und Sohn sind;

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Jaromir wurde als Kind von den Räubern geraubt. Somit ist Jaromir, ohne Wissen und Willen, Vatermörder und Geliebter der Schwester. Bertha bricht unter der Last dieser Erfahrung zusammen; Jaromir wird, an sich und der Welt verzweifelnd, von der Ahnfrau zur letzten Ruhe gebettet. Wir erkennen die Parallelen zu Hoffmanns Elixieren: Wieder leiden Figuren an der Unbegreiflichkeit eines heteronomen, ja antinomischen Lebens, das sie durch fatale Täuschungen zu den schauerlichsten Verbrechen treibt. Und wieder zeigt sich hinter Chaos und Kontingenz als tieferer Sinn die Genealogie der Sünde. An diesem Punkt aber divergieren die beiden Texte: Hoffmann vergegenwärtigte durch Phantastik die Idee - Grillparzer thematisiert durch Phantastik den Status der Idee selbst. Während daher der Leser der Elixiere die visionären Bilder "für mehr halten" sollte als "das regellose Spiel der erhitzten Einbildungskraft" (Hoffmann 1986: 7 f.), zielt die Motivationstechnik Grillparzers ganz darauf ab, solche Bilder durch Illusionssignale zu relativieren - ohne sie damit freilich zu bloßen Bewußtseinsphänomenen zu machen. So verschwimmt die theatralisch präsente Ahnfrau im Zwielicht der Phantastik. Durch Begriffe wie "Glaube" oder "Märchen", mehr noch durch Hinweise auf erregte Sinne (V. 428), Wahnbilder und Phantome (V. 850 f.), Phantasie (V. 944 f.) und Spiegelungen (V. 3094 f.) geht der Text auf Distanz zur Perspektive der Figuren und unterhöhlt so die Objektivität des geistigen Aspekts. Nur die Unerträglichkeit des "wüsten, wirren Lebens" (V. 2368), das in nichts den menschlichen Erwartungen entspricht13, provoziert - wie Grillparzer durch eine psychologisch subtile Personenregie zeigt14 - die tröstliche Vision höherer Mächte. Denn genau betrachtet sind die Schicksalsschläge im Grafenhaus "alltägliche" Geschichten, eine Mischung aus Zufall und Unglück - bloße sinn-freie Empirie also, wie Grillparzers Drama durch die Pragmatik seiner Motivierung schonungslos enthüllt. Kritische Zeitgenossen registrierten diese neue Spannung zwischen Vision und Sachlichkeit sofort. So moniert Ludwig Börne in seiner Rezension der Ahnfrau Grillparzers "Materialismus", durch den das Stück der erhebenden Funktion des idealistischen Dramas nicht mehr gerecht werde (Börne Bd. 1: 235 f.). Nur kann sich Börne nicht erklären, warum der so pragmatische junge Autor noch ein phantastisches Motiv wie die Ahnfrau bemüht. Wäre

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das Gespenst tatsächlich bloße Illusion - Börne bemerkt natürlich die Psychologisierungstechnik - , wieso macht Grillparzer es dann auf der Bühne sichtbar? Die Lösung dieser komplizierten Ästhetik, und damit auch die innovative Funktion der Phantasie, findet sich in Notizen, die Grillparzer zum besseren Verständnis der Ahnfrau niederschrieb. Ideelle Deutungen (wie die Genealogie der Sünde) sind, so der Autor, nur Versuche des menschlichen Geistes, dem in seiner Empirie sinnlosen Leben einen Sinnzusammenhang einzuzeichnen. Tausend Dinge, die wir nicht begreifen, tausend Schickungen, deren ausgleichenden Grund wir nicht einsehen [...] machen uns irre, die Gewohnheit, Erscheinungen, die aufeinander folgen, in dem Verhältnisse von Ursache und Wirkung zu betrachten, trägt das ihre bei. Daß dem wirklich so ist, zeigt der so allgemein verbreitete Glaube an: Glück, Zufall, Vorbedeutung usw. (I. 14,16)

Der Fakta reihende Verstand vermag solche Sinnzusammenhänge nicht zu fassen. Nur der Phantasie gelingt es, "die hier und dort sichtbaren Ringe der in Dunkel gehüllten Kette" zu verknüpfen und bis in die Sphären geistiger Synthese zu führen. Dabei genügt ihr die "Ahnung"; im Gegensatz zu Religion und Philosophie - die für den kritisch eingestellten Grillparzer der Vergangenheit angehören - bedarf sie nicht des metaphysischen Wissens. "Die Phantasie ist zufrieden, ihr Gebäude bis zu einer Höhe gefuhrt zu haben, deren Entfernung ein klares Weiterschauen unmöglich macht und ergötzt sich an den verfließenden Umrissen". In dieser Offenheit sind die Visionen der Phantasie, "obschon für die Philosophie verwerflich, für die Poesie von höchster Wirkung": Denn "was könnte ihren Phantasiegebilden erwünschter sein, als ein von der Phantasie selbst gemalter Hintergrund"? (17) Gerade wenn der geistige Aspekt nur noch poetische Geltung besitzt, entspricht er dem Wesen der Kunst, die Grillparzer zwar nicht mehr, wie Novalis und Hoffmann, als metaphysisches Vermögen begreift, der er aber weiterhin einen ideellen Zweck zuweist. Im Tagebuch notiert Grillparzer zu dieser Funktion: "Ohne Ahnung vom Übersinnlichen wäre der Mensch allerdings ein Thier; eine Überzeugung davon ist allerdings nur für den Thoren möglich" (T 753).

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So vermittelt die Ahnfrau die "Idee", ohne daß der Zuschauer Gewißheit über die Wirklichkeit dieser geistigen Welt gewinnt. Denn, so der Autor: Im Drama sprechen die handelnden Personen, und hier liegt es in der Macht des Dichters ihre Charaktere so zu stellen, [...] daß die Idee [...] in ihnen entstehen muß. [...] Aber nie trete der Dichter vor und erkläre den Glauben seiner Personen für den seinigen. [...] Immer bleibe für den Zuschauer unausgemacht, ob er dem launichten Wechsel des Lebens oder einer verborgenen Waltung das schauderhafte Unheil zuschreiben soll, er selber ahne das letztere, es werde ihm aber nicht klar gemacht, denn ein ausgesprochener Irrtum stößt zurück. (18)

Diese für die Literatur der Restaurationszeit durchaus charakteristische Suspension der Idee steht hinter dem Paradox der dramatisch realisierten und zugleich illusionär bleibenden Ahnfrau. Phantastischen Motiven kommt in diesem Kontext, wie wir sahen, besondere Bedeutung zu - kann die spezifisch phantastische Unschlüssigkeit (Todorov), welchem Wirklichkeitsbereich ein Phänomen zuzuordnen wäre, doch gerade die labile Position geistiger Bilder vermitteln. So findet die Idee - nach dem Idealismus - ein Refugium in der Phantasie, die der zunehmend bedrohlicheren "Außenwelt" (Hoffmann) ein nur noch ästhetisch gewisses Sinn-Bild entgegenstellt. V Um zu zeigen, daß sich diese Funktion der Phantastik nicht auf Grillparzer oder das Drama, ja auch nicht auf die düstere Schicksalsliteratur beschränkt, stelle ich noch einen zweiten, amüsanteren Text aus der Restaurationszeit vor, aus dem übrigens auch das Motto zu diesem Vortrag stammt. Es handelt sich um Eduard Mörikes Erzählung Der Schatz, 1836 als "Märchen" veröffentlicht, in der dritten Fassung von 1856 mit dem neutraleren Titel "Novelle" versehen. "Märchen" oder "Novelle" - die Unsicherheit des Autors, ob seine Erzählung "romantischer" oder "realistischer" zu lesen wäre, ist kein Gattungsproblem: Sie reflektiert die Struktur des Textes selbst. Denn auch Mörikes Erzählung stellt die Frage, ob das "wunderbare Schicksal" des Helden höhere Wahrheit ist oder bloße Imagination (Mörike Bd. 1:411).

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Der Held ist Hofrat Arbogast, "ein munterer, kurzweiliger, obgleich etwas eigener Mann" in den Fünfzigern, der durch eine mysteriöse Karriere in der Gesellschaft Aufsehen erregte: Er war, durch rätselhafte Umstände begünstigt, vom Goldschmied aus sehr schnelle zur Bedienung des damals sogenannten königlichen Schatzmeisteramtes in Achfurth gelangt, und eine Zeitlang gingen im höhern Publikum seltsame Sagen darüber, indem man nicht umhin konnte, die Sache mit einer auf keinen Fall ganz grundlosen Gespenstergeschichte, welche den Hof zunächst anging, in Verbindung zu bringen. (403)

Im biedermeierlich-geselligen Kreis, der den Rahmen abgibt für die Binnenerzählung, bittet man den Hofrat daher, Licht in die Umstände seines Erfolgs zu bringen. Doch wer sich schnelle Aufklärung erhoffte, sieht sich getäuscht. Der Hofrat schickt sogar eine Warnung vorweg: Man werde "Unglaubliches" hören und sich am Ende beklagen, "als wenn er sie mit einem bloßen Kindermärchen hätte abspeisen wollen" - obgleich er sich doch um "historische Treue" bemühe und man seine Frau zur "Kontrolle" befragen könne (ebd.). Der Dualismus von Irrationalität und Realismus hat Methode. Schon im äußeren Aufbau erweist sich Mörikes Geschichte als komplexes Gebilde aus Einzelerzählungen mit kategorial unterschiedlichen Wirklichkeitsbereichen: Dem Lebensbericht Arbogasts und seiner Frau eingelagert sind nämlich: die Geschichte der "heiligen" Freifrau von Rochen, die Sage von Irmel von der Mähne - einer verwunschenen Ritterfrau, die als Gespenst ihre Verbrechen an Mann und Sohn büßt - und schließlich das Märchen (oder der Traum?) vom Waidefeger-König. Dazu kommt die Durchsetzung der pragmatischen Erzählstränge mit phantastischen Motiven - wie dem hölzernen Wegweiser, der hinter Arbogasts Rücken die Richtung ändert: Kaum ist mir das letzte Wort aus dem Mund, so klatscht es dreimal hinter mir, eben als schlüge jemand recht kräftig zwei hölzerne Hände zusammen. Erschrocken seh ich mich um - o unbegreiflicher, entsetzenvoller Anblick! Er hatte sich gedreht! der Wegweiser - gedreht, so wahr ich lebe! (412)

Mit dieser "Wahrheit" ist es aber so eine Sache, denn derart phantastische Motive finden im Erzählverlauf meist eine faktische Erklärung - "ich könnte wohl ein bißchen beschnapst gewesen sein" (416) - , ohne damit tatsächlich hinreichend begründet zu sein. Denn zum einen bleibt der Realitätsgrad

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letztlich unbestimmt: Der verdächtige Wegweiser, heißt es gegen Ende der Geschichte ohne nähere Erklärung, könnte der verzauberte Ritter von Latwerg gewesen sein (461). Zum andern bleibt in jedem Fall eine unterschwellige "Bedeutsamkeit"15; "ganz grundlos" ist nichts (s. o.). - Wie es in Grillparzers Drama unausgemacht bleiben sollte, ob der Rezipient den launichten Wechsel des Lebens oder verborgene Waltung sieht, zielt Mörikes Erzählstrategie auf Ambivalenz (Völker: 324-342). Prinzip dieser Ambivalenz ist die Prädestination des Helden für "übersinnliche Dinge" (454), die der Leser, wie manche Figur im Text, nicht unbedingt teilt. So liest Arbogast die Sprüche in dem Buch, das er als Kind auf zunächst nicht klarem Wege erhält, als unfehlbare Prophezeiungen, während sie eher nach Erbauungsliteratur klingen. Am Lager seiner vermeintlich todkranken Jugendliebe sieht er die Fee Briscartina - "bloßes Phantasma" eines schon angesteckten Kindes, meint ein junger Arzt später (laut Anmerkung des fiktiven Erzählers), eine Anthropomorphisierung des Terminus Febris scarlatina (439). In gravierenden Fällen wird der Held selbst von Zweifeln geplagt: Daß ihn nächtlings ein winziger Elf über die Landkarte in die Märchenwelt des Waidefeger-Königs geführt haben soll - über diesen Punkt seiner Geschichte konnte er "trotz aller Mühe noch auf diese Stunde nicht ins reine kommen" (431). Andere unglaubliche Momente seiner Erzählung erfahren dagegen eine ungeahnte Bestätigung: So gibt sich eine Dame unter Arbogasts Zuhörern als Bekannte der sonderbaren Sophie von Rochen zu erkennen und trägt so zur "Wahrhaftigkeit des Herrn Erzählers" bei (455). Ähnlich bringt ein Forstmeister durch topographische Kenntnisse "einiges Licht" in die märchenhaften Zusammenhänge, die Arbogast einst sein gestohlenes Geld wiederfinden ließen (460). Doch "Aufklärung" ist nicht der Zielpunkt des Textes: Die Strategie der Doppelmotivierung ist mehr als der Tribut des 19. Jahrhunderts an die "außenweltlichen" Bedingungen (Hoffmann). Zwar schlägt sich das wachsende Bewußtsein von der Materialität der Lebensgrundlagen in der Motivierungsweise der Autoren nieder; doch verläuft die Entwicklung in der Restaurationsliteratur keineswegs linear von ideeller zu pragmatischer Begründung. Ebenso massiv ist die bereits bei Grillparzer aufgezeigte Tendenz, die pragmatischen Zusammenhänge durch phantastische zu überhöhen, um dem

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Übersinnlichen so, nach dem Zusammenbruch idealistischer Gewißheit, eine Zuflucht zu bieten. Diese ideelle Funktion der Phantastik prägt auch das Gesamtkonzept des Mörike-Textes. Im Kern von Arbogasts Lebensbericht steht Gewöhnliches: Früh verwaist, beginnt der junge Mann eine Goldschmied-Lehre und zeichnet sich bald derart durch handwerkliches Geschick aus, daß ihm die Anfertigung des Krönungsschmucks übertragen wird, den die junge Prinzessin von Astern bei ihrer Heirat mit dem König tragen soll. Da noch einige passende Steine fehlen, macht er sich auf die Reise nach Frankfurt; doch schon am zweiten Tag wird ihm sein Geld gestohlen. Mit der Suche nach dem Dieb gelangt der junge Goldschmied in den phantastischen Bereich alter, von Sünde und Erlösung handelnder Geschichten. Er findet (unter Mitwirkung des Wegweisers) zum Stammschloß derer von Astern, wo er seine vermeintlich verstorbene Jugendliebe trifft und wo man ihn insgesamt zu erwarten scheint. Nach einigen Zwischenfallen erhält er Auskunft über diese geheime Fügung seines Lebens: Sophie von Rochen, eine Verwandte der Astern, hatte ihn als "Osterkind" auserwählt und dazu vorbereitet, die verbrecherische Ahnin des Geschlechts (Irmel von der Mähne) zu erlösen.16 Diese quasi welt-erlösende Funktion verleiht Arbogasts Schicksal ideelle Qualität: Daß ich als ein Verirrter meine Zuflucht hier, gerade hier in dem verhängnisvollen Ahnenschloß der Herzoge von Astern finden mußte, nachdem ich in der Absicht ausgereist war, ein Geschäft zu besorgen, welches unmittelbar mit der Verherrlichung von Irmels Enkelin, künftig der ersten gekrönten Königin aus diesem Stamm, zusammenhing, und das auf eine so höchst rätselhafte Art gestört werden sollte - dahinter schien doch wahrlich mehr als ein bloßer Zufall zu stecken, es mußte eine höhere Hand im Spiele sein. (427)

Letzten Aufschluß gibt es allerdings nicht. Denn über den Ausgang seiner Geschichte und damit die eigentliche Erlösungstat wahrt der Hofrat Stillschweigen. Dies sei zu "geheimnisvoll", und eine Zuhörerin pflichtet ihm bei: So sehr mich doch die Neugierde plagt, es will mir doch zugleich gefallen, daß von den geisterhaften Dingen, die wir ahnen, der letzte Schleier nicht hinweggenommen werde. Sie würden einem fast [...] zu wirklich und zu nahe (458).

Nur auf Drängen der Gesellschaft erfindet sie einen Schluß, der die Handlungsmotive der Sage zum glücklichen Ende führt. - Für den Erzähler wie für

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seinen Autor aber bleibt es bei der "Ahnung": Die Kunst verzichtet auf eine Realisierung der "geisterhaften Dinge", indem sie sie in der Offenheit des Phantastischen beläßt. Wie bei Grillparzer reagieren die Zeitgenossen mit Ratlosigkeit auf Mörikes Doppelspiel. Friedrich Theodor Vischer kritisiert an Mörikes ähnlich strukturiertem Roman Maler Nolten das "Zwielicht" von "verständiger Wirklichkeit" und "Wunder" (Vischer: 1155). Und ein Rezensent des Schatzes moniert ausdrücklich die Vagheit des Übersinnlichen, das sich weder wegrationalisieren noch verifizieren lasse. Das aber bedauert Mörike im Brief an einen Freund: So tadele der Rezensent ja "gerade das, worauf ich mir etwas zugute tat", nämlich "daß das Wunderbare nur scheinbar ist und bloßes Spiel" (An Hartlaub, 29. 5. 1840). Das heißt: künstlerisch evozierte Ahnung einer höheren Welt, die im Bewußtsein einer nachidealistischen Zeit keinen ontologischen Ort mehr besitzt. VI Wir gehen einen Schritt weiter. - Die Epoche des Realismus beginnt damit, daß man jenes Spiel mit dem Wunderbaren entbehren zu können glaubt. Wenige Jahre nach Mörikes Schatz präsentiert Adalbert Stifter mit seiner Erzählung Abdias einen Wirklichkeitsbegriff, der das Phantastische suspendiert. Auch Abdias ist die Geschichte eines Lebens mit rätselhaften Geschehnissen: So wird des Helden blind geborene Tochter durch einen Blitzschlag sehend, durch einen zweiten getötet. Und beides stimmt jeweils so sehr zum Habitus des Helden, daß - um noch einmal Mörike zu zitieren - dies mehr als bloßer Zufall zu sein schien, "es mußte eine höhere Hand im Spiele sein". Doch im Gegensatz zu den Elixieren, zu Ahnfrau und Schatz geht für den Autor nun alles mit rechten Dingen zu - wie sich durch eine Stifters naturwissenschaftliche Kenntnis rekonstruierende Analyse beweisen läßt. Denn gerade hier, in dieser "natürlichen" Begründbarkeit liegt der Punkt: Während bei Novalis, Hoffmann, Grillparzer und Mörike das Leben überhaupt nur in der Phantasie eine Sinndimension bekam, ist dieser Sinnzusammenhang bei Stifter nun realistisch (pragmatisch, kausal, psycho- und soziologisch) zu motivieren. Damit ändert sich auch die Leserstrategie: In Abdias werden reale

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Ereignisse und die Deutung "der Leute" kontrastiert, um die spektakuläre Verstellung der Wirklichkeit zu demonstrieren. In seiner Einleitung entwickelt Stifter das Programm. Gewiß kann man sich, so der Erzähler, in Leben wie Kunst kaum dem Eindruck des Wunderbaren entziehen, wenn Individuen aus heiterem Himmel schwerstes Ungemach befallt oder andere das Glück mit gleich "ausgesuchtem Eigensinne heimsucht" - scheint es doch, als kehrten sich in solchen Fällen "die Naturgesetze um". So tastet man nach ideellen Erklärungen und deutet die Ereignisse als "von einer höhern Macht Gesendetes". Wie Grillparzer sieht Stifter hierin nur den allzu menschlichen Versuch, Grund und Zusammenhang zu konstruieren, wo die Wirklichkeit ratlos läßt. Doch während Grillparzer das metaphysische Bedürfnis als anthropologische Konstante hinnahm, zielt Stifter auf eine Veränderung im Wirklichkeitsverhältnis. Einfallstor der transnatürlichen Deutungen sind ja nur die "Lücken" im Weltbild, die bei Grillparzer die Phantasie übersprang. Stifter gibt zu bedenken, ob diese provokativen "Lücken" nicht auch durch ein besseres Verständnis zu schließen wären. Könnten wir den Zusammenhang der Realität tatsächlich wahrnehmen, so gäbe es wohl weder Zufall noch Wunder: Das Dilemma von Empirie und Phantastik fände also ein Ende (Stifter Bd. 1.5: 237 f.). Hinter Stifters Programm steht nicht nur das zeitspezifische Vertrauen auf den naturwissenschaftlichen Progreß. Mehr noch prägt ihn die Erwartungshaltung der ersten realistischen Generation, daß die Realität selbst, als faktische "Kette der Ursachen und Wirkungen" (175), jenen Sinnzusammenhang integrieren könnte, den der Idealismus als Potential des Intellekts, die Restaurationszeit als Potential der Phantasie begriff. In Feuerbachs zeitgleicher Philosophie verbindet sich daher mit der Analyse der Natur die massive Kritik an der Hypertrophie von Geist und Phantasie: "Der Naturforscher sieht", wie alles in der Natur "in einem notwendigen und großartigen Zusammenhang steht" (Feuerbach Bd. 4: 245); somit bedarf es weder im Leben noch in der Kunst einer synthetisierenden Phantasie. Die nämlich macht - wie Feuerbach in seiner Schrift Über das Wunder ausfuhrt - "den ernsten Kodex der Natur zu einem lustigen Märchenbuch" (224), worin der Geist nach romantischer Lust und Laune herrscht: "In der Phantasie macht sich der Mensch zum Herrn der Natur",

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und zwar im Sinn eines "unbeschränkten, freien, d. i. willkürlichen" Verfügens über die Dinge (247). Das aber widerspricht nicht nur "den Gesetzen der Erfahrung" (220); es verfehlt vor allem den Eigen-Sinn der Realität. Daher taugt das Wunder nur für jene, die "keinen Sinn für die Natur" haben und noch nicht auf jenem Standpunkt stehen, wo die Natur [dem Menschen] ein neuer, unbekannter, nicht nur seine Sinne, sondern seinen Geist reizender Gegenstand, das Gewöhnliche ein Fremdes, das Gemeine ein Erhabenes, das Natürliche etwas Wunderbares wird.17

VII Kehren wir zur Literatur zurück. Das Natürliche als das eigentlich Wunderbare zu zeigen, das unternimmt der Realismus nicht nur in der künstlerischen Manier Stifters, der in pragmatisch motivierten Erzählungen und Romanen die Sinnfalligkeit der Realität erschließt. Man greift hierzu durchaus auch auf Textsorten mit ideeller Struktur, wie das Märchen, zurück. Einziges Kriterium dafür ist, daß die phantastischen Motive, die unserer Erfahrung zuwiderlaufen (Magie, sprechende Tiere), nicht mehr - wie noch bei Mörike und Grillparzer - die Empirie durch Übersinnliches kompensieren, sondern auf Realgesetze zurückverweisen. Die Phantasie wird so zur Funktion der Wirklichkeitserkenntnis, ohne daß daraus eine Beschränkung der poetischen Mittel folgt. Bedingung ist daher für Gottfried Keller - der ja bekanntlich gegen einen zu engen Realismusbegriff für die "Reichsunmittelbarkeit der Phantasie" plädiert - , daß die Gegenstände der Phantasie nach Gestalt, Struktur und Zweck (wie es im Grünen Heinrich heißt) nicht "außer dieser körperlichen Welt" sind (Keller Bd. 18: 135). So wären etwa die Wahrnehmungsbedingungen oder der Kausalzusammenhang auch im amimetischen Bereich zu wahren, weil dies die Eigenständigkeit und Objektivität der Gegenstände garantiert; ähnliche Forderungen findet man bei den programmatischen Realisten." Fehlt nämlich diese Orientierung an der Realität, dann entartet die poetische Imagination zu abstrakter, subjektiv-willkürlicher Fiktion. 19 Kellers Grüner Heinrich dokumentiert das Scheitern

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eines jungen Künstlers, dem solch spätromantisch "wundertätiger Spiritualismus" noch im Blute steckt (136). Kurz nach dem Abschluß seines Romans veröffentlicht Gottfried Keller den ersten Band seiner Erzählungen über Die Leute von Seldwyla, der nicht nur von allerlei kauzigen Figuren bevölkert wird, sondern sogar mit einem veritablen "Märchen" schließt. Werfen wir einen Blick auf dieses Kabinettstück realistischer Phantasie. Spiegel, das Kätzchen ist die Geschichte eines verständigen und anständigen, wir würden sagen, rundum gebildeten Tiers, das seine Tage "mit philosophischen Betrachtungen" verbringt und nur zu Zeiten "verliebter Begeisterung" aus der Fassung gerät - nicht ohne "als ein Mann von Grundsätzen" bedenkend, daß man solche "Abwechslung" braucht (Bd. 7: 324 f)Kellers Märchen fuhrt also gerade nicht in eine wunderbare Welt, sondern zeigt, daß es auch ein Kater mit solider Lebensführung zu etwas bringt. Und realistisch ist auch die weitere Entwicklung: Spiegels "gleichmäßiges Leben" nimmt ein jähes Ende, als er mit dem Tod seiner Herrin die materielle Basis verliert. Bald gehen "alle seine moralischen Eigenschaften" in mühsamer Nahrungssuche auf, so daß er sich außen wie innen "nicht mehr gleichsah": Er wurde mager und zerzaust, dabei gierig, kriecherisch und feig (327). Hier begegnet nun im Märchen ein phantastisches Motiv: Spiegel trifft, derart demoralisiert, auf den Seidwyler Stadthexenmeister Pineiß, der ihm (für ein Zaubergebräu) "den Schmer abkaufen will". Der ausgehungerte Kater stimmt ob der in Aussicht gestellten Nahrung zu. Doch beginnt mit der Ernährung eine natürliche, wiederum Leib und Seele erfassende Veränderung, die Pineiß' finstere Absichten durchkreuzt: Körperlich gekräftigt, nimmt Spiegel nämlich, "da sich seine Geisteskräfte in gleichem Maße wieder ansammelten, bessere Sitten an" (333). Er "durchschaut" die Dinge und gestaltet aktiv sein Schicksal, indem er fortan seine Nahrungsaufnahme kontrolliert. Als der Plan zu mißlingen droht, hilft sich die Natur: Spiegel kommt durch einige leidenschaftliche Nächte so herunter, daß das Schlachten aufgeschoben werden muß. Und wieder nährt Pineiß draufhin mit dem Leib zugleich den Geist. Von dieser Zutat war durchaus nicht loszukommen, "weshalb auch seine Hexerei sich hier als lückenhaft erwies" (340). Die Magie scheitert an der Realität:

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[Pineiß] wußte bei aller Schlauheit nicht, daß, wenn man einen Esel füttert, derselbe ein Esel bleibt, wenn man aber einen Fuchsen speiset, derselbe nichts anders wird als ein Fuchs; denn jede Kreatur wächst sich nach ihrer Weise aus. (335)

Wir sehen: Auch in der Märchenwelt gelten die Gesetze der Realität, ja sie demonstriert gerade die Grenzen der "Hexerei". Im Kontext der Kellerschen Anthropologie "spiegelt" des Katers Geschick daher zwei reale Erkenntnisse: Zum einen sind Physis und Psyche, Materie und Moral unabdingbar korreliert; zum andern endet jede Form von Willkür an den natürlichen Bedingungen. Der weitere Verlauf der Geschichte zeigt die praktische Konsequenz: Während sich der besonnene Spiegel mit kluger Berechnung aus seiner Abhängigkeit befreit, verfallt der Hexenmeister durch Egoismus und Engstirnigkeit einem düsteren Schicksal. Der bedrohte Kater erfindet nämlich eine Geschichte um Schatz und Braut, die zwar exempelhaft und mit zeitkritischem Unterton von der Korrumpierung der Liebe durch Besitz warnt, die Pineiß aber nur in ihren materiellen Aspekten interessiert. So verfangt er sich in Eigennutz und Begierde, indem ihn Spiegel mit der scheinbar reichen und schönen, in Wahrheit aber furchterregenden Nachbarshexe verkuppelt. Spezieller Magie bedarf es dazu nicht: Die konventionelle Zauberformel zur Hexenbändigung wird bei Keller durch lauter komische Zufalle eingelöst. So trägt der Realist über den Magier den Sieg davon, und dies verweist auf das neue Verhältnis von Wirklichkeit und Idee. Während bei Grillparzer und Mörike das Phantastische die moralische Dimension barg, kehrt sich die Gewichtung hier um: Mit dem Kontrast zwischen dem vernünftigen Kater und dem phantastischen "Stadthexenmeister" - im Prinzip nur eine poetisch verdichtete Inkarnation Seidwyler Amoral und Ignoranz20 - erscheint innerhalb des Märchens ein Dualismus von Natur und Unnatur, der die Relation im Bereich der Phantasie ebenso "spiegelt" wie im Leben selbst.

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VIII Wenngleich alle Realisten von Rang Kellers Diktum von der "Reichsunmittelbarkeit der Phantasie" unterschreiben, bleibt das Märchen doch ein Grenzfall realistischer Kunst. Theodor Fontane würdigt Keller zwar als "originalen Dichtergeist"; doch er rügt zugleich den damit verbundenen Mangel an raumzeitlicher Präzision, der Keller generell zum "Märchenerzähler" werden lasse, auch wo er sachnahe Schilderung intendiert. "Er ordnet", so Fontanes Kritik, "alles einem poetischen Einfall [...] unter und legt sich nicht die Frage vor, ob all das, an gegebenem Ort und zu gegebener Zeit, überhaupt möglich war", was dann zur "Unwahrheit" einzelner Situationen führe. Wir sehen: Die in Hoffmanns "Serapiontischem Prinzip" erst als Bedingung vorhandene Wirklichkeit besitzt nun Priorität: Bei Fontane verifiziert sich die Imagination an der Faktizität (Fontane Bd. 28: 296). Aufs heftigste widerspricht er daher Otto Brahm, der gerade Kellers Synthese "des Realistischen und des Phantastischen" Hochachtung zollt und in einer solch quasi realistisch gezügelten und daher dezidiert post-romantischen Phantasie die literarische Zukunft erkennt. Für Fontane tun "beide, Realistik und Phantastik" gut daran, endlich "auf Verschmelzung zu verzichten" (hier: Bd. 28: 302). Das sieht ganz so aus, als würde sich die zweite Generation der Realisten mit Mimesis begnügen. Doch es spukt wieder ganz gewaltig - und dies nicht nur bei Storm und Raabe, sondern auch im Werk Fontanes, in dem es um weit mehr als nur um Gesellschaftskritik geht. Werfen wir daher abschließend einen Blick auf die Funktion des Phantastischen bei Fontane. Schon in Grete Minde, Fontanes zweitem, 1879 erschienenem Roman mit chronikartig gereihten Erzählsequenzen und eher holzschnittartig gestalteten Figuren, gibt es befremdliche Phänomene. So gewinnt vor allem Gretes seelische Konstitution - jener "starr-unheimliche Zug [...], der über die Trübungen ihrer Seele keinen Zweifel ließ" (Fontane Bd. 5: 98) - eine irritierende Dominanz. Die erste von Fontanes Heldinnen, die auf elementare, ebenso faszinierende wie problematische Weise Vitalität und Willkür verbinden, ist durch ihr Unbedingtheitsverlangen nämlich in Erscheinungsbild wie Schicksal bestimmt: Ihre Augen "blitzten in einem unheimlichen Feuer" (35), das auf die Vernichtung der Person wie ihrer Umwelt vorausweist. All

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dies wäre im Prinzip auch natürlich, durch die "Art leidenschaftlicher Naturen" zu erklären (36). Doch ist das Motiv der Leidenschaft in Fontanes Erzählung derart weltanschaulich aufgeladen - dahinter steht die für das ganze 19. Jahrhundert provokative Hypertrophie der Subjektivität - , daß die Innenwelt die Außenwelt bestimmt. "Sie hat das Zeichen", erkennt eine alte Nonne, die tiefer blickt als die anderen (82). Und sie schließt daran die Prophezeiung von Gretes Tod nach (magischen) drei Tagen, die die Pragmatik des Handlungsverlaufs durch ein phantastisches Motiv sprengt.21 "Die Wege Gottes sind wunderbar", heißt es hierzu im Text (84). Diese "wunderbare" Stringenz des Geschehens - die übrigens auch Gesellschaftsromane wie Cécile aufweisen22 - nimmt in dem ebenfalls 1879 erschienenen Roman Ellernklipp noch zu. Auch hier ist das Schicksal der Heldin durch "Natur" bestimmt. Hilde, elementar wie Grete, doch zu den lebensfern-" languissanten" Fontane-Frauen gehörend (Fontane Bd. 6: 94) - "die Wirklichkeit der Dinge schwand ihr hin in Bild und Traum" (27) - , "behext" die Männer (49 und 79) durch ihren "halb räthselhaften Zauber"23, allen voran den standfesten und "willensstarken" Bocholt (13 und 70), der sie zur Frau nimmt (79). Damit aber sind die Weichen gestellt: Denn die Faszination des "schönen, müden Geschöpfes" bringt den pflichtbewußten Ordnungshüter derart "aus aller Zucht des Leibes und der Seele", daß er Martin, seinen Sohn aus erster Ehe, aus Eifersucht tötet (ebd.). "Ihr Blut ist ihr Los, und den Jungen reißt sie mit hinein" (57), prophezeite daher frühzeitig der alte Melzer, der in seinem Blick für Übersinnliches den Dorfgenossen ein "Rätsel" bleibt (50). Wie in Grete Minde basiert solche Fatalität in Ellernklipp nicht nur auf psychologischen Voraussetzungen, sondern gründet in einer elementar erscheinenden "Natur", die Fontanes Anthropologie mit Amoral verknüpft. So impliziert Hildes "Apartheit" (wie die Céciles oder Effi Briests) eine innere Ungebundenheit - "sie kennt nicht Gut und nicht Bös", heißt es (13)-, die dem Sozialgefuge widerspricht.24 Ihre Destruktivität bedeutet für Fontane daher weit mehr als die Wirkung weiblicher Attraktivität, und entsprechend angespannt sind die erzählerischen Mittel: Sie zeigt (mit latent phantastischen Motiven) die "dämonisch-unwiderstehliche Macht" einer den sittlichen Normen entzogenen Natur25, durch deren notwendig tragisch ver-

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laufendes Schicksal sich zugleich die gestörte Natur-Ordnung wiederherstellt. So ist es zu verstehen, wenn Melcher seine Prophezeiung mit den Worten beschließt: "Es geschieht, was muß, und die Wunder, die wir sehen, sind keine Wunder ... Ewig und unwandelbar ist das Gesetz." (56) "Wunder" und doch "keine Wunder": Hinter diesem Paradox steht die ontologische Ambivalenz jener moralisch agierenden Natur-Ordnung, der sämtliche Geschehnisse bei Fontane unterliegen. Diese Ordnung ist "kein Wunder", weil sie für Fontane in der Natur der Dinge liegt und sich daher prinzipiell durch pragmatische Zusammenhänge realisieren kann. "Alles [hat] sein Gesetz und seine natürliche Folge", heißt es in Graf Petöfy (Fontane Bd. 9: 187). Doch ist die Ordnung zugleich "Wunder", denn das in der Natur zutage tretende Gesetz ist in seiner "Ewigkeit" und "Unwandelbarkeit" ein ideelles Phänomen, das entsprechend religiöse Motive assoziiert - und bei Bedarf in Fontanes Texten phantastische Gestalt gewinnt. Bedarf aber ist immer dort, wo sich die Realität der Moral verweigert. "Was ist heimlich überhaupt?" heißt es in Ellernklipp. Und es folgt jene Formel, die Fontane im Blick auf die natur-notwendigen Folgen jedes Normverstoßes hier wie anderorts (Unterm Birnbaum) zitiert: 'Ist auch noch so fein gesponnen, muß doch alles an die Sonnen.' Und es ist auch ein Trost und ein Glück, das es so ist. Denn alles Unrecht muß heraus. Und was ein echtes Unrecht ist, das will auch heraus und kann die Verborgenheit nicht aushalten (60).

Wir sehen: Die moralische Konsequenz gründet in der Natur - doch ihr Ausdruck strapaziert schon in der Formulierung die Wahrscheinlichkeitsgrenze. Hier beginnt denn auch die latent "wunderbare" Aktivität der Realität. So übernimmt in Ellernklipp die Natur nach Bocholts "kalt und mitleidslos" vollzogenem Mord direkt moralische Funktion: Der Täter "sah den Vollmond, der, eben aufgegangen, eine blutrote Scheibe, groß und fragend über dem schwarzen Strich der Tannen stand" (80). Eine gleich "richtende" Rolle spielt der Mond in Quitt, Fontanes philosophischstem Roman. Und in der Linie dessen liegt der "Spuk", der mehr oder weniger alle Texte durchzieht, sei es als Phänomen (.Ellernklipp) oder als Thema {Effi Briest). Spuk "wird nie gemacht", stellt Instetten in E f f i Briest fest, "Spuk ist natürlich" - im Gegensatz zu "bloßen Geistererscheinungen" wie dem Effi

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ängstigenden Chinesen, die "gemacht werden" durch eine Mischung von Einbildung und Manipulation (Fontane Bd. 17: 207). Bei einem echten Spuk muß daher, wie es in Graf Petöfy heißt, "was vorausgegangen sein" (92): etwas "dunkel Verschwiegenes", dessen Unmoral sich so "ans Licht [wächst]" (165). So wird Bocholt, der (wie die Helden in Quitt und Unterm Birnbaum) der Gerichtsbarkeit entging, durch gespenstische Phänomene zur Selbstjustiz getrieben. Fontanes Situationsbeschreibung reflektiert die Physio- und Psychologie der Wahrnehmung, indem sie "Sinnestäuschung" und Gewissensbiß assoziiert - und verleiht doch zugleich dem Wirken der Natur jene Objektivität, die aus Spuk und Mond phantastische Phänomene macht: Bocholt hört am Tatort ein gespenstiges Rufen, das zunächst vom Begleiter nicht wahrgenommen wird: Er "lächelte vor sich hin und wußte nun, was er wissen wollte, daß es eine Sinnestäuschung gewesen und daß es nicht unten in dem Eisbruch, sondern in ihm selbst gerufen hatte." Als dann aber auch der Begleiter den Spuk bestätigt, zieht sich die Schlinge zusammen. "Und wirklich, es war, als riefe was." Bocholt sah, "daß der Vollmond hinter dem Tannenwald aufstieg" (107).

Mörikes "Spiel mit dem Wunderbaren" ist damit nicht intendiert. Da Fontane nicht mehr vom Dualismus zwischen Empirie und Idee ausgeht, zielt er nicht auf Transzendierung der Natur durch übernatürliche Figuren und Zusammenhänge - daher auch seine Aversion gegen das Phantastische. Fontane will gerade die Wirklichkeit selbst auf die ihr eigene Ordnung transparent machen, indem er Naturphänomene (Mond, Baum, Fluß) zu Funktionsträgern in jenem Sinnzusammenhang erhebt, als den die Dichtung Realität erkennt und gestaltet. Doch in dem Maße, wie die Realgesetze für die zweite Realismusgeneration an Sinnfalligkeit verlieren, ist die Gesetzmäßigkeit durch poetische Mittel zu substituieren, die im Extrem phantastische Gestalt gewinnen. In einem Satz Melchers ist diese quasi unfreiwillige Phantastik benannt: "Wunder" und "Spuk", so Melcher, "tun beide, was über die Natur geht", gesperrt gedruckt: "über die Natur, soweit wir sie verstehen" (52). Nur unserem beschränkten Wissen erscheint als Wunder, was doch der Wirklichkeit immanent ist. So fungieren die phantastischen Motive bei Fontane nur als Extension des Naturaspekts.

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Dieser Extension durch Kunst bedarf die Epoche für Fontane in zweifacher Hinsicht.26 Denn zum einen schwindet das Vertrauen in den Progreß naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Fontanes Gedicht Umsonst, geschrieben Ende der 90er Jahre, formuliert jenes "Ignoramus", das im letzten Jahrhundertviertel sogar die exakte Wissenschaft selbst benennt:27 Immer höhre Wissenstempel, / Immer richt'ger die Exempel, / Wie Natur es draußentreibt, / Immer klüger und gescheiter, / Und wir kommen doch nicht weiter, / Und das Lebensrätsel bleibt. (Fontane Bd. 23: 107)

Damit verbunden ist das zweite Moment: Die Zeit verliert zunehmend das Bewußtsein für Verbindlichkeit des Lebens. So sieht Fontane den Grund für die literarische Aufdringlichkeit des "Gesetzes" in seinen Werken nicht zuletzt in der moralischen Freizügigkeit seiner Zeitgenossen, die einem immer ungenierteren Sensualismus huldigen. Der Moderne ist, so Fontane, "der Sinn für das Ganze bis zu einem erschrecklichen Grad verlorengegangen" (Fontane Bd. 30: 34). Daher bedarf es deutlicher literarischer Zeichen, um die normative Qualität der Wirklichkeit zu vermitteln. Ein Satz in Graf Petöfy bringt diesen Zeitbezug auf den Begriff: Es käme, sagt eine Figur, neuerdings wieder die Wahrsagerei in Mode, und das sei auch gut und erklärlich, "denn je freier der Mensch werde, desto nötiger werd' ihm der Hokuspokus" (45). IX Dieser Hokuspokus - Phänomen einer Kunst, die Kunststücke zum "Wahrsagen" benötigt (Guthke: 235-261) - führt zum Ausgangspunkt unseres historischen Streifzugs zurück. Denn der eingangs von Hofmannsthal beklagte Zerfall in kruden Naturalismus und weltfernen Ästhetizismus wird nun verständlich als Ausbruch des bei Fontane noch latenten Problems: Ist die Sinndimension im Spätrealismus noch poetisch integriert, wenngleich bereits phantastisch intensiviert - so zerfallt diese Synthese von Realität und Idee nun in die Darstellung "gemeinen Elends" und das Paradies der Kunst. Der Phantastik fundierende Dualismus des Jahrhunderts ist damit abgeschlossen; wir sahen, daß Hofmannsthal schon den Begriff nur noch ganz

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einseitig verstand. Daher läßt auch sein eigenes poetisches Konzept der Phantastik keinen Raum. Zum einen nämlich entfallt die ideelle Zielsetzung: Niemals wieder wird eine erwachte Zeit von den Dichtern [...] ihren erschöpfenden rhetorischen Ausdruck [...] verlangen. Dazu hat das Jahrhundert, dem wir uns entwinden, uns die Phänomene zu stark gemacht.

Zum andern müßte Dichtung für Hofmannsthal eben in neuer Form die "wahre Durchdringung der engsten Materie" mit dem "Schauen des kosmischen Geschehens" verbinden (78). Doch: Zeigt sich hier ein Weg, existentielles Engagement28 und geistige Perspektive ohne "phantastische" Digression zu verbinden - oder beginnt ein weiteres Kapitel der Phantastik, die sich, mit der Epoche, in Struktur und Funktion erneut verändert? Ich möchte diese Frage an die Analysen zur phantastischen Literatur des 20. Jahrhunderts weitergeben.

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ANMERKUNGEN 1. Die folgenden Seitenangaben nach dieser Ausgabe. 2.

182 f. "Zur Überschneidung von Ästhetizismus und einem Leben von der und für die Phantasie" vgl. 196.

3. "Wir haben gleichsam keine Wurzeln im Leben", schreibt Hofmannsthal in seinem Aufsatz über D'Annunzio (175). 4. Vgl. hierzu die Definition von "Realitätsbegriff' in Wünsch: 17 ff. 5. Vgl. hierzu etwa den Versuch Cersowskys, die Kategorie des Phantastischen aus der (historisch bedingten) Fixierung Todorovs u. a. zu lösen und damit für die moderne Literatur (Kafka) adaptierbar zu machen (Cersowsky). 6. Vgl. hierzu die Darstellung bei Engel 1993: 444—496. 7. Für Novalis wäre daher das Märchen "der Canon der Poesie" (Polheim: 146 f.). 8. S. 8. Zitiert hier wie im folgenden nach Hoffmann 1986. 9. Zu "Goethes schönen Gedanken vom roten Faden, der sich durch unser Leben zieht, und an dem wir, ihn in lichten Augenblicken gewahrend, den über uns, in uns waltenden höheren Geist erkennen": Hoffmann 19851: 876. 10. S. 236. Medardus zu Aurelie: "Ein besonderer Ratschluß des Ewigen hatte uns bestimmt, schwere Verbrechen unseres freveligen Stammes zu sühnen, und so vereinigte uns das Band der Liebe, die nur über den Sternen thront und nichts gemein hat mit irdischer Lust. Aber dem listischen Feind gelang es, die tiefe Bedeutung [...] zu verhüllen, ja uns [...] zu verlocken, daß wir das Himmlische nur deuten konnten auf irdische Weise." (284) 11. So nennt Lothar Cyprian nicht mehr mit kritischem Unterton einen "fantastischen Geisterseher", als er erkennt, daß dessen "Rückerinnerungen" ein fiindamentum in re im Datum des Tages haben (52).

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12. Dazwischen steht allerdings noch ein zweites Exempel, in der das "Mißverhältnis zwischen dem innern Gemüt mit dem äußern Leben" ein weniger angenehmes Ende nimmt (30). 13.Jaromirs Klagemonolog (im 5. Akt) artikuliert die epochale Erfahrung einer durch die Macht der Umstände aufgerissenen "Kluft" zwischen Absicht und Tat, Tat und Ergebnis: "Ha, getan! - Hab' ich's getan? / Kann die Tat die Schuld beweisen, / Muß der Täter Mörder sein? /Weil die Hand, das blut'ge Eisen, / Ist drum das Verbrechen mein? / Ja ich tat's [...]! / Aber zwischen Stoß und Wunde, / [...] Zwischen Handlung und Erfolg / Dehnt sich eine weite Kluft,/ Die des Menschen grübelnd Sinnen, / Seiner Willensmacht Beginnen, / Alle seine Wissenschaft, / Seines Geistes ganze Kraft, / Seine brüstende Erfahrung /[...] Auszufüllen nicht vermag." (V. 2976 ff.) - Hier wie im folgenden zitiert nach: Grillparzer Bd. I, 1. 14. So zeigt Grillparzer (im 5. Akt) durch den raschen Wechsel in Jaromirs Wahrnehmung und Verhalten, wie sich sein "Bild" der Welt (V. 3013) und sein Weltbild bedingen. 15. Arbogasts Frau teilt im Blick auf das nächtliche Erlebnis mit dem Waidefeger-König die Hypothese vom "bloßen Traum, den sie jedoch nichtsdestoweniger bedeutsam fand" (457). 16. Das moralische Motiv der Irmel-Sage findet ihre Fortsetzung im Märchen vom Waidefeger-König. 17. S. 244. So sind Natur und Geist wieder identisch, wie bei Novalis, nur auf völlig veränderter Basis. - Im gleichen Sinn spricht Stifter in der programmatischen Vorrede zu den Bunten Steinen davon, daß im Progreß naturwissenschaftlicher Erkenntnis "die Wunderbarkeiten" aufhören und "das Wunder" zunimmt. Die äußerlich konträre Begrifflichkeit zielt bei Feuerbach wie Stifter auf die gleiche Erkenntnis natürlicher Qualität. 18. Weil es, so Julian Schmidt, keine andere als die "irdische Wahrheit" gibt, muß die Kunst auch "Götter, Engel und Dämonen" so darstellen, daß wir sie "mit unserer irdischen Phantasie als wahr empfinden". Zitiert nach: Plumpe 112.

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19. Otto Ludwig betont daher die Objektivität der künstlerisch "schaffenden Phantasie", die in ihrer Realitätsgebundenheit gerade "keine sogenannte phantastische Welt, d. h. keine zusammenhanglose", sondern das in sich konsistente Bild der Dinge erzeuge (Plumpe: 148). 20. Vgl. auch sein phantastisches Haus "voll Hexenwerk und Tausendsgeschichten" (330). 21. Zudem erhält der psychologisch-pragmatische Handlungsverlauf durch das Schema von Schuld und Fall eine ideelle Stringenz. Fontane vermittelt dies durch das teils szenisch präsente, teils metaphorische Motiv vom "Jüngsten Gericht", in dem poetische "Rundung" und geistiger Zusammenhang konvergieren. 22. Vgl. etwa die Prognostik des Kuckucksschlags in Cécile. 23. Vgl. Fontanes brieflichen Kommentar (132). 24. Vgl. hierzu Fontanes Bemerkung, daß Hildes languissante Illegitimität "regelrechte Verhältnisse [verwirrt]" (126). 25. Vgl. Fontanes brieflichen Kommentar ( 126). 26. Die Religion kann den Sinnverlust in ihrer modernen Erscheinungsform nicht kompensieren: Der "halbe Glaube, der jetzt in die Welt gekommen ist und mit seinem armen irdischen Licht alles [...] erleuchten will", sagt Melcher über den aufgeklärten Protestanten Sörgel, ist nur "das unnütze Licht, das bei Tage brennt" (52). "Du redest es mir nicht fort", sagt daher Franziska in Graf Petöfy zu der auf Katechismus und Gesangbuch pochenden Hannah. "Es gibt eben Zeichen und Träume" (Bd. 9: 99). 27. Vgl. den Aufsatz von Emil Du Bois-Reymond (77), einem philosophisch zum Materialismus tendierenden Physiologen. 28. Hofmannsthal versteht das Gedichtete als "Funktion des Lebendigen", das als solches den Leser vereinnahmt und vitalisiert. "Für einen bezauberten Augenblick ist ihm alles gleich nah, alles gleich fern: denn er fühlt zu allem einen Bezug [...] [und] hat sich ganz [...]" (80).

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PHANTASTIK UND/ODER PSYCHOANALYSE. ANMERKUNGEN ZU EINIGEN ASPEKTEN EINER PROBLEMATISCHEN BEZIEHUNG Tzvetan Todorov hat 1970 in seiner aufsehenerregenden Studie Introduction à la littérature fantastique1 recht apodiktisch formuliert, die Psychoanalyse habe zu Beginn des 20. Jahrhunderts die phantastische Literatur überflüssig gemacht, wenn nicht gar ersetzt. Seine provozierende Feststellung vom Tod der phantastischen Literatur lautet: Man hat es heute nicht mehr nötig, auf den Teufel zurückzugreifen, um über eine exzessive sexuelle Begierde sprechen zu können, wie man auch der Vampire nicht länger bedarf, um deutlich zu machen, welche Anziehungskraft von Leiden ausgeht: die Psychoanalyse und die Art der Literatur, die, direkt oder indirekt, von ihr inspiriert ist, handeln davon in unverhüllten Begriffen. Die Themen der fantastischen Literatur sind buchstäblich zum Gegenstand der psychoanalytischen Forschung der letzten fünfzig Jahre geworden. (Todorov 1992: 143) 2

Es scheint, als reduziere Todorov die phantastische Literatur auf ein Medium der Inszenierung im 19. Jahrhundert verpönter sexueller Phantasien. Das Medium mußte in dem Moment verschwinden, in dem ein medizinisch-psychologischer Diskurs sich dieser Phantasien annehmen konnte. Es wird also nichts weniger als "eine Ablösung der phantastischen Literatur durch das psychoanalytische Sprechen" (Metzner: 85) postuliert. Im folgenden möchte ich einen Überblick über einige Aspekte des Verhältnisses von Psychoanalyse und phantastischer Literatur geben, wie sie im Anschluß an Freuds Studie über das 'Unheimliche' immer wieder thematisiert worden sind. Nach der Vorstellung einiger theoretischer Bestimmungen der Beziehung von Psychoanalyse und Literatur allgemein, wird die Perspektive verengt und zunächst die Beschäftigung der ersten psychoanalytischen Generation mit den Werken (nicht nur phantastischer) Literatur fokussiert. Im Mittelpunkt steht dabei eine neue Interpretation der Freudschen Lektüre des Hoffmannschen Sandmannes sowie die Lektüren dieser Lektüre. Im Anschluß daran soll auf den Vorwurf einer angeblich "neurosefixierten" psychoanalytischen

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Phantastikdefinition eingegangen werden, der in der jüngsten Phantastikforschung geäußert worden ist. Schließlich werden Tendenzen der aktuellen psychoanalytisch inspirierten Phantastikforschung vorgestellt. I

ELEMENTE DER KRITIK PSYCHOANALYTISCHER LITERATURINTERPRETATION Zunächst seien also - ohne jeglichen Anspruch auf Systematik - einige Stellungnahmen zum Verhältnis von Psychoanalyse und Literatur präsentiert. Der Frankfurter Psychoanalytiker Alfred Lorenzer kritisiert die unselig-umstandslose Gleichsetzung kultureller Symbolsysteme mit Neurose (die sich auch in Freuds allzu pauschaler Einschätzung der Religion als 'kollektive Neurose' andeutet). (Lorenzer: 215)

Er fahrt fort: In der psychoanalytisch beeinflußten Literaturkritik tritt derlei derb zutage in der Auflösung des Unterschieds zwischen Literatur- und Patientenäußerung und in der Gleichsetzung von 'Dichter' und "Neurotiker', die mit Stekel begann und mit Sartre immer noch nicht beendet ist. (Lorenzer: 215)

Auch Theodor W. Adorno äußerte sich, obwohl die Kenntnis der Psychoanalyse zum Verständnis seiner ästhetischen Theorie voraussetzend, in dem Werk gleichen Titels sehr reserviert über die Fähigkeit der Psychoanalyse zur Literaturinterpretation: Ihr gelten die Kunstwerke wesentlich als Projektionen des Unbewußten derer, die sie hervorgebracht haben, und sie vergißt die Formkategorien über der Hermeneutik der Stoffe, überträgt gleichsam die Banausie feinsinniger Ärzte auf das untauglichste Objekt, auf Lionardo oder Baudelaire. (Adorno: 19)

Er kritisiert dann das konservative Moment psychoanalytischer Literaturinterpretation und -kritik, wenn er konstatiert:

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Das trotz aller Betonung des Sexus Spießbürgerliche ist daran zu demaskieren, daß durch die einschlägigen Arbeiten, vielfach Ableger der biographischen Mode, Künstler, deren œuvre die Negativität des Daseienden ohne Zensur objektiviert, als Neurotiker abgekanzelt werden. (Adorno: 19)

Und er fügt kurz darauf hinzu: "Nur Dilettanten stellen alles in der Kunst aufs Unbewußte ab" (Adorno: 21). Damit ist das Zentrum der Auseinandersetzung um psychoanalytische Literaturinterpretation erreicht, eine Auseinandersetzung, die natürlich auch für das Verhältnis von Psychoanalyse und phantastischer Literatur sowie eine psychoanalytische Phantastikdefinition entscheidend ist. Es geht im Kern faßt man Adornos und Lorenzers Kritik zusammen - um die vielleicht von Wilhelm Stekel, einem Psychoanalytiker der ersten Generation, am plakativsten formulierte These, daß "[...] zwischen dem Neurotiker und dem Dichter gar kein Unterschied besteht." Und umstandslos fügt Stekel hinzu: "Nicht jeder Neurotiker ist ein Dichter. Aber jeder Dichter ist ein Neurotiker" (Stekel: 5). Stekel hat somit 1909 eine populäre und im weiteren Verlauf folgenreiche Formulierung für das Verhältnis von Schriftsteller und seelisch Krankem gefunden. Dieses Postulat von der Verwandtschaft oder gar Identität von Künstler und Neurotiker hat in der Folge immer wieder zu Mißverständnissen geführt. So findet sich etwa bei Norbert Groeben die folgende Bemerkung: Die These vom Künstlertum durch Neurose hat, wie schon die psychoanalytischen Biographien erkennen lassen, ihre wichtigste wissenschaftliche Grundlage durch die Psychoanalyse gewonnen. (Groeben: 47)

Ein Moment einer solchen psychoanalytischen Biographik findet sich auch in Freuds Studie über das Unheimliche, in der Freud die Erzählung Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann interpretiert (Freud 3 1966). In diesem Aufsatz hat Freud zentrale Ideen zur phantastischen Literatur entwickelt, die in der Folge immer wieder Ansatzpunkt für psychoanalytisch inspirierte Interpretationen phantastischer Literatur waren.3

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II DAS UNHEIMLICHE ... ODER DOCH DAS PHANTASTISCHE? Freud hatte 1919 im 5. Band der von ihm maßgeblich beeinflußten Zeitschrift Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf Geisteswissenschaften, die von seinen Schülern Hanns Sachs und Otto Rank Anfang 1912 gegründet worden war, eine Untersuchung zum Unheimlichen veröffentlicht. Diese Schrift enthält mit Passagen aus "Eine Teufelsneurose im 17. Jahrhundert", "Der Dichter und das Phantasieren" und Der Wahn und die Träume in W. Jensens 'Gradiva' die wichtigsten Überlegungen Freuds zu jenem Texttyp, der heute als phantastische Literatur klassifiziert wird. Freud untersucht in "Das Unheimliche" das gleichnamige Phänomen sowohl im alltäglichen Erleben als auch in der Literatur und zwar als psychisches Phänomen. Er beschreibt es eingangs als eine Sonderform des Angstund Grauenerregenden. Für ihn ist es ein besonderes "Gefühl" (Freud 31966: 231) (und nicht etwa etwas Substantielles, eine Wesenheit oder Ähnliches), das "auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht" (Freud 31966: 231). Ausgangspunkt einer umfangreichen lexikalischen und etymologischen Untersuchung der Wörter 'heimlich' und 'unheimlich' im ersten seiner in drei Teile gegliederten Untersuchung ist für Freud zunächst die Frage, "wie das möglich ist, unter welchen Bedingungen das Vertraute unheimlich schreckhaft werden kann" (Freud 31966: 231). Er kommt zunächst zu dem Ergebnis, daß "heimlich" im Sinne von "vertraut" im Laufe der sprachlichen Entwicklung mit seinem Gegenteil 'unheimlich' zusammenfalle. Das Wort 'unheimlich' sei mithin kein einfacher Gegensatz zu 'heimlich', sondern "unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich" (Freud 31966: 237). Eine tiefgreifende Ambivalenz durchzieht also das Wort 'unheimlich'. Einerseits gehört es dem "Vorstellungskreis" des "Vertrauten, Behaglichen" (Freud 31966: 235) an, andererseits aber auch dem des "Versteckten, Verborgengehaltenen" (Freud 3 1966: 235). Besonders hebt Freud eine Bemerkung Schellings hervor, derzufolge 'unheimlich' all das sei, was verborgen gehalten werden sollte und sich gleichsam einen Weg zum Licht gebahnt habe. Im zweiten Teil seiner Analyse sucht Freud daraufhin die "Personen und Dinge, Eindrücke, Vorgänge und Situationen" zu fokussieren, "die das Ge-

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fühl des Unheimlichen in besonderer Stärke und Deutlichkeit in uns zu erwecken vermögen" (Freud 3 1966: 237). Er zieht dazu insbesondere E.T.A. Hoffmanns Sandmann heran. Freud kommt bei seiner Untersuchung der Erzählung zu dem Schluß, daß, entgegen der Auffassung E. Jentschs, seines Vorläufers bei der Analyse des Unheimlichen, eine intellektuelle Unsicherheit, eine Unschlüssigkeit hinsichtlich der Beseelt- oder Unbeseeltheit der Puppe Olimpia nichts mit der unheimlichen Wirkung der Erzählung zu tun habe. Ganz wie Todorov betrachtet Freud also das Unheimliche - dies wurde bereits angedeutet - als Gefühl. Todorov hatte bekanntlich seine Definition des Phantastischen in Abgrenzung zu dem Gefühl des Unheimlichen als DifferenzbegrifF entwickelt: Das Unheimliche erfüllt, wie man sieht, nur eine einzige der Voraussetzungen für das Fantastische: die Beschreibung bestimmter Reaktionen, insbesondere der Angst. Es ist einzig an die Gefühle der Personen gebunden und nicht an ein materielles Ereignis, das der Vernunft die Stirn bietet (das Wunderbare hingegen ist [...] durch die bloße Existenz übernatürlicher Fakten gekennzeichnet, ohne gleichzeitig die Reaktion zu implizieren, die diese Fakten bei den handelnden Personen hervorrufen). (Todorov 1992: 45)

Das Gefühl des Unheimlichen im Sandmann sieht nun Freud wiederum auch nicht an den Zweifel hinsichtlich der Beseeltheit der Puppe Olimpia gebunden, sondern es hafte vielmehr "direkt an der Gestalt des Sandmannes, also an der Vorstellung, der Augen beraubt zu werden" (Freud 3 1966: 242). Freud thematisiert den Moment des Umschlages, der das Phantastische im Sinne Todorovs permanent in seiner Existenz bedroht, für das Unheimliche: Der Zweifel an der Beseeltheit, den wir bei der Puppe Olimpia gelten lassen mußten, kommt bei diesem stärkeren Beispiel des Unheimlichen überhaupt nicht in Betracht. Der Dichter erzeugt zwar in uns anfanglich eine Art von Unsicherheit, indem er uns, gewiß nicht ohne Absicht, zunächst nicht erraten läßt, ob er uns in die reale Welt oder in eine ihm beliebige phantastische Welt einfuhren wird. [...] Aber im Verlaufe der Hoffmannschen Erzählung schwindet dieser Zweifel, wir merken, daß der Dichter uns selbst durch die Brille oder das Perspektiv des dämonischen Optikers schauen lassen will [...]. Der Schluß der Erzählung macht es ja klar, daß der Optiker Coppola wirklich der Advokat Coppelius und also auch der Sandmann ist. (Freud 3 1966: 242)

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Todorov hatte definiert: "Das Fantastische ist die Unschlüssigkeit, die ein Mensch empfindet, der nur die natürlichen Gesetze kennt und sich einem Ereignis gegenübersieht, das den Anschein des Übernatürlichen hat" (Todorov 1992: 26). Das Phantastische besetzt lediglich die Zeit des Zweifels, der Unsicherheit. In dem Moment, in dem der mit dem scheinbar unerklärlichen Phänomen Konfrontierte dieses mittels der bekannten Naturgesetze als realitätskompatibel - oder aber mit Hilfe okkultistischer, nichtwissenskonformer Erklärungsmodelle als realitätsinkompatibel konstatiert, "kippt" das Phantastische ins "étrange" - das Unheimliche oder ins "merveilleux" - das Wunderbare. Freud konstatiert hingegen fur das Unheimliche, daß es durch die Auflösung einer intellektuellen Unsicherheit in keiner Weise in seiner Existenz affiziert wird. Das Unheimliche ist also, obwohl dem Phantastischen benachbart, von gänzlich anderer Struktur. Das Unheimliche im Sandmann, das literarische Unheimliche mithin, sieht Freud zunächst in der Angst Nathanaels, die Augen zu verlieren. Die "Angst um die Augen, die Angst zu erblinden", aber ist "häufig genug ein Ersatz für die Kastrationsangst", wie das "Studium der Träume, der Phantasien und Mythen" (Freud 3 1966: 243) lehre. "Wir würden es also wagen", so fugt Freud kurz darauf hinzu, "das Unheimliche des Sandmannes auf die Angst des kindlichen Kastrationskomplexes zurückzufuhren" (Freud 3 1966: 245). Im weiteren Verlauf des zweiten Abschnittes seines Aufsatzes untersucht Freud noch andere Werke Hoffmanns und kommt dabei u. a. auf die Elixiere des Teufels zu sprechen. Hierbei arbeitet er neben der Kastration noch weitere Themenbereiche heraus, die das Gefühl des Unheimlichen hervorrufen. So nennt er insbesondere "das Doppelgängertum in all seinen Abstufungen und Ausbildungen" (Freud 3 1966: 246) sowie andere Ich-Störungen, die das Ich regressiv in seiner Identität und Integrität bedrohen. Zu diesen Störungen zählt Freud auch alle Formen der "gleichartigen Wiederkehr", (Freud 3 1966: 251) die er mit dem Wiederholungszwang verbindet. Der dritte Motivkomplex ist der, den Freud als "Allmacht der Gedanken" bezeichnet, d. h. also jener Glaube an die unmittelbare Realisierung von Wünschen und Vorstellungen.

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Der Mechanismus, der all diese Motivkomplexe unheimlich werden läßt, ist Freuds Ansicht nach jener, den er in seiner sogenannten ersten Angsttheorie analysiert: Jeder Affekt einer verdrängten Gefühlsregung kann durch die Verdrängung in Angst verwandelt werden. Das Unheimliche, das Freud bei Hoffmann entdeckt, resultiert, ja ist Freud zufolge eben die aus der Verdrängung entstandene Angst4, die bei der Wiederkehr des Verdrängten erneut frei wird. Dies sei die "geheime Natur des Unheimlichen" (Freud 3 1966: 254). Und "so verstehen wir, daß der Sprachgebrauch das Heimliche in seinen Gegensatz, das Unheimliche übergehen läßt" (Freud 31966: 254). Er bringt diesen Sachverhalt auf die Formel, die Vorsilbe "un-" des Wortes "unheimlich" sei die "Marke der Verdrängung" (Freud 3 1966: 259). Im dritten Teil seiner Untersuchung etabliert Freud eine poetologisch folgenschwere Unterscheidung, indem er die Differenz von einem "Unheimlichein] des Erlebens" und einem "Unheimliche[n] der Fiktion" (Freud 3 1966: 263 f) einführt. Seine Theorie zur Genese des Gefühls des Unheimlichen im Erleben wurde inzwischen vorgestellt: Es komme zustande, "wenn verdrängte infantile Komplexe durch einen Eindruck wieder belebt werden, oder wenn überwundene primitive Überzeugungen wieder bestätigt scheinen" (Freud 31966: 263). Das Unheimliche ist das von früher her Vertraute, schon Bekannte, das als Verdrängtes oder Überwundenes im Innern des Individuums fortlebt und scheinbar plötzlich in der Außenwelt wieder auftaucht oder eine Bestätigung erfahrt. Das Unheimliche geht von Motiven wie eben dem Kastrationskomplex oder der Mutterleibsphantasie5 aus, wenn sie durch bestimmte reale Erlebnisse aktualisiert werden. Nun differiert aber "das Unheimliche der Fiktion - der Phantasie, der Dichtung" (Freud 3 1966: 264) von dem des Erlebens. Ersteres ist vor allem weit reichhaltiger als das Unheimliche des Erlebens, es umfaßt dieses in seiner Gänze und dann noch anderes, was unter den Bedingungen des Erlebens nicht vorkommt. Der Gegensatz zwischen Verdrängtem und Überwundenem kann nicht ohne tiefgreifende Modifikationen auf das Unheimliche der Dichtung übertragen werden. (Freud 31966: 264)

Das "Reich der Phantasie" nämlich ist hinsichtlich seiner Inhalte der Realitätsprüfung enthoben. Hier gelten ganz andere Kriterien. In der Dichtung erzielen viele Momente nicht die unheimliche Wirkung, die sie in der Realität

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provozieren würden. Anderseits lassen sich in der Dichtung unheimliche Wirkungen erreichen, die in der Realität nicht zu erzielen sind. Freud verweist für den ersten Fall vor allem auf das Märchen, in dem die Welt der tagtäglich erlebten Realität vom ersten Satz an suspendiert wird und amnestische Überzeugungen wie Zauber, Magie, Allmacht der Gedanken, Belebung des Leblosen selbstverständlich sind, aber keine unheimliche Wirkung entfalten. In der Folge formuliert Freud hierfür eine Begründung, die überraschen muß. Plötzlich nämlich ist für ihn die anfangs diskutierte und als unwesentlich zurückgestellte Bestimmung des Unheimlichen als die Provozierung einer intellektuellen Unsicherheit (konkret auf den Sandmann bezogen: eines Zweifels hinsichtlich der Belebt- oder Unbelebtheit der Figur Olimpia6) von maßgeblicher Bedeutung. Das Märchen vermag trotz der Motivkomplexe, die in der Lebenswelt das Gefühl des Unheimlichen erzeugen, letzteres nicht hervorzurufen, "denn für die Entstehung des unheimlichen Gefühls ist der Urteilsstreit erforderlich, ob das überwundene Unglaubwürdige nicht doch real möglich ist" (Freud 31966: 264). Dies ist aber gerade im Märchen nicht der Fall, es ist eine Frage, die, wie Freud betont, "durch die Voraussetzungen der Märchenwelt überhaupt aus dem Wege geräumt ist" (Freud 31966: 264). Damit greift Freud aber bei der Analyse des Gefühles des Unheimlichen im Bereich des Literarischen ganz wesentlich auf eine Bestimmung zurück, die Todorov und die ihm folgenden Theoretiker phantastischer Literatur als für letztere entscheidend betrachten. Der Eindruck einer Parallelität zwischen der Freudschen und der Todorovschen Konzeptionen setzt sich fort. Freud entwickelt nämlich im weiteren Verlauf seiner Argumentation eine Typologie des Fiktional-Unheimlichen. Neben dem Märchen steht bei ihm eine Welt [...], die, minder phantastisch als die Märchenwelt, sich von der realen doch durch die Aufnahme von höheren geistigen Wesen, Dämonen oder Geistern Verstorbener scheidet. Alles Unheimliche, was diesen Gestalten anhaften könnte, entfällt dann, soweit die Voraussetzungen dieser poetischen Realität reichen. (Freud 3

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Weiterhin habe der Dichter die Möglichkeit, scheinbar das Universum der handelnden Figuren als das der alltäglichen Lebenswelt zu konstituieren. In

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diesem Fall "übernimmt er auch alle Bedingungen, die im Erleben für die Entstehung des unheimlichen Gefühls gelten, und alles was im Leben unheimlich wirkt, wirkt auch so in der Dichtung" (Freud 31966: 265). Allerdings besitze der Dichter dann auch die Macht das Unheimliche weit über das im Erleben mögliche Maß hinaus zu steigern und vervielfältigen, indem er solche Ereignisse vorfallen läßt, die in der Wirklichkeit nicht oder nur sehr selten zur Erfahrung gekommen wären. (Freud 3 1966: 265)

Schließlich vermöge der Dichter so zu gestalten, daß er uns lange Zeit über nicht erraten läßt, welche Voraussetzungen er eigentlich für die von ihm angenommene Welt gewählt hat, oder daß er kunstvoll und arglistig einer solchen entscheidenden Aufklärung bis zum Ende ausweicht. (Freud 3 1966: 266)

Mit dieser Typologie des Unheimlichen in der Dichtung und insbesondere mit dem zuletzt beschriebenen Szenario aber hat Freud die differenztheoretische Definition Todorovs vorweggenommen. Es hat durchaus den Anschein, als beziehe sich Freud im Verlaufe seiner Ausfuhrungen immer mehr auf das von Todorov eben später "phantastisch" Genannte. Von der Analyse eines Gefühls geht er mehr und mehr zu den Strukturprinzipien eines Handlungsaufbaus von fiktionaler Literatur über, die beim Leser unheimliche Wirkungen zu erzielen vermag. Das beste Mittel hierzu ist dabei, wie Freuds zuletzt zitierte Bemerkung deutlich macht, den Leser im Ungewissen über den Charakter des erzählerischen Universums zu lassen.7 Genau dies ist auch für Todorov ein Moment der das Phantastische konstituierenden Ambiguität.8 So spricht Todorov von der "Unschlüssigkeit gegenüber dem Realen und (sagen wir) dem Illusorischen [...]. Man hat sich zu fragen, ob das Gesehene nicht auf einem Betrug oder auf einer Sinnestäuschung beruht [...]" (Todorov 1992: 36). Oder auch von einer anderen "Spielart des Fantastischen, bei der die Unschlüssigkeit sich zwischen dem Realen und dem Imaginären situiert." Bei letzterem frage sich der Leser, "ob das, was man wahrzunehmen glaubt, nicht ein Produkt der Einbildungskraft sei" (Todorov 1992: 36). Freuds Übergang von einer genetischen Untersuchung des Gefühls des Unheimlichen zu einer de facto-Beschreibung des Phantastischen avant la lettre als jener "Mittellinie [...], die das Fantastisch-Unheimliche vom Fanta-

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stisch-Wunderbaren" (Todorov 1992: 43) im bekannten graphischen Schema Todorovs trennt, ist poetologisch bedeutsam. In der Forschung wurde dies bislang nicht thematisiert. So gehen z. B. weder Weber noch Mahlendorf auf diesen Aspekt ein, obwohl sie sich beide intensiv mit der Freud-Lektüre des Hoffmannschen Sandmannes auseinandersetzen (Weber und Mahlendorf). III NEUROSE UND PHANTASTIK Mit dem "Unheimlichen" hatte Freud 1919 das Modell für die psychoanalytische Betrachtung des literarischen Unheimlichen und literarischer Phantastik entworfen, das trotz einiger Revisionen immer wieder angewandt wurde. In der Folge wurden zwei Probleme im Zusammenhang mit der psychoanalytischen Konzeption des Unheimlichen und der Phantastik virulent. Zum Ersten gab es bei einigen Nachfolgern Freuds die Tendenz, im Sinne des Eingangszitates Adornos, Psychopathologien von Schriftstellern - Autoren literarischer Phantastik waren hier beliebte Studienobjekte - zu entwerfen. Stets ging es darum zu untersuchen, wie sich das Unbewußte von Schriftstellern in ihr Werk transformierte. Die dreibändige Studie der FreudSchülerin Marie Bonaparte über Edgar Allen Poe aus dem Jahr 1933 ist hier ein leicht zugängliches Beispiel. Bonaparte geht es, wie sie programmatisch schreibt, darum, mittels Analyse der wichtigsten unbewußten Themen, die die Poeschen Erzählungen strukturieren, "das Leben des Dichters zu illustrieren" (Bonaparte, Bd. 2: 7). Poe sei krank und dies sucht diese Autorin zu zeigen: Noch bevor Edgar zwanzig Jahre alt war, hat er jene Verse geschrieben, welche seine persönlichste Auffassung von der Liebe aussprachen, eine Auffassung, der er sein ganzes Leben hindurch treu geblieben ist: 'Ich konnte nur dort lieben, wo der Tod seinen Hauch mit dem der Schönheit mischte.' Und das war für Poe mehr als eine der romantischen Eingebungen, wie seine Zeit sie liebte: hier war der Ausdruck seiner tiefsten Natur, der nach den frühesten Erinnerungen modelliert wurde. Diese Lockung war notwendigerweise mit Schrecken gemischt. Das verängstigte Ich floh vor einer so fürchtbaren Liebesfixierung. Denn Edgar Poe war ein Psychopath und nicht pervers. Wenn er durch die psychischen Traumen aus seiner Kindheit ein

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"Nekrophiler' wurde, so ist er ein zu einem Teil 'verdrängter', zum andern ein 'sublimierter1 Nekrophiler geworden, und das gibt den Schlüssel zu seiner Psychoneurose, zu seinem Charakter, zu seinem Leben, zu seinem Werk. (Bonaparte, Bd. 2: 42 - 43)

Hier findet genau die Gleichsetzung statt, von der Lorenzer in der anfangs zitierten Bemerkung gesprochen hatte - jene "Auflösung des Unterschieds zwischen Literatur- und Patientenäußerung", jene Gleichsetzung von Dichter und Neurotiker. Bonaparte bestätigt dies an anderer Stelle, wenn sie ausführt: wenn Poe nicht die geniale Gabe besessen hätte, seine fürchterlichen Triebe in den Erzählungen zu sublimieren, sie gleichsam in den glänzenden Schleier des Ästhetischen einzuhüllen, so würde er vielleicht manches Jahr seines Lebens im Gefängnis oder Irrenhaus verbracht haben. (Bonaparte, Bd. 2: 7)

Nun kann man den Vorwurf Lorenzers nicht den Schülern Freuds allein machen. Sie folgten in dieser Tendenz zur Psychopathographie einer Tendenz, die im Aufsatz über das Unheimliche bei Freud selbst auch angelegt war. Freud schließt eine Fußnote, in der er den den Sandmann seiner Ansicht nach strukturierenden Kastrationskomplex Nathanaels und dessen ambivalente Vaterbeziehung analysiert, mit den Worten: E. T. A. Hoffmann war das Kind einer unglücklichen Ehe. Ehe er drei Jahre war, trennte sich der Vater von seiner kleinen Familie und lebte nie wieder mit ihr vereint. Nach den Belegen, die E. Grisebach in der biographischen Einleitung zu Hoffmanns Werken beibringt, war die Beziehung zum Vater immer einer der wundesten Stellen in des Dichters Gefühlsleben. (Freud 3 1966: 245, Anm. 1)

Man sieht: Freud ist in der Arbeit über das "Unheimliche" nicht eindeutig; einerseits schlägt er eine genetisch-strukturelle Interpretation des Phänomens des Unheimlichen anhand des Sandmannes für die unheimliche und phantastische Literatur vor. Andererseits fallt er dann gleichsam hinter seine eigene Analyse zurück, indem er einen psychopathographischen Ansatz zur Basis seiner Hoffmann-Interpretation macht. Es ist allerdings in diesem Zusammenhang auf die grundsätzliche Grenze jeder psychoanalytischen Dichtungsinterpretation hinzuweisen, die Freud deutlich sieht. Für ihn ist das Wesen der künstlerischen Leistung psychoanalytisch unzugänglich.9 Freuds Theorie künstlerischen, speziell schriftstellerischen Schaffens blieb bis zum Schluß zweideutig: Schon vor dem Aufsatz über das Unheimliche

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war er in einem Diskussionsbeitrag zu M a x Grafs Vortrag zur "Methodik der Dichterpsychologie" auf das Verhältnis v o n Pathographie und Psychoanalyse eingegangen. Graf hatte programmatisch das Vorgehen psychoanalytischer Literaturinterpretation formuliert: V o n den Werken ausgehend, v o n ihren Zentralmotiven, könne man den inneren Mechanismus der Psyche des Dichters klarlegen. V o n da aus sei eventuell über eine vergleichende Künstlertypologie zu einer "Theorie des künstlerischen Schaffens zu gelangen". Freud stimmte dem grundsätzlich zu und postuliert folgende Rangordnung z w i schen Pathographie und Psychoanalyse (resp. psychoanalytischer Biographik): Gegenstand der Pathographie kann jeder Dichter werden, der Neigung zum Abnormen zeigt. Die Pathographie ist jedoch nicht imstande, etwas Neues zu zeigen. Die Psychoanalyse dagegen gibt Auskünfte über den Schaffensprozeß. Die Psychoanalyse verdient einen Platz vor der Pathographie. (Freud 1976: 250) Otto Rank, ebenfalls ein Freud-Schüler, hatte 1926 dann schon jeder verkürzenden Betrachtungsweise eine Absage erteilt und eine sehr moderne Version psychoanalytischer Theorie literarischen Schaffens vorgeschlagen. Er formulierte dabei auch differenziert das Verhältnis v o n Neurotiker und Schriftsteller: Was der Dichter so letzten Grundes mit dem Neurotiker gemeinsam hat, ist das übermächtige, vorzeitig nach Betätigung und Phantasiebildung drängende Triebleben und die zu seiner Eindämmung erforderlichen mächtigen Hemmungen, die das Schuldgefühl konstituieren. Bis zu diesen Konflikten läuft die Entwicklung ziemlich parallel; dann findet aber der Künstler den Weg, das schädliche Übermaß an unbezähmbarem Trieb und an drückendem Schuldgefühl in rechtfertigender Befreiung unter sozialer Sanktion zu entladen, während der Neurotiker, zwischen Trieb und Schuldgefühl schwankend, des Konfliktes in keiner Weise Herr zu werden vermag. [...] So wenig man das Kunstwerk schlechtweg mit dem Traum identifizieren darf, so wenig hat man ein Recht, es ausschließlich als neurotisches Symptom oder seinen Urheber, solange er leistungsfähig bleibt, als krankhaften Neurotiker zu werten. Ein tieferes Verständnis der seelischen Verwandtschaft des Dichters mit dem Neurotiker wird uns vielmehr gerade zu der Einsicht führen müssen, daß der Dichter allerdings hart an der Grenze der Neurose steht - die er stellenweise auch überschreitet - , daß er sie aber im allgemeinen eben durch seine künstlerische Produktion noch zu überwinden imstande ist. (Rank: 21 - 23)

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Soweit zum ersten Problem, das sich mit und im Anschluß an Freuds Theorie des Unheimlichen und der phantastischen Literatur stellt. Es wird unten noch gezeigt, wie die aktuelle psychoanalytische Phantastikkritik den Forderungen Freuds Rechnung trägt und von der Pathographie über eine psychoanalytische Biographik zu einer Strukturanalyse phantastischer Texte übergeht. Ein zweites Problem betrifft die unbewußten Komplexe, die Natur der Verdrängung, welche die Psychoanalyse in der phantastischen Literatur identifiziert. Untersucht man, auf welche Weise den Protagonisten phantastischer Literatur die Welt aus den Fugen gerät, sich ihnen die Realität verrückt, so gewinnt die Freudsche These, daß die Phantastik unbewußte Vorgänge widerspiegele, an Validität. Es stellt sich aber auch nach der Freudschen Analyse des Sandmannes die Frage, von welcher Art dieses Unbewußte ist. In einer neueren Untersuchung zu Phantastik und Wahnsinn (Lederer) wird hierzu sehr kritisch Stellung bezogen. Ihr Autor, Horst Lederer, ist der Ansicht, die Psychoanalyse gehorche zwei Vorgaben: Sie vermeint erstens, an phantastischen Geschichten den Verlauf einer Neurose ausmachen zu können. Zweitens untersucht sie in Anlehnung an die analytische Praxis nicht die Gattung, sondern mißdeutet phantastische Erzählungen als Psychopathographien ihrer Produzenten. (Lederer: 180)

Auf den zweiten Punkt ist bereits oben eingegangen worden. Problematischer ist das erste Postulat. Es seien die Präzisierungen, die Lederer entwickelt, genauer in den Blick genommen: Sie [also die psychoanalytische Lesart der Phantastik] rekurriert dabei auf die psychoanalytische Neurosenlehre und begreift Freuds Definition des 'Unheimlichen' als 'Wiederkehr des Verdrängten' und somit wie selbstverständlich der Neurose zugehörig. Das phantastische Universum setze sich aus Erinnerungsbildern zusammen, die aus dem Unbewußten aufstiegen; sie wiesen zurück auf frühkindliche Empfindungsmuster und eine fehlgeleitete sexuelle Entwicklung ihrer Autoren. [...] Die Psychoanalyse hat die Neurose zum universellen Erklärungsprinzip erhoben. (Lederer: 180)

Lederer plädiert hingegen (wie schon der Titel seines Buches signalisiert) für eine Lesart, die vom Wahnsinn und damit, so seine Interpretation, von der Psychose ausgehen müsse. Es kann hier natürlich nicht im einzelnen auf die

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ganze Skala seelischer Erkrankungen, die das Feld der klinischen Psychiatrie und ihrer Nosographie konstituieren, eingegangen werden. Daher seien nur in Kürze und stark schematisierend einige Erläuterungen erlaubt. Die Psychoanalyse war nicht von vornherein an Klassifizierungen seelischer Krankheiten interessiert. Aus diesem Grund sind ihre nosographischen Kategorien auch schwankend, was auch die Unterscheidung von Neurose und Psychose betrifft. Schematisch kann man sagen, daß eine Grundunterscheidung die von narzißtischen und Übertragungsneurosen ist. Zu letzteren wurden gewöhnlich Angsthysterie, also Phobien, Konversionshysterie und Zwangsneurose gerechnet. Unter die narzißtischen Neurosen hingegen fielen die Psychosen, insbesondere die Schizophrenie und die Paranoia. Die Übertragungsneurosen erhielten ihren Namen aufgrund ihrer Zugänglichkeit für die psychoanalytische Behandlung. Sie lassen sich nämlich als künstliche Neurosen reaktualisieren. Hierbei wird die konfliktauslösende Beziehung auf den Analytiker übertragen, so daß infantile Konflikte wiederholt werden. Anders bei der Psychose und der Schizophrenie. Sie zeichnet als narzißtische Phänomene aus, daß diese Übertragungsmöglichkeit fehlt, weil hier die Libido, die Triebenergie, nicht auf Ersatzobjekte verschoben werden kann. Dies ist deswegen der Fall, weil sie von den Objekten und der Realität aufs Ich zurückgezogen ist. Die psychoanalytische Theorie sieht den gemeinsamen Nenner dieser Störungen "in einer primären Störung der libidinösen Beziehung zur Realität" (Laplanche/Pontalis: 413). Der Mechanismus der Neurose im Vergleich zu dem der Psychose läßt sich daher mit anderen Worten so beschreiben: Während bei der Neurose das Ich, den Anforderungen von Über-Ich und Realität gehorchend, Triebforderungen verdrängt, kommt es bei der Psychose zuerst zu einer Ruptur zwischen dem Ich und der Realität, die das Ich der Herrschaft des Es überläßt; in einem zweiten Abschnitt, dem des Wahns, baut das Ich eine neue Realität auf, die mit den Wünschen des Es übereinstimmt. (Laplanche/Pontalis: 416)

Das bedeutet hier, daß eine innere Wahrnehmung, die als unerträglich nicht akzeptiert werden kann, nun aber nicht sozusagen nach innen verdrängt, sondern nach außen verworfen wird. Von dort kommt ihr Inhalt entstellt als äußere Wahrnehmung zurück.10

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Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß der Vorwurf Lederers, die Psychoanalyse sehe in der phantastischen Literatur immer als Kern eine Neurose, problematisch ist. Denn erstens haben beiden Störungsformen eine gemeinsame Grundlage: die Verdrängung in früher Kindheit. Freud hatte das Unheimliche im Sandmann lediglich an der Wiederkehr dieses Verdrängten festgemacht, nicht aber von einer Neurose des Nathanael gesprochen. Zweitens läßt sich zeigen, daß Freud in seiner Analyse des Sandmannes keine Beschreibung einer Neurose vorlegt. Er kennzeichnet die Liebe Nathanaels zur Puppe Olimpia als narzißtische und als ihre Bedingung gibt er an, daß "der ihr Verfallene sich dem realen Liebesobjekt entfremdet" (Freud 31966: 245, Anm. 1) habe. Weiterhin spricht Freud von einer femininen Einstellung Nathanaels dem Vater gegenüber und erwähnt desweiteren einen Verfolgungswahn Nathanaels. Mit anderen Worten, er beschreibt hier wesentliche Elemente einer spezifischen Psychose, der Paranoia. Mithin ist also auch der zweite Vorwurf Lederers falsch, die Psychoanalyse sei sozusagen pathologisch neurosefixiert. Stattdessen gilt es festzuhalten und zu unterstreichen: Freud analysiert im "Unheimlichen" genetisch und strukturell einen für die Phantastik unentbehrlichen Mechanismus auf der Basis seiner Psychosekonzeption. IV DAS UNBEWUSSTE IM PHANTASTISCHEN TEXT Ich möchte damit zu postfreudianischen Versuchen psychoanalytischer Phantastikinterpretation kommen. Der meines Erachtens wichtigste Vertreter einer solchen psychoanalytischen Phantastikdeutung ist Jean Bellemin-Noël. Von ihm stammen wichtige Untersuchungen zur literarischen Phantastik wie "Des formes fantastiques aux thèmes fantasmatiques" (1971), "Notes sur le fantastique" (1972), sowie L'inconscient du texte von 1979, Gradiva au pied de la lettre aus dem Jahre 1983 und zuletzt Interlignes I und II (1988) und (1991). Sein Ansatz geht genau von jenem nicht-biographischen aus, den Rank und auch Lederer fordern und zwar in Richtung einer "textanalyse", einer Psychoanalyse des phantastischen Textes und nicht des Autors. Dabei ver-

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sucht er insbesondere auch die Probleme einer "psychocritique" im Sinne Charles Maurons zu vermeiden. Mauron mache zwar im Vergleich zur "psychobiographie" den entscheidenden Fortschritt, daß er sich in erster Linie der unbewußten Strukturen von Texten annimmt. Auf die Lebensgeschichte der Autoren der untersuchten Texte rekurriere Mauron nur, um am Schluß der Textanalyse zu einer Bestätigung der im Verlaufe der Lektüre gebildeten Hypothesen zu gelangen. Doch sieht Bellemin-Noël hier eine unfruchtbare unabschließbare Bewegung angelegt: auf der Basis einer Analyse des gesamten Werkes eines Autors wird dessen Portrait entworfen. Dieses Portrait soll in der Folge dann dazu dienen, das gesamte Werk weiter zu erhellen - was dann wiederum dazu dienen soll, die Figur des Autors weiter transparent zu machen usw. usf. Einem solchen Circulus vitiosus sucht Bellemin-Noël dadurch zu entgehen, daß er gerade nicht die Gesamtheit der Werke eines Autors analysiert. Vielmehr entwickelt er exemplarisch am Beispiel Théophile Gautiers an einem beschränkten Textkorpus seine Definition des Phantastischen als Inszenierung einer Autorphantasie (Bellemin-Noël 1972). Der Ausgangspunkt seines Interpretationskonzeptes phantastischer Literatur" ist fur Bellemin-Noël die Definition der literarischen Phantastik 1. als einer spezifischen Art des Erzählens und 2. als eines narrativen Modus, der wesentlich als Phantasie, als "fantasme" strukturiert ist.12 Hinsichtlich der Erzähltechnik bietet Bellemin-Noëls Ansatz kaum Neues. Er folgt im wesentlichen Todorovs strukturalistischer Theorie phantastischen Schreibens. Nur stichwortartig seien die wichtigsten narrativen Elemente genannt, die Bellemin-Noël als konstitutiv für die phantastische Literatur betrachtet: Als zentrales Moment definiert Bellemin-Noël "le fantasmagorique". Dieses bezeichnet zunächst die Techniken, die in der Erzählung angewandt werden, um dieser jenen eigenartigen Status zu verleihen, den Todorov als Kategorie der Rezeption "hésitation" und Freud als "intellektuelle Unsicherheit" charakterisiert hatten - eine "irrésolution de la situation ou du lecteur" (Bellemin-Noël 1972: 4). Bellemin-Noël siedelt das "fantasmagorique" zwischen dem "romanesque général", dem "merveilleux" und der "science

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fiction" an. Es bedarf also auf seiten des Erzählers/Helden wie auch des Lesers eines Zweifels, wo das Geschehen der phantastischen Erzählung anzusiedeln ist: Traum, Imagination, Halluzination, Vision? In der Folge bemüht sich Bellemin-Noël (auch in diesem Punkt folgt er Todorov), die Phantastik als Differenzbegriff, als relationale und dynamische Kategorie zu bestimmen. Ist es charakteristisch für die literarische Fiktion, daß a definitione Imaginäres als real ausgegeben wird, "l'imaginaire comme réel" (Bellemin-Noël 1972: 4), so läßt die Phantastik in einer Art Subversion in eins mit seiner narrativen Genese den Zweifel in diese konstruierte Realität einsickern - wodurch der Leser orientierungs- und richtungslos wird. Dies wird dadurch erreicht, daß beispielsweise 1. am Anfang des Textes dieser als phantastisch bezeichnet wird (Hoffmann, Gautier); 2. der Erzähler verdoppelt wird: der Hauptperson, dem erlebenden Helden wird ein alter ego zur Seite gestellt, ein "narrateur-témoin", ein "relais". Oft nämlich wird der Held beim Zusammentreffen mit dem scheinbar Übernatürlichen seiner narrativen Kompetenz beraubt - oder er wird gar physisch eliminiert; 3. das entscheidende Moment im Zentrum phantastischer Texte, das Zusammentreffen mit dem "Monstrum" ist häufig unbeschreiblich "représentation irréprésentable". Mittels Sprache, mit Signifikanten muß etwas bezeichnet werden, dem sich kein Signifikat zuordnen läßt. Daher wird dieses "Etwas" auch häufig als "cela" bezeichnet, als "cette chose", oder es werden Vergleiche und Tropen benutzt: "C'était comme", "cela ne pouvait se décrire". Mit diesen drei spezifischen Erzähltechniken, die das "fantasmagorique" ausmachen, ist Bellemin-Noëls Auffassung zufolge die formal-technische Konstitutionsebene phantastischer Texte beschrieben. Zu dieser muß aber komplementär - und das macht die Originalität des Ansatzes Bellemin-Noëls aus und in diesem Punkt ergänzt er die Konzeption Todorovs und seiner Nachfolger13 - eine strukturelle Komponente hinzutreten. Damit überschreitet Bellemin-Noël die Todorovsche Definition des Phantastischen als reines Rezeptionsphänomen in Richtung auf narratologische Textmerkmale. Dabei

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geht es ihm nicht etwa um eine erneuerte Thematologie, sondern wiederum um eine Form14, die allerdings, wie er selbst betont, "une sorte de schéma narratif, [...] un embryon de récit" (Bellemin-Noël 1972: 7) darstellt: "le fantastique est structuré comme le fantasme", lautet Bellemin-Noëls These. "Fantasme" entlehnt Bellemin-Noël der psychoanalytischen Terminologie und führt es in seinen literaturtheoretischen Kontext als "fantasmatique" ein. In der Psychoanalyse bezeichnet das "fantasme", ein imaginäres Szenarium, in dem das Subjekt anwesend ist und das in einer durch die Abwehrvorgänge mehr oder weniger entstellten Form die Erfüllung eines Wunsches, eines letztlich unbewußten Wunsches darstellt. (Laplanche/Pontalis: 388)

Andererseits ist das, was durch die Erzähltechniken des fantasmagorique inszeniert wird - etymologisch gesehen "l'art de faire venir sur la scène publique des phantomes" (Bellemin-Noël 1972: 4). Und damit hat BelleminNoël den Verbindungspunkt fur "fantasmagorique" und "fantasme/fantasmatique" erreicht. Die phantastische Literatur setzt mittels der ihr eigenen narrativen Verfahren Phantome in Szene. Diese Phantome sind aber nichts anderes als verdrängte, unbewußte Wünsche. Was in Szene gesetzt wird, ist mithin das "irrépresentable, imprésentable". Daher definiert Bellemin-Noël: Un conte fantastique présente en langage écrit, avec le déguisement de rigueur, un fantasme exactement semblable à ceux que présentent dans la psyché individuelle la rêverie diurne, le rêve nocturne, le délire du psychotique et les symptômes verbalisés de la névrose. (Bellemin-Noël 1972: 6)

Das Auftauchen des Monstrums, des Phantoms, dessen, was zugleich ist und nicht sein darf und welches in erzähltechnischer Hinsicht den Höhepunkt des "fantasmagorique" markiert, ist zugleich der Moment der Inszenierung des "fantasmatique". Das Monstrum, das Phantom, das wiederkehrende Verdrängte, das was zu zeigen und zugleich zu verstecken, zu benennen und nicht benennbar ist, markiert den Zusammenfall der beiden Konstitutionsebenen des Phantastischen, von "fantasmagorique" und "fanatasmatique". Das Unbewußte, das sich so im phantastischen Diskurs als eigentlicher "objet du récit" manifestiert, kann nicht in Form einer Typologie von typischen oder universellen Phantasien dingfest gemacht und in eine Taxonomie

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gegossen werden, wie es die Phantastikforschung vor Todorov praktizierte. Denn Bellemin-Noël betont, daß es um eine Form geht, nicht um einen Inhalt, der phantastische Text ist strukturiert wie eine Phantasie, er ist aber keine. Text und Phantasie konstituieren sich gleichzeitig. Ein a definitione nicht ohne weiteres kommunizierbarer, weil unbewußter Wunsch wird im Text in Szene gesetzt. Der Sinn des Textes aber ist nicht mit dem Sinn der Phantasie zu verwechseln. Der Sinn der Phantasie ist die Wunscherfullung - der Sinn des Textes dagegen ist seine Existenz als "schöne Form". Das Ästhetische des phantastischen Textes sieht Bellemin-Noël allerdings nicht in seiner schönen Form, sondern darin begründet, daß er dem Leser seine Genese erfahrbar macht, also die Operationen des Unbewußten, die sich in und zu einem Text verdichten. Dem entspricht ein spezifischer Rezeptionsmodus: Il faut entendre tout en lisant le fantasme qui s'affirme/se déguise/s'accomplit en sous-main. Non pour épingler une 'signification profonde' à chaque texte: pour dégager, et admirer, le travail du sens, c'est-à-dire l'exercice des transformations. [...] La vérité de l'inconscient n'est pas enfermée dans les fantasmes qu'il produit, mais dans son travail même. (Bellemin-Noël 1972: 9)

Es kann für eine psychoanalytische Phantastikforschung nicht darum gehen, hier einen Kastrationskomplex dingfest zu machen und da einen Fetischismus, sondern sie widmet sich dem Zusammentreffen von "fantasmagorique" und "fantasmatique" im Text. So liefert einerseits beispielsweise eine spezifische Autorphantasie dem "fantasmagorique" den Mechanismus, durch den die Substitution eines Objektes durch ein anderes ermöglicht wird.15 Auf der anderen Seite vermag die Phantasie dem "fantasmatique" die Möglichkeit zu eröffnen, eine Erzählung an die Stelle eines Fetischs zu setzen, denn im weiteren Verlauf der Geschichte ist der Fußfetisch tatsächlich durch die Isisfigur und damit - wie Bellemin-Noël interpretiert - durch den Mythos der Isis, also eine Erzählung ersetzt. Psychoanalytische "textanalyse" einer phantastischen Erzählung im Sinne Bellemin-Noëls muß also den beiden Strukturprinzipien dieses Genres Rechnung tragen: Der phantastische Text ist eine spezifische Art der Erzählung die wesentlich, aber nicht ausschließlich durch die Todorovsche "hésitation"

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gekennzeichnet ist. Er ist desweiteren strukturiert wie eine Phantasie im psychoanalytischen Sinne. V DIE FUNKTIONALE PHANTASTIKDEFINITION UND IHRE GRENZEN Es sei zum Schluß noch auf einen Aspekt eingegangen, der das Eingangszitat wieder aufnimmt. Todorov hatte die provokante These vom Tod der phantastischen Literatur vertreten und der Psychoanalyse gleichsam die Rolle der Mörderin zugewiesen. Seine These illustriert eine funktionale Auffassung der Phantastik, die kurioserweise vom Strukturalisten Todorov vertreten wird, der seine Phantastikdefinition gerade nicht thematologisch, ja ganz in Opposition zu einer auf Themen oder Motive rekurrierenden Bestimmung phantastischer Literatur entwickelt (Wörtche: 44 - 56). Todorovs Auffassung weist der phantastischen Literatur eine sehr präzise historische Funktion zu. Diese Literatur hätte nämlich Themen wie Inzest, Nekrophilie oder Homosexualität zu einer Zeit zur Sprache gebracht, als deren Inszenierung in keinem anderen als ihrem Medium möglich gewesen wäre. Gemäß dieser Deutung mußte sie in dem Moment überflüssig werden, als diese Bedingung nicht mehr gegeben war, zu dem Zeitpunkt also, als ein unverstelltes Sprechen über das zuvor Tabuisierte möglich wurde. Foucault hat in Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft (1969) die Internierung des Wahnsinns gegen Ende des 18. Jahrhunderts beschrieben und interpretierte dies als Verbannung der Sprache der Verrückten in die Irrenhäuser. Mit diesen Irrenhäusern und ihren Insassen entstand so "eine gewaltige Reserve an Phantastischem, eine schlafende Welt von Monstren" (Foucault: 367). Die Entstehung der phantastischen Literatur fallt, der funktionalistischen Auffassung zufolge, genau mit dieser Internierungsbewegung zusammen. Literarische Phantastik kann so als "eine Reaktion auf die Verbannung jener Sprache der Verrücktheit" interpretiert werden, die "aufgeklärten Zeitgenossen als 'Gräuel', als Sprachvergehen gegen Vernunft, Sitte und Moral erschien" (Metzner: 83). Die literarische Phantastik habe ab dem Beginn des 19. Jahrhunderts die gestaute Reserve

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von Phantastischem, nunmehr in gesellschaftlich akzeptierter - weil zum mehr oder minder schönen Schein domestizierter - Form freigesetzt. Auf diese Weise sorgte sie fur eine Wiederkehr des Verdrängten, nämlich des in die Irrenhäuser verbannten Sprechens des Wahnsinns, in eine Gesellschaft, für die nur Normalität akzeptabel war. Metzner sieht die Wirkung der literarischen Phantastik als unheimlich im Freudschen Sinne genau in dieser Wiederkehr des ver-rückten Diskurses begründet. Für diese Interpretation spielte die literarische Phantastik für das 19. Jahrhundert tatsächlich die Rolle, welche die Psychoanalyse seit dem Beginn des 20. Jahrhundert übernahm. Mit der Geburt der Psychoanalyse, so die griffige These, habe die Phantastik ihre wichtigste Funktion verloren, denn nunmehr gab es keinen Grund mehr, wie Todorov sagt, auf Vampire oder den Teufel zurückzugreifen, um Nekrophilie oder andere sexuelle Phantasien in Szene setzen zu können. Mit dem Auftauchen eines psychologischen Diskurses, der diese Phantasien direkt und unverstellt zur Sprache bringen konnte, bedurfte es ihrer literarischen Maskierung nicht mehr. Dieses funktionalistische Verständnis der Phantastik hat vieles für sich, und die eingangs ausführlich zitierte Feststellung Todorovs mag durchaus zutreffen. Doch scheint mir, daß man das Ende der "klassischen" Phantastik weniger mit dem Entstehen eines in einem anderen gesellschaftlichen Subsystem angesiedelten Diskurses in Verbindung bringen sollte, als vielmehr mit der Antwort, die im Feld der Literatur selbst auf die Entdeckung des Unbewußten und die Infragestellung des klassischen Subjektbegriffs entwickelt wurde. Die funktionalistische Phantastikauffassung isoliert und verabsolutiert einen Aspekt aus einem komplexen Bedingungsgeflecht literaturexterner und -interner Faktoren, das als Ganzes das literarische Phänomen "Phantastik" konstituiert hat. Den Tod der "klassischen phantastischen Literatur" möchte ich mit Bellemin-Noël daher eher als "signe d'une dilution dans la problématique générale de l'écriture après les révolutions opérées par Proust, Joyce et le surréalisme" (Bellemin-Noël 1971: 118) interpretieren, denn die Freudsche Psychoanalyse für ihn verantwortlich zu machen.

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ANMERKUNGEN 1. Im folgenden wird nach der deutschen Ausgabe 1992 zitiert. 2. Ganz in diesem Sinne äußerte sich auch im Anschluß an Todorov Julia Briggs. Vgl. Briggs: 212. 3. Vgl. etwa die klassische Studie von Marie Bonaparte über Edgar Poe oder die Relektüren der Freudschen Hoffmann-Lektüre von Samuel M. Weber und Ursula Mahlendorf. 4. Samuel M. Weber weist zurecht darauf hin, daß mit Freuds zweiter Angsttheorie, die er 1926 in "Hemmung, Symptom und Angst" entwickelt, sich auch der Kern der Freudschen Theorie des Unheimlichen entscheidend wandeln müßte. Nicht länger resultiert die Angst aus der Verdrängung, sondern sie ist vielmehr die Ursache der Verdrängung: Die Angst vor einer als real beurteilten Gefahr, nämlich der der Kastration, führt zur Verdrängung, so kann man schematisch resümieren. Weber zufolge kann es dementsprechend auch nur der Kastrationskomplex sein, der im Zentrum der Freudschen Theorie des Unheimlichen steht. Auf dieser Basis unternimmt er eine Relektüre u. a. des Sandmannes wie auch der Freudschen Lektüre der Erzählung. Das Unheimliche bestimmt Weber nicht allein als ein Gefühl, sondern im Sinne Lacans ebenfalls als eine Struktur der Wiederkehr und Wiederholung der Kastration. Gemeint ist damit, wie Weber präzisiert, "die Begegnung des begehrenden Subjekts mit der Differenz, wie sie exemplarisch im Kastrationskomplex sich artikuliert" (Weber: 144). Eine Untersuchung des Unheimlichen als dichterische Struktur hätte, so lautet Webers Schlußfolgerung programmatisch, das "Festhalten an der Wahrnehmung jenes kaum Erscheinenden, der Kastration" und zwar "an der Struktur der Darstellung selbst, an der Erzählstruktur zu untersuchen". (Weber: 145) 5. Die Mutterleibsphantasie steht am Ursprung der unheimlichen Vorstellung lebendig begraben zu werden.

hochgradig

6. "Ich muß aber sagen - und ich hoffe, die meisten Leser der Geschichte werden mir beistimmen, - daß das Motiv der belebt scheinenden Puppe

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Olimpia keineswegs das einzige ist, welches für die unvergleichlich unheimliche Wirkung der Erzählung verantwortlich gemacht werden muß, j a nicht einmal dasjenige, dem diese Wirkung in erster Linie zuzuschreiben wäre." Freud, 3 1 9 6 6 : 238. 7.

Freud betont den Referenzkontext, der durch den Dichter geschaffen wird. Letzterer kann die Leserrezeption durch die Spezifizität des poetischen Raumes, in den er seine Figuren stellt, steuern und auf diese Weise

das Gefühl

des Unheimlichen

beim Leser evozieren

oder

verhindern. 8.

Vgl. zu einer substantiellen Kritik des Vorgehens Todorovs, den Zentralbegriff seiner Definition des Phantastischen, die "hésitation" als Rezeptionskategorie und nicht beispielsweise als textstrukturelle Eigenschaft aufzubauen: Wörtche: 47 - 56.

9.

Dies hängt, Freuds Auffassung zufolge, mit dem unvorhersehbaren Bedingungen der Verdrängungsneigung und Sublimierungsfahigkeit zusammen, die er auf die organischen Grundlagen des Charakters zurückführt. Über diese erhebe sich das seelische Gebäude erst, so daß daher eine genaue Analyse der Bedingungen künstlerischer Produktion der Psychoanalyse prinzipiell unmöglich sei.

10. Freud demonstriert diesen Mechanismus am Beispiel einer Paranoia. Das "ich liebe ihn" eines latent Homosexuellen, wird zu "ich liebe ihn nicht, ich hasse ihn ja". Dies wird mittels Projektion zu "er haßt und verfolgt mich". Das treibende unbewußte Gefühl wird zu einer Wahrnehmung von außen: "ich liebe ihn nicht - ich hasse ihn j a - weil er mich verfolgt". Vgl. Freud 1960. 11. Vgl. die kurze aber instruktive Übersicht des Konzeptes bei Steinmetz:

20. 12. Vgl. Bellemin-Noël 1972: 3: "Partons d'une double formul: le fantastique est une manière de raconter, le fantastique est structuré comme le fantasme." 13. Es seien insbesondere Marzin und Cersowsky genannt.

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14. "Cest une forme que l'on recherche, non un contenu." (Bellemin-Noël 1972: 7) 15. In der Erzählung "Le pied de la momie" Théophile Gautiers wird ein mumifizierter Fuß, den der Held der Geschichte als Briefbeschwerer erwirbt, (der für ihn aber Fetischcharakter besitzt) unter dem Einfluß der inneren Zensur ersetzt durch eine kleine Isisfigur.

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Anne Koenen DIE VERGANGENHEIT ALS ALPTRAUM DYSTOPIEN1 IN DER AMERIKANISCHEN FRAUENLITERATUR Home, home - a few small rooms, stiflingly over-inhabited by a man, by a periodically teeming woman, by a rabble of boys and girls of all ages. No air, no space; an understerilized prison; darkness, disease, and smells. ... And home was as squalid psychically as physically. Psychically, it was a rabbit hole, [...], hot with the frictions of tightly packed life, reeking with emotion. What suffocating intimacies, what dangerous, insane obscene relationships between the members of the family group! [...] Mothers and fathers, brothers and sisters. [...] Family, monogamy, romance. (Huxley: 36, 37,41)

Eine Identifizierung dieses Zitats als feministische Kritik an der patriarchalischen Kleinfamilie im Viktorianismus scheint sich geradezu anzubieten, aber das wäre ein gründliches Mißverständnis. Die Beobachtung über die Familie ist keineswegs kritisch gemeint; im Gegenteil, sie wird vorgetragen von einem der führenden Unterdrücker aus einer Schreckensgesellschaft der Zukunft; sie wird zitiert, nur um umso entschiedener vom Autor, Alduous Huxley, diskreditiert zu werden. In Brave New World wird die Kleinfamilie, zerstört vom dystopischen Staat, zum Ort nostalgischer, fast utopischer Hoffnung. Ganz anders feministische Dystopien: sie schließen sich vorbehaltlos der bei Huxley zurückgewiesenen Einschätzung an, während feministische Utopien die Kleinfamilie dekonstruieren und sie durch andere Formen des Zusammenlebens ersetzen. Susan Gubar hat beobachtet, daß "one man's Utopia may be one woman's dystopia"2; der Umkehrschluß, wie das Zitat aus Brave New World zeigt, ist ebenfalls gültig: "one man's dystopia may be one woman's Utopia." Huxleys Zitat demonstriert, daß Phantastik - in diesem Fall Dystopien nicht ein neutraler Modus ist, sondern geschlechtsspezifische Ausrichtungen hat. Eine feministische Analyse kann sich daher nicht auf eine Poetik der Phantastik beschränken, sondern muß sich auch für ihre Politik interessieren, nämlich die Relevanz der Perspektive und der Kategorie gender für Phantastik, sowohl in der Interpretation phantastischer Elemente durch Schriftstellerinnen als auch in Theorien zur Funktion des Phantastischen.

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Theoretische Werke zur Phantastik - wie Freuds Das Unheimliche (1919) und Todorovs Studie - generalisieren ihre Aussagen zur Phantastik, als ob deren Eigenschaften und Funktionen unabhängig von sozio-kulturellem Kontext seien. Ich werde mich exemplarisch auf eine Auseinandersetzung mit Freud konzentrieren, weil mir sein Aufsatz interessantes Potential bezüglich Funktion des Phantastischen und Perspektive zu haben scheint, ein Potential, das Freud selbst allerdings nicht realisiert. Freud tendiert dazu, das Phantastische mit dem Unheimlichen gleichzusetzen und definiert es als die Rückkehr des Verdrängten. Mehr als Nachgedanken formuliert er die These, daß eine Quelle des Unheimlichen weibliche Sexualität sein kann, für "neurotische Männer". Einmal setzt Freud hier zwar die männliche Perspektive als relevante, ja alleinige (die implizierte Einschränkung ist nicht Männer gegenüber Frauen, sondern "neurotische" gegenüber nicht-neurotischen Männern); andererseits aber wird durch die Einschränkung "neurotische Männer" die Frage der Perspektive als entscheidend bei der Entstehung des Unheimlichen angesprochen. Später, in seiner Diskussion der literarischen Phantastik, blitzt die Bedeutung der Perspektive immer wieder auf, ohne daß Freud jemals Perspektive in Zusammenhang mit Geschlecht bringt. Dies ist kein Zufall: Freuds Artikel bietet an zentraler Stelle ein Falschlesen, das dem Ignorieren des Weiblichen gleichkommt, wenn er Hoffmanns Der Sandmann interpretiert. Den Ausbruch des Wahnsinns von Nathaniel auf dem Turm erklärt Freud mit dem Anblick Coppolas und einer dadurch ausgelösten Aktualisierung von Kastrationsängsten und ödipalem Konflikt. Allerdings erblickt der junge Mann in Hoffmanns Text eben nicht Coppola, sondern Olympia, die zum Leben erwachte weibliche Puppe. Freuds emblematisches Nicht-Sehen des Weiblichen3 wird von seinen Nachfolgern wiederholt; Theorien des Phantastischen ergehen sich in Generalisierungen, obwohl sie ihre Thesen nahezu ausschließlich auf der Analyse männlicher Phantastik aufbauen.4 Dabei müssen sie zu unhaltbaren Aussagen kommen, da die Konstruktion von Geschlechterdifferenz eines der Fundamente unseres soziokulturellen Kontextes ist. Um bei Freud zu bleiben: wenn für Männer, wie Freud postuliert, Kastrationsangst oder weibliche Sexualität Quellen des Unheimlichen sein können, dann müssen wir uns fragen, ob die Generalisierung dieser Beobachtung nicht unsinnig ist. Anders gefragt: Kann

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Kastrationsangst - ob nun wörtlich verstanden oder metaphorisch als drohender Verlust von Macht - den gleichen Effekt auf Frauen haben, die ja bereits "kastriert", d. h. machtlos sind, wie auf Männer, die im Besitz dieser Macht sind und mit ihrem potentiellen Verlust konfrontiert werden? Um diese Frage zu beantworten, habe ich Theorien nützlich gefunden, die den Aspekt der Macht berücksichtigen, d. h. über den individualistischen Ansatz der Psychoanalyse hinausgehen5 und das Phantastische als die Wiederkehr eines gesellschaftlich und kulturell Verdrängten sehen, wie Rosemary Jacksons Definition des Phantastischen: ... fantastic literature points to or suggests the basis upon which cultural order rests, for it opens up, for a brief moment, on to disorder, on to illegality, on to that which lies outside the law, that which is outside dominant value systems. The fantastic traces the unsaid and the unseen of a culture: that which has been silenced, made invisible, covered over and made 'absent'. (Jackson: 4)

Das Phantastische spürt hier dem Unsichtbaren und Ungesagten einer Kultur nach, dem, was verdrängt wurde, um Macht zu etablieren. Das Phantastische als Wiederkehr des Verdrängten in der Literatur von Männern muß in der Tat einen unheimlichen Effekt haben: es gibt dem eine Stimme oder macht das sichtbar, was verdrängt und unterdrückt wurde, um patriarchalische Herrschaft zu ermöglichen; die Wiederkehr des Verdrängten stellt die Konstruktion der Realität dieser Herrschaft in Frage. Auf der anderen Seite haben wir die Literatur von Frauen (und ethnischen Minoritäten), deren erklärtes Anliegen es ist, das Unsichtbare sichtbar zu machen; diese Gruppen sind das gesellschaftlich Unsichtbare, ihre Weltsicht das kulturell Verdrängte.6 Das Phantastische ist also potentiell ein Schreiben, das die Diskurse der Macht irritieren und durchbrechen kann; es kann eine Weltsicht artikulieren, die die marginalisierten Perspektiven von Frauen und Minoritäten ins Zentrum rückt und neue Sichtweisen eröffnet. Als Konsequenz der binären Konstruktion von männlich und weiblich ergibt sich eine Differenz in der Funktion des Phantastischen: Was in Männerliteratur unheimlich ist, muß nicht unheimlich in Frauenliteratur sein, was in Männerliteratur Angst erweckt, kann in Frauenliteratur Quelle der Autorität sein.7 Und umgekehrt wird in den Literaturen von Frauen und Minoritäten das Unheimliche definiert als eine Verlängerung oder Zuspitzung des Status quo, das Unheimliche ist weiße männ-

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liehe Herrschaft. Was weiße Männerliteratur als Realität konstruiert, wird daher als eine Politik der Unterdrückung und des Schweigens dekonstruiert. Das Phantastische bietet diesen Literaturen zudem die Möglichkeit, Geschichte zu rekonstruieren und Gegenwelten zu entwickeln - es ist ein visionärer und utopischer Modus. Die Bedeutung der Perspektive ergibt sich auch bei der Definition des Phantastischen. Alle Definitionen, so unterschiedlich sie in ihren Details sein mögen, gehen davon aus, daß das Phantastische das Gegenteil des Realen ist.8 Es ist eine Verletzung der Konsensus-Realität; das Reale beruht aber nicht nur auf Naturgesetzen, sondern auch auf gesellschaftlichen Regeln; es ist ein Resultat beider Aspekte, die sich gegenseitig legitimieren. Demzufolge ist Phantastik nicht nur eine Verletzung von Gesetzen wissenschaftlicher, sondern auch gesellschaftlicher Art. Der Begriff Konsensus mit seinen Konnotationen demokratischer Meinungsbildung verschleiert, daß Realität durch Macht und Herrschaft etabliert wird. Die Theorien betonen zwar alle, daß Definitionen des Phantastischen den historischen Kontext dessen, was real ist, berücksichtigen müssen - was im 19. Jahrhundert als phantastisch galt (zum Beispiel Reisen zum Mond), ist nicht notwendigerweise phantastisch im 20. Jahrhundert; und was real ist im 19. Jahrhundert (beispielsweise der Glaube an die Macht des Miasma), ist nicht notwendigerweise real im 20. Jahrhundert. Aber Realität ist darüber hinaus auch zu jedem gegebenen Zeitpunkt eine umstrittene kulturelle Kategorie, vor allem in einer zunehmend multi-kulturellen Gesellschaft - was für weiße Amerikaner schlichtweg abergläubischer Hokuspokus sein mag, ist für amerikanische Indianer oder chinesische Amerikaner Bestandteil ihrer Realität. Daraus folgt, daß die epistemologische Funktion des Phantastischen - die Problematisierung dessen, was wirklich ist und wie wir es erkennen können - nicht losgelöst von Kategorien gesellschaftlicher Macht und Perspektive gesehen werden kann. Nach diesen theoretischen Überlegungen möchte ich zur Dystopie kommen, die definiert wird als das Gegenteil der Utopie und damit als ein Genre, das modellhaft zukünftige Gesellschaften entwirft, die eine staatlich systematisierte Schreckensherrschaft sind; diese Gesellschaften sind in die Zukunft projizierte satirische Überzeichnungen negativer Tendenzen in der jeweils gegenwärtigen Gesellschaft. Typischerweise sind es Geschichten, die

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sich kritisch gegen Technologisierung und Wissenschaftsgläubigkeit wenden; in einem totalitären Staat der Zukunft wird Herrschaft durch futuristische Technologie durchgesetzt; die Helden sind Rebellen, die versuchen, sich gegen die Schreckensherrschaft aufzulehnen, und zwar erfolglos (Aldridge: ix und Patai: 856 - 870). Vor den siebziger Jahren hat es fast keine Dystopien gegeben, die genderAspekte berücksichtigt hätten. Die eine Ausnahme ist Swastika Night von Murray Constantine, veröffentlicht 1937. Während allerdings Brave New World und Nineteen Eighty-Four Klassiker geworden sind, war Swastika Night bis zur Wiederauflage 1985 in Vergessenheit geraten. Daß sich hinter dem männlichen Pseudonym "Murray Constantine" eine Frau, Katharine Burdekin, verbarg, wurde ebenfalls erst in den achtziger Jahren bekannt. Burdekins Dystopie ist die Vision einer Welt in der fernen Zukunft, in der nachdem Deutschland den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat - die Verehrung Hitlers Staatsreligion ist, die Juden ausgerottet sind, Christen verfolgt werden und die Geschichtsschreibung jede Spur der Kultur vor Hitler ausgelöscht hat.9 Anders als ihre männlichen Kollegen interessiert sich Burdekin auch für ge/icfer-Aspekte der Dystopie, konkret für die Implikationen des Männlichkeitskultes der Faschisten und seine Auswirkungen auf Frauen.10 Burdekin denkt - wohlgemerkt, 1937 - die faschistische Geschlechtsideologie konsequent weiter. Diese Ideologie kontrastiert die Zelebrierung des Männlichen mit der Verachtung des Weiblichen; das Weibliche ist einzig duldbar in der biologischen Rolle, dem Staat männliche Kinder zu gebären. Als Resultat steht bei Burdekin ein beängstigendes Szenario: Frauen leben strikt getrennt von den Männern in umzäunten Enklaven, die sie nur einmal im Monat zu Gemeinschaftsveranstaltungen verlassen dürfen, wo männliche Herrschaft gefeiert wird. Die Ideologie begründet den radikalen Ausschluß der Frauen aus der Öffentlichkeit mit deren animalischer Natur; sie werden als Hündinnen bezeichnet, die Welpen austragen; sie sind laut Ideologie genauso wenig wie Kühe in der Lage, ein Bewußtsein von Unterdrückung oder Gefangenschaft zu entwickeln." Auf dem Hintergrund der faschistischen Wirklichkeit erscheint jede Idee, Frauen könnten gleichwertige Menschen sein, als wirklich "phantastisch"12, als eine Verletzung der natürlichen Ordnung der Dinge. Realität erscheint also bei Burdekin als ebenso konstru-

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iert wie Phantastik - was in der Dystopie real erscheint, ist für die Leser phantastisch; was für die Leser real oder möglich erscheint (der Gedanke der Gleichwertigkeit von Frauen), ist für die Bewohner der Dystopie phantastisch. Die faschistische Konstruktion einer angeblich natürlichen Ordnung der Dinge basiert auf einer gründlichen Revision der Geschichte; Bücherverbrennungen und Indoktrination haben jede Spur gelöscht, die auf die Menschlichkeit von Frauen verweisen könnte. Ziel dieser Geschichtsumschreibung ist es, die völlige Unterwerfung der Frauen als bereits ewig gültig darzustellen, als Ergebnis biologischer und religiöser Gesetze. Sogar die Christen, die im faschistischen Reich eine verfolgte Gruppe sind und die die einzige Gegenideologie zum Faschismus liefern, bieten keinen Hoffnungsschimmer. Sie zitieren den Heiligen Paulus - "nothing she is and nothing she must become" (175) - , vor allem sein Gebot des Schweigens und der Unterwerfung für Frauen: "Let the woman learn in silence with all subjection ... I suffer not a woman to usurp authority over men, but to be in silence." (175) Es gibt allerdings einen Rebellen in Swastika Night, Alfred, der von einem Mitglied der faschistischen Elite in kritisches Bewußtsein eingeführt wird (die Parallelen des späteren Nineteen Eighty-Four zu Swastika Night sind verblüffend). Dieser Alfred identifiziert als Quelle der Verachtung für Frauen männliche Angst vor weiblicher Sexualität, männliche Verunsicherung durch und Wut über die weibliche (sexuelle) Selbstbestimmung. 13 Im faschistischen Reich existiert eine solche Freiheit nicht, und Vergewaltigung ist als einzige Form heterosexueller Begegnung institutionalisiert, obwohl die offizielle Ideologie natürlich den kriminalisierenden Begriff Vergewaltigung ausschließt: "as rape implies will and choice and a spirit of rejection on the part of women, there could be no such crime." (13) Vergewaltigung ist die einzige Form der Begegnung zwischen den Geschlechtern in dieser Gesellschaft, wo Macht und Fortpflanzung und nicht Begehren interessieren und wo wahre Liebe nur zwischen Männern möglich ist.14 Frauen haben nicht nur keine Kontrolle über ihren Körper und sind Vergewaltigungen und anderer Gewalt ausgesetzt, sie haben auch kein Mitspracherecht bei der Erziehung ihrer Kinder. So werden männliche Kinder im Alter von 18 Monaten von den

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Müttern getrennt, um sie dem gefahrlichen Einfluß der Frauen, speziell der weiblichen Körper, zu entziehen. Aber trotz dieser scharfen Analyse und Anklage männlicher Herrschaft wiederholt Swastika Night auf der Textebene die Unterdrückung der Frauen. Genauso wie der Faschismus und die faschistische Geschichtsschreibung der dystopischen Zukunft die weibliche Perspektive völlig zum Schweigen gebracht haben, so schreibt Burdekin die Frauen aus dem Text. Männer sind die Subjekte und erzählenden Protagonisten, Frauen Objekte und sprachlose Opfer. Bis auf eine Massenszene erscheinen keine Frauen im Text; wir sehen sie nicht, wir hören sie nicht. Während Männern wie Alfred das Potential zum Entwickeln einer oppositionellen Haltung zugesprochen wird, sind die Frauen unfähig, selbst rudimentäre Überlebensstrategien zu entwickeln; ihr einziger "Protest" drückt sich in einer verringerten Geburtenrate von männlichen Nachkommen aus, was den Widerstand vom Bewußtsein auf den Körper verdrängt. Burdekin scheint zu glauben, daß politischer Widerstand gegen die Männlichkeitsideologie von außerhalb der weiblichen Enklaven kommen muß, von Männern wie Alfred aus den Reihen der Unterdrücker eine unwahrscheinliche Voraussetzung für jegliche Art der Veränderung. Außerdem suggeriert Alfreds kritisches Bewußtsein, daß Männer die Konditionierung durch die faschistische Ideologie durchbrechen können, im Gegensatz zu den Frauen, die völlig fremdbestimmt sind. Auch erzähltechnisch, durch die Wahl einer männlichen Perspektive, sabotiert Burdekin ihre Absicht, dem Sexismus der Dystopie kritisch zu begegnen, da sie nicht berücksichtigt, daß narrative Strukturen Ideologie festschreiben. Was Burdekin jedoch zeigt, ist, daß kein Orwellsches "double-think" nötig ist, um die Realität ihrer Dystopie zu etablieren, da Sprache und Ideologie bereits die Gleichsetzung von Männlichkeit mit der Norm und Weiblichkeit mit Inferiorität transportieren. Genau diese Punkte - der Ausschluß von Frauen aus der Geschichte, die ideologischen Implikationen von Sprache und Erzählmustern - stehen im Zentrum zeitgenössischer Dystopien von Frauen. Dazu kommt die zentrale These Burdekins, daß die konstituierenden Faktoren weiblicher Dystopien sich aus dem Verlust der Kontrolle über den weiblichen Körper und aus männlicher Dominanz über Reproduktion zusammensetzen. Dystopien bei

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Autorinnen sind als körperlicher Zustand definiert, nicht - wie bei Orwell und Huxley - als geistiger Zustand der totalen Dominanz. Diese thematische Parallele zwischen Burdekin und zeitgenössischer Frauenliteratur ist umso bemerkenswerter, als Burdekin ja nicht als Anfang einer Tradition gelten konnte - ihr Werk war nicht nur unzugänglich, sondern zusätzlich durch das männliche Pseudonym verdeckt. Auch in der literarischen Form, der Konzipierung als Tagebuch, ist Swastika Night wegweisend; diese Wahl hat Signalwirkung in Frauenliteratur, weil historische Schreibformen wie das Tagebuch oft als vorliterarisch galten und damit außerhalb des männlich definierten Kanons plaziert waren.15 Unterdrückten Gruppen, wie schwarze Schriftstellerinnen in den USA immer wieder betont haben, ist der Zugang zu marginalisierten Genres eher möglich. Da keine weibliche Tradition existiert, müssen zeitgenössische Dystopien von Frauen auf dem Hintergrund einer völlig männlich geprägten Tradition geschrieben und verstanden werden, und Autorinnen wie Marge Piercy, Margaret Atwood und Angela Carter antworten auf die dystopischen Visionen von Orwell und Huxley. Piercy beispielsweise sieht genau jene Aspekte, die Huxley als dystopisch brandmarkt, als potentiell utopisch und befreiend, nämlich die Technologisierung der Reproduktion.16 In der traditionsbildenden Männerliteratur sieht sich das - natürlich männliche - Individuum einem übermächtigen Staat ausgeliefert, der Gedanken und Gefühle kontrolliert. Der Verlust der Individualität17, die Betonung der Gemeinschaft, die entfremdenden Einflüsse von Wissenschaft und Technologie bilden die Schreckensgesellschaft der Zukunft. Geschlechtsspezifische Unterdrückung ist für die Autoren kein Thema: Männliche Autoren wie Orwell und Huxley, die Dystopien entwerfen, sind in ihren Auslassungen zu gender-spezifischen Aspekten von einer geradezu atemberaubenden Konventionalität. Orwell setzt Machthunger als menschliche Konstante, ohne sich je der geschlechtsspezifischen Bedingungen bewußt zu werden18; Huxley ist weit entfernt von jeder Spekulation, ob die von ihm geschilderten Reproduktionstechnologien und die Zerstörung der Kleinfamilie nicht womöglich auch einen befreienden Aspekt für Frauen haben könnten. Daß Huxley und vor allem Orwell die patriarchalische Kleinfamilie bzw. das bürgerliche Paar als die Inkarnation alternativer Glücksvorstellungen und

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subversiver Resistenz feiern, als die Keimzelle nicht nur der Gesellschaft, sondern sogar einer glücklicheren Zukunft, kann in einem nach-freudianischen Zeitalter nur rührend wirken. Sowohl Orwell und Huxley beklagen nostalgisch die Untergrabung patriarchalischer Institutionen wie Heim, Familie und Mutterschaft in der Kleinfamilie.19 Widerstand in beiden Romanen wird getragen vom entfremdeten - natürlich männlichen - Individuum, das sich in Opposition zum System und seiner Ideologie begreift.20 Beide Romane denunzieren Frauen als Opportunisten, unfähig und unwillig, sich der Rebellion der Männer anzuschließen; in Nineteen Eighty-Four ist Julia nur eine Rebellin von der Taille abwärts, wie ein Kritiker - Orwell zustimmend - beobachtet.21 Sie ist, wie Orwell schreibt, nicht prinzipiell kritisch gegenüber dem Regime, sondern nur da, wo es ihre Sexualität einschränkt. Diese Sexualität bildet den Kern der Entwicklung zu einer Romanze, deren sexistischer Charakter sich bereits in ihrem Beginn entlarvt, als Orwell den Helden bei Julias Anblick phantasieren läßt, er möchte sie am liebsten vergewaltigen und ihr während des Orgasmus die Kehle durchschneiden - er haßt sie, weil sie jung, schön und scheinbar unerreichbar ist.22 Später findet er zu einem weniger gewalttätigen Gefühl, das jedoch ausschließlich aus männlicher Dominanz gespeist wird, als sie willig auf sein Begehren reagiert: "her body seemed to melt into his. ... it was all as yielding as water." (102) Auch macht sie der - verbotene - Gebrauch von Make-Up23 weiblicher, und ihr Haß auf andere Frauen empfiehlt sie dem Helden (der in diesem Haß sicher etwas Verbindendes entdecken kann): "Always in the stink of women! How I hate women!" (106) Julias Rebellion ist auf Promiskuität beschränkt und instinktiv, während der männliche Held sich prinzipiell und intellektuell auflehnt. Bei Orwell ist Sexualität - natürlich männliche aus einer männlichen Perspektive, mit Frauen als Objekt - Ausgangspunkt oder Ort der Rebellion; nie hinterfragt der Roman die ideologische Konstruktion der angeblich befreiten und natürlichen Sexualität. Bei Schriftstellerinnen dagegen ist Sexualität Ausgangspunkt oder Ort der Unterdrückung. Bereits von dieser Grundposition her entwickeln Dystopien von Frauen eine gegenläufige Bewegung, die daneben noch folgende Punkte umfaßt: Sie lehnen den Individualismus bei Huxley und Orwell ab und betonen die Notwendigkeit weiblicher Solidarität

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und eines Gruppenbewußtseins (Alexandra Aldridge behauptet zwar, daß Dystopien "immer" eine Kritik an denjenigen Ideologien ist, die funktionale und kollektive Ziele über humanistische und individuelle stellen; diese Verallgemeinerung, obwohl offensichtlich zutreffend für Orwell und Huxley, gilt nicht für Frauenliteratur). Dystopien von Frauen problematisieren den Ausschluß von Frauen aus der Geschichte, das Zum-Schweigen-Bringen von Frauen und reflektieren über Geschichte, Schreiben und das problematische Verhältnis von Frauen zu Sprache und Erzählmustern. Und Frauen finden Modelle für die Dystopie nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit, und kommen so zu einer Neueinschätzung von Technologie und Medizin. Sie brauchen nicht - wie Männer - Visionen eines zukünftigen allmächtigen Staates als Feind entwickeln; der Feind, das Patriarchat, existiert historisch seit Jahrtausenden, und der kontrollierende Blick, eine der zentralen Metaphern in Nineteen Eighty-Four, ist für Frauen seit jeher eine Realität (Berger). Margaret Atwood präsentiert ihre Dystopie The Handmaid''s Tale (1982) als Tonband-Protokoll aus einer nahen Zukunft, in der fundamentalistische religiöse Fanatiker eine Umweltkrise in den USA nutzen, um die Macht an sich zu reißen (Atwood). Nach dem Prinzip "Teile und Herrsche" sind sowohl Männer als auch Frauen strikt in Kasten eingeteilt, die ihre Funktion für die Gesellschaft bestimmen; diese Funktion ist bei Frauen immer durch ihr Verhältnis zu Männern und/oder ihre Gebärfahigkeit definiert. Unterschiedlicher Status der Frauen läßt einige vom System profitieren, und sie sind begeisterte Mitläuferinnen; individuelle Männer, zeigt Atwood, sind meist ebenso wie Frauen Gefangene des Systems, wenn auch privilegiertere. Die Ich-Erzählerin ist eine der wenigen Frauen, die in der Umweltwüste der Zukunft noch fruchtbar ist, und wird von einem Ehepaar der herrschenden Schicht als Leihmutter mißbraucht. Die Augenzeugen-Berichte der handmaid, der namenlosen Leihmutter-Magd, sind eingerahmt in eine Rahmenhandlung aus einer noch ferneren Zukunft, in der das Schreckensregime überwunden ist. In dieser fernen Zukunft bemühen sich Historiker auf einem Kongreß um die Interpretation der autobiographischen Tonbandprotokolle. Die Rahmenhandlung dient Atwood dazu, sich zum Verhältnis von Frauen und Schreiben/Sprechen zu äußern. Indem sie die Geschichte der handmaid

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als mündliches Dokument präsentiert, bezieht sich Atwood auf den Zugang unterdrückter Gruppen zur mündlichen Überlieferung da, wo ihnen der Zugang zum geschriebenen Wort versperrt ist, und auf die Bedeutung mündlicher Überlieferung für ein Verständnis weiblicher Literaturgeschichte.24 Die Namenlosigkeit der Magd, ihre anonyme Autorenschafi ergeben sich direkt aus den patriarchalischen Praktiken des Zukunftsstaates. Frauen werden nach dem Mann, in dessen Haushalt sie leben, genannt - Ofglen, also von Glen, oder Offred - , Patronyme, die Individualität verweigern und Identifikation mit männlicher Autorität erzwingen. Obwohl die Magd sich in ihren Erzählungen als Subjekt setzt - ein Akt, der entscheidend ist bei der Entwicklung einer weiblichen Stimme in der Literatur - , enthält sie uns dennoch ihren eigentlichen Namen vor. Das Dokument ihres Lebens wird dadurch aber auch ein repräsentatives Dokument, das nie die Anonymität überwindet, in die das Patriarchat zahllose Frauen vor ihr gezwungen hat.25 Atwood problematisiert das Verhältnis von Frauen und Literatur/Sprache jedoch noch weiter. Wie die Sklaven im schwarzen Amerika (die übrigens ebenfalls die Namen ihrer Besitzer erhielten), so dürfen auch Frauen in Gilead weder lesen noch schreiben. In der Öffentlichkeit dominieren simple Piktogramme statt schriftlicher Zeichen. Folglich ist in Atwoods Dystopie anders als bei Orwell - das ungesetzliche Begehren nicht sexuell, sondern textuell. Der Hausherr und die Magd, im Fortpflanzungsauftrag zu lustlosem und mechanischem Kopulieren gezwungen, treffen sich zwar heimlich, aber nicht (wie die Magd und wir Leser erwarten), um befreite und enthemmte Sexualität zu leben, sondern - um Scrabble zu spielen; sicherlich ein sardonischer Kommentar zur "Jouissance" des Textes. Anders als Orwell identifiziert Atwood nicht Sexualität, sondern Sprache als Ort der Herrschaft und des Widerstands. Mary McCarthy hat bemängelt, daß Atwood nicht wie Orwell eine neue Sprache zur Charakterisierung der Dystopie entwickelt (McCarthy: 1, 35). Das scheint mir ein unnötig kurzsichtiger Einwand: der ganze Roman ist ein Kommentar zum prekären Verhältnis von Frau und Wort, zur patriarchalischen Dominanz in allen Diskursen. Wie Orwell stellt Atwood die Frage nach dem Verhältnis von Geschichtsschreibung und Wahrheit, aber Atwood insistiert, daß Geschichtsverzerrung keine dystopische Erfindung ist, sondern

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bereits existiert - beispielsweise im Ausschluß von Frauen aus der Historiographie. Außerdem erkennt und thematisiert sie, was Orwell nicht sieht: daß Erzählmuster wie die Romanze zwischen Julia und Winston bei Orwell Ideologie transportieren und daß Sprache und Erzählmuster bereits patriarchalisch geprägt sind; hier muß nichts mehr erfunden werden. Die Magd ist sich des Verhältnisses von Sprache und Realität bewußt, der Konstruktion von Subjektivität durch Sprache: "My seif is a thing I must now compose, as one composing a speech. What I must present is a made thing, not something born." (62) Diese Anspielung auf de Beauvoirs berühmte Beobachtung, daß wir nicht als Frauen geboren, sondern zu Frauen gemacht werden, verankert Subjektivität in Sprache. Die Magd erfindet sich selbst, während sie ihre Geschichte erzählt, gewinnt ein Gefühl des Selbst und der Kontrolle: "If it's a story I'm telling, then I have control over the ending." (37) Aber sowohl ihre Geschichte als auch die Rahmenhandlung verweigern dieses "ending", diesen Schluß im Sinne einer Lösung; ihre Geschichte (und ihre Flucht) enden in Unsicherheit: "Whether this is my end or a new beginning I have no way of knowing." (276) Wenn ihr Ende (ihr Tod) mit dem Ende der Geschichte zusammenfallt, dann ist das Ende dystopisch; ein neuer Anfang dagegen bedeutet einen utopischen Ausblick: "Because I'm telling you this story I will your existence. I teil, therefore you are." (251) Die Existenz einer weiblichen Literatur und weibliches Sprechen sind demzufolge Elemente der Utopie, weil sie einen Gegenentwurf zur Dystopie bilden. Dieses weibliche Sprechen muß sich mit den Mechanismen patriarchalischer Gewalt auseinandersetzen. Dystopien von Frauen artikulieren den Verdacht, daß frauenfeindliche, patriarchalische Kulturen, die Frauen als das "Andere" marginalisieren, auch vor Extremen nicht zurückschrecken. Der weibliche Körper ist im Zentrum dieser Dystopien, der symbolische Ort der Alptraumvisionen, wo Frauen allein durch geschlechtliche Differenz definiert werden und Anatomie ihr einziges Schicksal ist. Dabei werden immer wieder zwei Aspekte vereint, die zusammen reproduktive Sklaverei ergeben: die Kontrolle über den weiblichen Körper in Form institutionalisierter Vergewaltigung und der Zwang zur Mutterschaft.26 In diesen Dystopien, wo Anatomie Schicksal ist, werden Frauen nicht einmal mit ihrem Körper identifiziert, sondern nur mit den fortpflanzungsrele-

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vanten Fragmenten des Körpers. In Atwoods Roman werden Frauen als "twolegged womb[s]" (128) charakterisiert, und die Vertreter der Macht bekennen offen: "For our purposes, your feet and your hands are not essential." (87) Und ebenso überflüssig wie Füße und Hände ist selbstverständlich das Hirn. Die Fragmentisierung des Selbst, eine der Lieblingsthesen zeitgenössischer Theorie, gewinnt eine ganz neue Bedeutung in diesen Romanen, wo Frauen nicht länger Personen, sondern Unterleiber sind. Während der weibliche Körper auf seine Fortpflanzungsfunktion festgeschrieben wird, ist der weibliche Körper als Ort des Begehrens Objekt der Zerstörungswut. Elaine Scarry hat analysiert, wie Opfer von Folter letztlich ihre eigenen Körper hassen, weil diese als Quelle von Schmerz und Erniedrigung erlebt werden (Scarry). Dieser psychologische Mechanismus wird auch von Atwood beschrieben; die Magd in Atwoods Roman sagt: "I used to think of my body as an instrument, of pleasure, or a means of transportation, or an implement for the accomplishment of my will ... Now the flesh arranges itself differently." (69) Der Wechsel des grammatischen Subjekts signalisiert auf syntaktischer Ebene die Unterordnung des Selbst, des "ich", unter den Körper, "the flesh", und vollzieht damit die ideologische Position Gileads textlich nach. Andere Dystopien gehen noch einen Schritt weiter und schildern die massenhafte Ausrottung von Frauen in Staaten, wo Frauenfeindlichkeit zur hysterischen Staatsideologie wird. In Raccoona Sheldons Kurzgeschichte von 1977, "The Screwfly Solution", können sich die patriarchalischen Massenmörder auf einen autoritativen Text berufen und damit ihre Abschlachtereien rechtfertigen, nämlich die Bibel, speziell den Heiligen Paulus über die untergeordnete Stellung der Frau, die eh nur als zeitweilige Hilfskonstruktion dem Mann dient und nirgendwo als menschlich definiert wird: "the Scriptures define woman as merely a temporary companion and instrument of Man. Women ... are nowhere defined as human ..." (174).27 Bei Sheldon sind Männer nicht länger damit zufrieden, weibliche Körper zu kontrollieren; sie zerstören die weiblichen Körper. In "The Screwfly Solution" beginnt die systematische Verfolgung von Frauen mit vereinzelten Episoden und breitet sich schließlich wie eine Epidemie aus. Sheldon kontrastiert die zunehmende Fassungslosigkeit und Panik der Ich-Erzählerin mit Zitaten aus Medien, die die ersten offiziellen Reaktionen auf die Frauenmorde wiedergeben, darunter

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eine offizielle Stellungnahme, die anhand historischer Präzendenzfälle wie der Hexenverfolgungen zum kühlen Schluß kommt, daß Frauenmord in kritischen Übergangszeiten nicht ungewöhnlich ist: "femicide is not uncommon in world history in times of psychic stress." (174) Ähnlich wertfrei und "objektiv" sehen auch die Historiker auf Atwoods Kongreß der fernen Zukunft die Exzesse der Dystopie, die sie leidenschaftslos mit anderen patriarchalischen Systemen wie Sparta und fundamentalistischen Gesellschaften vergleichen. Diese ferne Zukunft ähnelt, beispielsweise in der Nonchalance gegenüber Sexismus, auf beklemmende Art unserer Gegenwart, wodurch Atwood betont, daß ihre Dystopie eigentlich ein historischer Rückblick ist. Die historischen Referenzen in Sheldons und Atwoods Texten machen auf ein zentrales Element weiblicher Dystopien aufmerksam: daß die Merkmale weiblicher Dystopien nicht futuristisch sind, sondern der Geschichte - vergangen oder zeitgenössisch - entnommen werden. Auch der systematische Mord an Frauen, den Sheldon beschreibt, ist weder eine Sache der finsteren Vergangenheit noch schreckliche Zukunft, sondern durchaus eine zeitgenössische Praktik, wenn auch kaum im öffentlichen Bewußtsein verankert. 1991 veröffentlichten die Vereinten Nationen einen Report, daß etwa 100 Millionen von Frauen in den letzten 20 Jahren sterben mußten, weil sie Frauen sind, etwa durch Vorenthalten von Nahrung und ärztlicher Hilfe, Aussetzen weiblicher Säuglinge und andere Praktiken.28 Es ist bezeichnend, daß diese Nachricht keinen Aufschrei - ähnlich des Entsetzens über andere Massenmorde in den Medien verursacht hat; im Gegenteil, vielen Menschen ist diese Tatsache unbekannt. Der Grund dafür scheint offensichtlich: Frauenfeindlichkeit ist zu einem solchen Grad in Kulturen verankert, daß selbst extremste Auswüchse wie millionenstarke Todesopfer kaum nennenswert scheinen oder im Kontext kultureller Praktiken "erklärt" werden. Auf diese Toleranz gegenüber Sexismus und Misogynie zielt Atwoods Kritik, wenn sie den Hauptredner auf der historischen Tagung zitiert, der vor moralischem Urteil über die Dystopie warnt und Kulturrelativismus predigt: we must be cautious about passing moral judgement ... Surely we have learned by now that such judgements are of necessity culture-specific. Also, ... society was under a good deal of pressure, demographic and otherwise, and was subject to factors from which we ourselves are happily more free. Our job is not to censure but to understand.

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Die lange Tradition der Unterdrückung von Frauen und deren wohlwollende Tolerierung in öffentlichen Diskursen dient Schriftstellerinnen als Ausgangspunkt für ihre Dystopien. Huxley oder Orwell denken alarmierende Entwicklungen wie Überwachung des Individuums und Genetik in die Zukunft weiter, aber Autorinnen blicken zurück in die Geschichte und finden dort dystopische Zustände in so naher Vergangenheit wie dem 19. Jahrhundert Octavia Butler beispielsweise sieht die Sklaverei als ultimatives Modell für Dystopien, Suzy McK.ee Charnas das klassische Sparta. Und Margaret Atwoods The Handmaid's Tale ist Perry Miller gewidmet, dem einflußreichen Forscher über den amerikanischen Puritanismus; Atwood bemerkt in einem Interview: "It's not science fiction ... there is nothing that has not happened at some point in history. I transpose it to a different time and place, but the motifs are all historical motifs " (Davidson: 24). Die Autorinnen repräsentieren Geschichte als traumatisierende kollektive Vergangenheit, und die traumatisierenden Ausgangspunkte, die "points in history" sind das klassische Griechenland, der Puritanismus im kolonialen Amerika, Faschismus, Hexenverfolgungen im Mittelalter und fundamentalistische Religionsherrschaften. Damit ergibt sich die scheinbar paradoxe Lage, daß Aufarbeitung weiblicher Geschichte weniger im Genre des historischen Romans als in der Phantastik geschieht - scheinbar paradox deshalb, weil eine männlich orientierte Geschichtsschreibung Frauen unsichtbar gemacht hat und bei der Rekonstruktion weiblicher Geschichte Phantastik notwendig wird.29 An anderer Stelle in diesem Band wird der Spuk definiert als Repräsentation der "Erinnerung an ungesühnte Gewalttaten" und des "Leidensdrucks aus verdrängter Geschichte"; ich möchte diese Standortbeschreibung in einem sozio-kulturellen Kontext von Macht und nicht nur individueller Geschichte sehen. Die Phantastik schreibt Frauen in historische Diskurse ein, wo sie vorher unsichtbar waren. Deutlich wird die Interpretation von Dystopie als Bewußtmachen einer verschwiegenen oder nicht beachteten Geschichte auch in der Diskussion von Reproduktionstechnologien. Die letzten zwanzig Jahre mit ihrem sogenannten Fortschritt in biologischer und reproduktiver Technologie haben uns mit zahlreichen potentiellen Horror-Szenarien versorgt, die bei Huxley einen zentralen Platz einnehmen und die in der feministischen Theorie lebhaft dis-

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kutiert werden. In der Tat wird die Dystopie oft mit Kritik an Technologisierung und Mißbrauch wissenschaftlichen Fortschritts gleichgesetzt (Aldridge). Aber die Dystopien von Frauen schließen sich dieser ablehnenden Debatte nicht an; sie insistieren auf sozialem Kontext als entscheidendem Merkmal, statt reproduktive Technologien per se zu verurteilen; entscheidend ist die gesellschaftliche Matrix, ist Reproduktionsideologie oder Ethik. Diese Zurückhaltung ist natürlich besonders bemerkenswert in einem Genre, das sich üblicherweise Analysen von technologischem Fortschritt und Schrecken widmet. Zur Illustration greifen Autorinnen auf historische Modelle zurück. Statt Hightech-Visionen von Inkubatoren, Inseminationen und Gen-Manipulationen finden wir bekannte Praktiken patriarchalischer Herrschaft. Atwoods Gilead braucht keine aufwendige Technologie, um Fortpflanzungssklaverei durchzusetzen - im Gegenteil, Atwood greift auf in der Bibel erwähnte Methoden der Leihmutterschaft zurück, um ihre Argumentation zu illustrieren; Suzy McKee Charnas blickt nach Sparta; Octavia Butlers Kindred bezieht sich auf die in der amerikanischen Sklaverei gängige Praxis, schwarze Sklavinnen sozusagen als Zuchtvieh zur Profitmaximierung zu halten, nachdem der Sklavenhandel verboten worden war. Manche Autorinnen kommen - unter Berücksichtigung des sozialen Kontextes - sogar dazu, sich für technologischen Fortschritt auszusprechen, gegen die übliche Tendenz der männlichen Dystopie und gegen die Tendenzen in der feministischen Debatte. Phyllis Eisensteins Shadow of Earth (1974) ist das deutlichste Beispiel. Diese Dystopie kontrastiert zwei alternative Welten: die zeitgenössische USA und eine technisch rückschrittliche USA, zwei Welten, die durch eine unfreiwillig Zeitreisende verbunden sind. Das andere Amerika ist Ergebnis einer historischen Spekulation, nämlich daß der Krieg zwischen England und Spanien im 16. Jahrhundert mit dem Sieg der spanischen Armada endete und daß folglich Spanien statt England den amerikanischen Kontinent kolonisierte. 1968 hatte Keith Roberts bereits in Pavane diese Spekulation benutzt, um über die technologischen Konsequenzen zu reflektieren, allerdings ohne jedes Interesse an geschlechtsspezifischen Implikationen. Anders dagegen Eisenstein; neben der allgemeinen Beschreibung von Armut, Rückständigkeit und Analphabetentum - Resultat der Dominanz der katholischen Kirche, "persecutor of Copernicus, Bruno, and Galileo" (34)

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- gilt ihr Augenmerk den Konsequenzen für die weibliche Rolle. Alle, die mit den extremeren Positionen der katholischen Kirche zu Frauen vertraut sind, werden ahnen, wie diese Rolle aussieht: Frauen sind allein durch ihre Körper definiert (auf dem Hintergrund einer immens körperfeindlichen Kultur), ihre einzige akzeptierte Rolle ist Mutterschaft. In einer Gesellschaft, wo Technologie und Wissenschaft als die Autorität der Religion unterhöhlend suspekt sind, ergibt das eine oft tödliche Mischung: Schwangerschaft und Geburt, zu denen die Protagonistin gezwungen wird, konfrontieren sie mit der Möglichkeit ihres Todes. Eisenstein zeigt zwar auch die intellektuelle Unterdrückung und den Mangel an geistiger Freiheit in einer solchen Gesellschaft, aber diese Entbehrungen verblassen im Vergleich zur Herausforderung des physischen Überlebens. Eisenstein konzentriert sich darauf zu zeigen, was das Leben in der Dystopie für den Körper bedeutet - neben drastischen Schilderungen übler Gerüche, hartnäckigen Schmutzes, lästigen Ungeziefers und dem Geschmack verdorbenen Essens steht die Beschreibung von Krankheiten - Cholera, Diphterie, Typhus, Pest sowie Furunkel, Krätze, Durchfall und die erwähnten Komplikationen bei Schwangerschaft und Geburt. Hier wie bei Atwood sind Frauen als Gebärmaschinen identifiziert, und die Protagonistin bei Eisenstein erlebt ebenfalls die erwähnte Entfremdung vom eigenen Körper, der nur noch als Ort der Unterdrückung erfahren wird. Dies wird am offenkundigsten in ihrem Entschluß, Selbstmord zu begehen ein Akt, der jedoch nicht als Selbstmord, sondern Mord am Körper und Überleben des Ichs interpretiert wird: "her body would fall within the courtyard and undoubtedly be buried in the Castle cemetery, but she, Celia, would have made her escape." (169) Wie in Atwoods The Handmaid's Tale erforscht also auch Shadow of Earth die Konsequenzen der Identifizierung von Frauen mit ihrem Körper. In der Gegenüberstellung der quasi mittelalterlichen Gesellschaft mit den zeitgenössischen USA kommt Eisenstein zu einer positiven Einschätzung von technischem und wissenschaftlichem Fortschritt, und sie sieht die Gleichsetzung von Frauen mit Körperlichkeit (oder ihre angeblich größere Nähe zur Natur) als gefährlicher als Technologie.30 Das Motiv der alternativen Realitäten, bei Eisenstein mit verschiedenen historischen Epochen assoziiert, steht ebenfalls im Zentrum von Octavia

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Butlers Kindred (1979). Die schwarze Ich-Erzählerin, eine unfreiwillige Zeitreisende wie Eisensteins Protagonistin, gerät von der Gegenwart, der zeitgenössischen USA, in die Vergangenheit, die Zeit der Sklaverei in den Südstaaten, und auch hier ist die Vergangenheit dystopisch. Strukturell kehrt Butler, eine der wenigen afroamerikanischen Autorinnen in der Science Fiction, in Kindred die Strukturen der "slave narrative" um und interpretiert die Middle Passage, die Verschleppung der Sklaven von Afrika in die Neue Welt, nicht länger geographisch, sondern temporal. Wie bei den weißen Autorinnen stehen Fragen der sexuellen Selbstbestimmung, des Zugangs zum geschriebenen Wort und der Repräsentation in Geschichte und Literatur im Zentrum, verschärft durch die doppelte Unterdrückung durch "race and gender". Diese Faktoren - Rasse und Geschlecht - machen jeden möglichen Vorteil durch ihren Wissens- und Bildungsvorsprung zunichte (wie auch bei Eisenstein). Anders als Mark Twains Zeitreisender in The Connecticut Yankee in King Arthur's Court haben die Frauen in Eisensteins und Butlers phantastischen Romanen keine Macht, die Vergangenheit zu ändern. Wiederum muß Geschichte mit den Mitteln der Phantastik geschrieben werden, da Sklaven weder lesen noch schreiben können; allein der Körper der Protagonistin, der die Zeichen schwerster Mißhandlungen trägt, gibt Zeugnis, das die offizielle Historiographie korrigieren könnte. Diese Geschichtsschreibung wird im Epilog konkret angesprochen, als Dana nach ihrer endgültigen Rückkehr in die Gegenwart zurück in den Süden fahrt, um das weitere Schicksal ihrer Leidensgefährten zu erforschen: "To touch solid evidence that those people existed." (264) Aber es gibt kaum Hinweise über das Leben ihrer Mit-Sklaven, nur spärliche Dokumente wie Verkaufspapiere. Schwarze existieren in dieser Geschichtsschreibung nur da, wo sie mit der weißen Herrschaft in Kontakt kamen, und werden nur aus dieser Herrschaftsperspektive beschrieben. Bereits der Sitz der historischen Gesellschaft in einem "converted early mansión" entlarvt die Parteilichkeit weißer, männlicher Historiographie. Deren Verzerrungen machen eine Aufarbeitung der dystopischen Vergangenheit aus schwarzer Perspektive notwendig, und die Spärlichkeit der Informationen und Dokumente erfordert, daß diese Aufarbeitung im phantastischen Modus geschieht, ein Ansatz, den auch Toni Morrison in ihrem Roman Beloved wählt.

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Abschließend möchte ich noch einmal die Bedeutung einiger Merkmale hervorheben und eine politische Einschätzung dieser Dystopien geben. Ich hoffe, es ist klar geworden, daß sich phantastische Literatur von Frauen z. B. die Dystopie - radikal von deijenigen von Männern unterscheidet. Wo männliche Dystopien vor zukünftigen Übeln warnen, warnen weibliche Dystopien vor geschichtlicher Amnesie und betonen, daß Geschichtsbewußtsein Voraussetzung für das Verhindern der dystopischen Gesellschaft ist. Mit der Rahmenhandlung von The Handmaid's Tale drückt Atwood ihre Befürchtung aus, daß die Geschichte sich wiederholen wird, wenn wir die Unterdrückungen der Vergangenheit vergessen oder trivialisieren. Diese fundamentale Bedeutung von Geschichte wiederum begründet das Interesse an der Geschichtsschreibung und an dem Ausschluß der Frauen aus der offiziellen Geschichte - sowie an der Überwindung dieses Schweigens durch Phantastik. Eine der Implikationen dieser Dystopien, die zurück in die Geschichte blicken, ist natürlich eine Aussöhnung mit der Gegenwart und mit dem Status quo - die Autorinnen, obwohl nicht unkritisch gegenüber patriarchalischen Strukturen der Gegenwart, plädieren trotzdem dafür, daß wichtige Fortschritte erzielt wurden. Als Zentrum dieses Fortschritts definieren sie das Selbstbestimmungsrecht über ihren eigenen Körper. Die Alptraum-Visionen der Vergangenheit als Dystopie sind dagegen unweigerlich gebunden an die patriarchalische Kontrolle über den weiblichen Körper und die Machtlosigkeit der Frauen. Diese teilweise Anerkennung der Vorteile des Status quo (verbunden mit einer tiefen Skepsis, wie dauerhaft und stabil diese Errungenschaften sein mögen) könnte man mit dem Etikett "post-feministisch" versehen; und dieses Adjektiv ist auch zur Charakterisierung von Atwoods Roman benutzt worden.31 Atwoods Protagonistin ist in der Tat eine Post-Feministin, sie bedauert zwar, daß sie vor dem Umsturz feministische Errungenschaften als selbstverständlich hinnahm und deshalb den Feminismus als überflüssig abhakte; aber die radikaleren feministischen Positionen ihrer Mutter lehnt sie ab. Atwood teilt die Skepsis ihrer Protagonistin gegenüber radikal-feministischen Positionen und Thesen wie Anti-Pornographie, natürliche Friedfertigkeit der Frau, Separatismus, Verleugnung von Unterschieden zwischen Frauen, Glorifizierung der Mutterschaft. Sie zeigt, wie diese Positionen spielend leicht von

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einem repressiven Regime ko-optiert werden können, wenn auch ihre Verwirklichung in einem patriarchalischen Kontext völlig andere Konsequenzen hat, als von den Radikal-Feministinnen ausgemalt. Hier wieder trifft Atwoods Motto aus The Handmaid's Tale zu: "Context is all." Ich habe mit einem Zitat von einem Mann, Huxley, begonnen und möchte mit der Antwort einer Frau - Atwood - auf Huxley schließen. In der Rahmenhandlung von The Handmaid's Tale diskutieren Geschichtswissenschaftler auf einem Kongreß die Schreckensherrschaft in der Dystopie, die jetzt bereits Vergangenheit ist. Man analysiert die Tonbänder, die die Zeugnisse der handmaid enthalten, und ist unzufrieden, daß die handmaid nur einen typisch weiblichen Zugang zur Geschichte hatte - man bedauert, daß sie sich auf Privates konzentrierte und reizvollere Aspekte - aus der großen Politik - nicht reflektierte.32 Dies ist natürlich ein sarkastischer Kommentar Atwoods zur real existierenden Geschichtswissenschaft mit ihrem Fokus auf Öffentlichkeit, ein Fokus, der den Ausschluß von Frauen aus der offiziellen Geschichtsschreibung zur Folge hatte. Und es ist wieder eine Antwort Atwoods auf Huxley, der den Verlust genau dieses Verständnisses von Geschichte als Geschichte großer Männer und ihrer Taten und Schriften lamentiert: "Whisk - and where was Odysseus, where was Job, where were Jupiter and Gotama and Jesus? ... whisk, whisk, King Lear and the Thoughts of Pascal." (34) Die Unvollständigkeit eines solchen Geschichts- und Kulturverständnisses wird deutlich in den allerletzten Worten von Atwoods Roman, in der der männliche Hauptvortragende bedauert, daß alle Rekonstruktion der Vergangenheit bruchstückhaft bleiben muß; Atwoods Roman impliziert, daß sie fragmentarisch bleibt, weil er sich die Reflektion über gender und Macht versagt: As all historians know, the past is a great darkness, and filled with echoes. Voices may reach us from it; but what they say to us is imbued with the obscurity of the matrix out of which they come; and, try as we may, we cannot always decipher them precisely in the clearer light of our own day. Are there any questions?

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ANMERKUNGEN 1. Der Begriff "Dystopie" bezeichnet den (literarischen) Entwurf einer Schreckensgesellschaft der Zukunft:"... for the last two decades or more, 'anti-utopia' and 'dystopia' have been used by critics interchangeably, with the latter term becoming, through repeated usage, the accepted one, ...", (Aldridge 1984, 19781); "the narrative that images a society worse than the existing one." (Moylan 1986). "The word 'dystopia' is the antonym of 'eutopia' (see Utopias), and the term is commonly used to denote a class of model societies which are, in opposition to Utopian designs, images of a fearful and unpleasant world." (Nicholls 1981: 184). 2. Gubar 1983: 140. Elaine Baruch macht die gleiche Beobachtung (1984: 215). 3. Siehe zu weiteren Implikationen Cixous 1975: 525 - 548 und Todd 1986: 519-528. 4. Dies ist besonders auffallig bei theoretischen Werken zur Metamorphose; siehe Anmerkung 6. 5. Siehe Abel 1990: 184 - 204 zur Frage der Notwendigkeit einer "infusion of the social" (spezifisch "race and class"), wenn Psychoanalyse fur die feministische Kritik nutzbar sein soll. 6. Die Metapher der Unsichtbarkeit durchzieht beispielsweise afroamerikanische Literatur; das bekannteste Beispiel ist der Titel von Ralph Ellisons Roman Invisible Man. 7. Ein Beispiel ist das phantastische Motiv der Metamorphose: in Literatur von Männern wird Metamorphose als Katastrophe interpretiert, als fremdbestimmter Eingriff mit Verlust von Identität, in der Literatur von Frauen zum Ein-Schreiben von Frauen in Diskurse der Macht benutzt, wie beispielsweise in Fay Weldons The Life and Loves of a She-Devil (1983). Standardwerke zur Metamorphose wie Irving Massey, The Gaping Pig. Literature and Metamorphosis (1976) und Harold Skulsky,

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8. Siehe Hume 1984: xii u. 77: "a deliberate departure from the limits of what is usually accepted as real and normal", "contravening normal reality"; Hoffmann 1982: 267 - 364: "a disconnection of the reader from his familiar world of everyday routine". 9. Diese "alternative histories" sind ein verbreitetes Sub-Genre in der Science Fiction. Vor allem der Ausgang der beiden Weltkriege und - in US-amerikanischer Literatur - des Civil War dienen als mögliche Wendepunkte, aus denen sich alternative Gesellschaften ergeben. 10. Katharine Burdekin, Swastika Night, 1985. In ihrem utopischen Roman The End of This Day's Business (1935 geschrieben, aber erst 1989 veröffentlicht), benutzt Burdekin die Überwindung des Faschismus als Ausgangspunkt fur eine feministische Revolution. 11. Katharine Burdekin, Swastika Night, "no more conscious of boredom or imprisonment or humiliation than cows in the field." (158) 12. So der Roman - Vertreter der Hegemonie zitierend - wörtlich auf 108 und 183. 13. Suzy McKee Charnas thematisiert in Walk to the End of the World (1974), einer Dystopie, die eine Männerherrschaft nach einer nuklearen Katastrophe entwirft, ebenfalls aus Furcht gespeiste männliche Abscheu vor weiblicher Körperlichkeit. 14. Der Roman enthält sich diskret jeder näheren Bestimmung, ob diese Liebe eine sexuelle Komponente hat. Zur Beziehung von Männerbünden und Frauenfeindlichkeit siehe Theweleit 1977 und Kosofsky Sedgwick 1985. 15. Siehe z. B. Nolte Lensink 1987: 39 - 53. Die Dystopien The Handmaid's Tale, "The Screwfly Solution" (James Tiptree, Jr., alias Alice Sheldon) und Native Tongue (Suzette Haden Elgin) sind als Tagebücher konzipiert.

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16. Marge Piercy, Woman on the Edge of Time (1976); vor Piercy hatte Shulamith Firestone in The Dialectic of Sex (1970) Huxleys Position kritisch hinterfragt. 17. Auch hier kommen Kritiker/innen, die ohne Beachtung von gender verallgemeinern, zu nicht haltbaren Schlüssen. Alexandra Aldridge etwa postuliert (ohne eine einzige Dystopie von einer Frau zu berücksichtigen), daß Dystopien "immer" eine Kritik einer Ideologie seien, die eine "elevation of functional and collective ends over the humanistic and individual" bedeute (ix). Dies trifft keineswegs auf die von Frauen verfaßten Dystopien zu, wo im Gegenteil die Notwendigkeit eines kollektiven Bewußtseins und kollektiver Aktion für Unterdrückte betont werden (siehe hierzu besonders Mohamed/Lloyd 1987: 5 - 18). 18. Siehe Patai 1982: 856 - 870, zu einer ausführlichen Kritik. 19. Für eine ausführliche Analyse siehe Matter 1983 und Steinhoff 1983. 20. Strukturelle Parallelen zu Polit-Thrillern der siebziger Jahre und später drängen sich auf, wo dieses Muster - mit der Sowjetunion als "evil empire" - ebenfalls dominiert; man denke nur an Romane wie Tom Clancy, The Hunt for Red October, Robert Moss, Moscow Rules', oder Smith, Gorki Park. 21. Erzgräber 1980: 191: "a rebel from the waist downwards." 22. George Orwell, Nineteen Eighty-Four (1949, 1969): "He would ravish her and cut her throat at the moment of climax.... He hated her because she was young and pretty and sexless, because he wanted to go to bed with her and would never do so..." (16) Es ist verblüffend, wieviele Orwell-Spezialisten elegant über diese pathologischen Phantasien hinweglesen können. 23. Für Orwell ist der Gebrauch von Make-Up (natürlich nur bei Frauen) offensichtlich ein weiterer Hoffnungsschimmer in der Dystopie. 24. Auf diesen Zusammenhang verweisen fast alle von Frauen verfaßten Dystopien, beispielsweise Walk to the End of the World von Suzy McKee Charnas und Native Tongue von Suzette Haden Elgin.

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25. Suzette Haden Elgin präsentiert ihren dystopischen Roman Native Tongue (1984) ebenfalls als ein (von mehreren Augenzeuginnen) anonym veröffentlichtes Dokument. 26. Typischerweise ist das patriarchalische Interesse an Reproduktion gekoppelt mit einer zynischen Funktionalisierung von Kindern (wir kennen diesen Ansatz aus dem Faschismus). In Atwoods The Handmaid's Tale beispielsweise wird Mutterschaft als höchstes Ziel aller Frauen propagiert, Abtreibung wird mit Todesstrafe sanktioniert, Verhütung ist illegal - aber das Interesse der Gesellschaft am Schutz des Kindes endet mit der Geburt. Kindermord ist die Regel, Krieg ebenso. Die patriarchalische Rhetorik über die natürliche Rolle von Frauen wird auch ad absurdum gefuhrt durch die Praktik, Kinder nach der Geburt von den Müttern zu trennen, falls das den Interessen der Gesellschaft dient. 27. Raccoona Sheldon, "The Screwfly Solution" (1980). Raccoona Sheldon ist eines der beiden Pseudoynme, die Alice Sheldon benutzte, das bekanntere ist James Tiptree, Jr. 28. Zitiert in Kristof 1991: A 14. Dies war in den US-amerikanischen Medien die einzige Referenz auf den UN-Report, den ich finden konnte. Siehe Berichte über die 4. Weltfrauenkonferenz in Peking 1995, die ähnliche Statistiken zitieren, wie Wright 1995: 17 und Hermanns 1995: 4. Siehe auch Spiegel Nr. 7, 13.2.1995: 160. 29. Das gilt ebenfalls für die Re-Konstruktion afro-amerikanischer Geschichte, wie Toni Morrisons Aussagen zu ihrem Roman Beloved (1987), der sich mit der Erfahrung der Sklaverei auseinandersetzt, belegen. 30. In feministischen Utopien dagegen werden diese Positionen (besonders die These der angeblich größeren Nähe von Frauen zur Natur) oft vertreten, beispielsweise in Charlotte Perkins Gilmans Herland (1915) und zahlreichen separatistischen Utopien der siebziger Jahre wie Sally Miller Gearhart, The Wanderground. Stories of the Hill Women (1979). 31. Z. B. von Linda Kaufmann auf der Jahrestagung der Modern Language Association 1987 in San Francisco im Workshop über Postfeminismus.

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32. Ein ähnlicher Kontrast zwischen öffentlichen, männlich dominierten Berichten und einem "intimeren" weiblichen Zugang zur Geschichte wird in Elgins Native Tongue in der Rahmenhandlung etabliert.

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Brigitte Hocke

JACQUES CAZOTTE: LE DIABLE AMOUREUX. NOUVELLE ESPAGNOLE. VORSCHLAG ZU EINER ANDEREN LESWEISE Das Thema ist doppeldeutig. Und das soll es auch sein. Es meint, zum einen, meine Lesweise der fantastischen Geschichte vom Diable amoureux - partiell im Vergleich mit Lesweisen anderer - , und es meint, zum anderen, Cazottes Lektüre im 'Buch des Menschen', in deren Ergebnis - vorausgesetzt, die aus der Vergangenheit überkommenen Spuren sind zu entschlüsseln - vielleicht darüber Auskunft gegeben werden kann, wohin der Weg des Menschen fuhrt. Le Diable amouretcc ist Cazottes Versuch, Zeichen zu lesen und selbst Zeichen zu setzen.1 Dabei zeigt sich, daß schon ihre einfache Wahrnehmung zu Fährten hinfuhren kann, die als Verbindungslinien fungieren (können) zwischen vermeintlich zusammenhanglosen Elementen in der Welt. Ihre Bedeutung erschließt sich dadurch jedoch noch nicht. Erst die Art und Weise des Umgangs mit den Zeichen - so die Hypothese, die der Geschichte zugrundeliegt - vermag etwas über ihre Funktion auszusagen. Erst durch eine bestimmte Art individueller, tätiger Auseinandersetzung mit ihnen wird es möglich, die Daten zu ordnen, Relationen zwischen ihnen herzustellen und, indem allmählich unterscheidbar wird, was drinnen und was draußen ist, schließlich zu einer Wertung gelangen zu können. Der Leser hat keine andere Möglichkeit, als der Erfahrung des Schreibers zu folgen und ein eigenes Verhältnis zu suchen und zu finden zum Text Cazottes und zu den 'Texten', die diesem vorausgegangen sind bzw. nunmehr in ihm entstehen. Mit seiner Entscheidung für seine Lesweise erhellt aber dann - ohne daß er alle Zusammenhänge zwischen allen Elementen des Textes endgültig aufklären wird - etwas von dem, was Cazotte seine Figuren im Wechsel von Finsternis und Licht, im Wechsel zwischen Wachsein und Schlafen sehen, erleben, träumen, erörtern läßt. Er findet Zugang zum Text. Er sieht sich in die Lage versetzt, immer bewußter wahrnehmen zu können, was - so Cazottes Geschichte - eben nicht einfach an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit geschieht, sondern zwischen Orten und Zeiten und

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festgefugten Vorstellungen. Er nimmt wahr, was da geschieht, was gesehen, gedacht oder vergessen wird: - zwischen (den) Orten, an denen der Aufenthalt immer nur von kurzer Dauer, 'flüchtig' ist; - zwischen dem Drin und dem Draußen des 'Kreises', seinem 'Innern' und dem, was außerhalb von ihm ist; - zwischen dem Drin in einer Bleibe, die jedoch nie für ein wirkliches Zuhause steht2, und dem Draußen, sowohl in der Stadt3 als auch außerhalb, eben zwischen Orten, unterwegs: auf den bergigen Landstraßen und Pässen, die den Übergang ermöglichen zwischen Städten (Neapel und Venedig z. B.), zwischen Ländern (Italien und Spanien via Frankreich!) und zwischen Welten, konkret zwischen denen, die Alvare erlebte und erlebt und für die die genannten Länder, inmitten Europas, als Modelle stehen. Als gegenwärtig erlebt er die Republik, in der er Dienst tut als Offizier. In seinem vergangenen Leben, im spanischen Estremadura, erlebte er die Monarchie. Weder die eine noch die andere Welt hatte er selbst gewählt. Aber er erlebt sie durchaus nicht nur distanziert. Die republikanische Freiheit der Gegenwart erlebt er als Fremder und als Soldat, aber als Soldat im Offiziersrang und somit doch als ein Besonderer. Sie ist für ihn faszinierend verführerisch und gleichzeitig, weil Freiheit für jedermann, eine allgegenwärtige Gefahr, die nicht nur sein Leben bedroht. Estremadura dagegen ist nicht nur die längst vergangene Zeit und das ferne Land seiner Kindheit und Jugend; es ist ihm zugleich als sein Gegenbild zur erlebten Gegenwart immer wieder präsent und nah: als erinnerte Vergangenheit einer idyllisch-heilen, moralischen Welt und als ein von seiner gegenwärtigen Existenz nicht abtrennbares Stück seiner selbst. Er bleibt Estremadura, seiner Familie und seiner Mutter auch weiter verbunden und erlebt in Situationen seelischer Erschütterungen und Krisen vor allem die allgegenwärtige Kraft 'eherner' Werte (Gottglauben und Ehre vor allem), an denen auch weiterhin festzuhalten er sich nicht versagen kann. Zieht es ihn aber wirklich noch immer dorthin? Wenn ja, warum? Das sind zwei Schlüsselfragen des Textes, die sich als allgemeine, weil Lebensprobleme betreffende Fragen erweisen. Wer der Logik der Geschichte vom Dia-

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ble amoureux und ihren ambivalenten und mithin modernen Denkansätzen folgt, wird auf Fährten gelenkt, von denen aus sich Teilantworten entdecken lassen. Allerdings wird er sich auch, wenn er den Weg Alvares mit- und nachvollzieht, nicht selten ratlos finden vor über ihn plötzlich hereinbrechenden accidents, unvorhersehbaren Zwischenfallen im Leben, die ihn verfuhren. Auch er wird sich veranlaßt sehen, Zuflucht zu nehmen in die Vergangenheit, aus der Sätze erinnert werden, die einen vermeintlich sicheren Weg zeigen zur Rettung aus der Gefahr. Alvare jedenfalls, so kann es der Leser nacherleben, erliegt immer wieder in Situationen der Ratlosigkeit der Macht der Erinnerung an alte Prinzipien, von denen er glaubt, daß sie als Schlüssel fungieren können auch zur Lösung gegenwärtiger Probleme; und er ruft jedesmal von neuem seine Mutter um Hilfe (besser: um Rettung) an. Er wird überwältigt von der Allmacht des Glaubens, dem zu entsagen er sich eigentlich stark genug wähnte: des Glaubens an eherne Grundsätze, denen zu folgen als allzeit sicher und moralisch unumstritten galt. In diesen Augenblicken schien jedesmal wieder die Versuchung besiegt, die von seiner reizenden, mit fantastischen Fähigkeiten ausgestatteten italienischen Weggefahrtin ausging, von Biondetta, dem wirklich lebendigen und lebensverbundenen, liebenswerten Teufelchen, das ihn zu lehren versuchte, daß nur er selbst und nur dann, wenn er bereit ist, sein (bisheriges) Leben dafür zu riskieren, (vielleicht!) den Schlüssel finden kann zu der Tür, die, bleibt sie verschlossen, den Weg versperrt zur Erkenntnis des Menschen und des Wesens von Biondetta... Die Leser der ersten Fassung von Cazottes Geschichte aus dem Jahre 1772 sollen es dem Verfasser, so erfahren wir durch einen Epilog von 1776, schwer verübelt haben, daß sie, indem sie Alvare folgen wollten und einfach folgten, die Lösung auf ihre Fragen nicht finden konnten. Deshalb habe Cazotte den Schluß der Geschichte, der jenen Lesern als Katastrophe erschien, weil Biondetta nicht besiegt worden war, umgeschrieben und umgekehrt. Auf diese Weise hat er offenbar die betroffenen Gemüter edler Franzosen zunächst beruhigen können. Allerdings konnten nach der Lektüre dieses Schlusses, der die Geschichte nun scheinbar 'richtig' beendete, sicher auch nur diejenigen Leser das Buch beruhigt zuschlagen, die den subversiven

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Unterton nicht wahrnahmen, der nach wie vor die ganze Geschichte durchzog. Nur dadurch konnten sie den nunmehr 'glücklichen' Ausgang fur die Sache selbst nehmen. Das aufregende au-delà der Geschichte blieb ihnen aber sicher auf immer verborgen. In der Ausgabe von 1776, die dann, ab 1790 auch in Übersetzungen 4 , um die Welt ging, hatte Cazotte, sicher zum Vorteil des Textes und auch um sich selbst treu zu bleiben, wieder auf jenen 'guten' Schluß, der trotz seiner ironischen Brechung einschichtig gebliebenen war, verzichtet5 und damit erreicht, daß die 'Aussage' nunmehr wieder unvollendet wirkt, mehrdeutig ist und, ohne selbst wirr zu sein, Fragen provoziert, die Verwirrung stiften können. Cazotte macht in seinem Epilog auf die Tatsache der doppelten Allegorie selbst aufmerksam. Wir lesen dort: Le petit ouvrage que l'on donne aujourd'hui réimprimé et augmenté, quoique peu important, a eu, dans le principe, des motifs raisonnables, et son origine est assez noble pour qu'on ne doive en parler ici qu'avec les plus grands ménagements. Il fut inspiré par la lecture du passage d'un auteur infiniment respectable, dans lequel il est parlé des ruses que peut employer le Démon quand il veut plaire et séduire. On les a rassemblées autant qu'on a pu le faire, dans une allégorie où les principes sont aux prises avec les passions: l'âme est le champ de bataille, la curiosité engage l'action, l'allégorie est double, et les lecteurs s'en aperçoivent aisément. (DA 6 : 378)

Ob es Cazottes Lesern künftig aber wirklich leicht gefallen sein mag, den Diable amoureux in der Weise zu lesen, zu der die Machart des Textes eigentlich zwingt, soll stark in Zweifel gezogen werden. Es ist vielmehr davon auszugehen, daß Cazotte - so lesen wir die zitierten Sätze seines Epilogs mit einem Durchschnittsleser rechnete und, da er um dessen Verhaftetsein in Konventionen und sein Gefesseltsein an traditionelle Lesweisen wußte, mit ihm regelrecht spielte... Denn am Schluß des Epilogs fordert er auf, doch die Erklärung nicht weiterzutreiben; man möge sich vielmehr an den Effekt erinnern, den man als Fünfundzwanzigjähriger beim Durchfliegen der Gesamtausgabe von Tassos Werken erlebt hatte, als man auf den Band stieß, mit dem sich die im Befreiten Jerusalem eingeschlossenen Allegorien nun endlich hätten aufklären lassen: Er blieb ungelesen.7 Denn: On était amoureux passionné d'Armide, d'Herminie, de Clorinde; on perdait des chimères trop agréables si ces princesses étaient réduites à n'être que de simples emblèmes. (DA: ebd.)

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Wer im Diable amoureux "de simples emblèmes" sucht (den Sinn, die Aussage), wird nicht nur enttäuscht; er wird vielmehr - dies ist das weitaus Folgenreichere, Tragischere im Umgang mit einem Kunstwerk, besonders mit einem fantastischen Text - am Ende auf den Genuß, auf das nicht eigentlich endende Abenteuer, verzichtet haben und nicht erfahren, daß es dem Text zufolge unmöglich ist, den Punkt, der den Menschen erklärt, einfach zu finden. Denn sein Ergebnis - nicht das Ergebnis - kommt erst zustande, wenn er das Abenteuer durchlebt und bestanden hat. Die Geschichte der Rezeption des Diable amoureux ist enttäuschend, bezieht man sich dabei auf die Literaturwissenschaft. Sie ist aber zugleich auch ein höchst anregendes Kapitel, wenn man das große Buch der Literaturrezeption dort aufschlägt, wo es vom Umgang von Künstlern mit Kunst und von der Wirkung von Kunst auf Kunst handelt. Denn dort zeigt sich, daß der Diable amoureux auch anders gelesen worden ist und wie viele Spuren er hinterlassen hat: vor allem in der Romantik8, bei Mérimée9, bei Baudelaire10 und bei Apollinaire". In den Texten von Gautier und von Apollinaire ist es vor allem das fordernde Che vuoi?, das aufgegriffen wird. Der Frage gründlicher nachzugehen, warum gerade dieser Cazotte-Text so nachhaltig gewirkt hat und unter welchen Umständen auf wen, wäre eine lohnenswerte Aufgabe. Zitieren wir hier nur unkommentiert die beiden Terzette aus Baudelaires in Alexandrinern geschriebenem Sonett Le Possédéin denen Spuren des Diable amoureux ganz direkt zu erkennen sind: Allume ta prunelle à la flamme des lustres! Allume le désir dans les regards des rustres! Tout de toi m'est plaisir morbide ou pétulant; Suis ce que tu voudras, nuit noire, rouge aurore; Il n'est pas une fibre en tout mon corps tremblant qui ne crie: O mon cher Belzébuth, je t'adore. (Baudelaire 1966:1,931; Hv.-CB)

Es ist auch kein Zufall, daß Borges gerade den Diable amoureux in die 1978 von ihm besorgte Reihe La Bibliothèque de Babel, collection de la littérature fantastique aufgenommen hat. Seine Wertschätzung des Diable amoureux gründet sich offensichtlich auf die nicht weniger feinsinnig entdeckte Ambiguität und unklassische Andersartigkeit einer Schreibweise, über die das

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objektiv herangereifte Erfordernis eines Paradigmenwechsels signalisiert wird, der sich in der französischen Literatur aber erst mit Romantik und Realismus vollendet. In dem von Borges verfaßten Vorwort zur obengenannten Ausgabe lesen wir: Il n'est sans doute pas inutile de rappeler que ce fut le siècle d'Ossian, de l'apocryphe Ossian et de l'épopée celte, qui inaugura le vaste mouvement romantique [...] Ce caractère ambigu se reflète dans 'Le Diable amoureux' de Jaques Cazotte [...]. Il est rédigé dans une prose française raisonnable et clair, mais sa fable est fantastique [...], le style délibérément frivole, joue constamment avec la terreur, mais [...] il ne propose jamais de nous alarmer. Cazotte ne pouvait pas prévoir que sa fable serait soumise à la mythologie pathologique du récent Procuste, Sigmund Freud.

Gérard de Nerval nennt Cazotte in seinem Vorwort von 1845 zum Diable amoureux einen "conteur spirituel [...] et naïf à la fois" (Nerval 1979: 132), und er lobt, ganz wie Borges, die "simplicité de style qui n'exclut pas un certain ton de poésie ferme et colorée" (Ebd. 133). Er konstatiert, daß so etwas wie eine humoristische Literatur den Franzosen relativ fremd gewesen sei, da sie eben nicht nach traditionellen Regeln funktioniere und entdeckt seinen Lesern in Cazotte als dem Verfasser des Diable amoureux einen der ganz wenigen Franzosen jener Zeit, die anders geschrieben hätten, als Boileau es gewünscht habe, schon dadurch zum Beispiel, daß er sich an die Empfehlung, Schmuckwerk, Verzierungen in christlicher Literatur doch tunlichst zu unterlassen, nicht gehalten habe: "il se préoccupait fort peu de l'orthodoxie" (Ebd. 135). Es sei vielmehr, so lesen wir in Les Illuminés, deren ursprünglicher Titel übrigens interessanterweise Les Précurseurs du Socialisme lautete, Cazottes Absicht gewesen, "de réveiller dans le peuple ce qui semble assoupi" (Nerval 1976: 34). In seiner Einleitung zu der Anfang der sechziger Jahre erschienenen Anthologie du conte fantastique français ruft Castex die Wertschätzung Cazottes durch Nerval noch einmal in Erinnerung, indem er den folgenden bemerkenswerten Satz zitiert: Cazotte sei im Unterschied zu Montesquieu, Diderot und Voltaire "le poète qui croit à sa fable, le narrateur qui croit à sa légende, l'inventeur qui prend au sérieux le rêve éclos de sa pensée." Und er behauptet weiter: "Cazotte est le véritable initiateur du fantastique moderne." (Castex 1963: 9)

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Von Charles Nodier, der Cazotte durch dessen freundschaftliche Kontakte zu Nodiers Vater persönlich kannte, wissen wir, daß er von Cazottes Schreibweise und insbesondere vom Diable amoureux, vielleicht sogar von der Persönlichkeit Jacques Cazottes, derart fasziniert gewesen war, daß er einen allerdings Fragment gebliebenen - Roman zu schreiben begonnen hatte "dans le goût de Cazotte" (Nodier 1961: 591). Unser Interesse an Nodiers Verhältnis zu Cazotte gründet sich jedoch weniger auf das, was er direkt zu ihm geschrieben hat13 als auf seinen Essay von 1830 mit dem Titel Du fantastique en littérature. Wir halten diesen für den wohl bemerkenswertesten Text zum Problem des Fantastischen, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wenn nicht überhaupt vor Todorov, geschrieben worden ist. Deshalb gestatten wir uns hier - im Sinne einer theoretischen Grundlegung, der wir in unserem Versuch über den Diable amoureux weitgehend folgen - die unkommentierte und wörtliche Wiedergabe längerer Passagen aus diesem zu Unrecht heute so wenig beachteten Text und markieren durch Hervorhebung Kernsätze zum Zusammenhang von fantastischer Literatur und Gesellschaft. Nodier schrieb: La fantaisie purement poétique se revêtit [...] de toutes les grâces de l'imagination [...] Elle n'eût pour objet que de présenter sous un jour hyperbolique toutes les séductions du monde positif. [...] Le fantastique demande à la vérité une virginité d'imagination et de croyances qui manque aux littératures secondaires. (Nodier 1850: 10 u. 12, Hv.-BH)

Zur historischen Funktion solcher Art von Poesie führt er aus: L'apparition des fables recommence au moment où finit l'empire de ces vérités réelles ou convenues 14 qui prêtent un reste d'âme au mécanisme usé de la civilisation [...] Voilà ce qui a rendu le fantastique si populaire en Europe depuis quelques années et ce qui en a fait la seule littérature essentielle de l'âge de décadence ou de transition où nous sommes parvenus [...] Sans elle, je ne sais à peine ce qui nous resterait aujourd'hui de / 'instinct moral et intellectuel de l'humanité. (Ebd., Hv.-BH)

Fantastische Literatur sei der unvermeidbare Ausdruck extremer Zeiten in der Politik der Nationen, und sie habe, wie diese, eine lange Geschichte. Nodier unternimmt den Versuch ihres thesenhaften Nachvollzugs. Nachdem er sich so in höchst geistreicher Art am Beispiel von Cervantes den "délicieuses fantaisies du génie des siècles intermédiaires" zugewandt hatte, den Quijote

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gleichzeitig ein Werk der Zerstörung und eines der schönsten Bücher nennend, das die Vorstellungskraft der "Modernen" hervorgebracht habe, faßt er seine Thesen zu Funktion und Möglichkeiten des Fantastischen in der Literatur wie folgt zusammen: L'impitoyable instinct de changement [...] se manifeste à son jour et à son heure, et il vient de manifester aux hommes par des signes certains qu'il faut recommencer la vie sociale sur nouveaux frais, sans égard aux traditions et aux sympathies du passé [...]. Il déchaîne alors des esprits de dérision, poussés d'une haine irréfléchie qui se font des hochets de ce que tous les siècles antérieurs ont vénéré et qui jouent avec les débris d'une civilisation expirante... (Ebd. 17 - 18, Hv.-BH)

Als Kronzeugen für diese Prozesse ruft Nodier Shakespeare, Cervantes, Rabelais und Voltaire an. Betrachtet man nun auch Cazottes Diable amoureux durch die Optik, die Nodier für den Umgang mit fantastischer Literatur bereitgestellt hat, erhellt letztlich ganz anderes als das, was die Cazotte-Kritik als wichtig herausgestellt hat. Denn nicht die Frage, wie sich das Werk Cazottes im Verhältnis zu den Aufklärern positionieren läßt15, ist wirklich entscheidend, vielmehr die weit umfassendere Frage nach dem Verhältnis zum classicisme und nach der Methode, durch die er zu einem hinsichtlich Denkform und Schreibweise (Fantastik vor allem) im siècle des lumières durchaus nicht üblichen Resultat gelangt, dessen Werden bei einer die Tiefenstruktur aufschließenden Lektüre des Diable amoureux unseres Erachtens nachvollziehbar wird. Dabei soll classicisme hier stehen für eine Denkform, deren Macht und Wirkung weit außerhalb aller Grenzen des Nur-Literarischen spürbar war (und ist) und die auch durch die Aufklärer noch nicht überwunden wurde bzw. überwunden werden konnte, zumindest dann nicht, wenn ihr Interesse vorrangig auf politische Veränderungen in der Gesellschaft gerichtet blieb. Cazotte geht es, motiviert durch seine individuellen Erfahrungen im öffentlichen Dienst des ancien régime und die Absicht, keinen Text zu schreiben, der ins öffentliche Leben direkt eingreift, um eine Auseinandersetzung grundsätzlicherer Art mit Lebens- und Denkformen in Vergangenheit und Gegenwart schlechthin und nicht um einen Teilbereich derselben, also z. B. nicht um Politisches. Das Resultat ist schwer erarbeitet und durch die gewonnenen Denkansätze - dies ist zumindest unser Verständnis - wirklich modern

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(dazu vor allem Blanchard) und Endpunkt rationaler Erörterungen, relativierender Zweifel, schmerzlicher Selbstkritik, verbunden mit Fantasie, die auch der Intuition bedarf. Ein solches Resultat kann aber kein ganzheitlicher oder gar endgültiger Gegenentwurf sein zu dem, was überhaupt erst einmal in Frage gestellt werden mußte und was Cazotte, um nicht ebenfalls nur wieder 'Prinzipien' zu formulieren, auch radikal tat. Und so hüllt der durchaus betroffene und sich selbst treffende Cazotte seine rational wie intuitiv gewonnenen ungewöhnlichen Denkansätze ebenso wie seine Zweifel an deren Richtigkeit geradezu logischerweise in ein fantastisch-poetisches Gewand... "Quand un ordre de choses meurt", schrieb Nodier, "il y a toujours quelque ingénieux démon qui assiste en riant à son agonie, et qui lui donne le coup de grâce avec une marotte." (Nodier 1850: 18) Womit aber - und damit wende ich mich einer nächsten Frage zu, die direkt mit deijenigen nach der Lesweise zusammenhängt - haben die zumindest mich erstaunen machenden Schwierigkeiten zu tun, die in einem Großteil der Resultate der durchaus seriösen Cazotte-Forschung zutage traten und z. T. noch immer zutage treten? Hier ein Antwortversuch: Sie haben zu tun mit dem Fortwirken des Positivismus in der Literaturwissenschaft, im Falle Cazottes insonderheit mit den Erscheinungsformen des Biographismus bzw. des mechanischen Determinismus, wobei beide Varianten dadurch konvergieren, daß die Frage nach Zusammenhängen zwischen den vom Künstlerindividuum ausgehenden Impulsen für Kunstproduktion und deren Resultat bzw. zwischen Kunst und Gesellschaft in sträflicher Weise reduziert werden auf wenige aus dem komplexen Beziehungsgeflecht des künstlerischen Schaffensprozesses herausgelöste Aspekte. Das betrifft mit Bezug auf Cazottes Diable amoureux vor allem die folgenden Vereinfachungen: 1. Es wird offenbar davon ausgegangen, daß das in Kunstwerken gewissermaßen 'geronnene' Verhältnis des Autors zur Gesellschaft und zu sich selbst notwendig mit dem zusammenfallen müßte, was in anderen Redeformen dokumentiert ist. Folglich könne das künstlerische Werk eines Menschen, der sich an anderer Stelle offen für bestehende Herrschaftsstrukturen und gegen die politische Revolution bekannt hat, nur "fortschrittsfeindlich" (so z. B. Krauss: 402) und "antiaufklärerisch" (Rieger:

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83, 85, 8 8 - 90, 152; Bottacin 1983: 18, 27; Décote 1984: 2 9 2 - 297; Winkler: 121, 130) sein. 2. Da mit der im Diable amoureux erzählten Geschichte okkultische Praktiken lebendig werden und solche nur von Menschen beschrieben werden könnten, die direkt Zugang zu ihnen haben, wird davon ausgegangen, daß es einen direkten Zusammenhang geben müsse zwischen dem fantastischen Charakter der Erzählung und dem persönlichen Erlebnis der im Kunstwerk evozierten Praktiken.16 3. Da Cazotte verschiedene Techniken zur Produktion konventioneller literarischer Formen vorzüglich beherrschte und sich auch fur den Diable amoureux beliebter Strukturen und Elemente des conte bediente, wird davon ausgegangen, daß auch mit diesem Text Aussagen beabsichtigt waren, die den Rahmen traditioneller Grenzen nicht wirklich überschreiten würden. Besonders problematisch ist in unserem Wissenschaftsverständnis die Tatsache, daß außerdem literaturwissenschaftliche und nichtliteraturwissenschaftliche Kategorien, zum Beispiel philosophische ("aufklärerisch") oder politische ("fortschrittsfeindlich"), verwendet werden, ohne präzise den Zweck der Aussage zu benennen oder wenigstens eine bestimmte Konvention über den Inhalt eines zum Begriff werdenden Terms erkennbar zu machen.17 Mangels genauer definitorischer Bestimmungen in Beurteilungen des Diable amoureux als "antiaufklärerisch" kann allgemein also nur von zu vermutenden Begriffsbestimmungen ausgegangen werden. Es hat den Anschein, als ob bei der Problematisierung des Ganzen vor allem der Einfluß des Sensualismus auf die Positionsfindung von Aufklärern zu wenig berücksichtigt und auch die französische Philosophie der Aufklärung als eine schlechthin 'rationalistische' angenommen wird. Dadurch würde eine zur Literatur des classicisme gewonnene Antiposition mit einer "antiaufklärerischen" zusammenfallen. Das wäre jedoch zu einfach. Denn bei allen Parallelen ist in unserem Verständnis "aufklärerische" französische Literatur zugleich anderes, und gerade dieses andere ist am Diable amoureux ebenso überzeugend ablesbar wie die Tatsache, daß auch diesem anderen kein dauerhafter Bestand beschieden sein wird.

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Der Leser erlebt, wie angesichts der Lebensprobleme jener Epoche eine kritische Auseinandersetzung sowohl mit rationalistischen als auch mit irrationalistischen, sowohl mit vulgärmaterialistischen als auch mit sensualistischen Denkansätzen und deren Konsequenzen zu einem Bedürfnis und einer Notwendigkeit geworden war. Analoges gilt für die Prüfung der Angemessenheit bestimmter poetischer Formen für die Auseinandersetzung mit Epochenproblemen auf dem Gebiet der Kunst18 und die Tatsache, daß Cazotte im Diable amoureux gerade mit einer Mischung konventioneller und neuer Formen und Sprechweisen, insbesondere natürlich mit dem Mittel des Fantastischen, experimentiert. Uns der Aufforderung stellend, doch die Biographie eines Künstlers bei der 'Erklärung' seines Werkes gebührend beachten zu wollen, machen wir im folgenden tatsächlich auf Fakten aus dem Leben Cazottes aufmerksam, aber bewußt auf solche, die einander geradezu zu widersprechen scheinen und deren Kenntnis hinreichend verdeutlichen müßte, wie inadäquat es ist, die eine oder die andere Kategorie dieser Tatsachen als 'Beweis' für bestimmte Aussagen über den Diable amoureux zu verwenden. Der so Urteilende wähnt sich mit diesem Verfahren allenfalls der Mühe enthoben, das Kunstwerk selbst dechiffrieren zu müssen. Hier eine mögliche Auswahl aus dem vorliegenden Material: - Es entspricht durchaus den Tatsachen, daß Cazotte seine Ausbildung in einem Jesuitenkolleg erhielt und daß er seinem Staat als hoher Beamter, als commissaire de la Marine, auf Martinique diente. - Es stimmt auch, daß sich Cazotte zu seinem König und zu seiner Kirche bekannte und wünschte, daß es durch die Macht des Königs und der Gesetze Ordnung gäbe in der Welt, die seines Erachtens zunehmend aus den Angeln geraten schien. - Er fürchtete die Jakobiner als leibhaftige Verkörperung des "Satans" (Décote 1982: 214), hoffte aber noch im Juli 1792, daß der "Spuk" in drei Wochen vorbei sein könnte (Ebd. 215). Darum ermunterte er seinen Sohn, in der Königlichen Armee nur ruhig weiter seinen Dienst zu tun. - Cazotte trat tatsächlich in eine Freimaurerloge ein. Er kannte, ganz sicher aber schon vorher, okkultische Riten, wußte um die Faszination, die vom Spiritismus ausging oder ausgehen konnte.19

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- Er holte sich 1789 mit der Marquise de la Croix sogar eine Spiritistin in sein eigenes Haus in Pierry. Ihr Geisterglauben und ihre rituellen Praktiken sollen auf die Lebensatmosphäre der Familie nicht ohne Auswirkungen geblieben sein. - Cazotte starb - auch das gehört zu den nicht anzuzweifelnden Tatsachen am 25. September 1792 um 7 Uhr abends, also drei Tage nach der Proklamation der 1. Republik, des allen Bürgern Freiheit verheißenden Staates, unter dem Fallbeil des Henkers auf der Place du Caroussel, nach einem Urteil, das einzig auf niedrige Denunziationen über von ihm gemachte, aber folgenlos gebliebene Meinungsäußerungen zu politischen Fragen gegründet war. Und er starb mit den Worten: "Je meurs comme j'ai vécu, fidèle à Dieu et à mon Roi." (Nerval 1979: 176; Borges 1978: 13; Décote 1984:461) Doch muß man nicht, wenn schon der Biographie eines Künstlers so viel Bedeutung fur die Entstehung von Kunst beigemessen wird, aus gleichem Grund auch Fakten beachten, die nicht zu dem Bild zu passen scheinen, das aus den schon genannten entstehen kann? Sollte man sie nicht ins Verhältnis setzen zu denen, die bisher allein für wichtig gehalten worden sind? Uns scheinen wenigstens die folgenden ebenso bedenkenswert: - Cazotte hat seine jesuitischen Lehrer, die er einst schätzte, als ihm in gemeiner Weise schadende Rivalen kennengelernt, als seine Schuldner, die ihn bei seiner Rückkehr nach Europa um sein gesamtes Vermögen brachten. Ein langwieriger Prozeß, den er deshalb führte, konnte sein Problem nicht lösen (Décote 1984: 99 - 104). - Cazotte quittierte seinen Dienst als Beamter freiwillig, bekannte sich durch eine Heirat aus Liebe zu einer dunkelhäutigen Frau und kehrte mit ihr nach Frankreich heim, wo er die Unabhängigkeit eines freien Schriftstellers wählte, die zu leben ihm schließlich trotz aller Mißlichkeiten auch tatsächlich möglich wurde dank glücklicher Zufälle, die ihm Besitztum bescherten in der Nähe von Epernay und ihn materiell endgültig sicherstellten. - Er fragte nachweislich häufig danach, wie sein Land zu schützen sei, nicht nur vor Unordnung und Sittenverfall, sondern auch vor der erschreckend eskalierenden und die Moral und die Empfindsamkeit der Menschen zer-

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störenden Intoleranz. Nicht nur dadurch stand er Voltaire näher als man auf Grund anderer, sie trennender Auffassungen vermuten könnte.20 - Seine Freunde - zu ihnen gehörten z. B. auch Condorcet und der durch Diderot berühmt gewordene Neffe des Rameau - hatten ihn schon in seinen jungen Jahren kennengelernt als einen wunderbar ungezwungenen Menschen, dessen Heiterkeit ihnen ebenso in Erinnerung geblieben ist wie die ungewöhnliche Originalität seiner religiösen Überzeugungen.21 Sie schätzten seinen Witz und seine Freigeisterei, aber auch seine bewundernswerte Meisterschaft, berühmte Modelle kunstvoll nachzuahmen. - Cazotte verließ die Freimaurerloge, der er sich angeschlossen hatte, nach relativ kurzer Zeit und prüfte in der Folgezeit kritisch das Wesen dessen, was ihm zuvor verführerisch-andersartig erschienen war (Anmerkungen 25 bis 28). Wenden wir uns nur den beiden letztgenannten Fakten etwas ausführlicher zu. Zu ersterem: Als Beleg für Cazottes besondere Improvisationsfreude und -fahigkeit ist die folgende amüsante Geschichte überliefert (Pons: 33 - 37; Décote 1984: 1 1 0 - 111; Bottacin 1983: 9 - 11): Cazotte habe eines Tages seinen Schwager ein dermaßen provozierendes Loblied auf die am Hofe so geschätzten Buffo-Opern singen hören, daß er spontan und selbstsicher etwa mit folgenden Worten reagierte: Sie brauchen mir nur ein beliebiges Stichwort zu geben, und Sie werden sehen, daß auch ich bis zum anderen Morgen zu dem von Ihnen vorgeschlagenen Thema ein den gelobten Opern ebenbürtiges Meisterwerk machen kann!

Gerade in diesem Augenblick trat, so die zumindest durch das Ergebnis verbürgte Legende, ein Bauer in Holzschuhen zur Tür herein. Das Stichwort für die Cazottesche opéra bouffe war gefunden: les sabots. Die Wette galt. Cazotte schloß sich gemeinsam mit seinem Freund Rameau in einem Zimmer ein, und am nächsten Morgen präsentierten sie ihr Produkt: eine Oper mit einem Libretto von Jacques Cazotte (dessen Namen allerdings bei der Aufführung nicht genannt wird) und der Musik von Rameau. Die Frau des Marineministers habe das Werk so wunderbar gefunden, daß es an ihrem kleinen Theater in Anwesenheit von Schauspielern der

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comédie italienne sofort uraufgeführt ward und von letzteren, die es auch faszinierte, alsbald noch einmal nachgespielt worden sei. Zum zweiten: Die lange Zeit immer wieder beschworene These von der Bedeutung der Initiation Cazottes für die Entstehung des Diable amoureux (Décote 1982: 214) muß heute schon durch die folgenden Tatsachen als hinreichend widerlegt gelten: Die Initiation erfolgte nachweisbar später als die Arbeit am Diable amoureux}2 Außerdem belegen sowohl ein Brief 23 als auch - dechiffriert man ihre Tiefenstruktur - die Geschichte vom Diable amoureux selbst ein eindeutig kritisches Verhältnis zu den Martinisten und anderen Sekten.24 Hinzu kommt, daß jeder Kritiker, der die für Freimaurer festgeschriebenen Pflichten und die Konsequenz bei ihrer Einhaltung zu werten weiß und gleichzeitig die Tatsache kennt, daß Cazotte seine Loge sehr bald wieder verlassen hatte25, schon auf Grund der Unüblichkeit dieses Verhaltens eines Beweises fur dessen eindeutig kritische Distanz zu konkret Erlebtem und Erfahrenem nicht bedarf. Daraus folgt andererseits nicht, daß eine generell kritische Haltung Cazottes zum Freimaurertum überhaupt angenommen werden muß.26 Vielmehr scheint ernsthaftes Freimaurertum auch für Cazotte gerade anderes gewesen zu sein als nur Mystik und Esoterik und Männerbündelei. Denn freimaurerisches Gedankengut allgemein galt zu jener Zeit, nicht nur in Frankreich, einer Vielzahl von Intellektuellen, drinnen wie draußen, auch als eine höchst produktive Herausforderung. Dies trifft in besonderem Maße auf Menschen zu, die die Versteinerung vorgefertigter Denk- und Verhaltensmuster nicht mehr ertragen konnten, dies aber, zum Beispiel auf Grund ihrer Stellung im Staat (Cazotte), nicht offen auszusprechen wagten. Da sie aufrichtig nach Neuansätzen suchten, die nicht notwendig zu bilderstürmerischer Zerstörung alles Alten, auch des Bewährten, führten, waren sie besonders anfallig gerade für freimaurerische Varianten geistiger Subversion. Das Drin-Sein vermochte Erlebnisse zu schaffen, die nachzuvollziehen dem Außenstehenden in der Tat nicht möglich war. Wir meinen - auch wenn dies nur Idealvorstellungen vom Illuminatenorden sind - die gewollt brüderliche Atmosphäre in einer Gemeinschaft, in der der einzelne seine Vereinzelung überwinden zu können glaubte; in der man sich gleichzeitig wirklich frei

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dünkte; in der Bildung und Können, bis zur Vollkommenheit, als erstrebenswerte menschliche Werte galten, ohne daß man sich Vollkommenheit allein als Resultat rationaler Anstrengungen vorstellte. Wir meinen die Atmosphäre, in einer solchen Gemeinschaft, in der philanthropische Vorstellungen von der Gleichheit der Menschen Brücken schlagen sollten zwischen dem Alten und dem Modernen und die Kluft überwinden helfen würden zwischen antiken und modernen Religionen, ohne daß der einzelne gezwungen sei, seiner eigenen Religion - im Falle Cazottes der katholischen - zu entsagen. Auch wenn dies alles - auf Grund der Fakten, die heute über den Zeitpunkt der Initiation von Cazotte und das Entstehungsdatum des Diable amoureux bekannt sind - für den untersuchten Text nicht direkt von Bedeutung ist, hätte seine Berücksichtigung bereits früher dazu beitragen können, zu einem komplexeren und subtileren Umgang auch mit dem Diable amoureux zu gelangen. Das gilt selbst dann, wenn - wie es in den größeren Cazotte-Untersuchungen geschieht - vorrangig Zusammenhänge zwischen dem sprachkünstlerischen Text und dem soziokulturellen Umfeld interessieren.27 Um so mehr muß es erstaunen, daß gerade die monographischen Arbeiten der letzten Jahrzehnte, die andererseits durch die enzyklopädische Gelehrsamkeit ihrer Verfasser geradezu Ehrfurcht gebieten,28 in besonderem Maße getragen sind sowohl durch soziologistische Vereinfachungen als auch durch Thesen, die zum Teil in beängstigender Weise erkennen lassen, daß die endlich als vergangen geglaubten moralisierenden Geister doch noch lebendig sind. Sie leben fort als ancien régime des Denkens, in welchem Ideologeme, Glaubenssätze, 'Prinzipien' und Antinomien, die ja im Unterschied zu Widersprüchen als unaufhebbare, ewig fortexistierende Seinsgegebenheiten gelten, ihren Platz behalten haben und offenbar auch nach den jüngsten 'Revolutionen' weiter behalten. Der Zuwachs an dialektischem Denken und die Bereitschaft, auch Kunst und Literatur als einen unabgeschlossenen Prozeß und mithin als etwas stets nur in seiner Relativität Faßbares zu begreifen, sind u. E. nach wie vor noch zu gering.29 So bleibt die immer und immer wieder erörterte pauschale Frage nach Cazottes Verhältnis zur Aufklärung relativ unproduktiv insbesondere deshalb, weil 'Aufklärung' vorrangig politisch gewertet wird und darum nur die Verschiedenheit zwischen 'classicisme' und 'Aufklärung' festgestellt werden

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kann. Die Tatsache, daß es jedoch auf Grund des weiteren Festhaltens an der ideologischen Instrumentalisierung von Literatur auch gleichzeitig deutliche Analogien zwischen den beiden Literaturauffassungen gibt und mithin die alte, normative Denkweise nicht prinzipiell in Frage gestellt worden ist, wird dagegen beinahe völlig ausgespart. Von einer undialektischen Gegenüberstellung von Gegebenheiten zeugt u. E. auch die sich am hartnäckigsten haltende, eingängige These, daß der Diable amoureux durch den lockeren Umgang seines Verfassers mit der Mode, den Teufel leibhaftig erscheinen zu lassen, einerseits ein Text sei, der dem Trend des 18. Jahrhunderts folgt und daß er andererseits bestimmt werde durch ein altes Problem, dem sich der Autor nicht entziehen könne: nämlich durch die auf Gedeih und Verderb geführte Auseinandersetzung zwischen dem 'Prinzip des Guten' auf der einen Seite und dem 'des Bösen' auf der anderen (Rieger: 53, 7 6 - 79, 109, 123, 131; Finné 1 9 8 0 : 1 4 - 15; Décote 1981: 1 8 - 19; Décote 1984:283- 284, 292; Bottacin 1983:24; Hunting 1987: 1 4 4 - 150). Die damit implizit formulierte Behauptung, Cazotte hätte seine Figuren vor die Frage der Wahl zwischen präexistenten Gegebenheiten gestellt, deren Bestimmung als 'gut' bzw. als 'böse' schon mit dem Zauberwort 'Teufel' bzw. der Distanzierung von Teuflisch-Verführerischem erledigt scheint, ist u. E. ein weiteres Indiz für die lebendige Macht jenes ancien régime des Denkens in der Literaturwissenschaft. Denn wenn es so wäre, daß das Wesen des Diable amoureux konstituiert würde durch den Kampf zwischen Gut und Böse, noch dazu in einer so reinen Zweigliedrigkeit, dann bestünde in der Tat die Zentralfrage des Textes nur darin, wer wen am Ende besiegt und welche 'Botschaft' mit dem Ende der Geschichte weitergegeben würde an einen Leser, dessen Erwartung einzig darauf gerichtet ist, sich letztendlich mit etwas 'identifizieren' zu können. Dann würde es auch tatsächlich von sinntragender Bedeutung sein, ob der Teufel sich als Teufel zu erkennen gibt und wann. Denn wer behauptet, daß Gutes und Böses in dieser Geschichte nur in klassischer Manier gegeneinander kämpfen, hat offenbar gar nicht bemerkt, daß Unwirkliches, Übernatürliches bzw. als wirklich erschienenes Denkmögliches, das seine Gestalt in fantastischer Weise wandeln kann, von Anfang an allgegenwärtig ist. Es ist präsent

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- als das Angst und Schrecken erzeugende Phantom eines Kamelkopfes oder - als ein kleines, niedliches Hündchen, dessen weibliches Geschlecht (darum Biondetta geheißen) Alvare gleich beim ersten Spiel mit ihm entdeckt, oder - als dienstfertiger Page, bald Biondetto, bald Biondetta genannt oder - als Signora Fiorentina, die mit ihrem wundervollen, gediegenen Harfenspiel Herrn Soberano30 und die Seinen entzückt und in nicht enden wollendes Staunen versetzt. Und da sind mehrfach die in jener Zeit ganz leicht zu entziffernden Zeichen: - von einem Wesen, das den Nachsinnenden, Schlafenden, Suchenden, Verzweifelten sacht am Ärmel zupft oder - von einer anderen Maske der gleichen Gestalt, die dem, der in Not geraten ist, Geld zuträgt oder - von einem nicht nur in der französischen Literatur beliebten Wesen, dessen Grad an Weisheit und Kunstverstand ebenso Bewunderung wie Verwunderung oder gar Angst bewirkt und das die Kirche nicht dulden kann aus Sorge darum, daß allein seine (teuflische?) Anwesenheit eine existentielle Gefahr werden könnte für das Dogma. So ist schließlich die Selbstoffenbarung der Sylphe (DA: 346 - 347)31, die in Gestalt der liebreizenden Biondetta, in dieser konkreten Körperlichkeit, wirklich ist (als Mensch allgemein und im besonderen als Frau, die sich dem Manne auf ewig verbinden will und überhaupt nur durch diese Vereinigung lebensfähig ist), nur für denjenigen Leser zum Verständnis der Geschichte notwendig, der die Zeichen bis zu eben diesem Augenblick nicht aufmerksam genug gelesen und noch nicht entziffert hat. Auf der Oberfläche des Textes im Kontext des Handlungsverlaufs, der sich durch den Umschlag vom großen Glück einer einzigen (wirklichen? vorgestellten?) Liebesnacht zum größtmöglichen Unglück, dem (möglichen? wirklichen?) Pakt mit dem Teufel, doch auf ein Ende zuzubewegen scheint - hat jene Selbstoffenbarung jedoch eine außerordentlich wichtige dramaturgische Funktion. Denn sie markiert nicht nur einen Höhepunkt der Handlung, sondern zugleich den tiefen Sinn des mit ihr aufgebauten Widerspruchs, den Alvare für sich und als er selbst in

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Auseinandersetzung mit dem von ihm selbst Geschaffenen zu lösen hat und der, sollte er überhaupt, wenigstens hypothetisch, als lösbar vorgestellt werden können, nicht denkbar ist als ein ewig gültiger Richterspruch, mit dem entschieden wird, daß nur das eine oder das andere 'richtig' ist. Zudem zeigt sich spätestens hier, daß solche gedachten Antinomien wie Gut vs. Böse oder aufklärerisch vs. antiaufklärerisch nicht hinfuhren zu des Pudels Kern, sondern mit Sicherheit an ihm vorbei. Hier geht es um das philosophische Problem des Verhältnisses zwischen Ich und Nicht-Ich bzw. zwischen dem Ich und den anderen und um die Voraussetzungen sowie die gedachten und/oder realen Möglichkeiten des Menschen, Subjekt sein zu wollen, zu können und das (flüchtige!) Resultat zu genießen. Möge sich dieser Schlüsseltext, indem wir ihn in aller Ausführlichkeit zitieren, weitgehend selbst kommentieren: Ô mon Alvare! s'écrie Biondetta, j'ai triomphé: je suis le plus heureux de tous les êtres. Je n'avais pas la force de parler, j'éprouvais un trouble extraordinaire, je dirai plus: j'étais honteux, immobile. (DA: 369)

Und sie stürzt sich aus dem Bett und umfangt, von grenzenloser Leidenschaft erfüllt, seine Knie: Quoi, chère Biondetta! m'écriai-je. Quoi, vous vous abaissez...? Ah, répond-elle, ingrat, je te servais lorsque tu n'étais que mon despote: laisse-moi servir mon amant. (DA: ebd.)

Er sieht sich erobert, seine Haare in ein Netz geschürzt, und die Vorhänge um sie herum schließen sich. Dann vernimmt er, wie ihre Stimme, "à la douceur de laquelle la plus délicieuse musique ne saurait se comparer", die folgenden Worte spricht: Ai-je fait, dit-elle, le boheur de mon Alvare comme il a fait le mien? Mais non: je suis encore la seule heureuse; il le sera, je le veux; je l'enivrerai de délices, je le remplirai de sciences, je l'élèverai au faîte des grandeurs. Voudras-tu, mon coeur, voudras-tu être la créature la plus privilégiée, te soumettre avec moi les hommes, les éléments, la nature entière? [...] Biondetta ne doit pas te suffire: ce n'est pas là mon nom: tu me l'avais donné: il me flattait; je le portais avec plaisir; mais il faut que tu saches qui je suis... Je suis le Diable, mon cher Alvare, je suis le Diable... (DA: 369 - 370, Hv.-BH)

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A l l e Antworten, die Alvare geben wollte, scheinen erstickt. D o c h endlich kann er sein S c h w e i g e n brechen, und er bittet, fordert, fleht: Cesse [...], ma chère Biondetta, ou qui que tu sois, de prononcer ce nom fatal et de me rappeler une erreur abjurée depuis longtemps. D o c h sie: Non, mon cher Alvare, non, ce n'était point une erreur; j'ai dû te le faire croire, cher petit homme. Il fallait bien te tromper pour te rendre enfin raisonnable. Votre espèce échappe à la vérité: ce n'est qu'en vous aveuglant qu'on peut vous rendre heureux. Ah! Tu le seras beaucoup si tu veux l'être! Je prétends te combler. Tu conviens déjà que je ne suis pas aussi dégoûtant que l'on me fait voir. (DA: 370, Hv.-BH) So verwirrt und sinnestrunken er auch ist, er muß ihr Empfinden erwidern, es aussprechen. D o c h w a s ? Und w i e ? Hier ihr Wunsch, ihr Angebot, ein Befehl geradezu: Ingrat, place la main sur ce coeur qui t'adore; que le tien s'anime, s'il est possible, de la plus légère des émotions qui sont si sensibles dans le mien. Laisse couler dans tes veines un peu de cette flamme délicieuse par qui les miennes son embrasées; [...] dis-moi enfin, s'il t'est possible, mais aussi tendrement que je l'éprouve pour toi: Mon cher Béelzébuth, je t'adore... (DA: ebd.) Der N a m e verfehlt seine Wirkung nicht: Todesangst überkommt ihn. Sein Gewissen schlägt. Doch: [...] la révolte de mes sens subsiste d'autant plus impérieusement qu'elle ne peut être réprimée par la raison. Elle me livre sans défense à mon ennemi [...]. Tu es venu me chercher, hört er seinen Feind resümieren, je t'ai suivi, servi, favorisé; enfin, j'ai fait ce que tu sion [...]: tu savais à qui tu te livrais et ne saurais Désormais notre lien, Alvare, est indissoluble, mais est important de nous mieux connaître [...] (DA: 370

as voulu. Je désirais ta posseste prévaloir de ton ignorance. pour cimenter notre société, il f; Hv.-BH)

Und schließlich: Comme je te sais déjà presque par coeur, pour rendre nos avantages réciproques, je dois me montrer à toi tel que je suis. (DA: 371)

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Mit den folgenden Proben meiner Lesweise soll ein weiterer Versuch unternommen werden, Spuren zu finden, die demjenigen, der ihnen folgt, helfen könnten, schon entdeckte oder im Ergebnis seiner eigenen Suche noch zu findende Zeichen entzifferbar(er) werden zu lassen. Vielleicht wird dadurch am Ende erkennbar sein, daß der Diable amoureux weder ein 'fortschrittsfeindlicher' noch ein 'antiaufklärerischer' Text ist noch aber das Gegenteil der mit solchen Labels erfolgenden Etikettierung. Er ist vielmehr ein ambivalentes, offenes und nirgendwo moralisierendes Angebot eines Künstlers32, der das seit der Renaissance herangereifte Erfordernis eines tatsächlichen Umbruchs im Leben und Denken der Menschen spürte und der, tief betroffen, erleben mußte, daß weder die durch die Aufklärer vorbereitete Änderung der politischen Verhältnisse noch das ancien régime zu einer Revolutionierung der Denkweise führten. Deshalb ist der Diable amoureux der Versuch einer notwendig in das Gewand eines conte gehüllten nouvelle (Castex 1963: 9; Rieger 1969: 1 5 0 - 152), einer Novelle im allgemeineren und tiefen Sinne des Wortes, in der sich - ganz anders als in einem klassischen Text und ebenfalls anders als in einem aufklärerischen weder Figuren noch irgendwelche 'Prinzipien' finden, mit denen sich der Leser nur einfach identifizieren müßte, um dadurch die Antwort auf die Lebensfragen zu finden. In konsequenter Ich-Erzählweise wird die Geschichte eines Abenteuers erzählt, die im Prinzip chronologisch abläuft: Sie beginnt in Neapel, mit einem ersten Ereignis in den Ruinen von Portici, und endet im spanischen Estremadura, dem Haus der Mutter, wo sich das erzählende Ich geborgen glaubt, wo alles seine bewährte Ordnung hat, wo es sich nur den Ratschlägen und Entscheidungen anderer zu fugen braucht, wo die Beziehungen zwischen den Menschen klar und eindeutig scheinen und wo es Verständnis findet, indem es seine Geschichte - Realität? oder Traum?33 - erzählt: beginnend mit seinem Schritt aus dem Kreis heraus, in den Ruinen von Portici, und wo es die Ratschläge eines weisen Arztes aus Salamanca, vieldeutig Quebracuernos geheißen, entgegennimmt, nachdem es veranlaßt war, die Geschichte noch ein zweites Mal zu erzählen... Die Zahl der Figuren ist überschaubar. Ihr Wesen scheint klar bestimmt durch ihr Alter und ihren Beruf, vor allem aber durch die Funktion, die sie für

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die erzählte Geschichte haben. Vielleicht helfen auch ihre Namen dem Leser, rascher Spuren zu finden von etwas, das weniger an der Oberfläche erscheint. Wer verbirgt sich hinter Masken? Sind es gar alle? Und immer? Oder müssen sich nur diejenigen verstecken, die wir maskiert während des Venezianischen Karnevals wiedertreffen? Da ist zunächst Soberano, der Souveräne, Erfahrene, Offizier in Neapel, gebürtig jedoch in Flandern, dem gegenüber Alvare, die das Abenteuer suchende, es wollende, es erlebende und erzählende Zentralfigur, jung, unerfahren und geradezu unwissend erscheint - zumindest verglichen mit ersterem. Begleitet wird er von einem Kammerdiener. Sogleich zu Beginn der Geschichte begegnen wir Biondetta, der Blonden, in ganz verschiedener Gestalt: schließlich in Gestalt einer ganz wirklichen, natürlichen, liebreizenden, zurückhaltend-bescheidenen, dienstfertigen und zugleich klugen Frau. Ganz episodisch bleibt ein gewisser Bentorelli, Vertrauter der Mutter von Alvare, an den sich dieser als einen möglichen Retter wandte, als er zu ertrinken drohte in seiner Schuld durch den Reiz des Spiels. Allein die erhoffte Hilfe kam nur dem Scheine nach, den wohl Biondetta listig zu erzeugen wußte, von dieser Gestalt. Das wahre Gesicht von Bernardillo offenbart sich noch weniger als das anderer. Ob er es ist, der während des Maskenballs den Mordanschlag auf Biondetta verübt? Sicher ist nur, daß er direkt der Welt angehört, in die auch Soberanos Spur führt. Das Einzelne und Konkrete aber bleibt hinter Masken verborgen. Alvare war nicht vorbereitet gewesen, um all den Verlockungen dort als ein starker Charakter, der nach den Prinzipien, die seine Familie ihn lehrte, handelte, auch endgültig widerstehen zu können. Die schönen Frauen aus der Unterwelt bezaubern auch ihn. Fast wären sie ihm zum Verhängnis geworden. Zum wirklichen Verhängnis wird eine von ihnen jedoch seiner Biondetta; denn der Anschlag auf ihr Leben sei verübt worden aus 'Eifersucht'. Olympia, die Alvare behexte, ist vielleicht sie die Täterin? Und wirklich aus diesem Motiv? Fest steht, daß das tatsächlich fließende Blut Biondettas und ihr naher Tod, den Alvare durch diesen Zwischenfall ansehen muß, das Da-

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sein des fantastischen Wesens als eines real-körperlich existierenden menschlichen Wesens 'beweisen'. Als wesentliche Elemente des Figurenensembles34 sind ferner zu nennen zwei wahrsagende alte Zigeunerinnen, deren scheinkluger Rat Alvare betört. Sie sind wesentlich insofern, als Alvares Reaktion ihnen gegenüber als Beweis dafür fungiert, wie wenig der 'Held' noch immer gefeit ist gegen die Kunst der Verfuhrung. Diese Funktion jener scheinbaren Randfiguren wird für den Leser 'markiert', nämlich durch die maßlose Enttäuschung Biondettas über Alvares rechute und deren unmißverständliche Wertung als impardonnable (DA: 366). Der "Rückfall" erscheint somit zugleich als eine dem "Meister" Biondetta bereitete und von ihm durchlebte Niederlage... Und da sind außer dem oben bereits erwähnten spanischen Arzt und Weisen Quebracuernos noch Marcos und Luisa, ein Bauernpaar - "des gens qui subsistent de leur travail depuis le commencement de la monarchie" (DA: 361)-, zu dessen Hochzeit Alvare und Biondetta, durch einen Achsbruch (!) zu unvorhergesehenem Halt und Verweilen gezwungen, auf das herzlichste eingeladen sind. Beim abschließenden Mahl sitzen die beiden Paare einander dergestalt gegenüber, daß man zu glauben vermeint, ein Bild und dessen Spiegelbild wahrnehmen zu müssen, getrennt voneinander nur durch die Festtafel, die als Symmetrieachse fungiert.35 Die Funktion einer realen Schutzgöttin und einer Alvare in seinen Vorstellungen immer nahen Helferin, die als Handlungsträger für den Leser jedoch so fern und unwirklich bleibt, wie Biondetta nah ist und für Alvare wirklich existiert, nimmt Doña Mencia, die Mutter, ein. Sie existiert in der Geschichte des Alvare zunächst nur als ferner Teil seiner Vergangenheit bzw. als nur vorgestellter, geträumter, erinnerter, in Visionen erscheinender, durch Lebensalter und Mutterstatus Ehrfurcht gebietender Gegen- und Ruhepol zur real-allgegenwärtigen, greifbar nahen, jungen, dynamischen und unberechenbaren Biondetta.36 Doña Mencia war also 'gegenwärtig' beinahe von Anfang an insofern, als Alvare ihrer immer in persönlichen Krisensituationen bedurfte, angesichts ihn überwältigender Fragen und Zweifel vor allem in seinem Verhältnis zum anderen Geschlecht, auch wenn er in anderen Lebenssituationen daran gewöhnt war, selbständig und erfolgreich zu handeln und zu entscheiden. Leibhaftig gegenwärtig als handelnde Figur ist Doña Mencia

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aber erst ganz am Schluß des Diable amoureux, nachdem Alvare - aus dem Abstand heraus, zu dem der Alltag ihn zwang und sich ihr nähernd gemeinsam mit Biondetta und ihr schließlich nahe, indem sie der Rezipient seiner Geschichte, der Mensch, der ihn anhört, wird - sich seiner eigenen Verantwortung für das durchlebte Abenteuer bereits immer bewußter geworden war. Mit dem Versuch, die Funktion der genannten Figuren einigermaßen treffend zu bestimmen und sie mit den wenigen markanten Ereignissen zu verknüpfen, ist eigentlich die auf der Textoberfläche ablaufende 'Geschichte' schon (fast) erzählt. Allein, es fehlt, um zu unserer Lesweise zu gelangen, der bedeutungsgeladene Anfang, von dem aus sich, verfolgbar über die durch Zeichen markierte und auf der Oberfläche kaum wahrnehmbare Spur, ein audelà, die Geschichte eines inneren Abenteuers, des Abenteuers der Auseinandersetzung mit der Welt draußen und mit sich selbst, also die wirkliche Geschichte, erst konstituiert. Darum sei nun die Rede von jenem Anfang: Eines Abends erfuhr Alvare in einem Gespräch mit Soberano und seinen Gefährten von der Kabbala und von der These, daß dies eine wirkliche Wissenschaft sei, deren Operationen sicher wären und zu Ergebnissen führten. Die vor seinen Augen ablaufende Ausfuhrung des Befehls "Calderón, venez chercher ma pipe, allumez-là, et rapportez-la-moi" (DA: 316) durch eine unsichtbare Hand faszinierte ihn, und, von brennender Neugierde getrieben, wollte auch er erlernen, wie man Geistern befehlen, sie lenken und sie beherrschen kann. Die Warnung zu Vorsicht weist er zurück. Eine Probezeit, in der sich Anwärter normalerweise zu bewähren haben, scheint unnütz angesichts der ungewöhnlichen Kühnheit und Klugheit des jungen Offiziers. Auf die Frage, was er aber tun wolle, erschiene ihm der Teufel in leibhaftiger Gestalt, antwortet er sicher und selbstbewußt: "Je tirerais les oreilles au grand Diable d'enfer" (DA: 317). Wenig später, in der erhabenen, vergangene Größe erinnernden Atmosphäre der Ruinen von Portici - der Augenblick war ungeduldig herbeigesehnt worden von Alvare - , folgt er, die Folgen nicht kennend, aber auch nicht ohne seinem eigenen Willen zu gehorchen, der Aufforderung der anderen, einzutreten in den Kreis. "Entrez dans ce penthacle, mon brave", vernimmt er aus dem Munde Soberanos, gleichzeitig aber auch dies: "n'en sortez qu'à de bonnes enseignes" (DA: 318). Was aber heißt das, "gute, glückliche

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Zeichen"? Die Antwort: "Quand tout vous sera soumis" (DA: ebd.). Tue er aber vorher aus Furcht nur einen einzigen falschen Schritt, stürze er sich in große Gefahren. Steht hier der Kreis tatsächlich nur für ein Element aus den Riten der Kabbalisten? Assoziiert das Bild vom Menschen im Kreis nicht auch die Frage nach dem Platz des Menschen im Universum und nach dem Verhältnis zwischen Erde und anderen Planten und zwischen Planeten und anderen Gestirnen? Gerade zu Lebzeiten von Jacques Cazotte waren hypothetische Vorstellungen über die Entstehung der Planeten, zum Beispiel von Kant und von Laplace, gebunden an das Bild vom Kreis, in doppelter Hinsicht sogar: einerseits durch die Annahme, sie seien durch ihre Isolierung aus spiralförmigen Nebeln entstanden, gewissermaßen durch ein Heraustreten aus einem Kreis. Zum anderen blieben sie, so wurde damals weiter gefolgert, auf ewig, wenngleich unsichtbar, untereinander und mit dem Kreis verkettet. Nur die Bindung an ihn und in ihm an die anderen Teile des Ganzen sicherten ihnen und mithin auch der Erde die Möglichkeit ihrer Fortexistenz. Die völlige Freisetzung von diesen Verbindungen bedeute dagegen, so nahm man an, ihren Untergang... Alvare, im Kreis stehend und über sich selbst entscheidend, weiß um seine existentielle Bedrohung, wenn er eine falsche Wahl trifft. Aber er stellt sich der Gefahr, freiwillig, und er ruft, sich selbst Mut machend, dreimal hintereinander und mit sicherer Stimme im entscheidenden Augenblick das beschwörende Wort aus: "Béelzébuth" (DA: 319). Angst überkommt ihn; die Haare sträuben sich. Ein Lichtstrom überfallt ihn, und aus einer taghell erleuchteten Öffnung bricht ein schrecklich-scheußlicher Kamelkopf hervor, der ihm, den Rachen aufreißend, in italienischer Sprache die Frage entgegenbrüllt: "Que vuoi?" (DA: ebd.), die sich als Echo immer wieder von neuem wiederholt. Was willst du? Que vuoi? Nach kurzem innerem Kampf bemeistert er sich - "la révolution37 s'opère, je me rends maître de ma terreur" (DA: 320) - , Gefühle, Ideen, Nachdenken... All dies zusammen gibt ihm den notwendigen Mut, und er schleudert dem Gespenst die folgenschweren, in einen Befehl mündenden Worte entgegen: "l'esclave [...] cherche-t-il à effrayer on maître? Si tu viens recevoir mes ordres, prends une forme convenable et un ton soumis" (DA: ebd.). Das Gespenst gehorcht ihm und

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fragt zurück, welche Form ihm denn angenehm wäre. "La première idée qui me vint à la tête étant celle d'un chien: 'Viens, lui dis-je, sous la figure d'un épagneul.'" (DA: ebd.). Wir wissen bereits, daß auch das gelang. Plötzlich sprang munter ein Hündchen, mit seinem Schwanz wedelnd, um den Befehlenden herum, und es schien so, als habe es ihn schon bereitwillig angenommen als seinen Meister und Herrn. Es wolle, so ließ es ihn wissen, durchaus seine Füße lecken und küssen. Nur: "le cercle redoutable qui vous environne me repousse (DA: ebd.). Da wagt Alvare, nachdem sein Selbstvertrauen emporgewachsen war "jusqu'à l'audace" (DA: ebd.), den alles entscheidenden Schritt.38 Als Mensch der Gegenwart wird er fast zum Ebenbild jener heldischen Ritter der Vergangenheit, die ausziehen zu ihrer großen aventure, die geradezu selbstverständlich zu gelingen hat: Er tritt aus dem Kreis heraus... "Je sors du cercle, je tends le pied, le chien le lèche" (DA: ebd.). Das kleine Weibchen wird ihm tatsächlich Untertan. Doch scheinen die Vorstellungen beider von ihrem Leben, das fortan als ein gemeinsames möglich ist, von einem Leben als Diener und Herr, voneinander recht verschieden zu sein. Wird das von Alvare soeben erzeugte Wesen wirklich nur sein Sklave werden? Wird es auf immer, nichts anderes denkend und fühlend und wollend, nur der widerspruchslose Begleiter eines anderen sein? Das, was es sagt - das Es, Biondetto oder Biondetta, wie das Hündchen und all die anderen Erscheinungsformen jenes fantastischen Wesens fortan heißen werden - , das, was wir als seine Überlegung vernehmen, ist mehr und anderes. Es kann und sollte - dies ist zumindest eine Denkmöglichkeit - gelesen werden wie eine implizit formulierte Hypothese des Autors zum Fortgang der Handlung oder wie eine immanente Aufforderung (an Alvare? oder auch an den Leser?), dieses Es doch erkennen zu wollen. Es hatte nämlich gesagt: "J'obéïrai, maître, mais sous quelle condition?" Und auf seine Aufforderung zu Gehorsam ohne Widerspruch entgegnend, fahrt es fort: "Vous ne me connaissez pas, maître: vous me traiteriez avec moins de rigueur; j ' y mettrais peut-être l'unique condition de vous désarmer et de vous plaire" (DA: 321). Das, was dann folgt, zeugt von so viel Ungewöhnlichkeit, daß die Gefährten von Alvare fast vor Neid erblassen. Gern hätten sie, die sich als die Erfahrensten dünkten im Spiel mit all dem, was nicht alltäglich ist, genau erfahren,

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was denn dem Neuen zu so viel Lust, bedient und bezaubert zu werden und zu solcherart Macht, wie sie sie erleben können, verholfen hat. Wird der Leser am Ende die Antwort wissen? Auf jeden Fall gelingt Alvare zunächst fast spielend all das, was er befiehlt. So findet vor aller Augen ein fantastischer Dekorationswechsel statt. Oder ist das dann Folgende das Ergebnis einer geänderten Sehweise dessen, der 'herausgetreten ist aus dem Kreis'? Les murs de la voûte, ci-devant noirs, humides, couverts de mousse, prenaient une peinte douce, des formes agréables; c'était un salon de marbre jaspé. L'architecture présentait un cintre soutenu par des colonnes. Huit girandoles de cristaux, contenant chacune trois bougies, y répandaient une lumière vive, également distribuée. Un moment après, la table et le buffet s'arrangent, se chargent de tous les apprêts de notre régal; les fruits et les confitures étaient de l'espèce la plus rare, la plus savoureuse, et de la plus belle apparence. La porcelaine employée au service et sur le buffet était du Japon. (DA: ebd.)

Es ist, als frage das dienstfertige Hündchen, ob auch alles rasch genug und zur Zufriedenheit des Meisters vonstatten gegangen ist. Allein die Feierlichkeit und die Faszination des vor sich gehenden Schauspiels hatten an diesem Punkte ihren Höhepunkt noch nicht erreicht. Erst als das dienstbare Wesen in die Gestalt eines Harfenmädchens geschlüpft war und mit zauberhafter Stimme zu singen begann, war das Entzücken der Anwesenden grenzenlos. Das Fantastische ist Wirklichkeit, ist Gegenwart, es existiert.39 Es zieht sie alle in seinen Bann. Auch Alvare ist gefangen, entwaffnet, gerührt. Der Beweis: Er vergaß - fast - , daß er der all dies Hervorbringende war: Elle prend sa harpe, prélude avec une petite main longuette, potelée, tout à la fois blanche et purpurine, dont les doigts insensiblement arrondis par le bout étaient terminés par un ongle dont la forme et la grâce étaient inconcevables; nous étions tous surpris, nous croyions être au plus délicieux concert. La dame chante. On n'a pas, avec plus de gosier, plus d'âme, plus d'expression: on ne saurait rendre plus, en chargeant moins. J'étais ému jusqu'au fond du coeur, j'oubliais presque que j'étais le créateur du charme qui me ravissait. (DA: 323, Hv.BH)

Auf dem Heimweg dann, als er wieder zur Ruhe gekommen war und noch einmal über das Geschehene und Gesehene nachdenken konnte, glaubte Alvare aber, begreifen zu müssen, daß seine Verwegenheit ebenso wie die

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unbändige Neugierde, die ihn getrieben hatte zu dem, was ihm schließlich fantastisch erschien, den großen 'Prinzipien' zuwiderliefen, die seine Erziehung getragen hatten und die ihn an seine Mutter hätten binden müssen. Ein Schuldgefühl überkommt ihn ob der Tatsache, daß er Verrat begangen und nicht Maß gehalten hatte als der wissensdurstige Abenteurer, der er gerade war. "O ma mère! disais-je, que penseriez-vous de votre fils, si vous l'aviez vu, si vous le voyiez encore? Mais ceci ne durera pas, je m' en donne la parole" (DA: 325). Schließlich in seinem Zimmer angekommen und allein mit Biondetto, dem Pagen, zeigt sich, daß das Abenteuer trotz des edelsten Vorsatzes doch nicht so einfach zu einem Ende zu bringen ist. Denn: "Voulant terminer l'aventure [...], je jette (Präsens! - BH) les yeux sur le page, les siens sont fixés vers la terre" (DA: 326), und er sieht, daß das Verhalten und Tun dessen, der gerade umkehren will, bereits Spuren hinterlassen hat im anderen. Er sieht, daß in seinem Pagen etwas vor sich geht, das wohl kaum nur die Reaktion auf ein durch seinen Verstand gelenktes Wesen erklärt werden kann: "une rougeur lui monte sensiblement au visage; sa contenance décèle de l'embarras et beaucoup d'émotion" (DA: ebd.). Jetzt tut Alvare den nächsten entscheidenden Schritt: Er faßt sich ein Herz und spricht mit ihm - "je prends sur moi de lui parler" (DA: ebd.). Das nun folgende Gespräch - über Gespräche konstituiert sich das au-delà der aventure - wird im Ergebnis erkennen lassen, wie wenig tauglich jene 'Prinzipien' sind, von denen Alvare annahm, daß sie klare oder gar eindeutige Lösungen bieten würden und an die er sich, treu dem Vermächtnis der Ahnen, für immer gekettet glaubt. Es läßt erkennen, wie wenig sie sich vor allem als Handlungsanweisungen zur Lösung derjenigen Probleme eignen, für die er sie immer wieder verzweifelt zu erinnern versucht. Das Gespräch wird ihm zeigen, daß er gerade wegen der von ihm auf der Grundlage jener "Prinzipien" anerkannten Moral seinen Prinzipien nicht treu bleiben kann. Denn auch das ihm dienende Wesen hatte sich in Gefahren begeben und Opfer gebracht - für ihn. "Une imprudence plus grande que la vôtre", muß Alvare aus dem Mund seines Pagen vernehmen,

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excusable peut-être, puisque vous en êtes l'objet, m'a fait aujourd'hui tout braver, tout sacrifier pour vous obéir, me donner à vous et vous suivre. J'ai révolté contre moi les passions les plus cruelles, les plus implacables. (DA: 326)

Als Rettungsanker geblieben war ihm also allein noch ein zu seinem Schutze bereiter Alvare. Der aber mußte, wollte er treu nach seinen 'Prinzipien' leben, aus Gründen der Ehre streng sein zu sich selbst. Er mußte sich gegenüber den flehenden Bitten seines Begleiters, doch die Nacht im gleichen Zimmer verbringen zu dürfen, abweisend verhalten; denn er kannte ja dessen wirkliches Geschlecht. Andererseits sah er sich plötzlich, Biondettos/Biondettas Argumenten folgend, zu der Entscheidung gezwungen, die er soeben noch für geradezu unmöglich hielt. Hatte sie doch, sich nunmehr freimütig und auf immer zu ihrem Geschlecht bekennend, ganz unmißverständlich und klar ihre Fragen so formuliert, daß er keine andere Wahl mehr hatte als sie zu bejahen, da es einem wohlerzogenen und gebildeten Edelmann nicht geziemt, sich den Grundsätzen zu widersetzen, zu deren Respektierung er von den Seinen erzogen war. Muß nicht ein Ritter, ein Spanier zudem, so ihre Frage, besonders edel und würdevoll handeln und sich als stark und mitfühlend erweisen gerade gegenüber dem schwachen Geschlecht? Er erinnert sich an das, was ihm seine Mutter mit auf den Weg gegeben hat: "Quand ma mère me donna ma première épée, elle me fit jurer la garde de servir toute ma vie les femmes, et de n'en pas désobliger une seule" (DA: 327). Er kann also nicht anders, als es zu wollen: "Je le veux pour la rareté du fait, et mettre le comble à la bizarrerie de mon aventure" (DA: ebd., Hv.-BH). Biondetta möge sich still verhalten und unsichtbar für ihn, gebietet er ihr und fügt eine deutliche Warnung hinzu: "au premier mot, au premier mouvement capables de me donner de l'inquiétude, je grossis le ton de ma voix pour vous demander, à mon tour, che vuoiï" (DA: ebd., Hv.-BH). Der Traum, den er, ganz in der Nähe von Biondetta schlafend, dann träumte, ließ ihm den Pagen noch schöner erscheinen als je zuvor. Sein Bild verfolgte ihn. "Il semblait que le portrait du page fut attaché au ciel du lit et aux quatre colonnes; je ne voyais que lui." Und es kam die Erinnerung an andere Bilder, die, so sieht es der Leser, alle auf das gleiche Urbild verwiesen. Für Alvare jedoch könnte es nur schön oder häßlich, gut oder böse sein. Oder hatten seine schönen Erinnerungen mit jenem Schrecklichen zu tun?

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Je m'efforçais en vain de lier avec cet objet ravissant l'idée du fantôme épouvantable que j'avais vu; la première apparition servait à relever le charme de la dernière. Ce chant mélodieux que j'avais entendu sous la voûte, ce ton de voix ravissant, ce parler qui semblait venir du coeur, retentissaient encore dans le mien, et y excitaient un frémissement singulier. Ah! Biondetta! disais-je, si vous n'étiez pas un être fantastique! Si vous n'étiez pas ce vilain dromadaire! Mais à quel mouvement me laissé-je emporter? J'ai triomphé de la frayeur, déracinons un sentiment plus dangereux. Quelle douceur puis-je en attendre? Ne tiendrait-il pas toujours de son origine? (DA: 327 f)

Das schöne Empfinden, verzaubert zu sein durch so viel Sanftmut und Frische und Naivität und folgenschwere Gedanken an die bedrohlich heraufziehende Gefahr von Verrat, den man begehen könnte, wechseln einander in raschen Folgen ab. Doch da beendet ein Zwischenfall - ein accident - abrupt alle Träumereien und Zweifel des hin- und hergeworfenen Alvare. Die Wirklichkeit packt ihn: Als er sich hin- und herwälzt auf seinem Lager, erwachend - oder geschah es doch noch im Traum? - reißen plötzlich, laut krachend, die Bretter des Bettgestells aus ihrer Halterung heraus. Und... Biondetta springt ganz erschreckt herbei, Alvare ängstlich und besorgt danach fragend, ob ihm gar etwas zugestoßen sei, und er findet sich unversehens in ihren Armen... (DA: 328) Tags darauf erklärt sie sich ihm, erzählt sie ihm ihr Abenteuer. Sie will es erzählen, beteuert sie. Ihr Abenteuer beginnt mit ihm. Es erscheint gleichermaßen schicksalbestimmend für beide, nur daß er sich der Gefahren noch nicht bewußt geworden ist, die beider Abenteuer entstehen ließ. "Votre jeunesse, votre imprudence", hebt sie ihre Erzählung an, "vous ferment les yeux sur les périls que nous avons rassemblés autour de nous" (DA: 329). Kaum habe sie ihn gesehen unter den Gewölben von Portici, fahrt sie fort, da sei ihr bewußt gewesen, daß angesichts seines heroischen Verhaltens gegenüber der scheußlichen Erscheinung dort nunmehr ihre Entscheidung unaufschiebbar geworden war: "si, me dis-je à moi-même, pour parvenir au bonheur, je dois m'unir à un mortel, prenons un corps, il en est temps: voilà le héros digne de moi" (DA: ebd.). Es sei nun an ihm, sie vor den Gefahren der Welt, vor Neid, Eifersucht und Wut gegenüber ihrer Gattung zu bewahren. Auch er, nunmehr mit ihr vereint, schwebe ja bereits in der akut gewordenen Gefahr, angeklagt zu werden von den anderen, als nécromancienw. Er

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wird durch das Bild, das andere von ihm verbreiten, zur Entscheidung gezwungen: "je ne balance pas [...] entre vous et lui; mais si vous m'aidez á me tirer d'ici, á quoi m'engagerai-je? Puis-je me séparer de vous quand je le voudrai?" (DA: 330). Darauf antwortet sie deutlich und klar und bestimmt damit das gemeinsame Abenteuer, in welchem jeder, wenngleich an den anderen gekettet, für sich und es wollend, freiwillig entscheidet, wissend darum, daß auch er, wie die Gestirne im Universum, nur als Teil einer Ganzheit, durch den anderen und gemeinsam mit ihm, existiert. Entschiede Alvare sich aber gegen die Bindung41 und mithin auch gegen die freiwillige Unterordnung unter den anderen, bliebe allein die Trennung, durch die sie, Biondetta - die Sylphe, wie wir erfahren - die Möglichkeit, leibhaftig weiter zu existieren als Mensch, verwirkt und sterben müßte, wie die Legende es weiß. Sprecht also, Alvare: "Esprit qui ne t'es lié á un corps que pour moi, et pour moi seul, j'accepte ton vasselage et t'accorde ma protection" (DA: 331). Er spricht's. Sie ist überglücklich, sie verläßt den Raum. Er bleibt bewegt und wie betäubt zugleich zurück, bis ihm gelingt, was er versuchte in dieser Situation: durch Schlaf zu entrücken aus dieser belastenden Wirklichkeit und sich in den schönsten und angenehmsten Träumen zu befreien von jenen bizarren und schrecklichen Ideen, die ihn ermüdet hatten (DA: 331). Seine Mutter sei allerdings im Ergebnis des Nachdenkens über sein Abenteuer, das er ihr später erzählt, zu der Auffassung gelangt, daß dieser lange besänftigende Schlummer doch nicht natürlich gewesen sei... (DA: ebd.) Aber er hatte seine Entscheidung getroffen. So kann Biondetta fortan sein Schutzengel und Lehrmeister sein, auch wenn er sich später immer heftiger zur Wehr setzen wird gegen das, was er selbst gewollt hatte. Er wolle keinen Meister, erklärte er schließlich mit großer Bestimmtheit, furchte, zu viel zu lernen... (DA: 336) Denn bald sollte er (erschaudernd? oder beglückt?), nachdem er im Glücksspiel den Regeln gefolgt war, die sie ihn lehrte, erleben können, was es heißt, daß nichts in der Welt zufällig ist... Die folgende Textstelle ist eine der wichtigsten aus dem Diable amoureux überhaupt. Sie belegt die philosophische Tiefe und die Bezüge zu anderen Denkern des Jahrhunderts, hier zum Beispiel zu Diderot. Sie zeigt - verknüpft man sie mit dem ganzen Abenteuer (Alvares bzw. der Kunst und Literatur bzw. unserer Lektüre) und den es konstituierenden Beziehungen zwi-

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sehen den Teilen - gleichzeitig an, daß es für den Verfasser doch nicht nur ein Entweder-Oder und doch nicht nur endgültige Erkenntnisse gibt, sondern ebenso ein Zwischen und ein Vielleicht und vor allem Kalküls, die (noch) nicht aufgehen und für deren eventuelle Lösung es vielleicht auch des Bildes oder der Intuition oder eines neuen Ansatzes bedarf: Il n'y a point de hasard dans le monde: tout y a été et sera toujours une suite de combinaisons nécessaires que l'on ne peut entendre que par la science des nombres, dont les principes sont, en même temps, et si abstraits et si profonds, qu'on ne peut les saisir si l'on n'est conduit par un maître; mais il faut avoir su se le donner et se l'attacher: je ne puis vous peindre cette connaissance sublime que par une image. L'enchaînement des nombres fait la cadence de l'Univers, règle ce qu'on appelle les événements fortuits et prétendus déterminés, les forçant par des balanciers invisibles à tomber chacun à leur tour, depuis ce qui se passe d'important dans les sphères éloignées, jusqu'aux misérables petites chances qui vous ont aujourd'hui dépouillé de votre argent [...]. La banque est combinée sur le pied d'un profit exorbitant qui se renouvelle à chaque taille: si elle ne courait pas de risques, la république ferait à coup sûr un vol manifeste aux particuliers. Mais les calculs que nous pouvons faire sont supposés, et la banque a toujours beau jeu, en tenant contre une personne instruite sur dix mille dupes. (DA: 3360

Was auch geschehe, man muß, auch ohne die Folgen zu kennen, seine Entscheidung treffen, wenn man an dem Punkt am Kreis angekommen ist, von dem aus sich immer wenigstens zwei Möglichkeiten eröffnen werden, nämlich: drinnen zu bleiben im Kreis oder aus ihm herauszutreten, ihn freiwillig zu verlassen. Doch kennt man die Regel, dann scheint der Erfolg gewiß, ein Erfolg jedoch, der angesichts der Unvorherbestimmtheit alles Zukünftigen immer nur ein 7e/7schritt und das Ergebnis eines bewußten Spiels mit existierenden Möglichkeiten ist. Den langen Weg zurück wird man leichter erklären können; sein Nachvollzug kann aber eine Voraussetzung sein zur Bestimmung eines künftigen. So vermochte Alvare - das ist in erkenntnistheoretischer Hinsicht relevant und entscheidend als message des Diable amoureux seinen eigenen Weg zu finden, indem er lernte, ihn bewußt zu gehen, Zeichen wahrzunehmen und bereit war, seine Entscheidungen als etwas Eigenes zu verantworten. Zurückverfolgen bis zu den Anfangen seines Abenteuers konnte er ihn schließlich, auch wenn er einen Rest an Unschärfen akzeptieren muß, mit relativ großer Genauigkeit, indem er ihn anderen, verschiedenen

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anderen erzählte, so daß im Ergebnis, gewissermaßen als Rekonstruktion durch ein aktives individuelles Subjekt (Alvare, Cazotte, den Leser), das Bild einer Ganzheit entstand bzw. entsteht. So lesen wir den Dialog über die in Alvare ebenso Verzauberung wie Furcht bewirkenden 'Prinzipien' und 'Regeln', - der zwischen dem klugen, hilfreichen, niemals wirklich bösen und nur zweimal in häßlicher Gestalt erschienenen Teufel, der Sylphe eben, die als Elementargeist dem Menschen dient, und Alvare bzw. zwischen Alvare und dem Teufel mit dem Leser und zwischen anderen Figuren, der Mutter vor allem mit Alvare bzw. des Lesers mit ihnen, zustande kommt - , nicht nur als anregende Auseinandersetzung mit noch immer bewegenden Lebensfragen, sondern auch als Beitrag zu jenen Debatten, die zu Lebzeiten von Jacques Cazotte in ganz Europa geführt worden sind und die in dieser oder jener Erscheinungsform auch in den Werken von Leibniz und Kant und Laplace wiederholt aufgeworfen worden sind. Ist nicht Biondetta ein dem Leibnizschen oder dem Laplacschen Dämon entfernt ähnelndes Wesen, das als ein vollkommeneres und trotzdem beschränktes, als nicht Gott seiendes Wesen gedacht worden war und dem man die Fähigkeit zudenken wollte, Körper zu bilden, einen Menschen nachzuahmen, ohne derselbe zu sein? Auch sie suchten den Dämon, der im Idealfall jede mögliche Folge würde vorhersagen und berechnen können, indem er eines Tages jenen Punkt findet, von dem aus die Welt aus den Angeln zu heben ist. Ich überspringe die konkreten Erscheinungsformen der Zweifel und die konkreten Umstände der jeweils zustande kommenden Überwindung der Zweifel Alvares und verzichte auf die Rekapitulierung des Fortgangs der Vordergrundhandlung und komme, mich weiterhin auf sein inneres Abenteuer konzentrierend, abschließend, zu einem Traum, den er nach jener einzigen (wirklichen? oder nur geträumten?) Liebesnacht träumt, als er unterwegs zur Mutter nach Spanien ist. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß dieser Traum ein Text im Text ist, der eine Schlüsselbedeutung für das Ganze hat, ein Text, der durch eine mise en abyme mit anderen Texten im Text, also solchen innerhalb des 'Kreises', gleichzeitig aber auch mit anderen, die zum 'Draußen' gehören, verbunden ist. So interessant er ist, so schwer ist er, wenn überhaupt, zu entschlüsseln. Vielleicht besteht seine Funktion auch einfach

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darin, daß Alvare und der Leser mit ihm erfahren müssen, daß immer ein Rest bleibt, der als unerkannt, weil nicht erfahrbar, fortexistiert. Nachdem Alvare - wir kommen damit auf die oben bereits ausführlich zitierte Textpassage zurück, mit der Vordergrundhandlung und au-delà verschmelzen - Biondettas Aufforderung, sie doch auch als leibhaftigen Teufel zärtlich zu lieben, lieben zu wollen und nachdem er erneut den schicksalsschweren Namen Béelzébuth vernommen und sie hinzugefügt hatte, daß nunmehr der sie verbindende Knoten nicht mehr zu lösen sei, fand Alvare keine Zeit mehr, so lesen wir, über diese feierliche und sonderbare Anspielung nachzudenken: un coup de sifflet très aigu part à côté de moi. À l'instant, l'obscurité qui m'environne se dissipe: la corniche qui surmonte le lambris de la chambre s'est toute chargée de gros limaçons: leurs cornes, qu'ils font mouvoir vivement en manière de bascule, sont devenues des jets de lumière phosphorique, dont l'éclat et l'effet redoublent par l'agitation et ' allongement. Presque ébloui par cette illumination subite, je jette les yeux à côté de moi; au lieu d'une figure ravissante, que vois-je? Ô ciel! c' est l'effroyable tête de chameau. Elle articule d'une voix de tonnerre ce ténébreux che vuoi? qui m'avait tant épouvanté dans la grotte, part d'un éclat de rire humain plus effrayant encore, tire une langue démesurée... (DA: 371)

Der Kreis schließt sich, fast, jedoch nicht am gleichen Punkt. Denn was assoziieren die Schnecken, deren Fühler eine phosphoriszierende Lichtflut aussenden? Eine Lichtflut, die in dem Maße noch wächst, wie die Schnecken in Bewegung kommen? Assoziiert das Bild von den limaçons vielleicht die Vorstellung von einem schneckenförmig, spiralförmig verlaufenden menschlichen Erkenntnisprozeß? Oder sollten wir etwa aufgefordert sein, die Pascalsche Schnecke zu denken? Jene Fußpunkte von Senkrechten, die von einem festen Punkt aus auf Tangenten einer gegebenen Kurve gefallt worden sind? Dann würde sich das Bild vom Kreis, den Alvare mit seinem Schritt nach draußen verließ, modifizieren und auf den notwendigen Schritt nach innen und gleichzeitig nach oben in Richtung Konzentrationspunkt orientieren, darauf, daß man sich, denkend, erkennend, handelnd, schneckenförmig gewissermaßen, in konzentrischen Kreisen auf einen Mittelpunkt zubewegt. Diese Frage ist, so meine Lesweise, der eigentliche 'Schluß' des inneren Abenteuers, in dem sich, wie schließlich Don Quebracuernos wertend resü-

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mieren wird, miteinander mischen werden "le grotesque au terrible, le puéril de ses escargots lumineux à la découverte effrayante de son horrible tête, enfin le mensonge à la vérité" (DA: 376). Es lohnt sich noch heute, über dieses den Rahmen jeglicher 'Prinzipien' sprengende Angebot von Jacques Cazotte weiter nachzudenken.

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ANMERKUNGEN 1. Eine solche Lesweise findet man bisher nur vereinzelt in der Cazotte-Forschung. Die gründlichste Analyse des Diable amoureux, die auf der Grundlage moderner, künstlerischen Texten angemessener Fragestellungen und Methoden zu Ergebnissen kommt, die, ohne es explizit zu markieren, die traditionellen Thesen geradezu aus den Angeln hebt, liegt mit dem Aufsatz von J. M. Blanchard vor. Siehe auch Todorov und Hoffmann, femer in Ansätzen Shaw und O'Reilly. Die Monographien hingegen konzentrieren sich hauptsächlich auf textexterne Fragestellungen. 2. Denn das Zimmer ist z. B. ein Zimmer in der Kaserne oder im Gasthaus oder in der Scheune eines Bauern, und das Bett ist das Bett einer/eines anderen. 3. Auf den Straßen von Neapel oder von Venedig oder anderswo. 4. Es gibt Übersetzungen wenigstens ins Deutsche, ins Englische, ins Griechische, ins Italienische, ins Portugiesische, Russische, Tschechische und ins Ungarische. Die erste Übertragung ins Deutsche erfolgte bereits 1780, die zweite 1790. Krauss übernahm in seinen Sammelband Französische Erzählungen des 18. Jahrhunderts eine Übersetzung von Eduard von Bülow aus dem Jahre 1838. 5. Zur Beschreibung (weniger zur Wertung) der Schlußvarianten und ihrer Geschichte siehe vor allem die ausführliche Darstellung von Rieger: 127-144. 6. DA steht im gesamten Text für die Ausgabe des Diable amoureux, die enthalten ist in Romanciers du 18e siècle, Bibliothèque de la Pléiade, Gallimard Paris 1965. 7. "On se garda bien de rouvrir." (DA: 378) 8. Zu nennen sind vor allem Nodier (Conte de la veillée, Dernier banquet des Girondis, Trilby), Gautier (Albertus), E.T.A. Hoffmann (Elementargeist u. a.), M.G. Lewis (The Monk). 9. "Une femme est un diable."

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10. Le Possédé. Der folgende Eintrag in den Journaux intimes belegt ebenfalls direkt, daß Baudelaire Cazotte gelesen hatte: "Les Satans n'ont-ils pas des formes de bêtes? Le chameau de Cazotte - chameau, diable et femme." (Baudelaire 1951: 1258) 11. A travers l'Europe (Calligrammes). 12. Geschrieben im November 1858, veröffentlicht am 20.1.1859 in der Revue Française, dann aufgenommen als Nr. 37 in Spleen et idéal, Teil der Fleurs du mal. 13. Der Monsieur Cazotte genannte etwa dreißigseitige Text von 1836 ist von relativ geringem Interesse. 14. Nodier meint damit die Religionen, die als in ihren Grundfesten erschütterte "Wahrheiten" die menschliche Vorstellungskraft nicht mehr ansprächen. 15. So als Frage gestellt vor allem durch Rieger (1969) und Décote (1984). 16. Diese These wurde in besonders radikaler Weise vertreten durch Trintzius und Richer. 17. Eine Ausnahme macht Werner Krauss, der exakt angibt, in welcher Hinsicht er allenfalls der These vom "antiaufklärerischen" Charakter des Diable amoureux folgen könne. Er schrieb: "Als gegenaufklärerisch ließe sich allenfalls [...] die Zuneigung zu den altspanischen Traditionen bezeichnen, die Cazotte in seinem Verliebten Teufel deutlich verrät." Krauss: 402. 18. Wir denken an die Überlegungen vor allem von Diderot zum Theater oder an das Genre des conte philosophique oder an die zahlreichen Versuche, auch den Roman zu einem genre sérieux zu machen. 19. Cazotte-Forscher gehen heute in relativer Übereinstimmung davon aus, daß nicht konkrete persönliche Erfahrungen mit Organisationsformen und Praktiken von Freimaurern die Grundlage für die Möglichkeit des gestalteten Ambiente im Diable amoureux gewesen sind, sondern daß vor allem der Comte de Gabalis des Abbé Montfaucon de Villars (1670) Cazotte als wichtige Informationsquelle gedient haben muß und daß dort

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bereits alle wesentlichen kabbalistischen Elemente zu finden seien, die im Text eine Rolle spielen. Siehe dazu vor allem Rieger (1969: 70 - 73) und Milner (1960: 8 8 - 102). 20. Die Persönlichkeit Voltaires beschäftigte Cazotte offenbar besonders. Shaw nennt Cazottes Verhältnis zu Voltaire eine "mixture of adversion and respect". Bei kritischer Prüfung habe ihn mehr der Schriftsteller als der Philosoph interessiert. Als junger Mensch hatte Cazotte einen satirischen Text in sieben Gesängen gegen den Meister verfaßt (Voltériade, 1741), den er aber auf Intervention des Betroffenen hin nicht drucken ließ. Er erschien erst nach Voltaires Tod. Zu dem insgeamt widersprüchlichen Verhältnis von Cazotte zu Voltaire siehe vor allem Shaw (Kapitel

Literary relationships). 21. Nerval nennt ihn später eher "abergläubisch" als gläubig. Siehe Nerval 1979:135. 22. Selbstzeugnissen zufolge geht die Initiation Cazottes durch die Martinisten frühestens auf das Jahr 1777 zurück. Zweieinhalb Jahre lang habe er an 12 oder 15 Sitzungen teilgenommen, ehe er gemeinsam mit der Marquise de la Croix, die seit 1789 schließlich in seinem Haus in Pierry wohnen wird, kritische Auseinandersetzungen mit verschiedenen Gruppierungen der Illuministen fuhrt. "Je me refroidis extrêment sur le compte de ma loge, en considérant les inconvénients de toutes les autres. Je remis mes cordons et mes paperasses au Maître de la Loge." Zitiert nach Décote (1982: 134). Den Unterlagen vom Gerichtsprozeß gegen Cazotte zufolge wird die Initiation mit 1778 datiert. Dort ist vermerkt, er habe den Martinisten drei Jahre lang angehört. Siehe Milner (1960: I, 108 und 3 2 6 337). 23. Brief vom 6.2.1790, wiederentdeckt 1976; komplett abgedruckt in Décote (1982: 132-137). 24. "Puisque l'on m'accorde d'être Martiniste [...], je vous dois ma confession [...]. En montrant ce que je suis, je [...] vais vous donner sur l'objet de cette triste et malheureuse secte (Hv.-BH) des connoissances que le plus persuadé des martinistes ne pourroit vous donner." (Ebd. 132) Weiter unten: "En 1773 ou 74 une autre espèce de secte s'étoit formée au

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Brigitte Hocke Temple sous les auspices du Commandr de Chabriant et de Quereret, Trésorie du Pr. de Conti [...]Je me trouvai à portée d'entendre leur rapsodie, et profitant de tous leurs contes, dans un instant de gaieté, j e fis Le Diable amoureux, ne me doutant pas que je cassois bien des vitres. J'attirois sur moi l'attention de tous les sectaires de France, où sous différentes bannières il y en a bien plus qu'on ne l'imagine, et me vis exposé à la recherche et visite de tous les souffleurs, de tous les chercheurs de choses occultes." (Ebd. 134) Über das ihn mit Frau de la Croix Verbindende führte Cazotte folgendes aus: "Nous fîmes une ligue contre les Martinistes, les Convulsionnistes et tous les radoteurs en iste. Nous l'avons continuée (l'amitié-BH) contre les Mesméristes et les Cagliostrotistes, tous gens d'une même farine. Nous éteignîmes la petite branche des illuminés qui nous étaient tombés sous la main, à ne pas leur laisser un bout de chandelle. Nous nous jettâmes sur les martinistes: nous débauchâmes, convainquîmes quelques-uns des plus zélés; et la secte disparut de Versailles, de Paris, de Bordeaux et de Marseille; mais Lyon persista [...] Voilà à quel point je suis Martinis te..." (Ebd. 135)

25. "Je me refroidis extrêment sur le compte de ma loge, en considérant les inconvénients de toutes les autres. Je remis mes cordons et mes paperasses au Maître de la Loge." (Ebd. 134) 26. Wie sollte man sonst die folgende Äußerung von Cazotte verstehen: "La Franc-maçonnerie ordinaire", lesen wir in dem bereits zitierten Brief, "est l'antichambre de ces duperies de l'espèce humaine." (Ebd. 136) Sie hätte wohl keinen Sinn, wenn es für ihn nicht auch möglich gewesen wäre, noch ein anderers als das benannte 'gewöhnliche' Freimaurertum zu denken. 27. Genauer gesagt, interessiert in der Mehrzahl der bisherigen Untersuchungen zum Diable amoureux im Prinzip nur die Produktionsseite (unter völligem Ausschluß des Rezeptionsprozesses, sogar der individuellen Lesweise des Kritikers selbst); und wenn die Entstehungsbedingungen des Textes analysiert werden, interessiert in erster Linie der vom Autor "erlebte" Anlaß für sein Schreiben (unter Absehung von den Mitteln und

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Methoden seiner schöpferischen Tätigkeit sowie der Funktion, die diese für ihn hatten und für andere haben). 28. Wir meinen Milner (1960), Rieger (1969) und Décote (1984). 29. Dabei trifft das Gesagte auf die Bücher von Milner und Décote durchaus nicht durchgängig zu. Vielmehr sprechen beide auch von der Ambiguität des Textes, Milner im weiteren, Décote im engeren Sinn (z. B. Milner 1960: 83, 93; Décote 1984: 196, 251 - 252). Décote wertet ihn ferner zu Recht als eine vom Willen zur Erkenntnis und zur Ich-Bestätigung (1969:222) getragene "véritable quête personnelle" (ebd. 252) und akzeptiert nicht die These von Shaw, daß die Schlußepisode das schwächste Stück des ganzen Textes sei (ebd. 242). Die Gegenthese allerdings überzeugt uns ebenfalls nicht, denn den 'sens général' des Textes auf seine 'Unerklärbarkeit' festzulegen ("tout se termine comme dans un rêve parce que tout est inexplicable"; ebd.) übersieht das tatsächliche Angebot. Die Formulierung von Milner dagegen, "Le Diable amoureux s'achève sur un point d'interrogation" (1960:1, 101), verstellt es zumindest nicht. Milner spricht auch zu Recht von Cazottes "manière toute personnelle d'introduire le merveilleux dans la fiction" (1960: 83) und von der Neugierde Alvares als Triebkraft seines Lebens (ebd. 94). Aber das, was er in so genialer Weise über die Funktion des Teufels in der Romantik herausgearbeitet hat ("esprit de révolte", "non-conformisme", "opposition à toute morale et à toute religion"; ebd. z. B. I, 13, 21, 68), bezieht er, trotz seiner Wertschätzung des Diable amoureux für die künftige Literaturentwicklung, in keiner Weise auch schon auf diesen Text. Beide Autoren zögern, sich Methoden zu widersetzen, die für den Umgang mit der Literatur des 18. Jahrhunderts als anerkannt gelten und bleiben so bedauerlicherweise einer Denkweise verhaftet, die sich mit der Entdeckung und detailgetreuen Beschreibung vor allem der Existenz von Antinomien im Diable amoureux begnügt, so z. B. Décote von Logik und Irrationalem bzw. Klarheit und Logik inmitten unklarer Umstände (1984: 241 - 243). Reflexionen über den Kampf zwischen den von beiden offenbar als ewige Seinsgegebenheiten akzeptierten 'Prinzipien' Gut und

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Brigitte Hocke Böse werden somit trotz andersartiger Ausgangsüberlegungen zum Kernstück ihrer Aussagen über den Diable amoureux.

30. Man beachte das Spiel mit dem Namen! 31. Sylphen sind in der von manchen Kabbalisten wiederbelebten Vorstellungswelt des Mittelalters Elementargeister, die Umgang mit den Menschen pflegen, sie necken, in der Regel nur Gutes tun und nur dann schaden, wenn man sie reizt. Den 'Prinzipien des Universums' entsprechend, unterschied man: Salamander (Feuergeister), Undinen (Wassergeister), Gnomen (Erdgeister) und Sylphen (Luftgeister). Um zu persönlicher Existenz zu gelangen, mußten die Sylphen eine Möglichkeit finden, sich auf ewig mit einem weisen Sterblichen zu vereinen. Weiter dazu und zum Verhältnis von Sylphen und Teufel auch Rieger: 7 0 - 7 3 . 32. Mit dieser Konsequenz und Überzeugungskraft wird die auch von uns geteilte These, daß gerade die Abwesenheit jeglicher moralisierender Wertung, jeder Parteinahme und jedes Versuchs, die aufgebaute Ambivalenz zu beenden, die Spezifik des Diable amoureux ausmacht, nur von J.M. Blanchard vertreten. Siehe Blanchard (1974:36- 39). Sinngemäß führten allerdings auch Überlegungen von Shaw bereits zu diesem Schluß. Er las den Diable amoureux als eine "heitere Attacke" auf den conte moral und behauptete, daß Cazotte mit diesem in mancherlei Hinsicht den contes philosophiques nahekommenden Text einen Schritt vom conte oriental zum conte libertin getan habe. Vgl. Shaw: 60. 33. Nota bene: Cazotte verwendet nicht rêve bzw. rêver, sondern songe und songer. 34. Unerwähnt lassen wir ein ganze Reihe von Figuren, die unterwegs zur Mutter, kurz vor der Ankunft auf dem Schloß, den Weg von Alvare und Biondetta ganz leibhaftig kreuzen (Diener, Gastwirtsleute, Volk), also lebendige Gegenwart scheinen, obgleich sie erinnerte Bilder aus der Vergangenheit sind. 35. Marcos' Blicke, so lesen wir, brannten vor Leidenschaft; Luisa stand, wie in entscheidenden Momenten einst auch Biondetta, Schamröte im Gesicht... "J'avais ce tableau sous les yeux", so wird diese Szene später

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von Alvare kommentiert, "j'en avais un plus mouvant, plus varié à côté de moi" (DA: 366). Er meinte Biondetta... 36. In unserem Verständnis ist die sich durch die gesamte Cazotte-Literatur ziehende These, daß die Mutter und Biondetta die die Geschichte konstituierenden 'Gegenspieler' seien, trotzdem insofern nicht schlüssig, als gerade an beider Funktion fur Alvare, nicht aber vermittelt über das vordergründig verführerisch kontrastierende Erscheinungsbild, gerade die Ambiguität sowohl dieser Figuren als auch die der Geschichte faßbar wird. Sie sind, liest man die Geschichte als die Geschichte des au-delà, ebenso kontrastiv wie parallel aufgebaut, und ein Ansatz für Lösungsmöglichkeiten der Probleme Alvares (wie solcher, die im Leser entstehen können oder entstanden sind) ist weder als 'Bekenntnis' zur einen noch zur anderen zu finden, sondern allenfalls durch eigene Positionsfindung in Auseinandersetzung mit ihnen, aber eben nicht nur mit ihnen, zu schaffen. Die Interpretation der beiden Figuren gleichsam als Protagonist und Antagonist und vor allem die Wertung von Dona Mencia als Identifikationsfigur sind unseres Erachtens Resultat eines zutiefst konventionellen, weil der klassischen Ästhetik verhafteten Konzepts für die Rezeption von Literatur, das Cazotte eben, indem er den Diable amoureux schrieb und so schrieb, subversiv unterlaufen wollte. 37. Die Bedeutung des Satzes la révolution s'opère - diese Textstelle ist zugleich die erste, in der der Ich-Erzähler plötzlich von der Vergangenheitserzählzeit ins Präsens springt - blieb bisher einem beträchtlichen Teil der Leser der Geschichte absolut verstellt; denn in drei von sechs konsultierten Ausgaben unseres Jahrhunderts - zu meinem Bedauern auch in der schönen von Borges herausgebrachten Reihe - findet sich anstelle von "la révolution s'opère" der Satz "la résolution s'opère..." Das, was in Alvare vorging, sollte aber, so verbürgt es die in der Bibliothèque Nationale in Paris zugängliche Ausgabe von 1776, mehr sein als ein einfacher "Entschluß". An diesem Punkt der Handlung konnte es nur um eine "Revolution", einen Umbruch, eine Wende, gehen. 38. Der Ich-Erzähler wechselt auch hier unvermittelt aus dem Imperfekt ins Präsens.

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39. Man beachte auch an dieser Stelle den Bedeutung tragenden unvermittelten Wechsel der Erzählzeit vom Imperfekt zum Präsens. 40. Das heißt: als einer, der Prophezeiungen über die Zukunft formulieren wird, nachdem er die Geister der Toten befragt hat. Bekanntlich erscheint Nekromantie in den Schriften des Alten Testaments als zur Abgötterei gehörig verboten. 41. Dieses Gespräch ist direkt gekoppelt an ein Handlungselement, in dem Biondetta Alvare Geld anbietet, das er mit der folgenden Begründung nicht nehmen will: "...si vous étiez une femme en l'acceptant je ferais une bassesse..." Bemerkenswert ihre Entgegnung darauf: "Ce n'est pas un don, c'est un prêt" (DA: 330). Sie ist wohl mehr als eine Reaktion auf das Konkretum, bei dem sie steht. Sie wird von uns auch gelesen als eine Art vorweggenommenen Kommentars zu der Formel, die sie ihm vorspricht und die ihn schließlich außer Fassung bringt.

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DAS PHÄNOMEN DES SPUKHAUSES IN DER PHANTASTISCHEN LITERATUR UND DER ESOTERISCHEN GRUNDLAGENFORSCHUNG UM 1900 In einer nordfranzösischen Gemeinde versetzen unerklärliche Vorfalle die braven Bürger in Erstaunen und Aufregung. Auf den Hof eines Wohnhauses in der Rue du Prieuré geht in regelmäßigen Intervallen nämlich ein Hagel von Projektilen nieder, die die Fensterscheiben zertrümmern und manchmal gar Bewohner oder Beobachter treffen, ohne daß man die Stelle, von wo sie abgefeuert werden, noch den Urheber dieses originellen Unfugs ausfindig machen könnte. Bei den Geschossen, deren Aufprall mit unglaublichem Getöse verbunden ist, handelt es sich um Kieselsteine, Kohlebrocken und Ziegelstückchen. Als diese lästigen Attacken nach mehreren Wochen endlich ausbleiben und die Anwohner hoffen, aufatmen zu dürfen, fallen plötzlich Münzen vom Himmel in den Hof, in den Zimmern kippen Stühle von selbst um, abgestellte Holzschuhe beginnen zu tanzen, das Dienstmädchen wird von unsichtbaren Händen so arg geprügelt, daß es krank zu den Eltern zurückgeschickt werden muß. Messer fliegen umher, Socken und Taschentücher verschwinden aus den Schränken, um, zu bizarren Figuren verknäult, an den unmöglichsten Stellen wiederaufzutauchen. Die Polizisten, die das Grundstück seit Wochen streng überwachen, müssen eingestehen, am Ende ihres Lateins zu sein. Die entnervte Familie beschließt endlich, zusammenzurücken und nur noch die wenigen Zimmer zu bewohnen, die vom Spuktreiben gnädig verschont werden. Zu unserer Enttäuschung bricht die Story hier ab. Ein begabterer Erzähler hätte sich bei seiner Schilderung der Verheerung eines Hauses durch esprits tapageurs, Poltergeister, sicher nicht mit der bloßen Reihung paranormaler Begebenheiten begnügt, sondern die Geschichte auf einen Umschlag- oder Katastrophenpunkt hingetrieben, er hätte konkurrierende Deutungsangebote geliefert und vor allem wohl die Auswirkungen des Spuks auf die psychische

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Verfassung der Bewohner breit ausgemalt, statt sich auf formelhaft-flüchtige Andeutungen zu beschränken. Wir müssen jedoch bedenken, daß in unserem Fall der Autor gar nicht die Absicht hatte, einen fiktionalen Text zu verfassen, sondern daß es sich um Zeitungsmeldungen aus dem Jahre 1865 handelt, die sachlich Zeugnis ablegen wollen von Ereignissen, die sich in Fives bei Lille im Sommer besagten Jahres genau so zugetragen haben sollen. Camille Flammarion hat das Dokument einige Jahrzehnte später in seine dickleibige, quellenreiche und rührend beredsame Studie über die Spukhäuser aufgenommen.1 Dürfen wir nun solche Geschichten, deren Realitätstreue uns guten Glaubens und in aller Ernsthaftigkeit zugesichert wird, kurzerhand als phantastische Erzählungen lesen? Die Intentionen des Autors, sein Wissensrahmen und sein weltanschaulicher Positionsbezug entscheiden sicher nicht vorrangig darüber, ob man einen Text der phantastischen Literatur zuschlagen kann. Gegenstand der Debatte ist vielmehr, ob das Phantastische als rein textimmanente Struktur ausgebildet ist oder ob das im Text keimhaft angelegte Phantastische erst von der Möglichkeit in die Wirklichkeit überfuhrt wird, wenn es auf einen Leser mit einem bestimmten Norm- und Vorstellungsgefuge trifft. Dieser Beitrag möchte nicht mit dem tausendundersten Definitionsversuch des Phantastischen überraschen, sondern ein bescheideneres Ziel verfolgen: Zunächst sollen einige Analysen und Erklärungsmodelle von Spukerscheinungen in okkultistischen und parapsychologischen Publikationen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts beleuchtet werden, denn sie sind von maßgeblichem Einfluß auf das Wiedererwachen des Interesses am literarischen Motiv Spukhaus und liefern wichtige Aufschlüsse über die wissenschafts- und mentalitätsgeschichtlichen Umbrüche jener Jahrzehnte, die sowohl für Okkultismen aller Art als auch für die phantastische Literatur so fruchtbar waren. Die Beispielschilderungen, auf die wir bei der Lektüre solch okkultistischer Veröffentlichungen häufig stoßen, sollen in ihren typischen narrativen Verfahren gekennzeichnet und auf ihren Gehalt oder Nichtgehalt an konstitutiven Elementen des Phantastischen geprüft werden. Dann möchte ich einen Blick auf fiktionale narrative Texte ebenjener Epoche werfen, um vor allem danach zu fragen, worin die literarischen Ausformungen des Spukhausmotivs, zumindest die ästhetisch anspruchsvolleren unter ihnen, über das

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hinausgehen, was okkulte Fallbeschreibungen mit Realitätsanspruch zu leisten vermögen. Vielleicht kann man durch einen solchen Vergleich zweier einander naher Textsorten auch mehr Klarheit über die Praktikabilität mancher Definitionen des Phantastischen gewinnen. Schließlich wird sichtbar werden, wie gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein scheinbar verschlissenes Motiv wie das des Spukhauses - denn es spukte ja schon gewaltig in der gothic novel und erzählerisch meisterhaft in Kleists Bettelweib von Locarno und Hoffmanns Erzählungen, ganz zu schweigen von der klischeegesättigten Herumspukerei in der Trivialliteratur des frühen 19. Jahrhunderts - , wie ein so abgedroschenes Motiv nunmehr von namhaften Autoren guten Gewissens und auf innovative Weise in narrative Texte eingebaut wird, oft gar als zentrales Geschehnis. Welches Aussagepotential kann das Handlungselement Hausspuk in solchen Erzählungen und Romanen entfalten, welche unausgesprochenen und symbolischen Deutungen drängen sich auf? Daß Spukgedanken in die Köpfe der Menschen kamen, kann nicht der Literatur als Schuld oder Verdienst angerechnet werden. Schadenstiftende Tag- und Nachtdämonen und/oder herumwandelnde Geister verstorbener Menschen gehören zum festen Vorstellungsinventar aller Kulturkreise. Dem deutschen Volksaberglauben nach spukte es besonders schlimm auf Schlachtfeldern und Richtplätzen, an Kreuzwegen, Orten mit heidnischer Vergangenheit, in Burgruinen und Kirchen, und Friedhöfe waren (oder sind?) des nachts natürlich auch nicht der anheimelndste Aufenthalt. Es spuken sowohl menschengestaltige Wesen als auch Tiere als Seelen von Verstorbenen, die zu ihrem Leidwesen in solcher Gestalt umgehen müssen. Die idealtypische Spukgestalt früherer Jahrzehnte, das weißgewandete, kettenrasselnde Gespenst mit glühenden Augen, hat nach der Romantik für die Literatur ausgedient und ist wohl nur mehr für Parodien oder für ein ironisches Spiel mit Versatzstücken der Gruselgeschichte brauchbar.2 Spuk kann aber auch seit jeher ganz andere Formen annehmen: der Begriff faßt alle nicht auf natürliche Weise deutbaren Sinneswahrnehmungen, also auch merkwürdige akustische und optische Sensationen, die nicht mit der Materialisation anthropomorpher Wesenheiten einhergehen müssen. Spukhäuser sind Schauplätze, an denen man beide Formen übernatürlicher Phänomene beobachten kann. Hier werden die Bewohner mit Säge- und

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Klopfgeräuschen, unheimlichen Stimmen aus der Mauer, Kratzen am Bettgestell und grundlos aufspringenden Türen geängstigt, dort präsentieren sich die paranormalen Wesen in mehr oder weniger greifbarer Gestalt. Daß aber der Spuk oftmals etwas nicht Greifbares, ein arger Schabernack unsichtbarer Intelligenzen ist, zeigt sich beispielweise auch darin, daß wir im Deutschen mit einem nullvalenten Verb zu sagen pflegen "es spukt" und der Verursacher der Handlung ebensowenig benannt wird wie in "es regnet" oder "es friert". Warum gerade die Vorstellung eines Spukhauses mit besonderem Schrekken verbunden und sozusagen ein potenzierter Affront ist, liegt klar zutage: dem mitternachts auf dem Kirchhof tanzenden Klappermann kann entgehen, wer zu dieser Stunde brav in seinem Bett liegt; der Spuk im Haus überfallt uns hingegen im Ur-Eigensten, greift unser elementarstes Sicherheits- und Rückzugsbedürfiiis an. Der Einbruch des Fremden, Unerträglichen, nicht Integrierbaren in einen Rahmen, der üblicherweise Geborgenheit und Schutz vor den Unbilden der Natur und denen der Gesellschaft versprechen sollte, negiert rüde alle Anstrengungen der Zivilisation (Brittnacher: 92 - 93). Wer in den eigenen vier Wänden nicht sicher ist, ist es nirgends mehr. Aus diesem Blickwinkel mag sich auch erahnen lassen, weshalb die Spukdichte auf der britischen Insel überdurchschnittlich hoch ist und warum in den Literaturen germanischer Sprachen das Motiv des Spukhauses eine gewichtigere Rolle gespielt hat als etwa bei den Italienern oder Franzosen. Während Madame de Stael dies bekanntlich auf das rauhe, düstere und neblige Klima jener Landstriche zurückführte, möchte ich dafür plädieren, einen Zusammenhang mit althergebrachten Rechtsvorstellungen anzunehmen. Das mündlich tradierte Gewohnheitsrecht der germanischen Völker, das in seinen Grundzügen bis in die frühe Neuzeit galt, fordert die strikte Wahrung des Hausfriedens. Das römische Recht kennt ein so ausgeprägtes Hausrecht nicht, hier ist das Haus durchlässiger, offener, öffentlicher. Bei den Engländern heißt es selbstbewußt-trotzig My home is my castle, und wenn es schon ein Skandalon war, daß fremde Menschen ungerufen und in böser Absicht das Besitztum betraten, um wieviel mehr war erst eine Invasion des Anwesens durch gespenstische Wesenheiten, gegen die aller Rechtsschutz versagte, eine schaurig-faszinierende Vorstellung!

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Fragen wir nun danach, wer eigentlich im Spukhaus spukt und in welcher Absicht. Gero von Wilpert hat eine Klassifizierung der häufigsten Spukgründe im Volksaberglauben unternommen (Wilpert). Danach resultiert Spuk aus einer ungewöhnlichen Todesart (Mord, Unfall, Tod ungetaufter Kinder, gefallene Soldaten), aus Bestattungsfehlern (unaufgefundene Leichen, Liederlichkeiten bei den Begräbnisriten), aus dem Charakter des Toten (eine durch das Ableben nicht lahmgelegte Willenskraft besonders bösartiger Menschen), oft aber aus einer Schuld des Toten gegenüber der Nachwelt (bei Mördern, Selbstmördern, Wucherern etc.) oder umgekehrt einer Schuld der Nachwelt gegenüber dem Toten. Dieser Spuk währt so lange, wie ein unausgeglichenes emotionales oder materielles Schuldkonto auf der einen oder der anderen Seite besteht. Unter günstigen Umständen könnte das Gespenst also "erlöst" werden. Auch in den Gespenstergeschichten der Literatur mahnt der Spuk meist an ungesühnte Gewalttaten, die sich in der Vergangenheit im Spukhause ereigneten. Mal sind es die Täter, mal die Opfer, die ihre Ruhe nicht finden, oft liegt es buchstäblich an der "Leiche im Keller", daß es nicht mit rechten Dingen zugeht. Spuk erscheint so als Leidensdruck aus verdrängter Geschichte, Aktualisierung von in Vergessenheit geratener Gewalt. Die Schlüsselszene eines vergangenen, aber nicht abgetanen Verbrechens spult sich wieder und wieder vor den Augen des (oft zufalligen) Beobachters ab. Denn auch dies ist das Heimtückische an vielen Spukhäusern, die uns aus literarischen Texten seit der Romantik entgegentreten: Zeugen der unheimlichen Vorfalle sind oftmals Personen, die an der spukauslösenden Katastrophe ganz unbeteiligt waren: der Herbergsgast für nur eine Nacht, die in ein nobles altes Haus umgezogene harmlose Familie. Diese ganz unschuldigen Personen werden von den Geisterwesen in einer Weise behelligt und beunruhigt, die nicht selten ihren Tod, zumindest aber den irreversiblen Verlust ihrer psychischen Balance im Gefolge hat. Wie kann im schuldlosen Beobachter nach dem Spukhauserlebnis eine so tiefe Verstörung wuchern? Bei Figuren, deren Weltsicht von traditionellen christlichen Glaubens- und Verhaltensnormen geprägt ist, durch das vergebliche Durchspielen herkömmlicher Schuld-und-Sühne-Erklärungsmechanismen in der eigenen Biographie; bei Protagonisten, die bis zur Verstocktheit aufgeklärt-rationalistisch denken, durch den Einbruch einer unerklärlichen

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und unbeherrschbaren Instanz in ihr wohlgefugtes Weltmodell; generell, weil angesichts des Spuks der Blick frei wird auf die trübe Kehrseite der condition humaine, auf ein entmutigendes Geflecht aus Ohnmacht, Gewalt, Vergeblichkeit und Schmerz, das als festes anthropologisches Potential aus der Geschichte in die Gegenwart hinüberwächst. Während noch die Spukhausstories des beginnenden 19. Jahrhunderts eher aus dem Motivarsenal der Volksüberlieferung zehrten, wird für die Literatur der zweiten Jahrhunderthälfte eine jüngere Überlieferung belangreich und prägend: die Diskussion von Geistermanifestationen im Schlepptau des Spiritismus. Diese esoterische Strömung, deren kulturgeschichtliche Relevanz für die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts kaum zu überschätzen ist, nahm ihrerseits ihren Ausgang von einem amerikanischen Spukhaus, in dem die Mädchen der Familie Fox merkwürdige Klopfgeräusche vernahmen. Sie ersannen ein Klopfalphabet, um mit dem Geist, der Urheber der Ruhestörung war, kommunizieren zu können. Der Geist akzeptierte willig, und die Kinder erfuhren von einer haarsträubenden Untat, die sich vor langen Jahren in ihrem Hause ereignet hatte. Noch wunderbarer war jedoch, daß man beim Nachgraben in der vom Geist gewiesenen Kellerecke tatsächlich auf ein Skelett stieß! Die Nachricht von dieser geglückten Verständigung mit der Geisterwelt verbreitete sich wie ein Lauffeuer in Amerika; überall entstanden spiritistische Zirkel. Kurz darauf wächst sich der Spiritismus auch in vielen europäischen Ländern zum Modephänomen aus. Bis in die vornehmsten und aufgeklärtesten Kreise fand man sich zum Tischerücken zusammen, und namhafte Naturwissenschaftler sahen sich zur Auseinandersetzung mit spiritistischen Grundannahmen gezwungen. Die Schriftsteller standen nicht abseits: es ist überliefert, mit welcher Hingabe sich etwa Victor Hugo während seines Exils auf den Kanalinseln spiritistischen Seancen widmete, auf welchen ihm die Geister sogar Verse diktierten, nicht die allerbesten Verse übrigens. Noch gegen Ende des Jahrhunderts werden spiritistische Phänomene z. B. in Erzählskizzen von Villiers de l'Isle-Adam und in Wilhelm Bölsches Roman Die Mittagsgöttin als zentrales Motiv erscheinen. Wie erklärt sich der ungeheure Erfolg dieser okkultistischen Bewegung, der selbst durch die Ent-

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larvung betrügerischer Manipulationen bei einigen Medien nicht dauerhaft erschüttert werden konnte? In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollziehen sich in den entwickelteren Industriestaaten tiefgreifende Wandlungen in den Lebensbedingungen und im weltanschaulich-moralischen Orientierungsrahmen der Menschen. Es ist die Epoche rasanter Verstädterung, industriellen Aufschwungs, bisher ungekannter Mobilität. Die Forderung nach Nützlichkeit, Effektivität, Verwertbarkeit konkurriert oder verschmilzt mit älteren Wertvorstellungen. Die modernen Naturwissenschaften demonstrieren einen beinahe unverschämten Erkenntnis- und Fortschrittsoptimismus und verhelfen dem common sense zum Status des Meinungsdiktats. Wo alles erklärbar und alles Übernatürliche wegerklärt wird, entstehen leicht der Eindruck der Verödung und Banalisierung der Lebensumwelt sowie metaphysische Mangelerscheinungen. Jean Lorrain läßt den Erzähler seiner Kurzgeschichte "Lanterne magique" in eine bezeichnende Tirade ausbrechen: La science moderne a tué le Fantastique et avec le Fantastique la Poésie, monsieur, qui est aussi la Fantaisie: la dernière Fée est bel et bien enterrée et séchée, comme un brin d'herbe rare, entre deux feuillets de M. de Balzac [...] Nous n'avons plus un brin d'illusion dans la tête, mon cher monsieur. Un traité de mathématiques spéciales à la place du cœur, des besoins de goret à l'entour du ventre, des martingales et des tuyaux de courses dans l'imagination avec un mouvement d'horlogerie dans le cerveau, voilà l'homme que nous ont fait les progrès de la science!" (Lorrain: 38 39)

Der Erzähler beklagt die schreckliche Manie, alles erforschen, alles beweisen zu wollen. Schon in zehn Jahren würden alle Menschen nach demselben Modell konstruiert sein: Nützlichkeitsfanatiker, Skeptiker, Ingenieure. Sogar der Wahnsinn als letzte Bastion des Rückzugs werde jetzt analysiert, determiniert und schließlich gar durch Elektrizität geheilt!3 Lorrain konstatiert also eine fortschreitende Entzauberung und Durchrationalisierung sowohl der äußeren als auch der inneren Welt. Als Refugium oder Gegengift hätte sich ein trotziges Beharren in hergebrachten Formen der Religiosität angeboten, ein SichEinsinken-Lassen in den rechtgläubigsten Katholizismus vielleicht, wie es manche französische Künstler des Jahrhundertendes erprobten, doch hatte sich das Weltbild vieler schon so verändert, daß sie den überlieferten Heilsgewißheiten und Dogmen nicht mehr trauten und der Weg zurück in die ver-

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lorene Unschuld nicht mehr gangbar schien. Richard Hennig hat in einer spiritismuskritischen Schrift aus dem Jahre 1906 diese Entwicklungen klarsichtig beschrieben: [...] sie sind irre geworden an dem festen Glauben ihrer Kindheit durch hundert und aberhundert Ereignisse und Gedanken, sie entgleiten langsam dem Christentum - da aber kommt der Gedanke über sie, daß mit dem Fallenlassen der christlichen Gläubigkeit ja auch das ewige Leben und die ewige Seligkeit in Frage gestellt werden. [...] da das christliche Dogma nicht mehr genügt, um ihnen die erwünschte Tatsache des ewigen Lebens nach dem irdischen Tode zu verbürgen, so suchen sie lechzend nach anderen, exakten, durch naturwissenschaftliche Forschungsmethoden gewonnenen Beweisen. (Hennig: 333)

Der Spiritismus vermag eine Zeitlang die aufgerissene Leerstelle auszufüllen, weil er einerseits das Bedürfnis nach dem Transzendenten, nach Rettung des Übersinnlichen in einer rationalisierten Welt befriedigt, andererseits aber stets mit dem Anspruch auf Wissenschaftscharakter, auf Kompatibilität mit den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften auftritt. Die neuen, positivistisch-rationalen Welterklärungen hatten den dominanten Wissensund Erkenntnisrahmen der Epoche abgesteckt und die Spielregeln geliefert, nach denen der zeitgenössische Okkultismus agieren mußte, wollte er sich die Chance bewahren, von breiteren Schichten ernst genommen zu werden. Man erstaunt über die naive Unbekümmertheit, mit der viele Spiritisten an ihrer Geisterwelt herumexperimentierten. Während frühere Geisterbeschwörer gemeinhin versucht hatten, die unheimlichen Wesen in die Flucht zu schlagen, luden die Spiritisten ihre Geister freundlich dazu ein, nur recht nahe heranzukommen und möglichst durchschlagende Phänomene zu produzieren. Versuchsanordnungen, Experimente, Geisterprotokolle, Analysereihen: die Methodologie und auch der Erkenntnisoptimismus der positivistischen Naturwissenschaften wurden von den Spiritisten übernommen. Ihre Geisterwelt ist eine domestizierte. Wo noch die Spukgestalten des Volksglaubens Rachegelüste hegten oder ein Jammerbild ihrer Qualen im Jenseits malten, haben die von den spiritistischen Medien angesogenen Verstorbenen meist tröstliche Botschaften über die Umstände der Fortexistenz nach dem Tode zu übermitteln. In ihrem Jenseits geht es ähnlich zu wie in einer vernünftig organisierten Bürgerwelt. So entsteht die paradoxe Situation, daß die, welche ausgezogen waren, das Metaphysische, die Transzendenz zu retten,

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letztendlich an ihrer Entweihung und Zerstörung mitarbeiteten, so wie der Ferntourist eines modernen Industriestaates in seiner Sehnsucht nach den letzten unberührten Landstrichen eben auch noch diese letzten betritt und entzaubert. Erfolgreich war der Spiritismus schließlich auch dadurch, daß er ein bequemer Okkultismus war. Praktisch jeder konnte, ohne daß er sich mühselig magisches Wissen aneignen oder eine besondere Lebensführung annehmen mußte, in Kontakt mit der Geisterwelt der verstorbenen Vorfahren treten - wenn er schon nicht selbst über mediumistisches Talent verfugte, doch wenigstens als einfacher Teilnehmer einer Tischrückrunde. Zeitgenössische gelehrte Esoteriker wie Gustav Meyrink schauten mit zähneknirschender Verachtung auf den Spiritismus herab, diesen okkulten Billigmarkt-Artikel mit demokratischem Anstrich und naturwissenschaftlichem Gebaren. Belangreich für unsere Beobachtungen am Spukhaus sind die Auskünfte, die die spiritistische Doktrin über das physische Wesen einer Geistererscheinung gibt. Gewiß, ein nächtlicher Spuk ist nicht dasselbe wie eine Manifestation bei einer spiritistischen Séance: bei dieser werden die Geister herbeizitiert, bei jenem erscheinen sie unerwünscht; der Spukhausbewohner erleidet, der Spiritist steuert ihre Präsenz. Die Erklärungsmodelle lassen sich aber mühelos auf unser Gebiet übertragen. Elena Petrovna Blavatskaja (1831 - 1891), wohl eine der merk-würdigsten Frauengestalten des Jahrhunderts, Weltreisende, Abenteurerin, Religionsstifterin, hat, vom Spiritismus herkommend, bei der Ausarbeitung ihres enzyklopädischen theosophischen Gedankengebäudes (Isis Unveiled, 1875; The Secret Doctrine, 1888) selbstverständlich auch die Frage nach der Substanz der Geisterwesen berührt. Madame Blavatsky lehrte, daß es eine feinstoffliche Welt gebe, die von den grobstofflichen Sinnesorganen der gewöhnlichen Menschen und auch von den üblichen chemischen und physikalischen Meßgeräten nicht wahrgenommen werden könne. Eine solche feinstoffliche Materie könne man sich etwa als Strahlungen und Schwingungen ultrahoher Frequenz vorstellen. Auch der Mensch, der übrigens schon vor allen Säugetieren auf der Erde präsent gewesen sei, habe Anteil an dieser Feinstofflichkeit, bestehe er doch aus seinem gewohnten grobstofflichen Körper, einer Seele und einem feinstofflichen Astralleib. Der astrale Körper bilde sich vor dem physischen aus und sei Modell für diesen. Nach dem Tode vergehe nur der grobstoffliche Körper, wäh-

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rend Astralleib und Seele fortdauern. Was also nachts an die Betten pocht oder weißlich schimmernd sich in der Stubenecke materialisiert, sind solche Astralleiber. Damit ein Astralleib sich aber äußern kann, muß er einen gehörigen Kraftaufwand betreiben, weshalb wir ihm durch freundliches Entgegenkommen helfen sollten. Am schwersten heranzukommen ist an die Geister, die mit dem höchsten Wissen und der reinsten Moral ausgestattet sind. Gern drängen sich die niederen und boshaften Intelligenzen hervor. Hier sind nun endlich die für das nächtliche Klopfen, Raunen, Scharren und allen übrigen Polterspuk Verantwortlichen dingfest gemacht: es sind die in der Geisterhierarchie Niedrigstehenden, die durch unreife und wenig dezente Bekundungen auf sich aufmerksam machen wollen. Ein weiteres arges Problem für die spiritistische Grundlagenforschung war die Frage nach der Beschaffenheit des Raumes, in dem die Astralleiber existieren. Hier kam Hilfe von unerwarteter Seite: Friedrich Zöllner (1834 1882), streitbarer Professor für Astrophysik an der Leipziger Universität, hatte sich darangemacht, das traditionelle Raum-Verständnis zu revolutionieren. Unser anschaulicher, dreidimensionaler Raum sei der Empirik, den Thaisachen der Erfahrung, unterworfen; wir Menschen seien somit auf eine spezielle Raumanschauung eingeschränkt. Ein zweidimensionales Geschöpf, das sich nur in Länge und Breite erstreckt, könne sich nicht vorstellen, wohin ein Ding entschwunden sei, das in die dritte Dimension, die Tiefe, geklappt wurde. In unserer dreidimensionalen Welt gebe es ebenso scheinbar rätselhafte Erscheinungen, welche die alltägliche Wahrnehmung übersteigen und nur durch Annahme einer vierten Dimension widerspruchsfrei deutbar seien.4 Zöllner untermauert seine Theorie durch erkenntnistheoretische Überlegungen Kants und verweist auf gleichgelagerte Ergebnisse bei Gauß. Als Professor Zöllners Abhandlungen zur Vierten Dimension erscheinen, ist die Mehrzahl seiner Kollegen befremdet, und manche zweifeln gar an der geistigen Gesundheit des Verfassers. Was Gauß, Riemann und andere Mathematiker als Denknotwendigkeit in die moderne, nichteuklidische Geometrie eingeführt hatten, um bestimmte Aufgaben lösen zu können, dürfe nicht mit durchscheinenden Beweisen in ein anderes Wissenschaftsgebiet übertragen werden! Zöllners Annahme einer realen Existenz vierdimensionaler Objekte

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sei absurd. Der Leipziger Professor verfolgt seinen Weg unbeirrt: anläßlich umfangreicher Versuchsreihen mit dem spiritistischen Medium Henry Slade beobachtet er Phänomene, die seine Theorie zu stützen scheinen. Diverse Körper durchdringen einander mit Leichtigkeit; etwas schreibt mit Schieferstift auf die Innenseiten zusammengeklappter Tafeln; einmal materialisiert sich gar ein menschenähnlicher Körper, ehe er sich wieder in die vierte Dimension zurückzieht: (Man sah) eine halbkreisförmige, in phosphorischem Licht erglänzende Masse von der Größe eines menschlichen Kopfes. Dieselbe bewegte sich langsam in gleicher Höhe von der einen Seite des Vorhanges bis zur andern mehrmals hin und her; es machte auf uns alle den Eindruck, als ob sich dicht hinter dem Vorhange eine leuchtende Gestalt befinde, die mit dem oberen Theile des Kopfes über jenem Vorhang hervorragte. [...] Ich bedauerte lebhaft, nicht mein Taschenspektroskop zur Hand gehabt zu haben, um die Natur des ausgesandten Lichtes näher untersuchen zu können.5

Noch nicht fünfzigjährig, erliegt Zöllner, überreizt und isoliert, einem Gehirnschlag. Dem Okkultismus hat er mit seiner Theorie der Vierten Dimension ein verlockendes Stichwort geliefert. Auch Camille Flammarion (1842- 1925), einer der unbestrittenen Spukhausexperten der Jahrhundertwende, war von Haus aus Astronom, Herausgeber wissenschaftlicher Blätter, Begründer der Société astronomique de France und jahrzehntelang Chef eines Observatoriums nahe Paris. Er führt aber auch eine Art Erfassungsstelle fur paranormale Beobachtungen, bei der seit Ende des 19. Jahrhunderts Tausende von Fallbeschreibungen eingehen, darunter etliche über Spukhäuser, denen Flammarion schließlich einen eigenen Band widmet (erstmals 1923). Dieses Buch besteht zu großen Teilen aus dem wortgetreuen Abdruck von Briefen und ähnlichen Dokumenten, die die Echtheit von Spukhausphänomenen untermauern sollen. Neben vielen anderen finden sich dort auch die anfangs erwähnten Berichte über den Stein- und Kohlebrockenhagel von Fives. Flammarion fordert von der zeitgenössischen Naturwissenschaft eine lautere Haltung gegenüber paranormalen Erscheinungen. Man solle alles erforschen, alles ohne Voreingenommenheit diskutieren. Das Unbekannte von gestern sei die Wahrheit von morgen. Ihn persönlich hat die Dokumentenfulle von der Realität solcher Spukphänomene vollständig überzeugt. Psy-

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chische, unkörperliche Kräfte (hier also eine Distanznahme zu Astralleibtheorien) seien in der Lage, dynamische Akte auszuführen. Die Welt sei voll unsichtbarer Wesen, bei denen es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um verstorbene Menschen handle. Wie ist nun aber die offensichtliche Banalität und Albernheit vieler Poltergeistmanifestationen zu erklären? Ist es um die Vernunft solcher Geisterwesen so arg bestellt? Flammarion räumt ein, daß die Annahme eines allgemeinen Fortlebens nach dem Tode dazu führe, daß es Millionen von Geistern mittelmäßiger oder niederer Intelligenz geben müsse, die Klopfen, Murmeln, Steinschleudern und ähnliche Betätigungen durchaus amüsant finden. Könnte es nicht aber auch möglich sein, daß die Geisterwesen den Weg des geringsten Widerstands wählen, um sich uns bemerkbar zu machen, unsere Gleichgültigkeit gegenüber dem Jenseits zu erschüttern und uns über die jenseitige Existenz meditieren zu lassen, mit allen moralischen und sozialen Folgerungen? So würde mit merkwürdigen Mitteln ein nobles Ziel angestrebt! Richten wir nun den Blick auf die zahlreichen Fallbeispiele. Wie sind diese als nichtfiktional aufgefaßten Spukgeschichten gebaut? Warum zögern wir, sie dem Textkorpus der phantastischen Literatur zuzuschlagen? Ich möchte hier eine von Marianne Wünsch entwickelte Definition des Phantastischen zugrundelegen, weil sie, auf Grundzügen der Todorovschen Ambiguitätstheorie fußend und kritisch über sie hinausweisend, einen bemerkenswerten theoretischen Ansatz der gegenwärtigen Phantastikforschung bietet. Marianne Wünsch unterscheidet ein potentiell und ein faktisch Phantastisches. Das potentiell Phantastische kann im Verlauf des Textes zerstört und in eine andere Struktur überführt werden, zum Beispiel durch den Nachweis, daß die vermeintlich übernatürlichen Phänomene aus einer betrügerischen Vorspiegelung heraus entstanden sind, daß es sich um einen bloßen Traum des Erzählers handelt etc. Damit ein Text eine zumindest potentiell phantastische Struktur hat, sollen folgende Bedingungen erfüllt sein: - Es handelt sich um eine narrative Struktur. - Diese besteht aus einem Paar "Phänomen/Erklärungsstruktur", das heißt, mindestens eine Figur des Textes nimmt ein Ereignis wahr (in unseren Texten also das Auftauchen von Spukwesen), und für dieses Phänomen wird von einer Textinstanz (Erzähler, Figuren) eine Erklärungsstruktur

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angeboten. Die Wahrnehmung des Phänomens selbst kann schon erklärungsgesteuert sein. Die Erklärungsstruktur ist verschiedener sukzessiver Modifikationen im Laufe des Textes fähig. Zumindest in einer provisorischen Erklärung muß das Phänomen als nichtrealitätskompatibel erscheinen, also ein fundamental-ontologisches Basispostulat (Wünsch: 19) verletzen. Unter diesen Basispostulaten werden die Eckpfosten des von der Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt allgemein akzeptierten kulturellen Wissens verstanden. Der Realitätsbegriff des Durchschnittslesers einer bestimmten Epoche wird also als Historizitätsvariable in die Definition hereingeholt. Basispostulate dieser Art um 1900 wären etwa: Ein Körper kann nicht gleichzeitig hier und an einem anderen Ort sein, oder Feste Gegenstände durchdringen einander nicht, oder Alles auf der Erde unterliegt der Schwerkraft. Wenigstens vorübergehend muß der Anschein erweckt werden, als bräche etwas Nicht-Reales in die mit Realitätsanspruch konstruierte Welt des Erzähltextes ein. Eine Textinstanz muß als Klassifikator der Realitätsinkompatibilität diese explizit oder implizit konstatieren. Das narrative Genre Märchen, in dem vom Erzähler über die Figuren bis hin zum Rezipienten es alle normal finden, daß eine vom Wolf gefressene Großmutter wieder lebendig ans Tageslicht geholt wird, würde spätestens hier aus dem Kanon des Phantastischen ausscheiden. Schließlich darf es im Text keine Indikatoren für Nicht-Wörtlichkeit, für Übersetzbarkeit des merkwürdigen Phänomens (metaphorisches oder allegorisches Verständnis) geben. Dies hatte ja Todorov auch schon gefordert. Um das potentiell Phantastische ins faktisch Phantastische zu überführen, müsse die definitive Erklärungsstruktur in thematisierter Nicht-Erklärung des Phänomens oder in Erklärungsangeboten bestehen, von denen mindestens eines okkultistischer Art und nicht wissenskonform ist.

Wenn man obige Kriterien an Flammarions Buch anlegt (sofern es gestattet ist, die einzelnen Fallschilderungen unabhängig von der Intention ihrer Verfasser als fiktionale Texte zu verstehen), stellt man fest, daß ihnen weit-

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gehend Genüge getan wird. Kompliziert wird es durch den Rahmen, durch Flammarions interpretative Bemühungen, durch das Gesetz der Reihe. Jeder Binnentext für sich könnte bei aller Schlichtheit und Einsträngigkeit des Erzählens6, aller Sach- und Geschehniszentriertheit, bei allem Verzicht auf die Schaffung von "Atmosphäre" und psychologischer Analyse durchaus als phantastisch durchgehen. Innerhalb dieser Einzelfalle wird der Einbruch des Unerklärlichen in die vertraute Lebensumwelt durchaus oft als Schock empfunden, und Deutungsversuche werden kaum unternommen bzw. allzu rationale Erklärungsangebote sogleich von neuen Spukmanifestationen ad absurdum gefuhrt, wodurch das Rätsel ungeschmälert das Ende der Geschichte überdauert. Die Reihung und Einbettung dieser Beispiele in Flammarions populär-grenzwissenschaftlichen Diskurs zersetzt jedoch das Phantastische. Jede Geschichte erscheint nunmehr als Exemplum, das zur Stützung einer Hypothese angeführt wird, welche die Ursache-Wirkungs-Relationen unserer Alltagserfahrung durch als ebenso natürlich und beinahe gesetzmäßig empfundene Ursache-Wirkungs-Relationen im Verhältnis zwischen der alltäglichen und der gemeiner Sinneswahrnehmung entrückten Sphäre erweitert, also letztendlich den Bereich des Realitätskompatiblen so weit ins Jenseitige dehnt, daß alles nur scheinbar unerklärlich und nur vorläufig nicht-wissenskonform ist. Das dominierende Erklärungsangebot versteht sich als rational und will das Wunderbare auflösen; der Kommentator hat dem Leser schon vor dem Beginn der Lektüre des Exemplums zu verstehen gegeben, daß er ein schlechter Leser wäre, würde er sich der Unschlüssigkeit hingeben, statt auf der ausgebauten Erklärungsbahn voranzuschreiten. Schauen wir nun aber in einige literarische Spukhäuser jener Epoche hinein. Als im Jahre 1862 Theodor Storms Erzähltext "Am Kamin" erscheint, findet man im Zeitschriftenerstdruck nur die Initialen des Autors; auch in die erste Gesamtausgabe wird die Erzählung nicht aufgenommen. Ein schlechtes Gewissen des Verfassers angesichts eines scheinbar so "unrealistischen" Textes ist wohl kaum anzunehmen, haben das Paranormale und Unerklärliche in Storms erzählerischem Universum doch ihren festen Platz. Selbst in prononciert "realistischen" Novellen finden sich als Spurenelemente dunkle Ahnungen und Gesichte. Als zentrales Ereignis eines ganzen Textes hat

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Storm den Spuk freilich selten verwendet. Es spukt in "Bulemanns Haus", diesem prekären Grenzfall zwischen Märchen und phantastischer Erzählung, wo das alte Schuld/Fluch/Bestrafungs-Schema durchschimmert, und es spukt eben auch ganz klassisch in der dritten Binnengeschichte von "Am Kamin". Anfang des 19. Jahrhunderts, in einer gemächlichen schlesischen Kleinstadt: ein Tuchmachergeselle verdingt sich bei einem Meister und bekommt eine abseitige Kammer zugewiesen. Leute, Arbeit und Zimmer sind ganz erträglich - bis zur ersten Vollmondnacht, wo ein merkwürdig scharfes Fegegeräusch im Zimmer zu vernehmen ist. Beim zweiten Vollmond glaubt der Geselle einen umherschleichenden Schatten zu erkennen. Als er, einen Monat später, schließlich bei hellem Mondschein von einer Dienstreise zurückkehrt und zu seinem Kammerfenster hochblickt, nimmt er etwas ganz und gar Beunruhigendes wahr: "Da saß oben ein Ding, ungestaltig und molkig, und guckte durch die Scheiben in den Garten hinab" (Storm: 377). Es ist dies der altertümliche und rührende Nachtgeist einer vorindustriellen Ära. Innerhalb der Binnengeschichte bleibt sein Realitätsstatus unangefochten, da auch der Meister indirekt zugibt, daß es in der Kammer nicht mit rechten Dingen zugehe, wenngleich er Ausmaß und eventuelle Gefährlichkeit der Erscheinungen herunterspielt. Ein wissenskonformes Erklärungsangebot wird nicht geliefert, ein okkultistisches genausowenig. Die nackte Tatsache des Zimmerspuks bleibt bestehen, ohne interpretatorisch umspielt zu werden. "Am andern Morgen aber" - so endet die Binnengeschichte - "nahm er seinen Abschied und verließ die Stadt, ohne jemals erfahren zu haben, womit er so lange in einer Kammer gehaust habe" (Storm: 377). Die Geschichte ist rasch, schmucklos, geradlinig erzählt, mit ähnlicher Struktur wie viele der Flammarion-Beispieltexte; eine psychologisierende Analyse der Wahrnehmungen und Empfindungen des vom Spuk Betroffenen wird ebensowenig vorgenommen. Und auch dieser Text ist in einen Erzählrahmen eingegliedert und neben andere im weitesten Sinn motiwerwandte Texte gestellt, freilich mit völlig anderer Intention. Im Rahmen treffen wir auf eine Diskussion über narrative Erfordernisse, ideologiegeschichtlichen Kontext und Existenzberechtigung des Genres Gespenstergeschichte: eine abendliche gutbürgerliche Konversationsrunde, mit allen Attributen der Behaglichkeit ausgemalt Chaiselongue, Punsch, Kienäpfelfeuer im Kamin - ; ein solches Maß an Bie-

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dermeieridylle läßt einen Anflug von Ironie durchscheinen und bildet einen heftigen Kontrast zu den unheimlichen und düsteren Binnenstories. Das Erzählen von Geistergeschichten wirkt hier geselligkeitsstiftend, verhilft zu angenehmem Schauder und kompensiert für einen Moment die Ereignislosigkeit und Behäbigkeit des Alltags. Die Meinungen der Anwesenden sind geteilt: Gehören solche Texte nicht gänzlich zum Rüstzeug der Reaktion7? Und eine richtige Spukerzählung dürfe sich doch nicht in einen Traum auflösen! Die Sprecher des Rahmens werten die Binnentexte nach ihrer Glaubhaftigkeit, aber auch nach ihrer Übereinstimmung mit dem von Storm ironisierten Erwartungshorizont der Rezipienten. Die Direktheit und Schmucklosigkeit, vor allem aber die fehlenden Erklärungsangebote, mit der der Erzähler seine gespenstischen Geschichten vorträgt, unterlaufen und enttäuschen die Erwartungen an das Genre. Gegen Ende des Textes wagt ein Sprecher Ansätze zu einer modernen Ästhetik des Horrors, die sich von dem munteren Geplauder der anderen deutlich abheben: Wenn wir uns recht besinnen, so lebt doch die Menschenkreatur, jede für sich, in fürchterlicher Einsamkeit; ein verlorener Punkt in dem unermessenen und unverstandenen Raum. Wir vergessen es; aber mitunter dem Unbegreiflichen und Ungeheuren gegenüber befallt uns plötzlich das Gefühl davon. (Storm: 395)

Diese Weitung des Blicks auf existentielle Grundfragen bleibt aber nicht die unangefochtene Essenz des Gesprächs, sondern wird durch die folgenden Figurenreden wiederum relativiert und sogar negiert. Während Storms ungestaltes und molkiges Wesen noch dem Vorstellungsinventar des volkstümlichen Aberglaubens entstammt, ist Edward BulwerLyttons Erzählung "The Haunted and the Haunters", die erstmals 1859 erschien, ein früher Beleg für eine Gespenstergeschichte neuen Typus, die sich aktuellen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und okkultistischen Spekulationen weit öffnet. Sein Spukhaus ist auch nicht mehr in einem verschlafenen Provinznest angesiedelt, sondern mitten in die moderne Großstadt, in die belebte Londoner Oxford Street, versetzt. Dieses Haus ist für seinen Eigentümer ein arges finanzielles Ärgernis, ziehen doch alle potentiellen Mieter schon nach ein oder zwei Nächten wieder aus! Die Wertlosigkeit des Gebäudes auf dem Wohnungsmarkt beunruhigt den Vermieter stärker als die

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Gerüchte über paranormale Erscheinungen, die sich darin zugetragen haben sollen. Der Ich-Erzähler holt sich die Erlaubnis, eine Nacht in diesem Gemäuer zubringen zu dürfen, und zwar gemeinsam mit seinem furchtlosen Diener und seinem noch furchtloseren Bullterrier. Noch hat die Nacht nicht begonnen, doch schon vernimmt man seltsames Geflüster, Getrippel, ein Stuhl rutscht quer durchs Zimmer, auf den feuchten Steinplatten des Hinterhofs bilden sich die Abdrücke nackter Füße... Am nächsten Morgen wird manches anders aussehen: der Bullterrier wird mit von Geisterhand gebrochenem Genick daliegen, der Diener, verstört, ein nervliches Wrack, wird nach Australien auswandern. Bulwer-Lytton hat nach dem Prinzip "Viel hilft viel" ein wahres Feuerwerk von Spukerscheinungen abgebrannt, vom großen bleichen Licht über magische Schlangenaugen bis hin zur unappetitlichen Erscheinung eines vor längerer Zeit Ertrunkenen. Durch diese extreme Ballung reduziert sich, zumindest für den heutigen Leser, der Effekt dieses literarischen Spukhauses doch eher auf äußerlichen Schrecken. Im Text selbst gibt es keine Instanz und kein Indiz, die den Realitätscharakter all dieser haarsträubenden Geschehnisse in Zweifel ziehen. Der Erzähler selbst demonstriert, wie man sich mit Kaltblütigkeit, Willensstärke und Vertrauen auf die neuesten Erkenntnisse der Natur- und der Geheimwissenschaften gegen den übelsten Spukterror behaupten kann: Now, my theory is that the Supernatural is the Impossible, and that what is called supernatural is only a something in the laws of nature of which we have been hitherto ignorant. Therefore, if a ghost rise before me, I have not the right to say, "So, then, the supernatural is possible," but rather, "So, then, the apparition of a ghost, is, contrary to received opinion, within the laws of nature [...]." [...] it may be through a material fluid - call it Electric, call it Odic, call it what you will which has the power of traversing space and passing obstacles, that the material effect is communicated from one to the other. Hence all that I had hitherto witnessed, or expected to witness, in this strange house, I believed to be occasioned through some agency or medium as mortal as myself; and this idea necessarily prevented the awe with which those who regard as supernatural things that are not within the ordinary operations of nature might have been impressed by the adventures of that memorable night. (Bulwer-Lytton: 3 1 - 3 1 2 )

Elektrisch vermittelte Einflüsse, Wirkungen bestimmter chemischer Zusammensetzungen werden vermutet. Am Ende rückt man den Ursachen des Spukgeschehens zu Leibe: in einer geheimen Kammer mit Safe finden sich

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Eisenstäbe, Magnete und eine schwimmende Kompaßnadel. Dazu gibt es noch ein Notizbuch mit der Inschrift: "On all that I can reach within these walls - sentient or inanimate, living or dead - as moves the needle, so work my will! Accursed be the house, and restless be the dwellers therein" (Bulwer-Lytton: 327). Schließlich werden auch die mit Verbrechen gesättigten Biographien früherer Hausbewohner lückenlos rekonstruiert. Nach Zerstörung der geheimen Installation wird das verrufene Haus zum gemütlichsten Domizil von ganz London. Es fällt auf, daß Bulwers Gespenster hoffnungslos überdeterminiert sind. Die Ableitung des Spukgeschehens aus physikalisch-chemischen Anordnungen und der telepathischen Kraft eines fremden bösen Hirns - die der zeitgenössischen grenzwissenschaftlichen Diskussion also konforme - wird durch Erklärungen ergänzt, die sich an archaischeren Modellen orientieren: dieser Spuk betrifft auch Übeltäter, die sich zu Lebzeiten der irdischen Rechtsprechung zu entziehen vermochten, die Fluchformel ist in altem Mönchslatein abgefaßt etc. Mit alledem wird eine so restlose nachträgliche Erhellung des unheimlichen Geschehens geliefert, daß keine Grauzonen, keine bangmachenden Leerstellen verblieben. Der Leser kann, nachdem ihm die Lektüre einen kräftigen Schauder bereitet hat, mit der ruhigen Gewißheit aus der Geschichte gehen, daß seine moderne Bürgerwelt mit solcherlei Schrecken fertig wird. Die phantastische Literatur der Jahrhundertwende wird es sich zum Ziel setzen, solche Gewißheiten zu untergraben. Frankreich ist, wenn wir Heinrich Heine Glauben schenken dürfen, ein magerer Mutterboden für ernsthafte Gespenster. Die französische Erzählliteratur der Romantik, aber auch die der Jahrhundertwende, soweit sie sich nicht strikten Paradigmen realistischen und naturalistischen Erzählens fügt, belehrt uns freilich eines Besseren. Maupassants Horla, ein unsichtbares Wesen, das vielleicht das erste in Europa eingefallene Geschöpf einer neuen Rasse ist, die einst die Menschheit ablösen wird, ist ihr wohl berühmtester Spuk. Eine weniger bekannte Novelle Maupassants, deren Erstdruck ins Jahr 1890 fallt, kurz vor der Periode also, als in der Wahrnehmung des Autors selbst die Grenzen zwischen Realem und Phantastischem, Authentizität und Fiktion hoffnungslos verschwimmen sollten, heißt Qui sait? und läßt so das Prinzip

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der Unschlüssigkeit bereits im Titel aufscheinen. Diese Unschlüssigkeit wird über den ganzen Text virtuos durchgehalten: einerseits ist der Erzähler Insasse einer Nervenheilanstalt, was der Glaubwürdigkeit seines Berichts nicht eben zuträglich ist, andererseits betont er, ganz freiwillig und nur aus Furcht dorthin gegangen zu sein. (Aber halten sich nicht die meisten Irren für völlig normal?) Einerseits sind die Spukerlebnisse, von denen berichtet wird, alles andere als kompatibel mit unserem Wissensrahmen, andererseits werden sie von mehreren Figuren im Text indirekt beglaubigt, aber von der Beglaubigung erfahren wir wiederum nur durch unseren zweifelhaften Erzähler... Etwas Schreckliches ist ihm geschehen: nachdem er sich schon lange den Mitmenschen total entfremdet und aus jedem gesellschaftlichen Verkehr zurückgezogen hat, lebt er nun mit erlesenen Einrichtungsgegenständen, die ihm die sozialen Kontakte vollauf ersetzen und die er fetischisiert, in einer geräumigen Wohnung. Eines Nachts muß er erleben, wie alle diese unbelebten Objekte, vom Kleiderschrank bis zum Federhalter, ein Eigenleben gewinnen, zucken und tanzen, um schließlich in einer grotesken Polonaise das Haus zu verlassen. Nachdem die Menschen ihm fremd und unheimlich geworden sind, richten sich nun also auch die Dinge gegen den Erzähler. Die sicher geglaubten Objekte, die verbrieften bürgerlichen Besitztümer, werden unkontrollierbar und kündigen ihre Dienstbarkeit auf. Fürwahr eine schreckliche Vision. Die Verstörung des Erzählers schlägt sich bis in die syntaktischen Strukturen nieder. Von Maupassants Zeitgenossen Jean Lorrain, einer Zentral- und Skandalgestalt der französischen Dekadenzbewegung, ist schon die Rede gewesen. Aus seiner Feder stammen mehrere kaum miteinander vergleichbare Spukhauserzählungen. "Histoire de la bonne Gudule" zum Beispiel ist die mit untergründiger Ironie vorgetragene Geschichte einer ergebenen und hyperkorrekten Dienstmagd, die ihre Knechtschaft derart verinnerlicht hat, daß sie selbst nach ihrem Tode die alte Wirkungsstätte putzend und schrubbend heimsuchen muß. "La nuit trouble" beschreibt die martervolle Nacht eines Ich-Erzählers, der bei Freunden zu Besuch ist und in dessen Zimmer riesige, groteske und ekelerregende Spukvögel eindringen, die vielleicht die rachsüchtigen Seelen dreier Käuzchen sind, welche durch Unachtsamkeit der Bewohner im Kaminschlot erstickten... Weniger Äußerlichkeit im Schrek-

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ken, sondern tieferreichendes Befremden bietet "Le mauvais gîte". Serge, ein Freund des Erzählers, hat in Paris drei helle und angenehme Zimmer in einem Haus gemietet, das freilich nicht viel hermacht: der Erzähler qualifiziert es kurzerhand als "une affreuse maison" (Lorrain: 166). Das Attribut affreux taucht wiederholt auf, aber stets als ästhetisches Werturteil über die düsteren Treppenflure oder die ochsenblutrot gestrichenen Fensterrahmen. Nach einer Weile berichten Bekannte, daß Serge unter Halluzinationen leide; nachts höre man ihn in seiner Wohnung laut aufheulen; er dulde niemanden um sich: "Dieu sait ce qui doit s'y passer, s'il est vrai que les mauvaises actions créent des larves qui corrompent l'atmosphère!" (Lorrain: 165). Über das Treiben der Vormieter gehen nämlich gewisse Gerüchte um ... Daß etwas von unserem Wesen an den Objekten, mit denen wir täglich umgehen, in den Räumen, die wir bewohnen, auch nach unserem Tod verbleibe, ist altes okkultistisches Gedankengut und spielt etwa in Villiers de l'Isle-Adams Novelle Véra, freilich nicht ins Schauerliche gewendet, eine bedeutende Rolle; auch in Camille Flammarions Spukhaus-Enzyklopädie heißt es: Ne pourrions-nous, sans trop de hardiesse, supposer que les vivants laissent après eux certains reliquats de force, de fluide vital, imprégnés dans l'appartement, lesquels, aui contact de la présence effective d'une sensitive peuvent subir une revification susceptible de produire ces étranges phénomènes? [...] Les murs, les meubles peuvent conserver l'empreinte des événements auxquels ils ont été associés. (Flammarion: 1 8 3 - 184, 186)

Der Erzähler, selbstsicher, aufgeklärt, ein wenig oberflächlich, besucht seinen aus der Balance geratenen Freund und willigt ein, eine Nacht bei ihm zu verbringen. Schritte sind zu vernehmen, die aus der Wand zu kommen scheinen; der Erzähler beglaubigt das Phänomen und macht verschiedene rationale Erklärungsangebote, die aber durch neue Details nacheinander entkräftet werden. Die Spuknacht selber erleben wir nur aus der Perspektive des Erzählers, der die meiste Zeit schläft und in bestimmten Intervallen erwacht, wo ihm aus dem Anblick des in höllische Angst geratenen Freundes nur eben eine undeutliche Ahnung von dem, was sich abspielt, aufsteigen kann. Die originellste Wendung der Geschichte: als Serge endlich sein "grauenhaftes" Haus mit einem Hotelzimmer vertauscht, findet er, hypersensibilisiert, auch dort keine Ruhe. Unter den Betten, in den Schränken, überall glaubt er Lei-

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chen zu sehen. Zum Spuk wächst sich hier alles von der Bürgergesellschaft ängstlich Verdrängte, unter den Teppich Gekehrte, aus. In anderen LorrainTexten ist das Spuk-Motiv endgültig zur Metapher geronnen, die das Unwesen der Lebenden bezeichnet: "[...] nous marchons en pleine vie moderne au milieu des damnés, spectres à la tête humaine et autres épouvantements [...]" (Lorrain: 41), und in der Erzählskizze "Le possédé" bekennt die Hauptfigur: "[...] le mystérieux de mon cas, c'est que j'ai la terreur non plus de l'invisible, mais de la réalité. [...] Ce sont les êtres en chair et en os rencontrés dans la rue, c'est le passant, c'est la passante, les anonymes même de la foule coudoyés qui m'apparaissent dans des attitudes de spectres [...]" (Lorrain: 1 9 0 - 191). Hier entsteht kein eigentlich phantastischer Text mehr, sondern das Zerrbild einer heillosen, total entfremdeten Welt, wo man sich beim Erwachen aus dem nächtlichen Alptraum im alltäglichen wiederfindet. Wo es um Erzähltexte der Jahrhundertwende geht, die mit dem Phantastischen auf eigentümliche und innovative Weise experimentieren, darf der Hinweis auf die vielleicht berühmteste Spukgeschichte der neueren Weltliteratur, Henry James' Erzählung "The Turn of the Screw", nicht fehlen, einen von Heerscharen von Interpretatoren heimgesuchten Text. Es ist, bei erstem Hinsehen, die in der Ich-Form mitgeteilte Geschichte der zwanzigjährigen Tochter eines viktorianischen Provinzpfarrers, die mit der Erziehung zweier Waisenkinder aus vornehmem Hause betraut wird. Da die Kinder schrecklich artig, nett und intelligent sind, hat die Übermotivation, mit der die Erzieherin angetreten ist, keine Gelegenheit, sich an echten Schwierigkeiten zu entladen und surrt im Leerlauf. Dann aber, in unregelmäßigen Abständen und insgesamt nur wenige Male, erscheinen ihr die Spukgestalten zweier vorzeitig verstorbener Hausangestellten, über deren früheren Lebenswandel es unvorteilhafte Gerüchte gibt. Es sind im Grunde ziemlich karge und langweilige Geister, die einfach nur kurz im Treppenhaus oder auf dem Turm des Landhauses auftauchen, ohne etwas zu sagen oder zu tun; verglichen mit dem barocküppigen Spuk bei Bulwer-Lytton kann man wohl kaum einen vorsichtigeren und dürftigeren Gebrauch vom traditionellen Motivinventar machen, als James es tut. Diese Kargheit und Aussparung der überkommenen Schauerrequisiten ist jedoch ein Kunstgriff, der die Optik des Rezipienten auf andere Ebenen scharfstellt. Die Ich-Erzählerin selbst zweifelt die Korrektheit ihrer

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Wahrnehmung der Erscheinungen nie an, während sie sonst jede halbe Geste, jedes ausgesprochene Wort übervorsichtig und mißtrauisch interpretierend hin- und herwendet. Endlich ist ihr eine gewaltige Mission zuteil geworden, in die sie sich voll Hingabe stürzen kann: es gilt, die Kinder vor den Machenschaften der Geister zu beschirmen! Bald jedoch stellt es sich für sie heraus, daß die so unschuldig anmutenden Kleinen hinter dem Rücken ihrer Erzieherin Kontakte zu den Toten aufnehmen... Der Text endet damit, daß der Junge, während die Erzieherin eine Art Exorzismus vornimmt, im Zustand höchster emotionaler Anspannung einen Herzanfall erleidet und stirbt. Dieser Versuch, den Plot der Erzählung zu skizzieren, ist fragwürdig, weil er bereits eine Interpretation und Stellungnahme beinhaltet. Das Unbehagliche an diesem Text ist jedoch, daß sich in ihm Vermutungen, Andeutungen und widerstreitende Erklärungsmöglichkeiten häufen. Er verdankt sein Schauer- und Verstörungspotential vor allem der Tatsache, daß er, wie bereits Todorov bemerkt hat, zu den wenigen phantastischen Erzählungen gehört, die bis über den letzten Satz hinaus in kompletter Ambiguität verbleiben. Die Balance zwischen der Wahrscheinlichkeit einer rationalen und der einer irrationalen Deutung wird nicht aufgehoben. Schlimmer noch: während gemeinhin die rationale Auflösung etwas Beruhigendes, den Leser der Wohlgefügtheit seiner Lebenswelt Versicherndes in sich trägt, zögert man hier, die Spukerscheinungen aus tiefenpsychologischen Verwerfungen der Erzählerin abzuleiten, weil die Story in diesem Falle ein fast noch haarsträubenderes Aussehen gewänne: die Erzieherin bedroht und zerstört durch ihre abenteuerlichen Hirngespinste Gesundheit und Leben des ihr anvertrauten Kindes! Der Text ist ganz aus der Figurenperspektive der Erzählerin konstruiert, die die düsteren Ereignisse Jahre später schriftlich fixiert hat. Als Dokument der Selbstrechtfertigung darf er den paranormalen Charakter der Wahrnehmungen natürlich nie explizit in Frage stellen. Doch selbst der Erzählrahmen vermeidet es, die Glaubwürdigkeit der Erzählerin anzuzweifeln, und eine Figur charakterisiert sie ausdrücklich als kluge und bezaubernde Person. Welche Indikatoren in ihrem Bericht gestatten es nun überhaupt, die konkurrierende, rationale, Lesart aufzubauen? Zunächst ist der Kontrast zwischen der kühlen, vernunftbetonten Zurückhaltung der Erzieherin und ihren gelegentlichen übertriebenen Gefuhlsaus-

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brächen, ihrer überreizten Überschwenglichkeit, auffällig; sie ist von Versagensängsten gequält und mit ihren Schreckens- und Wunschphantasien alleingelassen. In ihrem Unbewußten haben sich Dinge angesammelt, die sie sich nicht einzugestehen wagt: so ist sie in den attraktiven Vormund der Kinder offensichtlich verliebt. Sind die Gespenster in all ihrer "Verrufenheit" vielleicht nur psychologische Abbilder des Tabuisierten und Verdrängten? Wenn die Erzählerin Indizien für einen Komplott der Kinder mit den Geistern anbringt, sind stets auch andere Interpretationen denkbar. Und nach welchem Prinzip laufen eigentlich die Dialoge ab, in denen sie von Mrs. Grose, der nüchternen Haushälterin, Bestätigung für ihre übernatürlichen Wahrnehmungen erheischt? Suggeriert sie dem Dialogpartner nicht unmerklich ihr eigenes Erklärungsangebot, bis dieser die erste passende Bemerkung fallenläßt, die wiederum als Baustein zur Komplettierung der Spuk-Lesart verwendet wird?8 So ein Kommunikationsverfahren entsteht zwangsläufig auch aus den Rücksichten, zu denen Prüderie und Moralkonvention den Sprecher der viktorianischen Epoche verpflichten. Wo vieles nur umschrieben und angedeutet werden kann, blühen Interpretationen aller Art. Das Füllmaterial für die zahlreichen semantischen Lücken fließt der Erzählerin unserer Geschichte aus dem in ihrem Unterbewußten Aufgestauten zu. Mit "The Turn of the Screw" hat sich die literarische Formung des Spukhausmotivs endgültig von den Darstellungsmustern des Populäraberglaubens und von denen des zeitgenössischen Okkultismus, etwa in Flammarions Spukkompendium, emanzipiert. Henry James' Text ist nicht mehr um das paranormale Ereignis zentriert, sondern auf die Erhellung der psychischen Konsequenzen beziehungsweise der psychologischen Voraussetzungen einer solchen Wahrnehmung ausgerichtet. Während Flammarion die Erforschung der Wahrnehmungsweise der Binnen-Erzähler wenig kümmert - er bürgt lediglich für ihre Ernsthaftigkeit und Ehrbarkeit, um auf ihre Zeugenschaft kein Zwielicht fallen zu lassen - , kreist James' Hauptinteresse um die facettenreich gebrochene Empfindungs- und Denkstruktur seiner "Zeugin". Und während die Erzähler in Flammarions Binnengeschichten meist nur die Funktion der Konstatierung und Beglaubigung des rätselhaften Phänomens haben, die übers ganze Buch hinweg kaum modifizierte Erklärungsstruktur jedoch vom Okkultismus-Experten nachgereicht wird, macht James' Erzäh-

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lerin zwar ein direktes Deutungsangebot, das jedoch von indirekten Textindizien unterlaufen wird. Es bauen sich so mehrere konkurrierende Erklärungsmuster auf, und der Gang der Lektüre besteht im Abwägen von Wahrscheinlichkeiten, in der Fahndung nach dissonanten Zwischentönen und in der Erkundung fortwährend schwankenden Terrains. Indem der Autor keine Erklärung als dominant setzt, wird der Leser in Ungewißheit belassen, während sich bei Flammarion ein Deutungszwang, eine fortdauernde Überredung zur Annahme des okkultistischen Deutungsmusters finden. So eröffnet sich der phantastischen Literatur gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Weg der Interiorisierung und subtilen Psychologisierung des Spukgeschehens. Diese Entwicklung, die mit der gleichzeitigen Etablierung neuer Wissenschaftsdisziplinen wie Tiefen- und Wahmehmungspsychologie korrespondiert, bedeutet freilich nicht das automatische Erlöschen traditioneller Motivausformungen; diese bleiben nicht nur in der Trivialliteratur auch nach 1900 produktiv.9 Insgesamt jedoch konstatiert man eine Verschiebung von eher um den Skandal des Spuk-Ereignisses konstruierten Texten hin zu solchen, in denen der Spuk zum Anlaß genommen wird, die psychischen Abgründe der betroffenen Figuren auszuloten oder auf die existentiellen Verunsicherungen des Individuums der Moderne zu verweisen.

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ANMERKUNGEN 1. Flammarion: 8 0 - 83. Die Berichte über das nicht geheure Haus von Fives finden sich in: L'Indépendant, Douai, 6./8. Juli 1865. 2. Prominentestes Beispiel ist Oscar Wildes "The Canterville Ghost" ( 1887). 3. Hier sei angemerkt, daß die Physiologie, fast über das ganze 19. Jahrhundert der dominante Zweig medizinischer Forschung, auch Spukvisionen unter die Lupe nahm: Deformationen des Gesichtssinnes oder auch Ernährungsstörungen und Turbulenzen des Verdauungsapparates wurden zu den Ursachen solcher Erscheinungen gerechnet. 4. Ausfuhrlich stellt Zöllner seine Raumhypothesen dar in Zöllner 1878: 220 - 224. 5. Zöllner 1879: 2 7 5 - 276. Eine gesonderte Studie zur Spezifik des wissenschaftlichen (?) Diskurses in Zöllners späten Schriften wäre wünschenswert: ständig werden darin spezielle physikalische Probleme zu transzendenten Spekulationen ausgeweitet; giftige Polemik gegen die wissenschaftlichen Gegner und ihren vermeintlichen positivistischen Gesinnungsterror wird oftmals in satirisch-allegorischer Form ausgetragen; dazwischen finden sich treudeutsche Credos und Ausfalle gegen die "Verjudung" des deutschen Wissenschafts- und Kulturlebens... 6. Daß novellistische Strukturen dem Phantastischen offenbar mehr entgegenkommen als Romane, wird in verschiedenen Untersuchungen konstatiert: wie weit kann aber die Reduzierung des Erzählvolumens gehen? Gibt es, könnte man angesichts der parapsychologischen Fallbeispiele fragen, etwas wie "phantastische Anekdoten"? 7. Storm: 370. Ein Verdacht übrigens, der noch vor fünfundzwanzig Jahren in Teilen der deutschen Phantastikforschung herumspukte. 8. Zu dieser Strategie vgl. besonders die Dialoge zwischen der Erzieherin und Mrs. Grose in den Kapiteln 5 und 7. 9. So finden sich unter den ghost stories von Montague Rhodes James mehrere technisch virtuose, vom Motivverständnis aber konventionelle

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Ralf Pannowitsch und ereigniszentrierte Spukhausgeschichten (Number 13, Rats etc.), an denen man exemplarisch vorfuhren könnte, wie ein "realistisch" konstruiertes und alltäglich anmutendes Erzähluniversum unmerklich von Ereignissen unterwandert wird, die logisch-rational innerhalb unseres Wissensrahmens nicht erklärbar sind. Auf ihre Weise laden aber auch diese "konservativen" Spukhausgeschichten dazu ein, und sei es nur als Gedankenspiel und solange die Lektüre währt, die Fragilität unseres Orientierungsgeflechts und das Bedrohtsein einer vermeintlich rückversicherten Existenz wahrzunehmen.

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Claudia Gatzemeier PHANTASTIK IM ERZÄHLERISCHEN SCHAFFEN VON JULIO CORTÁZAR Die Entwicklung der argentinischen Prosa im 20. Jahrhundert wurde von drei Autoren entscheidend geprägt: Borges, Sábato und Cortázar. Wir möchten uns im folgenden einigen Betrachtungen zur Phantastik im erzählerischen Schaffen Julio Cortázars widmen, dessen frühe Erzählungen zweifelsohne unter Borges'schem Einfluß stehen, wenngleich - wie festzustellen sein wird - strukturell grundlegende Unterschiede zwischen den Texten beider Autoren bestehen. Anfang der sechziger Jahre sagte der Autor in einem Vortrag: "Fast alle Erzählungen, die ich geschrieben habe, gehören zum sogenannten phantastischen Genre [...]", wobei er sofort einschränkend zu bedenken gab: "mangels einer besseren Bezeichnung"1. Hier wird das Dilemma deutlich, in das man bei der Untersuchung der sogenannten phantastischen Literatur zwangsläufig gerät: Man wird mit sich deutlich unterscheidenden Bedeutungen konfrontiert, die diesem Begriff beigemessen werden, die gewiß aus der Schwierigkeit erwachsen, das Phantastische eindeutig und allgemeingültig zu definieren. Wichtige Schritte auf dem Weg zu einer Definition des Begriffs sind unter anderem durch die Arbeiten von Roger Caillois (Caillois 1959; 1966) und insbesondere durch Tzvetan Todorovs Introduction à la littérature fantastique (Paris, 1970) zu verzeichnen. Todorov definiert hier das Phantastische als das Zögern, das Zaudern, das von einem Wesen durch- und erlebt wird, das ausschließlich Naturgesetze kennt und anerkennt, sich jedoch plötzlich mit einem offenbar übernatürlichem Ereignis konfrontiert sieht. Das Phantastische wird folglich als ein Moment der Ungewißheit betrachtet, in welchem sich ein unerwartetes Ereignis den die Realität beherrschenden und regelnden Gesetzen zu widersetzen scheint. Das Phantastische bezeichnet die Phase, in der noch nicht zu entscheiden ist, ob es sich bei dem betreffenden Ereignis um eine Sinnestäuschung, also ein Produkt unserer Einbildungskraft, handelt und die Naturgesetze in unveränderter Weise fortbestehen, oder aber um einen Bestandteil der Realität, der uns noch unbekannten Gesetzen unterliegt. Todorovs Definition erweist sich als tragfahig für die Analyse traditioneller phantastischer Literatur, sie stößt jedoch bei der Betrachtung von be-

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stimmten Erscheinungsformen phantastischer Literatur im 20. Jahrhundert an ihre Grenzen - wie er selbst im Zusammenhang mit seiner Beschäftigung mit Kafkas Die Verwandlung feststellt. Todorov erkennt bei Kafka die Eröffnung eines neuen, durch eine Generalisierung des Phantastischen gekennzeichneten Paradigmas. Zur Illustration seiner Vorstellung einer Generalisierung des Phantastischen fuhrt er ein Zitat Sartres an, für den Autoren wie Kafka das Phantastische in eine Sprache verwandeln, die nicht mehr von außergewöhnlichen Wesen abhängig und deren einziges phantastisches Objekt der Mensch selbst ist. Die hier zutagetretenden Unterschiede zwischen traditioneller phantastischer Literatur und modernen Erscheinungsformen lösen u. a. auch die Zweifel aus, die Cortázar bei der Einordnung seiner Erzählungen beschleichen. Er verweist zwar einerseits auf deren in der traditionellen phantastischen Literatur zu findende Wurzeln, betont jedoch andererseits deren Andersartigkeit im Hinblick auf die Wahrnehmung der Welt sowie im Hinblick auf die ihnen zugrundeliegende Poetik. So schreibt er: Unbestreitbar sind die Spuren von Autoren wie Poe auf den tiefsten Ebenen vieler meiner Erzählungen, und ich glaube, daß mir ohne Ligeia oder ohne Der Untergang des Hauses Usher das Phantastische nicht so leicht zugänglich gewesen wäre, das Phantastische, das in den unerwartetsten Augenblicken über mich hereinbricht und mich zu schreiben anregt, indem es mir diesen Akt als den einzigen Weg aufzeigt, gewisse Grenzen zu überschreiten, mich auf dem Terrain «des anderen» zu etablieren. Aber [...] etwas zeigte mir von Anfang an, daß sich der formale Weg dieser anderen Realität nicht in den Ressourcen und literarischen Kniffen fand, von welchen die traditionelle phantastische Literatur zu ihrem so gefeierten «Pathos» ausging, daß er sich nicht in dieser verbalen Szenographie fand, die darin besteht, den Leser von Anfang an zu «desorientieren», indem man ihn in einem morbiden Ambiente mit dem Ziel konditioniert, ihn zu zwingen, fügsam auf das Mysterium und die Angst einzugehen. 2

In der traditionellen phantastischen Literatur bildeten Horror und Angst häufig den Zugang zu dem anderen, was natürlich die von Cortázar erwähnten Auswirkungen auf die strukturelle Organisation der Texte zeitigen mußte. Bei Cortázar selbst erwächst das andere aus einer neuartigen Postulierung der Realität, einer Wahrnehmung der Welt, die die uneingeschränkte Herrschaft der Ratio in Frage stellt, Raum läßt für Vieldeutigkeit und Ambiguität. Sein Nuevo elogio de la locura - sein Neues Lob der Torheit - beginnt der Autor wie folgt:

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Der erste (gemeint ist der erste Lobpreis der Torheit - Anm. d. Verfh.) wurde vor Jahrhunderten von Erasmus von Rotterdam geschrieben. Ich erinnere mich nicht mehr genau daran, wovon er handelte, aber sein Titel hat mich immer sehr bewegt, und heute weiß ich, weshalb: Die Torheit verdient es, gepriesen zu werden, wenn die Vernunft, die Vernunft, die das Abendland derartig mit Stolz erfüllt, sich die Zähne ausbeißt an einer Realität, die sich nicht fassen läßt und niemals fassen lassen wird mit den kalten Waffen der Logik, der reinen Wissenschaft und der Technologie. 3

Cortázars Ausgangspunkt ist also philosophischer Natur, er begibt sich auf eine ontologische Suche nach von der Ratio nicht mehr erfaßbaren Dimensionen der Realität, eine Suche nach dem Wesentlichen des Menschen, des menschlichen Lebens. Diese Suche stellt die Triebkraft, die Prämisse seines gesamten Werks dar. Der eingangs zitierte Satz bezüglich der Klassifizierung seiner Erzählungen findet folgende, diese Aussage bestätigende Fortsetzung: [...] sie (die Erzählungen - Anm. der Verfn.) widersetzen sich jenem falschen Realismus, der darin besteht, zu glauben, daß alle Dinge so beschrieben werden können, wie dies der philosophische und wissenschaftliche Optimismus des 18. Jahrhunderts als gegeben betrachtete, das heißt, innerhalb einer durch ein System von Gesetzen, Prinzipien, Beziehungen von Ursache und Wirkung, definierten Psychologien, gut kartographierten Geographien mehr oder weniger harmonisch regierten Welt. In meinem Fall sind der Verdacht auf eine geheimere und weniger mitteilsame Ordnung sowie die fruchtbare Entdeckung von Alfred Jarry, für den das wirkliche Studium der Realität nicht in den Gesetzmäßigkeiten, sondern in deren Ausnahmen anzusiedeln war, zu Orientierungsprinzipien für meine persönliche Suche nach einer Literatur abseits eines jeglichen allzu biederen Realismus geworden.4

Folgerichtig fordert Cortázar Freiräume für die Kräfte des Irrationalen; diese Freiräume sieht er zu Beginn der fünfziger Jahre, das heißt zur Zeit der Entstehung der Bände Bestiario (Cortázar 1987)5 (Bestiarium) und Final del juego (Ende des Spiels), in der Psychoanalyse, im Kubismus, in dadaistischer Poesie, im Existentialismus und vor allem im Surrealismus. Letzterer wird in jenen Jahren zu einem wesentlichen Anhaltspunkt seiner Suche. Cortázar betrachtet dabei den Surrealismus weniger als literarische Strömung oder Modeerscheinung denn als Philosophie, als eine nach totaler Befreiung strebende Bewegung, als einen Versuch der Aneignung der Realität ohne Einwirkung des homo sapiens. So heißt es in einem 1948 erschienenen Beitrag zum Tode von Artaud: "Surrealismus ist Weltanschauung, keine Schule und

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kein Ismus, der Versuch einer Aneignung der Realität, die die Realität selbst ist, im Gegensatz zu der aus Pappmaché [...].1,6 Die Schwierigkeit für Cortázar besteht nun darin, Erzählformen zu finden, die seinen Prämissen entsprechen, das heißt, die eine andere Optik aufweisen als eine herkömmliche, dezidiert rationale Wahrnehmung. Cortázar sieht einen möglichen Weg im Neo-Phantastischen - ein Begriff übrigens, den wir ebenfalls mangels einer besseren Bezeichnung verwenden, weil er - wenngleich mit einer Reihe von Schwächen behaftet - doch zumindest auf die Unterschiede zu traditioneller phantastischer Literatur verweist. Das NeoPhantastische steht nicht in Opposition zum Realen, sondern ist als weitere "realistische" Kunst zu verstehen, da ein tieferes Eindringen in Ebenen der Realität angestrebt wird, die - bedingt durch unsere logischen Denkschemata - verschüttet wurden. Dieser Konzeption entsprechend verankert Cortázar das (Neo-) Phantastische konsequent und minutiös in der Realität. Nebenbei bemerkt, liegt hier der zu Anfang erwähnte grundlegende Gegensatz zum erzählerischen Schaffen von Borges, dessen Fiktion ja bekanntermaßen nicht an der Realität selbst, sondern an einer Simulation der Realität ausgerichtet ist. In Cortázars Erzählungen wird zunächst ein Kausalitäten gehorchendes System entwickelt, nach und nach werden jedoch dessen Grenzen überschritten und Dimensionen erreicht, die - gemäß traditioneller Vorstellungen - irreal oder phantastisch erscheinen. Es entsteht eine neue Ordnung, die das Ausgangssystem einschließt und neue, bis dahin ungeahnte Perspektiven eröffnet. In seinem bereits zitierten Vortrag zur Situation der Narrativik in Lateinamerika sagte der Autor diesbezüglich: So ist, wenn ich phantastische Geschichten schrieb, mein Gefühl im Hinblick auf das, was die Deutschen das Unheimliche nennen, immer in einem Rahmen aufgetaucht, den ich als gewöhnlich bezeichnen würde. Das Phantastische erschien mir nie außergewöhnlich, auch nicht als Kind, in dem Moment empfand ich es wie einen Ruf oder besser eine Ankündigung aus einer Zone der Realität, die der homo sapiens zu ignorieren vorzieht, oder dem Bereich animistischer oder primitiver Glaubensvorstellungen, dem Bereich des Aberglaubens oder der Alpträume zuordnet. [...] [...] die Realität wird porös wie ein Schwamm; während eines leider kurzen, heiklen Augenblicks hört das, was mich umgibt, auf, das zu sein, was es war, oder ich bin nicht mehr der, der ich bin oder zu sein glaube, und in diesem Bereich, in dem die Worte nur zu spät und unvollkommen angelangen können, um den Versuch zu machen, auszudrücken, was sich nicht ausdrücken läßt, ist alles möglich, kann sich alles ergeben.[...]

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[...] das Ausbrechen des anderen erfolgt in meinem Fall in einer ausgesprochen trivialen und prosaischen Weise. Es besteht vor allem in der Erfahrung, daß die Dinge oder die Fakten oder die Wesen für einen Augenblick ihr Zeichen, ihr Etikett, ihre Position im Reich der rationalen Realität verändern.7

Das Neo-Phantastische strebt nicht danach, den Leser bei der Überschreitung einer unverbrüchlichen Ordnung erzittern zu lassen. Die Grenzüberschreitung ist hier Teil einer neuen - übergreifenden - Ordnung, die der Autor entwikkeln bzw. nachvollziehen möchte. Natürliches und Übernatürliches vermischen sich, bevölkern das gleiche Terrain. Es erhebt sich die Frage, welche Regeln, welche Gesetze, welche Grammatik der neuen Ordnung zugrundeliegen. Die Antwort ist gewiß in den Metaphern zu finden, mit denen uns das Neo-Phantastische konfrontiert. Ausgehend von diesen Metaphern wird der Versuch unternommen, eine Ordnung zu erfassen, die sich unserer Logik, mit der wir normalerweise die Realität oder Irrealität einer Erscheinung ermessen, entzieht. Es handelt sich bei diesen Metaphern um Zeichen, die ein Element der Unbestimmtheit, der Unschärfe aufweisen, sie verweigern sich einer eindeutigen Einordnung, Zuordnung, Erklärung, Interpretation. Hier entsteht also der bereits erwähnte Raum für Vieldeutigkeit und Ambiguität, der Leser sieht sich einem «offenen Kunstwerk» im Sinne Umberto Ecos gegenüber. Welche Wege eröffnen sich nun für eine Auseinandersetzung mit einem auf diese Weise angelegten Text? Von logischen Gesichtspunkten ausgehende Betrachtungen, die auf eine Art "Übersetzung" des Textes, der Metapher, in die Sprache der Logik hinauslaufen, erscheinen widersinnig, da der Text ja gerade die Überwindung eben dieser Dimension anstrebt. Jeder Versuch einer derartigen Übersetzung fuhrt zwangsläufigerweise zu einer Deformation, einer Entstellung. Die Botschaft des Textes besteht in der Metapher und kann nur mittels der Metapher zum Ausdruck gebracht werden. Hören wir erneut Cortázar: Ich möchte [...] nicht befürworten, daß diese Koagulation heterogener Elemente in eine präzise Kenntnis übertragen wird, denn dann würden wir das Terrain des Phantastischen verlassen, und alles würde auf einen schlichten wissenschaftlichen Nachweis von Gesetzen oder Prinzipien, die sich unserer Kenntnis entziehen, hinauslaufen. In den meisten Fällen geht das Ausbrechen des Unbekannten nicht über ein schrecklich kurzes und flüchtiges Gefühl hinaus, daß eine Bedeutung existiert, eine offene Tür zu einer Realität, die sich uns anbietet, die wir aber - traurigerweise nicht fähig sind, uns anzueignen.[...]

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[...] was ich auf diesem Gebiet hervorgebracht habe, erfolgte immer mit einem Gefiihl der Wehmut, der Wehmut, nicht fähig zu sein, die Türen völlig zu öffnen, die ich bei so vielen Gelegenheiten für einige flüchtige Sekunden einen Spalt breit geöffnet gesehen hatte. In diesem Sinne erfüllt die Literatur eine Funktion, fiir die wir ihr dankbar sein sollten: die Funktion, uns für einen Moment aus unseren gewohnten Schubfächern zu holen und uns [...] zu zeigen, daß vielleicht die Dinge nicht an dem Punkt enden, den unsere Denkgewohnheiten annehmen.8

Die sinnvollste Annäherung an neo-phantastische Texte besteht augenscheinlich in dem Versuch, die Funktionsregeln der Metaphern zu rekonstruieren. Zwar beschränken wir uns damit auf eine Strukturanalyse, die davon absieht, den Sinn des Werks zu hinterfragen, doch erlangen wir - gerade durch diese Beschränkung - ein auf andere Weise kaum erreichbares Maß an Objektivität. Zweifellos gibt es bessere und schlechtere, mehr oder weniger zutreffende, mehr oder weniger gerechtfertigte Interpretationen von Texten. Wie Roland Barthes bereits betonte, gibt es jedoch keine Interpretation, die für sich den Anspruch erheben könnte, die einzig richtige, die einzige dem Text gerecht werdende, zu sein. Selbstverständlich trifft dies letztendlich auf jedes literarische Werk zu; die Auswirkungen dieser Problematik offenbaren sich bei der Auseinandersetzung mit neo-phantastischen Texten allerdings in besonders krasser Form. Es soll hier im übrigen gar nicht in Abrede gestellt werden, daß das Ausloten verschiedenster Interpretationsmöglichkeiten durchaus eine Art von sinnlichem Genuß zu vermitteln in der Lage ist. Cortázar selbst fordert ein solches Herangehen geradezu heraus mit seinem - im Roman Rayuela (Cortázar 1991: Kap. 99, 611 ff.) dargelegten - Wunsch nach einem lector-cómplice, einem Leser-Komplizen, der sich aktiv in das Abenteuer seiner Reise durch den Text stürzt. Der Autor verweist dabei auf die Dimensionen, die in diesem Sinne bereits eine so knappe literarische Form wie die Erzählung erlangen kann, wenn er schreibt: [...] Erzählungen [...] sind Bindemittel für eine unendlich viel umfangreichere Realität als in ihrer einfachen Anekdote enthalten ist, und deshalb haben sie mit einer Kraft auf uns Einfluß genommen, die aus der Schlichtheit ihres augenscheinlichen Inhalts, der Kürze ihres Textes nicht zu erwarten wäre. 9

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Und weiter heißt es: Jede erhalten bleibende Erzählung (in unserer Erinnerung - Anm. d. Verfn.) ist wie der Same, in dem ein riesiger Baum ruht. Der Baum wird in uns wachsen und seinen Schatten in unsere Erinnerung werfen. 10

Betrachten wir die oben aufgezeigte Problematik anhand der Erzählung Casa tomada (Das besetzte Haus) aus dem bereits erwähnten 1951 erschienenen Band Bestiario. Keine andere Erzählung Cortázars hat zu derart zahlreichen und vor allem so verschiedenartigen Interpretationen Anlaß gegeben. Zunächst soll der Inhalt kurz vorgestellt werden: Der Text zeigt uns ein Geschwisterpaar, Irene und ihren als Ich-Erzähler fungierenden Bruder, dessen Namen der Leser nicht erfahrt. Die beiden leben allein und äußerst zurückgezogen in einem viel zu großen, von der Familie offenbar seit Generationen bewohnten Haus, dessen räumliche Struktur im ersten Teil der Erzählung in minutiöser Weise beschrieben wird. Eine schwere Eichentür insbesondere trennt die im Vorderteil des Hauses befindlichen Wohnräume im engeren Sinne vom hinteren Flügel, in dem sich u. a. die Bibliothek befindet. Die beiden Protagonisten sind materiell unabhängig, sie beziehen monatlich eine gewisse Summe aus Landbesitz, die die Kosten für ihren Lebensunterhalt übersteigt, sie müssen sich dabei offenbar nicht in nennenswerter Weise um ihre Ländereien kümmern. Allmorgendlich erledigen sie nach genauester Planung die häuslichen Arbeiten, um sich schließlich nach dem gemeinsamen Mittagessen ihren Freizeitbeschäftigungen zuzuwenden. Irene widmet sich ausschließlich dem Stricken. Sie fertigt zwar nichts im eigentlichen Sinne Nutzloses, doch wird das Maß des Erforderlichen und in diesem Sinne Verwendbaren bei weitem überschritten. Der Bruder interessiert sich offenbar für Literatur, insbesondere wohl für französische Literatur, wobei er bei seinen wöchentlichen Einkaufstouren, die ihn auch durch die Buchhandlungen führen, feststellt, daß seit 1939 nichts Lesenswertes mehr nach Argentinien gekommen sei. So verbringt er seine Zeit damit, seiner Schwester zuzuschauen, hier und da wohl auch eines der in der Bibliothek vorhandenen Bücher erneut zu lesen. Die Gespräche zwischen den Geschwistern beschränken sich auf das absolut Notwendige, so daß insgesamt eine eigenartig stille, seltsame Atmosphäre entsteht. Dennoch bemerkt der IchErzähler lapidar: "Es war schön."11 Hier erfolgt nun der Bruch: Als der Bru-

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der eines Abends zur Küche geht, um Mate zu kochen, hört er aus den Räumen hinter der wie gewöhnlich geschlossenen oben erwähnten Eichentür Geräusche. Er wirft sich gegen die Tür, bevor es zu spät ist, wie er meint, und ist erleichtert, daß der Schlüssel auf seiner Seite steckt, so daß er die Tür abschließen kann. Seiner Schwester erklärt er lediglich: "Ich mußte die Tür zum Gang abschließen, sie haben den rückwärtigen Teil eingenommen."12 Nach einer kurzen Rückfrage, ob er sich denn sicher sei, stellt sie fest: "Dann [...] müssen wir auf dieser Seite wohnen."13 Es gibt keinerlei weitere Informationen zu diesem Vorfall. Nach den ersten Tagen, in denen die beiden Protagonisten liebgewordene Gegenstände, die im hinteren Teil des Hauses verblieben sind, vermissen, gewöhnen sie sich an die neuen Lebensumstände, insbesondere an einen neuen Tagesrhythmus, der sich aus dem verringerten Umfang der anfallenden häuslichen Arbeiten ergibt. Eines Abends wiederholen sich jedoch die Ereignisse in analoger Weise: Der Bruder hat Durst und will in die Küche gehen, um Getränke vorzubereiten, als er plötzlich aus dem Gang, der zu Küche und Bad führt, Geräusche hört. Die beiden Geschwister sehen sich kaum an, sie verlassen fluchtartig das Haus, nur mit der Kleidung, die sie am Körper tragen. "Sie haben diesen Teil eingenommen"14, bemerkt Irene. Bevor sich die beiden entfernen, verschließt der Bruder sorgsam die Haustür und wirft den Schlüssel in den Kanal, um zu verhindern, daß "es irgendeinem armen Teufel in den Sinn kommt, zu stehlen und sich so in das Haus zu begeben, um diese Uhrzeit (es ist 11 Uhr abends - Anm. der Verfn.) und wo doch das Haus besetzt ist".15 Mit dieser Aussage endet die Erzählung. Häufig ist Casa tomada in oben angegebener Bedeutung "übersetzt", also interpretiert worden als eine "Allegorie auf den Peronismus" (Sosnowski: 23). Viele Autoren sahen in dem Erzähler-Protagonisten und seiner Schwester ein in einem inzestuösen Verhältnis lebendes Paar (Garcia Canclini: 22), andere wiederum in erster Linie Überbleibsel einer Oligarchie, die in einem ihre Bedürfnisse weit überschreitenden Haus lebt (Sosnowski, op. cit.). Man hat die Erzählung definiert als einen Ausdruck der Angst vor dem Unbekannten und deren Verkörperung in einer Flucht (de Sola: 45), aber auch als Ausdruck der Unmöglichkeit einer inneren Freiheit, sei es in stoischer Form oder existentialistischer Weise (Filer: 40). Alfred MacAdam interpretiert den Text in soziologischer Richtung als einen Ausdruck der Isolierung Latein-

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amerikas infolge des zweiten Weltkriegs; nichts sei dorthin g e k o m m e n , w a s dem Lebensgeist der Länder hätte Nahrung verleihen können, andererseits sei nichts, w a s dort existiere, wirklich interessant (MacAdam: 65). Mit ähnlicher soziologischer Ausrichtung bemerkt Joaquín R o y w i e folgt: [...] ohne deren greifbare Ähnlichkeit mit der peronistischen Machtübernahme zu bemerken und ohne zu akzeptieren oder zu bezweifeln, daß das Haus, das den Raum für das Szenario bietet, die alte Ordnung repräsentiert, wird auch der weniger aufgeweckte Leser feststellen, daß die Einsamkeit der argentinischen Neutralität während des Weltbrandes in der glücklichen Abgeschiedenheit des ProtagonistenGeschwisterpaares ihre Reflexion erfahrt. Das Haus wird, ohne daß die beiden etwas tun können - ebenso wie die Oligarchie, die eben seit dem 19. Jahrhundert überleben konnte, von dem Ambiente nicht zugehörigen Wesen eingenommen. 16 Nicolás García Canclini faßt einige der genannten

Interpretationsweisen

zusammen und fugt eigene Vorstellungen hinzu, w e n n er schreibt: Der Reichtum dieser Erzählung übersteigt die schlichte Faszination und suggeriert verschiedene Interpretationen. Je nach Betrachtungsweise kann die Invasion durch die seltsamen Wesen die von den Protagonisten erlittene obsessive Präsenz der Vorfahren symbolisieren, die sie daran hindert, das Leben zu genießen; in umgekehrter Weise könnte es aber auch das Eindringen neuer, gegenüber der Dekadenz der Geschwister unerbittlicher Generationen sein. Diese Dekadenz (der Inzest) könnte auch den Fall einer sozialen Schicht darstellen, die durch eine andere verdrängt wird, wie es in gewisser Weise im Argentinien der damaligen Zeit erfolgte. Uns erscheint es, als könne das zunehmende Eindringen in die Intimsphäre des Paars auf den Blick der Nachbarn deuten, auf deren aufgeregte Kommentare, die den Inzest anklagen.17 Schließlich stellt Garcia Canclini fest: Der Autor würde vielleicht antworten, daß alle Interpretationen legitim seien, und er hätte das Recht, dies zu sagen, denn es handelt sich um eines der Werke, die mit einem solch weiten menschlichen Gehalt konzipiert sind, daß sie sich auf verschiedenartige Situationen beziehen können. 18 Die Ambiguität, die Vieldeutigkeit des Textes erlauben eine Fülle v o n Interpretationen, v o n den genannten ist jede möglich, keine ausgeschlossen. Jede der genannten Interpretationen ist zu rechtfertigen und in diesem Sinne richtig, keine schließt die anderen aus, keine ist allumfassend, j e d e wird dem

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Text gerecht, keine erfaßt ihn ganz. So ist jede dieser Interpretationen richtig und zugleich falsch. Betrachten wir die angegebenen Interpretationen etwas genauer, stellen wir fest, daß eine Reihe von Bildern immer wieder auftauchen: "Inzest", "Abgeschiedenheit", um nur zwei Beispiele zu nennen. Doch all diese Bilder bergen in sich jeweils einen Moment der Unschärfe. Die so entstehende Mehrdeutigkeit erreicht ihren Höhepunkt zweifellos im mysteriösen Charakter der Eindringlinge. Wie vorhin bereits angedeutet, nehmen der Erzähler und Irene die Invasion ohne nennenswerten Widerstand hin. Die Eindringlinge rücken nicht ins Bild, nicht ins Blickfeld, die Protagonisten hören ja nur Geräusche, und auch diese sind von merkwürdiger Unbestimmtheit. Die Protagonisten unternehmen keinen Versuch, zu ergründen, wer die Eindringlinge sind, sie unternehmen keinen Versuch, zu erfahren, was wirklich im jeweils besetzten Teil des Hauses passiert. Sie sprechen nicht einmal über die Invasoren, äußern keine Vermutungen. Die so geschaffenen Unschärfen und damit Mehrdeutigkeiten geben dem Text seine Prägung und bilden natürlich die Basis für die unterschiedlichen Blickrichtungen bei der Interpretation. Hier zeigt sich die Gefahr, der jede Interpretation - bedingt durch die im Interpretationsprozeß vollzogene Monosemierung - unterliegt: Dem Text wird ein beträchtlicher Teil seiner Aussagekraft, eben seine Vieldeutigkeit, seine Ambiguität - sein wohl herausragendstes Merkmal - genommen. Verlassen wir daher dieses allzu unsichere Terrain, widmen wir uns einer Betrachtung der Struktur des Textes. Es wurde bereits erwähnt, daß der Bruder als Erzähler fungiert; eingebettet in seine Ich-Erzählung erscheint die Wiedergabe einiger seiner kurzen Dialoge mit Irene. Der erste Teil des Textes dient fast ausschließlich der Konstituierung des Raumes und der durch diesen Raum vorgegebenen Ordnung. In diesen Raum, in diese Ordnung sehen sich die sehr knapp skizzierten Protagonisten gesetzt, sie sind Teil des Raumes, Teil der Ordnung. Die deutliche Abgrenzung des Raumes, aber insbesondere auch der gleichförmige Tagesrhythmus der beiden Geschwister erzeugen eine von Statik geprägte Situation. Eine erste Bewegung erschüttert diese bei der Invasion des hinteren Teiles des Hauses. Irene und ihr Bruder ziehen sich nach nur äußerst zaghaftem Widerstand in den vorderen Flügel zurück. (Es sei daran erinnert, daß sich der Bruder "gegen die Eichentür

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stemmte"...) Der ihren Lebensraum markierende Kreis wird aufgebrochen, wenngleich den beiden zunächst nur dessen periphere Teile verlorengehen; sie verlieren ja zunächst den Teil des Hauses, den sie auch vor der Invasion kaum betreten hatten, mit Ausnahme der Zeit, die sie für die tägliche Reinigung der dort gelegenen Zimmer aufzuwenden hatten. Die sorgsam etablierte Ordnung zeigt zwar Auflösungserscheinungen am Rande, doch bleibt der Kern zunächst erhalten. Nach einem kurzen Moment der Beruhigung vollzieht sich in einer zweiten Bewegung die endgültige Vertreibung der Protagonisten aus dem Haus, aus ihrem Terrain. Die alte Ordnung ist aus ihren Angeln gehoben. Das Geschwisterpaar sieht sich aus seinem Paradies vertrieben, es sieht sich gezwungen, außerhalb dieses Paradieses auf der Erde herumzuirren. Neben der bereits erwähnten Resignation strahlt die Darstellung der "Vertreibung" ein unbestimmbares, sehr vages Schuldgefühl aus. Welche Schuld haben die beiden Protagonisten auf sich geladen, und wer zwingt sie dazu, ihr Paradies zu verlassen? Antworten auf diese Fragen gibt der Text nicht. Vor dem Hintergrund der abendländischen Kultur suggeriert das der Erzählung zugrundeliegende Bild der Vertreibung Parallelen zur biblischen Metapher der Vertreibung aus dem Paradies. Es handelt sich allerdings um eine neue Lektüre des biblischen Textes im Borges'schen Sinne: Die Grundstruktur der Metapher wird übernommen bzw. wiederaufgenommen und so die aus dem Prätext bekannte Konstellation der Signifikate als Orientierungspunkt offeriert, diese erweist sich jedoch als wenig hilfreich für eine Analyse des Cortázar-Textes: Die biblische Erzählung beginnt - ebenso wie Casa tomada - mit der Konstituierung des Raumes. Wir sehen uns im ersten Fall einer Beschreibung des Gartens Eden gegenüber, im zweiten Fall erleben wir die genaue Zeichnung des von den Geschwistern bewohnten Hauses. Die jeweiligen Protagonisten Adam und Eva bzw. Irene und ihr Bruder - sehen sich in den jeweiligen Raum und die durch diesen determinierte Ordnung eingebettet. Die Identifikation der Ausgangssituation in Casa tomada mit der biblischen Vorlage wird auf äußerst subtile Weise forciert, mit wenigen kleinen Randbemerkungen wie dem oben bereits zitierten Satz "Es war schön." aus dem Munde des Erzählers. Im biblischen Text beginnt nun die detaillierte Darstellung des

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Fehlverhaltens der Protagonisten, das in seiner Konsequenz zur Vertreibung aus dem Paradies fuhrt. Adam und Eva lassen sich von der Schlange in Versuchung führen, Früchte vom verbotenen Baum zu essen, sie widersetzen sich der göttlichen Autorität, überschreiten die ihnen von der bestehenden Ordnung auferlegten Beschränkungen. Die von ihnen begangene Grenzüberschreitung wird dabei in jeder Phase explizit dargelegt, die dem Handlungsverlauf zugrundeliegenden Kausalbeziehungen sind eindeutig nachvollziehbar. Nicht so in Cortäzars Erzählung. In seinem Text gibt es keinen direkten Hinweis auf eine von den beiden Protagonisten zu verantwortende Schuld. Es besteht durchaus auch die Möglichkeit, daß keinerlei Fehlverhalten ihrerseits vorliegt. Folgt man an dieser Stelle einer der o. g. Interpretationsrichtungen (Inzest; politische Auslegung usw.), erhält jede erdenkliche Schlußfolgerung spekulativen Charakter. Wir erfahren eben weder, warum Irene und ihr Bruder aus ihrem Paradies vertrieben werden, noch, wer sie aus diesem Paradies vertreibt, wer also die Funktion übernimmt, die im biblischen Prätext Gott innehat. Ob unschuldig oder schuldig - auf jeden Fall müssen wir feststellen, daß die Protagonisten ihre Vertreibung - ihre Bestrafung? - ohne nennenswerten Widerstand akzeptieren, diese erscheint ihnen offenbar als unausweichlich. Die bestehende Ordnung wird durch ihnen überlegene Kräfte aufgebrochen. Über die sich neu etablierende Ordnung erhält der Leser nahezu keine Informationen, sie stellt sich als ein für viele Optionen offenes System dar. Von diesen Analyseergebnissen abstrahierend ergibt sich folgende Grundstruktur des Textes20: 1. Darlegung der Konstellation einer bestehenden Ordnung mittels Konstituierung des Raumes, 2. Einordnung der handelnden Individuen, insbesondere Einordnung des Erzählers, in diese Konstellation, 3. Aufbrechen der etablierten Ordnung durch das Eindringen phantastischer Elemente, 4. Auflösung der Konfliktsituation auf der Ebene der sich konstituierenden neuen Ordnung, d. h. unter Einbeziehung phantastischer Elemente. (Wir sprechen übrigens bewußt von "Auflösung" und nicht von "Lösung" der

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Konfliktsituation, da der Begriff "Lösung" unseres Erachtens in zu starkem Maße "Rationalität" konnotiert.) Es ist nun zu prüfen, inwieweit die dargelegte Grundstruktur auch für andere Erzählungen Cortázars Gültigkeit besitzt. Sehen wir uns dazu zunächst die Erzählung Carta a una señorita en París (Brief an ein Fräulein in Paris) an, die ebenfalls dem Band Bestiario entstammt. Hier wird uns ein ErzählerProtagonist vorgestellt, der in der wohlgeordneten Welt des Appartements einer abwesenden Freundin, an die der Text im übrigen gerichtet ist, Entspannung und Erholung sucht. Das Phantastische hält Einzug mit der Aussage, daß der Erzähler-Protagonist von Zeit zu Zeit ein kleines Kaninchen erbricht. Die Kaninchen bewegen sich in dem poetischen Ambiente, das in dieser Erzählung entsteht, mit einer beklemmenden Natürlichkeit. Der eigentliche Vorgang des Erbrechens, des Hervorbringens der Kaninchen, wird beinahe wissenschaftlich trocken beschrieben. Der Fakt selbst beunruhigt den Erzähler in keiner Weise, er hat sich darauf eingerichtet und ist zumindest in seiner Wohnung, in seinem Umfeld - auf die Versorgung der Tierchen vorbereitet, auch um Abnehmer kümmert er sich, sobald die Tiere eine gewisse Größe erreicht haben. Ängste beschleichen ihn erst, als er sich vor dem Problem sieht, die immer rasanter wachsende Zahl der Kaninchen vor der Putzfrau seiner Freundin zu verbergen, die Spuren ihres allnächtlichen Zerstörungswerks zu beseitigen, während der Anwesenheit der Putzfrau ihre Geräusche zu übertönen, genügend Klee herbeizuschaffen usw. All dies gelingt ihm, bis die magische Zahl von zehn Kaninchen überschritten wird, mit dem elften, das er nach einer trügerischen Ruhepause von zwei Wochen erbricht, kapituliert er, der Text endet mit der Ankündigung seines Suizids. Aus dieser kurzen Vorstellung des Textes wird gewiß bereits ersichtlich, daß in dieser Erzählung die kleinen Kaninchen das Moment der Unschärfe darstellen und somit zum Ansatzpunkt für unterschiedlichste Interpretationen werden. Ihre Funktion entspricht derjenigen der "Geräusche" in Casa tomada. Deutlicher noch als Casa tomada suggeriert der vorliegende Text selbst einige potentielle Interpretationsrichtungen. So äußert sich der Erzähler im Hinblick auf die Möglichkeit, die Kaninchen sofort nach ihrem "Auftauchen" zu töten, sich ihrer auf diese Weise zu entledigen, wie folgt:

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Ach, Sie (d. h. Andrée - Anm. der Verfn.) müßten nur eines erbrechen, es mit zwei Fingern ergreifen und in die offene Hand legen, noch an Sie gebunden durch den Akt selbst, durch die unsagbare Aura seiner kaum unterbrochenen Nähe. Ein Monat schafft so viel Distanz; ein Monat bedeutet Größe, langes Fell, Sprünge, wilde Augen, grundlegenden Unterschied. Andrée, ein Monat bedeutet ein Kaninchen, schafft wirklich ein Kaninchen; aber die erste Minute, wenn das lauwarme und wirbelnde Flöckchen eine unveräußerliche Präsenz verschleiert... Wie ein Gedicht in den ersten Minuten [...]: so einem selbst zugehörig wie man dies selbst ist... und später so sehr nicht man selbst, so isoliert und distanziert in seiner ebenen weißen Welt von der Größe eines Briefes.21

Der Vergleich der Kaninchen mit der Poesie vermag sehr wohl einige Details zu beleuchten, nicht aber die gesamte Erzählung zu erklären. Ähnlich unseren Beobachtungen im Zusammenhang mit Casa tomada werden auch in dieser Erzählung weitere mögliche Signifikate angeboten. Insbesondere die Deutung der Kaninchen als eine Metapher für Obsessionen, Phobien, emotionale Verwirrung, eben Ursachen oder auch Symptome neurotischer Zustände, findet durch eine Reihe von Anspielungen Nahrung. Eine solche Deutung wird auch durch einige Aussagen des Autors selbst in verschiedenen Interviews gestützt (Harss). Das ändert jedoch nichts daran, daß sich eine eindeutige Zuordnung der Metapher zu einem rational faßbaren System, einem Code, als nicht möglich erweist. Mehrdeutigkeit und Ambiguität werden auch hier zum charakteristischen Merkmal. Wiederum lädt der Autor seinen Leser geradezu ein, die verschiedensten Interpretationsrichtungen auszuloten. Doch kommen wir zurück zur Grundstruktur des Textes. Auch in dieser Erzählung wird zunächst eine bestehende Ordnung dargelegt, wiederum mittels der Konstituierung des Raumes, hier repräsentiert durch die Wohnung von Andrée, die der Erzähler betrachtet als "[...] geschlossene Ordnung, die bis hin zu den feinsten Luftmaschen konstruiert ist, jenen, die in Ihrem Zuhause die Musik des Lavendels, den Flügelschlag eines Schwans mit dem Staub [...] bewahren [...]"22. Im Unterschied zu Casa tomada ist der Erzähler hier allerdings nicht Teil dieser Ordnung, sondern nimmt die Blickrichtung der Eindringlinge ein: "Es schmerzt mich, in eine geschlossene Ordnung einzudringen [.. .]"23 - so beginnt das bereits angeführte Zitat. Etwas weiter heißt es: Ach, liebe Andrée, wie schwer es ist, sich [...] der minutiösen Ordnung zu widersetzen [...] Wie schuldhaft es ist, ein Metalltäßchen zu nehmen und ans andere Ende

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des Tischs zu rücken, einfach nur, weil man seine Englisch-Wörterbücher mitgebracht hat und diese hier, auf dieser Seite, greifbar liegen sollen. 24

Die Funktion der Kaninchen wurde ja bereits erläutert; die sich durch deren Einbrechen in die etablierte Ordnung herausbildende konfliktive Situation findet ihre Auflösung durch das Opfern der Kaninchen und den Suizid des Erzählers, das heißt, sie erfolgt wiederum auf der Ebene des neu entstandenen Systems, dessen Gesetzmäßigkeiten nicht eindeutig zu erschließen sind. Insgesamt ist also festzustellen, daß Carta a una señorita en París der gleichen Grundstruktur unterliegt wie Casa tomada, daß die Erzählperspektive jedoch genau entgegengesetzt ausgerichtet ist. Betrachten wir nun eine dritte Erzählung aus dem Bestiario-Band, die sich von den beiden bereits analysierten deutlich unterscheidet: Las puertas del cielo (Die Pforten des Himmels). Auffallig ist zunächst, daß diese Erzählung nicht in der oben beschriebenen Weise mit Mehrdeutigkeit und Ambiguität spielt, der Text läßt fast nichts offen. Las puertas del cielo zeigt uns zunächst die Totenwache fiir eine offenbar noch jung verstorbene, allerdings schon länger vorher kränkelnde Frau namens Celina, zu welcher der Erzähler, ein der Mittelschicht der argentinischen Hauptstadt zuzurechnender Anwalt, gerufen wird. Ein fragmentartiger Flashback im Bewußtsein des Erzählers gibt Auskunft über die Ausgangssituation: Celina gehörte zunächst zu einer Milonga-Gruppe aus der mit einem etwas schmuddeligen Image behafteten Tango-Szene. Aus diesem Umfeld wurde sie - sowohl rein räumlich, als auch im Hinblick auf ihren Lebenswandel - herausgelöst, als der männliche Protagonist Mauro, der ihr zwar keinen nennenswerten gesellschaftlichen Aufstieg, wohl aber ein "solides" Leben bietet, sie überzeugen konnte, ihn zu heiraten. Das Phantastische deutet sich an, wenn der Erzähler seinem Gefühl Ausdruck verleiht, daß das mit derart vielen negativen Aspekten behaftete Leben der Tango-Säle für Celina dennoch das Paradies darstellte. Der Erzähler Marcelo ist sich seiner Distanz zu diesem Leben sicher, es fasziniert ihn jedoch gleichzeitig. Ehemann Mauro hingegen akzeptiert zwar bis zu einem gewissen Grad die Leidenschaft seiner Frau, kann diese allerdings nicht nachvollziehen. Im letzten Teil der Erzählung, in dem die lineare Handlungsfuhrung wieder aufgenommen wird, treffen sich Mauro und

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Marcelo erneut und beschließen, einen der Tango-Säle aufzusuchen, das Santa Fe Palace. In rauchgeschwängertem und alkoholisiertem Ambiente erscheint ihnen auf der Tanzfläche plötzlich Celina, beide begreifen, daß dies ihr Himmel ist, den sie nur im Tod zurückgewinnen konnte: "Nichts würde sie jetzt in ihrem nur ihr gehörenden Himmel festhalten, sie gab sich mit allen Sinnen dem Glück hin und trat wieder in die Ordnung ein, in die Mauro ihr nicht folgen konnte. Es war ihr eroberter, harter Himmel [.. .]."25 Auch in diesem Text wird die zu Anfang bestehende Ordnung gebrochen. Mauro hat die Funktion des Eindringlings, der Celina dieser Ordnung entreißt. Die Lösung des entstehenden Konflikts ist nur durch Celinas Tod möglich, die Rückgewinnung des Paradieses kann nur auf einer höheren Ebene, der Ebene der Imagination erfolgen. Die Grundstruktur des Textes entspricht ergo - trotz aller Unterschiede, auf die ich hier nur zum Teil eingegangen bin - durchaus den im Zusammenhang mit Casa tomada herausgearbeiteten und anhand von Carta a una señorita en París verifizierten Charakteristika. Dies trifft letztendlich auf alle Erzählungen des Bandes Bestiario zu. Wie sich bereits in den hier behandelten frühen Texten Cortázars andeutet, sind seine phantastischen Erzählungen durch eine Entgrenzung des "imaginaire parqué" im Sinne Grivels gekennzeichnet (Ch. Grivel). Der Autor will seine Leser teilhaben lassen am Prozeß einer dialogischen Konstituierung der Realität; die von ihm eingesetzten phantastischen Elemente stehen dabei im Dienst seiner ontologischen Suche nach dem Wesen des Menschen, dem Wesentlichen menschlichen Lebens. Insofern ist in seinen späteren Erzählungen kein Bruch mit den frühen Texten zu verzeichnen, auch wenn die von ihm eingesetzten textuellen Verfahren eine andere Wichtung erhalten. Diese neue Wichtung, die mit der Erzählung El perseguidor (Der Verfolger) aus dem Band Las armas secretas (Julio Cortázar 1990) (Die geheimen Waffen) dominierend wird, läßt phantastische Elemente in den Hintergrund treten, allerdings nie ganz verschwinden, wie zum Beispiel der Text Cartas de mamá (Briefe von Mama) - oder die Titelerzählung des Bandes selbst, aber auch diverse Arbeiten aus erst in den 70er Jahren publizierten Bänden unter Beweis stellen. Ein außergewöhnlich interessantes Beispiel für die Fortentwicklung des Phantastischen bei Cortázar ist in der Erzählung Apocalipsis de Solentiname

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(Apokalypse in Solentiname) aus dem Band Alguien que anda por ahí zu finden. In Apocalipsis en Solentiname schafft Cortázar erstmals eine Verbindung von sozial-politischer Thematik und phantastischen Elementen. Die Erzählung zeigt dem Leser einen Schriftsteller, der sich als Julio Cortázar zu erkennen gibt. Dieser Schriftsteller - Erzähler und Protagonist - kommt nach Costa Rica, um sich dort mit einigen Freunden zu treffen, man plant, dann gemeinsam in Ernesto Cardenals Kolonie Solentiname zu reisen. Zu viert verlassen sie San José, der Erzähler befindet sich in Begleitung von Sergio Ramírez, Ernesto Cardenal und einem gewissen Oscar, dessen Zunamen wir nicht erfahren. Am Flugplatz Los Chiles in Nicaragua stoßen weitere Bekannte zu der kleinen Gruppe, vor der Weiterfahrt per Jeep nach Solentiname werden zur Erinnerung einige Polaroid-Fotos gemacht. Hier deutet sich an, welches Türchen sich dem Phantastischen öffnen wird: Vorher aber wurden Erinnerungsfotos gemacht, mit so einer Kamera, aus der man ein himmelblaues Papier herauszieht, auf dem allmählich und wunderbarerweise und polaroid zaghaft Bilder erscheinen, zuerst beunruhigende Ektoplasmen, dann nach und nach eine Nase, krauses Haar [.. .] 26

Unter schallendem Gelächter seiner Begleiter stellt der Erzähler die Frage, was denn passierte, wenn sich plötzlich "[...] bei einem Familienfoto das himmelblaue Papier aus dem Nichts heraus mit Napoleon zu Pferd füllen würde [...] "27. Abends kommt die Gruppe in Solentiname an, wo der Erzähler-Protagonist unter anderem eine Reihe von Bildern bestaunt, die Bauern aus der Umgebung gemalt hatten. Er ist von dieser naiven Kunst derart fasziniert, daß er sie auf Fotos festhält, allerdings mit einer normalen Kamera. Die Gruppe erlebt die Gemeinschaft von Solentiname, nach wenigen Tagen reist der ErzählerProtagonist jedoch wieder zurück nach Paris. Dort läßt er die Fotos entwikkeln und stellt dann beim Betrachten der Dias mit Erschrecken und Erschauern fest, daß jedes der Solentinamer Gemälde ersetzt ist durch eine Szene, die Grauen, Gewalt, Folter in Lateinamerika zeigt. Seine Freundin Claudine kommt zu Besuch und stellt ihm Fragen im Hinblick auf die Fotos, er ist jedoch zu keiner Antwort in der Lage und verläßt den Raum. Claudine sieht sich die Dias in der Zwischenzeit allein an und äußert sich anschließend begeistert über die Malerei der Bauern, die sie soeben betrachten konnte.

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Selbstverständlich läßt sich Apocalipsis en Solentiname der engagierten Literatur zuordnen. Wir wollen uns allerdings nicht mit dieser Feststellung begnügen, ohne eine Analyse vorzunehmen. Der Text zeigt uns zunächst zwei Seiten der "realen Welt", die Metropole Paris einerseits, die dörfliche Gemeinschaft von Solentiname andererseits. Der Realitätsbezug wird durch Hinweise auf konkrete historische Figuren aus der politischen und literarischen Welt und auf konkrete historische Gegebenheiten gestützt. Doch der als "reale Welt" präsentierte Raum erweist sich als durchaus mit Unschärfen versehen, die das Magische repräsentierende Polaroid-Kamera ist in dieser Hinsicht das herausragende Beispiel. Im Gegensatz dazu sind die in der "phantastischen Welt" angesiedelten Dias von beklemmender Realität, insbesondere die Darstellung des Todes von Roque Dalton, der für den Leser als historische Figur zu erkennen ist, wobei noch hinzuzufügen ist, daß Dalton mit Cortázar befreundet war. So nimmt die historische Realität bei ihrer Transformation in einen literarischen Text irreale Züge an, während im Gegensatz dazu das Irreale im literarischen Raum des Phantastischen reale Züge annimmt. Auf diese Weise gelingt es Cortázar, das Phantastische als eine umfassendere, authentischere Realität darzulegen. Diese Realität zumindest im Bereich der Literatur zu akzeptieren, sich ihr zu öffnen, ist sein Ruf an den Leser. An dieser Stelle schließt sich der Kreis.

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ANMERKUNGEN 1. "Casi todos los cuentos que he escrito pertenecen al género llamado fantástico [...] por falta de mejor nombre." Cortázar, "Algunos aspectos del cuento". In: Cortázar 1994, Bd. 2: 368. Die Übersetzung der Zitate wurden von der Verfh. vorgenommen. 2. "Son innegables las huellas de escritores como Poe en los niveles más profundos de muchos de mis cuentos, y creo que sin Ligeia o sin La caída de la casa Usher no me hubiera sentido con esta predisposición hacia lo fantástico que me asalta en los momentos más inesperados y que me impulsa a escribir presentándome este acto como la única forma posible de cruzar ciertos límites, de instalarme en el territorio de «lo otro». Pero [...] algo me indicaba desde el comienzo que el camino formal de esa otra realidad no se encontraba en los recursos y trucos literarios de que depende la literatura fantástica tradicional para su tan celebrado «pathos», que no se encontraba en esa escenografía verbal que consiste en «desorientar» al lector desde el principio condicionándole dentro de un ambiente morboso a fin de obligarle a acceder dócilmente al misterio y al terror." Cortázar, "El estado actual de la narrativa en Hispanoamérica." In: Cortázar 1994, Bd. 3: 96. 3. "El primero [elogio de la locura - Anm. d. Verfn.] fue escrito hace siglos por Erasmo de Rotterdam. No recuerdo bien de qué trataba, pero su título me conmovió siempre, y hoy sé por qué: la locura merece ser elogiada cuando la razón, esa razón que tanto enorgullece al Occidente, se rompe los dientes contra una realidad que no se deja ni se dejará atrapar jamás por las frías armas de la lógica, la ciencia pura y la tecnología." Cortázar, "Nuevo elogio de la locura." In: Cortázar 1994, Bd. 3: 321. 4. "[...] se oponen [los cuentos - Anm. d. Verfn.] a ese falso realismo que consiste en creer que todas las cosas pueden describirse como lo daba por sentado el optimismo filosófico y científico del siglo XVIII, es decir, dentro de un mundo regido más o menos armoniosamente por un sistema de leyes, de principios, de relaciones de causa a efecto, de psicologías

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Claudia Gatzemeier definidas, de geografías bien cartografiadas. En mi caso, la sospecha de otro orden más secreto y menos comunicable, y el fecundo descubrimiento de Alfred Jarry, para quien el verdadero estudio de la realidad no residía en las leyes, sino en las excepciones a esas leyes, han sido algunos de los principios orientadores de mi búsqueda personal de una literatura al margen de todo realismo demasiado ingenuo." Cortázar, "Algunos aspectos del cuento." In: Cortázar 1994, Bd. 2: 368.

5. Alie Zitatangaben beziehen sich auf diese Ausgabe. 6. "Surrealismo es cosmovisión, no escuela o ismo; una empresa de conquista de la realidad, que es la realidad cierta en vez de la otra de cartón piedra. [...]" Cortázar, "Muerte de Antonin Artaud." In: Cortázar 1994, Bd. 2: 153 f. 7. "Así pues, cuando escribía historias fantásticas, mi sentimiento frente a lo que los alemanes llaman das Unheimliche, lo inquietante o lo sobrecogedor, surgía y sigue surgiendo en un plano que yo clasificaría de ordinario. Lo fantástico nunca me había parecido excepcional, ni siquiera de niño, y en ese momento lo sentía como una vocación o quizá mejor como un aviso originado en unas zonas de la realidad que el homo sapiens prefiere ignorar o relegar al desván de las creencias animistas o primitivas, de las supersticiones y de las pesadillas. [...] la realidad se torne porosa como una esponja; durante un momento, por desgracia breve y precario, lo que me rodea cesa de ser lo que era o yo dejo de ser quien soy o quien creo que soy, y en ese terreno en que las palabras sólo pueden llegar tarde e imperfectas para intentar expresar lo que no puede expresarse, todo es posible y todo puede rendirse.... la erupción de lo otro se produce en mi caso de una forma marcadamente trivial y prosaica. Consiste por encima de todo en la experiencia de que las cosas o los hechos o los seres cambian por un instante su signo, su etiqueta, su situación en el reino de la realidad racional." Cortázar, "El estado actual de la narrativa en Hispanoamérica." In: Cortázar 1994, Bd. 3: 97 f. 8. "No quiero [...] afirmar que [...] esa coagulación de elementos heterogéneos se traduce en un conocimiento preciso, porque entonces abando-

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naríamos el terreno de lo fantástico y todo quedaría reducido a una pura verificación científica de un sistema de leyes o principios rigurosos de los que simplemente no tenemos conocimiento. En la mayoría de los casos, esa erupción de lo desconocido no va más allá de una sensación terriblemente breve y fugaz de que existe un significado, una puerta abierta hacia una realidad que se nos ofrece pero que nosotros, tristemente, no somos capaces de aprender. [...] lo que me ha sido dado inventar en este terreno siempre se ha realizado con una sensación de nostalgia, la nostalgia de no ser capaz de abrir por completo las puertas que en tantas ocasiones he visto abiertas de par en par durante unos pocos fugaces segundos. En ese sentido la literatura ha cumplido y cumple una función que debiéramos agradecerle: la función de sacarnos por un momento de nuestras casillas habituales y mostrarnos [...] que quizá las cosas no finalicen en el punto en que nuestros hábitos mentales presuponen." Cortázar, "El estado actual de la narrativa en Hispanoamérica." In: Cortázar 1994, Bd. 3: 98, 100. 9. "[...] los cuentos [...] son aglutinantes de una realidad infinitamente más vasta que la de su mera anécdota, y por eso han influido en nosotros con una fuerza que no haría sospechar la modestia de su contenido aparente, la brevedad de su texto." Cortázar, "Algunos aspectos del cuento." In: Cortázar 1994, Bd. 2: 375. 10. "Todo cuento perdurable es como la semilla donde está durmiendo el árbol gigantesco. Ese árbol crecerá en nosotros, dará su sombra en nuestra memoria." Cortázar, "Algunos aspectos del cuento." In: Cortázar 1994, Bd. 2:376. 11. "Era hermoso." Cortázar, 1987: 17. 12. "Tuve que cerrar la puerta del pasillo. Han tomado la parte del fondo." Cortázar, 1987: 17. 13. "Entonces [...] tendremos que vivir en este lado." Cortázar, 1987: 17. 14. "Han tomado esta parte.", Cortázar, 1987: 20.

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15. "que a algún pobre diablo se le ocurriera robar y se metiera en la casa, a esa hora [es ist 11 Uhr abends - Anm. d. Verfii ] y con la casa tomada", Cortázar, 1987: 21. 16. "[...] sin entrar a considerar su palpable semejanza con la toma peronista del poder y sin negar o afirmar que la mansión que brinda el escenario representa el viejo orden, el lector menos avispado comprobará que la soledad de la neutralidad argentina durante la contienda mundial se ve reflejada en la feliz clausura de los hermanos protagonistas. Sin que ellos puedan hacer nada, al igual que la oligarquía que había conseguido sobrevivir desde el siglo XIX, la casa se ve invadida por entes extraños al ambiente." Roy: 66. 17. "La riqueza de este cuento desborda la simple fascinación y sugiere varias interpretaciones. Según como se mire, la invasión de los extraños puede simbolizar la presencia obsesiva de los antepasados, efectivamente sufrida por los protagonistas, que les impide gozar la vida; al revés, podría ser el ingreso de las nuevas generaciones, intolerantes con la decadencia de los hermanos. Esa decadencia (el incesto) podría representar también la declinación de una clase social, desplazada por otra, como sucedía en cierto modo en la Argentina de aquel tiempo. Se nos ocurre, por fin, que la creciente penetración en la vida íntima de la pareja puede aludir a la mirada de los vecinos, a sus comentarios escandalizados, que condenan el incesto." García Canclini, op. cit.: 22. 18. "El autor respondería, tal vez, que todas las interpretaciones son legítimas, y tendría derecho a decirlo porque es de esas obras concebidas con un registro humano tan amplio que pueden referirse a situaciones diversas." ibid. 19. Vgl. die diesbezüglichen Darlegungen von Jaime Alazraki, denen wir uns anschließen möchten. 20. "Ah, tendría usted que vomitar tan sólo uno, tomarlo con dos dedos y ponérselo en la mano abierta, adherido aún a usted por el acto mismo, por el aura inefable de su proximidad apenas rota. Un mes distancia tanto; un mes es tamaño, largos pelos, saltos, ojos salvajes, diferencia absoluta. Andrée, un mes es un conejo, hace de veras a un conejo; pero el minuto

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inicial, cuando el copo tibio y bullente encubre una presencia inajenable ... Como un poema en los primeros minutos [...]: tan de uno que uno mismo... y después tan no de uno, tan aislado y distante en su llano mundo blanco tamaño carta." Cortázar 1987: 27. 21."[ . . .] un orden cerrado, construido ya hasta las más finas mallas del aire, esas que en su casa preservan la música de la lavanda, el aletear de un cisne con polvos [...]" Cortázar 1987: 23. 22. "Me duele ingresar en un orden cerrado [...]" Cortázar 1987: 23. 23. "Ah, querida Andrée, qué difícil oponerse [...] al orden minucioso [...] Cuán culpable tomar una tacita de metal y ponerla al otro extremo de la mesa, ponerla allí simplemente porque uno ha traído sus diccionarios de inglés y es de este lado, al alcance de la mano, donde habrán que estar." Cortázar 1987: 23 f. 24. "Nada la ataba ahora en su cielo sólo de ella, se daba con toda la piel a la dicha y entraba otra vez en el orden donde Mauro no podía seguirla. Era su duro cielo conquistado [ . . .]" Cortázar 1987: 124. 25. "Pero antes hubo fotos de recuerdo con una cámera de esas que dejan salir ahí no más un papelito celeste que poco a poco y maravillosamente y Polaroid se va llenando de imágenes paulatinas, primero ectoplasmas inquietantes y poco a poco una nariz, un pelo crespo [...]" Cortázar 1977: 81.

26. "[. ..] una foto de familia el papelito celeste de la nada empezara a llenarse con Napoleón a caballo [...]" ibid.

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BIBLIOGRAPHIE PRIMÄRLITERATUR Cortázar, J. 1974: Octaedro. Madrid: Alianza Editorial. Cortázar, J. 1977: Alguien que anda por ahí. Mexiko: Hermes. Cortázar, J. 1977; 61988: Todos los fuegos el fuego. Barcelona: Edhasa. Cortázar, J. 71979 "Final del juego." In: Ceremonias. - Barcelona/Caracas/ Mexiko: Seix Barral. Cortázar, J. 1987: Bestiario. Madrid: Ediciones Alfaguara. Cortázar, J. 1990: Las armas secretas. Madrid: Ediciones Cátedra. Cortázar, J. 1991: Rayuelo. Madrid: Ediciones Cátedra. Cortázar, J. 1994: Obra crítica. Madrid: Ediciones Alfaguara, Bd. 1 - 3. SEKUNDÄRLITERATUR Alazraki, J. 1983: En busca del unicornio: Los cuentos de Julio Cortázar. Madrid: Editorial Gredos. Anderson, B. 1990: Julio Cortázar: La imposibilidad de narrar. Madrid: Editorial Pliegos. Berg, W. B. 1991: Grenz-Zeichen Cortázar. Leben und Werk eines argentinischen Schriftstellers der Gegenwart. Frankfurt a. M.: Vervuert. Caillois, R. 1959: Au coeur du fantastique. Paris: Gallimard. Caillois, R. 1966: Images, images ... Paris: José Corti. Cruz, J. G. 1988: Lo neofantástico en Julio Cortázar. Madrid: Editorial Pliegos. Dellepiane, A. B.: "Julio Cortázar - der «revolutionäre» Erzähler." In: Strausfeld, M. 1976; 21989: Lateinamerikanische Literatur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 240-275. Filer, M. E. 1970: Los mundos de Julio Cortázar. New York: Las Américas Publ. Co. García Canclini, N. 1968: Cortázar, una antropología poética. Buenos Aires: Nova. Grivel, Ch. 1983: "Le fantastique." In: Mana. Mannheimer-Analytika, (N°l).

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Harss, L. 1968: "Julio Cortázar o la cachetada metafísica." In: Los nuestros. Buenos Aires: Ed. Sudamericana, 252 - 300. MacAdam, A. 1971 : El individuo y el otro. Crítica a los cuentos de Julio Cortázar. Buenos Aires: La Librería. Roy, J. 1974: Julio Cortázar ante su sociedad. Barcelona: Península. Sola, G. de 1968: Julio Cortázar y el hombre nuevo. Buenos Aires: Ed. Sudamericana. Sosnowski, S. 1973: Julio Cortázar: una búsqueda mítica. Buenos Aires: Noe. Todorov, T. 1970: Introduction à la littérature fantastique. Paris: Seuil.

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"DAS ANDERE IN DER ZEIT UNSERES EIGENEN DENKENS DENKEN": PHANTASTISCHES FABULIEREN IM SPANISCHEN REALISMUS Nur durch Vergessenheit kann der Mensch je dazu kommen zu wähnen, er besitze eine 'Wahrheit' [. . .]. Wenn er sich nicht mit der Wahrheit in der Form der Tautologie, das heißt mit leeren Hülsen begegnen will, so wird er ewig Illusionen für Wahrheiten einhandeln. F Nietzsche In: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn

I DER ORT DES PHANTASTISCHEN UND DES REALISMUS IM XIX. JAHRHUNDERT Als der spanische Roman in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts mit Texten hervortrat, wie es sie so zahlreich und paradigmenbildend in dieser Gattung seit den Siglos de Oro nicht mehr gegeben hatte1, war der Begriff des Realismus, unter dem sie zusammengefaßt wurden, in anderen europäischen Literaturen längst auf Grund einer polemischen Opposition zur Romantik und zu all ihren übersinnlich-phantastischen Varianten definiert worden (Borgerhoff 1938). Galt diese als Sammelbezeichnung für Texte, die sich einer genauen Beobachtung der Wirklichkeit entziehen und Produkte einer fabulierenden Phantasie sind, so war Realismus nicht nur ein deskriptiver Begriff. Aus ihm hatte sich vielmehr in Frankreich auch ein Diskurs "gegen idealistische und romantische Kunstauffassungen" (ibid.) entsponnen, der "oft als Antithese zur 'Romantik' verstanden" wurde (Engelhardt/Roloff: Bd. 2: 8). Wirklichkeitstreue Darstellung befindet sich hier in einem ausdrücklichen Antagonismus "zu idealisierender Verklärung und traumhaft-dämmernder romantischer Phantasie" (Wilpert: 618). So ist unter französischen Literaten immer wieder die Forderung zu hören, der Roman solle sich an einem Wahrheitsbegriff orientieren, an "le vrai" oder an "la vérité" (Höfner: 117), der sich in seiner Wertigkeit zunehmend gebieterischer der Fiktion überzuordnen scheint (ibid.). Desnoyers bezeichnet den Realismus etwa als "la peinture vraie des objets" (Desnoyers: 197 in Engler: 42), die es dem Schreibenden nicht erlaube, noch so häßliche Zeitgenossen in einen Gehrock "à

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Narcisse ou à Apollon" (Desnoyers: 197 in Engler: 43) zu stecken. In Erweiterung der Spiegelmetapher Stendhals verweigert er sich einer Poetisierung der Wirklichkeit und reklamiert das Recht der Spiegel in Malerei und Literatur. Daher trifft auch die Inspiration nicht mehr den skeptischen Geist der Zeit, ist sie doch häufig genug nichts als ein ideologisches Apriori, eine "exaltation factice que l'on s'est donnée volontairement et qui n'est pas venue d'elle-même" (Flaubert: 420). Im Anspruch, die Dinge so darzustellen, "comme elles ont réellement existé ou comme elles auraient dû exister, suivant les caractères et les situations des caractères" (zit. in Krauss:71) kontrastiert ein 'expérience' und 'observation' abgewonnenes Schreiben am deutlichsten mit dem der Romantik, welches gerade 'inspiration' und 'imagination' eine tiefere Wahrheit unterstellt (Becker) und in dieser Hinsicht als ihre schwärzeste Seite mit der phantastischen Literatur koinzidiert. Typologisch läßt sich der Realismus im XIX. Jahrhundert damit am Versuch messen, im Rahmen eines möglichst umfassenden Weltbezuges ein Ensemble gesellschaftlicher Typen zu schaffen. Außerdem wird er dem romantischen Schreiben, das sich im Außerordentlichen, Ungewöhnlichen und Einzigartigen gefällt, eine Welt gegenüberstellen, deren Gesetze "im Ordentlichen, Regelmäßigen, Wiederholbaren" bestehen (Demetz: 31). Nicht große Helden werden die Seiten realistischer Romane füllen, sondern strukturell determinierte Typen, wie sie schon in Scotts Zeichnung der "passions common to men in all stages of society" wie jener "of those scenes which are passing daily before our eyes" (Scott: 33 36 (Vorwort)) zu finden waren und sodann mit Physiognomie und Charakter als wissenschaftlicher Forschungsgegenstand in einen durchgängigen Kausalzusammenhang gestellt werden (Grivel: 83 - 141). So meldet sich die provozierende Frage, ob realistisches Schreiben, dessen ästhetische Grundlage im XIX. Jahrhundert auf dem "Richtigstellen und Abstandnehmen von den Überspitzungen, etwa von Ekstasen, Fanatismen und Mysterien" beruht und gelegentlich auch "die Mediokrität" bejaht (Wais: 249), nicht in Terminus 2 und Grundsatz bereits eine Abweisung des Phantastischen, Übernatürlichen oder Unheimlichen nach sich zieht (Cuddon: 774). Wenn dem so ist, wie aber kommen dann trotz der scheinbaren Logik dieser Gegensätze realistische Autoren wie Pérez Galdós 3 oder Clarín" dazu, das Phantastische nicht allein

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zum dominanten Diskurs in einer Reihe ihrer Kurzgeschichten zu machen, sondern dessen Elemente auch in die Erzählstruktur ihrer großen Romane aufzunehmen? Dieser bewußt antithetisch gesetzte Ausgangspunkt, der sich in der romantischen Ironie dem Schlegelschen Gefühl der Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung verdankt, soll uns zunächst zur Erkundung des epistemologischen Standortes fuhren, wie er die Erzählung des Phantastischen im spanischen Realismus bestimmt. Todorov, der ähnlich wie bekannte französische Untersuchungen bzw. Sammlungen in seinem primären Korpus vorrangig auf französische Texte Bezug nimmt, hat das Phantastische im XIX. Jahrhundert als "la mauvaise conscience" (Todorov: 176) einer szientistisch-positivistischen Epoche bestimmt, die im Sinne Comtes alle Erscheinungen der Wirklichkeit "par l'usage bien combiné du raisonnement et de l'observation" (Comte: 4) erkennen will. Spekulative oder gar metaphysische Begründungszusammenhänge sollen damit aus dem Erkenntnisprozeß ausgeschlossen sein. So ermöglicht das Phantastische auf Grund dieses historischen Aprioris einen Diskurs, dem sich ein zu weitgehender Referentialität verpflichtetes Schreiben nicht in gleichem Maße zuwenden konnte. Der ImmoralismusProzeß gegen die französische Literatur im 19. Jahrhundert zeigt, daß nicht wenige Texte von Zensur, Invektiven und anderen Ausschlußmechanismen betroffen waren, die im weitesten Sinne unter dem vielgeschmähten Terminus des "réalisme", der "littérature infame" (Heitmann: 40) subsumiert wurden. In die Phantasmagorien der Vampire, Doppelgänger und Geister, den Erscheinungen, Metaphern und Manien kleidet sich aber nicht nur eine Sprache, deren Oberfläche die Spuren ihres Wirklichkeitsbezugs dem prüfenden Blick von Zensoren zu entziehen bemüht ist. Im Phantastischen werden zudem einer auf Faktizität und Wissensakkumulation ausgerichteten Sprache eine nichtkonventionalisierte Diskursivität abgetrotzt, wie etwa das sexuelle Begehren, der Wahnsinn oder die Träume (Todorov, Kap. VII u. VIII). Eine im Normalitätsprofil befangene Macht, die im Zugriff auf die Objektwelt hinter dieser zu verschwinden vorgibt, wird demgegenüber zwangsläufig in einem statischen, von Sachzwängen bedingten Realitätsbegriff Legitimierung ihrer selbst suchen. Ihre Diskurse werden nun ihrerseits in dem Maße eine

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noematische Funktion übernehmen, wie sie in der Lage sind, sich der Welt der Dinge vermittels der Welt der Sprache zu bemächtigen. Da sich aus dem Konzept der Wirklichkeit zugleich auch Strategien ihrer Veränderbarkeit ermitteln, wird sich diese Macht nicht auf eine Antike berufen können, in der "das Wirkliche sich als solches von sich selbst her präsentiert" (Blumenberg: 40), Unmittelbarkeit und Präsenz der Erscheinungen also stets evident sind. Sie muß ein Bündnis mit den exakten Wissenschaften eingehen, die die Realität in einem ständigen Prozeß durch nähere Bestimmung ihrer Gesetzmäßigkeiten erst evident machen und ihr selbst Legitimation verleihen. So muß ein unausweichlicher Konflikt entstehen zwischen jener Vernunft, die den Spielraum des Phantastischen 5 mit einem zusehends dichteren Netz von Naturgesetzen, wirtschaftlichen Effizienzkriterien und soziologischen Bestimmungsmodi tendenziell einengt und jenen Diskursen, die sich diesem integrativen Zugriff verweigern und so zum Schweigen verurteilt werden (Foucault 1993: 8). Trotz dieser und anderer zahlreicher Verstreuungen, in denen sich der phantastische Diskurs wiederfindet, hat Todorov ihn auf eine temporäre Erscheinung reduziert. Seiner Analyse folgend, schwinden dessen Voraussetzungen im XX. Jahrhundert in dem Maße, wie sich die Grenze von Realem und Irrealem selbst in Frage stellt und ein Überschreiten dieser Demarkation in den verschiedensten Kombinationen und Zusammensetzungen ins Leere liefe. 6 Zwar schränkt Todorov die Wirkung des phantastischen Diskurses und seiner benachbarten Gattungen des "Unheimlichen" und des "Wunderbaren" nicht auf das ausgehende XVIII. und XIX. Jahrhundert ein. Die Auswahl seines primären Textkorpus legt jedoch nahe (Todorov: 185 - 186)7, daß es ihm besonders auf den bezeichneten Zeitraum ankommt, der nach seinen Worten ganz im Bann einer "métaphysique du réel et de l'imaginaire" (Todorov: 176) lebe. Doch gerade hier muß sich Widerspruch melden: Die von Todorov vorgenommene Einteilung scheint weit mehr einem anderen historischen Ort entlehnt zu sein, dem aufklärerischen Anspruch auf Transparenz in "the Age of Reason" (Clayton: 75) nämlich, das die Vernunft mit der Zurückweisung des Übernatürlichen und Phantastischen identifiziert, weil deren illusionsbildende Wirkung nur dem Geschmack von Despoten entspreche (Voltaire: 29 - 30

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bzw. 87)8. Die romantische Suche nach dem Verborgenen und Dunklen, wie sie sich in den nächtlichen Seiten des Lebens ankündigt und gegen den abstrakten Universalismus der Aufklärung aufbegehrt, ist wiederum nicht das irrationale Residuum eines unerschütterlichen rationalen Systems, sondern eine tiefangelegte Skepsis in dessen Allgemeingültigkeit. Ist hier denn nicht das von Novalis formulierte Vermögen am Werk "eine fremde Individualität in sich zu erwecken", um jene verborgenen Fähigkeiten des Menschen aufzudecken, "die durch die rationalistische Verstandeskultur verschüttet" sei? Mehr noch: Trägt dieses Vermögen nicht unmittelbar dem Hintersinn des Phantastischen Rechnung, "die Möglichkeiten des Menschen zu entwickeln, um das ganze Wesen der Welt, ihre unsichtbare Ordnung zu erfassen" (Habicht/Lange: 49)? Und ist es in diesem Zusammenhang nicht aufschlußreich, daß in einer explorativen und kolonialen Bildersprache lange vor Freud auf das "ungeheure Reich des Unbewußten, dieses wahre, innere Afrika" (Paul: 1182) hingewiesen wird. Die hier vorgetragenen Postulate korrespondieren augenfällig mit jener coupure d'episteme, die sich an der Wende des XVIII. zum XIX. Jahrhunderts abzeichnet. Denn mit der großen transzendentalen Wende, die sich in Kants Kritik der reinen Vernunft vollzieht, eröffnet sich den nachfolgenden Diskursen in Philosophie und Literatur (Coreth: 9.) eine neue Metaphysik der Zweiheit von sinnlicher Anschauung und Verstandesdenken9. Unter diesen Voraussetzungen geht eine konturierte räumliche Dimension in das Erzählen ein, das nun "den unmöblierten Contes des 18. Jahrhunderts" die "möblierten Romane des 19. Jahrhunderts" folgen läßt (Demetz: 34) und damit dem Phantastischen als körperliche Erfahrung und komplexe seelische Ich-Struktur eine besondere narrative Bedeutung verschafft (Schneider: 10). Wie kann die phantastische Literatur also auf eine moralische Konstante reduziert werden, wenn sie doch gerade die unterirdisch wirkende Unvernunft der Obsessionen, Triebhaftigkeiten, Tag- und Alpträume diskursiviert und damit sichtbar macht? Diese körperlich-seelischen Äußerungen legen vielmehr nahe, daß die Dispositionen im Wissen der Zeit Übergänge zwischen unterschiedlichen Erkenntnismodellen sowie zwischen institutionellen und vorrationalen Wissensformen zuließen? Ist nicht vielmehr die Ordnung des Wissens im XIX. Jahrhundert für die Verstreutheit des Phantastischen

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verantwortlich, und sind es nicht gerade die Leerstellen dieses Systems, die dem Wirklichkeitssinn des Menschen auch einen Möglichkeitssinn eröffnen? Weiter gefragt, ist die Heterogenität des Phantastischen und seine Tendenz sich zu verflüchtigen nicht sogar ein Indiz dafür, daß diese Ordnung und das sie bedingende Erkenntnisprinzip in der bloßen Verstandestätigkeit keine existentielle Sicherheit mehr findet, die bei Descartes noch konstitutiv war10 und vor bösen Geistern und ihren Chimären bewahrte? Auch verdeutlicht kein geringerer als Comte selbst die Bruchstellen seiner Methode, wenn er die Erklärung des positiven Wissens auf eine Verbindung zurückführt, die zwischen den verschiedenen Erscheinungen und "quelques faits généraux, dont les progrès de la science tendent de plus en plus à diminuer le nombre" (Comte: 4) bestehe. Somit spielen also immer unbekannte Größen eine, wenn auch nicht unbedingt intendierte Rolle, die wenigstens den realistischen Roman nachweislich immer wieder dazu zwingen, den gesicherten Boden des comment und das Erkennen der "cause prochaine" zu verlassen, um sich den Spekulationen des "déterminisme des faits" zuzuwenden und in die von den positiven Wissenschaften kaum ausgeleuchtete Zone der Metaphysik zu treten (Müller: 59 77)? Die Grenzen und Möglichkeiten einer gesicherten Repräsentation der Realien im realistisch-naturalistischen Roman werden gerade dann überschritten, wenn dem Erzähler die nachhaltige Scheidung von Realität und Imagination zur Gewißheit geworden ist, wie etwa an Flauberts phantastischem Historienroman Salammbô zu ermessen ist (Desan: 15 - 24). So dürfte eine unwandelbare äußere Wirklichkeit im positivistischen Zeitalter schon deshalb umstritten sein, weil diese nicht mehr nach dem Prinzip äußerster Transparenz funktionieren kann und entgegen dem Postulat Comtes doch nach "l'origine et la destination de l'univers" (Comte: 4) gefahndet wird. In diesem Sinne erscheint es auch nicht verwunderlich, daß in der Debatte um die poetologischen Grundlagen des realistischen Romans in Frankreich immer wieder die Frage nach der globalen Darstellbarkeit der Subjekt- und Objektwelt im Mittelpunkt steht (Höfner: 119). Wir können also zusammenfassend sagen, daß das Phantastische "as an investment of unconscious desire" gegenüber dem zweckrationalen Denken (Clayton: 71) seinen Platz somit in jenen Brüchen einer Vernunft findet,

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die eine andere ausschließen will, aber doch überschneiden muß, in Diskursen, die weit auseinanderliegen und sich dennoch unversehens begegnen, in symbolischen Formen (Cassirer: 175)", die sich überraschend durchdringen, obwohl sie einander abstoßen müßten.12 Auf der epistemologischen Ebene müßten wir das Phantastische in der Relation zwischen empirischen und jenen nichtbeweisbaren Elementen verorten, die sich in die dunklen Zonen des Unsichtbaren und Inkontingenten zurückgezogen haben. Erheben die Biologie, Ökonomie und Philologie den Anspruch, Transparenz und Helligkeit in diese dem unmittelbaren Blick entzogenen Tiefen der menschlichen Existenz zu bringen, "ces phénomènes ... [qui] se passent dans une sphère inaccessible à l'observation humaine" (Barthes 243), um auf diese Weise ein allumfassendes Bild vom denkenden und sich selbst schaffenden Menschen zu entwerfen, so könnten sich im phantastischen Diskurs schon jene Sprachen artikulieren, die sich dem Zwang zur zweckrationalen Repräsentation ebenso entziehen wie dem zur Subjekthaftigkeit. Folglich könnte das Phantastische in der Problematisierung von Wahnsinns- und Traumgebilden ein neues Wissen antizipieren, das im ausgehenden XIX. Jahrhundert, dem "noch dunkelsten aller bisherigen Jahrhunderte der Neuzeit" (Heidegger 7 1994: 99), in den 'Gegenwissenschaften' der Psychoanalyse, der Ethnologie und der Linguistik die Grenzen des bislang herrschenden anthropologischen Denkens überschreitet. Es wäre denkbar, daß damit eine weitreichende Selbstreferentialität der poetischen Sprache ihr Spiel beginnt, die sich dem Dialog mit "der glücklichen Welt der Lust" öffnet, um deren "tragische Abtrennung" von der abendländischen Vernunft zu überwinden (Foucault 1993: 10). Wie aber könnte ein solch subversives Spiel im Zeitalter des Positivismus am ehesten möglich sein, als durch eine Überlagerung differenter Erkenntnismodelle, welche die absolute Dominanz des "Homme, ses désirs et espoirs" (Renan: 308), und seiner tendenziell nach Eindeutigkeit konstruierten Aussagen über die menschliche Existenz zurückweist und damit auch die Überlegenheit des tiefendimensionalen Epistems in Frage stellt? Diese Überlegung setzt allerdings eine flexible Anordnung fundamentaler Erkenntnismodelle voraus, um deren ausschließliche Zuordnung nach definitiven historischen Epochen zu vermeiden. Anders als in La volonté du savoir, in dem der moderne Rassismus bekanntlich als Kombination und Überschnei-

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dung machtstrategischer Verknüpfungen bestimmt wird (Foucault 1976: 177 - 211), erweckt Les mots et les choses durch seine Anordnung zumeist den Eindruck, als ob die einzelnen Episteme in einer chronologischen Reihenfolge organisiert und durch jeweils feste Brüche voneinander getrennt wären, wie Foucault sie für das Ende der Renaissance oder für die Wende vom XVIII. zum XIX. Jahrhundert nachweist. Die Einteilung der Geistesund Wissenschaftsgeschichte in abgezirkelte Zeiträume und die Situierung des Denkens sind notwendigerweise ein provisorisches Unternehmen, das erst mit einer fundierten Archäologie des Denkens an Sicherheit gewinnen wird: Toute limite n'est peut-être qu'une coupure arbitraire dans un ensemble indéfiniment mobile. Veut-on découper une période? Mais a-t-on le droit d'établir, en deux points du temps, des ruptures symétriques, pour faire apparaître entre elles un système continu et unitaire? D'où viendrait alors qu'il se continue, d'où viendrait ensuite qu'il s'efface et bascule? A quel régime pourraient bien obéir à la fois son existence et sa disparition? S'il a en lui son principe de cohérence, d'où veut venir l'élément étranger qui peut le récuser? Comment une pensée peut-elle s'esquiver devant autre chose qu'elle-même? Que veut dire d'une façon générale: ne plus pouvoir penser une pensée? Et inaugurer une pensée nouvelle? (Foucault 1966: 64)

Foucault untersucht die ressemblances als ein Erkenntnismodell des Wissens "[qui] a joué un rôle bâtisseur dans le savoir de la culture occidentale ... jusqu'à la fin du XVIe siècle" (Foucault 1966: 32). Damit gibt er jedoch zu erkennen, daß ein Epistem nach dem Verlust seiner dominanten Stellung in den folgenden Epochen fortwirkt und in eine Wechselwirkung mit anderen kognitiven Schemata tritt, vor allem mit jenem, das das Verhältnis der Worte und der Dinge neuen Regeln unterwirft. Die Ähnlichkeiten, die die Gesamtheit der Zeichen aus der Omnipräsenz des höchsten Wesens deuten und sich auf diese Weise fest umrissene Erkenntnispotentiale erschließen, werden von der neuen Ordnung an die Grenzen neuzeitlichen Wissens gestoßen und in den Status "[de 1']imagination, [des] répétitions incertaines, [des] analogies embutées" (Foucault 1966: 85) gerückt. Als ein Erkenntnismodell einer alten Welt, das sich zwischen dem XVI. und XVII. Jahrhundert mit allen alten Ritterbüchern auf die Reise in die Zeit eines anderen Wissens begibt und in der es nunmehr selbst für die Geistlichkeit zu einem verkehrten Zeichen wird, darf Don Quijote gelten. Wie Foucault schreibt, ist das ganze Wesen dieses

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Ritters nur Sprache, Text, bedrucktes Papier und bereits geschriebene Geschichte (Foucault 1966: 6 0 - 61). Vereinte er mit seinem erzählerischen Fundus an Inseln auf dem Mond, göttlichen Fügungen, mysteriösen Flüchen, hinterlistigen Zwergen und selbstlosen Helden seit dem Ausgang des Mittelalters ein Identifikationsangebot, als das Wunderbare noch alltägliche Erscheinungsform war und den Pandeterminismus des Menschen begründete (Schneider: 15 - 44), so gelten seine Zeichen nun als "närrische Denotate" (de Tora: 248) und als traurige Zeugen seines angeblichen Wahnsinns. Da er den Kampf um die Übereinstimmung der Worte mit der Wirklichkeit, so wie sie eine ihm fremde Zeit versteht, nicht gewinnen kann (Fuentes: 110), beziehen sich diese nur auf sich selbst, werden als phantastisch angesehen oder in die Welt der Märchen verwiesen, an der im Fortschreiten der Neuzeit vor allem noch der Kinderglaube Anteil nimmt. Aber auf Grund der Überlagerung der Episteme hat das Wunderbare als Urform des Phantastischen im Don Quijote keine solche Bedeutung mehr wie im Amadisroman. Die berühmten Kavalkaden gegen Windmühlen, die er für Riesen hält; die Hammelherden, die ihm als zwei feindliche Armeen erscheinen; Gastwirtschaften, die für ihn die Gestalt von Festungsanlagen annehmen; eine stämmige und grobe Bäuerin, in der er die Dame seines Herzens erblickt - all diese Abenteuer sind Außenaufnahmen seiner "perspectiva interior" (Urza: 101 - 109), die die Defizite der Welt im Mangel ihrer Imagination einsichtig machen. Auf eine etwas andere Weise überkreuzen sich gegenläufige Erkenntnismodelle auch im XIX. Jahrhundert. Das kognitive Schema, nach dem Balzac das Tableau seiner Comédie Humaine organisiert, korrespondierte seinerzeit schon nicht mehr mit den Veränderungen, die sich auf der Ebene des Wissens vollzogen hatten: Dieser Auswahl (die mit Mystikern wie Swedenborg, Saint-Martin und Bonald Wissenschaftsverständnis und Darstellungsprinzipien von Balzacs Realismusbegriff betreffen) liegt offensichtlich noch eine recht herkömmliche Einteilung von Wissenschaft zugrunde, nämlich ein Gesamterkenntnissystem, in dem Wissenschaften, Künste, Philosophie, Religion usw. ihre wohlgeordneten Stellen und Zuordnungen hatten(...). Ein solches Einteilungsprinzip nach 'l'ordre et l'enchaînement des connaissances humaines' gehört dem 18. Jahrhundert und noch weiter zurückliegenden Zeiten an. (Höfner: 91)

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Die "unité de composition" oder das "grand Tout cohérent" (Nykgrog. 73), die dem Monismus der göttlichen Macht entspricht, kann zwar als Gesamterkenntnissystem postuliert werden. Eine Wirkung auf die narrative Praxis Balzacs wird dieser Anspruch aber kaum haben können, wenn sich in dieser erweist, daß die obengenannten Disziplinen in ihrer Einzelperspektivität auch nach unterschiedlichen Modalitäten des Denkens funktionieren und dessen jeweilige Erkenntnisse einander widersprechende Ergebnisse zeitigen können. Vertritt der Autor und Herausgeber der Comédie Humaine noch ein tableauartiges Gliederungsprinzip, dessen Metaphysik eine allseitige Präsenz garantiert, so hat seine écriture die von Foucault beschriebenen Veränderungen in der Epistemologie vollzogen und sich mit der Kritik an der analytischen Philosophie des XVIII. Jahrhunderts der Erkundung des univers intérieur zugewandt (Matzat 1990: 185ff). Indem die Einzelerkenntnisse der exakten Wissenschaften mit mystischen und philosophisch-spekulativen Einsichten, wie in La peau de chagrin ersichtlich, dann in einen engen Zusammenhang treten, wenn sich kohärente Lösungsansätze noch nicht anbieten bzw. dem impliziten Autor nicht zu Gebote stehen, öffnet sich der Raum des Phantastischen mit der nach Todorov so typischen Unschlüssigkeit bei Erzähler und Leser. Wiewohl Balzac sich der Möglichkeiten der modernen Wissenschaften bewußt war, so sehr meinte er auch deren Grenzen zu kennen, die, wie er im Vorwort von La peau de chagrin schreibt, allein von "les poètes ou chez les écrivains réellement philosophes" zu überschreiten seien, vor allem im Fall eines "phénomène moral, inexplicable, inouï, dont la science peut difficilement rendre compte" (Balzac: 9). Es handelt sich dabei für ihn um "une sorte de seconde vue", die den Dichter dazu verhelfe, in allen Situationen die Wahrheit zu erraten: "Ils inventent le vrai, par analogie, ou voient l'objet à décrire, soit que l'objet vienne à eux, soit qu'ils aillent euxmêmes vers l'objet" (Balzac: 9). Wenn Balzac als "le romancier de l'énergie et de la volonté" (Baudelaire) also die Ökonomie der Lebenskraft problematisiert, beschränkt er sich nicht nur darauf, den physikalischen Satz der Energieerhaltung zu übernehmen, wonach die Gesamtenergie in einem geschlossenen System konstant ist und verschiedene Energieformen sich ineinander umwandeln können. Er selbst erfindet diese Analogie, wenn er das Univer-

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sum als geschlossenes System auffasst, in dem jeder Mensch selbst im Spannungsverhältnis von Zeit und Vitalität zwischen gesteigerter Existenz und Lebensalter abwägen muß. Phantastische Imagination ist damit mehr als bloße romantische Einbildungskraft: sie ist eine andere wissenschaftliche Erkenntnisweise, die wie ihre naturwissenschaftlichen oder mystischen Entsprechungen ihre Beiträge zur Erkundung einer weitverzweigten Wahrheit leistet und sich damit jener 'glücklichen Welt der Lust' nähert. Mußte schon die zeitliche Situierung der Erkenntnismodelle, die ihrer Rekonstitution nach bekanntlich im Wesentlichen auf französische, deutsche und englische Quellen rekurriert, Probleme aufwerfen, so stellt es sich im Rahmen des spanischen Kultursystems nicht weniger problematisch dar, mit einer unterschiedslosen "epistémé occidentale" zu operieren (Bomio: 37). Schafft das Spiel zwischen neuem und nichtabgegoltenem Wissen im XVI. und XVII. Jahrhundert nicht eine Synchronität von Lebenshaltungen, welche sich in einer merkwürdigen, nahezu phantastisch anmutenden Kombinatorik mitteilen, obwohl diese sich ihrer uns logisch anmutenden Struktur nach eigentlich ausschließen müßten: die Skepsis in die Krisenerscheinungen der Zeit und deren Neutralisierung im Bewußtsein christlicher Heilsgewißheit, wie Gumbrecht sie als Theatralisierung der Welt anhand der festlichen Repräsentationen im spanischen Barock geltend macht (Gumbrecht: Bd. I., 350 - 388)? Haben wir es vielleicht hier mit einer neuzeitlichen Rationalität zu tun, die sich bis in die Moderne hinein nur widerstrebend aus der göttlichen Kosmologie verabschieden will und sich in einer ständigen Spannung mit dieser befindet wie einst der traurige Ritter aus La Mancha? Clarín, einer der für unseren Zeitraum repräsentativsten Autoren, drückt diese Spannung so aus: Como filósofo era yo más católico que el papa; pero en la práctica, en punto a curas y a sacristanes, no era posible cerrar los ojos a la evidencia, y mi volteranismo acerca de este particular crecía de día en día. Por eso era yo liberal, y, sin embargo, católico; y en los dolorosos esfuerzos que a mi inteligencia y a mi corazón costaba esta autonomía aparente, como decía yo, armaba yo un aparato de armonía, que a mí me parecía perfecto, subido, invulnerable; bien es verdad, que como Don Quijote cuando por segunda vez compuso la celada, yo no me atrevía a probar la fortaleza de aquella armonía [...]. 1 3 (Alas: 1 7 0 - 1 7 1 zit. nach Pérez Gutiérrez: 277)

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Ein ähnliches Spiel in der Kombination eines späten und gleichzeitigen Wissens finden wir auch in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts, in dem die auf K. Chr. Fr. Krause zurückgehende Philosophie (und der deutsche Idealismus) als "transition between the late Enlightenment and early Romanticism at the turn of the eighteenth and nineteenth Century" in Spanien gerade dann ihre Klimax erreicht, als auch biologistische und darwinistische Konzepte in öffentlichen Foren diskutiert werden (Sala Catalá 1987). Zudem gehört die Verschränkung theologischer und wissenschaftlicher Studien noch bis 1843 zur akademischen Norm, und erst zwölf Jahre später öffnet eine naturwissenschaftliche Fakultät ihre Tore, "por vez primera separada de filosofía y letras" (Peset in Lopez Piñero 1992: 35). So kommt es zu einer seltsamen Überschneidung dessen, was Bloch die Heil- und die Unheilslinie in der abendländischen Philosophie nennt (Bloch: 355 - 357). Diesem "marcado carácter 'literario'" des spanischen Kultursystems ist es wohl auch zuzuschreiben, daß die Polemiken über die Vereinbarkeit von Wissenschaft und Glauben ihren Schwerpunkt vor allem auf ethische Gesichtspunkte legen (Sala Catalá o.J.: 158), die Debatte in den Grenzen der Einzeldisziplinen also tendenziell in den Hintergrund trat (Matzat 1995: 21).14 Das Neben- und Ineinander verschiedener epistemologischer Dispositionen wird an einem Ort wie der Literatur und im Spanien der Restaurationszeit gerade im Roman, "el género literario más adecuado al espíritu y tendencias de los tiempos presentes" (López-Morillas 1972: 17), einen privilegierten Ausdruck finden. Dies gilt freilich besonders für narrative Texte von Galdós, die in ihrer Entwicklung "el puente indispensable entre la literatura del siglo XVII y la literatura del siglo XX" schlagen (Benítez: 269)15. Es wird ihnen aber nicht allein einen "unbestimmten ontologischen Status" (Matzat 1995: 37) geben, in dessen Rahmen das krausistisch-aufklärerische Erkenntnismodell das anthropologisch-biologistische neutralisiert und ihm damit seine ontologische Grundlage nimmt. In der "Illusion moderner Alltäglichkeit" (Gumbrecht: Bd. I: 691 - 794), die der Erzähler mit Hilfe komischironischer Gesten und wertender Kommentare gegenüber seinen autonomen Figuren inszeniert, werden auch phantastische Effekte entstehen. Diese Elemente werden die Differenzen im menschlichen Wissen, Sprechen und Handeln indizieren: eine religiöse Sprache, die sich in ihrer Raum- und Zeitlosig-

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keit dem Denken in strikten Kausalitäten verschließt und in Metapher, Symbol, Analogie, Parabel und Paradoxon der Poesie nahekommt, der klassische Rationalismus und dessen tableauartig strukturierte Sprache (Foucault 1966: 8 6 - 91) sowie das tiefendimensional-historische Erkennen, das die "transzendentale Wende von objektiver Erkenntnis zu den subjektiven Bedingungen ihrer Möglichkeiten" (Coreth: 9) vollzogen hat und damit der Aporie des Subjekt-Objekt-Verhältnisses anheimfallt. II PÉREZ GALDÓS UND SEINE THEORIE DES ROMANS C'est le libéral, c'est l'ami des penseurs éclairés qui entreprend de dénoncer le mal, la sottise, l'obstination bornée des suppôts de l'Ancien Régime qui s'éternise en Espagne. Jean Starobinski In: Les emblèmes de la raison

Trotz dieser "Verknüpfung diskursiver Elemente unterschiedlichster Provenienz" (Matzat 1995: 43) ist nicht zu verkennen, daß für Autoren wie Pérez Galdós nicht nur ein Zuschreibungsverhältnis 16 zu ihren Texten in Anspruch genommen wurde. Vor dem Eindruck der Revolution von 1868, die noch den aufklärerischen "mythe solaire" (Starobinski: 31 - 37) in sich bannt, und vor der düsteren Vorstellung von der stetigen Dekadenz Spaniens als dem Land von Inquisition, Aberglauben 17 und den "cadáveres embalsamados" (Pérez Galdós 1951: 1541), entsteht mit dieser Dichotomie das Bedürfnis der Schreibenden, aus ihren Texten ausschließliche Sprachrohre ihrer Ideen zu machen. Dieses Konzept, das dem Subjekt des Autors ein hohes ethisches Aneignungsverhältnis zu seinem Text zuerkennt, aktualisiert im Spannungsfeld einer üppig gedeihenden Kultur von folietos und folletines die erzieherisch-moralische Funktion der Literatur im Sinne der raison, wie sie in der französischen Aufklärung zumindest dominant wurde: Tout Ecrivain est particulièrement lié à la justice d'une manière solemnelle & avant toute autre obligation. L'infraction de la justice est une injure faite au genre humain; voilà pourquoi tout Auteur digne de ce nom sent vivement le tort que l'on fait à son semblable; il ne peut le tolérer. Il est vengeur de la cause publique, & l'oppression qui est tombée sur son voisin, doit lui devenir personelle; il ne peut se dispenser

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d'élever la voix, & l'Ecrivain le plus estimé sera toujours celui qui réclamera avec plus de force, les droits imprescriptibles de la justice & de l'Humanité. (Mercier: 3)

Dem Postulat Merciers, den Schriftsteller als Repräsentanten einer allumfassenden justice einzusetzen, hätten wahrscheinlich Clarín und sicherlich auch Pérez Galdós zugestimmt. So ist mit E. Rodgers von einer "quasi or virtual Enlightenment in Spain" (Rodgers 1987: 15) in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts auszugehen, zumal in eben dieser Zeitspanne, dem französischen Paradigma nicht unähnlich, eine intellektuelle Streitkultur und damit tiefgreifende Veränderungen in den Mentalitäten auszumachen sind (Beyrie: 659 - 703). Ein weiteres Spezifikum im Spanien jener Zeit ist das Einbrechen biologistischer Determinanten in eine intellektuelle Kultur, die unabhängig von ihrer politischen Selbstauffassung noch von der Wirkmächtigkeit aufklärerisch-pädagogischer Ideen überzeugt ist. Ganz im Sinne der aufklärerischen Dispositionen, welche die auch für das Literaturinteresse so konstitutive Öffentlichkeit der Bildungseinrichtungen und Diskussionszirkel (Ateneos) in den Gegensatz von Wissenschaft und Religion bringen, fordert auch Galdós von der Literatur ihre Funktion als "enseñanza" und "ejemplo" wahrzunehmen. Noch 1912 gibt er sich als energischer Verfechter einer solchen Kunstauffassung zu erkennen (Rodgers 1987: 14). Die Folie, gegen die er anschreibt, erscheint ihm jedes authentischen Ausdrucks beraubt und somit der Verantwortung des Schriftstellers im Sinne von armas por letras entgegengesetzt: es sind dies die leere Rhetorik einer Romantik, die längst nicht mehr Synonym für Inspiration und Phantasie ist, weinerliche und sentimentale Gedichte (Antón del Olmet/García Carraffa: 93), die ihn schon als Schüler zum Spott ermuntern, gegen Harmonien, die der Dichter nicht hört, wohlriechende Gerüche, die er nicht einatmet, belebenden Schein, den er nicht wahrnimmt, unerklärliche und melancholische Glücksempfindungen, die sein von Grunde auf prosaisches Herz nicht mehr erfahren kann (Berkowitz: 1 1 2 - 114). Angesichts des Pathos einer unterdrückten Wahrheit erscheint es an dieser Stelle geraten, einige poetologische Ausführungen des Autors nach dessen Mimesiskonzept zu befragen, so daß aus dem Verhältnis zur Wirklichkeit auch jene Elemente explizit werden, die dem Anspruch nach als Phantasmagorien, übernatürliche

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Visionen und Aberglauben aus der narrativen Darstellung auszuschließen sind. In seinen 1870 erschienen Observaciones sobre la novela contemporánea en España grenzt sich Galdós vehement vom Typus des romantisierenden Populärromans aus Frankreich ab, der das spanische Lesepublikum in den immer zahlreicheren Feuilletons erreicht und es für die Beobachtung der seinerzeit so wandelbaren Wirklichkeit ebenso unempfänglich macht wie die spanischen Autoren selbst. Wie einstmals Cervantes, der seinen Erzähler im Quijote mehrfach zum Kampf gegen die Autorität der als inhaltslos und phantastisch empfundenen Ritterromane ermunterte18, sieht sich Pérez Galdós nun, wie Montesinos bemerkt, mit der unleugbaren Macht des Feuilletons konfrontiert (Montesinos: 1). Der Überpoetisierung der Wirklichkeit in Cuentos de color de rosa, "fantásticos, sensibleros y demasiadamente moralizadores" (Cejador y Frauca: 46), die auch in Spanien den gänzlich automatisierten Bildern romantischer Lagunen folgen, will er mit einer spezifisch ethisch-didaktischen Ausrichtung des Schreibens begegnen. Dem Autor obliegt es, eine zivile Funktion übernehmen, wie sie schon von dem einflußreichen spanischen Pädagogen Giner de los Ríos als Ergebnis einer produktiven Wechselbeziehung von Ästhetik und Ethik definiert wurde. Der Anspruch auf authentische Transkription der Subjekt- und Objektwelt im Zeichen der "escuela realista a que nos honramos en pertenecer" {La Nación, 12. Januar 1868) soll jedoch mitnichten ein naives Verständnis beliebiger Reproduzierbarkeit in sich fassen. Im schöpferischen Imaginieren ist dieses Konzept vielmehr um eine kritische Auswahl jener Wirklichkeitselemente bemüht, die den Leser zum aktiven Teilhaber einer kritischen Vernunft machen können (López-Morillas 1973: 133). Eine didaktische Erzählhaltung ist dabei ebenso wenig ausgeschlossen wie sentimentale Sequenzen in der Zeichnung der Figuren und Räume, sofern diese der Idee, der These oder dem Argument des narrativen Konstruktes untergeordnet und förderlich sind. Und dies sind "escapism and over-indulgence of imagination" (Rodgers 1987: 14) freilich nicht. Galdós' Theorie zufolge, konstituiert sich mit einer neuen Mittelklasse, "la más olvidada por nuestros novelistas [...] el gran modelo, la fuente inagotable" (Pérez Galdós 1990: 112, s. u.)19, auch eine neue Literatur, die deren

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Rolle als revolutionäres Subjekt der Gesellschaft so nachzugestalten hätte, daß Unarten nicht weniger als Tugenden, Veränderungen nicht weniger als intellektuelle Unrast erfaßt werden. Diese sozial hybride Klasse verdankt sich selbst einer neuen gesellschaftlichen Dynamik und Mobilität, die bereits für Balzac Ausgangspunkt von wechselhaften Biographien wiederkehrender Figuren waren und mithin Handlungsfülle bewirkte. Auf Grund ihres Unternehmungsgeists und ihrer Intelligenz vertritt diese soziale Gruppe die Souveränität der Nationen, läßt sich demnach durch eine selbstbewußte Subjekthaftigkeit bestimmen, was folglich ein Denken in sicheren Kategorien implizieren müßte. Das Modell einer écriture findet Galdós in den "cuadros de costumbres" (Ibid: 113)20, die seiner Meinung nach die Forderung der Epoche weitgehend einlösen. Kurze und handlungsstringente Erzählungen, wie sie schon Ventura Ruiz Aguilera mit seinen Proverbios ejemplares vorlegte, erfüllen aus seiner Sicht den Anspruch auf Transparenz und Schlichtheit. Ausdrucksund Darstellungsfunktion ihrer Sprache können somit ganz dem Appell an den Leser dienen. Diese erzählerischen Serien ermöglichen es der realen Gesellschaft, sich in der imaginären wiederzuerkennen, um mit deren Hilfe ein Korrektiv zu finden: Nada de abstracciones, nada de teorías; aquí sólo se trata de referir y de expresar, no de desarollar tesis morales más o menos raras, y empingorotadas; sólo se trata de decir lo que somos unos y otros, los buenos y los malos, diciéndolo siempre con arte.21 (Ibid: 116.)

Die ästhetische Arglosigkeit, mit der Galdós hier vermeint, die Wahrheit "aus der Weltsicht" der clase media "ohne jegliche Skepsis" (Gumbrecht, Bd. I.: 740) im realistischem Schreiben nachzuzeichnen, macht allzu deutlich, daß das Gelingen der Wirklichkeitserfassung noch immer auf der Gewißheit einer universellen Erkenntnisleistung beruht. Die Vorstellung, daß sich die Wahrheit über die Menschen stets in der Unmittelbarkeit der Realien mitteilt und mit einer ungeheuren Durchsichtigkeit auch eine gleichzeitige Einsichtigkeit in sich selbst vermitteln kann, stützt sich auf das im französischen âge classique dominanten Verhältnis von Signifikat und Signifikanten, in dem die Ordnung der Dinge durch die Ordnung der Zeichen selbst geregelt ist. Am Horizont dieses Zeitalters wird somit die Utopie einer gänzlich trans-

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parenten Sprache sichtbar, die imstande ist, das Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem durch die Ordnung der Zeichen selbst zu regeln und somit Dinge durch Bilder oder Zeichen in der menschlichen Vorstellung immer wieder zu vergegenwärtigen. Einem solchen Sprachkonzept ist auch die hier eingegangene Epistemologie verpflichtet, die noch nicht dem im XIX. Jahrhundert dominanten tiefendimensionalen Erkenntnismodell entspricht. Phantastische Erscheinungen müssen sich unter diesen Voraussetzungen wie bloße Trübungen jener Repräsentation ausnehmen, wie Hirngespinste und groteske Irrungen, die vom Mangel eines klaren Verstandes herrühren. Ähnlich Balzac in seinem Avant-Propos, der nach eigenem Bekunden für Pérez Galdós eine wesentliche Rolle in seiner literarische Entwicklung spielte (Pérez Galdós 1951: 1656), ist man noch ganz vom Anspruch getragen, Sekretär der Gesellschaft sein zu können, um sie wie ein minutiöser Buchhalter in die Bestandsliste inventarisieren zu können. Während wir bei Balzac jedoch eine Aufwertung der Eigengesetzlichkeit von Kunst konstatieren können, das 'Geistersehen' des Schriftstellers demnach eine immanente Wahrheit befördert, vertritt der junge Galdós in Anlehnung an das Tableauprinzip Balzacs die Evidenz einer präsenten Wahrheit, die im Schreiben allenfalls eine noch bewußtere Form mit dem Ziel der 'enseñanza' anzunehmen imstande ist. Hinsichtlich der Observaciones lassen sich also wesentliche Widersprüche ausmachen, die auch im Verhältnis von Realismus und Phantastik prägend sein dürften: einerseits die Forderung, die Urbane Mittelschicht als Stoff der Wirklichkeitsmodellierung zu erfassen, andererseits die Erkenntnis, daß deren Repräsentanten keine Typisierung mehr zulassen, einerseits das Primat äußerster Transparenz und Unmittelbarkeit, andererseits das schon im Krausismus angelegte Postulat, die Vernunft abstrakten Denkens mit der Sinnlichkeit unmittelbaren Fühlens in Ausgleich zu bringen. Betrachten wir nun einen Vortrag (Pérez Galdós 1990), den Galdós siebenundzwanzig Jahre später aus Anlaß seiner Aufnahme in die Academia española hielt und den wir im Gegensatz zu den Observaciones als Verarbeitung einer intensiven narrativen Praxis werten dürfen. Auch hier geht Galdós von der Konzeption eines mimetischen Realismus aus, welche aus der Sicht der europäischen Avantgardebewegungen des fin de siècle von einer geradezu konservativen Biederkeit gewesen sein mußte:

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Imagen de la vida es la novela, y el arte de componerla estriba en reproducir los caracteres humanos, las pasiones, las debilidades, lo grande y lo pequeño, las almas y las fisonomías, todo lo espiritual y lo físico que nos constituye y nos rodea, y el lenguaje que es la marca de la raza, y las viviendas, que son el signo de familia, y la vestidura, que diseña los últimos trazos externos de la personalidad: todo esto sin olvidar que debe existir perfecto fiel de balanza entre la exactitud y la belleza de la reproducción.22 (Pérez Galdós 1990: 159)

Wie schon zuvor versteht er den Roman als Nachformung des Menschen in seinen inneren wie äußeren Attributen und bedenkt Beobachtung und Poesie dabei mit jeweils komplementären Rollen. Allerdings wird man vergebens nach einem Nexus fahnden, der etwa die menschlichen Charaktere mit ihrer äußeren Erscheinung in Bezug treten lassen könnte, wie dies etwa dem Anspruch Zolas nahekommt, den "véritable mécanisme de la vie" in der Wechselwirkung des Einzelnen mit seinem Milieu zu suchen und dabei dem Faktor der "héridité" besondere Beachtung zu schenken (Zola: 1 ff). Was damals aus französischer Sicht eine Rüge auf Grund mangelnder Wissenschaftlichkeit und Eindeutigkeit verdient hätte, erscheint durch das "Fehlen einer eindeutigen epistemologischen Fundierung" in einer "Offenheit" (Matzat 1995: 43), die der gran novela eines Galdós, Clarín oder auch einer Pardo Bazán gerade in einem Zeitalter der Kritik an umfassenden Systemen23 eine besondere Aktualität verleiht. Wenn wir diese Erkenntnis auf die Verhältnisse in Politik, Religion und Gesellschaft beziehen, die dem Zeitgenossen Galdós schon Mitte der achtziger Jahre noch undurchsichtiger und perspektivloser anmuten mögen als vor dem Hintergrund der Gloriosa, dann zeichnet sich ab, daß eine Rekonstruktion der Wirklichkeit auch eine intuitive Leistung des Schriftstellers sein muß. In seinem Vortrag betont er nachgerade die Unsicherheit, in der sich die exakten Wissenschaften nicht weniger als die Literatur befanden, ohne dabei die Zuversicht zu verlieren, daß sich im Verborgenen noch ein Schlüssel finden müsse, der den Weg in die Zukunft öffne. Die metaphorische Wendung ins Religiöse - "alzar el velo tras el cual se oculta la clave de nuestros futuros destinos" (Pérez Galdós 1990: 160)24 - steht nicht für sich allein, wenn ein wenig später von einer "voz sobrenatural" (Pérez Galdós 1990: 161)25 gesprochen wird, deren Wegesangaben selbst bei den weisesten Zeitgenossen ungehört verhallen. Dabei gibt Galdós selbst zu erkennen, daß die Verhält-

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nisse mehr denn je von jener Transparenz entfernt sind, die möglicherweise einmal durch die "cohesión social" (Pérez Galdós 1990: 160) von Ständen, Kirche und Staat bewirkt oder in der Diktion der Observaciones noch durch die verheißungsvolle Dominanz der neuen Mittelklassen garantiert zu sein schien. Mit der Perspektivierung der Handlungsstruktur auf das städtische Bürgertum konnte die 'ästhetische Wahrheit', wie Gumbrecht mit Hinweis auf die ersten Episodios nacionales schreibt (Gumbrecht, Bd I.: 740), noch mit der 'historischen Wirklichkeit' zusammenfallen, doch nicht mehr, als mit dem gescheiterten Projekt der Revolution auch deren Subjekt aus dem narrativen Zentrum gedrängt wurde. Dabei erkennt Galdós in seinem Vortrag, daß die Physiognomien der Bevölkerungsschichten in dem Maße ihren analytischen Erkenntniswert verlieren, wie die moderne urbane Kultur das Netz lokaler und sozialer Besonderheiten zerschlägt und in allen Städten "la anhelada igualdad de formas en todo lo espiritual y material" erreicht (Pérez Galdós 1990: 162). Diese Gleichheit ist jedoch nicht das Ergebnis einer Revolution, wie sie sich Galdós noch fast dreißig Jahre zuvor von den Mittelklassen erhofft hatte, sondern eine Folge der Integration von Aristokraten und Bauern in dieses neue Bürgertum, das nun zwar Macht, Seele und Geist des gesamten Volkes bestimmt, ohne jedoch selbst über identitäre Symbole zu verfügen. Was bleibt, ist eine Gesellschaft, in der der Bürger sich selbst und anderen zum Despoten geworden ist: Todo ha cambiado. La extinción de la raza de tiranos ha traído el acabamiento de la raza de libertadores. Hablo de tirano en el concepto antiguo, pues ahora resulta que la tiranía subsiste, sólo que los tiranos somos ahora nosotros, los que antes éramos víctimas y mártires, la clase media, la burguesía, que antaño luchó con el clero y la aristocracia [... ]. 26 (Pérez Galdós 1990: 167)

Diese binäre Opposition hatte dem Thesenroman vielleicht seine historische Berechtigung verliehen; ihre Auflösung brachte nun aber eine andere Ordnung des Erzählens mit sich, die den "mit schier unerträglicher Schlichtheit" vorgetragenen "Topos prodesse und delectare" zumindest in seinem Anspruch auf narrative Erbaulichkeit relativierte und sich bereits in den skeptischen Erzählinstanzen seiner früheren Texte (z. B. Doña Perfecta) ankündigte. Was sich also im Vergleich zu den Observaciones verändert hat, ist die bewußtere Einblendung von seelischen und geistigen Prinzipien in jenen Pro-

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zeß, in dem eine von fanatischem Glaubenseifer, Wundergläubigkeit und religiöser Indifferenz zerissenen Gesellschaft zum Material der Erzählung wird. Wird der fehlende Glaube zur Selbstoffenbarung des katholischen Spaniens, "la hija predilecta de la Iglesia, la que tuvo por estandarte la cruz" (Shoemaker: 152 - 153)27, so entsteht auch in der gran novela ein für "die dürftige Zeit [...] der entflohenen Götter und [des] Nochnicht des Kommenden" (Heidegger 1981: 47) so typisches Konfliktfeld, das aus den soliden Grundlagen des bürgerlichen Lebens und der dem realistischen Schreiben zugeneigten Tendenz hinausweist: En resumen, que hoy la gran mayoría de los españoles no creemos ni pensamos; nos hallamos, por desgracia, en la peor de las situaciones, pues si por un lado la fe se nos va, no aparece la filosofía que nos ha de dar algo con que sustituir aquella eficaz energía. Faltan en la sociedad principios de unidad y generalización. Todo está en el aire, las creencias minadas, el culto reducido a puras prácticas de fórmula, que interesan a pocas personas. 28 (zit. nach Shoemaker: 152)

Das Fehlen einer Orientierung, wo eine solche im christlichen Glauben zur Gewohnheit geworden war und das Schwinden von Heilserwartungen, wo diese Sicherheit nach dem Tod versprachen, eröffnet dem Phantastischen einen Innenraum, in dem eine inkohärente und erweiterte Wirklichkeit situierbar ist. In der Diskursivierung von Tag- und Nachtträumen (Gullón: 193 237) hintergeht die Autonomie des Unbewußten das in den poetologischen Aussagen niedergelegte mimetische Konzept, das immer weniger auf den erkenntnistheoretischen Dispositionen der Realität selbst beruht und daher schon in den achtziger Jahren einer komplexeren Wahrnehmung der Wirklichkeit Platz macht. Des weiteren werden wir daher die Funktionalität des Phantastischen in frühen Texten, wie Doña Perfecta (1876) und La conspiración de las palabras (1868), untersuchen, wobei es uns darauf ankommt, in der Verlagerung des erzählerischen Schwerpunkts von "lo absoluto de las ideas" zur "relatividad de los sentidos" (Ruiz 1970: 870) Momente zu erhellen, die in späteren Texten wie in Marianela ("1878) oder Miau (1888) deutlicher an Prägnanz gewinnen. Zunächst aber war die Suche nach der Wahrheit von einer Orientierung bestimmt, die im Blick durch die Jahrhunderte eine scharfe antithetische Unterscheidung zwischen der Lichtmetaphorik der Vernunft und dem Obskuran-

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tismus vergangener Zeitalter vornahm. Nicht allein von Galdós wurde gerade die historische Rolle des Klerus mit jenen alptraumartigen Visionen identifiziert, wie sie die Maler Francisco de Goya oder Eugenio Lucas in ihren Zeichnungen der Autodafés, Folterstätten und unnachsichtigen Verfolgertribunalen auf die Leinwand gebannt hatten (Miranda: 228 - 233). Gegenüber diesen seit Jahrhunderten herrschenden Kräften stehen positivistische Helden und Verteidiger des Fortschritts im Vordergrund wie Pepe Rey, León Roch, Teodoro Golfín oder Augusto Miquis, denen als Erbauer einer neuen Welt die weitgehenden, aber nicht unkritischen Sympathien des auktorialen Erzählers gelten. Es ist nicht abzuleugnen, daß die Philosophie Krauses selbst in späteren Texten wie Misericordia ( 1897) eine bedeutende Wirkung ausübt, obwohl hier in der ungebrocheneren Darstellung von Hunger, Elend, Alkoholismus und Prostitution schon ein "realismo descarnado" sichtbar wird (Rodgers 1986: 249). Im Thesenroman, der sich, wie Dendle hervorhebt, als "novel of propaganda" auszeichnet (Dendle: 101) und in seinem polemischen Charakter dem Despotismus der Ideen besonders verpflichtet ist (López-Morillas 1956: 138), scheint sich eine bestimmte Konzeption der Welt jedoch umso reiner in die narrative Struktur einzuschreiben (Aparici Llanas: 3 1 9 - 373). Die im Krausismo angelegte kosmologische Grundauffassung präsumiert eine "armonía divina" (Sanz del Río: 256), zu der der Mensch nur deshalb keinen unmittelbaren Zugang hat, weil er abwechselnd in den Dualismen von Natur und Geist lebt. Erst dann, wenn der Mensch "la plenitud de su destino" (Rodgers 1986: 246) erreicht, wird er auch im Leben wie vorher schon in der Idee die Synthese dieser Gegensätze erfahren, die anders als bei Hegel (=Synthese aus der Negation einer Negation) nur verschiedene Ausdeutungen der gleichen Wirklichkeit sind. Die Harmonie ist also ein Potential in jedem einzelnen Ich, das sich entgegen allen einseitigen Denkformen (z. B. Idealismus oder Materialismus) im alles und alle umfassenden Gott vollenden muß. In dieser Einheit, die sich nicht einer Vermittlungssuche von Oberflächenstruktur und den métaphysique du fond verdankt, aber ist das Phantastische nicht mitzudenken, da es seiner Tendenz nach als das Unabgeschlossene oder zur analogen Erkenntnis Gelangte nicht Teil einer weitgehend repräsentier-

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baren Welt sein kann. Als Fragment steht es für sich, während alle Einzelphänomene nach ihrer Vollendung in der Kosmologie drängen. Die Aufgabe der Literatur bestehe also gerade darin, wie Rodgers kommentiert, die äußere Welt nur in so weit darzustellen, als ihre Phänomene die Anschaulichkeit der Schönheit nicht behindern. Die wechselseitige Unterstützung von realistischem und phantastischem Diskurs vollzieht sich jedoch nicht im Rahmen einer Totalität, die die Gegensätze im Actus des Erzählens in Übereinstimmung bringen könnte, sondern als Bruch jeglicher prästabilisierter Harmonie. Auch wenn wir die Unschlüssigkeit von Leser und Erzähler nicht unbedingt in den engen Rahmen einer kurzen psychischen Reaktion fassen wollen wie Todorov, und vielmehr Steinmetz zustimmen, daß das Phantastische häufig einer langen Vorbereitung bedarf, um seine Klimax zu erreichen (Steinmetz: 1 4 - 15), so ist allemal davon auszugehen, daß es die empirische Realität immer wieder in Frage stellt und die Durchgängigkeit und kausale Wirkung des realistischen Diskurses ständig verletzt. Das Phantastische wird also nur dort einen virtuellen Platz erlangen, wo Materie und Geist sich auf eine Weise abstoßen, daß sie sich einer Synthese verweigern und Gegenstände (=Objekte=Menschen) ungeachtet der Forderung von Sanz del Rio als Widerstände erfahrbar werden. Dies vollzieht sich vornehmlich in Situationen, in denen die genannten Protagonisten selbst an ihrer eigenen Lebenstheorie scheitern und zugrunde gehen bzw. ihre Widersacher ein solches Scheitern herbeiführen (der gewaltsame Tod Pepe und Glorias, der Wahnsinn Rosarios und Daniel Mortons). Die Entfaltung von Szenerien durch mspmve-Effekte, wie etwa eine unmögliche, aber starke z.T. triebhaft gefärbte Liebe zwischen zwei Menschen, soll in diesem Konzept zur möglichst überzeugenden narrativen Ausgestaltung der These beitragen und nicht über eine Autonomie verfügen, die den Leser von dieser entfernt und eher der Unterhaltung dient als der didaktischen Unterweisung des Bürgers. Diese Spannung zwischen den Notwendigkeiten einer These, die als Ausgangspunkt für die weitere Argumentation dient, und der Eigendynamik des Erzählens führt uns aber unmittelbar zum Kern des Phantastischen, das zweifelsohne aus dem letzteren entsteht. Wenn wir dessen bisherige Definition noch erweitern, dann können wir es mit dem Unheimlichen und dem Übernatürlichen nachgerade als konzentrierte Selbst-

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tätigkeit der Literatur bestimmen, die diese als autonomes Zeichensystem besonders sinnfällig macht: Das Phantasma ist das Zeichen, das seine eigene Wirklichkeit schafft und setzt, das mit dem Bezeichneten, dem Phantasierten identisch ist, das nur im Akt des Phantasierens besteht und Wirklichkeit hat. (Poppenberg: 113)

Todorov erblickt daher auch einen Zusammenhang zwischen der Tendenz des Übernatürlichen und dem Actus des Erzählerischen selbst. Jede Erzählung vollziehe eine Bewegung zwischen zwei ähnlichen und doch nicht identischen Punkten: Sie beginne und ende mit einer stabilen Situation, die wie im Märchen mit der empirischen Welt des Lesers übereinstimme, weil sie ganz auf die Beschreibung der äußeren Realien gerichtet sei. Doch dieses Gleichgewicht werde durch ein übernatürliches Ereignis gestört, das sich zwischen diese beiden Platzhalter des Realen schiebe. Dabei handele es sich um die Übertretung von Gesetzen oder den Bruch eines Systems, das feste Regeln der Perzeption und des Blicks definiere (Todorov: 171 - 174). Eben ein derartiger Bruch geriete, wie wir sehen konnten, in Konflikt mit dem im Krausismus herrschenden platonischen hermosura-Konzept, dessen Einfluß sich keineswegs auf die novelas de tesis beschränkt, sondern sich etwa auch auf die einer ästhetizistischen Variante zugetanen Romane Valeras erstreckt. Die Vermeidung des Phantastischen und der ihm benachbarten Gattungen im Thesenroman ergibt sich aber vielleicht noch stärker aus dem Anspruch, dem Erzählerischen selbst nur die Rolle eines Mittlers zu geben. Wie bei allen Gattungen, denen ein pragmatisch-propagandistisches Literaturkonzept eigen ist, erscheint auch im Thesenroman das problematische Verhältnis zwischen erzählerischem Gestus und analytischem Beschreiben, zwischen narratio oder argumentatio mit offensichtlicher Virulenz. 29 Beide begründen unterschiedliche Modalitäten menschlichen Sprechens und Verstehens, die nicht zuletzt dem Empfanger einer Botschaft eine jeweils völlig andere Rollenstruktur aufnötigen. Während das Argumentum ihn zum Widerspruch provozieren kann, weil sein Logos einer anderen Richtung folgt als der seines Gesprächspartners 30 , ermuntert ihn dessen Erzählung, eine andere Haltung einzunehmen: Er spinnt nun mit an einem ganzen Reigen von Erzählungen, der stetig weitere Erzählungen aus sich heraustreibt und damit den Erzählraum ins Unabsehbare ausdehnt. Der Erzählung folgt keine Gegenrede,

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der sich der Zuhörer entgegensetzte, sondern eine weitere Erzählung, die zwar nicht völlig mit der ersten übereinstimmt, sich von dieser aber auch nicht gänzlich zu trennen vermag. Hatten sich diese so unterschiedlichen Wirkungen der beiden Verständigungsformen in narrativen Texten nach Weinrich in einem mehr oder minder kohärenten Zusammenspiel bewährt, so erreichte das Deskriptive namentlich im Roman des XIX. Jahrhunderts eine Autonomie, die es vom erzählerischen Fluß der Handlung zu trennen scheint und im Ergebnis der Schärfe der Beobachtung eine besondere Kunstfertigkeit einräumt; so sehr hat sich die ihrem Anspruch nach wahrheitsgetreue Beschreibung der gegenständlichen Welt, welche im Thesenroman mit der Illustration einer Idee einhergeht, zu Lasten des Ereignishaften und Fabulösen ausgedehnt. Gerade in der Abwertung wilder Imagination gegenüber dem nüchternen Blick, der sich schon im Titel des Vortrag von Galdós (Observaciones) ankündigt, läßt sich dieses implizite Zurückweichen erzählerischer Elemente ablesen, wie es Weinrich in Anlehnung an Benjamin für eine von Industrie und Welthandel bestimmte Gesellschaft spezifiziert. Die Zeichnung jener alten Welt als "inmunda, corrompida, escéptica, cenagosa, fangosa" kommt dem Ruf des jungen Bürgertums nach "Realidad, realidad" (Pérez Galdós 2 1951: Bd. VI, 1 5 5 6 - 1557) gleich, das die mythischen Sinngehalte in der Wirklichkeit des klaren Verstandes eliminieren will, um sich so ungehinderter der Materie bemächtigen und die Akkumulation von Waren befördern zu können: "La palabra realismo [...] se relaciona indirectamente con la concepción capitalista en que las propiedades (las cosas) se anteponen a cualquier otra consideración" 31 (Pedraza Jiménez: 18 - 19). Mit dem Prozeß der Entmythisierung der Wirklichkeit, der in der Aufklärung mit dem Imperativ des Bürgers identisch wird, sich aus selbstverschuldeter Unmündigkeit zu befreien, neigt sich die alte ehrwürdige Kunst des Erzählens ihrem Ende zu, "weil die epische Seite der Wahrheit, die Weisheit, ausstirbt" (Benjamin: 442) und die Erzählung ihre einstige Bedeutung als Erinnerungsträger verloren hat. Das Übernatürliche gerät zu einer dunklen Machenschaft, die Priesterbetrug zur Niederhaltung ängstlicher Geister erdacht hat: Peur, Crainte, Intimider, Trembler sind die Stichworte, nach denen Diderot seine Artikel in der Encyclopédie konzipiert (Gumbrecht, Bd. I : 21 - 38). Das Diktum Todorovs über die Metaphysik des XIX. Jahr-

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hunderts findet unter dem Vorbehalt seine Berechtigung, daß in ihr noch die Transparenz der Lumières nachwirkt: Beim Thesenroman trifft diese Voraussetzung insoweit zu, als die möglichst unverzerrte Entfaltung der Ideen die Autonomie des Menschen von äußeren Determinanten ermöglicht. Kunst und Literatur geraten zumindest dann selbst in den platonischen Verdacht einer unbestimmten und schemenhaften Metapher, wenn sie sich nicht mehr in die zweckgerichtete conversatoti einfügen lassen und auf ihre Eigengesetzlichkeit in einer zweiten Wirklichkeit beharren. Einer solchen Interpretation folgt auch Pepe Rey als männlicher Protagonist von Doña Perfecta, wenn er in der Phantasie gewissermaßen die Quelle aller engaños durchschauen will, die für die Trübung der menschlichen Sinne verantwortlich waren: El mundo de las ilusiones, que es como si dijéramos un segundo mundo, se viene abajo con estrépito. El misticismo en religión, la rutina en la ciencia, el amaneramiento en las artes, caen como cayeron los dioses paganos, entre burlas. Adiós, sueños torpes, el género humano despierta y sus ojos ven la claridad. [...] La fantasía, la terrible loca, que era el ama de la casa, pasa a ser criada... Dirija usted la vista a todos los lados [...], y verá el admirable conjunto de realidad que ha sustituido a la fábula. El cielo no es una bóveda, las estrellas no son farolillos, la luna no es una cazadora traviesa [Diana], sino un pedrusco opaco; el sol no es un cochero emperejilado y vagabundo, sino un incendio fijo. [...] Marte es un viejo barbilampiño, el conde de Moltke; Néstor puede ser un señor de gabán que se llama monsieur Thiers; Orfeo es Verdi; Vulcano es Krupp; Apolo es cualquier poeta. [...] La fábula, llámese paganismo o idealismo cristianismo, ya no existe, y la imaginación está de cuerpo presente.32 (Pérez Galdós 1984: 105 - 106)

Die Realien erscheinen den Angehörigen moderner Berufe, zu denen sich der Mathematiker und Ingenieur Pepe Rey zählt, wie am frühen Morgen ihres Entstehens so offenkundig, daß nur blindwütiger Fanatismus, Unwissenheit oder angeborene Blindheit den Menschen seiner natürlichen Fähigkeit zum Erkennen berauben kann. Im wissenschaftlichen Zeitalter sollen zudem auch Poesie und Imagination aus dem kognitiven Ordnungsschema ausgeschlossen werden. "Die Philosophie der modernen Schule ist die des Verstandes, nicht der Imagination" so heißt es schon in angelsächsischen Gazetten der zwanziger und dreißiger Jahre. Oder: "Das Vokabular einer aufgeklärten Gesellschaft ist philosophisch, das einer halbzivilisierten Nation poetisch". Und endlich: "Der Fortschritt von Philosophie und Wissenschaft [...] verengt und verkleinert den Bereich der Imagination kontinuierlich und verwandelt das

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Zweifelhafte in das Wahre, das Vage in das Bestimmte." (Edinburgh Revue 1825 Nr. 42 bzw. Edinburgh Literary Gazette vom 08.07.1829 zit. nach Ritter/Gründer: 218). Diesem offenbar auf Sachlichkeit der Aussagen abgestimmten und entschiedenen Ton ist unschwer zu entnehmen, daß Unschlüssigkeit über den Charakter eines wahrgenommenen Phänomens, wie sie bei Todorov im Begriff des Phantastischen verschmelzen, in solch aufgeklärter Gesellschaft nicht in Betracht kommen soll. Der Imagination scheint der Prozeß als lose Verführerin gemacht zu werden, und so ist zumal in Dona Perfecta zu konstatieren, daß der narrative Gestus des Autors "could conflict with his sensitivities as a Citizen when the pressure of contemporary political polemics caused him to interpret his reformist and educational purpose in a narrow way" (Rodgers 1987: 14). Tatsächlich bietet sich gerade die Geschichte dieses Romans zunächst als bloße Illustration einer These an", die in einem nicht unerheblichen Teil der Forschung zu einem hartnäckigen Traktat über die Intoleranz des katholischen Spanien geworden ist und dabei die Stereotypie der leyenda negra bestätigt 34 . Wir wollen diese Lektüre bewußt gelten lassen, da sie wie der Roman selbst Ausdruck eines tatsächlichen ideologischen Dualismus war, wie er dem Sinnhorizont der Restauration in den siebziger Jahren entsprach 35 und die Rezeptionshaltung des zumeist liberalen Publikums gewiß bestimmte. Der Status des Thesenromans erlaubt uns zudem als Leser, jenseits der typologischen Weltbilder das Problem selbstbezüglicher Subjektivität so zu erörtern, daß aus ihm das Phantastische hervortritt. Wie wir sehen werden, muß er die Tendenzwende zu "anthropologischen Perspektiven" (Hauck: 108) nicht ausschließen, was unter Hinweis auf die Akademierede des Autors zurecht bereits für Dona Perfecta reklamiert werden kann; die These der Repräsentation all dessen, was den "Bildcharakter der Welt als die Vorgestelltheit des Seienden" (Heidegger 1994: 92) ausmacht und die Anthropologie des repräsentierenden 'Selbst', das dieses Bild zeugt, können diesen Schritt sogar bedingen.

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III DER PLATZ DES KÖNIGS UND DIE PHANTASTISCHEN FOLGEN SEINER WAHRNEHMUNG Bald prangt den Morgen zu verkünden,/ Die Sonn' auf goldner Bahn! Bald soll der Aberglaube schwinden./ Bald siegt der weise Mann./ O holde Ruhe, steig hernieder,/ Kehr in der Menschen wieder;/ Dann ist die Erd' ein Himmelreich,/ Und Sterbliche sind Göttern gleich. Aus Die Zauberflöte von E. Schikaneder, Akt II, 26. Abschnitt

Zu diesem Zweck nehmen wir wieder Foucaults Les mots et les choses in Anspruch und zwar jene zu Recht berühmte Interpretation des Gemäldes Las Meninas von Diego de Velázquez, dessen ästhetischen Strukturen Grenzen und Möglichkeiten des klassischen Tableaus veranschaulichen. Erinnern wir uns der Anordnung seiner Figuren: Obschon der Maler selbst auf diesem festgehalten ist, bleibt der Platz des Königspaares leer und ist nur in der Reflexion des Spiegels sichtbar. Alle Figuren blicken auf einen Punkt, auf dem sich das Königspaar als Subjekt der Repräsentation, der Maler als repräsentierendes Subjekt und das Betrachtersubjekt zugleich begegnen. Alles weist im Bild auf das Repräsentierte hin, das aber in der klassischen Repräsentation nur ein stummer Platzhalter ist, die der Subjekt gewordenen Gestalt des Menschen nicht bedarf. Wie hier der Betrachter des Bildes weder im Bild dargestellt noch als Organisator der Bildordnung notwendig ist, so kann auch die Repräsentation der Welt in den Wissenschaften auf einen Meister verzichten. Eben um diesen Platz geht es aber Pepe Rey; ihn zu besetzen, eine ihm fremde Wirklichlichkeit zu repräsentieren und auszufüllen, ohne auf die Macht seiner Selbstvergegenwärtigung zu verzichten, ist sein Ziel. Denn diesen Anspruch hat die modernen Episteme für sich reklamiert und auch Pepe Rey erhebt ihn, obwohl er immer noch glaubt, dem Licht des XVIII. Jahrhunderts vertrauen und ihm auf seinem Weg in die patriarchale Bischofsstadt folgen zu können. Wie er Verfälschungen seiner Wahrheit nicht gelten läßt und es ablehnt, die verschlungenen Pfade des Gongorismus einzuschlagen, um stattdessen - Voltaire nicht unähnlich - "las armas de la burla" (Pérez Galdós 1984: 90) zu nutzen, so tritt hinter seinem Rücken jene von Parteiinteressen verletzte Toleranz hervor, von der er doch meint, sie sei durch

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Gesetze und Militär zu schützen. Er ist Souverän seiner selbst, Herrscher eines Tableaus, das er zu entfalten gedenkt und in dem er - ganz sein Name wie ein König im Zentrum steht: von dort aus blickt er seinem Gegenüber in die Augen, um in ihnen die Reflexion der eigenen Wahrheit wiederzuerkennen, die gleich einem selbstgeschaffenen Monument die Konturen seines Genies nachbilden: "inteligencia, fuerza" (Pérez Galdós 1984: 73 - 74). Mit tauber Arroganz reagiert er daher auf die Warnungen seiner Tante, die komplexen Tiefen der Seele als Eisenbahntunnel oder Bergwerksschächte zu mißdeuten, die sich dem menschlichen Blick ungehindert darböten (Pérez Galdós 1984: 205). Der Platz des Königs muß dem impliziten Autor als denkbare Gesamtperspektive suspekt sein, wenn er mit ironischem Unterton die Probleme darlegt, die sich bei der Zeichnung eines ihm sehr fern stehenden Ortstyrannen auftun: ¡Oh, cuán difícil es para el historiador, que presume de imparcial, depurar la verdad en esto de las opiniones y pensamientos de los insignes personajes que han llenado el mundo con su nombre! N o sabe uno a qué atenerse, y la falta de datos ciertos da origen a lamentables equivocaciones. En presencia de hechos tan culminantes como la jornada de Brumario, como el saco de Roma por Borbón, como la ruina de Jesuralén, ¿qué psicólogo, ni qué historiador podrá determinar los pensamientos que les precedieron o les siguieron en la cabeza de Bonaparte, Carlos V y Tito? ¡Responsabilidad inmensa la nuestra! Para librarnos en parte de ella, refiramos palabras, frases y aun discursos del mismo emperador orbajonense, y de este modo cada cual formará la opinión que juzgue más acertada. 36 (Pérez Galdós 1984: 218)

Auch die Attributierung Pepe Reys als Mathematiker, die vor allem in Situationen seiner Verwirrung auftaucht, legt nahe, daß das zugrundeliegende cartesianische Erkenntnismodell das Denken in seiner Zeit nur inadäquat zu bewältigen imstande ist. Wie Don Quijote will der Zugreisende hingegen das Unmögliche wagen, aber im Gegensatz zu diesem ein neues Wissen in einen epistemologisch obsolet erscheinenden Raum einfuhren, um ihn so durch sein anwesendes Denken umzugestalten. Noch bevor der unmittelbare ideologische Konflikt zwischen den Figuren zum Tragen kommt, in den Kapitelüberschriften eine zunehmende Zuspitzung erfahrt und schließlich auf tödliche Weise für unseren Protagonisten endet, setzt bereits der metasprachliche gleich am Anfang des Textes ein: die eine Taxonomie scheint sich geradezu

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unter Ausschluß der anderen zu konstituieren. Die Benennung topografischer Größen in der natürlichen Umwelt, die den Bewohnern der Provinz selbst zur Natur geworden ist, widerstrebt dem Helden in einer Weise, daß er Namen erfindet, die seinem eigenen sprachlichen Logos entsprechen (Pérez Galdós 1984: 7 3 - 7 4 ) . Im Thesenroman tritt der 'anthropozentrische Narzißmus' in der Ostentation einer politischen Tendenz zutage, die sich in der expressiven Ich/ Wirbezogenheit des mit ihr verbundenen Protagonisten als apriorischer Grund der Repräsentation erzählerisch verdichtet. Die Aufklärung muß freilich nun umso deutlicher einer Verfinsterung der Welt weichen, da der Platz des Königs bereits von der Titelträgerin des Romans Doña Perfecta besetzt ist und diese ihn nicht zu räumen bereit ist. In der Anrufung der Größe Gottes begründet sie die universelle Ähnlichkeit ihres Kosmos, in dem sie sich wie in eine Muschel einschließt (Pérez Galdós 1984: 282): die Phänomene der Natur, Feuersbrünste, Dürre oder Erdbeben entsprechen nicht den Wirkungen, deren Beobachtung sich der Mathematiker Pepe zum Ziel gemacht hat. Sie sind nur Markierungen, die die göttliche Vorsehung in ihrer Güte gesetzt hat und die allein ein Gläubiger zu erkennen imstande ist (Pérez Galdós 1984: 209). Ahmt Doña Perfecta schon im Namen die Vollkommenheit Gottes nach, so ist sie wie dieser Zentrum einer Welt, in der Kaziken, Klerikalen und Bürger ihr höchste Ergebenheit zollen (Buard). Daher kann sie auch Brennpunkt aller Konspirationen sein, zu dem der Erzähler uns führt: Ved con cuánta tranquilidad se consagra a la escritura la señora doña Perfecta. [ . . . ] allí redactaba las esquelitas para incitar al juez y al escribano a que embrollaron los pleitos de Pepe Rey; allí armó el lazo en que éste perdiera la confianza del Gobierno [... ] 3 7 (Pérez Galdós 1984: 281 - 282)

Die wirkliche Ungeheuerlichkeit dieser Doña besteht in "esta embrollada, sutil y mística dialéctica" (Pérez Galdós 1984: 205), mit der sie selbst eine Analogie zwischen göttlicher Vorsehung und ihrem Handeln zieht: Auch hier ist der äußere Anschein, so widerwärtig er auch sein mag, stets eine gute Absicht. Tiefgreifender als diese konfrontative Konstellation der Figuren, die sich im Thesenroman zu einem wesentlichen Teil im argumentativ-dialogischen Gestus abzeichnet, nimmt sich daher der Raum als Reflektor sich überlagernder Repräsentationen aus.38 Der Versuch Pepes, wie Don Quichote

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"der äußeren Welt die Zeichen der Bücher aufzudrängen" (de Toro: 248) und mithin die seiner Vorstellungen (wissenschaftlicher Fortschritt = desengañó), verschwindet hinter jenen Zeichen, die die Gesellschaft von Orbajosa in Hinblick auf den Fremden produziert und die im Gang der Erzählung den von Pepe initiierten Diskurs zu einem kaum noch wahrnehmbaren Status verurteilen. Seinem gewaltsamen Tod geht das allmähliche Verstummen seiner Sprache voraus, die in den letzten Kapiteln vornehmlich in Briefen an seinen Vater hörbar wird39. Doch lange bevor der tote Pepe in den Schreiben des Don Cayetano Halbwahrheiten zum Opfer fällt, die die Klarheit seiner Sprache nicht zulassen wollten, hatten sich seit seiner Ankunft in Orbajosa die "mistificaciones" auf seine Repräsentationen gelegt und dem Phantastischen in der Überlagerung beider sprachlicher Systeme einen wachsenden erzählerischen Spielraum gewährt. So ist der "recóndita ciudad episcopal" (Pérez Galdós 1984: 82)40 nicht nur eine Todesmetaphorik eigen, wie Hauck bemerkt (Hauck: 104), sondern mit ihr auch eine düstere Atmosphäre, die sich der Imagination Pepes als monströse Gestalt aufdrängt und den König seiner Souveränität beraubt: Representábase en su imaginación a la noble ciudad de su madre como una horrible bestia que en él clavaba sus feroces uñas y le bebía la sangre. Para librarse de ella bastábale, según su creencia, la fuga; pero un interés profundo, como interés del corazón, le detenia, atándole a la peña de su martirio con lazos muy fuertes. N o obstante, llegó a sentirse tan fuera de su centro, llegó a verse tan extranjero, digámoslo así, en aquella tenebrosa ciudad de pleitos, de antiguallas, de envidia y de malediciencia [...]. 4 1 (Pérez Galdós 1984: 146)

Ganz entgegen der linearen Stringenz und Anschaulichkeit, die ihm sein Denken auferlegt, befindet er sich nun in einem Labyrinth, aus dem es für ihn kein Entrinnen mehr gibt. Er fühlt sich "turbado y confuso" (Pérez Galdós 1984: 132) und auf seinen sonst so wachen Verstand hat sich eine Wolke gelegt (Pérez Galdós 1984: 137), die fortan seine Wahrnehmung erschüttern und ihm in seiner Selbstvorstellung eine Fremdheit geben wird: "He cambiado mucho. Ya no conocía estos furores que me abrasan.[...] Yo no soy aquél a quien una educación casi perfecta dio pasmosa regularidad en sus sentimientos" 42 (Pérez Galdós 1984: 272 bzw. 273). Die Schatten, die sich um ihn herum zusammenziehen und die unheilvolle Aura der Stadt noch steigern, sind ihm nun zur inneren Stimmung geworden.

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Wie ein Verzweifelter betritt er einmal das Kasino, als wollte er sich ins Meer stürzen. Jetzt ist es schon die nüchterne Umgebung eines Spielzimmers, die ihn von der klaren Quelle seines Intellekts abziehen: Cerca de dos horas estuvo en las garras del horrible demonio amarillo, cuyos resplandecientes ojos de oro producen tormento y fascinación. Ni aun las emociones del juego alteraron el sombrío estado de su alma [...]. 43 (PérezGaldós 1984: 154)

Als sich der Ring der Verschwörung um ihn zusammenzuziehen beginnt, verkleinert sich auch die Welt, in die sich der Mathematiker eingeschlossen hat. Aktion entwickelt sich aus den Spannungen und den komplexen Beziehungen der Figuren. Da Pepes eigene Handlungsmöglichkeiten mit zunehmender Isolation sinken und nach dem abschließenden Streit mit seiner Tante jeder Grundlage entbehrt hätten, bedarf es als erzähltechnische Stütze geradezu des Militärs, das "la momia [...] por arte maravillosa" (Pérez Galdós 1984: 191) neues Leben einhaucht. In der Dynamik des öffentlichen Konfliktes gewinnt auch der in den Hintergrund tretende Pepe (Auszug aus dem Haus der Polentinos, Kap. XX) wieder Handlungsimpulse, wobei Akte der Überzeugung nun Intrige und Gewalt weichen. Doch vor diesen entscheidenden Schritten kann sich dieser Kampf nur in seiner Seele vollziehen und in der Nacht phantastische Bilder auf die Leinwand der Natur werfen: La misma falta casi absoluta de claridad producía el efecto de un ilusorio movimiento en las masas de árboles, que se extendían al parecer; iban perezosamente y regresaban enroscándose, como el oleaje de un mar de sombras. 44 (Pérez Galdós 1984: 180)

Als Projektion seiner Seele ist das Dunkel der Nacht auch eine Entsprechung seiner Unwissenheit und diskursiven Schwäche, der man sich nur entledigt, wenn der Tag naht und "die Waffen des Lichtes" (Rom 13,12) anlegt werden (Lurker: 248). Selbst die Sprache der Insekten korrespondiert mit der diffusen Stimmung, in der sich Pepe befindet: Los insectos de la noche hablaron a su oído, diciéndole misteriosas palabras. Aquí, un chirrido áspero; allí, un chasquido semejante al que hacemos con la lengua; allá lastimeros murmullos; más lejos, un son vibrante parecido al de la esquila supendida al cuello de la res vagabunda.45 (Pérez Galdós 1984: 180)

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Besonders das folgende Kapitel Luz a oscuras, das Pepe und Rosario in der Kapelle der Polentinos zusammenfuhrt, evoziert eine Atmosphäre "am Rande des Unheimlichen" (Hauck: 98). Obwohl der dialogisierte Teil den erzählerischen in den Hintergrund drängt, verdichten sich gerade im letzteren jene Elemente: So steht auch das nächtliche Gespräch der Liebenden unter dem Eindruck, daß die an Schatten reiche Wirklichkeit für Pepe nur ein Widerhall seiner inneren Trugbilder sind. Dieses lemurenhafte Dunkel stellt nicht weniger als das dar, was dem krausistischen Ideal des "hombre, imagen viva de Dios y capaz de progresiva perfección" in seinen Repräsentationen eigentlich fremd war (Krause: 31): die Autonomie des Unterbewußtseins, in dem die andere, nicht bewußt gelebte Seite der Persönlichkeit ihren unbewältigten Ausdruck findet (Jung, 1 6 8 - 176). Der Krausismus leugnet nicht, daß die "claridad científica [...] en la media luz del presentimiento" (Krause: 61) ihre intuitiv-soziale Seite habe und das menschliche Denken deshalb die Grenzen der abstrakten Vernunft überschreiten müsse. Während hier aber die progressive Erleuchtung der Dunkelheit stets zur Wissenschaft zurückführt, ist das von Pepe ausgehende Licht selbst von chtonischen Mächten durchwirkt, die der Freude des Helden über die Auflösung der alten Menschheitsmythen Hohn spricht. In der Einbildung, der Herr am Kreuz habe ihn mit einem Fußtritt zurechtgewiesen, kehren sie ebenso wieder wie in der Vorstellung, der Teufel selbst zu sein, als er die Cousine "como la paloma en las garras del águila" (Pérez Galdós 1984: 188)46 in seinen Armen hält und in dem Wahn, das Grab ihres Vaters könnte sich unter seinen Füssen öffnen. Angesichts dieser isotopischen Kraft der Imagination, in der sich zurecht eine 'Dialektik der Aufklärung' kenntlich machen läßt, erscheint es uns ebenfalls zweifelhaft, die "Vereinigung der Liebenden zugleich auch [als] die utopische Versöhnung der 'zwei Spanien'" (Hauck: 94) zu interpretieren. Denn die gestörte Verständigung, die sich gleichsam zwischen sie zu schieben scheint, ergibt sich auch aus der merkwürdigen Überschneidung kognitiver Ordnungsmodelle, wie sie etwa in La Regenta regelrecht expandiert: [...] the roles of these antagonistic forces are repeatedly reversed by the switches, fusions, and changes of identity among them; religious passion becomes indistinguishable from erotic passion and both these psychical inflammations are apt to turn into or be subverted by sensuality. (Weber: 189)

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Auch in den Krankheitssymptomen und im erotischen Begehren der Rosario überlagern sich Formen spanischer Mystik und Dispositionen der vitalen Tiefendimension. Es ist schwer auszumachen, welche der genetischen, religiösen, sexuellen und sozialen Faktoren zu ihrem sich zum Wahnsinn steigernden Zusammenbruch führen. Bestimmend ist bei Rosario zunächst die Vergeistigung körperlich-sexueller Gesten, die sich auf den zum Heilsbringer mutierten Pepe beziehen und der Profanität ihrer Liebe eine überirdischwunderbare Bedeutung verleihen. Ihre Beichte (Kap. XXIV) ist kein katholisches Sakrament mehr, das vom Priester die Vergebung der Sünden erbitten könnte, sondern ein fieberhaftes Selbstgespräch, in dem Gebet und Selbstanklage, Haß gegen die eigene Mutter und Liebe zu Pepe sich jäh überschlagen. Tatsächlich sind es die zu keiner Verständigung gelangenden Divergenzen zwischen ihren christlich verankerten Gewißheiten, die offenbar im Verhältnis zu ihrer Mutter vermittelt sind und mit diesem ins Wanken geraten müssen, und der disparaten Sehnsucht, diese auf ein neues konkretes Gegenüber zu projizieren. Insofern deutet sich in der von Dona Perfecta begonnenen und Pepe Rey fortgesetzten "Kette kommunikativer Paradoxien" (Hauck: 102) mehr als nur eine potentiell eskalierende Wirkung auf den Ausbruch des Wahnsinns bei Rosario an. In diesen wird vielmehr das Versagen der Sprache in ihrer klaren denotativen Funktion manifest, wenn sie, wie bei den Hauptkontrahenten des Romans eher deren Ausdruck verfälscht und ihre Empfindungen nicht mehr wiederzugeben vermag. Dagegen ist Rosario sogar bis zuletzt ihrer Mutter gegenüber um eine Sprache bemüht, die um Stimmigkeiten ringt, um der Auflösung ihrer kleinen Welt zu entgehen. Die Verschlagenheit Dona Perfectas, die sie zuvor wahrscheinlich nicht am eigenen Leibe erfahren mußte, wird für sie nicht weniger zum Labyrinth als für ihren Geliebten. Aber da die Autorität der Mutter auch in Hinblick auf ihre Liebe im Endeffekt ein stärkeres Gewicht haben muß als die Option eines selbstbestimmtes Leben, ist eine Persönlichkeitsspaltung Rosarios die zwangsläufige Folge. Ihr ist es sinnwidrig und unerklärlich, daß gerade ihre Mutter sich nicht an die von ihr so vehement vertretenen moralischen Kategorien hält:

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Aborrezco a mi madre. ¿En qué consiste esto? No puedo explicármelo. Él no me ha dicho una palabra en contra de mi madre. Yo no sé cómo ha venido esto... ¡Qué mala soy! Los demonios se han apoderado de mí. 4 7

Diese Dissoziation von logisch unvereinbaren Gedanken, die sie jäh in so gegensätzliche Zustände wie Schwermut, Überempfindlichkeit und äußerste Ekstase versetzt, kann einen Konflikt nicht mehr vermeiden, wenn sie pathologische Züge aufweist und die Fähigkeit zu eigenen Entscheidungen verhindert (Arnold: 383). So ist Rosarios mental bedingte Erbkrankheit auch die einer subjektzerrissenen Sprache, die nach dem Tod des Geliebten hinter den Mauern eines Sanatoriums vollends zum Schweigen gebracht wird. IV REPRÄSENTATION UND PHANTASTIK: DAS PHANTASTISCHE ALS ÜBERSCHREITUNG FESTER OPPOSITIONEN El hombre tiene una razón que le dicta los principios y las leyes de la realidad. Pero ignora si la realidad está conforme con la razón. Es como el reloj que señala la hora, pero no sabe qué hora es. Clarín 48

Es ist kein Zufall, daß der Wahnsinn und die Ver-Rücktheit - ein deutsches Wort, das soviel über die Zerstörung einer gesetzten Ordnung durch eine Versetzung ihrer Bestandteile aussagt - in anderen Romanen der spanischen Restaurationsepoche ebenso zum Objekt des Erzählens gemacht werden man denke etwa an Gloria (1877) oder La desheredada (1881) und Fortunata y Jacinta (1886/87) von Galdós bzw. an Rosalia de Castros El primer loco (1881) - als Traumbilder und Visionen, die sich einer Trennung in eine sogenannte objektive und subjektive, psychische und physische, innere und äußere Realität verweigern und diese lediglich als Variationen verschiedener Vernunftweisen gelten lassen49: A fines del siglo XIX, schreibt S. Miranda, Galdós se interesó por los fenómenos de espiritismo, parapsicología y demonología. [...] Con ello patentizaba otra vez la identidad cultural que le unía con los espíritus más perspicaces de la Europa de su época, que no invalidaba la autonomía y originalidad de sus argumentos novelísticos

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[...], pero sí su inmersión en los problemas que acuciaban a los grandes creadores literarios.50 (Miranda: 45 - 46)

Die Abkehr vom Normalitätsprofil einer bürgerlichen Alltäglichkeit, wie sie auch noch im Tenor der Akademierede als Ausgangspunkt des Erzählens vernehmbar wird, ist damit die notwendige Konsequenz: La patología en sus mil variantes sociales y psicofísicas púsose de moda, [...] en el período fin de siècle, dando copioso alimento a la imaginación y fantasía de toda clase de artistas. Las prostitutas, los alucinados, los homosexuales, despertaron en escritores y pintores un interés inusitado hasta entonces. El clima catastrofista que atemorizó a las almas más impresionables y lúcidas tendía a buscar en tales marginados un secreto y probable mensaje de salvación en una sociedad materializada y desarmada moralmente.51 (Ibid.)

Die Diskrepanzen, die das sprachliche Subjekt durchziehen und zerlegen, kündigen sich aber schon in Galdós' früher allegorischer Kurzerzählung La conspiración de las palabras52 an und nehmen damit die Unmöglichkeit eines kohärenten realistischen Schreibens ebenso vorweg wie die bloße Instrumentalisierung der Sprache in ihrer bezeichnenden Funktion (Barrenechea: 394 - 395)". Man stelle sich vor, daß nahezu alle Worte des Diccionario de la Lengua Castellana die ihnen vertraute Heimstatt verlassen und in blitzender Rüstung eine große Schwadron bilden, die nicht einmal die Nationalbibliothek selbst zu umfassen imstande wäre. Mit einem Schlag scheint die in jahrhundertelangen Kraftanstrengungen entstandene und von Akademien beschirmte Ordnung der Sprache gefährdet, der es ähnlich der nicht minder umsorgten Ordnung der Menschen zukommt, jedem einzelnen Glied eine Rolle im Ganzen zu geben. So erhalten die Worte auf Grund ihrer Zeichenfolge feste Plätze in den papiemen Räumen, werden sie nach Wortarten klassifiziert und den ihnen entsprechenden Wortfamilien zugeordnet: als Herolde, die sich Artikel nennen, als Herren, die vermeinen, als Hauptwörter die Substanz der Sprache auszumachen, als Adjektive, die sich als deren treue Diener, ja Abhängige erweisen oder als Präpositionen, die nichts als sich nach einem Automatismus bewegende Zwerge sind. Trotz ihrer Verschiedenartigkeit, wie z. B. ihre lateinische oder arabische Herkunft, haben sie sich jedoch auf das Ziel geeinigt, ihre babylonische Gefangenschaft aufzugeben und sich den fragwürdigen Diskurspraktiken der spanischen Schriftsteller entgegenzu-

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stellen, die die gewohnte Harmonie der Worte zerstört haben. Das äußerst gesprächige Substantiv Hombre ist auf die Schultern seiner ihn begleitenden Adjektive Racional und Libre gestiegen, um eine jener flammenden Ansprachen zu halten, wie sie wohl den politischen Reden jener Zeit abgelauscht sein mag: Señores: La osadía de los escritores españoles ha irritado nuestros ánimos; y es preciso darles justo y pronto castigo. Ya no les basta introducir en sus libros contrabando francés, con gran detrimento de la riqueza nacional, sino que cuando por casualidad se nos emplea, trastornan nuestro sentido y nos hacen decir lo contrario de nuestra intención. [...] De nada sirve nuestro noble origen latino, para que esos tales respeten nuestro significado.54 (Pérez Galdós 1951: 452)

Der Aufstand der Worte soll sich zwar vor allem gegen die Bedeutungen richten, die die Literaten ihnen aus ihrer Sicht fälschlicherweise zuschreiben, tatsächlich fuhrt er aber nur zu einem Bruderkrieg. Neue Feindschaften entstehen und alte Privatkriege werden erneut aufgenommen: das Substantiv Sentido (Sinn) wendet sich gegen das ihm verhaßte Adjektiv común (gemein), das seinetwegen für alle Formen der Dummheit verantwortlich gemacht wird; während die música gegen die filosofía aufbegehrt und die razón gegen den sentimiento, will die Inquisición, die sich auf Grund ihres hohen Alters kaum noch auf ihren Beinen halten kann, der Libertad mit verstümmelten Zeichenkörpern ein Fegefeuer bereiten. Das Verb matar droht schließlich allen Anwesenden immer wieder damit, sich zu konjugieren. Da sich aber nicht jedes Wort gegen seine eigene Semiotisierung oder die des anderen wehrt, befinden sich auch nicht alle im Krieg miteinander. Die Religión tritt Hand in Hand mit der Política auf, das Gobierno erfahrt Unterstützung von Seiten der Justicia, der Gerechtigkeit, oder sollten wir sie lieber mit 'Justiz' übersetzen? Die Initiatoren der Rebellion müssen bald einsehen, daß sie angesichts dieser Zerstrittenheit kaum einen Krieg gegen die spanischen Schriftsteller fuhren können. Da dem nun entstehenden Chaos nicht einmal das Verb Ser, das Substantiv hombre oder das Adjektiv racional Einhalt gebieten können, ist es am Ende wieder die Grammatik, die eine die sprachlichen Einzelglieder transzendierende Ordnung wiederherstellt, um weiteres Blutvergießen verhindern (Smith: 52 - 59)55. Alles kehrt wieder in seine Zel-

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len zurück; nur die streitbaren Geister müssen wohl mit Gewalt zur Räson gebracht werden. Was uns hier zunächst als Verschwörung der Lexeme gegen die Menschen anmuten will, erweist sich spätestens am Schluß der Erzählung keinesfalls als bedrohlich fur die Existenz der Sprache als ganze, wohl aber als Gefahrdung des logischen Sprachzentrums, jenes nämlich, das dem Bürger durch eine innere Ordnung einen rationalen Zugriff auf die Welt garantieren soll. Noch ist den meisten in Unordnung geratenen Worten des spanischen Diktionärs von 1868 die Verbundenheit von Ort und Namen nicht verlorengegangen; aber auf dem Schauplatz der Kombattanten droht die gemeinsame ratio in der oratio der Menschen abhanden zu kommen und sich einer verläßlichen Ordnung zu entziehen, wie dies für den abendländischen Leser in der bewußten altchinesischen Enzykopädie von Borges bereits geschehen ist (Borges: 104 105). Wie Foucault konstatiert, überschreitet die dort vorgenommene Eingruppierung von Tieren die Grenzen des Denkbaren und belegt damit, daß jede Ordnung, die das Denken und das Wissen einer Epoche definiert, nicht natürlich, sondern erkenntnistheoretischen Regeln unterworfen ist. In den ihrer festen semantischen Zuordnung beraubten Signifikanten diagnostiziert das Phantastische das Unerklärliche, "l'impossibilité nue de penser cela" (Foucault 1966: 7) und erschüttert damit die Kausalität der Beschreibungen und Bezeichnungen "pour lutter contre cette banalité et cette forte prévisibilité" (Hamon: 479). Auch in der Erzählung von Galdós wird die Inkongruenz des Identischen, wie das Auseinanderfallen von Substantiv und seiner potentiellen Attribute (sentido und común), die Bildung von binären Oppositionen (Inquisición und Libertad), die konzeptionelle Paradoxie einer historischen Einheit {Política und Religion) oder die laxistische Kombination von mal und necesario veranschaulicht. Aber es kann hier noch, wie beschrieben, vom System des sprachlichen Logos ins Glied zurückgeführt oder zur Marginalie gemacht werden: im Hospital oder im Fe de erratas finden sich nun die verletzten Buchstabenkombinationen wieder, die Punkte, Striche oder Bögen während der Kämpfe eingebüßt haben und ihr früheres semantisches Feld womöglich an andere Lexeme abgeben mußten. Indes deutet sich hier schon an, daß die Phantasmen als Wahrheiten des Imaginären und die Wahrheit als

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Phantasmen des Realen nur als miteinander verknüpfte Buchstaben für eine bestimmte Zeitspanne vorhanden sind: Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen. (Nietzsche: Bd. IV, 546)

Im Absterben und Überleben von Formen, die aus einem Sprachgebrauch anderer Zeiten hervorgingen, in der Entstehung neuer Signifikanten oder in der Automatisierung und Generierung von Bildern bewährt sich die Flexibilität eines sprachlichen Systems. Die gleichnishafte Verwobenheit eines Krieges der Worte gegen ihre Benutzer, der Signifikanten gegen ihre Bedeutungen und der Nomen gegen die sie in Aussagen stellende Ordnung mit dem zeitkritischen Hintergrund militärischer Erhebungen ist keine bloße historische Koinzidenz, die sich auf die offenkundige Beziehung von "la triste condición de la prosa española y la inestabilidad del gobierno español" beschränken ließe (Schulman: 126). Es sind Spuren der Gewalt, die die Kommunikation im Zusammenleben der Menschen gleichsam durchziehen und in den zahllosen Veränderungen der Zeit festgehalten sind. Das durch die Bürgerkriege inszenierte Chaos im gesellschaftlichen Raum korrespondiert mit der Unordnung der Sprache, deren Bestandteile auch nur martialischen Kategorien gehorchen. In diesem metaprachlich-phantastischen cuento geht es daher auch nicht allein um die neuen Bedeutungen, die sich mit der Einführung französischer Konterbande in einem scheinbar geschlossenen sprachlichen Universum konstituieren und zum Objekt fortwährenden Streites mit den alten Bedeutungsträgern werden. Im Rahmen dieser Metaphorik wird vielmehr deutlich, daß das Ausbrechen der Signifikanten aus dem großen Diktionär nur die Folge einer nicht minder stürmischen Bewegung ist, die in entgegengesetzter Richtung verläuft. Die von ihnen so heftig beklagte Praxis des literarischen Schreibens initiiert mit dem Aufgreifen neuer Stoffe und Motive überdies Diskurse, die auch die Alltagssprache in den Kanon der poetischen Sprache aufnehmen und damit die nach dem Siglo de oro entstandenen diesbezüglichen Restriktionen auf-

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heben (Andrade Alfieri/Alfieri: 17 - 25)56. In ihrer Auflehnung gegen die Literaten verteidigen die Worte zudem ihre Rangfolge und damit eine klassische Ethik des Schreibens, die sich jeder nichtkonventionalisierten écriture, einschließlich ihrer Wertsetzungen, Formen und Stilmittel widersetzt. Wenn aber différente Schreibweisen den lexikalisch-semantisch festgelegten Sinnhorizont transzendieren und den Zeichenbenutzern besonders ein verbindlichzweckrationaler Gebrauch von abstrakten Begrifflichkeiten versagt bleiben muß, öffnet sich eine Schwelle zum Phantastischen. Semantische Felder, auf denen noch der Agonismus der Bedeutungen tobt, verlieren ihre festen Grenzen und weiten sich in einem unendlichen Spiel von Beziehungen zur "polysémie de l'image" aus (Todorov: 151): "The fantastic takes words and reconfigures their semantic ranges, puts them in new contexts, creates new grapholects for them, and in so doing it liberates us" (Rabkin: 26). Dieses auf Dissoziation, Verstreuung und Vieldeutigkeit ausgerichtete Spiel bringt unausgesetzt "notions phantastiques ou nomades" hervor, die die Unmöglichkeit reflektieren, angesichts einer als bloßes Phantasiegebilde erfahrbaren Welt Wirklichkeit noch hinreichend repräsentieren zu können (Deleuze: 364). In ihrer Ort- und Zeitlosigkeit widersetzen sie sich universalen oder kategorialen Bestimmungen, die sich als sprachliche Spiegel scharf konturierter Sinngehalte anbieten könnten. Was im Zeitalter bürgerlicher Allmachtsphantasien als Herrschaft der Bezeichnungen über die Dinge gedacht war, wie sie englische Utilitaristen vom Schlage eines Bounderby in ihrer Forderung nach dem Faktischen immer wieder konkretisieren 57 und schließlich auch die Wörterbücher der Academia española ("1869 und 12 1884)58 bestätigen, erweist sich nun als sprachlicher Irrgarten für einen Menschen, der noch immer glaubt, mit der Laterne einer naiven, freilich nicht ungefährdeten Zweckrationalität seinen Weg zu den Bedeutungen finden zu können. So wie sprachliche Glieder - sozialer Revolutionen ungeachtet ihren eigenen hierarchischen Strukturen unterworfen sind, so ist der Mensch, wie die Allegorie zeigt, nicht weniger ein solches Subiectum der Sprache. Freilich gehören zu diesem auch jene Zeichen, die im Autorennamen den ritualisierten Gebrauch der Sprache markieren und zudem Absichten oder Konzepte seines Trägers ausdrücken sollen. Denn was dem Autor letztlich bleibt, ist nicht die Souveränität in seinem von ihm beschriebenen Kosmos,

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sondern die eigene Auflösung in tausend kleine Iche, tausend Passivitäten und Durcheinander (Foucault 1977: 11 bzw. 9 ). Die Tendenz der Figuren, sich gegenüber ihrer Erzählerinstanz zu emanzipieren, ist nur die Folge eines Prozesses, der bei der Suche nach dem Autor enden wird: Y algunos de los artificios (tricky devices) deberían esperar hasta el siglo XIX antes de volver a convertirse en parte significativa de las obras de algunos grandes escritores. En efecto, Don Quijote y Sancho han anticipado en tres siglos a los personajes autónomos de Pérez Galdós, de Unamuno y, antes que nada, de Pirandello. (Riley: 135)

Das Schicksal des Autors wäre in dem von Königen wie Pepe Rey, Teodoro Golfín, Doña Perfecta vorgezeichnet, deren vergebliches Handeln allein darauf konzentriert ist, einzig ihre Geschichte, ihre Vernunft und ihre Sprache ins Zentrum zu setzen, "comme [s'ils aient] peur de penser VAutre dans le temps de [leur] propre pensée (Foucault 1969: 21). Das jakobinische Aufbegehren und die militante katholische Reaktion, die Notwendigkeit einer laizistischen Volksbildung und das Festhalten an kirchlichen Dogmen, das emphatische Verlangen nach Toleranz und der religiöse Fanatismus dachten in einer Sprache, die sich kaum noch als Medium der Verständigung zwischen den Parteien anbot. Angesichts ihrer ideologischen Aufgeladenheit drohen Worte wie in La conspiración zu lauten Symbolen ihrer selbst zu werden, wenn sie weder neue Konnotationen zu erzeugen vermögen noch in ihrer denotativ-zeichenhaften Funktion erfaßbar sind. Die Alternative des Entweder-Oder bedingte im Einschluß der Einen den Ausschluß der Anderen. Der Rede der Doña Perfecta über das falsche, antiklerikale Spanien ihres Neffen folgte zwar dessen Gegenrede über den Sieg der Vernunft, aber am Schluß scheint sein Tod die logische Konsequenz. Der Zwang zur Eindeutigkeit, wie wir sie schon in der Begriffswelt des Pepe Rey ausmachten, verengt die Kompetenz der Sprache auf eine Weise, daß diese die widerständigen Wahrnehmungsakte kaum noch mit weitmaschigen (ideo)logischen Konzepten erfassen kann: Das "Wirkliche entwirft sich in Bildern" (Guérin: 204), in phantastischen Bildern, die der Literatur gerade in Hinblick auf die emanzipatorische Seite der Religion als "Seufzer der bedrängten Kreatur" (Marx: 378) die Fähigkeit zum Sprechen in Symbolen und damit zum Ausdruck einer konfessionslosen Wahrheit einräumen wird:

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La novela galdosiana entra en un período de creciente intensificación de sus elementos transcendentes, en el cual el autor se halla frente a fundamentales preocupaciones religiosas. (Correa: 135)

Wenn die phantastischen Momente in Doña Perfecta die Eindimensionalität des Thesenromans unterlaufen, dann bedeutet dies nicht weniger, als daß im erzählerischen Gestus die Wahrheit des Unbewußten an die Oberfläche getrieben wird, um der 'ausschließenden' Vernunft jeglicher Provenienz nur einen kurzen Triumph zu gönnen. In diesem Vorgang, Gegensätzliches in einen Erzählfluß zu bringen, ohne es als solches aufzulösen, befindet sich ein weiterer Moment des Phantastischen, das überdies einem menschlichen Grundbedürfnis Genüge tut: "A un anhelo del hombre, menos obsesivo, más permanente a lo largo de la vida y de la historia, corresponde el cuento fantástico: al inmarcesible anhelo de oír cuentos" (Bioy Casares/Borges/et al.: Vorwort: 17). Bei der bewußten Anerkennung dessen, was sich dem gleichförmigen Zug der modernen Zeiten entgegenstellt, hat die Literatur den politischen Diskurs übertroffen und, wie Broch etwas pathetisch schreibt, die "Mission einer totalitätserfassenden Erkenntnis" übernommen, um damit die "Pflicht zur Absolutheit der Erkenntnis" zu erfüllen (Broch: 204). Die Eigenmächtigkeit des erzählerischen Gestus war in Doña Perfecta immer dann hervorgetreten, wenn ein effet de phantastique jene Kommunikation zwischen den Innenansichten der Handelnden und dem Leser ermöglichte, die zwischen den Protagonisten feindlicher Parteien mangels einer diskursiven Synthese unterbleiben mußte. In dem Maße, wie das Unbewußte aber, etwa in Marianela oder Miau, aus dem Antagonismus klerikaler Usurpation und szientistischem Fortschrittsglauben heraustritt, erhält es in seiner literarischen Bewußtwerdung einen Spielraum, der sich nicht mehr ausschließlich auf die Verwirrung der Sinne festlegen läßt. Wie Galdós in der Ehrung Peredas vor der Academia española, erfährt das Subjekt des Autors, daß die eigenen Anschauungen auf ein Gegenüber angewiesen sind, in dem sich die verschütteten Wahrheiten des Selbst begegnen: Tenemos, pues, en Pereda el contrapeso de las impaciencias innovadoras. Nuestra literatura novelesca ha logrado ese beneficio, y por eso está equilibrada, y por eso vive Vive, porque ha podido ensanchar su esfera de ideación en mayor o menor grado; vive, porque ha sabido sostener el alma y los modos de la raza. Lo armónico

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de este conjunto se comprende y aprecia mejor, advirtiendo que las tentativas de renovación no tendrían eficacia sin ese contrapeso que les impide lanzarse a desvarios peligrosos, ni ese contrapeso valdría lo que vale si no existiera algo que le estimula en su misión grandiosa.5 (Pérez Galdós 1990: 178)

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ANMERKUNGEN 1. Historiker wie Martínez Cuadrado zögern nicht, die Geburt einer 'Edad de Plata' in diese Epoche zu situieren, in der eine neue literarische und kulturelle Blüte mit der Entstehung des Realismus zusammenfällt (Vgl. Bd. VI. der Historia de España. Alfaguara: La burguesía conservadora 4 (¡874 - 1941). Madrid 1978, 529 - 551). Vgl. auch Pedraza Jiménez: 66: "Con independencia de los gustos y particulares aficiones de cada cual, no hay duda de que estamos ante el principio y quizá la raíz de la gran literatura española moderna. " 2. Die Begriffe 'realistisch' und 'phantastisch' haben bis heute auf der Ebene der Alltagssprache ihren semantischen Ausschlußcharakter behalten. Vgl. dazu etwa Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Berlin (DDR) 1989, 1439 bzw. 1268 oder Duden, 677: Irrationale Wortfelder wie 'schwärmerisch', 'unwirklich', 'ungewöhnlich' sowie 'unglaublich' stehen etwa 'Wirklichkeitsnähe' oder 'Sachlichkeit' gegenüber, was dynamischer und illusionsloser Lebenstüchtigkeit am ehesten entsprechen dürfte. 3. z. B. Una industria que vive de la muerte, Tropiquillos, ¿Dónde está mi cabeza?, Celín und La conjuración de las palavras. 4. z. B. Mi entierro-Discurso de un loco. 5. Es sei besonders auf den Moment der "hésitation commune au lecteur et au personnage" hingewiesen, die für Todorovs Definition des Phantastischen so konstitutiv ist (Todorov: 46). 6. Wir teilen die Kritik Claytons (1982) und S. Bergs (Schlimme Zeiten, böse Räume. Zeit- und Raumstrukturen in der phantastischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Stuttgart o. J., 18) an der These Todorovs, die dem phantastische Diskurs seit der Entstehung der Psychoanalyse im XX. Jahrhundert seine historische Berechtigung abspricht. Es ist bezeichnend, daß Todorov die Fülle an phantastischer Literatur, welche in der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts entstanden ist, nicht berücksichtigt. Seine gesamte Argumentation beruht auf Kafkas Verwandlung (Todorov: 177)

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Kian-Harald Karimi und macht damit, wie Berg hervorhebt, "die Brüchigkeit seiner Theoriebildung am deutlichsten klar".

7. Von den dreißig von ihm angegebenen Titeln sind wenigstens einundzwanzig diesem Zeitraum zuzuordnen. 8. Während die Despoten "contes qui sont raison, et qui ne signifient rien" den Vorzug geben, zieht es der aufgeklärte Sultan Ouloug vor, sich der Lektüre des Zadig zu widmen. 9. Vgl. Kant: 97: "Unsre Natur bringt es so mit sich, daß die Anschauung niemals anders als sinnlich sein kann, d.i. nur die Art enthält, wie wir von Gegenständen affiziert werden. Dagegen ist das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken, der Verstand. Keine dieser Eigenschaften ist der andern vorzuziehen. Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind." 10. Descartes: 46: "Cogitare? hic invenio: cogitatio est, haec sola a me divelli nequit; ego sum, ego existo, certum est." 11.Cassirer bezeichnet als symbolische Form "jene Energie des Geistes, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird". 12. Diese Beschreibung des Phantastischen korrespondiert mit den Definitionen, die die Forschung zur Verfugung stellt. So kennzeichnet sich das Phantastische "par une intrusion brutale du mystère dans le cadre de la vie réelle" (Castex: 8). Sein Duktus "aime nous présenter, habitant le monde réel où nous sommes, des hommes comme nous, placés soudainement en présence de l'inexplicable" (Vax: 5). 13. Clarin stellt hier die Spannung zwischen der eigenen Religiosität und seiner an der Aufklärung geschulten Philosophie dar, die er nicht wagt, zugunsten der einen oder der anderen Seite aufzulösen. Im Folgenden werden die wichtigsten spanischen Zitate auf Wunsch der Redaktion zumeist in einer deutschen Teilübersetzung angegeben, die in den entsprechenden Fußnoten erscheinen.

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14. In diesem Kontext ist es aufschlußreich, daß der Philosophie u. a. von Clarín noch Lösungsmodalitäten attestiert wurden, über die sie im ausgehenden XIX. Jahrhundert nicht mehr verfügen konnte. 15. Übers.: "die unentbehrliche Brücke zwischen der Literatur des XVII. Jahrhunderts und der des XX. Jahrhunderts." 16. Mit 'Zuschreibungsverhältnis' ist hier der Verweis eines Textes auf den Namen seines Autors gemeint. Das Aneignungsverhältnis bezeichnet darüberhinaus die unmittelbare moralische Verantwortung des Verfassers für sein Werk. 17. Vgl. zum Verhältnis spanischer Autoren zur Inquisition Miranda: 2 2 8 233. 18. So heißt es im Prolog des El ingenioso Hidalgo: Esta "escritura no mira más que a deshacer la autoridad y cabida que en el mundo y en el vulgo tienen los libros de caballerías." 19 Übers.: "die von unseren Romanciers am stärksten vernachlässigte Klasse [. . .] das große Modell, die unerschöpfliche Quelle". 20. Übers.: "kostumbristische Bilder". 21. Übers.: "Keinerlei Abstraktionen, keinerlei Theorien; hier geht es ausschließlich darum, etwas zu behandeln und auszudrücken, nicht darum, mehr oder weniger seltsame moralische Thesen zu entwickeln [...]". 22. Übers.: Der Roman ist ein Bild des Lebens, und die Kunst seiner Komposition besteht darin, menschliche Charaktere, Leidenschaften, Schwächen, das Große und das Kleine, das innere Wesen und die Gesichtszüge, alles Geistige und Physische darzustellen, aus dem wir bestehen und das uns umgibt [...]. 23. Siehe dazu etwa Kuhn, Th. S. ( 2 1970): The Structure of Scientific Revolutions. Chicago. Siehe auch Feyerabend, P. (1980): Erkenntnis für freie Menschen. Frankfurt/M. 24. Übers.: "den Schleier heben, hinter dem sich der Schlüssel zu unseren zukünftigen Schicksalen verbirgt". 25. Übers.: "übernatürliche Stimme".

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26. Vgl. dazu auch Oleza (91 - 92): "Galdós es el más típico representante de la ideología burguesa que inició la revolución, que contribuyó a consolidarla y que, finalmente, entró en crisis a finales del siglo." Übers.: "Alies hat sich verändert. Die Ausmerzung der Tyrannen hat das Ende der Befreier mit sich gebracht. [...] wir selbst, die wir vormals Opfer und Märtyrer waren, sind heute die Tyrannen [. ..]. 27. Übers.: "die Lieblingstochter der Kirche, die das Kreuz als Standarte führte". 28. Übers.. "Zusammenfassend läßt sich sagen, daß heute die große Mehrheit der Spanier weder glaubt noch denkt. Unglücklicherweise befinden wir uns in der schlechtestmöglichen Situation, denn der Glaube ist uns abhanden gekommen, ohne daß uns anscheinend die Philosophie etwas geben könnte, das diese wirksame Energie zu ersetzen in der Lage wäre [•••]". 29. Wir beziehen uns im folgenden auf Weinrich: 89 - 100. 30. Vgl. Lausberg: § 43,2b bzw. § 67,2 u. § 68. 31. Übers.: "Der Begriff Realismus [.. .] steht indirekt im Bezug zur kapitalistischen Konzeption, in welcher die Besitztümer (die Dinge) allen anderen Betrachtungen vorangestellt werden". 32. Übers: "Die Welt der Illusionen, die sozusagen die zweite Welt ist, stürzt krachend zusammen. Der Mystizismus in der Religion, das Althergebrachte in der Wissenschaft, der Manierismus in der Kunst fallen, wie die heidnischen Gottheiten gefallen sind: unter Gespött. Lebt wohl, törichte Träume; das Menschengeschlecht erwacht, und seine Augen sehen das Licht.[...] Die Phantasie, diese gefahrliche Verrückte, die bislang Herrin im Haus war, sinkt zur Dienerin herab... Blicken Sie um sich [...] und Sie werden das bewundernswerte Gesamtbild der Realität sehen, das den Mythos verdrängt hat. Der Himmel ist kein Gewölbe, die Sterne sind keine Lichtchen, die Mondscheibe keine mutwillige Jägerin, sondern ein undurchsichtiger Steinklotz. Die Sonne ist kein herausgeputzter, herumkutschierender Wagenlenker, sondern ein feststehender Glutball. [...] Mars ist ein alter Graubart, der Graf von Moltke; Nestor könnte ein Herr

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im Gehrock sein, der Monsieur Thiers; Orpheus ist Verdi; Vulkan ist Krupp, Apollo irgendein Dichter. [...] Der Mythos, mag er sich nun Heidentum oder christlicher Idealismus nennen, existiert nicht mehr, und die Phantasie liegt in der Leichenschauhalle." 33. Vgl. bes. Aparici Llanas: 323 - 340. Bezeichnend für diese Rezeption ist das geradezu vernichtende Urteil von C. Baija {Libros y autores modernos. Madrid 1925, zit. nach Aparici Llanas: 21): "¿Una novela? Es una idea, una tesis, y ni siquiera una idea ni una tesis: es una pasión lo que Galdós novela, una pasión tan fanática como la de un católico intransigente. Hay demasiada vehemencia pasional en la obra, demasiado espíritu de ataque y de propaganda. Fue escrita para la Prensa, y eso es: una serie de artículos de Prensa anticlerical y anticatólica." 34. Vgl. A. Dessau in Pérez Galdós 1963: 295: "Symbolisch bringt Galdós hier [im Intrigenspiel des Klerus] zum Ausdruck, daß die Familie der klerikalen Dunkelmänner den Kampf gegen den aufgeklärten Fortschritt führt, um Spanien in ihre Gewalt zu bekommen." 35. Der Roman erscheint zuerst in der liberalen Revista de España in einer Zeit (1876), in der die Polemik über den Status der Wissenschaften in Spanien zwischen Menéndez Pelayo und José M. Echegaray ausgetragen wurde, "un hito importante de la cultura española" (Sala Catalá: 158). 36. Übers.: "Oh, wie schwierig ist es doch für den nach Unparteilichkeit strebenden Geschichtsschreiber, die Wahrheit in bezug auf die Meinungen und Gedanken der großen Persönlichkeiten herauszuschälen, die die Welt mit ihrem Ruhm erfüllt haben! Man weiß nicht, woran man sich halten soll, und das Fehlen sicherer Daten öffnet beklagenswerten Irrtümern Tür und Tor. [...] Welch ungeheure Verantwortung, die wir da tragen! [...]" 37. In der späteren dramatischen Adaptation treten die dämonischen Züge der Doña Perfecta aus der Sicht Pepes noch offener zutage: "¡Dios mío! ¿Esa mujer terrible... Duerme? Con esa conciencia; es posible en humana vida la paz, el descanso del sueño? No, no creo que duerma. Fatigada se enroscará como una serpiente, y el oído atento, abiertos los ojos, velará, velará siempre." (Vgl. Pérez Galdós 1951: 797 - 798)

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38. Die 'nación ficticia' ist die Repräsentation dessen, was Pepe Rey auf der materiellen Ebene zur "renovación de este país" und auf der ideellen zur Entmythisierung der Wirklichkeit anstrebt. Die 'nación real' wäre als ständige Präsenz die Verknüpfung von Poesie und Illusion mit den Verhältnissen der Subsistenzwirtschaft von Orbajosa. 39. Warum unterschlägt der Erzähler übrigens den Wortlaut des väterlichen Briefes, auf den Pepe ja offenbar antwortet? (Vgl Pérez Galdós 1984: 272) 40. Übers.: der "verschlafenen Bischofsstadt". 41. Übers.: "In seiner Vorstellung stellte er sich die edle Stadt seiner Mutter wie eine furchtbare Bestie vor, die ihre scharfen Krallen in sein Fleisch schlug und ihm das Blut aussaugte [...]. 42. Übers.: "Ich habe mich sehr verändert. Ich kannte diese Gefiihlsausbrüche nicht mehr, die mich heimsuchen. Ich bin nicht mehr derjenige, dem eine nahezu perfekte Erziehung eine unglaubliche Beständigkeit in seinen Gefühlen verlieh". 43. Übers.: "Ungefähr zwei Stunden lang befand er sich in den Klauen des furchtbaren gelben Dämons, dessen stechende Goldaugen Verwirrung und Faszination hervorrufen [...]. 44. Übers.: "Gerade das nahezu völlige Fehlen von Klarheit rief den Effekt einer traumartigen Bewegung in der Fülle der Bäume hervor, welche sich scheinbar ausbreiteten. Sie gingen gemächlich davon und kehrten sich windend zurück, wie der Wellenschlag eines Schattenmeeres." 45. Übers.: "Die Insekten der Nacht flüsterten ihm zu und sagten ihm geheimnisvolle Worte. Hier ein rauhes Zirpen. Dort ein Schnalzen, das dem ähnelt, das wir mit der Zunge machen. Dort leidvolles Murmeln, weiter entfernt ein vibrierender Klang, ähnlich dem einer Kuhglocke". 46. Übers.: "wie die Taube in den Fängen des Adlers". 47. Übers.: "Ich verabscheue meine Mutter. [...] Ich weiß nicht wie das kommt... Wie schlecht bin ich doch! Die Dämonen haben sich meiner bemächtigt".

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48. Übers.: "Der Mensch hat eine Vernunft, die ihm die Prinzipien und Gesetze der Wirklichkeit vorschreibt. Aber er weiß nicht, ob die Wirklichkeit mit der Vernunft übereinstimmt. Er ist wie eine Uhr, die die Zeit angibt, aber nicht weiß welche". 49. Hier wären exemplarisch Texte wie Galdós Miau (1888), A. de Alarcóns La Pródiga (1880), E. Pardo Bazáns Morriña (1889) oder Valeras Genio y figura (1897) zu nennen. 50. Übers.: "Am Ende des XIX. Jahrhunderts interessierte sich Galdós für die Phänomene des Spiritismus, Parapsychologie und Dämonologie [...]". 51. Übers.: "Die Pathologie in Tausenden ihrer sozialen und psychophysischen Varianten wurde zur Mode. [...] Die Prostituierten, Homosexuellen und die unter Halluzinationen Leidenden riefen in Schriftstellern und Malern ein bislang ungewöhnliches Interesse hervor [...]". 52. Diese Erzählung erschien zuerst in La Nación, am 12 April 1868, dann in der ersten Auflage von Torquemada en la hoguera, 1889. A. E. Smith weist auf die Unterschiede hin, die beide Versionen voneinander trennen: [ . . .] "como vimos en la introducción, el desarollo del concepto cervantino y quijotesco en el pensamiento de Galdós evoluciona desde una visión negativa ante un héroe estrafalario, hacia una comprensión profunda de la sabiduría cervantina, basada en la capacidad no ya dialéctica, sino dialogal, del hombre." (Smith: 54) 53. Wir setzen die Kritik an Todorovs Verengung des Phantastikbegriffes hinsichtlich der Allegorie voraus, ohne in diesem Kontext näher darauf einzugehen. 54. Übers.: "Meine Herren. Die Dreistigkeit der spanischen Autoren hat unsere Gemüter erregt. [...] Unserer edler lateinischer Ursprung nutzt uns gar nichts, damit diese Leute unserer Bedeutung Respekt beimessen". 55. Freilich teilt der implizite Autor einen gemeinsamen Rahmen zeitbedingter Erfahrungen mit dem Leser, auf den wir mit Smith nur aufmerksam machen können: die Erzählung erscheint fünf Monate vor jener Revolution, die der Regentschaft der Königin Isabella ein Ende setzt und für kurze Zeit die erste spanische Republik ermöglicht.

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56. Vgl. dazu auch Brumme: 95 - 96: Insofern antizipiert das cuento ein Schreiben, das nicht allein in Texten von Galdös eine neue sprachliche Qualität erreichen wird. 57. Dickens: 47: "Now, what I want is, Facts. Teach these boys and girls nothing but Facts. Facts alone are wanted in life. Plant nothing else, and root everything else. You can only form the minds of reasoning animals upon Facts: nothing else will ever be of any service to them." 58. Vgl. dazu das Vorwort in der Ausgabe von 1884. Im Zuge der sich entwickelnden Natur- und Humanwissenschaften ist auch in Spanien eine stetige Akkumulation immer neuer Lexeme und fachsprachlicher Begriffe zu verzeichnen, die sich der Zersplitterung des enzyklopädischen Wissenschaftssystem im ausgehenden XVIII. Jahrhundert verdankt. 59. Übers.: "In Pereda können wir das Gegengewicht zu den Reformerwartungen erblicken. Unsere Romanliteratur hat diesen Vorteil genutzt. Sie hat daher einen Ausgleich gefunden und lebt. [...] die Erneuerungsversuche werden ohne dieses Gegengewicht zu keinem Ergebnis kommen, das sie davon abhält, sich in gefährliche Abenteuer zu stürzen. Aber dieses Gegengewicht würde nicht den ihm zustehenden Wert haben, wenn nicht etwas vorhanden wäre, das es in seiner großartigen Aufgabe anspornt."

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Elmar Schenkel

RADIUM UND LITERATUR Im Jahre 1921 begibt sich, gedrängt von ihren Freunden, eine weltberühmte Wissenschaftlerin auf ihre erste offizielle Tournee in die Vereinigten Staaten. Die Reise der Madame Curie wird zu einem Triumphzug: Ehrendoktortitel, Ansprachen, Feiern. Die Presse berichtet ausführlich und mit großen Schlagzeilen über diese "Wohltäterin der Menschheit", Mädchen stehen Spalier mit Fähnchen, und Frauencolleges und -vereine ziehen in Paraden vorbei. Ein Ereignis am Rande: Ein durch Radium von seinem Krebs geheilter Blumenzüchter schenkt ihr einen Berg Rosen (Curie: 225). Der 54jährigen bescheidenen Polin behagt diese Publicity gar nicht, aber der amerikanischen Journalistin Meloney war es gelungen, sie aus ihrer wissenschaftlich-klösterlichen Einsamkeit in Paris zu entreißen. Dieser Journalistin hatte Marie Curie gesagt: '"Amerika besitzt ungefähr fünfzig Gramm Radium [...] vier in Baltimore, sechs in Denver, sieben in New York."' (Curie: 222). Frankreich dagegen besaß nur ein Gramm. Mrs. Meloney versprach, Amerika zu mobilisieren, um ein weiteres Gramm für Madame Curie zu besorgen. Der Marktwert für ein Gramm Radium betrug damals ca. 100 000 Dollar. So begann Mrs. Meloney eine Kampagne unter den Frauenverbänden in den USA für den "Marie Curie Radium Fond". Ein Jahr später war das Geld zusammen und die Reise nach Amerika konnte unternommen werden. Der Höhepunkt war am 21. Mai 1921 erreicht: Präsident Harding übergab der Wissenschaftlerin eine symbolische Schatulle mit Schlüssel.1 Marie Curie schenkte dieses Gramm Radium der französischen Wissenschaft. Die Tochter Eve Curie schrieb: "Der Radiumvorrat, den Marie Curie mit sich führt, gewinnt [...] eine gewissermaßen symbolische Bedeutung. Um ihn anzuschaffen, war es nötig einen ganzen Kontinent in Bewegung zu setzen" (Curie: 232). Wenn wir diesen Vorgang aus einer Distanz sehen, drängt sich eine literarische Parallele auf. Marie Curies Mission ist von der Art, wie wir sie aus den Märchen kennen, wo Held und Heldin sich auf die gefahrliche Suche nach einem seltenen Kraut, einem Drachenfuß, einem von bösen Zwergen bewachten Edelstein machen und dafür gläserne Berge besteigen, Ungeheuer

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besiegen und schwere Proben überstehen müssen. Am Ende steht die Heilung des Königs, die Wohltat für die Menschheit, die nur der Selbstlosigkeit des Protagonisten zu verdanken sind.2 Was hat es mit diesem Stoff auf sich, daß er einen ganzen Kontinent in Bewegung setzt und uns diese Märchenreise mitten im 20. Jahrhundert vorfuhrt? Im folgenden möchte ich zeigen, wie das Radium in der Kultur aufgenommen wurde und wie es in einem Medium verarbeitet wurde, das wie kein anderes die Hoffnungen und Ängste, das Bewußte und Nicht-Bewußte der Menschheit darzustellen vermag, die Literatur, und hier insbesondere in der Phantastik und Science Fiction. I DAS RADIUM UND DIE KULTUR DER JAHRHUNDERTWENDE Der Impuls zur Entdeckung der Radioaktivität kam aus Würzburg. Dort stieß der Physiker Wilhelm Conrad Röntgen im Jahre 1895 auf ein merkwürdiges Phänomen. Röntgen beschäftigte sich seit einiger Zeit mit der Dichtigkeit von Materie. Er experimentierte mit Vakuumröhren, durch die er elektrische Ströme schickte, den sog. Crookeschen Röhren, jene Kathoden, die für die Entwicklung des Fernsehens entscheidend waren. Röntgen entdeckte per Zufall, daß Strahlen aus der Röhre traten, also Materie durchdringen konnten. Er nannte sie X-Strahlen (X=unbekannt). Wenige Tage nach Bekanntwerden der neuartigen Strahlen begannen Ärzte sie schon als Hilfsmittel einzusetzen, um in das Innere des Körpers zu schauen. Diese Botschaften aus dem Inneren Röntgen hatte gleich als erstes mal die Hand seiner Frau durchleuchtet und präsentiert - interessierte auch den Franzosen Henri Becquerel, der drei Monate später bei Versuchen auf eine weitere Strahlung stieß - die des Urans. Er hatte festgestellt, daß eine eingewickelte Uranprobe auf einer photographischen Platte einen Schleier hinterließ, obwohl beide in einer Schublade versteckt, also lichtgeschützt waren. Dies war der Ansatzpunkt für das Ehepaar Curie, die 1898 eine ähnliche Strahlung für das Element Thorium entdeckten und diese Radioaktivität nannten. Rutherford und Soddy entwickelten die erste kohärente Theorie zu dem Phänomen. Sie konnten dies tun, da sie im Jahre 1901 herausfanden, daß bei der Radioaktivtät etwas geschieht, was zu-

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letzt nur noch die Alchimisten geglaubt hatten: nämlich daß die Strahlung durch eine Verwandlung der Materie entsteht. Dies führte sie zur "transformation theory, one of the most iconoclastic ideas ever introduced into science [...] a giant step forward in understanding the nature of matter [,..]" (Baldash: 16). Von diesem Zeitpunkt an begannen die Spekulationen in der Öffentlichkeit zu florieren: Eine neue mysteriöse Energie, die aus der Umwandlung von Atomen entstand; eine plötzlich instabil gewordene Materie; eine Strahlung mit unbekannten Wirkungen - all das bewegte die Gemüter, die Medien und brachte nicht zuletzt die phantastische Literatur auf den Plan, jene Literatur, die den Bruch mit der empirischen Wirklichkeit sucht und sich jenseits des dominierenden positivistischen Weltbildes ansiedelt. Literatur und populäre Kultur erkennen in diesem neuen Phänomen ein ganzes Arsenal von Bildern mit starkem Reizwert, der die Leser fesseln kann. Gleichzeitig mühen sich Journalisten, Autoren, Künstler, Designer und Werbeleute, das Neue verständlich zu machen, es auf vertraute Kategorien zurückzuführen, um es in der Kultur zu integrieren, aber auch um es in die Warenzirkulation einzuschleusen. Sehr schnell erkennen einige Geister die kommerziellen Möglichkeiten. In den ersten Jahren waren es allerdings die Röntgenstrahlen, die eine weit größere Aufmerksamkeit auf sich zogen. Die "Becquerel-Strahlen", wie sie zunächst hießen, brauchten einige Zeit, um in ihrer Tragweite erkannt zu werden. Becquerel publizierte sieben Artikel im Jahre 1896 und zwei im Jahre 1897 und dann erst einmal gar nichts mehr, während 1896 schon mehr als 1000 Artikel und Bücher über die Röntgenstrahlen erschienen. Aber die Verwechslung zwischen Röntgenstrahlen und Radioaktivität war zunächst gang und gäbe. Es sind dieselben Phantasien, die sich um beide Phänomene kristallisieren. Deshalb möchte ich zunächst einige Bemerkungen über die Aufnahme der Röntgenstrahlen durch die Kultur machen. Thomas A. Edison war mit seinen etwa 1000 Patenten nicht nur gut im Erfinden, sondern auch im Verkauf seiner Erfindungen. Schon am 25. März 1896 war ein Thomas-A.-Edison-Röntgenkasten auf dem Markt. Wenige Monate nach Röntgens Entdeckung konnte er mit einer öffentlichen RöntgenShow aufwarten. Die Leute standen stundenlang Schlange, um ihre Knochen

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betrachten zu können. 1898 wurde das Röntgenbild der "X-ray lady" ausgestellt. Für Voyeure des Totentanzes taten sich ungeahnte Möglichkeiten auf und so wurde auch die erste bleierne Unterwäsche produziert, um unerwünschten Blicken Einhalt zu gebieten. 1896 konnte man dieses Gedicht lesen: X-actly So! The Roentgen Rays, the Roentgen Rays, What is this craze? The town's ablaze With the new phase Of X-ray's ways I'm full of daze Shock and amaze; For nowadays, I hear they'll gaze Thro' cloak and gown - and even stays These naughty, naughty Roentgen Rays, (zit. bei Hillgartner et al.: 3)

Es gab Pläne, die Seele selbst mit Röntgenstrahlen zu erforschen, Heizsysteme mit ihnen auszurüsten, oder den Menschen von innen damit zu erwärmen. Auch röntgenbeheizte Rattenkäfige waren im Gespräch (Hillgartner et al.: 2 f.). Mit Röntgenstrahlen hofften Temperenzlervereine den Trinkern und Rauchern ihre Laster abzugewöhnen. Didaktisch wertvoll erscheint auch die Idee, per Röntgenstrahlen das Wissen direkt in die Hirne der Studenten zu projizieren (Caulfield: 15 f.). In Schönheitssalons wurde die sogenannte "Lichtbehandlung" praktiziert, bei der man mit den Strahlen ungeliebte Härchen entfernte - mit katastrophalen Folgen (ebd. 21)? Schon bei den ersten Selbstversuchen wurde deutlich, daß die Strahlen gefahrliche Verbrennungen auslösen. Ende 1896 fragte sich der Physiker Thompson, "welchen Körperteil zu verlieren ich mir am ehesten leisten könnte, und meine Wahl fiel auf das letzte Glied des kleinen Fingers meiner linken Hand" (Caulfield: 22). Thompson war einer der ersten Märtyrer in einer langen Reihe. Ihnen errichtete die Deutsche Röntgengeseilschaft 1936 in Hamburg ein Denkmal. Wer den Zauberberg gelesen hat, weiß, daß bis in die zwanziger Jahre die Strahlen ihr Mysterium behalten sollten.

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Dagegen wurde die radioaktive Strahlung wissenschaftlich erst noch länger analysiert, bevor sie in das öffentliche Bewußtsein drang. Zwischen 1896 und 1920 verlief das wissenschaftliche Interesse an Radioaktivität nach dem Schema der S-Kurve, die de Solla Price als charakteristisch fur neue wissenschaftliche Entdeckungen festgestellt hat. Die Zahl der Veröffentlichungen steigt zunächst sehr langsam, wird nach einiger Zeit steil, um später wieder abzusinken, wenn die größten Forschungsfragen beantwortet erscheinen. Das populäre und kommerzielle Interesse setzte nach der Jahrhundertwende ein und löste die Röntgenstrahlen in der Faszination ab, zumal viele Eigenschaften der letzteren in der Radioaktivität weiter verfolgt werden konnten. Das Interesse speiste sich aus mehreren Quellen: Erstens faszinierte der Leuchtcharakter des Elements, zweitens die Versprechungen einer unerschöpflichen Energie und drittens die möglichen Heilwirkungen. Die Leuchtkraft von Radium in der Dunkelheit inspirierte aufwendige Leuchtballettshows und andere Spektakel: By 1903, this 'natural Roman candle', since it continually emitted radiation, had become the inspiration for a variety of efforts in other fields. Miss Loie Fuller, the American 'serpentine lady" created a number of 'radium dances' in which monster moths and iridescent halos were formed using fluorescence salts from pitchblende residues, and at the Casino in New York radium dances and the wonders of radium aided the plot of a musical comedy entitled 'Piff! Paff! Pouf!!!' (Baldash: 26)

Eine weitere Attraktion war das Radium-Roulette. Leuchtfarbe wurde der kommerzielle Renner. Seit 1870 hatte es schon eine solche Farbe gegeben, aber sie mußte erst durch Licht aufgeladen werden. Das war mit dem Radium nicht mehr nötig, es strahlte unentwegt aus sich selbst heraus. Insbesondere der Erste Weltkrieg wirkte als Katalysator für die neue Technik. Soldaten sollten Armaturen und Uhren im Dunkeln sehen können, ohne Licht anzuzünden; und so wurden ganze Armeen mit derart behandelten Geräten ausgerüstet. Dazu kamen friedliche Objekte wie Straßenschilder, Bergbauschilder, Türschilder, Theatersitznummern, Fischköder und Leuchtaugen für Puppen und Tiere. 1918 wurden in den USA etwa 95% des vorhandenen Radiums für derartige Leuchtzwecke gebraucht.

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Die zweite Quelle der Faszination lag in der Energie, die im Radium zu schlummern schien. Bald ging durch alle Zeitungen, daß man mit einem Stück Radium ein Schiff mehrmals um den Globus treiben konnte oder daß ein Gramm Radium ein Gewicht von 500 Tonnen eine Meile hoch heben könnte. Einige sahen schon die gesamte britische Marine radiumgetrieben über dem Mont Blanc schweben (Baldash: 27). Aus dieser Kraft heraus ergaben sich sogleich die Phantasien der Zerstörung, die von der Science Fiction aufgegriffen werden. Diese hatte ja geradezu auf ein solches Wunderprodukt gewartet, um ihren Phantasien einen wissenschaftlichen Anstrich geben zu können. Denn schon vor dem Radium kursierten Vorstellungen einer mächtigen Energie, die man anzapfen und verwenden könnte, so in BulwerLyttons Roman Fr/7, Or the Coming Race von 1871. Hier ist eine unterirdische Zivilisation im Besitz einer geheimen Kraft namens vril, mit der alles mögliche betrieben werden kann, so auch furchtbare Kriege. Die dritte Quelle der Faszination lag in der vermuteten Heilkraft des Radiums, auf die sich in der Folge eine ganze Reihe von Kurorten berief, als die in Luft, Erde und Wasser vorhandene natürliche Radioaktivität entdeckt war. Radium konnte demnach Krankheiten wie Krebs besiegen, aber auch Verjüngung herbeifuhren. Damit knüpfte die mythenfreudige Werbung wieder an die Legenden vom Jungbrunnen an. In Deutschland wurde unter der Marke "Verjünger" ein radiumhaltiger Schokoriegel verkauft. Radioaktive Zahnpasta führte zu strahlenden Zähnen und eine radioaktive Gehörhilfe namens Hörium versprach Großes (Caulfield: 43). Die medizinische Wirkung wurde früh festgestellt, ebenso die schädliche Wirkung bei Überdosis. Schon Pierre Curie soll behauptet haben, daß er sich ungern mit einem Kilo Radium in ein Zimmer sperren ließe. Bekannt ist, daß beide Curies und Becquerel Verletzungen erlitten durch einen allzu sorglosen Umgang mit dem Stoff. Marie Curie wollte aber bis zu ihrem Lebensende die Schädlichkeit des Radiums nicht wahrhaben.4 Der amerikanische Erfinder der "X-ray lady", W.J. Morton, war auch hier ein Pionier. Er stellte den sogenannten "Liquid Sunshine" her, ein radioaktives Getränk, das durch inneres Leuchten die Organe im Körper heilen sollte. Sein "Liquid Sunshine Dinner" im Jahre 1904 könnte aus einer Geschichte von Edgar Allan Poe stammen: Morton erschien im abgedunkelten Raum

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with a phosphorescent cigar in his mouth which looked like a gigantic icicle [...] human skeletons, covered in luminous paint emerged [...] and proceeded to dance. Minute balloons, similarly treated, [...] floated here and there [...] Two pasteboard chickens decorated with the paint were shown fighting over an egg. (Hilgartner et al.: 5)

Traten ab 1905 die Schäden stärker ans Licht, so gab es erst 1925 einen handfesten Skandal, als die Vermutung aufkam, daß Frauen, die in einer Fabrik in New Jersey Leuchtfarben mit Pinseln auftrugen, an Strahlenschäden erkrankten. Die Firma wehrte sich mit Argumenten, die in den folgenden Jahrzehnten nur allzu geläufig werden sollten. Man führte die Schäden auf Einbildung zurück, denn Radium, hieß es, "because of the mystery which surrounds much of its action, is a topic which stimulates the imagination." (Hilgartner et al.: 10)5 II AUFLÖSUNG DER MATERIE UND DES SUBJEKTS In einem bestimmten Sinn hatte diese Firma natürlich recht: Radium hat von Anfang an die Phantasie stimuliert, insbesondere auch die literarische. Zwei Gesichtspunkte möchte ich hier vorstellen. Erstens hat Radium Anlaß gegeben, über die Struktur der Materie nachzudenken und Auflösungsphantasien nachzugehen, die Mensch und Materie betrafen. Das Radium kam mit seinen Eigenschaften Vorstellungen von Entmaterialisierung und Entstofflichung entgegen, die sich in der Literatur seit der Romantik immer wiederfinden und später vor allem in der phantastischen Literatur thematisiert werden. Zweitens hat die phantastische Literatur und die Science Fiction früh den Zusammenhang mit Macht erkannt, der in dieser Energiequelle lag und möglicherweise die Gesellschaft vollständig umwälzen würde. Die Gattungen, die dem Märchen am nächsten stehen, reagieren am stärksten auf den Einbruch irrational erscheinender Kräfte in die Realität. Die späteren historischen Ereignisse zeigen, daß die Radioaktivität tatsächlich ein neues Zeitalter eingeleitet hat, das Zeitalter der Strahlungen, wie es Ernst Jünger genannt hat.

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Der amerikanische Kulturkritiker Henry Adams diagnostizierte in seiner Autobiographie The Education of Henry Adams sein Zeitalter, insbesondere die Jahre von 1893 bis 1900 mit den folgenden Worten: [...] X-rays had played no part whatever in man's consciousness, and the atom itself had figured only as a fiction of thought. In these seven years man had translated himself into a new universe which had no common scale of measurement with the old. He had entered a supersensual world, in which he could measure nothing except by chance collisions of movements imperceptible to his senses, perhaps even imperceptible to his instruments, but perceptible to each other, and so to some known ray at the end of the scale. (Adams: 381 f.)

Schon Nietzsche, der vom Radium noch nichts wußte, sah den Zerfall der Materie in Atome voraus. Ströme und Strahlen sind gegen Ende des Jahrhunderts Begriffe, die Bedeutung in den beiden Kulturen gewinnen, ähnlich wie heute das Gegensatzpaar Ordnung und Chaos begierig von Naturwissenschaftlern und Geisteswissenschaftlern zugleich aufgegriffen wird. In beiden Fällen werden naturwissenschaftliche Begriffe zu modellbildenden Strukturen für Kunst und Literatur, die allerdings oft auf die vorwissenschaftliche Metaphorik reagieren, d.h. anknüpfen an einstige religiöse und weltanschauliche Bildlichkeit. Die Jahrhundertwende ist das nervöse Zeitalter, und so finden sich Physik und Kunst gleichermaßen wieder im Bild des elektrischen, von Strömen und Strahlungen durchwobenen Menschen (vgl. Asendorf: 58 ff.). Van Goghs späte Bilder muten an wie Notationen einer schwingenden und strahlenden Materie oder von elektrischen Feldern. Die Bilder Edvard Münchs und James Ensors zeigen Strahlenerlebnisse und Individuen und Strukturen, die sich auflösen. Arthur Schnitzler und Virginia Woolf entwickeln eine Literatur, die nicht ohne Grund Darstellung des Bewußtseinsstroms heißt. Die Architektur strebt nach einer Entstofflichung durch Technik. Hänge- und Schwebekonstruktionen kennzeichnen Projekte wie den Eiffelturm oder Brooklyn Bridge. Die Theosophie widmet sich der Aura und den Gedankenbildern, während die Psychoanalyse dem Ich den Boden unter den Füßen wegzieht. Kandinsky, der wie viele seiner Künstlerkollegen von der Theosophie beeinflußt wurde, notierte 1926 im Rückblick:

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Das Zerfallen des Atoms war in meiner Seele dem Zerfall der ganzen Welt gleich [...] Alles wurde unsicher, wacklig und weich. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn ein Stein vor mir in der Luft geschmolzen und unsichtbar geworden wäre. (Kandinsky: 12)

Die Science Fiction hat diese Phänomene der Entstofflichung immer wieder mit dem Radium und den Röntgenstrahlen in Verbindung gebracht. Es gibt Geschichten, in denen das Radium die Schwerkraft aufhebt, Persönlichkeiten auslöscht, Mutationen herbeifuhrt oder Menschen und Dinge verschwinden läßt. So ist zum Beispiel von Schecks die Rede, die durch eingebautes Radium sich nach einer gewissen Zeit auflösen, zur Verwunderung des Besitzers. Insbesondere H.G. Wells hat sich frühzeitig mit den spekulativen Möglichkeiten dieser und ähnlicher Substanzen beschäftigt. Einer seiner Romane, der erneutes Interesse verdiente, ist The Invisible Man (1897), in dem ein frustrierter Mensch sich durch ein unbekanntes Mittel unsichtbar macht, um sich zum Diktator eines Terror-Regimes aufzuschwingen. Wells verbindet eine radiumartige grüne Substanz mit der vierten Dimension in der Erzählung über den unglücklichen Gottfried Plattner in "The Plattner Story" (1897). Der Provinzlehrer Plattner erhält von einem Schüler einen grünen Stoff, der zu einer Explosion im Klassenzimmer fuhrt und - Traum aller Schulklassen den Lehrer zum Verschwinden bringt. Plattner reist neun Tage lang durch die vierte Dimension, um am Ende seitenverkehrt wieder aufzutauchen. Die Reise zeigt ihm die Wirklichkeit von ihrer nächtlichen Seite, eine geradezu Kafka vorwegnehmende Welt. Wells nutzte die Mittel der Science Fiction, um die Auflösung, die Liquidation zu veranschaulichen, die das Subjekt im 20. Jahrhundert erwarten sollten. Was Virginia Woolf oder Marcel Proust durch feinste psychologische Analysen erreichten, suchte Wells durch plastische Technik und Wissenschaft: Chirurgie und Hypnose, die aus Tieren Menschen machen; das Gas eines vorbeifliegenden Kometen, das Heiterkeit und Frieden auf Erden bringt; ein Stoff, der unsichtbar macht oder so leicht, daß man von der Erde abhebt; eine Maschine, die die Koordinaten von Zeit und Raum durcheinanderwirft; ein elektromagnetischer Unfall, durch den ein Mensch plötzlich das sieht, was auf der anderen Seite des Globus geschieht. All diese Erfahrungen lassen sich als metaphysische Zeichen im Roman der Moderne

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wiederfinden, in Erfahrungen der Schizophrenie, der Synchronizität, des Bewußtseinsstroms, der räum- und zeitübergreifenden Erinnerung. Sobald wir die oft sensationellen Pülverchen und Maschinen weglassen, sind wir bei Wells in der Welt eines Kafka, Proust, Musil oder einer Virginia Woolf. III RADIUM UND PHANTASIEN DER MACHT Immer wieder nutzt Wells auch die populären Assoziationen, die sich an das Radium heften. Insbesondere interessieren ihn neben den psychischen Erfahrungen - und das bringt mich zu meinem zweiten Aspekt - die gesellschaftlichen Konsequenzen. Die individuelle Auflösung ist Teil eines universaleren Geschehens. Dies wird deutlich in seinem Roman Tono-Bungay (1908), der zwar eine realistische Beschreibung des Aufstiegs eines jungen Mannes in der Gesellschaft darstellt, aber zugleich zeigt, wie sehr phantastische Elemente inzwischen Teil des modernen Alltags- und Wirtschaftslebens geworden sind. Aus dem Leichnam des Viktorianismus steigen merkwürdige Irrlichter auf. Der Ich-Erzähler Ponderevo erlebt am eigenen Leib den Zerfall der alten englischen Klassengesellschaft und sieht, wie in dieses Vakuum Kräfte strömen, die nicht mehr mit den hergebrachten Kategorien von Konvention und gesundem Menschenverstand zu fassen sind. London ist der Maelstrom (Wells: 75), England wird von einer Invasion unheimlicher Kräfte heimgesucht (Wells: 83), das Wachstum der Stadt nimmt tumorartige Auswüchse an. Insbesondere die Kommerzialisierung und ihre phantastische Komponente, die Reklame, sind Symptome einer alles erfassenden Veränderung. Mit seinem Onkel verkauft Ponderevo das Wundermittel Tono-Bungay, mit dem sie England erobern - "at the rate of a hundred Square miles a day" (Wells: 125). Es ist ein Mittel gegen schlichtweg alles: Nervosität, Schwäche, Impotenz, Verstopfung. Wie das Radium taucht es in der Werbung auf: als Beimischung zum Tabak, als Badepackung oder gar als Backstein, "sanitary brick" (Wells: 131). Das Mittel verspricht dem sich auflösenden, von der Moderne überforderten Menschen etwas Verlorenes: Substanz und Identität.

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The real trouble", [sagt der windige Onkel] "is that we don't really exist and we want to. That's what this - in the highest sense - much stands for! The hunger to be - for once - really alive - to the finger-tips! (Wells: 129)

Bislang haben wir es nur mit einer Scharlatanerie zu tun, die hinsichtlich der Kommerzialisierung Gemeinsamkeiten mit dem Radium aufweist. Im zweiten Teil des Romans kommt tatsächlich eine radioaktive Substanz ans Licht, die einen noch größeren Erfolg verspricht, das sogenannte quap. Es wird auf einer Insel bei Afrika abgebaut; die Arbeiter werden alle zwei Monate ausgewechselt, da sie tödlich erkranken. Für Ponderevo, der inzwischen zum Zyniker geworden ist und am Schluß des Romans einen Zerstörer baut und fahrt, ist quap der Inbegriff der neuen Zeit. Wells war wissenschaftlich gebildet und wußte, daß die radioaktive Strahlung aus dem Zerfall von Atomen stammt, und so stellt Ponderevo fest: To my mind radioactivity is a real disease of matter. Moreover it is a contagious disease. It spreads. You bring those debased and crumbling atoms near others and those too presently catch the trick of swinging themselves out of coherent existence. (Wells: 268)

Im nächsten Atemzug bringt er die neu entdeckten Vorgänge mit den gesellschaftlichen Veränderungen globaler Art in Zusammenhang: "It is in matter exactly what the decay of our old culture is in society, a loss of traditions and distinction and assured reactions." (Wells: 268). Nicht mehr in der großen kosmischen Explosion wird die Apokalypse gesehen, sondern im allmählichen Zerfall: "Suppose indeed that is to be the end of our planet; no splendid climax and finale, no towering accumulation of achievements but just - atomic decay!" (Wells: 268). Der Entdeckung von radioaktiver Strahlung scheint vor diesem Hintergrund ein teleologisches Element innezuwohnen, als sei das gesellschaftliche Unbewußte in den wissenschaftlichen Entdeckungen tätig, als seien noch die höchsten Höhen der Rationalität Ausdruck von tiefen Unterströmungen der historischen Existenz. Festzuhalten ist weiterhin, wie hellsichtig Wells ein Jahrzehnt nach der Entdeckung des Radiums schon die kommerziellen Möglichkeiten vorweggenommen hat, die um 1908 noch sehr beschränkt waren.6 Erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg begann das Radium wirtschaftlich so interessant und durch

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private Nutzung unkontrollierbar zu werden, daß beispielsweise der Pionier der nuklearen Chemie, Frederick Soddy, für die Verstaatlichung der RadiumIndustrie eintrat. Interessant ist eine weitere Antizipation. Wells lokalisiert seine quapMinen auf einer afrikanischen Insel. Der größte Uranfund jener Jahre wurde in der Tat in Afrika gemacht, und zwar in Belgisch-Kongo. Die Ausbeutung setzte in großem Maßstab ab 1922 ein und begann die Preise für das Radium enorm zu drücken (von 120 000 Dollar auf 70 000 Dollar pro Gramm). Wells' apokalyptische Phantasie, die er in seinem Roman The War of the Worlds (1898) voll auslebte, bemächtigte sich auch der Radioaktivität. Es war nur ein kleiner Schritt vom Energiewunder quap zur Verwendung der Energie für neuartige Waffen. Wie Spencer R. Weart gezeigt hat, hat die Literatur immer beide Seiten des neuen Elements aufgegriffen - die utopische wie die apokalyptische Seite. Der oben erwähnte Frederick Soddy, der mit Ernest Rutherford die entscheidenden Entdeckungen zur Transmutation der Atome gemacht hatte, veröffentlichte 1909 sein Buch The Interpretation of Radium and the Structure of the Atom. 1914 widmete Wells seinen Roman The World Set Free eben diesem Werk und seinem Autor. Wells prophezeit hier für 1933 den Bau der Atombombe auf der Grundlage eines radioaktiven Stoffes namens Carolinum und er beschreibt einen atomaren Krieg zwischen den mitteleuropäischen Achsenmächten und der Slavischen Föderation, die von England und Frankreich unterstützt wird - dies wenige Monate vor Ausbruch des Weltkriegs. Bald sind alle europäischen Städte, aber auch Tokio und andere Weltstädte in Schutt und Asche. Die Bomben explodieren allerdings nicht nur einmal, sondern immer wieder in regelmäßigen Abständen. Radioaktive Wolken ziehen über die Welt, die Erde ist verseucht. Das Buch endet in einer Friedensallianz, nachdem 1953 die letzte Bombe auf Berlin gefallen ist. Hier formuliert Wells Hoffnungen, die wir in seiner einflußreichen Formel zum Ersten Weltkrieg wiederfinden: "The war to end all wars." Der Roman kann als Reaktion auf die Wissenschaft bezeichnet werden. Doch löste er seinerseits eine Reaktion in der Wissenschaft aus. Der ungarische Physiker Leo Szilard las das Buch 1932 in Berlin und war tief beeindruckt. 1933 mußte er vor den Nazis nach London fliehen. Dort hörte er

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einen Vortrag von Rutherford, der alle Spekulationen über die wundersame Macht der Atomenergie als "merest moonshine" verwarf. Diese Äußerung sowie Wells' Spekulation stachelten Szilard so an, daß er sich in die Neutronenforschung warf und ein Wegbereiter der Atombombe wurde. Dabei entwickelte er selbst große Ängste, weil er der literarischen Phantasie Glauben schenkte: "Knowing what this would mean - and I knew it because I had read H.G. Wells - I did not want this patent to become public." (Hilgartner et al.: 12 - 15). Szilard sollte ab 1940 aktiv im amerikanischen Manhattan Project engagiert sein und so zum Bau der ersten Atombombe beitragen. Ich möchte zum Schluß auf ein weiteres Buch eingehen, das Atomkraft und Gesellschaft mit den Mitteln der phantastischen Literatur erkundete und dabei - anders als Wells - auch die religiösen Implikationen entdeckte. Die Rede ist vom Werk des tschechischen Autors Karel Capek, Das Absolutum oder Die Gottesfabrik (1922). Capek ist bekannt geworden dafür, daß er den Begriff Roboter, der von seinem Bruder Josef erfunden worden war, in die Welt setzte, und zwar in seinem Drama R. U.R. - Rossum's Universal Robots von 1922. Hierzulande wurde er berühmt durch seinen Roman Der Krieg der Molche (1936). In Das Absolutum stößt der geldgierige Fabrikant Bondy auf die Anzeige eines Schulkameraden, der eine wundersame Erfindung anpreist, einen sogenannten Karburator, einen Motor, der die Materie vernichtet und dadurch ungeahnte Energien freisetzt. Leider wird gleichzeitig etwas anderes freigesetzt, nämlich das Absolutum oder Gott persönlich. Das fuhrt dazu, daß Arbeiter, die mit der Maschine umgehen, religiös werden. Bei ersten Versuchen wurden zwei von den Monteuren 'erleuchtet und hatten Visionen; der dritte war Alkoholiker und infolgedessen ein wenig immunisiert [...] Am dritten Tag mußte man den Hausmeister mitsamt seiner Frau, welche über dem Keller wohnen, ins Sanatorium überführen.' 'Warum?' fragte Herr Bondy. 'Er bekehrte sich. Er war inspiriert. Er führte religiöse Reden und machte Wunder. Sein Weib prophezeite. Mein Hausmeister war ein außerordentlich solider Mensch, Monist und Freigeist, ein außergewöhnlich ordentlicher Mann. Stell dir vor, er begann von nichts und wieder nichts Menschen durch Händeauflegen gesund zu machen. Er wurde natürlich sofort angezeigt [...]'. (Capek: 22)

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Ein Bagger wird von einem Karburator betrieben und bald heißt es: Das ist ein göttlicher Bagger, eine eiserne Kirche, und wir sind hier nur als Priester. Da der Herr Gott früher in einem Brunnen oder wie bei den alten Griechen in Eichen und manchmal auch in Weibsbildern erschien, warum sollte er nicht im Bagger erscheinen? Warum sollte er sich vor einer Maschine ekeln? Die Maschine ist manches Mal sauberer als eine Nonne. [...] Und damit ihr es wißt, Gott ist nicht so unendlich, wie es die Katholiken behaupten; er hat etwa sechshundert Meter im Durchmesser und ist am Rand schon schwach. (Capek: 45)

Die Kirche verliert ihre Kraft, Gott zu binden, ihre re-ligio, denn dieser macht sich selbständig. Das Absolutum wirft die Weltordnung durcheinander. Es ist wie Kapitalismus ohne Gesetz, denn es verfolgt eine Überproduktion, die die Welt ins Chaos stürzt: Das Absolutum sucht Arbeit. Es hält sich wütend ans Leben. Früher hat es die Welt erschaffen; jetzt hat es sich auf die Fabrikation gestürzt. Es hat schon Reichenberg ergriffen, die Brünner Baumwollfabriken, Trautenau, zwanzig Zuckerfabriken, Sägen, das Bürgerbräu-Haus zu Pilsen; es bedroht die Ökoda-Werke; arbeitet in Gablonz und in den Bergwerken von Joachimsthal. An manchen Orten entläßt man die Arbeiter. Anderswo hat man die Fabriken geschlossen und läßt sie voller Grauen geschlossen weiterlaufen. Eine irrsinnige Überproduktion. [...] Es ist der Zerfall, (¿apek: 54)

So trifft es auch eine Schuhzweckenfabrik, wo nun aus dem Nichts Hunderte von Tonnen Schuhzwecken erschaffen werden. Das "Wegräumen der Zwecken beschäftigte die Arbeiter volle vierzehn Stunden täglich; doch sie murrten nicht, erleuchtet vom religiösen Geist der Liebe und des gegenseitigen Dienens" (Capek: 75). Die Ziffern verlieren jeden Sinn, das Zahlensystem bricht zusammen, als "natürliche Folge der Unendlichkeit und Allmacht Gottes" (Capek: 79). Als Folge des Überflusses, den keiner will, brechen Hungersnöte aus. Die Kirche reagiert verspätet, indem sie das Absolutum in einem feierlichen Akt zum Gott erklärte. In Leipzig entsteht eine neue Religion, man legt den Grundstein für die "Kathedrale des Atomischen Gottes" (Capek: 98). Ich will nicht erzählen, wie die Geschichte ausgeht. Es genügt festzuhalten, daß hier der Einbruch einer neuen unfaßbaren Energie in all seinen gesellschaftlich-politischen Konsequenzen mit satirischem Genuß ausgemalt wird. Entscheidend - und neuartig - ist aber die Auswirkung der

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neuen Energie auf das religiöse Weltbild und die Halluzinationsfahigkeit der Menschen. IV WISSENSCHAFT UND MÄRCHEN Was können wir aus dieser Exkursion in die Zwischenbereiche von Technik, Wissenschaft und phantastischer Literatur lernen? Die Literatur hat früh und gründlich alle möglichen Aspekte der Radioaktivität ausgelotet und sich viel stärker als die Wissenschaftler oder Journalisten mit der dunklen Seite dieser neuen Energie auseinandergesetzt. Es fällt auf, daß die populäre Kultur gerade im Zuge der Kommerzialisierung der neuen Strahlen und Energien sich ebenso der phantastischen Möglichkeiten bemächtigte wie die Literatur. Borges hat einmal gesagt, die Theologie sei ein Zweig der phantastischen Literatur. Man kann hinzufugen: die Werbung ist ein Zweig der phantastischen Literatur. Sie verspricht Wunder und Unmöglichkeiten. Beide - Werbung wie Literatur - appellieren an die Wunschbereitschaft im Menschen. In beiden Bereichen werden Naturgesetze aufgehoben und das Wunderbare oder das Wunderliche treten die Herrschaft an. Aber auch in der Wissenschaft selbst deutet sich etwas an, was als Übertreten der natürlichen, rational-erklärbaren Ordnung bezeichnet werden kann. Zumindest sah es so für manchen Zeitgenossen der Curies aus. Kehren wir noch einmal zu Marie Curie zurück. Der Leipziger Chemiker Wilhelm Ostwald besuchte sie 1899: Auf meine dringende Bitte wurde mir das Curie-Laboratorium, in dem kurz zuvor das Radium entdeckt worden war, gezeigt. Es war eine Kreuzung zwischen Stall und Kartoffelkeller, und wenn ich nicht die chemischen Apparate auf dem Arbeitstisch gesehen hätte, hätte ich das Ganze für einen Witz gehalten, (zit. in Ksoll/Vögtle: 64)

In diesem Schuppen sehen wir sie mit Tausenden von Kilo Pechblende aus dem böhmischen Joachimsthal7: Jahrelang arbeitete Marie Curie mit Eimern und Kesseln, schleppte, wässerte und rührte in dem Abfall, während sie unablässig seine radioaktiven Dämpfe einatmete. So vergiftet war die Luft, daß noch heute die von den Curies mit ihren Aufzeichnungen versehenen Notizbücher gefährlich radioaktiv sind. [...] Im März 1902, nach

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vier Jahren knochenaufreibender Arbeit, hatte sie gerade ein Zehntel Gramm uis einer Tonne radioaktiven Minenabfalls gewonnen. (Caulfield: 36 f.)

Wieder liegt die Analogie zum Märchen auf der Hand: die Müllerstochter, die aus einem Haufen Stroh Gold spinnen soll; aber wehe, wenn ihr Rumpelstilzchen nicht beisteht. In der fleißig rührenden Marie Curie sind Märchen und Wahn der Wissenschaft eng beieinander.8 Im Jahre 1905 erhalten die Curies Besuch von einer Bewunderin, der amerikanischen Lichtfee und Tänzerin Loie Füller, die mit einem Trupp Elektriker in die Wohnung der Wissenschaftler rückt und einen Lichttanz auffahrt. Bald ist sie Flamme, bald Blume, bald Göttin, bald Hexe. Die Privatvsranstaltung galt als Dank an die Curies, die ja mit dem Radium einen Leuch:stoff gefunden hatten, der für derartige Auffuhrungen ideal war. Ich erzähle diese Anekdoten über die Curies, weil sich in ihnen, als Vertretern der fortgeschrittensten Rationalität, paradoxerweise eine Märchenhaftigkeit andeutet, ein Übergang, an dem die Wissenschaft selbst ins Phantastische zu treten scheint. Ein letztes Beispiel möge dies verdeutlichen. 1902 klopft ein alter Russe an die Tür des Labors der Curies. Es ist Mendelejev, der Entdecker des periodischen Systems der Elemente, derjenige, der den Elementen eine Ordnung ablas, die die Rationalität des Universums verbürgte. Für ihn sind die Elemente unveränderlich und unzerstörbar. Die Radioaktivität beunruhigt ihn; als Feind des Aberglaubens und der Metaphysik sieht er eine neue Irrationalität aufziehen, eine neue Physik, die er mit der ganzen Kraft des 19. Jahrhunderts bekämpfen wird. In seinem Notizbuch, das noch nicht radioaktiv ist, finden sich zu dem Besuch Kommentare, die auf eine "Furcht vor einem Wiederaufleben des Spiritismus" deuten (BensaudeVincent: 792 f.). Die phantastische Literatur hat also die Möglichkeiten ergriffen, die in den neuen Wissenschaften verborgen liegen und von den alten Vertreterr. des Faches gleichfalls der Phantastik zugerechnet werden. Im Grunde hat die Literatur das Märchen weitergeführt, das so oft von der verbotenen Tür spricht, die der Held nicht öffnen darf. Der Mensch hat wieder einmal vom Baun der Erkenntnis gegessen. Die Literatur, insbesondere ihre phantastische Komponente, sagt dazu unentwegt: Eßt nur, aber behauptet bitte hinterher nicht, ihr hättet nicht gewußt, was kommen wird. Wir haben es euch gesagt.

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Was ich hier vorgestellt habe, ist nur die Vorgeschichte zu dem, was als Kennzeichen des 20. Jahrhunderts erkannt worden ist: zur Atombombe. Ein Tor wurde um 1900 aufgestoßen, das nun nicht mehr zu schließen ist. Die Literatur, dieses neugierige Kind, hat als erstes durch das Tor geschaut. Hiroshima hat es aber noch nicht gesehen.

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ANMERKUNGEN 1. Das wirkliche Radium mußte aus Sicherheitsgründen auf anderen Wegen nach Frankreich transportiert werden. 2. Einige Jahre später wird sich Marie Curie wieder in die USA begeben, um ein weiteres Gramm abzuholen, diesmal für ein polnisches RadiumInstitut. 3. Der erste Mensch, der an den Folgen von Röntgenstrahlen starb, war vermutlich der bayrische Pfarrer Max Maier im Jahre 1901. Vgl. DIE ZEIT, 14.4.1995. Wenige Jahre später starb auch der Assistent von Edison. 4. Daß Radium Wachstum beeinflußt, bemerkte auch ein amerikanischer Farmer, der darauf den Plan faßte, seine Hühner mit Radiumfutter zu versorgen und zwar nicht nur wegen der Größe, sondern auch weil die Eier dann gleich hartgekocht gelegt würden und weil sie sich selbst ausbrüten konnten (Baldash: 27). 5. Die Autoren von Nukespeak zeigen, daß mit dem Erkennen der Schäden auch schon die sprachliche (Selbst-)Regulierung beginnt. So wird früh vor dem Wort bums zur Beschreibung von Strahlungsschäden gewarnt (Hilgartner et al.: 9). Zu den Vorgängen in New Jersey vgl. auch die Gedichte von Lavinia Greenlaw: "A Letter from Madame Curie" und "The Innocence of Radium" (Greenlaw: 45ff.). 6. Wegen mangelnden Erfolgs ging beispielsweise in diesem Jahr Lockwoods Rare Metals Production Company zugrunde (Baldash: 139). 7. Joachimsthal ist nicht nur der Ursprungsort des Dollars; dort wurde mit der Entdeckung des Urans im Jahre 1789 Pechblende abgebaut, da Uran als hervorragendes Färbemittel diente - so für die berühmten böhmischen Gläser. Radium und Literatur 405 8. Die Tochter Eve Curie erinnert sich auch an die zauberhafte Ausstrahlung, die das Radium für ihre Eltern hatte. Sie waren eines Abends wie magisch angezogen von dem Leuchtwunder in ihrem Labor (Curie: 121).

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LEIPZIGER SCHRIFTEN zur Kultur-, Literatur-, Sprach- und Übersetzungswissenschaft Bd. 1:

Wolfgang F. Schwarz (Hrsg.), Prager Schule: Kontinuität und Wandel. Arbeiten zur Literaturästhetik und Poetikder Narration. Frankfurt/M. 1997. ISBN 3-89354-261-2

Bd. 2:

Gerd Wotjak, Heide Schmidt (Hrsg.), Modelle der Translation. Models of Translation. Festschrift für Albrecht Neubert. Frankfurt/M. 1997. ISBN 3-89354-262-0

Bd. 3:

Mechthild Reinhardt, Wolfgang Thiele (eds.), Grammar and Text in Synchrony and Diachrony. In Honour of Gottfried Graustein. Frankfurt/M. / Madrid 1997. ISBN 3-89354-263-9 (Vervuert); 84-88906-70-6 (Iberoamericana) Henning Ahrens, John Cowper Powys' Elementalismus. Eine Lebensphilosophie. Frankfurt/M. 1997. ISBN 3-89354-264-7 Falk Seiler, Sprache, Philologie und Gesellschaft bei Vilfredo Pareto. Frankfurt/M. (in Vorbereitung). ISBN 3-89354-265-5 Claudia Wenner, Moments of Being - Zur Psychologie des Augenblicks bei Virginia Woolf. Frankfurt/M. (in Vorbereitung). ISBN 3-89354-266-3 Uwe Junghanns, Gerhild Zybatow (Hrsg.), Formale Slavistik. Frankfurt/M. 1997. ISBN 3-89354-267-1 Elmar Schenkel, Wolfgang F. Schwarz, Ludwig Stockinger, Alfonso de Toro (Hrsg.), Die magische Schreibmaschine. Aufsätze zur Tradition des Phantastischen in der Literatur. Frankfurt/M. 1998. ISBN 3-89354-268-X

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