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German Pages 264 Year 2020
Andreas Hudelist Im Gefüge der Kunst
Cultural Studies | Band 54
Editorial Die Reihe wird herausgegeben von Rainer Winter.
Andreas Hudelist (Dr. phil.) ist an der Universität Klagenfurt und an der Fachhochschule Kärnten in der Lehre tätig. Er studierte in Klagenfurt und Belgrad Deutsche Philologie sowie Medien- und Kommunikationswissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind Cultural Studies, qualitative Methoden, Medienästhetik und kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung.
Andreas Hudelist
Im Gefüge der Kunst Affektive Performativität als kreative Praktik
Veröffentlicht mit Unterstützung der Fakultät für Kulturwissenschaften sowie des Forschungsrates der Alpen-Adria Universität Klagenfurt.
für Jasmina, Tea und Daša
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Lektorat: Jasmina Deljanin-Hudelist Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5325-0 PDF-ISBN 978-3-8394-5325-4 https://doi.org/10.14361/9783839453254 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
1.
Einleitung..................................................................... 7
2. Ein Problemaufriss: Künstler als Köche verderben den Brei................... 17 2.1. Kunst als Alltag............................................................... 20 2.2. Alltag als Kunst............................................................... 24 3. Wie wird Kunst? Teil 1......................................................... 31 3.1. Kunst und ihre Öffentlichkeit(en) .............................................. 34 3.2. Kunst und ihre Bedeutung(en) ................................................ 47 4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5. 4.6.
Ästhetische Erfahrung: Auf den Spuren einer neuen Kunstsoziologie ........ 55 Dialogische Ästhetik .......................................................... 56 Von Kultur zur Gefühlsstruktur ................................................. 81 Eine Ästhetik der Beziehungen ................................................ 94 Die radikale Gleichgültigkeit ................................................. 109 Die abstrakte Maschine ..................................................... 123 Zwischenfazit: zu einer neuen Kunstsoziologie ............................... 139
5. 5.1. 5.2. 5.3.
Empirische Studien ......................................................... 143 DenkMal! – eine Vorstudie.................................................... 145 Romeo und Julia – love me queer! ............................................157 Der Mentor ................................................................... 179
6. Wie wird Kunst? Teil 2 ....................................................... 197 6.1. Typologien im Kunstgefüge .................................................. 203 6.2. Affektive Performativität? .................................................... 217 7.
Fazit: Bildungsprozesse im Gefüge der Kunst ............................... 227
Danksagung ...................................................................... 233 Abbildungsverzeichnis........................................................... 235 Literaturverzeichnis.............................................................. 237 Filmverzeichnis ...................................................................261
1. Einleitung »Die Lektüre befreit sich von dem Boden, auf dem sie gewachsen ist. Sie löst sich von ihm ab.« Michel de Certeau 1988: 310
Am 5. Oktober 2018 wurde im britischen Sotheby’s ein Bild des GraffitiKünstlers Banksy versteigert. Das Bild Girl with Balloon wurde unmittelbar nach der Versteigerung durch einen im Bildrahmen eingebauten Schredder zur Hälfte zerstört. Auf der Künstlerhomepage reagiert Banksy mit einem Erklärungsvideo, in dem er den Bau des Schredders im Bilderrahmen zeigt. Dieser sollte für den Fall einer Versteigerung aktiviert werden. Nun kam das Bild unter den Hammer und Sekunden später zerstörte der Schredder ungefähr die Hälfte des Bildes. Dennoch wird bereits darüber gemutmaßt, ob dadurch der Wert gesteigert oder gesunken sei (vgl. APA 2018). Banksy hat schon öfters verlautbaren lassen, dass er mit dem Verkauf seiner Arbeit an einer Teilnahme am Kunstmarkt nicht interessiert sei. Beweis dafür sollen die mit ihm abgesprochenen Ausstellungen seiner Werke sein, die bis auf eine Ausnahme bei freiem Eintritt besucht werden können. Darunter befindet sich das Kunstprojekt Dismaland, das in der britischen Grafschaft Somerset für drei Pfund zu besuchen ist. Andere Werkausstellungen mit einem Eintrittspreis würden allesamt ohne Einwilligung Banksys existieren.1 Der Kommerzialisierung von Kunst scheint die Kommerzialisierungskritik demnach egal, denn wenn sich etwas verkaufen lässt, ist es Teil der kapita-
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Vgl. dazu den Internetauftritt von Banksy, in dem er zwischen den mit ihm abgesprochenen Ausstellungen und ohne seine Involvierung beworbenen Ausstellungen unterscheidet: http://banksy.co.uk/shows.asp [08.10.2018]. Da aber weder die Identität des Künstlers (vielleicht auch der Künstlerin) bekannt ist, noch, ob es sich um eine Künstlergruppe handelt, ist es demnach auch schwierig festzustellen, an welchen Ausstellungen er oder sie in welcher Form beteiligt ist bzw. sind.
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listischen Maschine. Falls die kapitalistischen Strukturen die Fähigkeit haben, sich durch Valorisation »alles und jedes einzuverleiben, [ist] […] die kritischpolitische Kunst in der (neo-)liberalen Welt gerade durch ihren Erfolg zum Misslingen [verdammt]« (Emmerling/Kleesattel 2016: 11f). Luc Boltanski und Ève Chiapello betonen, dass die Kunstkritik den Menschen keine Möglichkeit gegeben hat, die Forderung vom Mai 1968 einzulösen. Schließlich ging es damals darum, alle möglichen Formen der disziplinären, insbesondere der kapitalistischen, Regulierung abzulehnen. Die ausgelebte Kreativität im Alltag sollte demnach zu einem widerständigen Handeln führen, das antidisziplinär ausgerichtet ist. Spätestens seit Banksys Ausstellung Barely Legal in Los Angeles im Jahr 2006 ist sein Name auf dem Kunstmarkt genauso vertreten wie ›auf der Straße‹, wenn es um Graffiti-Kunst geht. Während Banksys Graffiti von den Straßen Bristols nach London kamen, vereinnahmte der Kunstmarkt, hier durch das Aktionshaus Sotheby’s vertreten, die Graffitikunst, indem diese ›von der Straße genommen‹ und institutionalisiert wurde (vgl. Derwanz 2013: 9). Damit geht auch ein gewisser Niedergang der Street-Art einher (vgl. Reinecke 2012: 11). Da Kreativität, Freiheit und Authentizität, an dieser Stelle in der Street-Art versinnbildlicht, von der Kreativindustrie vereinnahmt und zu einem neuen Lebensgefühl wurde, hat die Kunst versagt, ihre Autonomie aufrecht zu erhalten (vgl. Boltanski/Chiapello 2018: 419). Luc Boltanski und Ève Chiapello verweisen in diesem Zusammenhang auf Max Webers Bezeichnung ›Geist des Kapitalismus‹. Im Wesentlichen geht es dabei um Menschen, die »als Personen betrachtet, deren Interessen, Wünsche, Ängste, Hoffnungen etc. zum Ziel und zum Nutzen für eine Politik werden, die mehr Freiheiten erlaubt und zugleich den Rahmen dieser Freiheiten stets so zu organisieren weiß, dass die Interessen der Bevölkerung möglichst nicht mit den Interessen der Regierenden ›aneinander geraten‹.« (Ntemiris 2011: 16f) Die Rechtfertigung des Engagements der kapitalistischen Ideologie fußt unter anderem darauf, dass der Kapitalismus »ein die individuellen und besonders die politischen Freiheiten unterstützendes Regime sei« (Boltanski/Chiapello 2010: 19). Damit gehen neue Organisationsformen in Netzwerken einher, die zum Teil aus der Inkorporierung der Kunstkritik der 1968er (und danach) entstanden sind. Die Kunstkritik war damit in der Krise, da Valorisationen wie Kreativität, Freiheit und Authentizität zu Kategorien wurden, die am Kapitalmarkt einen Wert bekamen. Es entwickelten sich neue Machtstrukturen, die von der Kunstkritik nicht erfasst wurden. Arbeitende und kunstschaffen-
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de Menschen haben sich in ihrem Image angeglichen. »Die Konvergenz von ökonomischer und kreativer Logik hat nun zur unmittelbaren Folge, dass mit ihr die Möglichkeit dramatisch eingeschränkt wird, etwas wie eine ›Künstlerkritik‹ vorzutragen« (Chiapello 2010: 48). Etwas positiver interpretierend beschreibt dies Richard Florida, der die 1968er-Forderung im Aufstieg der kreativen Klasse verwirklicht sieht, welche die zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklungen in ihren Händen hält. Wirtschaftliches Wachstum gehe mit einer Ansammlung von kreativen sowie produktiven Menschen einher (vgl. Florida 2002). Matthias Wieser bezeichnet diese beiden Ansichten als mögliche Enden der Diskussion um die Kreativwirtschaft, die jeweils in aktuellen Studien belegt werden (vgl. Wieser 2015: 179). In dieser Arbeit wird diesen ›Enden‹ nachgegangen bzw. soll die Dichotomie von Selbstbestimmung und Vereinnahmung verfolgt werden, indem die vermeintlichen passiven Menschen auf der einen Seite und aktiven Personen auf der anderen Seite im Kontext von künstlerischen Begegnungen am Beispiel von Theateraufführungen befragt werden. Dabei fallen zu einem gewissen Teil Kunst und Pop durch das ›Postdramatische Theater‹ (vgl. Lehmann 2008) ineinander, in dessen Zentrum sich die als Medienereignis gefasste Welt erkennen lässt (vgl. Raddatz 2013: 151). In diesem Zusammenhang spielen die Funktionen von Verfassenden, Produzierenden und Konsumierenden beziehungsweise Rezipierenden eine große Rolle und ihr Verständnis von Partizipation, die »als Praxis oder Postulat in der Kunst des 20. Jahrhunderts immer dort eine Rolle [spielt], wo es um die Selbstkritik der Kunst geht, um die Infragestellung des Autors, um die Distanz der Kunst zum ›Leben‹ und der Gesellschaft« (Kravagna 1999: 30). Die Basis der folgenden Ausführungen bilden dazu die Beziehungen der Kunstschaffenden und der Kunstrezipierenden; ihre Beziehungen zueinander, aber auch ihre Beziehungen zu den materiellen Kunstorten beziehungsweise Kunstgegenständen sowie den immateriellen Kunsterfahrungen. Zu Beginn wird im Kapitel ein Problemaufriss: Künstler als Köche verderben den Brei anhand von verschiedenen Beispielen aus Filmen und Museen die Verbindung von Alltagspraktiken sowie der Kunst diskutiert. Als Ausgangspunkt dient dazu eine Diskussion zwischen Nicolas Bourriaud und Jacques Rancière, die von unterschiedlichen Standpunkten aus, die Beteiligung des Publikums an künstlerischen Werkgefügen oder Prozessen thematisieren. Bourriaud möchte in seinen Kuratierungen Beziehungen zwischen Kunstschaffenden und Kunstrezipierenden herstellen, die es im gewöhnlichen Alltag nicht gibt. Diese Beziehungen lassen dann etwas Neues entstehen, das dem vom
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Kapitalismus durchtränkten Alltag widerstehen soll und demnach politisch ist. Für Rancière ist diese Vorstellung naiv, da sie bereits vor der Realisierung einen Raum für Utopien verspricht, ohne sie eingelöst zu haben. »Die Kunst ist nicht erst politisch durch die Botschaften und die Gefühle, die sie betreffend der Weltordnung transportiert. Sie ist auch nicht politisch durch die Weise, wie sie die Strukturen der Gesellschaft, die Konflikte und Identitäten der sozialen Gruppen darstellt. Sie ist politisch gerade durch den Abstand, den sie in Bezug auf diese Funktionen einnimmt, durch den Typus an Zeit und Raum, den sie einrichtet, durch die Art und Weise, wie sie diese Zeit einteilt und diesen Raum bevölkert.« (Rancière 2016: 31) Bevor jedoch diesen Überlegungen im Detail gefolgt wird, werden die Grenzen von Kunst und Alltag problematisiert. Dabei sind die Dimensionen der Partizipation und des Politischen immer ein Thema, wie auch Theodor W. Adorno betont, denn beides gründet »im Doppelcharakter von Kunst als einem freilich noch in seiner Autonomie sozial determinierten Autonomen und einem Sozialen« (Adorno 2003: 312). Diese angesprochenen Grenzen können anhand von Beispielen erkannt und lokalisiert werden. Wenn jedoch der Prozess der Kunstgenese in den Vordergrund rückt, interessiert es nicht mehr, was einen Kunstgegenstand oder eine künstlerische Performance ausmacht, also was Kunst ist, sondern vielmehr wie sie entsteht. Auf diese Weise steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Prozess und die Frage nach dem ›was‹, weicht der Frage nach dem ›wie‹. Wie entsteht die Autonomie der Kunst und wo ist sie heutzutage noch anzutreffen? Welchen Wandel hat sie und die soziale Dimension von künstlerischen Prozessen erfahren? Diesen Fragen folgt das Kapitel Wie wird Kunst? Teil 1, indem der Bedeutung von Öffentlichkeit(en) und der öffentlichen Diskussion von Bedeutungen nachgegangen wird. Welche Öffentlichkeit(en) bildeten künstlerische Praktiken in der Vergangenheit und welche bilden sie in der Gegenwart? Welche Bedeutungen wurden durch diese Öffentlichkeit(en) in Vergangenheit und Gegenwart interpretiert?
1. Einleitung
Eine Vielzahl von Theorien sowie Autorinnen und Autoren2 beschäftigen sich mit diesen Fragen. In Ästhetische Erfahrung werden verschiedene Theorien im Kontext einer neuen Kunstsoziologie besprochen. Gemeinsam ist diesen Überlegungen die Verknüpfung von Kunst und Alltag beziehungsweise deren wechselseitige Beeinflussung. In welcher Art und Weise der Alltag gelebt wird, ist zentral für die Cultural Studies, in denen Raymond Williams, Kultur als etwas Gewöhnliches beschreibt und damit eine partizipative sowie demokratische Definition von Kultur vorschlägt. Eine Kultur, zu der alle Menschen Zugang haben, da sie diese laufend mitgestalten. Eine Überzeugung, die in seiner Schulzeit Fuß fasst. In Politics and Letters wird Williams gefragt, warum er als Schüler das Fach Geschichte mied. In seiner Antwort lässt er uns verstehen, was ihm an Bildungsprozessen wichtig ist und wie die Wahl seiner thematischen Schwerpunkte in der Schule und darüber hinaus entstand: »The explanation lies in the culture I received, not in my character. What history we were taught in the elementary school was a poisonous brand of romantic and medieval Welsh chauvinism given us by the schoolmaster. The reading was dreadful – nothing but how such and such a medieval Welsh prince defeated the Saxons, and took from them great quantities of cattle and gold. I threw up on that. It wasn’t only that it didn’t connect. It was absolutely contradicted by how we now were. The irony was that when I entered the grammar school we started to do the history of the British Empire. We plunged somewhere straight into the middle of the 18th century, with the conquest of Canada and then went through India and South Africa and the whole imperial expansion. That kind of history did not interest me very much either.« (Williams 2015: 28) Was Williams besonders fehlte, war die Verknüpfung der Geschichte, zum einen mit der Gegenwart, zum anderen mit der geographischen Umgebung. 2
In dieser Arbeit wird versucht, gendersensibel auf die bezeichneten Menschen einzugehen. Dabei werden gelebte Geschlechtsidentitäten als solche benannt. Es soll damit problematisiert werden, dass die deutsche Sprache keine geschlechtergerechte Sprache kennt, da sie nur drei grammatische Geschlechter zur Verfügung stellt und bei Geschlechtsbezeichnungen von Menschen sogar nur mit zwei Geschlechtsidentitäten auszukommen versucht. Auf den Unterstrich, das Sternchen oder das Binnen-I wird bewusst verzichtet, da diese Varianten die Dichotomie weiblich und männlich zwar transparent machen, jedoch aufrechterhalten, ohne sie zu dekonstruieren. Wenn möglich werden genderunspezifische Formulierungen verwendet, wenn auch diese aufgrund von Wiederholungen von konkreten Bezeichnungen hin und wieder abgelöst werden.
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Geschichte wurde demnach von der unmittelbaren Lebenswelt losgelöst und zu etwas, das mit der eigenen Person nichts zu tun hatte. Er merkte erst später wie alles zusammenhängt, wobei der Schulunterricht nicht in positiver Hinsicht zu dieser Erkenntnis beitrug. Kultur und unsere Identität setzen sich aus verschiedenen Schichten zusammen – die schulische Ausbildung ist eine davon. »I learned the experience of incorporation, I learned the reality of hegemony, I learned the saturating power of the structures of feeling of a given society, as much from my own mind and my own experience as from observing the lives of others. All through our lives, if we make the effort, we uncover layers of this kind of alien formation in ourselves, and deep in ourselves. So then the recognition of it is a recognition of large elements in our own experience, which have to be – shall we say it? – defeated.« (Williams 1989: 75) Williams verstand welche unterschiedlichen Schichten in der Alltagserfahrung inkorporiert werden. In diesem Zusammenhang arbeitet er das Konzept der Gefühlsstrukturen aus, das diesen Schichten auf den Grund gehen soll, indem sie transparent, reflektiert und verändert werden können. Das Gefühl ist von der Ideologie oder den Gedanken nicht zu trennen, denn mittels der Ideologie wird ein Gefühl hergestellt. Für Sarah E. Chinn ist das von Williams beschriebene Gefühl wie aufgelöster Zucker in einem Getränk: unsichtbar, aber durchaus bemerkbar. Ganz im Gegensatz zu sozialen oder politischen Strukturen, können Gefühle nicht in Einzelteile zerlegt und analysiert werden. Die Betrachtung einer Gefühlsstruktur kann zum Verständnis oder zur Verwirrung beitragen, da in ihr Widersprüche vereint sein können (vgl. Chinn 2011/2012: 16). Für Nicolas Bourriaud sind diese Widersprüche sehr interessant, da sie an den Grenzformationen zwischen Ablehnung und Zustimmung, Macht und Unterwerfung, dem Zentrum und der Peripherie oder Exklusion und Inklusion entstehen. Diesen Bereich nennt Bourriaud an einer Stelle »Exform« (Bourriaud 2016: x). In diesem Zusammenhang arbeitete er sein Konzept der »relational Aesthetics« (Bourriaud 2002a) aus. Darin attestiert er Beziehungen ein grundlegendes politisches Potential, wenn diese durch ästhetische Formen in der sozialen Begegnung hergestellt werden. Die Formel, dass eine ästhetische Erfahrung gleichzeitig eine Erfahrung durch Formen bedeutet, wird im Kapitel Eine Ästhetik der Beziehungen problematisiert (vgl. Tischler 1972: 142). Bei Bourriaud ist jedoch gerade der Begriff der Form ein wesentlicher, da dieser nach eigenen Angaben, insbesondere im Zusammenhang mit
1. Einleitung
der Globalisierung, zu wenig diskutiert werde (vgl. Bourriaud 2009a: 7). Auch in seinem Buch Postproduction steht die Idee der – sowohl kulturellen als auch materiellen – Form im Mittelpunkt seiner Ausführungen. An dieser Stelle erinnern seine Gedanken an die Überlegungen der Praktiken innerhalb der Cultural Studies und insbesondere an die von Williams. Bourriaud spricht von einer neuen Form von Kultur, einer die sich durch den Gebrauch und die Aktivität auszeichnet (vgl. Bourriaud 2002b: 13). In Postproduction geht es ihm also um die Nutzung von Vorhandenem, woraus Neues entstehen soll. Kultur versteht Bourriaud als ein vorgefertigtes Skript, das sich durch die Nutzung der Menschen nicht nur verändern kann, sondern es laufend tut. Die Kunstgalerien sind in diesem Zusammenhang kein besonderer Platz. Für Bourriaud sind sie ein Ort wie jeder andere. Die globalen Mechanismen sollen hier genauso zum Vorschein kommen, wie an jedem anderen Ort. Demnach gäbe es keine besseren Orte, nur andere (vgl. Bourriaud 2002b: 71). Die Fragen der Macht werden von Bourriaud nicht immer der Situation entsprechend gewürdigt, weshalb sein Konzept der relationalen Ästhetik auch kritische Stimmen hervorgebracht hat. Allgemein kann vorweggenommen werden, dass Kreativität und kreative Arbeit Abhängigkeiten unterliegen, die sich in einem Diskurs der Macht aufweichen oder erhärten. Gerald Raunig schreibt, dass sich »[d]ie Kreativen […] eingeschlossen [finden,] innerhalb eines Institutionengefüges, in dem ihre Kreativität durch die Form abhängiger Arbeit unterdrückt wird« (Raunig: 2007: 173). Eine grundsätzliche Voraussetzung für die Förderung von Kreativität, sind bei Bourriaud die Überlegungen zur Partizipation. Diese zeichnet er im Kunstbereich nach und betont damit verschiedene Arbeiten in ihrer politischen als auch kritischen Dimension (vgl. Bourriaud 2002a). Rancière vertritt aus der Sicht der Philosophie eine gegensätzliche Meinung. In seinen Büchern thematisiert er wiederholt im Zusammenhang seiner politischen Philosophie Kunst beziehungsweise künstlerische Produktionen und Ästhetik oder ästhetische Erfahrungen. Dabei betont er, dass der Begriff Ästhetik in seiner Verwendungsgeschichte besonders missbraucht wurde. So schreibt er zum Beispiel: »Die Ästhetik ist der perverse Diskurs geworden, der dieses Dem-Werk-vonAngesicht-zu-Angesicht-Gegenüberstehen verhindert, indem er die Werke oder unsere Wertschätzungen einer Denkmaschine unterwirft, die für andere Zwecke entworfen wurde: philosophisches Absolutes, Religion des Gedichts oder Traum von sozialer Emanzipation.« (Rancière 2016: 12)
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Dabei kritisiert Rancière, dass Erklärungen am eigentlichen Wissen vorbeigehen, da sie etwas schaffen, das die Erklärenden beschreibt oder etwas, das durch ihre Beschreibung zum Inhalt des Wissens wird, nicht jedoch per se den Erklärten hilft, etwas zu verstehen. Um direkte Auseinandersetzungen, die vielleicht ein Missverständnis oder sogar einen Dissens herbeirufen könnten, zu verhindern, wird die Ästhetik zweckentfremdet. Durch ästhetische Mittel werden konsensuale Strukturen gefördert, die Materialität und Menschen indirekt thematisieren. Die Teilhabe der Menschen regelt das Gemeinsame, in dem über Bedeutungen verhandelt, aber auch über Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit oder Gehörtwerden und Nichtgehörtwerden bestimmt wird. Zwischen einer Ästhetik der Politik und einer Politik der Ästhetik ist Rancière einer Mikropolitik auf der Spur, die in der Metamorphose dieser Spannung zu lokalisieren ist (vgl. Muhle 2008: 13). In die abstrakte Maschine werden mit Gilles Deleuze und Félix Guattari neue Begriffe vorgestellt, die bereits eingeführte Ideen in den vorangegangenen Kapiteln erweitern oder zeigen, dass Begriffe von Guattari und Deleuze den diskutierten Konzepten und Theorien von Bourriaud oder Rancière vorausgegangen sind. Konkret werden Wunschmaschine, Ritornell und Territorium in künstlerischen Kontexten besprochen und miteinander laufend verbunden. Als Folge dessen entsteht ein Wurzelgeflecht durch einzelne Begriffe, die neue Verbindungen sichtbar machen. Gerade dies entspricht der Arbeitsweise von Deleuze und Guattari, die diese Vorgangsweise in ihrem Konzept des Rhizoms begründen. »[I]m Unterschied zu Bäumen oder ihren Wurzeln verbindet das Rhizom einen beliebigen Punkt mit einem anderen beliebigen Punkt, wobei nicht unbedingt jede seiner Linien auf andere, gleichartige Linien verweist; es bringt ganz unterschiedliche Zeichenregime und sogar Verhältnisse ohne Zeichen ins Spiel. Das Rhizom läßt sich weder auf das Eine noch auf das Mannigfaltige zurückführen.« (Deleuze/Guattari 1992: 35f) Das Rhizom stärkt also die Möglichkeit, Problemstellungen zu thematisieren, ohne dass linear-kausale Zusammenhänge gefunden werden. Ähnlich argumentiert auch Michel de Certeaus in seiner Theorie der Praktiken, in der er sich für das Wildern einsetzt (vgl. de Certeau 1988: 132). Auf den Überlegungen von Claude Lévi-Strauss aufbauend, meint de Certeau mit Wildern ein widerständiges Handeln, dass sich von der Autorität des Gegenübers befreit und eigenständig wird. Insbesondere an der Nutzung der Populärkultur kann diese »Kreativität und Produktivität alltäglicher Praktiken, die der Regelung
1. Einleitung
und Zügelung durch Institutionen entgehen beziehungsweise sie umgehen und die die Populärkultur hervorbringen« (Winter 2001a: 198), erkannt werden. Bei Deleuze und Guattari sind es die Verbindungslinien im Wurzelgeflecht, die eben etwas Neues herstellen können. Ob dabei im Sinne der Handlungsmacht befreiende oder unterdrückende Situationen geschaffen werden, kann nicht vorhergesagt werden. Wichtig ist dabei die Bewegung oder das Werden, denn rhizomatisch zu denken, bedeutet immer zwischen den Dingen oder selbst ein Zwischenstück zu sein: ein Intermezzo mit dem Ziel eine neue Verknüpfung zu suchen (vgl. Deleuze/Guattari 1992: 41). Visualisiert wird dies in der wohl wichtigsten Abbildung des Buches Tausend Plateaus. Ronald Bogue zeigt, dass die Partitur Five Piano Pieces for David Tudor von Sylvano Bussoti eine Anleitung dafür ist, auf welche Weise das Buch zu ›spielen‹ sei (vgl. Bogue 2014: 474). In dem Kapitel Empirischen Studien geht es darum, Diskutiertem empirisch nachzugehen. Die Beispiele sollen aber nicht als Illustration der Ausführungen dienen, sondern Fragen beantworten. In der qualitativen Studie wurden Interviews und Beobachtungen durchgeführt, um die ›partizipativen‹ Strukturen sowie Überlegungen von Kunstschaffenden sowie Kunstrezipierenden diskutieren zu können. Für die Analysen sind drei Theaterproduktionen herangezogen worden, zwei, die im öffentlichen Raum realisiert wurden – wovon eines ganz direkt, eines nur indirekt das Publikum zur ›Partizipation‹ aufforderte – und eines, das im Keller eines Theaters aufgeführt wurde. Die Aufführungen fanden zu unterschiedlichen Zeitpunkten und Orten statt. Die Auswahl kam durch die Zugänglichkeit der Kunst und Erreichbarkeit der Kunstschaffenden zustande. Während im ersten Beispiel aufgrund von Beobachtung, Interview mit dem Regisseur sowie versuchter Produktions- und Rezeptionsanalyse dem theoretischen Fundament dieser Arbeit nachgegangen wurde, war schnell klar, dass in weiteren empirischen Beispielen mehrere Interviews sowohl mit dem Team der Produktion als auch dem Publikum durchgeführt werden müssen. Dies wurde in den zwei weiteren Beispielen umgesetzt. Das erste Beispiel DenkMal! bleibt in dieser Hinsicht eine Vorstudie, ein Experiment für die Untersuchung, um mögliche vorhersehbare Lücken der Analyse schließen zu können. Im Anschluss werden zwei Projekte diskutiert und verschiedene Bereiche analysiert, wobei Rezeption und Produktion als zwei Seiten einer Bewegung gedacht werden und über die Repräsentation der Texte das transformative Potential ergründet wird. Die Ergebnisse werden im anschließenden Abschnitt Wie wird Kunst? Teil 2 reflektiert. Zudem werden im Gefüge der künstlerischen Realisation Typo-
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logien benannt, die Parallelen und Differenzen der Teilnehmenden sichtbar machen. Die Bezeichnung der Teilnehmenden begrenzt sich dabei weder auf das Publikum noch auf die Kunstschaffenden. Teilnehmende sind alle Personen und auch die Artefakte beziehungsweise materiellen Gegebenheiten, die das Kunstgefüge zu dem werden lassen, was es letztendlich wird. Die beteiligten Menschen, sind das nun Schauspieler, Zuschauerinnen, Regisseurinnen, Dramaturgen, Regieassistenten oder Vorbeigehende, gehören ebenso dazu, wie der unmittelbare Ort sowie die Zeit beziehungsweise der Zeitrahmen der Aufführungen und die eingesetzten Medien, wie Licht, Projektionen, Toneinspielungen oder Lieder. Das Kunstgefüge setzt sich also aus mehr zusammen als aus den kollaborierenden oder kooperierenden Menschen. Was sie bewegt und in Bewegung sein lässt, sind die Affekte und Perzepte, die Handlungsräume ständig verändern, erweitern oder bestimmen. Dabei geht es um das Zusammenspiel menschlicher und nicht-menschlicher Praktiken. Julia Bee betont in diesem Zusammenhang die transformative Kraft, die zu liminalen Erfahrungen führen kann. »Praktiken, Stile, Techniken und mediale Formen individuieren und entwerfen Weisen des Anders-Werden« (Bee 2018: 17). Diese Veränderung oder dieses Anders-Werden schließt sowohl die Orte und Materialitäten als auch die Menschen mit ein. Während sich die Menschen im Werden ständig ändern beziehungsweise verändern, sind die Orte auch von einem Anders-Werden gekennzeichnet. Dies geschieht zum einen durch die neuen Narrationen, die sich mit der Materialität verbinden, zum anderen durch die Veränderung der Materialität oder des Ortes selbst, die oder der durch Hinzugabe von Artefakten neue Bedeutungen erfährt und somit überschrieben wird.
2. Ein Problemaufriss: Künstler als Köche verderben den Brei »It is because our social reality has proven to be artificial that we can envisage to change it; and contemporary art, as a producer of representations and counter models that subvert this reality by exposing its intrinsic fragility, also encompasses a political programme that is much more effective (in the sense that it generates real effects) and ambitious (insofar as it refers to every aspect of political reality) than all the messages and slogans it uses to comment on daily events.« Nicolas Bourriaud 2009b: 7
Kunstprojekte, die weder Kunstwerke noch Videoinstallationen, sondern Begegnungen und Erfahrungen in den Vordergrund stellen, umfassen ein großes Konfliktpotential für einen Kurator, der philosophische Begriffe zu bestimmen versucht und einen Philosophen, der sich für Kunst interessiert. Antje Stahl beschreibt auf diese Weise die schriftliche Auseinandersetzung zwischen dem Kunstkurator und -theoretiker Nicolas Bourriaud und dem Philosophen Jacques Rancière über die (politische) Qualität der Begegnungen zwischen Kunstschaffenden und ihrem Publikum (vgl. Stahl 2011: 27). Beide formulieren, worum es in der Kunst gehen soll – vielmehr noch, worum es der Kunst gehen soll. Stahl geht dabei insbesondere auf den Künstler Rirkrit Tiravanija ein, der in Bourriauds Buch Relationale Ästhetik im Kapitel über die Kunst der 1990er Jahre einen prominenten Platz einnimmt und paradigmatisch mit seinen Ausstellungsprojekten mit Kochutensilien den Museums-
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raum als Ort der Begegnung gestaltet. Somit ermöglicht er im Sinne Bourriauds »relationaler Ästhetik« Begegnungen zwischen Publikum und Kunstschaffenden (vgl. Bourriaud 2002: 25). Das Kochen ist bei Tiravanija für die Auseinandersetzung mit Menschen essenziell. Selbst als Gastprofessor an der Royal Danish Academy of Fine Arts kochte er für und mit seinen Studierenden, wie zum Beispiel der Videokünstler Jesper Just an seine Ausbildung erinnert (vgl. Just/Goldberg 2006: 41). Die alltägliche Handlung des Kochens geht dabei mit Gesprächen einher und soll einen Raum eröffnen, der ohne die Kochsituation verschlossen geblieben wäre. Eine ähnliche Forderung hat Filippo Tommaso Marinetti mit seinem Manifest Die futuristische Küche (im Original: Manifesto della Cucina Futurista) 1930 eingebracht. Als Futurist ging es Marinetti um eine kulturelle Revolution, die alle Bereiche des Lebens umfasst. Die Futuristen fordern, die sowohl gesellschaftlichen als auch politischen Verhältnisse neu zu ordnen. Manfred Hardt (vgl. 1982: 381) bezeichnet die Futuristen als prototypisch für die europäischen Kunstavantgarden. Für Marinetti waren die Nahrungsaufnahme und das Denken nicht voneinander zu trennen. So heißt es im Abschnitt »Gegen die Pasta Asciutta«: »Mit der Erkenntnis, dass Menschen sich schlecht ernähren oder ungeschickt große Aktivitäten in der Vergangenheit erreicht haben, bestätigen wir diese Wahrheit: man denkt, träumt und handelt nach dem, was man trinkt und isst1 « (vgl. Marinetti 1998: 21). Die Pasta Asciutta war nach Marinetti für die Provinzialität Italiens verantwortlich. Für den Nudelverzehr musste Weizen extra importiert werden, wobei Marinetti forderte, dass der Reis aus der Po-Ebene verstärkt für die heimische Küche benutzt werden sollte. Die Abhängigkeit des Weizens zeige die untergeordnete Stellung Italiens in Europa. Nudeln sind nicht nur einfach Nahrungsmittel, sondern tragen auch weitere Bedeutungen mit sich. So seien Spaghetti faulig, dreckig und voller Mythen (vgl. Rohdie 1975: 130). Sergio Benvenuto konstatiert, dass der Beitritt zum Euro-Verband im Jahr 1999 nicht nur der italienischen Ökonomie, sondern auch der Entprovinzialisierung Italiens half. Bevor die ›Provinz‹ rebellierte und ihre Stimmen der Lega Nord oder anschließend Beppe Grillo gaben, ging es darum, Italien zu europäisieren (vgl. Benvenuto 2017: 44). Der alltägliche Umgang mit Geldmünzen aus der Europäischen Union sollte dies
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Im Original heißt es: »Pur riconoscendo che uomini nutriti male o grossolanamente hanno realizzato cose grandi nel passato, noi affermiamo questa verità: si pensa si sogna e si agisce secondo quel che si beve e si mangia« (Marinetti 1998: 21). Übersetzung A. H.
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vorantreiben. Als Symbol der italienischen Küche oder mehr des Italienischseins kritisierte Marinetti den einfältigen Umgang mit dem Essen und fordert eine futuristische Küche, die auch ein kreativeres Denken und letztendlich eine Revolution verursachen sollte. Es ging ihm nicht darum, Essen künstlerisch zu gestalten, sondern alle alltäglichen Aspekte des Lebens, also die Art und Weise der Lebensführung, zum Thema des Futurismus zu machen (vgl. myhrvold 2011: 14). Bei Tiravanija gibt es zwar keinen konkreten Verweis auf Marinetti, jedoch ist für ihn der Stellenwert des Essens unbestreitbar hoch. Er betont bei seinen Kunstaktionen die informelle Interaktion, die das vorgefertigte Setting einer umgebenden Museumsarchitektur verlassen soll (vgl. Foster 2010: 137). Im Vordergrund steht auch bei ihm eine Ästhetisierung des Alltags, die es ermöglichen soll, Menschen miteinander in Verbindung zu bringen, die unter anderen Umständen nicht in Kontakt kommen würden. Bourriaud betont, dass längst verstanden wurde, wie künstlich und konstruiert unsere Umwelt ist. Die Diskussion um maßgeschneiderte Informationen innerhalb von Social Media scheint die konstruierte Realität zu bestätigen. Die Filterblase, die durch Algorithmen berechnet und zusammengestellt wird, soll in der relationalen Ästhetik durch persönliche Begegnungen durchbrochen werden. Schon die Erkenntnis allein, dass unsere (soziale) Realität konstruiert ist, beweist, dass wir sie verändern können. Begegnungen in künstlerischen Formaten sollen die Reflexion über die eigenen Scheuklappen fördern. So entstehe ein politisches Programm der Kunst, das besagt, Kunst sei weit mehr als nur ein Ausstellungsobjekt, da sie unseren Alltag sowie unsere Gedanken und Praktiken beeinflusse (vgl. Bourriaud 2009b: 7). Wo sind jedoch nun die Grenzen von Kunst und Alltag, sodass man von zwei verschiedenen Sphären sprechen kann, die man miteinander verbindet? Woran kann man Alltägliches in der Kunst erkennen? Wo und wann werden wir im Alltag mit Kunst konfrontiert? Wie lässt sich dazwischen eine Grenze ziehen oder ist das überhaupt nicht nötig? Im Folgenden sollen Beispiele vorgestellt werden, in denen sich entweder Kunst dem scheinbar Trivialen widmet oder der Alltag ästhetisiert wird. Im Fokus steht gerade die Paradoxie der Trennung, die ohne die Verbindung und der Thematisierung des jeweiligen anderen nicht funktionieren würde.
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2.1.
Kunst als Alltag
Im Film Bande à part (dt. Außenseiterbande) von Jean-Luc Godard aus dem Jahr 1964 entdeckt die Protagonistin Odile als Au-Pair-Mädchen in einem Schrank ihrer Arbeitgeberin Geld. Nach einigem Überlegen beschließt sie mit den Freunden Franz und Arthur das Geld zu stehlen. Dafür warten sie bis es dunkel wird. Um die Zeit totzuschlagen, entschließt das Trio den Rekord eines vollständigen Museumsbesuchs des Louvres von 9 Minuten und 45 Sekunden, aufgestellt von dem Amerikaner Jimmy Johnson, um 2 Sekunden zu unterbieten. Dieser hätte nämlich den gesamten Louvre bis dato in der genannten Rekordzeit besichtigt – so erklärt es die Erzählerstimme im Film. Darüber hinaus wird von der Stimme darauf hingewiesen, dass der Umstand des Zeittotschlagens der Tradition von schlechten sogenannten ›B-Movies‹ folgt. Der Verweis deutet auf den handlungsgebenden Roman Fool’s Gold der amerikanischen Autorin Dolores Hitchens hin. Godard bezeichnet seinen Film als ›B-Movie‹, da dieser einer Trash-Vorlage folgt. Während hier der Filmregisseur seine Vorliebe für die Populärkultur durch die Bearbeitung eines sogenannten Schundromans zeigt, thematisiert er dessen kulturellen Wert implizit im Film. Godard verwendet die Vorlage als Orientierung und versucht beim Filmen möglichst flexibel zu sein. So kommt es auch dazu, dass im Film der Lauf durch den Louvre oder die nicht weniger bekannte Tanzszene im Café Madison möglich wird. Letztere wird wiederum in Quentin Tarantinos Film Pulp Fiction (1994) neu inszeniert. Es scheint genau dieser spielerische Umgang zu sein, der auch andere Regisseure einlädt diesen potenziellen Mythos der Popkultur aufzugreifen und weiter zu pflegen (vgl. Chin 1991: 7). Nahezu vier Dekaden später wird der Lauf durch den Louvre erneut in einem Film aufgegriffen. In Bernardo Bertoluccis The Dreamers (dt. Die Träumer) aus dem Jahr 2003 brechen Matthew und die Zwillinge Isabelle und Theo den in Bande à part aufgestellten Rekord mit 9 Minuten und 27 Sekunden. Die Szenen sind denen in Bande à part fast ident nachgestellt. Bertolucci fügt in The Dreamers Originalausschnitte aus Godards Film ein. Im Zentrum bleibt die Schwerfälligkeit des Museums, das wertvolle Kunstgegenstände an einem Ort versammelt und ausstellt. Die Bedeutungen der Artefakte schränken die Besucherinnen und Besucher ein, sodass diese unter der Last der Tradition und der (Kunst)Geschichte kaum eigenständige Gedanken bilden können. Dagegen rebelliert das Trio in beiden Filmen. Die Figuren widersetzen sich beide Male einem vorgezeichneten Weg, den sie beschreiten sollen. Sie möchten selbständig sein. In Bande à part geht es später darum, mit gestohlenem Geld
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ein unabhängiges Leben zu führen, während in The Dreamers der Hintergrund der Unruhen im Jahr 1968 in Paris geschildert und die gewaltvolle Beteiligung an einer Demonstration thematisiert wird. Mit dem Lauf durch das Museum werden die Kunstschätze ignoriert und das Hier und Jetzt humorvoll in den Vordergrund gerückt (vgl. Chin 2001: 9f). 2017 wird die Szene von Agnés Varda und JR in ihrer Dokumentation Visages Villages (dt. Augenblicke: Gesichter einer Reise) parodiert, indem JR die kunstehrfürchtige Agnés Varda im Rollstuhl durch einen Teil des Louvres fährt. Dass ein Museum nicht zur Gänze besucht beziehungsweise betrachtet werden muss und dass ein Durchrennen mindestens genauso spannend – wenn nicht sogar interessanter – sein kann, zeigte auch der Amerikaner Peter Stone, der im Juni 1950 in fünf Minuten und 56 Sekunden den Louvre durchflog und die Venus von Milo, Nike von Samothrake und die Mona Lisa beim Vorbeirennen betrachtete (vgl. Buchwald 1984). Beim Verlassen des Museums soll er versichert haben, dass kein Museum auf der Welt ihn auf längere Zeit interessieren würde (vgl. Buchwald 1990). Die Idee in einem Museum einen Rekord aufzustellen, ist demnach nicht ungewöhnlich. Schließlich werben Museen des Öfteren mit verschiedenen Rekorden. Es zählt nicht mehr, dass man sich über ein bestimmtes Gemälde austauscht. Was in den Vordergrund rückt, ist der Besuch eines Museums, etwas ›Sinnvolles‹ mit anderen oder auch allein getan zu haben. Der Lauf durch den Louvre zeigt dies, indem aus drei Kameraperspektiven Arthur, Franz und Odile durch die Hallen rennen und rutschen. Das Rennen und die Erfahrung sind wichtiger als die Gemälde und die damit verbundene Kunstgeschichte oder aktuelle Bedeutung. Weder die Mona Lisa noch Werke von Hieronymus Bosch, Albrecht Dürer oder Jan Vermeer interessieren die Laufenden. Werner Hanak-Lettner hat in seinem Buch Die Ausstellung als Drama gezeigt, dass Museumsbesucherinnen und -besucher auch immer eine gewisse Eigenverantwortung bei sowohl der Gestaltung als auch der Auswahl von Narrationen haben (vgl. 2011: 31). Kuratorinnen und Kuratoren versuchen mittels ihrer Strategien Erzählungen und Bedeutungen vorzuschlagen, sie können diese aber nicht für das Publikum fixieren. Es ist nicht möglich, die Bedeutungen im Vorhinein zu bestimmen. Zwar ging man zu Beginn der Medienforschung, wie zum Beispiel beim ›Stimulus-Response-Modell‹ aus der behavioristischen Psychologie davon aus, dass eine direkte Beeinflussung stattfindet, jedoch wurde diese Annahme mehrmals kritisiert und mittlerweile widerlegt. Obwohl von mancher Stelle an der Wirkungsforschung festgehalten wird, wich diese mehr und mehr der Publikumsforschung und den damit verbundenen Fragen nach der Nutzung beziehungsweise den Praktiken
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des Publikums, wie zum Beispiel in den Cultural Studies (vgl. Winter 2010: 18-31). Die Nutzung von Medien ist beim Publikum niemals homogen. »Kulturelle Texte sind immer kontextuell artikuliert, in unterschiedlichem Maße polysem strukturiert, haben widersprüchliche, instabile und bestreitbare Bedeutungen« (Winter 2001a: 347). Demnach ist die Ausstellung im Louvre immer ein Versuch Bedeutungsakzente zu setzen, die angenommen aber auch abgelehnt werden können. Der Lauf durch den Louvre zeigt eine Möglichkeit der Kunstbetrachtung, die dem Kuratierungsteam wohl nicht in den Sinn gekommen ist. Aber das Rennen durch das Museum bleibt kein Momentum innerhalb der Populärkultur. Zwischen 1. Juli und 16. November 2008 rannte im Tate Britain alle 30 Sekunden eine Person für Martin Creeds Work No. 850 so schnell sie konnte durch die Ausstellung. Die Laufenden waren laut Internetbeschreibung Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen aus London und wurden gebeten, so schnell zu rennen, als ob ihr Leben davon abhänge.2 Der Ort der Kunst wird hier trivialisiert und der eher gewöhnliche Lauf wird durch die Verortung im Museum exotisiert und damit ästhetisiert. Die Laufenden treten nicht den Objekten gegenüber, sondern in eine Erfahrung ein. So beschreibt Barbara Gronau (2010: 73-90) die Kunstinstallation Eat (1964) des Künstlers Allan Kaprow. Hier besuchte das Publikum einen Felsenkeller, der für Kaprows ›Environment‹ gestaltet und an den letzten Wochenenden im Jänner 1964 besucht wurde. Die Räume wurden zuvor von der Brauerei Ebling als Lagerkeller benützt. Sie waren unvollständig von weißer Wandfarbe bedeckt und Wasserpfützen trugen zum Erscheinungsbild einer Ruine bei (vgl. Kirby 1965: 44). Zudem gab es Akteure, die Essen oder Wein anboten und bestimmte Plätze an denen ebenso Nahrungsmittel eingesammelt und -genommen werden konnten. Nach Gronau realisiert sich die »Aufführung erst durch die Bewegung des Publikums im Raum und ist gebunden an eine direkte Interaktion mit der Architektur, der Landschaft und den darin auftretenden Akteuren« (77). Interessant ist, dass der Rezensent Michael Kirby sehr deskriptiv Kaprows Eat bespricht. »The visitors were free to wander about through the cave. Some ate and drank; others did not. At the end of the hour the remaining people were ushered out, the ›performers‹ were replaced by fresh volunteers, and new visitors were allowed to enter« (Kirby 1965: 49). Auch für ihn scheint die Erfahrung im 2
Auf der Internetseite des Museums: https://www.tate.org.uk/whats-on/tate-britain/exhibition/martin-creed-work-no-850 [17.02.2020]
2. Ein Problemaufriss: Künstler als Köche verderben den Brei
Vordergrund gestanden zu sein. Obwohl er nicht über seine eigene Erfahrung spricht, konzentriert er sich auf die Beschreibung des Ortes, den Ablauf und die Interaktionsmöglichkeiten des Publikums. Für Gronau sind das zentrale Momente, die in eine Zusammenführung von Kunst und Leben resultieren. Es vollziehe sich hier keine Ausweitung der Kunstzone, die eine Annäherung von alltäglichen Praktiken, wie hier Essen und Trinken, an künstlerischen Handlungen verspreche, sondern sogar eine Aufhebung (vgl. Gronau 2010: 77). Das heißt Kunst und Alltag lösen sich ineinander auf, da das Publikum selbst über die Geschwindigkeit und Position in der Höhle entscheiden kann. Das bedeutet, dass auch die Reihenfolge der dargebotenen Stationen nach eigenem Empfinden aufgesucht oder ausgelassen werden kann. Kaprow kündigte die Präsentationsform als ›Environment‹ an und vermischte in seiner Installation verschiedene Materialien, Sounds und Objekte, die er zu einer Raumkomposition zusammenführte. Der Raum und die sich darin befindenden Körper gehen nach Gronau eine performative Beziehung ein, da es sich nicht nur um ausführende, sondern auch aufführende Handlungen handle (vgl. Gronau 2010: 76). Gronau erinnert auch daran, dass in den 1980er Jahren unter dem Stichwort ›Bildertheater‹ genau diese Diskussion geführt wurde. Nach ihr ging es dabei weniger um die zweidimensionale Logik eines Bildes, sondern vielmehr um den dreidimensionalen Erfahrungsmodus, der »die Körper und Handlungen von Akteuren und Publikum gleichermaßen umfasst« (Gronau 2010: 77, FN 8). Wenn es um Aufführungen geht, empfindet Klaus Hempfer die Bezeichnung performativ inflationär gebraucht. Im Original sollte Performance die Ausführung einer Leistung beschreiben, performative jedoch den speziellen Akt der Herstellung einer Bedeutung, die nur durch die Handlungsausführung hergestellt wird (vgl. Hempfer 2011: 14). In dieser Hinsicht kann die Frage gestellt werden, ob nicht, wenn soziale Handlungen realisiert werden, der Begriff Ausführungen passender ist. Die soziale Wirklichkeit entsteht demnach weniger durch Aufführungen und eher durch Ausführungen von Handlungen. Spätestens seit Kaprows Installationen wird der unmittelbar erfahrene Raum einer Kunstausstellung nicht mehr marginalisiert, sondern zum Protagonisten gemacht. Die Praktiken, die im Museum grundsätzlich herrschen, nämlich das Betrachten der Kunstwerk(gefüg)e, der Austausch über diese, der mögliche Besuch eines Cafés, der Kauf eines Souvenirs im Museumsshop werden so in den zwei genannten Filmen von Godard und Bertolucci außer Acht gelassen. Die dargestellten Gegenstände sind tot und haben keinen Einfluss auf die Lebenden. Godards Außenseiter und Bertoluccis Träumer äs-
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Im Gefüge der Kunst
thetisieren ihren Besuch im Louvre als eigene künstlerische Praxis, die nicht nur in der Filmhistorie zum Nachahmen einlädt. So finden sich auch auf der Videoplattform YouTube Videos, in denen der Lauf durch den Louvre nachempfunden beziehungsweise reinszeniert wird.3 Durch dieses Reenactment entsteht eine ›verlangsamte Erfahrung‹, die Raum für Reflexion und einen kreativen Umgang mit dem Originalereignis ermöglicht (vgl. Dreschke/Huynh/Knipp/Sittler 2016: 14). Dabei scheinen die Laufenden durch das Museum Allan Kaprows Diktum »go IN instead of LOOK AT« (Reiss 2001: 24) zu folgen, womit er die Umwelt seiner Kunstprojekte in den Vordergrund rücken wollte und keine Exponate. Eine Umwelt, die als solche die Wertigkeit eines Kunstobjektes bekommen sollte. Gerade diese Ästhetisierung versteht Boris Groys destabilisierend und deshalb politisch. Natürlich hat Groys nicht eine laufende Gruppe im Museum vor Augen, wenn er über Kunstaktivismus und ihre Entstehung aus einer totalen Ästhetisierung der Welt schreibt. Er trennt klar zwischen kritischer Kunst der Vergangenheit und einem aktuellen Kunstaktivismus, der sich für eine Veränderung der gegenwärtigen Strukturen einsetzt, die ihn unter anderem auch bedingen. Kunstaktivismus steht jedoch auch in der Kritik. Denn er ästhetisiere politische Ziele, produziere Spektakel und verliere dadurch das politische Potential zur Veränderung. Eine totale Ästhetisierung der Welt, in der wir leben, verhindere jedoch kein politisches Potential, sondern zeige die Möglichkeiten auf, da der Status Quo zerstört wird (vgl. Groys 2014: 88-92). Groys würde also sicher dem Beispiel des Rekordlaufes durch den Louvre viel abgewinnen können. Denn dieser akzeptiert die tote Kunstausstellung als solche und macht ihre Rezeption, ästhetisiert durch den Lauf, lebendig.
2.2.
Alltag als Kunst
In seiner Inauguralvorlesung am 29. Oktober 1974 in Cambridge, beschreibt Raymond Williams, dass dramatische Strategien, wie etwa im Theater, sich mehr und mehr im Alltag festschreiben. »Als Gesellschaft haben wir noch nie so viel geschauspielert oder so vielen anderen beim Schauspielen zugesehen« (Williams 1998: 239). Während in vergangenen Zeiten das Drama wichtig für bestimmte Feste und Rituale war, ist es gegenwärtig Bestandteil des Alltags 3
Vgl. The Dreamers/Мечтатели. Online unter: https://www.youtube.com/watch?v= v1MteJ31VXE [9.5.2018].
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(vgl. Williams 1974: 3, 1998: 240). Dieses Drama kann in alltäglichen Szenen sowohl im privaten Raum wie beim Kaffeetrinken, Kochen oder Zähneputzen als auch im öffentlichen Raum, wie beim Arztbesuch, Busfahren oder Einkaufen geschehen. Wie Williams dabei feststellt, geht es nicht immer nur um geplante oder vorproduzierte Dramen, wie Fernsehen oder Theaterbesuche, sondern auch um Nachahmungen im Alltag.4 Diese Ausführungen erinnern auch an die des Soziologen Erving Goffman (2008), der Ende der 1950er in seinem Buch Wir allen spielen Theater darauf eingeht, dass nahezu jede unserer Handlungen eine gespielte Handlung sei, je nachdem wo man sich innerhalb der Bühnenordnung aufhält. Goffman geht in seinen Überlegungen von der Idee aus, dass wir uns immer nach den Situationen richten und uns innerhalb der Machtstrukturen so verhalten, wie es für uns vom Vorteil sein kann. Die dabei ausgeführten Handlungen gleichen demnach keineswegs denen von Theaterschauspielerinnen und -schauspielern, da sie Wirklichkeit herstellen und verändern. Williams beschreibt die Dramatisierung der Gesellschaft in der Hinsicht, dass wir gar nicht mehr außerhalb einer dramatischen Struktur denken können und unseren Alltag dementsprechend aufbauen. So betont auch Goffman, dass der Mensch ein dramatisches Wesen ist. Williams und Goffman nehmen hierbei unter anderem vorweg, was später in den sogenannten performative turn münden wird. In den Cultural Studies hatte man sich zuerst den Bedeutungen verschrieben, die durch alltägliche Praktiken hervorgerufen werden (vgl. Hall 1997). Im Vordergrund stehen dabei nicht die Bedeutungen semantischer Texte, sondern die Handlungen an sich. Der Neologismus performative geht auf John L. Austin zurück, der Sprachhandlungen von Sprachaussagen trennen sollte (vgl. 1986: 305-237). Zu Beginn seiner Überlegungen baut er eine Dualität von Äußerungen auf, die entweder als konstativ oder performativ zu bezeichnen waren. Mit konstativen Äußerungen sollten Aussagen gemeint sein, die als falsch oder wahr bezeichnet werden konnten. Im Gegensatz dazu stellen performative Sprachhandlungen Realität her, sobald die Äußerungen ausgesprochen werden. Während der Begriff zu Beginn allgemein für Sprechakte verwendet wurde, sollte er helfen, konkrete Handlungen zu erkennen und beschreiben (vgl. Hudelist 2017b). Von Bedeutung ist dabei die Verwendung der Sprache, die in einem bestimmten Kontext
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Jörg Zirfas stellt dies ebenso heraus, wenn er Rituale von der Wiege bis zu Bahre beschreibt: »Rituale bestimmen unseren Alltag, strukturieren unsere festlichen und feierlichen Anlässe und begleiten uns in Krisen und bei Katastrophen. Mit einem Wort: Rituale sind allgegenwärtig« (Zirfas 2004: 9).
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Im Gefüge der Kunst
auf neue Handlungsmöglichkeiten verweisen kann (vgl. dazu auch König 2011 oder Nestler 2011). Ein Beispiel für eine Dramatisierung des Alltags oder für Ästhetisierung des Gewöhnlichen ist das Museum of Broken Relationships5 in Zagreb (Kroatien), welches im Jahr 2011 mit dem Kenneth Hudson Award als das innovativste, kontroverseste und ungewöhnlichste Museum des Jahres ausgezeichnet wurde. Die Beschreibung auf der Homepage lautet: »Museum of Broken Relationships is a physical and virtual public space created with the sole purpose of treasuring and sharing your heartbreak stories and symbolic possessions. It is a museum about you, about us, about the ways we love and lose. At its core, the Museum is an ever-growing collection of items, each a memento of a relationship past, accompanied by a personal, yet anonymous story of its contributor. Unlike ›destructive‹ self-help instructions for recovery from grief and loss, the Museum offers the chance to overcome an emotional collapse through creativity – by contributing to its universal collection.«6 Privates wird hier der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Objekte, die im Museum ausgestellt werden, sind alle von Menschen eingesendet worden, die eine gescheiterte Beziehung erlebt haben (vgl. dazu Abb. 1). Die mit den jeweiligen Geschichten verbundenen ausgestellten Objekte sollen den beteiligten Personen, die meist mit Schmerz verbundene Trennung, durch den kreativen Prozess eine Überwindung ermöglichen. Die Gründerin Olinka Vištica und der Gründer Dražen Grubišić suchen Spenden von persönlichen Gegenständen, um diese einem feierlichen Niedergang beziehungsweise Ende zuzuführen. Das Ausstellen der Objekte wertet die Erfahrung auf, an der nun ein Publikum teilhaben kann. Das Museum wird dabei zu einer Institution, die alltägliche dramatische Handlungen einfängt und ausstellt. Die Vielfalt der Objekte reicht von einem Teddybären über ein Wörterbuch bis hin zu einer Axt oder Perücke. Die dazugehörenden Geschichten sind alle einzigartig und erzählen von einer intimen Erfahrung aus dem Alltag. Die abgebildete Axt (Abb.: 1) erzählt die Geschichte eines Berliners, der zum ersten Mal mit einer Freundin
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Das Museum of Broken Relationships ist unter www.Brokenships.com oder dem tumblrBlog www.brokenships.tumblr.com zu finden. https://brokenships.com/explore?open=about-museum[03.03.2018]
2. Ein Problemaufriss: Künstler als Köche verderben den Brei
Abbildung 1: Zwei Artefakte aus dem ›Museum of Broken Relationships‹: ›ex-ace‹ (li.) und ›red wig‹ (re.) © liegt beim Verfasser
zusammenzog. Als er nach einiger Zeit beruflich drei Wochen nach Amerika reiste, konnte sie nicht mitkommen. So reiste er allein, während sie ihm vor Abflug erzählte, keine drei Wochen, ohne ihn überleben zu können. Nach seiner Rückkehr wusste sie, dass ihre neue Freundin, die sie seit vier Tagen kannte, ihr all das geben konnte, zu dem er nicht in der Lage war. Als sie für zwei Wochen mit ihr auf Urlaub fuhr, kaufte er im Zorn die abgebildete Axt bei Karstadt und zerstückelte täglich bis zu ihrer Rückkehr eines ihrer Möbelstücke, um ihr ein Verlustgefühl zu vermitteln, das anscheinend nur er verspürte. Als sie wiederkam, entledigte sie ihm die Häufchen von Möbelresten und er sah sie nie wieder. Die Perücke (Abb.: 1) hat jemand von seiner Ex-Freundin nach der Trennung ohne Erklärung zugesandt bekommen. Der Besitzer legte die Vermutung nahe, dass die Perücke vor der Trennung angeschafft wurde, um eine bestimmte Fantasie zu erfüllen. Nun sind die Axt und die Perücke als ex-ace und red wig im Museum in Zagreb zu finden und ästhetisieren die Trennung von sich einst Liebenden.
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Es gibt jedoch nicht nur das physische Museum in Zagreb. Da der Platz für die Gegenstände limitiert ist und nicht alle Artefakte ausgestellt werden können, finden sich Abbildungen der Gegenstände inklusive der Geschichten der spendenden Personen im virtuellen Museum. Zusätzlich wurde auch eine Außenstelle in Los Angeles im Jahr 2016 eröffnet. Und wer ein persönliches Stück spenden möchte, kann dies einschicken oder nur den Ort der beendeten Beziehung mit der passenden Geschichte dazu online eintragen. In den Worten von Jörg Heiser scheint das Museum of Broken Relationships ein Beispiel für eine Ästhetik zu sein, die sich über Beziehungen definiert: »Die relationale Ästhetik offeriert so kodiertes Wissen ›für alle‹ und stellt sich also in den Dienst des Ideals einer Kunst, die sich (vermeintlich) gegen die Massenkultur auflehnt, indem sie exklusives Wissen durch nicht exklusive Akte zu sozialer Verbundenheit aufführt.« (Heiser 2016: 24) Im Vordergrund steht also die Möglichkeit, dass jede Person, die eine Geschichte über gescheiterte Beziehung weiß und damit einen Gegenstand verbindet, diese auch für eine museale Aufbereitung (analog oder digital) einreichen kann. Dieser Akt, der jedem und jeder ermöglicht wird, wird mit dem Fachwissen der einzelnen Person verbunden. Durch die Archivierung wird eine Transkodierung der Narration durchgeführt. Mittels der unangenehmen Erfahrung können sich die Protagonistinnen und Protagonisten davon emanzipieren. Die gescheiterte Beziehung ist nicht mehr eine Geschichte der Enttäuschung und des Schmerzes, sondern durch ein mit der Geschichte verbundenes Artefakt für eine gewisse Zeit analog im Museum und digital auf der Webseite ausgestellt. Dadurch wird das Ereignis wiederum positiv konnotiert und erfährt eine Neuinterpretation. Die Bedeutung einer gescheiterten Beziehung wird de- sowie rekontextualisiert und somit reinterpretiert. Die Erfahrung erfährt eine Materialisierung, die durch die Dinge nicht erstarrt, sondern in einen Bedeutungsfluss gerät. Der daraus entstehende Prozess ordnet die Erinnerung oder Erfahrung laufend neu. Der Fluss der Dinge trocknet also nicht aus (vgl. Hörning 2001: 207). Auf den Überlegungen von Michail M. Bachtin und Valentin N. Volosinov hat Stuart Hall die Möglichkeit betont, »sich eine existierende Bedeutung anzueignen, indem man sie neu besetzt (z.B. ›black ist beautiful‹)« (Hall 2013: 158). Hier ist es möglich dominante Bedeutungen von Beziehungsbrüchen ebenso neu zu besetzen und zu einer transkulturellen Geschichte von gescheiterten Beziehungen beizutragen. Was durch das Museum of Broken Relationships
2. Ein Problemaufriss: Künstler als Köche verderben den Brei
gesammelt wird, trägt zu einem transtopischen7 Raum bei, in dem nicht nur entsprechende Narrationen zusammengetragen, sondern überhaupt in der Öffentlichkeit erzählbar werden. Da es sich hierbei nicht um eine Intervention, also einen Bruch im bekannten Diskursgefüge handelt, sondern dem Diskurs vielmehr mittels neuer möglicher Erzählungen etwas hinzugefügt wird, kann man auch von einer ›Invention‹ sprechen. Durch das Museum als Archiv – sowohl analog als auch digital – wird ein Terrain begründet, das vorher in dieser Art noch nicht vorhanden war. Diese »Assoziation von Kräften« erschafft eine delokalisierte Narration, die laufend erweitert und erneuert wird (vgl. Lorey/Nigro/Raunig 2011: 9f.). Im Folgenden sollen Beispiele herangezogen werden, die uns verstehen lassen, warum Machtkämpfe um Bedeutungen und um den öffentlichen Raum im Kunstkontext existieren. Dabei sind folgende Fragen zum roten Faden verwoben: •
•
•
7
Wann wurde Kunst öffentlich? Welche Rolle hatte die Öffentlichkeit bei der Kunstrezeption? Welche Möglichkeiten der Partizipation hatte das Kunstpublikum bei der Rezeption? Wo traten erste Konflikte zwischen Öffentlichkeit und Kunstschaffenden auf? Wer bestimmte über die Bedeutungen der Kunstwerke bzw. Kunstgefüge? Wann traten Konflikte zwischen Kunstschaffenden und Publikum in Bezug auf die Bedeutung auf? Wer macht die Kunst, die Produzierenden oder die Rezipierenden? Welche künstlerischen Strategien werden von den Kunstschaffenden verfolgt, um das Publikum einzubeziehen? Welche unterschiedlichen Qualitäten resultieren daraus? Wie wird jeweils die Rolle des Publikums und der Kunstschaffenden gegenseitig wahrgenommen?
Zur Verwendung des Begriffs Transtopie vergleiche die Ausführungen von Erol Yildiz, der damit die Handlungen von Migranten und Migrantinnen zweiter und dritter Generation bezeichnet, die die entsprechenden Clichés für sich neu besetzen (vgl. Yildiz 2013: 187f). »Durch solche und andere Verortungspraxen werden mehrheimische lokale Räume geschaffen, in denen unterschiedliche Traditionen, Erinnerungen und Erfahrungen kombiniert und kultiviert werden. Das Leben zwischen Kulturen und Welten wird nicht als Identitätsdefizit oder schizophrene Situation betrachtet, sondern positiv in Szene gesetzt […]« (vgl. Yildiz 2017: 30).
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3. Wie wird Kunst? Teil 1 »Die Geschichte kann sich nicht von Daten befreien.« Gilles Deleuze und Félix Guattari 1997: 114
Dieser Abschnitt thematisiert den Prozess, der nötig ist, um etwas als Kunst erkennen zu können. Es geht also weniger um die Frage, was Kunst ist, sondern vielmehr, wie etwas zur Kunst wird. Vor allem: wer entscheidet darüber, dass etwas Kunst ist und welche Bedeutungen oder Interpretationen gehen damit einher? Im vorangegangenen Kapitel ging es um die Aufhebung und Festschreibung der Grenzen von Kunst und Alltag. Nun steht das Werden der Kunst im Mittelpunkt. Wie erzeugt Kunst Öffentlichkeit(en) und wie bekommen Artefakte, aber auch Körper und Handlungen künstlerische Bedeutung(en)? Welche Beziehung existiert zwischen Kunstschaffenden und -rezipierenden? Oder in den Worten von Umberto Eco: »Wenn jemand in einem Wutanfall auf ein Stück Holz einhackt und dabei die Gestalt einer Kuh herausmodelliert, ist das dann ein Kunstwerk? Und wenn nicht, warum« (Eco 1973: 305)? Die Idee, der Arbeit eine Entstehungsgeschichte voranzustellen, beruht auf der Hinführung zum Thema der unterschiedlichen gegenwärtig breit diskutierten Ästhetiken von sozial engagierter Kunst. In Living as Form nennt Anne Pasternak verschiedene ästhetische Zugänge, die aus den sicheren vier Wänden des Studios hinausführen und den öffentlichen Raum in Kunstprojekten mitthematisieren, wie unter anderem ›relational aesthetics‹, ›social aesthetics‹, ›new genre public art‹, ›social justice art‹, ›social practice‹, ›happenings‹, ›interventions‹, ›dialogic art‹ oder ›community art‹. Sie betont, dass stetig mehr Künstler und Künstlerinnen in ihren Projekten darauf verweisen, dass das Publikum einen wesentlichen Teil der Kunstproduktion darstellt (vgl. Pasternak 2012: 7f). Das war nicht immer so. Für Nato Thompson (vgl. 2012a:
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Im Gefüge der Kunst
16) stehen Projekte im Sinne von Living as Form für eine Kritik des Alltags. Kunst wird also genützt, um alltägliche Strukturen, in denen wir leben zu hinterfragen. Living steht für anti-repräsentativ, partizipativ, politisch und dafür, dass die künstlerischen Aktionen in der ›realen‹ Welt beheimatet sind. Form verweist im Gegensatz dazu auf die Art der Zusammenkunft, die Manipulation von Medien, Forschung sowie ihre Präsentation und Kommunikationsarten. Letztendlich soll Living as Form auch auf das Wachstum der creative industries hinweisen sowie die Kritik Horkheimers und Adornos an der Kulturindustrie (vgl. Horkheimer/Adorno 2006) und die Arbeit der Situationisten um Guy Debord (vgl. 1996) weiterführen. Das Kernproblem der Kunst, die das Publikum mitdenkt, ist, dass sie immer kapitalistische Strukturen aufnimmt und sie damit reproduziert. Eine Diskussion solcher Projekte ist daher unumgänglich und muss laufend auch unter diesem Gesichtspunkt geführt werden. Dabei stellt sich die Frage, wie Kunst auf immaterielle Arbeit oder entgrenzte Arbeit innerhalb der künstlerischen Praktiken reagiert. Durch diese neuen Formen der Arbeit entsteht primär ein Wandel der Arbeitswelt, die in den Alltag eindringt, anstatt neue Formen von Lebensweisen zu fördern (vgl. Wieser 2015: 188). Später werden wir darauf nochmal zurückkommen. Die folgende Entstehungsgeschichte von Kunst und ihrer Öffentlichkeit soll skizzieren, wie es zu den gegenwärtigen Überlegungen von Kunstästhetiken kommt beziehungsweise gekommen sein kann. Eine vorliegende Geschichte zur Kunst im öffentlichen Raum scheint es nicht zu geben (vgl. Grasskamp 2007: 223), obwohl hier verschiedene Werke herangezogen werden, die sich einer solchen Geschichte zumindest annähern. Während eine systematische Aufarbeitung von Kunst in der Öffentlichkeit noch fehlen dürfte, gibt es mittlerweile einige Bücher, besonders im englischsprachigen Raum, die sich mit der Thematik beschäftigen. So zum Beispiel die Künstlerin Suzanne Lacy, die mit der Bezeichnung ›new genre public art‹ dem Verhältnis von Kunst und Publikum nachspürt (vgl. Lacy 1994). Lacy erklärt die Anhäufung von künstlerischen Produktionen, die mit der Anwesenheit des Publikums spielten, wie folgt: »this is in part a consequence of an increased level of personal visibility in the culture at large. From an assumed ›right to know‹ about the lives of politicians, to the revelation of family secrets, including spouse abuse and incest, formerly private lives have assumed the character of public property through the media. Visual artists are no exception, and many have catapulted into national prominence overnight by virtue of controversies surrounding their
3. Wie wird Kunst? Teil 1
world. What artists do and what they ›ought‹ to do constitutes a territory of public debate in which we seek a broadened paradigm for the meaning of art in our times.« (Lacy 2010: 172) Im 20. Jahrhundert spürte man innerhalb der Kunstgeschichte dem Verhältnis zwischen Kunstwerk und -betrachtenden nicht gerade unbedingt tiefgründig nach. »Der Ertrag an systematischen Überlegungen zum WerkBetrachter-Verhältnis fällt für das 20. Jahrhundert viel bescheidener aus als für das 19. Jahrhundert, überblickt man nur das, was die Kunstgeschichte als hierfür verantwortliche Disziplin geleistet hat« (Kemp 1983: 24). Dies änderte sich aber spätestens zum Beginn des 21. Jahrhundert, denn sowohl im Bereich der Kunst als auch der Wissenschaft scheint genau dieses Verhältnis und die Diskussion darüber in den Mittelpunkt gerückt zu sein. Man findet viele Bücher, die zumindest Sammlungen von Kunstprojekten im öffentlichen Raum vorstellen und theoretisieren. Neben Thompsons Living as Form (2012b), möchte ich noch Cher Krause Knights Public Art: Theory, Practice and Populism (2008) und Claire Dohertys Public Art (Now) (2001) erwähnen. Das Buch A Companion to Public Art (2016), herausgegeben von Cher Krause Knight und Harriet F. Senie, löst mittlerweile wohl Grasskamps Forderung ein. Da es in der weiteren Arbeit, um die Einbeziehung von Besucherinnen und Besuchern bei künstlerischen Arbeiten, ihrer Kultur und dem Sozialen geht, steht im Fokus die Beziehung zwischen Kunstschaffenden und -rezipierenden. Deshalb sollen hier wichtige Momente in der Geschichte öffentlicher Kunst beschrieben werden, die uns ein Verständnis geben können, welches Erbe gegenwärtige partizipative Kunstprojekte in sich tragen.
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Im Gefüge der Kunst
3.1.
Kunst und ihre Öffentlichkeit(en) »Der Prozeß, in dem die obrigkeitlich reglementierte Öffentlichkeit vom Publikum der räsonierenden Privatleute angeeignet und als eine Sphäre der Kritik an der öffentlichen Gewalt etabliert wird, vollzieht sich als Umfunktionierung der schon mit Einrichtungen des Publikums und Plattformen der Diskussion ausgestatteten literarischen Öffentlichkeit. Durch diese vermittelt, geht der Erfahrungszusammenhang der pulikumsbezogenen Privatheit auch in die politische Öffentlichkeit ein.« Jürgen Habermas 1990: 116
Dass Kunst öffentlich ausgestellt wird, wie es heute verstärkt auf den Kunstmessen und -ausstellungen getan wird, war nicht immer so selbstverständlich, wie es scheint. Die Idee, dass Kunst der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll, wurde erstmals im 15. Jahrhundert angedacht. Und zwar in der Form der ›Akademie‹, die als Begriff 1427 bei Poggio Bracciolini auftaucht, der so seine, nahe Florenz liegende, Villa nannte. Dort befand sich seine Sammlung von antiken Skulpturen und er zog sich in die ›Akademie‹ zurück, um Muße und Ruhe finden zu können. Die 1490 von Leonardo da Vinci gegründete Academia Leonardi Vincii (Accademia Vinciana) war hingegen schon daraufhin ausgerichtet, dass sich Kunstschaffende untereinander informell austauschen können. Ein wichtiges Merkmal der Accademia Vinciana war die Statusaufwertung, die durch die Akademiegründung vorangetrieben werden sollte, damit die bildnerischen Künste sich von den technischen emanzipieren konnten (vgl. Schneider 2011: 246). Die Idee Kunstwerke öffentlich auszustellen, wurde in der zweiten Hälfte des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts geboren. Kunstobjekte waren zuvor der Mehrheit der Gesellschaft nicht zugänglich. Es durften nur Auserwählte am Kunstgenuss teilhaben. Wer nämlich nicht zu den Kunstschaffenden, Auftraggebenden oder Vertrauten gehörte, der oder dem war es verwehrt, Kunst wahrzunehmen. Kunstobjekte waren zumeist entweder
3. Wie wird Kunst? Teil 1
im Privateigentum und wurden nur einer begrenzten Anzahl von Menschen gezeigt, wie unter anderem in den aufkommenden verschiedenen künstlerischen Akademien oder Ausstellungen, die vorerst als Wettbewerbe unter den Kunstschaffenden fungierten. Das bedeutet nicht, dass künstlerische Objekte generell im öffentlichen Raum unauffindbar waren. Auch wenn sie auffindbar waren, waren sie der breiten Öffentlichkeit nicht zugänglich.1 Mit den im Entwicklungsstadium noch befindlichen Kunstakademien hatte man die Idee entwickelt, sich über die selbst hergestellten Kunstobjekte auszutauschen. So sammelte man innerhalb der Akademien Kunstwerke von Mitgliedern. In den einzelnen Akademien geschah das Sammeln sehr unterschiedlich. In manchen Akademien wusste man zu Beginn gar nicht, welche konkreten Werke, die Kollegen (und Kolleginnen) produzierten, in anderen wurde die Idee geboren, die Werke als Mitgliedsbeitrag zu sammeln und bei Treffen auch gelegentlich zu zeigen. In Italien fing man damit im 17. Jahrhundert an. Im 18. Jahrhundert bildete der französische Salon ein Vorbild für Resteuropa (vgl. Ekkehard 1986: 12). Allerdings wurde immer nur ein bestimmter Teil der Öffentlichkeit eingeladen. Dass Kunst demokratisch wurde, stimmt also in dieser Hinsicht (noch) nicht, jedoch wurde sie erstmals (teil)öffentlich und somit demokratischer als zuvor. Schließlich waren es nicht nur Künstler die Kritik üben konnten, sondern ein kleiner geöffneter Kreis um sie herum. In jüngerer Vergangenheit lässt sich nach Suzana Milevska (2006) ein Paradigmenwechsel feststellen. Sie schreibt in ihrem Beitrag Partizipatorische Kunst über den Wandel vom Objekt zum Subjekt. Damit beschreibt sie den Niedergang einer ›Autorenkunst‹ beziehungsweise auratischen Kunst, die sich von den Schöpferinnen und Schöpfern losgekoppelt hat. Nun scheinen die Zuschauer und Zuschauerinnen die Kunst herzustellen. Das bedeutet, dass die Kunstschaffenden keine singuläre Macht mehr über die Bedeutungen und Diskurse ihrer Kunstwerke haben. Roland Barthesʼ (2000) Text Der Tod des Autors verweist darauf, dass die Autorinnen- sowie Autorenschaft ein Produkt der Moderne sind, das erst hervorgebracht werden musste (vgl. 1
Nach Andreas Reckwitz bildete sich im auslaufendem 18. Jahrhundert eine besondere Form der ästhetisch-sozialen Kunst heraus, die zu einer im 19. Jahrhundert sich festigenden ästhetischen Sozialität führt und heutzutage jegliche künstlerischen oder kreativen Formen auch abseits der Kunst formt (vgl. Reckwitz 2013: 54). In Norbert Schneiders Übersicht Geschichte der Kunsttheorie werden die Akademiegründungen zwischen 15. und 17. Jahrhundert als Grund für die Statusaufwertung angeführt (vgl. Schneider 2011: 246-261).
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186). Das bedeutet, dass die Autorinnen- oder Autorschaft, wie man sie heute kennt, als Begriff (als Bezeichnung und Symbol) eingeführt wurde. Die Funktion bestand darin, jemandem Wissen zuzuschreiben. Also darin, das Kunstwerk mit Informationen beziehungsweise Bedeutungen hermetisch abzuriegeln. Der Zugang zu den Kunstobjekten wurde damit erheblich eingeschränkt und nur für Expertinnen und Experten möglich. Zudem wurden die Autorinnen und Autoren durch die schriftlichen Texte analysiert. Kunst, so die Annahme, sei als Substitution des Lebens zu rezipieren. »Moderne – das meint hier: die von uns heute ›klassische Moderne‹ genannte extreme Ausführung des europäischen und amerikanischen Ästhetizismus, die sich in den zwanziger Jahren als ›Avantgarde‹ verstand. Sie brachte das Kunstwerk für Experten hervor, hermetisch, dicht, ›bis zur Grenze des Möglichen mit Sinn geladen‹ (Pound).« (Ortheil 1994: 127) Damit ist nicht nur eine Autorität eingeführt worden, sondern darüber hinaus eine Machtinstanz. Nicht jeder oder jede war in der Lage Kunst(werke) im Sinne der Produzierenden zu dechiffrieren. Barthesʼ Text muss man deshalb als eine Kritik an der Machtinstanz lesen und nicht als ein Abgesang menschlicher Existenz, die sich hinter dem Kunstobjekt verbirgt. Mit diesem Hintergrund sollte auch der letzte Satz des Textes verständlich werden, der so oft verkürzt gelesen wird beziehungsweise wurde und daher eine missverständliche Diskussion über die Autoren- sowie Autorinnenschaft produzierte. Die Rezeption von Barthes Text reduziert sich leider viel zu oft auf: »Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors« (Barthes 2000: 192f). So glauben Künstlerinnen manchmal, dass sie ihrer Existenz abgesprochen werden und pochen darauf, dass sie die Kunstgenese beziehungsweise den Prozess einleiten und deshalb unverzichtbar sind. Barthes meinte jedoch mit dem Tod der Autorin oder des Autors, dass die Autorität, die mit ihnen verbunden wird oder vielmehr verbunden wurde, nicht mehr diese sein kann oder auch nie diese war. In diesem Zusammenhang kritisiert er stark den psychologischen Kritizismus, der traditionell weniger den literarischen Text, sondern die verfassende Person dahinter analysierte (vgl. Morris 2004: 21). Der Autor oder die Autorin ist nicht in der Lage die Bedeutung, die Diskurse, den Inhalt zu steuern. Deshalb führt Barthes auch den Begriff des Skripteurs ein und möchte mit diesem Begriff den der Autor- beziehungsweise Autorinnenschaft ersetzen (vgl. Barthes 2000: 189). Der Begriff des Skripteurs vollbringt keine creatio ex nihilo – wie es manchmal fälschlicherweise von
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Autorinnen und Autoren angenommen wird –, sondern sammelt aus Existierenden und fügt zusammen. »Heute wissen wir, dass ein Text nicht aus einer Reihe von Wörtern besteht, die einen einzigen, irgendwie theologischen Sinn enthüllt (welcher die Botschaft des Autor-Gottes wäre), sondern aus einem vieldimensionalen Raum, in dem sich Schreibweisen [écritures], von denen keine einzige originell ist, vereinigen und bekämpfen.« (Barthes 2000: 190) In Anlehnung an Barthes kann man sagen, dass die Vorstellung beziehungsweise Idee der Autorschaft, die etwas selbst erschafft, bereits in dem Moment geschwächt worden ist, in dem Kunst öffentlich gemacht wurde. Als Kunstobjekte noch nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, waren die Produzentinnen und Produzenten noch allein in der Funktion über die Bedeutungen zu verfügen. Auch wenn dies natürlich bedeuten muss, dass die Kunstschaffenden mit niemanden in einen Dialog traten; Schreibende schrieben also für die Schublade oder bildnerische Künstlerinnen und Künstler schufen für das private Kämmerlein. Mit der Ausstellung von Objekten in der Öffentlichkeit, hat sich dies jedoch vollständig gewandelt. Das bedeutet nicht, dass der Autor oder die Autorin seit dem Moment, in dem Kunstprodukte öffentlich präsentiert werden, nicht mehr existiert, aber dass dieser oder diese nicht mehr die Bedeutung und den Sinn steuern kann. Sinn und Bedeutung ergeben sich erst aus der Rezeption der Betrachtenden, die dem Kunstgegenstand erst seinen Wert geben. Der Ausstellungsmacher und -forscher Werner Hanak-Lettner zeigt sogar auf, dass dramaturgische Strukturen innerhalb von Ausstellungen seit der europäischen Neuzeit inhärent sind (vgl. Hanak-Lettner 2011: 57-70). Für ihn sind die Rezipientinnen und Rezipienten wesentlich, da durch die Öffnung für ein Publikum verständlich wird, dass Objekte durch die besuchenden Menschen zum Leben erwachen können. Die Idee, Kunstobjekte überhaupt in der Öffentlichkeit zu präsentieren entstand im 17. Jahrhundert, als die im Jahr 1648 unter der Regentschaft Annas von Österreich gegründete Académie Royale de Peinture et Sculpture beschloss, für die Dauer ihrer Generalversammlung von den Mitgliedern ein Kunstwerk auszustellen (vgl. Koch 1967: 127). Dabei hatten die Kunstobjekte noch mehr dekorativen Charakter. In der italienischen Accademia di San Luca wurde ab dem Jahr 1596 von jedem Mitglied ein Kunstobjekt verlangt, das der Akademie gestiftet werden musste. Damit konnte die Akademie bald eine Sammlung aufweisen, die sie der Öffentlichkeit 1651 zeigte. Die Mehrzahl dieser Öffent-
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lichkeit bestand aus Künstlerinnen und Künstlern sowie ihren Freunden und Freundinnen. Das bedeutet, dass nach wie vor die Mitglieder der Akademie zum größten Teil die Kunst bewerteten. Kunst wurde also vorwiegend durch das kulturelle Feld bestimmt, dass Kunst hervorbringt, wie es unter anderem Pierre Bourdieu (2001) beschreibt. Die Autonomie von Kunst wird in diesem Fall durch ein Feld hergestellt, bestehend aus bestimmten Künstlerinnen und Künstlern sowie deren Freunden und Freundinnen. So ist auch die Entwicklung eines bestimmten Geschmacks zu verstehen, wie sie Bourdieu für den literarischen Salon nachzeichnet (vgl. Bourdieu 2001: 84ff). Lawrence Grossberg betont jedoch, dass der Geschmack nichts darüber verrät, wie Menschen an die einzelnen Kunstwerke oder Texte anknüpfen. Geschmack beschreibt vielmehr die Fähigkeit an einem konkreten Text mehr Vergnügen zu empfinden als andere (vgl. Grossberg 2010: 49). Dieses Verhältnis wird später genauer zum Thema gemacht. Durch die Öffnung der Akademien, entstand zumindest ein größeres Potential der Kritik und somit die Möglichkeit einer Veränderung. Erstmals werden verschiedene Meinungen eingeholt und Objekte diskutiert. Bedeutungen werden hinterfragt und über ihre gesellschaftliche Relevanz nachgedacht. Das heißt, dass Ausstellungen wegen ihrer Ausstellungsdauer immer zeitlich gebunden und innerhalb dieser Zeit meistens auch unter einem bestimmten Gesichtspunkt, also thematisch, ausgerichtet sind. Folgend definiert Georg Friedrich Koch die Kunstausstellung: sie »[…] ist ein zeitlich begrenzter und örtlich nicht gebundener Schauzusammenhang von Kunstgegenständen, der, nach bestimmten Gesichtspunkten ausgewählt, zu einem besonderen Zweck oder aus einem gegebenen Anlaß gezeigt wird« (Koch 1967: 5). Der Zweck oder der Anlass bestimmte natürlich wer eingeladen wurde. Die Ausstellungen begannen als Leistungsschau. Die Kunstschaffenden spürten zum ersten Mal untereinander einen Druck, auf mögliche Auftraggeber, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Zusätzlich konnten die Akademien durch die Präsentation der Kunstobjekte einen guten Ruf erlangen. Die Akademien waren also parallel zu den von Bourdieu beschriebenen Salons, Orte eines regen Austausches, wo Kunstschaffende versuchten, Kontrolle über die vom Staat ausgegebenen Gratifikationen zu bekommen und politischen Machthabern oder Machthaberinnen, wenn es welche gab, ihre Sicht der Dinge aufzuzwingen. Aus der Sicht der Künstler (und Künstlerinnen) dienten Ausstellungen also dazu, sich im Feld hervorzutun und dem König beziehungsweise den Machthabenden zu gefallen. Daraus lässt sich auch die von Bourdieu zitierte Aussage aus Gustave Flauberts Erziehung des Herzens, worin Flaubert die Machtfelder der Politik und
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Kunst literarisch beschrieben und diskutiert hat, verstehen: »Man schreibt nicht, was man will« (Bourdieu 2001: 19). Innerhalb dieser Konstellation sind Abhängigkeiten entstanden, die stetig neu ausgehandelt wurden. Die zeitliche Begrenzung ermöglichte es den Ausstellenden, sich auf das Publikum einzustellen und neuen Auftraggebern (wie den Machthabenden) zu gefallen. Aus diesem Mix der Absichten entstand nebenbei das Verlangen erzieherisch zu wirken und einen (noch) unausgesprochenen pädagogischen Auftrag zu erfüllen. »Lehrausstellung und Leistungsschau waren denn auch die treibenden Motive zur Begründung des französischen Salons, der Urmutter neuzeitlichen und noch heute gültigen Prinzips, Bilder an den Mann, d.h. zu öffentlicher Anerkennung und zu allgemeiner Kenntnis zu bringen. Die Geburtsstunde dazu schlug bekanntlich mit der Gründung der ›Academie des Peintures et des Sculptures‹ in der Regierungszeit Ludwigs XIV. Das Datum 1648 bezeichnet die Freiheit der Kunst analog der Wissenschaft durch selbstgesetzte Regeln.« (Ekkehard 1986: 13) Damit wurde die Kunst aus den vorgegebenen Strukturen der vorangegangen institutionellen Regeln geholt und mit einem neuen Auftrag versehen. Denn in dem Moment, in dem man dem König auch gefallen wollte, erhielt die Kunst auch Staatsinteresse, ohne jedoch ein Phänomen ausnahmslos für die höfische Gesellschaft zu sein. Sie erweiterte sich und ihre Öffentlichkeit, deren Grundstein im 17. Jahrhundert gelegt war und wurde größer. Kunst wurde zu einem kulturellen Ereignis, an dem ›tout le monde‹, also alle, die dazu in der Lage waren, teilnehmen konnten. Wenn man von Kunst und Öffentlichkeit spricht, darf man auch nicht die Pariser Salons vergessen, die in einem bestimmten gesellschaftlichen Umkreis einen hohen Stellenwert hatten. »In der Literatur zur Geschichte der Ausstellung werden gerade diese Jahre, in denen es in Paris zur ›Veröffentlichung‹ des Salons kommt [ca. ab 1737, A. H.], als Geburtsstunde der Ausstellung im heutigen Sinne angesehen. Das heißt nicht, dass zuvor nicht ausgestellt wurde. Doch der Ausstellung hatte die Öffentlichkeit, sowohl das breite Publikum als auch die kritische Auseinandersetzung, gefehlt. Erst der bewusste Akt, einen Raum mit Exponaten zu ›veröffentlichen‹, d.h. ihn einer Öffentlichkeit, die sich in der offenen Kommunikation zwischen Besuchern und Kritikern herausbildete, preiszugeben, ließ das Medium Ausstellung, das heute zu den wichtigsten
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und dynamischsten kulturellen Kommunikationsräumen zählt, entstehen.« (Hanak-Lettner 2011: 35) Hanak-Lettner beschreibt die Jahre der Öffnung des Pariser Salons als einen wichtigen Moment für das Wesen der Ausstellung in der Gegenwart. Durch die ›Öffnung‹ der Pariser Salons bekamen die Ausstellungsorte die dramaturgischen Elemente, die auch Theateraufführungen inhärent sind. Für Arnold Hauser ist Paris zu dieser Zeit die Kunsthauptstadt schlechthin (vgl. Hauser 1990: 678). Nach Ekkehard bezeichnet das 1648 bereits die Freiheit der Kunst, da diese durch selbstgesetzte Regeln funktionieren kann. Die Autonomie der Kunst liegt hier in den Kinderschuhen. In den darauffolgenden Jahren kann man die Entwicklung an Hand der Akademien und Salons nachzeichnen. Mit der Herausbildung der Kunstinstitutionen, insbesondere der Salons, geht für Jürgen Habermas erstmals auch die Entstehung einer Öffentlichkeit einher. Der Hof muss nicht nur seine Stellung der Öffentlichkeit an die ›Stadt‹ weitergeben, sondern die Öffentlichkeit an sich verändert sich grundlegend (vgl. Habermas 1990: 90f). Die Öffnung der künstlerischen Kultur zu einem breiten Publikum erfolgte durch die erste Kunsthochschule in Florenz. Die Accademia delle Arti del Disegno wurde im Jahr 1563 gegründet und war unter dem Herzog der Toskana Cosimo I. de‹ Medici die erste europäische Akademie für Malerei, Bildhauerei und Architektur. Seit diesem Zeitpunkt wurden die bildnerischen Künste von den technischen Künsten unterschieden und stiegen zu den freien Künsten auf (vgl. Brandstätter 2008: 124). Während hier jedoch noch der Schwerpunkt auf der Malerei lag, förderte der Gründer und zugleich Leiter der Accademia di San Luca (1593), Federico Zuccari, theoretische Debatten. Darüber hinaus führte er die Vergabe von Preisen ein (vgl. Schneider 2011: 248). Danach wurde langsam auch andere Akademien gegründet. So in Frankreich die bereits erwähnte Académie royale de peinture et de sculpture, die als Académie des Beaux-Arts bis heute noch existiert. Langsam wurde die Idee von autonomen öffentlichen Kunstausstellungen umgesetzt. Die Emanzipation der Rezipierenden zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert war dafür verantwortlich, dass der Interpretationsspielraum für Kunst größer wurde. Dadurch entstanden mehr und mehr kritische Lesarten der Kunstobjekte. Mittlerweile wurde die Kunstausstellung auch zur Selbstdarstellung (vgl. Ekkehard 1986: 13), sodass wiederum von den kunstschaffenden Personen versucht wurde, Lesarten in gewisser Art und Weise vorzugeben. Durch diese vorgegebenen Lesarten kann man jedoch einiges über die Ausstellenden erfahren. Insge-
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samt kann man sagen, dass in dieser Zeit der Öffnung der Kunst zum Publikum drei grundlegende Säulen für die heutigen Ausstellungen geschaffen wurden. Erstens das Verlangen aktuelle, also zeitgenössische Kunst zu zeigen. Zweitens übernahm erstmals eine Person die Dramaturgie bei den Ausstellungen; der ›décorateur‹ beziehungsweise der Kurator wurde geboren. Und drittens entstand ein öffentliches Urteil auf Grund der erlaubten Teilnahme des Publikums. Dadurch wurde die Entwicklung einer Beziehung zwischen dem Publikum und den Kunstschaffenden möglich. Bald sah man jedoch in dieser Beziehung die Gefahr, dass die Meinung des Publikums zu sehr den Wert bestimmt. Denn die vielfältigen Meinungen, konnten die Bedeutung (nicht die vorgegebene Lesart) eines Werkes erst recht gefährden. Die anfangs gelobte Demokratisierung der Kunst oder der Moment einer demokratischeren Kunst war nun vielen ein Dorn im Auge, da man im Vorfeld darauf angewiesen war, die Gunst des Publikums für sich zu gewinnen. Dies verdeutlicht unter anderem die kritische Stimme von Antoine Coypel: »Ich behaupte, daß die Ausstellung, in der die Gemälde gezeigt werden, zwanzigmal am Tag ihr Publikum wechseln sieht. Was die Öffentlichkeit noch um zehn Uhr morgens bewundert, das verdammt sie bereits am Nachmittag. Jawohl, ich sage Ihnen, dieser Schauplatz bietet zwanzig verschiedene Arten von Publikum, jedesmal mit anderem Tonfall und Charakter im Verlauf nur eines einzigen Tages: ein schlichtes Publikum zu bestimmten Zeiten, ein Publikum mit Vorurteilen, ein oberflächliches Publikum, ein boshaftes Publikum, ein Publikum, das sich sklavisch der Mode verschrieben hat, alles zu sehen wünscht, aber nicht zu beurteilen imstande ist. Ich kann Ihnen versichern, daß eine endgültige Auflistung des Publikums zu keinem Ende führen würde […].« (Coypel zitiert nach Ekkehard 1986: 17f) Die Kritik am kurzweiligen Geschmack wird hier laut und zusätzlich das vermeintlich fehlende Experten- beziehungsweise Expertinnenwissen, das die Ursache dafür ist, dass das Publikum angeblich seine Meinung wie Windrichtungen wechselt. Es wird nur gesehen, geschaut und genervt, doch zu einer wirklichen Kritik soll niemand in der Lage sein. Wenn einmal Kritik ausgesprochen wird, ist es eigentlich keine, da sie nicht beständig ist oder sein kann, weil zu viele Meinungen auseinanderdriften und keine einzelne Kritik am Ende des Tages übrigbleiben kann. Bei den durchschnittlichen Besucherinnen und Besuchern kommen Beschwerden beziehungsweise Kritik unmittelbar bei der Rezeption auf und werden sofort und ungefiltert geäu-
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ßert. Coypel übersieht bei seiner Beobachtung jedoch, dass das Publikum keine Kritik vom Fach liefern kann, sondern eher die des Geschmacks. Dass sich nun dieser ändert, zeigt auch die Kunstgeschichte, die Kunst zu dem werden lässt, was sie ist. Die zweite Stimme, die dem ›neuen Publikum‹ nicht gerade positiv gesinnt ist, ist die von Marc-Antoine Laugier (1759): »Diese Art Publikation kann sehr schnell zu Kritizismus, Meckerei und unbegründeter Urteilssuche herunterkommen. Eigeninteresse bestimmt dann die Darstellung, und sie würde nichts anderes werden als ein Periodikum von Beleidigungen, die unsere Künstler kränkten, die Ateliers schließen ließen und den Ruin unserer Ausstellungen bedeuten würden […].« (Laugier nach Ekkehard 1986: 18) Laugier beklagt nicht nur die Schwierigkeit dem Publikum zu gefallen, sondern sieht in dieser publikumsfreundlichen Öffnung sogar schon das Ende der Kunst. Für ihn ist auch die Wechselhaftigkeit der Meinungen der Besucherinnen und Besucher die größte Gefahr, da sie nicht zu einer bodenständigen Kritik führe. Meinungen des Publikums scheinen für ihn nahezu ausnahmslos in Beleidigungen zu enden. Die Öffnung der Kunst in Richtung eines breiten Publikums sei der Ruin des Ausstellungswesens. Nicht anders sieht es Pidansat de Mairobert im Jahr 1777: »Man durchmißt eine Treppe wie eine Falltür, die trotz bemerkenswerter Weite stickig ist. Ist man diesem qualvollen Schlauch entkommen, verschlägt es einem nahezu den Atem vor Hitze und Staub. Die Luft ist so verpestet und durchsetzt von den Auswürfen so vieler ungesunder Menschen, daß einen entweder der Blitz trifft oder eine Seuche erwischt […].« (de Mairobert nach Ekkehard 1986: 18) Auch hier steht die große Gefahr, die das Publikum ausüben solle im Vordergrund. Neben vermeintlichen Krankheiten, die das Publikum bei der Rezeption von Kunst verbreiten soll, droht die Öffnung der Kunst für ein weites Publikum sogar mit Naturkatastrophen beziehungsweise Phänomenen wie Blitzschlag oder Seuche. Gilles Deleuze und Félix Guattari schreiben über die Kraft der Meinungen in ihrem letzten gemeinsamen Buch Was ist Philosophie? »Die Meinung ist ein abstrakter Gedanke, und die Beleidigung spielt eine wirkungsvolle Rolle in dieser Abstraktion, weil die Meinung die allgemeinen Funktionen besonderer Zustände ausdrückt« (Deleuze/Guattari 2000: 171). Bei all den Meinungsaussagen spürt man auch die große Angst, dass das Pu-
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blikum allein über die Kunst bestimmen könne und die Künstlerinnen sowie Künstler oder Ausstellerinnen und Aussteller keinerlei Macht über die Bedeutung mehr hätten. Damit wird die politische Dimension deutlich, die gegen eine solche Öffnung der Kunst ist. Die Angst scheint insofern begründet, wenn Kunst nur mehr darauf ausgerichtet ist, zu gefallen beziehungsweise sich verkaufen zu müssen. Diese Angst scheint in kleinen Teilen berechtigt zu sein und sie wird bis zum heutigen Tage in verschiedensten Überlegungen zur Kunst geäußert. So schreibt Walter Grasskamp, dass im 19. Jahrhundert künstlerische Produkte abseits wirtschaftlichen Handelns entstanden sind. In der Gegenwart können sich die Kunstschaffenden, die durch Kunst Geld verdienen möchten, um davon leben zu können, vom Kunstmarkt fernhalten (vgl. Grasskamp 1998: 19f). Dadurch sind die Künstlerin und der Künstler gezwungen, sich stärker in der Öffentlichkeit darzustellen und auf die Wünsche und Bedürfnisse anderer einzugehen. Das bedeutet jedoch nicht, dass man grundsätzlich einer neoliberalen Ordnung im Kunstbereich zustimmen sollte (vgl. McRobbie 2002: 49). In England entwickelte sich im 18. Jahrhundert ein breites Pressewesen, das die Aufgabe hatte, insbesondere mit den moralischen Wochenschriften die Bevölkerung zu belehren. In dieser Art und Weise wurden die ersten Schritte einer öffentlichen Kritik gegangen. »Den ›offiziellen‹ Beginn der Kunstkritik in Frankreich kann man auf 1737 datieren, als die Salons, die jährlich stattfindenden Ausstellungen, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden und damit die an das Privileg der Kunstakademie gebundene Kunsttheorie an die Publizistik freigegeben wurde« (Schneider 2011: 274, FN 11). Kunst als Begriff gibt es erst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Also ab der Zeit, in der sich die zitierten Kritiken in besonderer Vehemenz gegen das Publikum äußern. Das heißt nicht, dass es zuvor keine Künste gab, jedoch waren sie ein Zeitvertreib von vorwiegend Männern, die nicht die Präzision eines Handwerkers oder Sklaven an den Tag legten und ihrer Muße nachgingen. Mit der Einbeziehung eines Publikums wurde die bestehende Hierarchie sowohl beim Publikum als auch bei den Kunstschaffenden in Frage gestellt. »Die Kunst hat im Abendland als solche zu existieren begonnen, als diese Hierarchie der Lebensformen ins Wanken geriet« (Rancière 2013a: 11). Kunstschaffende versuchten mit ihren Werken diese Hierarchie noch aufrecht zu halten. Mit dem Aufstieg der Bourgeoisie wurden jedoch neue Ansprüche an
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der Kunst geäußert und eine neue Ästhetik gefordert (vgl. Schneider 2011: 267). So werden neue (partizipative) Projekte als Aushängeschild für Kunstinstitutionen geplant und durchgeführt, um die Institution zu bewerben. Sie gehen mit dem Trend oder besser sind der Trend. Dabei werden Spektakel erzeugt, an denen so viele als möglich teilnehmen sollen. Es geht darum, gesehen zu werden. Kunstfestivals wie die dOCUMENTA, Biennale in Venedig und Manifesta zeigen dies unter anderem beispielhaft vor und zelebrieren mediale Kunstspektakel. Nicht nur um höchste Aufmerksamkeit zu bekommen und neue Rekordzuschauerzahlen zu erreichen, sondern auch um das Spektakel selbst zu bedienen und sich selbst feiern zu können. Das Spektakel funktioniert also über kapitalistische Strukturen, wobei in den konkreten künstlerischen Produktionen dagegen angekämpft wird und alternative Möglichkeiten geschaffen werden sollen. Claire Bishop beschreibt, dass das Spektakel als zentraler Begriff in der Diskussion um Partizipation innerhalb von künstlerischen Projekten vernachlässigt wird. Dem Mythos von passiv Zuschauenden soll damit entgegengewirkt werden. So schreibt sie: »Participatory art in the strictest sense forecloses the traditional idea of spectatorship and suggests a new understanding of art without audiences, one in which everyone is a producer« (Bishop 2012a: 36). Weiters zeigen die künstlerischen Darbietungen manchmal genau das, was im kapitalistischen System gerade in Mode ist. So wird Wert aufs ›networking‹ gelegt, Projektarbeit geleistet und zur Partizipation aufgerufen, wobei die mitgestaltenden Personen ›freie‹ Arbeitende sind. Wolfgang Ullrich (2007) beschreibt die Haltung der Kunstschaffenden gegenüber den Rezipientinnen und Rezipienten als nicht besonders ausgewogen. So fragt er sich, ob das Publikum nicht öfters für dumm gehalten werde. Dazu verweist er auf verschiedene künstlerische Beispiele, die die Rezipierenden in die Kunstausstellung beziehungsweise das Kunstobjekt miteinbeziehen. Eines davon ist aus dem Jahre 1961 in New York. Nämlich ein Versuch Yoko Onos, Besucherinnen und Besuchern die Ehrfurcht vor der Kunst zu nehmen. Dazu lud sie diese ein, mit einem Hammer Nägel in ein an der Wand hängendes Holzbrett zu schlagen oder eine am Boden liegende Leinwand zu betreten (vgl. 205f). Ein zweites Beispiel ist Franz Erhard Walthers I. Werksatz, das 57 Gegenstände beinhaltete, die für das Publikum als Gebrauchsgegenstände bereitlagen. Zwar war eine mögliche Anwendung vorgegeben, jedoch sollten die Besucherinnen und Besucher stimuliert und nicht angeleitet werden, damit sie selbst Teil der Kunstgenese werden kön-
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nen (vgl. 206). Damit wollte er umgehen, dass die Akteurinnen und Akteure letztendlich wiederum das aufführen, was der Künstler oder die Künstlerin vorgibt und damit kein aktives Publikum sind, sondern nur ausführende Subjekte der Kunstschaffenden. Nach Ullrich entstehen hier verwirrende Rollenangebote, die die Besucherinnen und Besucher kein kritisches oder künstlerisches Urteil bilden lassen, sondern vielmehr eine Verlorenheit erzeugen. Das Publikum scheint nur wenig mit dem Angebot anfangen zu können und wird letztendlich von den Kunstschaffenden kritisiert, da die Besuchenden nicht zur Zufriedenheit der Künstler und Künstlerinnen vorgehen. Man erkennt hier schnell den Widerspruch, dass Besucherinnen und Besucher zwar eigenständig sein und sich nicht anleiten lassen sollen, aber bei den Kunstschaffenden bereits eine Vorstellung existiert, was das ungefähre Resultat sein sollte. Manfred Wagner (1999) stellt sogar die These auf, dass Demokratie und Kunst sich nicht vertrügen. Dabei verweist er unter anderem auf die Exklusivität, die differenten Produktionsmöglichkeiten und auf die multiple Rezeption. Nebenbei ist auch die fehlende Akzeptanz der Kunst bezahlenden Öffentlichkeit nicht unwichtig (vgl. Wagner 1999: 70f). Der Kunstkritiker Théophile Thoré schreibt 1838 in einer Rezension über eine Pariser Salonausstellung, dass er es bedauert, erkennen zu müssen, dass die Empfindungen der herstellenden Künstler und Künstlerinnen sowie der Betrachterinnen und Betrachtern sehr unterschiedlich sind. Er schreibt: »Was ist nun der tatsächliche Charakter unserer gegenwärtigen Schule? Sie teilt sich in vier oder fünf unterschiedliche Gruppen auf, die sich an die Künstler oder an die Bürger wenden, aber keineswegs an die Menge« (Thoré 2003: 61). Thoré stellt fest, dass die unterschiedlichen Meinungen unabdingbar sind, da auch schon auf der Seite der Kunstschaffenden unterschiedliche Schulen und damit verschiedene Techniken und Vorlieben existieren. Er sieht nicht die unentschiedene Masse als Problem, sondern, dass es zu viele Gruppierungen von Geschmäckern gibt, die sich sowohl unter den Kunstschaffenden als auch den Besuchenden finden lassen. So ist aus seiner Sicht keine Kunst für die Masse möglich, denn es gäbe keine Geschmacksurteile, auf die sich die Mehrheit stützen könnte. Mit der Entwicklung der Kritik, welche durch die größer werdende Presse gefördert wurde, wurde aber genau das versucht: nämlich einen Gemeinsinn anzusprechen, der nicht daraus besteht, in möglichst viele unterschiedliche Meinungen zu verfallen, sondern im Sinnes des ›common sense‹ einen solchen gemeinsamen Sinn zu formen. Der Maler William Hogarth vertrat diesen ›Gemeinsinn‹ und lehnte deshalb den italienischen Manierismus oder die
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französischen aristokratischen Moden radikal ab (vgl. Schneider 2011: 267). So hatte die Kritik zur Folge, dass die Bedeutungsvielfalt letztendlich wieder eingegrenzt wurde, wenn auch nicht mehr von den Kunstschaffenden selbst. Was entsteht, ist ein bestimmter Geschmack der Kritik, auch wenn sich dieser nicht losgelöst von Gesellschaft entfaltet. »Geschmack ist das Produkt dieses Zusammentreffens zwischen zwei objektiv aufeinander abgestimmten Geschichten, einer objektiven und einer inkorporierten« (Bourdieu 1993: 154). Bourdieu meint damit, dass der Geschmack nicht aus dem Nichts entsteht, sondern immer bereits Bekanntes wiedererkennen lässt. »Genauer gesagt ist der Künstler jemand, den man als solchen anerkennt, indem man sich in dem erkennt, was er gemacht hat, und indem man in dem, was er gemacht hat, das erkennt, was man gemacht hätte, wenn man es hätte machen können« (Bourdieu 1993: 155). Nun haben wir nachgezeichnet, wie Kunstschaffende und Kunstrezipierende mehr oder weniger zueinander gefunden haben. Durch den möglichen Dialog und den Austausch von Meinungen beziehungsweise durch den Geschmack eröffnet sich ein Raum voller Machtstrukturen, die jeweils von der anderen Seite in Frage gestellt werden. Im Kern der Auseinandersetzung steht die Bedeutung des Kunstwerkes und der damit verbundene Stellenwert desselben. Während die Möglichkeiten der Rezeption erweitert wurden und damit überhaupt eine Dialogmöglichkeit geschaffen wurde, ist die Bedeutung oder die Interpretation eines Kunstwerkes noch lange nicht selbstverständlich. Die anwachsende Kritik und Interpretationsvielfalt haben die Diskussion über die Funktion der Herstellenden sowie der Rezipierenden in Gang gesetzt. Wer bestimmt schlussendlich über die Bedeutung eines Kunstwerkes?
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Kunst und ihre Bedeutung(en) »Wenn es zutraf, daß das Schaffen von Bedeutungen eine Tätigkeit war, an der alle Menschen Anteil hatten, dann mußte man von jeder Gesellschaft schockiert sein, die solche Bedeutungen und Werte ganzer Gruppen absichtlich unterdrückte oder unfähig war, diesen Gruppen die Chance zur Artikulation und Kommunikation ihrer Bedeutungen einzuräumen.« Raymond Williams 1983: 77
Die Arbeit der Kritik war es, einen allgemeinen Geschmack, gesellschaftlich zu etablieren. Die gegenwärtigen Museen und Kunstausstellungen geben ein Abbild über den Geschmack. Der bedeutungsvolle Inhalt von künstlerischen Werken wurde bis zum Beginn der modernen Kunst nicht angezweifelt, wodurch die Legitimation einer einzelnen Interpretation durch bestimmte Bedeutungen hergestellt wurde. Die Kunstschaffenden wussten über die Bedeutung der Werke Bescheid und gaben diese Interpretation weiter. Wolfgang Iser stellt jedoch genau diese Vorgehensweise in Frage, wenn er schreibt: »Besäßen die Texte wirklich nur jene von der Interpretation hergestellten Bedeutungen, dann bliebe für den Leser nicht mehr viel übrig« (Iser 1975: 228). Nach Matthew Rampley hat sich der Moment, in dem Kreativität an eine individuelle Ausdrucksweise gekoppelt wurde im Zeitalter der Renaissance herausgebildet (vgl. 2005: 151). Zu dieser Zeit wurden Künstler nicht mehr als bezahlte ›Handwerker‹ angesehen, sondern als kreative Gestalter mit eigenen Rechten gewürdigt und konnten dadurch auch in der Gesellschaft an Ansehen gewinnen. Der Grundstein für den Begriff der Autorschaft im Sinne einer Schöpferin oder eines Erfinders war gelegt. Immanuel Kant ging in diesem Zusammenhang weiter und prägte dafür den Begriff des Genies. So schreibt Kant in der Kritik der Urteilskraft unter §46. Schöne Kunst ist Kunst des Genies: »Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt. Da das Talent, als angeborenes produktives Vermögen des Künstlers, selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: Genie ist die angeborene
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Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt.« (Kant 1993: 160, Herv. i. O.) Man kann jedoch kaum von einer individuellen Kreativität oder Leistung sprechen, wenn Kunstschaffende in einem System eingebettet sind – das sich zwar über die Jahrhunderte verändert hat, jedoch den Künstler oder die Künstlerin nie als singuläres schöpferisches Wesen konstituierte. Da das Publikum einen größer werdenden Einfluss auf die Kunstproduktion gewann, wurde nicht nur über den Wert der Kunstwerke diskutiert, sondern auch über ihre Bedeutungen. Hier gibt es eine starke theoretische Diskussion, die die produzierenden Personen und die rezipierenden Menschen oftmals als Kontrahenten darstellt. Der Begriff Autor beziehungsweise Autorin beschreibt seit dem 15. Jahrhundert den Urheber oder die Urheberin. Damit geht eine Autorität einher, die über die Bedeutung des Geschaffenen verfügt. Autorschaft sowie Autorität gehen auf das Lateinische ›augere‹ (auctum) zurück und bedeuten unter anderem fördern, wachsen, mehren, erhöhen und verherrlichen. Durch die Erschaffung von Kunst wurden gleichzeitig bestimmte Inhalte legitimiert (vgl. Burda/Brock 2010: 122). Autorität durch Autor- und Autorinnenschaft. Sie wird nicht hinterfragt und erhält deshalb ihre Macht (vgl. Derrida 1991: 24). Die feministische Kritik zeigt, dass nicht ein Genie einen Künstler schuf, sondern die Umstände, wie familiäre und gesellschaftliche Strukturen, die solche Wege ermöglicht haben. So zum Beispiel Linda Nochlin, die sich die Frage stellt, warum es keine großen Künstlerinnen gegeben hat. Sie betont, dass Kunst weder in einem freien Raum noch von autonomen Individuen gestaltet wird. Vielmehr entscheidend sind Institution, Kunstakademien, Schirmherrschaften, Schöpfermythologien und soziale Strukturen (vgl. Nochlin 1989: 151). Hier bildet sich die Konstruktion des Künstlers aus dem Umfeld heraus. Heinrich Wölfflin schrieb eine formalistische Kunstgeschichte – losgelöst von den Kunstschaffenden (vgl. Wölfflin 1917). Trotz seiner Arbeit wurde die biographische Methode, dass sich die Bedeutung eines Kunstwerkes von den Herstellenden ableiten lässt, stark rezipiert und aufgenommen. Erst durch den New Criticism, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wurde wieder davon abgegangen und die Interpretationen wurden stark gemacht (vgl. Ransom 1979). Ein Werk kann nur nach der Art und Weise der Form beurteilt werden – nach dem Genre, in das es sich einfügt. Der Wert des Werkes besteht schlussendlich darin, wie es dieses Genre mitgestaltet. »[…] the intentions of the individual maker are of less significance than the wider linguistic and other patterns within
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which the artwork was produced« (Rampley 2005: 157). Dies wurde jedoch von marxistischen und feministischen Wissenschafterinnen sowie innerhalb des New Historicism angezweifelt: »Artworks are produced within social and cultural conditions which do not simply form an exterior ›context‹, but which reproduce themselves within the artwork, in formal, aesthetic and semantic terms. Indeed, art is itself a social construct« (Rampley 2005: 157). Ein Problem, das innerhalb der Schule und des Bildungskanons wenig Anklang gefunden hat, da nicht nur die literarischen Werke einem Kanon unterliegen, sondern auch die Interpretationen, also »die Lesart von Experten« (Hipfl 1997: 47). Es muss also die Unterscheidung »zwischen ›literarischem Vordergrund‹ und ›politischem Hintergrund‹ oder allgemeiner zwischen künstlerischer Produktion und anderen Arbeiten gesellschaftlicher Produktion« (Greenblatt 2001: 33) aufgegeben werden. Für Roland Barthes erreicht der Begriff der Autorschaft in der Moderne seinen Höhepunkt, da hier einzelne Bedeutungen gefunden und fixiert werden sollen (vgl. Barthes 2000: 186). Walter Benjamin kommt so auf seinen Aufsatztitel Der Autor als Produzent, in dem der Autor nicht nur Texte produziert, sondern auch Bedeutungen. Benjamin erinnert aber daran, dass das Publikum in einem Medium immer auch stets zum Produzenten werden kann. Am Beispiel des ›operierenden Schriftstellers‹ Sergej Tretjakow beschreibt Benjamin wie Tretjakow nicht nur Texte verfasst, sondern Geld für Traktoren sammelt, Wanderkinos sowie Radios einführt und mit Bauern über den Eintritt in die Kolchose spricht. Für Benjamin ist hier die Form der Dichtung klar überschritten und Tretjakow zur eigentlichen Motivation des Schreibens vorgedrungen (vgl. Benjamin 2011a: 516). Hier werden laufend weitere Menschen in die Arbeit miteinbezogen. Ein Fakt, den auch Barthes betont, wenn er schreibt, dass das schreibende Ich sich immer schon aus einer Vielzahl von anderen Texten, also unendlicher Codes, die zum Teil schon verloren gegangen sind, zusammensetzt (vgl. Barthes 1987: 14). Sowohl bei der künstlerischen Produktion als auch bei der aktiven Rezeption gibt es eine Vielzahl von Personen, die am Entstehungsprozess eines Textes beteiligt sind. Benjamin verweist auf die Zeitung mittels des Genres des Leserbriefes auf den ›operierenden Schriftsteller‹ und betont, dass hier sichtbar wird, wie die Unterscheidung »zwischen den Gattungen, zwischen Schriftsteller und Dichter, zwischen Forscher und Popularisator […] [und] sogar die Scheidung zwischen Autor und Leser einer Revision« (Benjamin 2011a: 517) unterzogen werden muss. Mit der Zahl der unterschiedlichen Ichs der Autorschaft gehen ebenso viele Ichs von Lesenden einher.
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Barthes diskutiert den Textbegriff oder den des Werkes innerhalb der Literatur. Er geht dabei auf die Schriften von Mallarmé ein, dessen Poetik darin besteht, den Autor mit der Schrift zu unterdrücken. In den ähnlichen Ausmaßen ist das auch bei Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit der Fall. Proust selbst äußert sich hinsichtlich des Überlebens eines Werkbegriffs kritisch: »Man nimmt die Vorstellung hin, daß in zehn Jahren man selbst nicht mehr ist, und in hundert Jahren die Bücher, die man geschrieben hat, nicht mehr existieren« (Proust 1984: 501). Die Erinnerung an den Autor oder die Autorin verblasst also um einiges schneller als der Text. Das könnte damit zusammenhängen, dass der Text Aufzeichnung von jemandem ist, der oder die sich erinnert. Während die Lebenserfahrung endlich ist, ist die Erinnerung daran endlos. Diese Endlosigkeit, die in der Fähigkeit des Erinnerns liegt, führt Proust vor. »Denn hier spielt für den erinnernden Autor die Hauptrolle gar nicht, was er erlebt hat, sondern das Weben seiner Erinnerung, die Penelopearbeit des Eingedenkens« (Benjamin 2011b: 55). Hier spielt Benjamin auf den zweiten Gesang der Odyssee an, in dem Penelope enttarnt wird, wie sie das am Tag zusätzlich gewebte für das Totentuch ihres Schwiegervaters Laertes wieder auftrennte. Ihre Verehrer versuchte Sie damit zu trösten, denn erst, wenn sie das Tuch fertig gewebt hätte, wäre sie für diese bereit. Wie Penelope in der Nacht wieder rückgängig machte, was sie am Tag vorgab zu Ende zu bringen (vgl. Homer 1990: 503), löst in Prousts Text der Tag auf, was die Nacht hervorbrachte. Nach Barthes steht der Tag für das zweckhafte Handeln beziehungsweise Erinnern, das das Gewebe der Nacht zerstört (vgl. Barthes 2011: 55). In Die wiedergefundene Zeit endet der Erzähler damit, dass er die erzählte Geschichte nun aufschreiben müsse. Das gelingt aber nicht während des Tages. Er verdunkelt das Zimmer, um das Arbeiten zu ermöglichen. »Was ich selbst zu schreiben hatte, war anderes und längeres als bloße Abschiedsbriefe, und es richtete sich auch an mehr als nur eine Person« (Proust 1984: 500). Hier ist der Protagonist nicht jemand, der beobachtet wird; er ist jemand der schreiben wird. So endet der Roman mit dem Akt, dass der Erzähler soweit ist mit dem Akt zu beginnen, doch da endet der Roman. »Linguistisch gesehen, ist der Autor immer nur derjenige, der schreibt, genauso wie ich niemand anderes ist als derjenige, der ich sagt. Die Sprache kennt ein Subjekt, aber keine Person. Obwohl dieses Subjekt außerhalb der Äußerung, durch die es definiert wird, leer ist, reicht es hin, um die Sprache zu tragen, um sie auszufüllen.« (Barthes 2000: 188)
3. Wie wird Kunst? Teil 1
Barthes schlägt diesbezüglich auch vor, dass man nicht mehr von einem Autor spricht, sondern von einem Skripteur, also von jemanden der den Text organisiert. Es gibt dabei kein vor oder nach dem Text. Es besteht nur die Zeit der Äußerung, »jeder Text ist immer hier und jetzt geschrieben. Und zwar deshalb, weil (oder: daraus folgt, dass) Schreiben nicht mehr länger eine Tätigkeit des Registrierens, des Konstatierens, des Repräsentierens, des ›Malens‹ (wie die Klassiker sagten) bezeichnen kann, sondern vielmehr das, was die Linguisten im Anschluss an die Oxford-Philosophie ein Performativ nennen, eine seltene Verbalform, die auf die erste Person und das Präsens beschränkt ist und in der die Äußerung keinen anderen Inhalt (keinen anderen Äußerungsgehalt) hat als eben den Akt, durch den sie sich hervorbringt – etwa das Ich erkläre von Königen oder das Ich singe von sehr alten Dichtern.« (Barthes 2000: 189; Herv. i. O.) Im Zentrum steht hier ein Performativ, eine Handlung, die durch die Sprache vollzogen wird. Denn in den Vordergrund tritt hier der bestimmte Gebrauch von Sprache (vgl. König 2011: 47) oder die soziale Dimension derselben (vgl. Krämer 2001: 141). In diesem Zusammenhang wird auch verständlich, warum nicht die Unterschrift bei der Eheschließung die Ehe rechtskräftig macht, sondern der Satz ›Hiermit erkläre ich Euch zu Mann und Frau‹. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, kann man sich die Frage stellen, ob es egal ist, wer diesen Satz ausspricht. In diesem Fall sind gesellschaftliche Konventionen vorgegeben und der Satz wird somit von einem Standesbeamten ausgesprochen. Der Schriftsteller Italo Calvino denkt hier weiter und überlegt, ob er sich nicht von einer Maschine austauschen lassen könne. In Kybernetik und Gespenster, schreibt er, dass er sich vorstellen kann, wie eine Maschine seine Arbeit, die Arbeit eines Schriftstellers, übernimmt und Literatur produziert. Der gute Schriftsteller ist bereits eine Maschine, da er das, was die Maschine vollzieht, langsamer vollzieht: »Der Schriftsteller, so wie er bis jetzt gewesen ist, ist bereits eine schreibende Maschine, das heißt, er ist es dann, wenn er gut funktioniert: das, was in der romantischen Terminologie Genius, Inspiration oder Intuition hieß, ist nichts weiter als empirisch einen Weg finden, der Nase nach, über Abkürzungen gehend, wo die Maschine systematisch und gewissenhaft, wenn auch blitzschnell und simultan vielfältig vorgehen würde.« (Calvino 1984: 17)
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Letztendlich ist es jedoch weder die Autorin noch die Maschine, die den Text hervorbringt, da ein solcher nur in der Öffentlichkeit zu existieren beginnt und nicht in der Dunkelheit einer verschlossenen Schreibtischschublade zum Leben erweckt werden kann. So wird das Werk: »[…] weiterhin im Kontakt mit dem lesenden Auge geboren, beurteilt, zerstört oder ständig erneuert werden; was verschwinden wird, ist die Figur des Autors, dieser Darsteller, dem man ständig Funktionen zuschreibt, die ihm nicht zustehen, der Autor als Aussteller der eigenen Seele auf der Dauerausstellung der Seelen, der Autor als Benutzer überdurchschnittlich aufnahmefähiger Sinnes- und Interpretationsorgane, der Autor, diese anachronistische Figur, Träger von Botschaften, Anführer des Bewußtseins, vortragender auf Konferenzen der Kulturgesellschaften.« (Calvino 1984: 17) Wenn es keinen Autor mehr gibt, ist es auch unsinnig auf der Spur des Autors oder der Autorin den Text nachzeichnen zu wollen, denn die Bedeutung des Textes geht nicht mehr durch den Autor hervor, sondern im Zwischenspiel der Rezipierenden. Michel Foucault stellt sich deshalb auch die etwas provokante Frage, »Wen kümmert’s, wer spricht« und zitiert damit Samuel Beckett. Wen man sich auf andere Personen bezieht und sie zitiert, entsteht das Problem, dass man ihnen nie gerecht wird, da man sie in einem neuen Kontext sieht und nie den Sinn des Autors im Sinn hat, sondern einen eigenen. So zeigt sich das Bild des Skripteurs, welcher die Schrift wie ein Puzzle zusammenfügt, wobei sich das Bild des Puzzles immer wieder neu verändern kann. Jedes Puzzlestück als ein Wort der Sprache. Foucault macht es in seinen Arbeiten zwar auch so, denn er wird den Autorinnen und Autoren nicht gerecht, da er ihre Worte in einem neuen Kontext verwendet. Dies ist aber kein Problem, »ich [Foucault, A. H.] versuchte einfach, die Regeln zu finden, mit denen sie eine bestimmte Zahl von Begriffen oder theoretischen Einheiten gebildet hatten« (Foucault 1974: 9). Auch Foucault geht auf die Geschichte von Geschichten ein, wie in der Sheherezade, die durch das Erzählen bestehen kann. Aber da besteht auch die Logik des Skripteurs, der die Geschichte neu organisiert und diese sich somit verändern kann. Nach Foucault ist die Aufgabe des Textes den Autor unsterblich zu machen, wie man zum Beispiel bei Flaubert, Kafka oder Proust sieht. Leider verwendet man den Werkbegriff ebenso schlecht, wie den Begriff des Autors, da der Begriff normativ verwendet wird und das Werk einschnürt (vgl. 13). »Das Wort ›Werk‹ und die Einheit, die es bezeichnet, sind wahrscheinlich genauso problematisch wie die Individualität des Autors« (Foucault 1974: 13). Damit
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wird deutlich, dass der Autor mit seinem Diskurs in ähnlicher Art und Weise problematisch ist, wie der Begriff des Werks. Roland Barthes hat dazu einen Text mit dem Titel Vom Werk zum Text verfasst, wobei er hier den autoritären Werkbegriff ebenso auflösen möchte, wie den der Autorschaft. »Der ›Text‹ ist mehrschichtig. Damit ist nicht bloß gemeint, daß er mehrere Bedeutungen besitzt, sondern daß er das Plurale der Bedeutung vollzieht: eines irreduziblen (und nicht bloß akzeptierbaren) Pluralen« (Barthes 2006: 67). Damit drückt Barthes das Gleiche wie Foucault aus, der der Verbindung zwischen Autorennamen und verfasstem Text keinen Glauben schenken kann. Vielmehr handelt es sich um zwei Begriffe, die Verschiedenes bezeichnen. »Der Eigenname und der Autorname liegen zwischen den beiden Polen der Beschreibung und der Bezeichnung; sie haben ganz sicher eine gewisse Verbindung zu dem, was sie benennen, aber weder ganz im Sinne der Bezeichnung noch ganz im Sinne der Beschreibung: es ist eine ganz besondere Verbindung. Jedoch – und hier tauchen die eigentlichen Schwierigkeiten des Autornamens auf – die Verbindung des Eigennamens mit dem benannten Individuum und die Verbindung des Autornamens mit dem, was er benennt, sind nicht isomorph und funktionieren nicht in gleicher Weise.« (Foucault 1974: 15f) Der Eigenname steht für ein Subjekt, das mit einem Pronomen ersetzt werden kann, der Name der Autorin oder des Autors jedoch ist Teil eines Diskurses, der den Autorennamen oder Autorinnennamen nicht so einfach ersetzen kann. Wenn, so ein erklärendes Beispiel Foucaults, man bewiese, dass der Autor der Werke Bacons und der Shakespeares der Gleiche ist, so wäre das eine andere Veränderung, als wenn man einen Eigennamen inexistent nennt. Während letzterer eher ein unbestimmtes Element in einem Diskurs ist, so hat dieser Name im Diskurs eine bestimmte Rolle (vgl. Foucault 1974: 17). Zwei prominente Beispiele aus der Literatur, die mit diesen Diskurserwartungen spielen, indem sie verschiedene Identitäten als Autoren einnehmen, sind Flann O’Brien und Fernando Pessoa. Der als Brian O’Nolan geborene Flann O’Brien verwendet mehr als sieben Pseudonyme und rezensiert als gelegentlicher Autor der Irish Times auch seine eigenen Texte, wie zum Beispiel den Roman Auf Schwimmen-zwei-Vögel, natürlich wieder unter einem anderen Namen. Dass der Autorenname für einen eigenständigen Diskurs steht, zeigt auch Fernando Pessoa, der als Fernando Antônio Nogueira Pessoa geboren wurde und sich dutzende Autorennamen zugelegt hat, wenn er mindestens unter drei Heteronymen, wie er selbst und die portugiesische Li-
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teraturkritik angab, seine meisten Texte schrieb (vgl. Roditi 1955: 40). Für Pessoa gilt dasselbe wie für Flann O’Brien. Ein anderer Autorenname bedeutet ein anderes Ich, ein anderer Stil, ein anderes Denken (vgl. Rothe 1966: 91) die eigene Identität wird dabei nicht auf etwas Bestimmtes reduziert, sondern in Ausdrucksmöglichkeiten erweitert (vgl. Hudelist 2017a: 126). Der Begriff des Autors oder die Bezeichnung desselben kann also wie der Terminus des Werks sowohl die Bedeutung und Interpretation einschnüren als auch den Text öffnen. Letztendlich vollzieht sich eine Belebung des Textes durch den Dialog zwischen Produzierenden und Rezipierenden. Calvino schreibt: »Es verschwinde also der Autor – dieses enfant gaté der Unbewußtheit –, um Platz zu machen für einen bewußteren Menschen, der weiß, daß der Autor eine Maschine ist und wie diese Maschine funktioniert« (Calvino 1984: 17f).2 Ein offener Text, welcher den Autor oder die Autorin überlebt, schafft unbegrenzte Möglichkeiten der Diskurse. Es sind diese unbegrenzten Möglichkeiten, die einen demokratischen Beitrag zur Gesellschaft leisten. Wie mit dem Text dabei umgegangen wird, kann aber nicht vorhergesagt werden. Sie sind durch ihre Offenheit charakterisiert, die zugleich ihre Unbestimmtheit bedeuten. Bei Umberto Eco finden wir nicht nur diese Elemente wieder, sondern genau auch die Bezeichnung des ›offenen Kunstwerks‹. Für ihn sind Kunstwerke offen, wenn sie eine von der Anzahl von nicht zu bestimmenden Interpretationen zulassen. Es stellt sich bei ihm auch nicht die Frage, ob die Künstlerin oder der Autor die Bedeutung des Werkes erschafft oder das Publikum. Im Zentrum steht die Begegnung, wobei Interpretinnen und Interpreten die Kunstwerke in dem Moment, in dem sie von ihren Herstellern und Herstellerinnen vermittelt werden, vollenden (vgl. Eco 1973: 29). Im nächsten Abschnitt soll deshalb dieser und verwandten Ästhetiken näher nachgegangen werden, da sie die Begegnung zwischen Kunstschaffenden und Publikum als kreativen Prozess in den Mittelpunkt stellen. Wieder aufgenommen wird der rote Faden, der Alltag und Kunst sowohl zu verbinden als auch zu trennen versucht. Anhand der vermeintlichen Unvereinbarkeit, die durch literarische Texte exemplifiziert wird, entsteht ein fruchtbares Feld auf dem verschiedene theoretische sowie praktische Ansätze gedeihen können, die die Dimension(en) des Demokratischen und der Emanzipierung innerhalb des Kunstgefüges neu thematisieren und einer ästhetischen Erfahrung nachspüren. 2
Ich danke James Burton für den Hinweis auf die Maschine bei Italo Calvino.
4. Ästhetische Erfahrung: Auf den Spuren einer neuen Kunstsoziologie »›Tiefe‹ Subjektivität ist genau das, was die herrschende Gesellschaftsordnung begehrt, und zugleich das, was sie den meisten Grund hat zu fürchten. Das Ästhetische ist daher, […] eine gefährliche und zweideutige Angelegenheit, weil im Körper etwas steckt, das gegen die Macht revoltieren kann, die ihm das Ästhetische einschreibt. Und der Impuls hierzu kann nur ausgelöscht werden, wenn zugleich die Fähigkeit verschwindet, diese Macht selbst als authentisch erscheinen zu lassen.« Terry Eagleton 1994: 31
Während sich die vorangegangenen Kapitel mit der Frage auseinandergesetzt haben, wie Kunst öffentlich wurde und welcher Kampfplatz der Interpretationen sich daraus ergab, soll dieses Kapitel an den ästhetischen Problemen zwischen Alltag und Kunst anschließen und für diese Arbeit relevante dialogische Ästhetiken detailliert besprechen. Dabei wurde zwar eine Genealogie dieser Ästhetiken angedeutet, jedoch ist es nicht Ziel dieser Arbeit eine vollständige Entstehungsgeschichte zu erarbeiten. Im Vordergrund steht die Einführung in die Theorien und Konzepte und ihre Diskussion im Hinblick auf die Fragestellungen. Es sollen Überlegungen zu den ästhetischen Erfahrungen unter dem Begriff der dialogischen Ästhetik gesammelt und im Anschluss überprüft sowie diskutiert werden. Es gibt eine Vielzahl von Theorien und noch mehr Konzepte, die sich mit der Frage nach der gegenseitigen Thematisierung auseinandersetzen. Da die
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Auseinandersetzung zwischen Rancière und Bourriaud den Ausgangspunkt dieser Arbeit bildet, stehen ihre Überlegungen im Zentrum, wobei diese noch um die von Raymond Williams sowie Gilles Deleuze und Félix Guattari erweitert werden. Dies liegt in der theoretischen Verwandtschaft der Zugänge begründet. Zudem gibt es in den zu diskutierenden Texten direkte sowie indirekte Querbezüge. Als Rahmen dieser vier Abschnitte dient die Diskussion um eine mögliche neue Kunstsoziologie, der eine Betrachtung von Williams, Bourriaud, Rancière, Deleuze und Guattari nicht fremd ist.
4.1.
Dialogische Ästhetik »There is no recognition that it might be possible to redefine the relationship between artist and viewer […] and to anchor discourse not in some fixed representational order but in a process of open-ended dialogical interaction that is itself the ›work‹ of art.« Grant H. Kester 2013: 87
Den Begriff der dialogischen Ästhetik prägt Grant H. Kester (2013) in seinem Buch Conversation Pieces. Sein Verständnis der dialogischen Ästhetik verweist auf die starken Einflüsse von Politik und Gesellschaft. Aufgrund dieser Annahme ist die Aufgabe der Kunst, Gesellschaft und Politik nicht als gegeben zu akzeptieren, sondern in diesen Bereichen einen Einfluss auszuüben. In weiterer Folge sollen solche dialogischen Erfahrungsdimensionen von Ästhetiken besprochen werden, die den Dialog zwischen Kunstproduzierenden und -rezipierenden in das Zentrum ihrer Überlegungen stellen. Allerdings muss zuvor noch das Begriffspaar ästhetische Erfahrung geklärt werden. Die griechische Wurzel von Ästhetik bedeutet Wahrnehmung und verweist im Begriffspaar dialogische Ästhetik auf einen bestimmten Wahrnehmungs- oder Erfahrungsmodus hin. Ästhetik bedeutet nicht nur, dass man etwas wahrnimmt, sondern hier dialogisch etwas in einer bestimmten Art und Weise erfährt. Die ästhetische Erfahrung basiert nach Ursula Brandstätter »auf einer Form der intentionalen, bewussten Wahrnehmung« und hat den »Anspruch, die Aufmerksamkeit aufgrund von Neuheit zu erregen« (Brandstätter 2008: 99). Hinzu kommt noch der Umstand, dass
4. Ästhetische Erfahrung. Auf den Spuren einer neuen Kunstsoziologie
Wahrnehmung trotz eines Fokus nicht isoliert geschieht, was bedeuten soll, dass beim Wahrnehmen alle Sinne einbezogen sind. Martin Seel führt dazu aus: »Denn keine ästhetische Erfahrung ist einzig und allein auf einen Sinn beschränkt. Es gehört zu ihrer imaginativen Verfassung […], daß andere Sinne bei der Arbeit eines Sinnes mitbeteiligt sein können, auch wenn sie selbst nicht aktiv beteiligt sind. Auch wenn wir den roten Ball auf grünem Grund nur sehen, können wir uns sinnlich vorstellen, wie seine strapazierte Oberfläche sich anfühlen würde. Wenn wir auf die Prallheit der Kugel achten, können wir sogar mitwahrnehmen, wie der Ball sich anhören würde, würde er auf dem Rasen oder einem anderen Grund zum Aufspringen gebracht. Wenn wir sehen oder wissen, daß es ein Lederball ist, kann auch eine Imagination seines Geruchs in die Wahrnehmung hineinspielen, obwohl sie sich in einer Entfernung vollzieht, in der nur das frisch gemähte Gras der Nachbarn zu riechen ist.« (Seel 2003: 58f) Seel beschreibt eindrucksvoll die imaginäre Dimension des Wahrnehmens: die Assoziationen, die über die sprachlichen Verbindungsketten hinausgehen und den Körper wahrnehmen lassen. Plötzlich meint man, etwas Bestimmtes zu riechen, zu fühlen, zu schmecken, zu hören oder vor dem imaginativen Auge zu sehen, ohne dass man tatsächlich dieses Etwas konkret riecht, fühlt, schmeckt, hört oder sieht. Im Folgenden lassen sich drei prominente Ansätze zu einer möglichen Kunstsoziologie unterscheiden, die etwas genauer dargestellt werden sollen: offenes Kunstwerk, Kunstfeld und Kunstwelt. Sie bereiten weitere Überlegungen einer Kunstsoziologie vor, welche im Anschluss diskutiert werden.
4.1.1.
Offene Kunstwerke
Ausgehend von Musik, betont Eco die Merkmale des offenen Kunstwerks. So nennt er unter anderem Luciano Berios Sequenza per flauto solo, das sich dadurch auszeichnet, dass die Notierungen der Komposition die Lautstärke sowie die Notenfolge vorgeben, die Zeitdauer aber der einzelnen Noten von der Interpretation der spielenden Person abhängt. Wer schafft hier die Musik? Luciano oder die interpretierende Person? Nicht unproblematisch sind in diesem Zusammenhang auch die verschiedenen Künste. Eco betont, dass die Leistungen, wie etwa einer Schauspielerin, die einen Text rezitiert oder eines Musikers, der ein Musikstück spielt,
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von interpretierenden Menschen in der Rezeption grundsätzlich verschieden sind. Trotzdem müssen für die Analyse beide »Fälle als unterschiedliche Erscheinungsformen ein und derselben interpretativen Einstellung gesehen werden« (Eco 1973: 29). Auch wenn es grundsätzlich Kunstwerke oder -projekte gibt, die von ihrer kommunikativen oder medialen Natur aus, eher offener oder eher geschlossener sind: wenn Raum für eine zusätzliche Entscheidung oder Bedeutungsleistung gegeben ist, vollzieht sich diese durch das Publikum, welches letztendlich bei der Rezeption dazu eingeladen ist. »Offenheit und Dynamik eines Kunstwerks bestehen hingegen im Sichverfügbar-Machen für verschiedene Integrationen, konkrete produktive Ergänzungen, die es von vornherein in den Spielraum einer strukturellen Vitalität einfügen, die dem Werk eignet, auch wenn es nicht abgeschlossen ist, und die sich durchsetzt auch bei verschiedenen und vielfachen Ausführungen.« (Eco 1973: 56) Insgesamt hebt Eco drei Intensitätsebenen hervor. So sind Kunstwerke (1) Kunstwerke in Bewegung, wenn sie von sich aus das Publikum einladen es zu vollenden. Sie gehören zu einer umfassenderen Gattung (2) der Kunstwerke in Bewegung, die, obwohl physisch abgeschlossen, durch die Rezeption immer wieder neue Verknüpfungen von Beziehungen zulassen, das Publikum beim Rezeptionsakt entdecken. Auch wenn Kunstwerke dezidiert nach für die Kunstschaffenden notwendigen Regeln (3) erschaffen worden sind, sind sie stetig offen für mögliche Lesarten, die sich aus Perspektiven, Geschmacksrichtungen oder Ausführungen zusammensetzen. Armin Thommes fasst zusammen: »Die Objekte der Moderne sind dann als Kunst anerkennenswert, wenn sie die Offenheit, d.h. die nahezu unbegrenzten Interpretationsmöglichkeiten, zur Schau stellen« (Thommes 1998: 52). Als Beispiel zieht Eco die Schriften James Joyces heran, um auch zu thematisieren, wie sich Kunstwerke mit der alltäglichen unmittelbaren Erfahrung auseinandersetzen (können). So ist A Portrait of the Artist as a Young Man ein Roman über den Umgang mit Wörtern (vgl. Peters 1998: 476) und der Erkenntnis, sich nicht mehr der Macht dieser unterwerfen zu wollen. Der Macht der Wörter und ihre Ideologie, die in den Wörtern inkriminiert ist und somit zugleich auch in die Ideologie der Sprechenden übergeht. Dies berücksichtigend, erklärt der Protagonist Stephen Dedalus seinem Freund Cranly aus dem University College, welche Art von Freiheit er meint, wenn er nicht mehr Dienender sein möchte:
4. Ästhetische Erfahrung. Auf den Spuren einer neuen Kunstsoziologie
»Ich will dir sagen, was ich tun und was ich nicht tun will. Ich will dem nicht dienen, an das ich nicht länger glaube, ob es nun Heimat, Vaterland oder Kirche heißt: und ich will versuchen, mich in irgendeiner Art des Lebens oder der Kunst auszudrücken, und zwar so frei wie ich kann und so vollständig wie ich kann, und zu meiner Verteidigung nur die Waffen gebrauchen, die zu gebrauchen ich mir selbst erlaube: Schweigen, Verbannung, List.« (Joyce 1967: 225) Cranly ängstigt die Möglichkeit der Vereinsamung Stephens, denn wer die Freiheit sucht, löst sich von Vielem und die Lösung von Heimat, Vaterland oder Kirche lässt einen, nicht nur Cranly, vorerst orientierungslos zurück. Stephen, der sich seinem Namensgeber nach der Kunst verschreibt, sieht in ihr eine mögliche Freiheit sich vollständig ausdrücken zu können. Die Einsamkeit, dies erkennt er noch im weiteren Verlauf des Gesprächs, ist eine Erfahrung die Cranly gegenwärtig erlebt und deshalb auf Stephen überträgt. An dieser Stelle sind Kunst und Leben gleichwertig. Gleichwertig, aber getrennt. Eine Trennung, die insbesondere bei Thomas Manns Tonio Kröger auftaucht.1 Kunst und Leben erscheinen in Tonio Kröger als Gegensatz, da moderne Kunst in der kapitalistischen (deutschen) Gesellschaft isoliert sei, jedoch ist das Problem nicht nur auf diese Novelle beschränkt, sondern es zieht sich durch Thomas Manns gesamtes Schaffen. Tonio Kröger steht jedoch paradigmatisch für die dualistische Sichtweise von Kunst und Leben. Geplagt von den Anforderungen der jeweiligen Seiten, wie es in Tonio Kröger heißt, ist Kröger ein Entfremdeter. Er fühlt sich von beiden Welten missverstanden und ausgegrenzt. So heißt es im Roman: »Ich stehe zwischen zwei Welten, bin in keiner daheim und habe es infolge dessen ein wenig schwer. Ihr Künstler nennt mich einen Bürger, und die Bürger sind versucht, mich zu verhaften … ich weiß nicht, was von beidem mich bitterer kränkt. Die Bürger sind dumm: ihr Anbeter der Schönheit aber, die ihr mich phlegmatisch und ohne Sehnsucht heißt, solltet bedenken, daß es ein Künstlertum gibt, so tief, so von Anbeginn und Schicksals wegen, daß keine Sehnsucht ihm süßer und empfindenswerter erscheint als die nach den Wonnen der Gewöhnlichkeit.« (Mann 1921: 120f)
1
Über die Parallelen in den Texten und der sich gegenseitigen Beeinflussung gibt Peter Egri einen guten Überblick (vgl. Egri, Peter (1965): A SURVEY OF CRITICISM ON THE RELATION OF JAMES JOYCE AND THOMAS MANN. In: Angol Filológiai Tanulmányok/Hungarian Studies in English,Nr. 2. 105-120.)
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Auch bei Joyces A Portrait of the Artist as a Young Man werden diese beiden Seiten nicht befriedet, sondern erleben eine Entfaltung der bestehenden Polarität (vgl. Eco 1973: 300). Georg Lukács zeichnet in unterschiedlichen Texten Manns die Unvereinbarkeit von Kunst und Leben nach, wobei er Doktor Faustus hervorhebt, worin der Protagonist Adrian Leverkühn seinen Weg – zu Marx führend – finde und eine Neuordnung vorausahnt: »die Umgestaltung der realen, der ökonomisch-sozialen Lebensgrundlage als Voraussetzung der Gesundung von Geist und Kultur, von Denken und Kunst« (Lukács 1964: 581). Interessant ist hier die Feststellung, dass Lukács der Kunst im Gegensatz zur Wissenschaft allerdings eine stärkere Nähe zum alltäglichen Leben zuschreibt. So schreibt Frank Benseler, dass Lukács der Ansicht sei, »daß Kunst, die objektivste auf den Menschen bezogene, von Wissenschaft unerreichbare Annährung an geschichtliche Wirklichkeit enthalte« (Benseler 1979: 182). Trotzdem bleibt, wie am Beispiel Manns ersichtlich, eine unaufgelöste Spannung zwischen Kunst und dem Alltag übrig. Die literarischen Auszüge zeigen, dass in der Literatur das Basis-Überbau-Modell von Marx so interpretiert wurde, dass die ökonomische Basis die Grundlage für das künstlerische Schaffen bildet. Wenn auf dieser Grundlage ein ästhetisches Urteil fallen soll, geht das nur mit einer Berücksichtigung der ökonomischen Verhältnisse und einer Anerkennung der klassenspezifischen ästhetischen Erfahrungen. So zeigt sich auch die Wertung von einer höheren käuflichen Kunst, wie in etwa bürgerliches Theater und einer niederen käuflichen Kunst, wie das Vaudeville, Kabarett und der Fortsetzungsroman. Die klassenbasierten Unterschiede einer ästhetischen Erfahrung werden ernst genommen und von Bourdieu als Hindernis einer transzendenten Ästhetik beschrieben (vgl. Bourdieu 2001: 54). Janet Wolff problematisiert daran, dass die Beziehung zwischen Text und Kontext, also der Zusammensetzung der Form und der Zusammensetzung des Kontextes oder einer ›reinen‹ Ästhetik und einer kontextuellen Ästhetik zu wenig beachtet wird. Das Soziale sowie seine Strukturen im Kunstgefüge werden den Kunstobjekten übergeordnet und es entsteht eine Hierarchie. Dabei haben Arbeiten der Cultural Studies gerade zu einem Abbau dieser Hierarchisierungen beigetragen und die Bedeutung des Textes und Kontextes betont. Wolff plädiert in diesem Zusammenhang für eine Ästhetik der Unsicherheit, da im Raum der Ungewissheit Moral und Ethik sowie Interpretationen neu gefunden und verhandelt werden können. Wolff schreibt über eine dialogische Ästhetik: »A dialogic aesthetic theory, acknowledging the social location of discourse about beauty and other aesthetic judgments, will have no diffi-
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culty in admitting, and exploring, the interconnections of text and context« (Wolff 2008: 28). Trotz der Fokussierung auf die soziale Umwelt im Kunstgefüge, lohnt sich die Auseinandersetzung mit der Begrifflichkeit Kunstwelten und Kunstfeld, da hier die Trennung von Alltag und Kunst neu verhandelt wird. Die künstlerische Praxis, insbesondere Pop-Art, hat vorgezeigt, wie die Trennung aufzuheben ist, es gab jedoch dafür noch keine fundiert theoretische Formulierung.
4.1.2.
Kunstwelten
Die Aufhebung von Kunst und Leben scheint für den Kunstphilosophen Arthur C. Danto um das Jahr 1964 geschehen zu sein. Zumindest eine neue Ära einer Kunstgeschichte und zugleich einer Kunstphilosophie. Er sah zu dieser Zeit nämlich Andy Warhols Brillo Box (vgl. Danto 2004: xxiv) und Robert Rauschenbergs Bed und suchte nach einer Erklärung, wie in einem Fall ein Objekt ein alltäglicher Gebrauchsgegenstand sein kann und in einem anderen Fall ein Gegenstand einer Kunstausstellung (vgl. Danto 2007: xix). Es gab zu dieser Zeit noch keine formulierte Vorstellung einer ästhetischen Erklärung, die beides hätte erläutern können. Jedoch war sein erster Gedanke die historische Verortung. »History, in brief, because it was inseparable from interpretation, was inseparable from art itself just because artworks themselves are internally related to the interpretations that define them« (Danto 2004: xxvi). Bald sah Danto die Notwendigkeit einer eigenen Kunstgeschichte innerhalb der Philosophie, da sich Kunst in bestimmten Strukturen entwickelte und Danto Parallelen zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sah. Mit dem Ziel in Die philosophische Entmündigung der Kunst eine post-historische Kunst darzustellen, zeigt Danto, wie Kunst die Notwendigkeit sich selbst zu revolutionieren hinter sich gelassen hat (vgl. Danto 2004: xxix). Daraus entwickelte sich auch die Vorstellung vom Ende der Kunst, wenn auch dieser Gedanke von vielen Kritikerinnen und Kritikern oft auf diese Phrase verkürzt diskutiert wurde. Am Beispiel zweier Kunstausstellungen, zum einen im Museum of Modern Art in New York und zum anderen am Centre Pompidou in Paris, erklärte Danto, was dieses Ende für ihn bedeutet. Anhand der Ankündigungsplakate beziehungsweise Presseeinladungen erläutert er die den Ausstellungen zugrundeliegenden Vorstellungen. Dabei arbeitet er drei Beziehungen zwischen Kunst und Werbung heraus, wo Danto zum einen die Verknüpfung von Kunst und Trivialität herausstreicht und zum anderen zeigt, welcher ideologische Machtkampf sich bei dieser Verknüpfung vollzieht. Eine Beziehung (1) um-
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fasst das Eindringen der Kunstschaffenden in den Bereich der Werbung. Ein Vorgang der insbesondere zur Zeit des fin de siècle und zu einer bestimmten »Gefühlsstruktur«2 der Jahrhundertwende passte. Dantos zweite Beziehung beschreibt den umgekehrten Weg und thematisiert die Verwendung von bekannten Sujets der Kunst in der Werbung (2). Damit soll das Publikum angeregt werden: mehrere Bedeutungen zu finden, Empathie mit dem Produkt zu steigern und es schlussendlich zum Kauf anzuregen. Kunst und Werbung bleiben letztendlich getrennte Sphären. »[…] Mondrian – oder Miró oder das Bauhaus – waren 1954 ein Emblem für die Moderne geworden, und Werbeleute, die ihre Produkte damit in Verbindung bringen wollten, hofften bei Verbrauchern Anklang zu finden, die ihrerseits Gefallen an einer Assoziierung mit solchen Emblemen fanden […].« (Danto 1996: 183) Die ersten beiden Beziehungen unterscheiden sich derart, dass in der ersten Beziehung Kunst tendenziell der Logik der Werbung folgt und in der zweiten Beziehung die Werbung einer gewissen Kunstlogik folgt oder vielleicht eher bestimmten Werken der kanonisierten Kunstgeschichte. Letztere Beziehung spielt auch mit einer möglichen übertragenen Aura der Kunst auf das Produkt. Kunst ist nahezu göttlich, rein und unbefleckt. So scheint zumindest die Kunsthaltung der 1950er Jahre gewesen zu sein, meint Danto, der damit auf die dritte Beziehung kommt und über das große Problem der Verbindung von Kunst und Alltag(sgegenständen) für viele Kunstschaffende und Kunstrezensierende kommt: die Grenze zwischen hoch und niedrig oder ›high‹ und ›low‹ wurde aufgehoben. Die bereits erwähnte Brillo Box wurde ursprünglich von James Harvey entworfen, der vor seinem Beruf als Designer als Abstrakter Expressionist tätig war. Warhol hatte nun als Künstler die Box 1964 über die Trennlinie getragen, die sie als Kunst präsentiert (3). »Was Warhol mit der Brillo Box erreichte […], das war, Mittel in Bedeutungen zu verwandeln. Er erkannte die ungeheure menschliche Bedeutung von Dingen für das Auge der Kunst, die anderen verschlossen war, weil für sie diese Dinge nur Werkzeuge waren. Das ist die dritte Beziehung zwischen Kunst und Werbung.« (Danto 1996: 185)
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Den Begriff Gefühlsstruktur prägte Raymond Williams. Vgl. dazu ausführlich Kapitel 3.2.
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In der dritten Beziehung eröffnen sich die Kunstwelten als ein umkämpfter Machtplatz, auf dem sowohl die im vorangegangenen Kapitel beschriebene(n) Bedeutung(en), als auch die Status der jeweiligen Protagonisten und Protagonistinnen verhandelt werden. Damit sind nicht nur die Personen und ihre Praktiken, sondern auch Institutionen sowie die später zu thematisierende Gefühlsstruktur gemeint. Dass Kunst nun an ihr Ende gelangt ist, meint hier nicht, dass Kunst generell an ihr Ende gekommen ist. Vielmehr zeigt sich aber durch die beschriebenen Beziehungen, dass eine bestimmte Theorie einer hohen Kunst nicht mehr haltbar ist, da diese für eine konkrete Konzeption der Kunstgeschichte steht. Das Ende der Kunst meint hier das Ende der Moderne, welche von einer neuen Energie durch die Populärkultur abgelöst wurde. Die Bewegung Pop-Art hat nicht nur einige ästhetische Verbindungen zum alltäglichen Leben geschaffen. Sie hat auch gezeigt, wie Kunst aus dem Alltag schöpft und dadurch ihre Energie bekommt (vgl. Danto 1996: 191). Dantos drei Beziehung(seben)en betonen neben dem Fakt der Verbundenheit auch die Abhängigkeit zwischen den einzelnen Positionen. Der Idee, dass Kunst an einem isolierten Ort von einem Individuum entsteht, kann entgegengesetzt werden, dass Kunst, wie jede Arbeit, ihre freie kreative Qualität im Kapitalismus einbüßt (vgl. Wolff 1993a: 13). Künstlerische Produktion zu isolieren bedeutet, sie gleichzeitig zu exotisieren. Das bereits beschriebene von Lukács benannte ›Tonio Kröger Problem‹ (vgl. Lukács 1964: 539) ist für sie ein passendes Beispiel für die vermeintliche Unvereinbarkeit zwischen dem alltäglichen Leben und Künstlertum. Im Anschluss an Marx zeigt Wolff, dass der Mensch jedoch grundsätzlich ein schaffendes Wesen ist, nicht nur im Kontext der Arbeit, sondern auch im Kreativen allgemein. Am Beispiel des Architekten, der zuerst die Architektur im Kopf vordenkt und später gestaltet, betont Wolff, dass der Architekt nicht nur ein Beispiel für den arbeitenden Menschen ist, sondern für den Kreativen (vgl. Wolff 1993a: 15). Sowohl Menschen als auch Tiere zeichnen sich durch Aktivität aus. Das menschliche Bewusstsein, soziale Interaktion und die Fähigkeit der Vorstellung beziehungsweise Abstraktion prägen menschliche Aktivitäten in besonderer Art und Weise. Hier stehe der ›homo faber‹ im Vordergrund. Vorstellungen von ›homo ludens‹ oder ›homo politicus‹ kämen erst später. Überhaupt ist die Vorstellung von individuell arbeitenden Kunstschaffenden in der Renaissance entstanden. Damit verbindet sich auch die Unterscheidung einer hohen und einer niederen Kultur. Eine Axt kann nach bestimmten formalen Kriterien angefertigt worden sein, sie nützt erst, wenn sie ihrem eigentlichen Zweck – dem Holzhacken – entspricht. Sie ist für sich genommen kein Kunstwerk. Ihr ästhetischer Wert würde erst
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durch einen Kontext hergestellt werden müssen, der den des Holzhackens übersteigt, wie zum Beispiel die eingangs vorgestellte Axt eines Berliners mit dem Titel ex-ace im Museum of Broken Relationships. Diese Artefakte im Museum, wie in etwa die Axt, erinnern an Marcel Duchamps ready mades. Seine Kunstwerke wie auch sein paradoxes Wesen, das ihm nachgesagt wird, haben die ästhetische Lebenswelt bis in die Gegenwart geprägt. Mit seinen ready-mades stellt er zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Kunstwelt vor neue Herausforderungen. Er reicht unveränderte (oder kaum veränderte) Gegenstände aus dem Alltag bei künstlerischen Ausstellungen ein. Danto nennt diese in Kunst verwandelte Banalitäten Verklärung des Gewöhnlichen (vgl. Danto 1991: 9). Der neue Kontext offenbart dem Publikum neue Sichtweisen. Im Vordergrund steht nicht mehr eine ästhetische Wahrnehmung des Objekts, da sich diese allein auf Äußerlichkeiten, wie technische Fertigkeiten reduziert, sondern eine weitere Möglichkeit der Rezipierenden sich dem Gegenstand zu nähern. Ab diesem Zeitpunkt, an dem das Publikum gefordert ist, aktiv Bedeutungen im Kunstgegenstand zu suchen, stellen sich die Artefakte auch der Frage nach der Intermedialität. »Duchamp mischt die Medien, buchstäblich die Materialien seines Kunstschaffens, die Apparate der künstlerischen Produktion, vor allem aber die Codes der ästhetischen Berechnung, um sie einer spielerischen Indifferenz, einer ästhetischen Indifferenz zu unterwerfen.« (Wetzel 2011: 34) Hier zeigt sich auch, dass Duchamp mittels seiner Kunstwerke Dispositive schafft. Er kann auch als Transformationsmaschine bezeichnet werden, da Duchamp mit seinen Werken das Verständnis von Kunst vor ihm irreversibel verändert. Jean-François Lyotard sieht aus diesem Grund konkret in der Person Duchamp einen Transformer. »Der performer (?) [sic!] ist ein komplexer transformer, eine ganze Batterie von Verwandlungsmaschinen. Es gibt keine Kunst, weil es keine Gegenständlichkeit gibt. Es gibt nur Transformationen, Umverteilungen von Energie. Die Welt ist eine Vielfalt von Dispositiven, die Energieeinheiten ineinander umwandeln. Der transformer Duchamp möchte nicht die gleichen Effekte einfach wiederholen, deshalb muß er viele dieser Dispositive sein und sich selbst häufig verwandeln.« (Lyotard 1987: 31) Im Vortrag Der kreative Akt, den er zur gleichnamigen Tagung im Jahr 1957 vorgetragen hat, stellt Duchamp klar, dass für ihn bei der Kunstschöpfung zwei Faktoren wichtig sind. Zum einen die Kunstschaffenden und zum an-
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deren das Publikum. Darüber hinaus, so stellt er fest, sind die Künstler und Künstlerinnen abhängig vom Verdikt des Publikums, um einen sozialen Wert zu bekommen (vgl. Duchamp 1991: 239). Duchamp zeigt damit nicht die Möglichkeit, dass das Publikum Einfluss auf das Werk hat, sondern er expliziert, dass das Kunstwerk erst durch das Publikum vollendet wird. Im Vordergrund steht also der Prozess der Rezipienten und Rezipientinnen, die sich auf das Kunstobjekt einlassen müssen, wenn sie es betrachten. Vielleicht meint dies auch Molderings, wenn er schreibt, dass man sich nicht durch einen flüchtigen Blick auf Duchamps Werke einen Zugang verschaffen kann, da sich diese bewusst dem schnellen Blick verschließen (vgl. Molderings 1983: 84). Duchamp war es zumindest wichtig, dass der kreative Akt erst durch eine aktive Auseinandersetzung des Publikums mit dem Werk entsteht, da das Publikum den Kontakt zur äußeren Welt herstellt (vgl. Duchamp 1991: 240). Er schreibt dazu: »Der kreative Akt bekommt einen anderen Aspekt, wenn der Zuschauer das Phänomen der Transmutation erfährt; durch die Wandlung der leblosen Materie in ein Kunstwerk hat eine eigentliche Transsubstantiation stattgefunden, und die Rolle des Zuschauers ist die, das Gewicht des Werks auf der ästhetischen Waage zu bestimmen.« (Duchamp 1991: 240) Kunsttheorien, die in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts versuchen, auf Grund von äußeren Merkmalen das Kunstobjekt zu verstehen, versagen deswegen bei Duchamp (vgl. Thomet 1999: 7). Nach der analytischen Philosophie am Ende der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Frage nach dem Wesen der Kunst deshalb verfehlt, da man ›Unaussprechliches‹, das sich am Kunstgegenstand zeigt, durch Analyse der Ästhetik nicht ermitteln könne (vgl. Pfaff 1977: 29). Zur Person Duchamp muss man noch erwähnen, dass er gegen die herkömmliche Erwartung an Kunstschaffenden, die Tätigkeit eines Kurators sowie eines Kunstberaters ausübte, um davon leben zu können. Duchamps Ausnahmeerscheinung besteht darin, dass er sich, in seiner New Yorker Zeit, als Kurator seiner eigenen Werke und Kunstsammler tätig war und zusätzlich durch Kunstberatungen sein Geld verdiente. Sein Werk ist schwer von ihm als Person und seiner Tätigkeit zu trennen. Er durchläuft alle wichtigen Stationen der Kunst und ebnet letztendlich auch dadurch den Weg, dass alles was in einem Museum und darüber hinaus als Kunst bezeichnet wird auch Kunst sein darf (vgl. Heidenreich 1998: 10 und 137f). Wenn der Kunstsoziologe Howard Becker jedoch von den verschiedenen Kunstwelten und ihren Betei-
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ligten schreibt, betont er Kunst als kollektives Handeln. Damit sind verschiedene ›Welten‹ und damit zusammenhängende Tätigkeiten verbunden, welche nicht von einer Person allein ausgeführt werden können (vgl. Becker 1997: 24, 2008: 2). Mit der Ausführung mehrerer Positionen entstehen also noch keine Kunstwelten. Diese werden allerdings von Duchamp herausgefordert. Seine Motivation, möglichst viele Positionen im Kunstbetrieb auszuüben und damit kennenzulernen, kann auch als Versuch interpretiert werden, größtmöglichen Einfluss in dieser Szene zu bekommen. Der Soziologe Howard S. Becker geht davon aus, dass Handlungen in sozialen Strukturen zu einem kollektiven Handeln führen. Denn der Herstellung eines Kunstwerkes gehen immer eine Vielzahl von Handlungen voraus. Fest steht, dass, wenn eine Arbeit als Kunst konsumiert wird, sie dann auch eine Künstlerin oder einen Künstler hinter sich hat. Die kooperativen Verbindungen, von denen Becker spricht, reichen also von der Kunstproduktion bis zu -rezeption. Dabei verlassen sich die teilnehmenden Personen meist auf bereits getroffene Konventionen. Die Nutzung dieser kann auch immer wieder durchbrochen werden, um die Erwartungshaltung zu enttäuschen. Durch das Wissen der Konventionen ist eine emotionale Bindung am Prozess oder an der Rezeption hergestellt. Und es ist gerade diese Infragestellung oder Verletzung der Konvention, die die Verstörung durch Duchamps ready mades erklärt. »Gelingt es Leuten, eine neue Kunstwelt zu schaffen, die von neuen Konventionen, die neue künstlerische Werte verkörpern, getragen wird, dann schließen sie die Teilnehmer der alten Welt, für die in der neuen Welt kein Platz ist aus und machen sie zu Verlierern« (Becker 1997: 36). An diesem Zitat ist erkennbar, dass bei Becker Kunst nicht etwas Besonderes ist, sondern gemacht wird. Er interessiert sich weniger für die Frage was Kunst sei, sondern ab wann eine spezifische Gruppe zur Übereinkunft gelangt, dass etwas als Kunst bezeichnet werden kann. Walther Müller-Jentsch betont das produktive Konzept der beckerschen Kunstwelt(en): »Seinem Konzept der Kunstwelt verdanken wir wertvolle Ansätze für die soziologische Analyse und empirische Beschreibung des Kunstsystems, das wir auch als ein Ensemble von Kunstwelten begreifen können« (Müller-Jentsch 2011 :26). Becker verweist mit seinem Konzept der Kunstwelten auf den Aufsatz Art Worlds von Arthur Danto, den dieser im Jahr 1964 veröffentlicht hatte. Danto bringt die Problematik der Frage auf den Punkt, ob ein Kunstwerk ein Kunstwerk sei: »To mistake an artwork for a real object is no great feat when an artwork is the real object one mistakes it for« (Danto 1964: 575). Für Danto ist das Verfehlen, Kunstwerke als ganz gewöhnliche Gegenstände wahrzuneh-
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men, weder eine starke Fehlleistung noch eine besonders wagemutige Tat, da der Gegenstand eben das sein kann, was er darstellt. Dazu passt auch der Vorfall der weggeschrubbten Fettecke von Joseph Beuys. Eigentlich als eine Installation in der Düsseldorfer Kunsthalle platziert, war der Verwaltungsleiter oder Hausmeister oder die Putzkolonne – man weiß es nicht genau – nicht davon begeistert und entfernte die Butter von der Wand (vgl. Ecker 2012: 108). Im Nachhinein wurde diese aus dem Müll befreit und für die Kunstwelt gerettet. Bei Becker ist eben auch eine Kunstwelt dafür verantwortlich, was als Kunst gewertet wird: »Constraints on what can be defined art exist, but they constrain because of the conjunction of the characteristics of objects and the rules of classification current in the world in which they are proposed as art works« (Becker 2008: 156). Bei Danto heißt es: »To see something as art requires something the eye cannot decrey – an atmosphere of artistic theory, a knowledge of the history of art: an artworld« (Danto 1964: 580). Es war also nicht Andy Warhol, sondern eine Vielzahl von Menschen – eine Kunstwelt – die sich darauf geeinigt haben, dass die Brillo Box als ein Kunstwerk anerkannt werden soll. Nach Danto bestimmt den Unterschied die Kunsttheorie. Becker übernimmt bewusst den Begriff der ›artworld‹, wenn er ihn auch weiterentwickelt und etwas anders gebrauchen möchte. So kritisiert Becker, dass Dantos Begriff zu unbestimmt bleibt, da nicht klar wird, wer über die Definition von Kunst oder was sie eben nicht ist, entscheidet. Dabei ist ihm wichtig, wertfrei zu benennen, wer über den Kunstcharakter entscheidet, um darüber hinaus die Organisationen und Institutionen zu beschreiben (vgl. Danko 2015: 85) und diese letztendlich einer Analyse zuzuführen. Das heißt, dass bei Warhol die unterstützenden Institutionen sowie Organisationen genauso wichtig waren wie Warhols Motivation Alltagsgegenstände in Kunstkontexten auszustellen. Im Unterschied zu Becker heißt es bei Danto noch, »the artistic identification […] constitutes it a work of art« (Danto 1964: 579; Herv. i. O.). Becker betont, dass weder auf der Produzierendenseite noch auf der Rezipierendenseite das Kunstwerk durch eine Person hergestellt wird, sondern durch einen Zusammenschluss von einer Unzahl von Menschen. Augenscheinlich wird dies durch den Verweis auf den Abspann des Filmes Hurricane aus dem Jahr 1979.3 Hier kann man die Vielzahl von beteiligten Menschen nachverfolgen. Neben Regisseur, Produzenten und Dreh3
Becker gibt das Jahr 1978 an, da der Film im Dezember 1978 bereits in den Kinos zu sehen war, das öffentliche Ersterscheinungsjahr ist jedoch 1979 (vgl. Becker 2008: 7 und Variety Staff 1978).
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buchautor werden die Romanautoren, der Komponist, Assistierende, der Kameramann sowie der Name der Person, die für das Gafferband zuständig war oder Automarken angeführt. Das soll nicht heißen, dass die einzelne Person nicht wichtig ist, sondern vielmehr, dass das Netzwerk dieser Personen für die Realisierung des Filmes unabdingbar ist. Zusätzlich gibt es immer noch Namen und Organisationen, die angeführt werden müssten. »In fact, situations of art making lie somewhere between the extremes of one person doing everything and every smallest activity being done by a separate person« (Becker 2008: 9). Die Kunstwelten schließen also auch das Wissen der Menschen mit ein, die für die Herstellung des Kunstprodukts verantwortlich sind. Und dazu gehören neben den produzierenden auch die rezipierenden Menschen: »Art world consist of all the people whose activities are necessary to the production of the characteristic works which that world, and perhaps others as well, define as art« (Becker 2009: 35). Die Bezeichnung der Kunstwelten ist demnach nicht ein Verweis auf nichtkünstlerische Personen, die im Kunstbetrieb tätig sind, sondern eine zentrale Definition für die Kunstherstellung. Dabei ist die Künstlerin oder der Künstler nur ein Teil dieser Herstellung (vgl. Danko 2012: 64). Ästhetische Urteile, ob ein Kunstwerk überhaupt ein solches ist oder welche Qualität dieses aufweist, interessieren Becker also nicht aus einer ästhetischen Überlegung heraus, sondern aus der Sicht einer kollektiven Praxis von Menschen, die letztendlich zu einer Übereinkunft kommen. In diesem Zusammenhang sind nicht nur die unterschiedlichen Meinungen wichtig, sondern auch Auseinandersetzungen und Austragungen eines Dissenses (vgl. dazu Kapitel 3.4). Danko betont mit Becker, dass die Herstellung von künstlerischen Objekten nicht unbedingt darauf angewiesen ist, andere Personen miteinzubeziehen. So könnte eine Schriftstellerin sehr wohl auf den Rat einer Lektorin verzichten. Sie müsste ihren Roman aber auch selbst setzen, drucken und vertreiben. Hat sie die dafür notwendigen Maschinen (Computer, Software, Druckmaschine etc.) selbst hergestellt? Jede Entscheidung, jemanden am Herstellungsprozess teilhaben zu lassen oder nicht teilhaben zu lassen ist eine bewusste Entscheidung und prägt das Resultat (vgl. Danko 2012: 64f). Hier stellt sich die Frage, wie frei kann man bei gewissen Entscheidungen sein. Pierre Bourdieu kritisiert in diesem Zusammenhang konkret Beckers Konzept der Kunstwelten, da dieses nicht auf die objektiven Beziehungen eingehe. Sicherlich können Beckers Kunstwelten nicht ohne Dantos Kunstwelten gedacht werden, da sonst die kooperativen Elemente, die nach Becker deskriptiv erfasst werden sollen, noch zu wenig über die Einflüsse der einzelnen Personen aussagen. Bourdieu kritisiert: »In jene bloß
4. Ästhetische Erfahrung. Auf den Spuren einer neuen Kunstsoziologie
deskriptive und aufzählende Darlegung gehen unter anderem die Struktur des Feldes konstitutiven objektiven Beziehung nicht ein, an denen die Kämpfe um Bewahrung oder Veränderung dieser Struktur sich ausrichten« (Bourdieu 2001: 328). Bourdieu entwickelt auch in Auseinandersetzung mit Becker sein Konzept des Kunstfeldes, dem wir uns im folgenden Abschnitt zuwenden.
4.1.3.
Kunstfeld
Im Gegensatz zu Beckers Konzept der Kunstwelten, formuliert der französische Soziologe Pierre Bourdieu seine Feldtheorie aus. Er kritisiert generell, dass die sozialen Räume als solche zu wenig in den Betrachtungen miteinbezogen werden, wenn es um die Herstellung von Kunstwerken gehe. Dennoch ist für ihn Howard Beckers Konzept der Kunstwelten ein Erwähnenswertes, da hier keiner naiven Vorstellung eines schöpferischen Individuums nachgegangen, sondern das kollektive künstlerische Schaffen thematisiert wird. Allerdings greift, nach Bourdieu, auch dieses Konzept zu kurz. »Ohne auf eine methodische Entfaltung all dessen einzugehen, was dieses Bild der ›Kunstwelt‹ von der Theorie des literarischen oder künstlerischen Feldes unterscheidet, wäre hier nur anzumerken, daß letztere nicht auf eine Population, d.h. die Gesamtheit individueller Akteure zurückführbar ist, die einfache Beziehungen der Interaktion und, genauer, Kooperation verbinden: was diesem rein beschreibenden und aufzählenden Erinnern unter anderem fehlt, das sind die objektiven Beziehungen, welche für die Struktur des Feldes wesentlich sind und den Kämpfen um ihre Bewahrung oder Veränderung Richtung geben.« (Bourdieu 1997: 33f) Das Problem der traditionellen Literaturgeschichte sei, so Bourdieu, dass der Fokus wiederholt auf Einzelphänomene gerichtet wurde und damit ein schöpferisches Individuum gestärkt wurde. Dabei ist gerade die Annahme, der literarische Text sei einzig und allein auf eine Person rückführbar, ein Irrtum, der sich dem Glauben der Romantik verschreibt (vgl. Jurt 1995: 74). Wie bei Becker ist es eine Vielzahl von Menschen, die am Herstellungsprozess beteiligt sind. Bourdieu streicht aber die soziale Beziehung heraus, die es zu beachten gilt. Er kritisiert am marxschen Basis-Überbau-Modell, dass die vertikale Beziehung von Ökonomie und Kultur ethische sowie soziale Werte zu wenig wahrnehme. Wichtig seien (auch) die räumlichen Relationen dieser Vertikalität. Zentral in Bourdieus Feldtheorie ist nicht die Gesellschaft, sondern das Soziale, das man über empirische Forschung ermitteln und be-
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stimmen kann. Die Dichotomie Individuum und Gesellschaft macht bei ihm keinen Sinn. Es geht ihm immer um ein Kräftefeld, in dem unterschiedliche Figuren ihren Platz haben und nach ihren Fähigkeiten ihre Arbeit ausführen. »Person, Innerlichkeit, Einzigartigkeit versus Ding, Äußerlichkeit: wieviele falsche Probleme hat diese Dichotomisierung nicht schon hervorgebracht! Die ethisch-politischen Auseinandersetzungen zwischen denen, die dem Individuum, dem Individuellen, dem Individualismus absoluten Wert zuerkennt, und denen, die der Gesellschaft, dem Sozialen, dem Sozialismus das Primat zuschreiben, bilden den Hintergrund der immer wieder aufflackernden theoretischen Debatten zwischen einem die gesellschaftlichen Realitäten, Gruppen oder Institutionen auf theoretische Artefakte ohne objektive Realität reduzierenden Nominalismus auf der einen und einem Abstraktionen verdinglichenden, substantialistischen Realismus auf der anderen Seite.« (Bourdieu 1985: 67f) Bourdieu geht es nicht um die Einnahme einer empirischen Position, aus der die Forschung betrieben werden soll. Empirie ist bei ihm ohne Theorie undenkbar und umgekehrt. Durch die Analyse von Teilbereichen können manchmal universalisierbare Aussagen getroffen werden, aber nie auf unbestimmte Zeit und schon gar nicht losgelöst von Zeit und Ort. Die einzelne Stellung ist das Resultat eines Klassifikationskampfes, der nach Bourdieu immer von der Stellung des Klassenkampfes abhängt. Mit der Veränderung der Klassifikationen geht auch eine Veränderung der Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien einher (vgl. Bourdieu 1987: 755). Der Feldbegriff darf auch nicht auf den Ort oder das Territorium reduziert werden. Es zeichnet sich vordergründig als ein Feld voller Macht- und Kräfteverhältnisse aus. Joseph Jurt betont die objektiven Beziehungen, denen man nachgehen muss. »Die einzelnen Institutionen können nur verstanden werden, wenn man sie einordnet in das System der objektiven Beziehungen, die den Raum der Konkurrenz bilden, den sie mit anderen Institutionen darstellen. Der Feldbegriff soll die Alternative zwischen interner und externer Analyse überwinden, die entweder bloß die formal autonomen künstlerischen Praktiken betrachten oder diese Formen unmittelbar auf soziale Formationen zurückführe.« (Jurt 1995: 82) Der bereits diskutierte Begriff des Geschmacks resultiert ebenso aus dem Feld, das dreidimensional gelesen werden muss. Die drei Grunddimensionen umfassen Kapitalvolumen, Kapitalstruktur sowie die zeitliche Entwicklung,
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dieser beiden Größen. Kapital setzt sich bei Bourdieu aus der Summe vom ökonomischen, kulturellen und symbolischen Kapital zusammen. Darunter können unterschiedliche Prägungen des Kapitals auftauchen, so können Rezipientinnen und Rezipienten einerseits einkommensschwach, aber kulturell kompetent sein und Dali, Picasso, Rhapsody in Blue sowie Eine kleine Nachtmusik gerne rezipieren; andererseits mit höheren ökonomischen Kapital und niedrigeren kulturellen Kapital ausgestatten sein und Rafael, Da Vinci, Petula Clark und Ungarische Rhapsodie bevorzugen (vgl. Bourdieu 1987: 409). Der eben benannte feine Unterschied drückt sich im Konzept des Habitus aus. »Der Habitus ist inkorporiertes (Klassen-)Wissen, das dem Individuum so inhärent ist, dass jede Entflechtung und Aufteilung in einen individuellen und klassenverbundenen Teil so unmöglich wie nutzlos ist« (Danko 2012: 53). Oder wie ihn Bourdieu beschreibt: »Der Habitus ist nicht nur strukturierende, die Praxis wie deren Wahrnehmung organisierende Struktur, sondern auch strukturierte Struktur: das Prinzip der Teilung in logische Klassen, das der Wahrnehmung der sozialen Welt zugrunde liegt, ist seinerseits Produkt der Verinnerlichung der Teilung in soziale Klassen.« (Bourdieu 1987: 279) Am Habitus lassen sich also Distinktionsmerkmale festmachen, wie es sich zum Beispiel beim Geschmack äußert. Das Soziale wird durch den Habitus speziell geformt und in Handlungen oder Praktiken sichtbar. So gibt es auch unterschiedliche Blickwinkel oder Ausprägungen der Dominanz beziehungsweise des Beherrscht-Seins oder Beherrschen: »Die Schriftsteller und Künstler stellen die ›dominierte Fraktion der dominanten Klasse‹ dar. Sie sind dominant, weil sie über ein kulturelles Kapital verfügen, […] [a]ber in ihrer Beziehung zu den Inhabern der politischen und der ökonomischen Macht sind sie dominiert.« (Jurt 1995: 89) In Die Regeln der Kunst beschäftigt sich Bourdieu mit der Herausbildung des sowohl künstlerischen als auch literarischen Feldes. Das jeweilige Feld beschreibt er anhand von Édouard Manet und Gustave Flaubert, auch wenn er sich auf Letzteren vorwiegend konzentriert. Durch die homologe Beschreibung beider Künstler im jeweiligen Feld, stellt Bourdieu fest, dass beide Felder in etwa zur gleichen Zeit entstanden sind. Deshalb werden bei ihm die Bezeichnungen literarisches Feld sowie künstlerisches Feld oftmals synonym verwendet. In den Vordergrund tritt das Moderne Kunstwerk, das sich durch Reflexivität auszeichnet:
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»seine Position zwischen anderen Kunstwerken, den Unterschied zwischen Kunstwerken und anderen Produkten, die zu seiner Erschaffung notwendigen Produktionsmittel, das Verhältnis von Kunstwerk und KünstlerIn, das Verhältnis von Kunstwerk und BetrachterIn, das Verhältnis von KünstlerIn und BetrachterInnen, die gesellschaftlichen Bedingungen seiner Produktion, Machtverhältnisse – nur einen dieser Aspekte oder alle zugleich.« (Kastner 2009: 44) An Jens Kastners Beschreibung kann man erkennen, warum das künstlerische oder literarische Feld überhaupt zu einem Feld und es durch eigene Machtverhältnisse innerhalb des Feldes autonom wurde. Zuerst nahm die Bedeutung von Kirche sowie Adel ab und die Bedeutung der Akademie zu. Es war nicht mehr dem Staat unterstellt, sondern bildete durch die Akademien und den Zugang zu diesen, der manchen gewährt, aber vielen auch aufgrund der Menge an Interessentinnen und Interessenten nicht gewährt wurde, eigenständige Strukturen und Regeln, die das Feld entstehen ließen. Der Kampf um Anerkennung war damit aktuell wie nie zuvor. Bourdieu folgend gibt es ab den 1840er Jahren eine der Presse und damit einem breiten Publikumsgeschmack folgende Kunst. Hinzu kommt eine realistische Strömung, die die Tradition einer sozialen Kunst aufrechterhält und noch die Position der l’art pour l’art. Im Gegensatz dazu entsteht die gesellschaftlich engagierte Kunst, wobei diese Tendenz mit der l’art pour l’art gemeinsam hat, sich gegen die bürgerliche Kunst aufzulehnen. Damit wird das Feld der Kunst revolutioniert: es erfindet sich neu. »Bourdieu spricht von symbolischer Revolution, weil hier tatsächlich, […] die Maßstäbe der Produktion und der Konsumtion umgekehrt werden […]« (Kastner 2009: 54). Plötzlich werden die Kunstschaffenden, die eine monetäre Gegenleistung für ihre Kunst erwarten, verpönt. Innerhalb des Feldes führt dies zu einer ästhetischen Revolution, da die gewinnenden Eigenschaften von Kunsttexten sowie -objekten neuen Erwartungen entsprechen sollen. Daraus entspringt der reine ästhetische Blick, der sich für nichts Anderes interessiert als für den Gegenstand selbst. Ein wesentliches Merkmal für die ästhetische Disposition (vgl. Kastner 2009: 56). Letztendlich besteht das Feld aus sehr unterschiedlichen Polen, die nicht immer zwangsmäßig Dualitäten sind, sondern unterschiedliche nebenher existierende Pole, die sich stetig bekämpfen und über den anderen herrschen wollen. Bourdieu fasst die Merkmale eines Feldes folgend zusammen: »Das literarische (etc.) Feld ist ein Feld von Kräften, die sich auf all jene, die in es eintreten, und in unterschiedlicher Weise gemäß der von ihnen be-
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setzten Stellung ausüben (etwa, um sehr weit entfernte Punkte zu nehmen, diejenige des Autors von Erfolgsstücken oder die des Avantgardedichters), und zur gleichen Zeit ein Feld der Konkurrenzkämpfe, die nach Veränderung oder Bewahrung jenes Kräftefeldes streben.« (Bourdieu 1997: 34) Wichtig sind die vielen unterschiedlichen Kräfte, die aufeinandertreffen und die Machtkonstellation innerhalb eines Feldes konstituieren. Trotz der Ähnlichkeiten in beiden beschriebenen Theorien, wie in etwa die soziologische Dimension von Kunst, gibt es einiges, was die Ansätze Bourdieus und Beckers trennt.
4.1.4.
Unterschiede zwischen Welt(en) und Feld
Für den Autor von Art Worlds ist die Idee des Feldes vielmehr eine Metapher als ein Hinweis auf die Beschreibung der einzelnen Teilnehmer und Teilnehmerinnen. Teile des Feldes sind Kräfte, der Raum, Beziehungen und Akteure sowie Akteurinnen. Die Metapher der (Kunst)Welt meint Menschen, die etwas tun und dadurch auf andere Rücksicht nehmen müssen. Das heißt ihre Arbeiten werden immer im Hinblick auf andere ausgeführt. Die Welt für sich ist nicht abgeschlossen. Sie erscheint es nur aus Gründen der wissenschaftlichen Eingrenzung. Ein wesentlicher Unterschied besteht hier auch in der Soziologie der Möglichkeiten, die in Kunstwelten mitgedacht ist. Man ist nicht nur in der Lage in einer Kunstwelt das eigene Interesse zu verfolgen, sondern kann immer, wenn man das möchte mit anderen an einem anderen Projekt arbeiten. Es ist die Konvention, die eine bestimmte Tätigkeit oder ein bestimmtes Projekt einschränkt. Mit dem Konzept der Kunstwelten zu arbeiten, verspricht, vieles Unbekanntes offen zu legen und ist demnach ein vielversprechendes Forschungskonzept. Die grundsätzliche Frage, wer was mit wem in welcher Art und Weise das Kunstobjekt oder -werk herstellt, kann innerhalb der Kunstwelten besser beantwortet werden als innerhalb des Kunstfeldes (vgl. Becker/Pessin 2006: 278-285). Becker betont im Interview mit dem Soziologen Alain Pessin, dass die beiden Theorien, Kunstwelten und Kunstfeld nicht kombinierbar sind, da sie unterschiedlichen Qualitäten nachspüren und demnach auch nicht austauschbar sind: »In fact, they ask different kinds of questions and look for different kinds of answers and are not reducible one to the other« (Becker/Pessin 2006: 285). Dem stimmt auch Danko zu, wenn sie auf die unterschiedlichen Traditionen beider Ausarbeitungen verweist: den Interaktionismus und den
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Strukturalismus (vgl. Danko 2012: 89). Sie arbeitet Parallelen aus,4 wie zum Beispiel, dass sowohl Becker als auch Bourdieu davon ausgehen, dass Kunst eine eigenständige Sphäre konstituiert. Interessant ist hier aber auch noch die Verwendung des Singulars beziehungsweise des Plurals. Denn einerseits sind es bei Becker nämlich immer Kunstwelten und nicht die Kunstwelt, andererseits ist es bei Bourdieu das Kunstfeld. Beckers Kunstwelt ist immer konkret am Gegenstand zu untersuchen, also eine Mikroanalyse. Bourdieu untersucht nicht ein, sondern das Kunstfeld (vgl. Danko 2012: 92). Zudem unterscheiden sich die Ansichten was die Handlungsmacht im Kunstfeld oder in den Kunstwelten betrifft. In Bourdieus Kunstfeld ist durch die Kräfteverteilung der Kampf um die Position innerhalb des Feldes immer präsent. Er selbst veranschaulicht dies an der Analogie eines Turniers. »Was man oft als Wettlauf um den Erfolg bezeichnet, ist in Wirklichkeit ein Turnier um die Etablierung, ausgefochten auf den Bahnen einer intellektuellen Kampfstätte, die unter der Herrschaft der Instanzen steht, welche Anspruch erheben auf das Monopol kultureller Legitimität und das Recht, über diese Etablierung im Namen zutiefst entgegengesetzter Prinzipien zu befinden, im Namen einer Autorität der Persönlichkeit, auf die sich der Schaffende, im Namen einer Autorität der Institution, auf die sich der Lehrende beruft.« (Bourdieu 1974: 112; Herv. i. O.) Der Erfolg im Feld zeichnet sich also nicht dadurch aus, dass man sich in einem Kräfteverhältnis positioniert, sondern darin, so gut es geht, um eine bessere Position kämpft. Im Turnier muss man sich an die Turnierregeln halten, um es bestreiten zu können. Die Herrschaftsinstanzen müssen ebenso aufgesucht werden und für die eigene Person gewonnen werden, nicht damit der Kampf im Turnier erleichtert wird, sondern weil dies zum Kräfteaustausch des Feldes dazugehört. Eine Analyse des Feldes macht also immer die gegebenen Machtverhältnisse transparent. Bei Becker gibt es keine allgemeinen Strukturen, an die man sich halten muss, wenn man ein Kunstwerk erstellen möchte. Diese können nur an einem Beispiel transparent gemacht werden, wenn eine Kunstwelt beschrieben wird. »Collective action […] is not the same as cooperating in the more conventional, minimal understanding of that word, which has overtones of peacefulness, getting along with one another, and good will« (Becker/Pessin 2006: 283). Kunstwelten werden nicht zu dem 4
Sie geht auf Bourdieus Kunstfeld, Beckers Kunstwelt und zusätzlich auf Niklas Luhmanns Überlegungen zum Kunstsystem ein (vgl. Danko 2012: 44-88).
4. Ästhetische Erfahrung. Auf den Spuren einer neuen Kunstsoziologie
was sie sind, weil sie durch kollektive Arbeit erzeugt werden, sondern wegen kooperativen Verbindungen, die an der Erstellung eines Kunstwerkes mitwirken.
4.1.5.
Eine neue Kunstsoziologie?
Bereits in den 1980er Jahren hat Wolff gefordert, dass die Wichtigkeit von strukturellen Merkmalen nicht auf Kosten einer Ideologiekritik, der Geschichte oder des Werkes selbst gehen soll (vgl. Wolff 1993b 115). Sie selbst schreibt: »It seems now that at least in some circles a somewhat over-enthusiastic leap into critical studies, and away from the object, is being remedied by a new attempt to combine critical thought (by which I mean a social-historical perspective on textual analyses) with respect for the object, acknowledgement of the relative autonomy of the aesthetic sphere and its practices and languages, and a commitment to careful readings.« (Wolff 1993b 115) Georgina Born macht in Janet Wolffs Projekt zur ›sociological aesthetics‹ vier Elemente fest. Erstens sind bereits getroffene Wertungen von gegenwärtigen Stimmen, Kritikerinnen und Kritikern sowie Publikum im Untersuchungsthema zu berücksichtigen. Zweitens muss die Autonomie des Kunstwerkes berücksichtigt werden, welche das Vergnügen des Werkes in der Gegenwart und Vergangenheit auszeichnet. Drittens sollen die ästhetischen Kategorien und Urteile des Untersuchungsprojekts transparent gemacht werden. Viertens soll die konkrete Ästhetik innerhalb diskursiver Praktiken thematisiert werden, wobei außerästhetische Faktoren berücksichtigt werden (vgl. Born 2010: 175). Born selbst fügt noch ein fünftes Element hinzu. Es sollen die eigenen ästhetischen Vorstellungen oder ästhetischen Vorurteile laufend reflektiert werden. Darauf aufbauend sollen die ästhetischen Vorstellungen der produzierenden Kunstschaffenden sowie die sozialen Mediationen und historischen Bedingungen hinterfragt werden, um eine kritische Interpretation des Objekts erlangen zu können (vgl. Born 2010: 176). Sie fasst das Ziel einer neuen Kunstsoziologie zusammen: »The goal is to redirect the field of criticism itself, away from the banalized terms of object in ›context‹, or telos of innovation, towards a critical field that is focally concerned with the social and material, the temporal and ontological, as these mediate and imbue the aesthetic.« (Born 2010: 198)
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De la Fuente sieht Borns Enthusiasmus einen ›Kriterienkatalog‹ abzuarbeiten problematisch, da die Beschäftigung mit den konkreten ästhetischen Charakteristiken sowie extra-ästhetischen Merkmalen zu einem analytischen Mosaik führe und somit einen Reduktionismus fördere. In Borns ›Analyse der Vermittlung‹ (de la Fuente 2010b: 217) fehle vor allem eine Analyse materieller Vermittler in den konkreten künstlerischen Netzwerken und der ästhetischen Handlungsmacht sowie der Kunst im Alltagsleben. Janet Wolff beschäftigt sich konkret mit der Eigenschaft einer freien Handlung und was diese ausmacht. So sehr wie jede Handlung selbstbestimmt ist, ist jede Handlung auf unterschiedliche Ursprünge zurückzuführen. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang Wolffs Verständnis für verschiedene Dimensionen des Handelns: »There are biographical, psychological and social reasons for most of the things we do, and each level of description is legitimate« (Wolff 1993a: 21). Doch ist nicht nur jeder einzelne Akt unterschiedlich begründbar, auch umgekehrt sind die Handlungen verschieden motiviert. Williams sieht diese verschiedenen Motivationen in den einzelnen Schichten verwurzelt, die unsere Kultur und Identität prägen (vgl. Williams 1989: 75). Wolff interessiert in Bezug auf die diversen Begründungen unserer Taten, speziell die Handlungsmacht und definiert in fünf Punkten mögliche Eigenschaften von sogenannten ›freien Handlungen‹, wobei sie diese teilweise auch relativiert (vgl. Wolff 1993a: 21): 1. Alle Handlungen sind determiniert. 2. Es gibt Handlungen, die nicht frei vollzogen werden, wie zum Beispiel Reflexe oder Bewegungen durch die Kraft von etwas anderem. 3. Es gibt Handlungen, die nicht frei vollzogen werden, da sie durch äußerliche Gewaltandrohung hervorgebracht werden. 4. Es gibt Handlungen, die nicht frei vollzogen werden, da sie routiniert oder aus einem Habitus heraus ausgeführt werden. 5. Es gibt freie Handlungen, da die Akteurin oder der Akteur diese mit eigenem Willen ausführt. Dies entspricht einem freien Akt (obwohl der Einfachheit halber hier unbesprochen bleibt, wie dieser ›freie Akt‹ durch Wünsche und Wahlmöglichkeiten zustande kommt und wie diese wiederum geweckt beziehungsweise hergestellt wurden).
Wolff betrachtet die Punkte drei bis fünf als freie Handlungen, da die Person zumindest anders handeln hätte können. »For my purposes, human agency in each case is the same kind of thing, and its relation to structural conditions
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and determinants is my main concern« (Wolff 1993a: 22). Im Kunstbetrieb ist die Fragestellung nach ›freien Handlungen‹ wichtig, da die Strukturen der Kunstproduktion zum einen die künstlerischen Personen einschränken, zum anderen ihnen die Möglichkeit geben, künstlerisch tätig zu sein: Handlungsmacht ist dabei immer in komplexen Strukturen eingebunden, welche die Basis für Entscheidungen herstellen. Akteurinnen und Akteure sind hier nicht unbestimmt frei, sondern können innerhalb dieser Strukturen Entscheidungen treffen. Das Konzept der Kreativität kann hier als Resultat im Rahmen der Möglichkeiten verstanden werden. Hinzu kommt, dass im marxschen Sinne, der Mensch nicht frei von der Organisation der Arbeit oder Beziehungen der Produktion ist. Diese These verfolgt sie in ihrem Buch The Social Production of Art, das 1981 erschien, gleich zu Beginn und betont die soziale Dimension von Kunst, insbesondere die Dimensionen Produktion, Distribution und Rezeption. In diesem Zusammenhang entfernt sie sich immer mehr von der Idee, dass die kunstschaffenden Personen die erschaffenden Menschen der Werke sind. Die Vorstellung, ein Genie würde Kunst hervorbringen dekonstruiert sie, indem sie betont, dass ideologische und soziale Faktoren die künstlerische Genese bestimmten beziehungsweise fördern. Wolff schreibt: »art and literature have to be seen as historical, situated and produced, and not as descending as divine inspiration to people of innate genius« (Wolff 1993a: 1). Die Geschichte der Ästhetik hat insbesondere seit der Aufklärung innerhalb der europäischen Philosophie eine große Bedeutung erhalten. Für Terry Eagleton liegt der Grund des starken Interesses an ästhetischen Fragen nicht primär in der Auseinandersetzung mit Kunst, sondern in der breiten Thematisierung von ideologischen Machtkämpfen der modernen Klassengesellschaft und der daraus resultierenden Neugestaltung der Subjekte (vgl. Eagleton 1994: 3). Während es eine große Übereinstimmung gibt, dass Kunst immer in einer intensiven Beziehung zur Ideologie steht, ist nicht immer klar, was unter Ideologie zu verstehen ist. Grundsätzlich sind Ideen oder künstlerische Kreativität nicht unabhängig von materiellen Bedingungen und beeinflussen sprachliche Kommunikation sowie soziale Interaktion. Es muss hier auch festgehalten werden, dass die sogenannte dominante Ideologie trotz ihrer Verbreitung nicht monolithisch oder überall in derselben Intensität existiert (vgl. Wolff 1993a: 53). Louis Althusser schreibt: »Ideologie ist nun das System von Ideen und Vorstellungen, das das Bewußtsein eines Menschen oder einer gesellschaftlichen Gruppe beherrscht« (Althusser 1977: 130). Das bedeutet, dass die Ideologie überall in der Gesellschaft zu finden ist: so in kulturellen Praktiken, in medialen Artefakten oder in künstlerischen Produkten.
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»Ideology is therefore a level of signification which can be present in any type of message, even in the scientific discourse« (Camargo Heck 2006: 123). Insbesondere innerhalb der Cultural Studies wurde aufgezeigt, dass widerständiges oder widerspenstiges Verhalten in unterschiedlichsten Gruppen auftreten kann. Rainer Winter bezeichnet dieses Verhalten als Kunst des Eigensinns (Winter 2001a), die darin besteht, im Alltag eine kreative und erfinderische Kraft zu entwickeln, die die dominante Ideologie herausfordert (vgl. ebenda: 327f) und im eigenen Umfeld umdeutet und neuformuliert. Oftmals ist es insbesondere ein konkretes Vergnügen, das das Subjekt aus der hegemonialen Ideologie ausbrechen lässt und dadurch eine Neukonstitution des Subjekts ermöglicht (vgl. Göttlich/Winter 2000: 11). Den unterschiedlichen Qualitäten oder dem Veränderungspotential von Ideologie versucht Raymond Williams nachzuspüren, indem er die dominante Dimension mit den Konzepten des Residualen und Emergenten erweitert (vgl. Williams 1977: 121f). Er betont, dass auch in einer dominanten Ideologie unterschiedliche Vorstellungen existieren können, wobei sich die dominante Ideologie immer im Abgleich mit der emergenten oder residualen Ideologie zusammensetzt (vgl. dazu Kapitel 3.2). Wolff problematisiert Marxʼ BasisÜberbaumodell, das die Abhängigkeit der Kultur wie der Kunst gegenüber der ökonomischen Basis ausdrückt. Wer auch immer, allgemein formuliert, kulturell tätig ist, findet sich in einer sozialen Struktur wieder, in der sie oder er potenziell eine eigene Form von Ideologie bedient. Zur gleichen Zeit kann die Gesellschaft von einer Ideologie charakterisiert werden, die durch allgemeine ökonomische Bedingungen und den Produktionsstrukturen entsteht (vgl. Wolff 1993a: 55). Letztendlich ist die Rolle der Produzierenden nicht zu unterbewerten. Das künstlerische Individuum ist zwar abhängig von den Produktionsbedingungen einer bestimmten Zeit, trotzdem kann damit nicht erklärt werden, warum und in welcher Art und Weise das Individuum so handelt. Soziale und ökonomische Strukturen und das Kunstwerk werden durch das Individuum verbunden. Viele Künstlerinnen und Künstler thematisieren dies sogar in der Produktion der Kunst, wodurch diese für die Analyse an Komplexität gewinnt. Für Eco ist dieser Moment die Offenheit, die selbst zum Thema werden kann: »Heute hingegen haben vor allem die Künstler dieses Bewußtsein; sie machen die ›Offenheit‹, anstatt sie als unvermeidliches Faktum hinzunehmen, zu ihrem produktiven Programm und suchen sie in ihren Werken soweit als möglich zu verwirklichen.« (Eco 1973: 32)
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Die Produktion lässt sich also nicht von den Produzierenden trennen. Auch wenn der Autor oder die Künstlerin nicht die Alleinmacht über die Herstellung von Bedeutungen des Kunstwerks hat oder sie beziehungsweise er nicht in der Lage ist das geplante Kunstwerk in völliger Isolation herzustellen, das produzierende Individuum kann nicht ignoriert werden. Wolff betont, dass beide Seiten (sowohl Produktion als auch Rezeption) berücksichtigt werden müssen. Wenn es zwischen ihnen einen Unterschied gibt, dann ist dieser qualitativ auszumachen und nur anhand eines konkreten Beispiels zu erkennen: »There is room for a hierarchy of mediations, even where the emphasis has been centrally on social rather than biographical issues« (Wolff 1993a: 69). Auch Nick Prior verweist auf Wolffs Texte und streicht heraus, dass eine Post-kritische Ästhetik oder Soziologie der Kunst die Dichotomie eines totalen Relativismus und eines diskreditierenden Universalismus aufgelöst werden muss (vgl. Wolff 2008: 5). Neben der Vernachlässigung des Kunstwerkes betont Prior auch das Ignorieren der affektiven Natur, wenn es um die Betrachtungsweisen und Analysen von Kunstwerken geht (vgl. Prior 2011: 123). Wichtig ist hier das Prozessuale der Kunstgenese, die nicht an einer bestimmten Stelle beginnt oder endet. Der Kunstprozess bleibt demnach offen und muss in der Analyse auch als solcher sichtbar werden. Das kreative Potential liegt dabei nicht nur mehr auf der Seite der Kunstschaffenden, sondern ist auch im Objekt und bei den Rezipierenden anzutreffen. Antoine Hennion und Grenier Line verwenden dafür das Wort Mediation, das auf die Verbindungen der einzelnen Elemente hinweist und ihre Handlungsmacht in den Vordergrund rücken soll. »[…] to address the work of art and the collective production of tastes as a mediation means to study the work and its performance and consumption in detail, from the point of view of the various gestures, bodies, habits, materials, spaces, languages, and institutions it requires to exist. It also means, however, to accept (rather than reject) the very moment of the work of art in its specific, irrevocable, and performative character, as well as to take into account (rather than dismiss) the highly diversified ways in which actors, whether artists, amateurs, or art lovers, describe and experience their aesthetic pleasures.« (Hennion/Grenier 2000: 346) Das Werk, seine Aufführung beziehungsweise Konsumation muss in den verschiedenen Gesten, Körperlichkeiten, Gewohnheiten, Materialitäten, Räumen, Sprachen und Institutionen erfasst werden, durch die es existiert. Dafür essenziell ist die Vermittlung, die alle Seiten vereint und das Kunst-
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werk als das, was es wird, entstehen lässt. So wird auch verständlich, dass die Genese im Vorhinein nicht bestimmt werden kann, da mehrere Faktoren eine Rolle spielen, sodass es keine Garantien für oder Vorhersagen über das Resultat geben kann. Letztendlich überwiegt die Unsicherheit, der Janet Wolff eine ästhetische Dimension zuschreibt (vgl. Wolff 2008). Aufbauend auf wichtige Fragen von Becker und Bourdieu, gibt es eine Vielzahl von Forscherinnen und Forschern, die die soziale Dimension des Kunstwerkes nicht vergisst, aber trotzdem auch Praktiken der Beteiligten und das Kunstwerk an sich achtet. So muss die konzeptionelle Offenheit eines Kunstwerkes berücksichtigt werden, wie sie Eco beschreibt. Die Notwendigkeit soziale Beziehungen und eine Analyse des Werkes zusammenzudenken hat Wolff betont: »I have been arguing that the necessary project for the study of art is an approach which integrates textual analysis with the sociological investigation of institutions of cultural production and of those social and political processes and relations in which this takes place. I have therefore argued against, on the one hand, a sociology which is unprepared to discuss representation, and on the other hand, a critical practice which either ignores or denies the social.« (Wolff 1992: 713) Wer sich also mit Kunst beschäftigen möchte, muss dies mit besonderer Sorgfalt für sowohl soziale Beziehungen als auch Textanalyse tun. Dabei ist interessant, dass Wolff, obwohl sie sehr stark auf die Arbeiten von Raymond Williams aufbaut, sein Konzept der Gefühlstruktur nicht hervorhebt. Im nächsten Abschnitt werden Gedanken von Raymond Williams erläutert, der neben der Dimension des Sozialen sowie der Praktiken auch die Gefühlsebene beachtet und somit der Frage nachgeht, was außerhalb der Repräsentation vorzufinden ist. Um den Beginn dieser Arbeit der kochenden Künstler wiederaufzunehmen, sollen die Überlegungen von und die Auseinandersetzung zwischen Nicolas Bourriaud und Jacques Rancière dienen. Ihnen beiden ist jeweils nachfolgend ein Kapitel gewidmet. Der vierte Abschnitt widmet sich den Ausführungen zur Kunst von Gilles Deleuze und Félix Guattari, die in vielen ihrer gemeinsam verfassten Schriften gerne auf Kunstbeispiele verwiesen und sich auch in ihren Monographien mit der Genese von Kunst(prozessen) beschäftigt haben. Sie sprechen neben Affekten, die nicht mit Gefühlen verwechselt werden dürfen, auch von der Genese der Kunst, ohne diese in Produktion und Rezeption zu trennen.
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4.2.
Von Kultur zur Gefühlsstruktur »While pedagogy is deeply implicated in the production of power/knowledge relationships and the construction of values and desires, its theoretical center of gravity begins not with a particular claim to new knowledge, but with real people articulating and rewriting their lived experiences within rather that outside of history.« Henry A. Giroux 1999: 235
Der Kritiker und Schriftsteller Matthew Arnold definierte Kultur im 19. Jahrhundert in seinem Buch Culture and Anarchy wie folgt: »Culture being a pursuit of our total perfection by means of getting to know, on all the matters which most concern us, the best which has been thought and said in the world; and through this knowledge, turning a stream of fresh and free thought upon our stock notions and habits, which we now follow.« (Arnold 1993: 190) Nach Arnolds Verständnis wäre Kultur nicht nur etwas das Perfektion vereint und ausdrückt, sondern auch das Versprechen, dass mit dem durch die Kultur erschaffenden Wissen eine Verbesserung der Lebensumstände einhergeht. Durch Kultur würden wir nicht nur alles kennenlernen, was uns am meisten betrifft, sondern auch das Beste, was gedacht und gesagt wurde. Raymond Williams motivierte diese Kulturauffassung, mehr über die Konzeption und Hintergründe des Begriffs nachzudenken. Er gründete in den 1940er Jahren die Zeitschrift Politics and Letters und analysierte populäre Literatur sowie Filme. Darin spürte er einem Kulturverständnis nach, das sich einer kritischen Sensibilität verschrieb (vgl. Winter 1999: 157). Auch wenn er die Unterscheidung von Kultur und Gesellschaft mit seinem Buch Culture and Society mitgeprägt hat, kritisiert er diese dogmatische Trennung scharf und vermittelt zwischen Individuum und Gesellschaft (vgl. Hall 1999: 14, Grossberg 2017: 37f). Williams verstand den Kulturbegriff als etwas, das allen Menschen eigen ist. Kultur und Gesellschaft versteht er als ineinander verschränkt: sie bedingen sich gegenseitig. Wenn jedoch Kultur gewöhnlich ist und von jedem einzelnen Individuum erschaffen wird, bedeutet das nicht, dass es eine
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die gesamte Gesellschaft umfassende Kultur gibt. In seinem Buch Keywords verweist er auf die Schwierigkeit Kultur (sprachlich) bestimmen zu können: »Culture is one of the two or three most complicated words in the English language« (Williams 1988: 87). Er verweist auf die unterschiedliche historische Genese des Begriffs in europäischen Ländern und auch auf die divers ausgeprägte Verwendung in wissenschaftlichen Disziplinen. Dadurch gibt es eine Vielzahl von Kulturverständnissen. In diesem Zusammenhang bestimmt Williams drei Kategorien von Kulturauffassungen. Die erste Kategorie umfasst eine ideale Idee von Kultur: »ein Zustand oder Prozess menschlicher Perfektion« (1983: 45). Eine Zweite ist die »dokumentarisch orientierte, in der Kultur als der Korpus geistiger und imaginativer Werke erscheint« (ebenda). »Als letzte haben wir schließlich die ›gesellschaftliche‹ Bestimmung der Kultur, in der diese als Beschreibung einer bestimmten Lebensweise erscheint, deren Werte sich nicht nur in Kunst und Erziehung ausdrücken, sondern auch in Institutionen und im ganz gewöhnlichen Verhalten.« (Williams 1983: 45) Alle drei Definitionen von Kultur sind bedeutend, da jede für sich eine qualitative Dimension zum Ausdruck bringt und zugleich unzulänglich, weil sie die Beziehungen untereinander nicht berücksichtigen. So versucht sich Williams selbst an einer Definition von Kultur: »A culture is common meanings, the product of a whole people, and offered individual meanings, the product of a man’s whole committed personal and social experience« (Williams 2003: 9). Damit versucht er die Elemente einer Kultur der Lebensweise mit dem Verständnis der idealen und dokumentarischen Kultur zu vereinen. Im Vordergrund stehen hier die Bedeutungen, die vom gesamten Volk tagtäglich erarbeitet werden. Stuart Hall betont dabei die Vielheit von Praktiken, die durch Kultur erzeugt werden und die Kultur formen. »›Kultur‹ ist nicht eine Praktik und auch keine einfach zu beschreibende Summe von ›Sitten und Volksweisen‹ einer Gesellschaft – so wie es in bestimmten Arten von Anthropologie den Anschein hat. Sie schlängelt sich durch alle sozialen Praktiken und ist die Summe ihrer Beziehungen untereinander.« (Hall 1999: 18) Udo Göttlich betont an Williamsʼ Definition die Beweglichkeit und das demokratische Potential. »Zum einen nimmt es das beständige Schaffen und Erweitern von Werten und Bedeutungen in den Blick. Zum anderen sucht
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es nach Möglichkeiten demokratischer Partizipation, mit der Strukturen der Unterprivilegierung beseitigt werden sollen« (Göttlich 2009: 95). An dieser Stelle lässt sich eine Parallele zu Bourriauds Kunstverständnis ausmachen, wenn dieser betont, dass Kunst Kulturcodes sowie Alltagsformen (er)fassen muss, damit Kunst überhaupt funktionieren kann (vgl. Bourriaud 2002a: 12). Hier muss jedoch wieder die Frage aufgeworfen werden, inwiefern in der Institution des Museums Strukturen der Unterprivilegierung beseitigt werden können. Während es Formen, wie zum Beispiel im eingangs beschriebenen Museum of Broken Relationships gibt, die Partizipation nicht nur strukturell, sondern auch in der musealen Narration ermöglichen, scheint Bourriauds Konzept innerhalb des Palais de Tokyo in Paris etwas eingeschränkter zu sein. Schließlich bleibt seine relationale Ästhetik in der Institution des Museums. In seinem Buch Postproduction erweitert er sein Konzept des Musealen und diskutiert die Arbeit von DJs und Web-Surfenden: »Producing a form is to invent possible encounters; receiving a form is to create the conditions for an exchange, the way you return a service in a game of tennis« (Bourriaud 2002b: 23). Produktion ist hier nicht mehr nur auf Kunst beschränkt. Und Rezeption scheint eine Form anzubieten, durch die Wandel ermöglicht wird. In diesem Kontext scheint auch eine kritische Pädagogik durch, die zu verstehen versucht, wie Macht innerhalb eines historischen, sozialen und kulturellen Kontexts ausgeübt wird, um diese herauszufordern und, wenn notwendig, die Machtstrukturen zu verändern (vgl. Giroux 1999: 235). Hier klingen bereits Formen der Teilnahme an, nämlich Interaktion, Partizipation und Teilhabe, die später noch (vgl. Kapitel 5.1) ausgeführt werden. Während Williams nicht an einer Trennung von Produktion und Rezeption interessiert ist, sind für ihn Möglichkeiten der Veränderungen enorm wichtig. Nicht die Pflege im Sinne des Kulturerhalts, der Normen einer Nation, Gruppe oder Tradition, steht im Vordergrund, sondern ein kontinuierlicher Wandel, der Veränderungen und Neuinterpretationen zulässt. Damit wäre ein fluides Verständnis der Weitergabe von Wissen installiert. »Daher versuchte er [Williams] zunächst die in seinen Augen antidemokratische Einschränkung des Kulturbegriffs auf hochkulturelle Werke zu überwinden, aber ebenso die marxistische, nach der Kultur als Teil des ideologischen Überbaus von der ökonomischen Basis determiniert ist.« (Winter 1999: 158) Ähnlich argumentiert Antonio Gramsci in seiner Philosophie der Praxis die Wissensweitergabe innerhalb der Bildung. Ein Lehrenden-Lernenden-
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Verhältnis ist immer ein aktives Verhältnis wechselseitiger Beziehungen. Die Positionen zwischen Lehrenden und Lernenden wechseln sich ab und formieren einen Dialog des Wissens (vgl. Gramsci 1994: 1335). Damit wird auch die Vorstellung von der Weitergabe durch einen Wissenstrichter kritisiert. Darauf aufbauend entwickelt Jacques Rancière seinen unwissenden Lehrmeister (vgl. Kapitel 4.2). Ältere Generationen sind demnach nicht automatisch Gebildete und jüngere Generationen Ungebildete und das Wissen würde nicht in einem Trichter von Generation zu Generation weitergegeben werden. In einem Trichter, der ein genaues Fassungsvermögen von Wissen beinhaltet und dieses unverändert weitergibt. In der Wirkungsforschung spricht man auch von der Container-Theorie. Die Medien als Sender haben einen Container mit Bedeutungen gefüllt und abgesendet. Die Empfängerinnen oder Empfänger erhielten diesen Container und konnten die abgesendeten Bedeutungen diesem entnehmen. Dabei wird die angenommene Kontrolle der Medien sichtlich, wobei kulturelle oder gesellschaftliche Vermittlungsinstanzen ignoriert wurden (vgl. Winter 2010: 21). Während man zuerst der Frage nachging, welchen Einfluss die Medien auf die Menschen haben, fragte man bald darauf, wie die Menschen mit den Medien und insbesondere den damit verbundenen Inhalten umgehen. Dennoch ist das Publikum dabei eine vereinte Masse von Einzelnen und lässt die Unterschiede medialer Formen völlig außer Acht (vgl. Winter 2010: 25). Allerdings kommt dieses Wissen nie ohne besondere Mechanismen von Machttechniken zustande, obwohl der Wille zum Wissen, wie es Foucault beschreibt, auch nicht vor einem ›unaufhebbaren Tabu‹ haltmacht (vgl. Foucault 1983: 20). Gramsci verwies unter der Verwendung des Hegemoniebegriffs auf die herrschenden Strukturen, die nicht nur eine Sache des Überbaus sind, sondern die gesamte Gesellschaft durchtränken. Hegemonie unterscheidet sich nach Williams von Ideologie und Weltanschauung. Ideologie würde der Ausdruck des Interesses von einer herrschenden Klasse sein und zudem als normale Realität und von einer gemeinschaftlichen Gruppe akzeptiert werden. Weltanschauung benötigt im Gegensatz zur Hegemonie direkte politische Kontrolle. Darüber hinaus ist die Wahrnehmung von Wir und den Anderen nicht nur intellektuell, sondern wird auch durch politische Institutionen und Organisationen hergestellt (vgl. Williams 1988: 145). »Kultur steht damit nicht, wie in der romantischen oder konservativen Kulturauffassung der Gesellschaft oder der Industrie als separate Sphäre – oder
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wie im traditionellen Marxismus, als über Produktionsweisen ausgegrenzte Sphäre – gegenüber.« (Göttlich 2008: 1997) Kultur ist nicht nur mehr im Überbau zu finden, sondern durch ihre materielle Manifestation auch in der Basis. Williams bricht damit mit der Dichotomie Basis und Überbau, aber auch – letztendlich in Marxism and Literature – mit der Gegenüberstellung Gesellschaft und Kultur. Er befreit Kultur und ihre Analyse »vom Diktat der ökonomischen Verhältnisse« (Karrer 2017: 113). Der Umstand, dass Kultur jedoch überall zu finden sein soll, findet bei Terry Eagleton die kritische Fragestellung, ob denn der Begriff schlussendlich noch zu etwas tauge, wenn er denn gar nicht mehr von etwas abgrenzbar zu sein scheint (vgl. Eagleton 1983: 169). Aus einer ähnlichen Überlegung heraus, beschließt Oliver Marchart, Kultur als ein unmögliches Objekt zu bezeichnen, da sie in ihrer transversalen Dimension die Gesellschaft durchdringt. Kultur, so wie übrigens auch der Begriff der Gesellschaft, ist umfassend und unförmig, sie muss es aber auch als ein gesellschaftstheoretischer Grundbegriff sein, »um den sozialen Raum zugleich in einer bestimmten Hinsicht beschreibbar [zu] machen« (Marchart 2017: 73; Herv. i. O.). Kultur ist also nicht ökonomisch determiniert. Sie verbirgt sich in allen Beziehungen gesellschaftlicher Strukturen. Beziehungen, die bei einer Analyse allesamt berücksichtigt werden müssten, damit verstanden werden kann, wie in einer bestimmten ›Periode‹ Praktiken und Muster gelebt werden (vgl. Hall 1999: 19). Wolff beschreibt deshalb Kunstwerke als nicht hermetisch geschlossene Texte, die laufend interpretiert werden können, trotzdem aber ein Produkt von konkreten Verhältnissen innerhalb der Geschichte sind, welche in den Werken eingeschrieben sind. »Works of art, […] are not closed, self-contained and transcendent entities, but are the product of specific historical practices on the part of identifiable social groups in given conditions, and therefore bear the imprint of the ideas, values and conditions of existence of those groups, and their representatives in particular artists.« (Wolff 1993a: 49) Um die in der Kultur erlebte Erfahrung beschreiben zu können, entwickelt Williams das Konzept der structure of feeling beziehungsweise ›Gefühlsstruktur‹. Indem er den Kulturbegriff von der Hochkultur loslöst und gleichzeitig auch das marxistische Verständnis von Basis und Überbau erneuert, prägt Williams innerhalb der Cultural Studies die Kultur- und Gesellschaftsanalyse (vgl. Winter 2001a: 46).
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Gramsci hat ebenso darauf hingewiesen, dass Kultur nicht, wie im marxschen Sinne, von der Basis getrennt ist. Für ihn ist der Begriff gleichbedeutend mit Ökonomie und Politik. Er betont die »›Aufwertung‹ des kulturellen Faktums, der kulturellen Tätigkeit, einer kulturellen Front als notwendig neben den bloß ökonomischen und bloß politischen« (Gramsci 1994: 1239). Während im strukturalistischen Paradigma Hegemonie mehr mit Ideologie oder Diskurs verbunden wird, ist im kulturalistischen Paradigma Hegemonie stets – insbesondere bei Williams – materiell zu verstehen und damit Teil der Produktion, Reproduktion und Konsumtion (vgl. Göttlich 2008: 95). Die Frage nach der Hegemonie wird aber letztendlich immer im Feld der Kultur gestellt und somit sei sie eine kulturelle Hegemonie, wie Pohn-Lauggas schreibt (vgl. Pohn-Lauggas 2017: 95). Würde aber kulturelle Hegemonie nicht bedeuten, dass Kultur Politik und Ökonomie umfasse und nicht mit diesen Dimensionen gleichwertig zu behandeln wäre? Es gibt sicherlich auch eine ökonomische Hegemonie oder politische Hegemonie. Dabei kommt es darauf an, wie breit der Kulturbegriff gefasst wird. Jedoch kann es nicht sein, dass dieser mittels des Konzepts der Hegemonie die Basis übernimmt, da somit das Basis-Überbau-Modell einfach nur umgedreht würde. Wie schon erwähnt, geht die Hegemonie nicht von der Kultur aus, sondern durchtränkt sowohl Basis als auch Überbau. Ihre Strukturen werden in den Praktiken innerhalb der Kultur erkenntlich und können anhand von zum Beispiel Film, Fernsehen, Literatur und Kunst gezeigt werden. Sie sind aber nicht ausnahmslos dort zu finden, sondern auch in den Sphären der Politik und Ökonomie. Hegemonie scheint abstrakt, ist aber vielmehr die Bezeichnung eines aktiven sozialen Prozesses. Im Gegensatz zur Ideologie, bestimmt Hegemonie das menschliche Zusammenleben. Das ist auch der Hauptunterschied zu Louis Althusser, der die Ideologie nicht als Praktik sah, sondern sie als Basis für menschliche Praktiken ausmachte. »Die Ideologie ist nun das System von Ideen und Vorstellungen, dass das Bewußtsein eines Menschen oder einer gesellschaftlichen Gruppe beherrscht« (Althusser 1977: 130). Williams betont, dass das dominante System von Bedeutungen und Werten in kulturellen Praktiken zum Vorschein kommt. Hegemonie ist keine abstrakte Vorstellung, sondern ein sozialer Prozess, der durch die Verwendung von kulturellen Artefakten, wie in etwa Film oder Literatur kenntlich wird. György Markus erkennt in der qualitativen Unterscheidung von Kulturen die Aufrechterhaltung von Werten, aber auch von Wertungen sowie der sozialen Ungleicheit (vgl. Markus 1997: 13f). Richard Hoggart hat den Umstand, dass Williams in kulturellen Praktiken ein kreatives Potential sah, besonders her-
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vorgehoben. »One of the great insights of Raymond Williams […] was to say you could be as creative in setting up a trade union or a working man’s club as in writing literature« (Hoggart 1998: 20). Ein solches Beispiel thematisiert auch Jacques Rancière, wenn er in seinem Buch Die Nacht der Proletarier über 20jährige Mitte des 19. Jahrhunderts schreibt, die sich in den Nächten nicht von einem Arbeitstag erholen, sondern sich treffen, »um zu lernen, zu träumen, zu diskutieren oder zu schreiben [und dabei] wie Arbeiter zu leben und als Bourgeouis zu sprechen« (Rancière 2012: 8f; Herv. i. O.). Sie personifizieren das, was Walter Benjamin unter Der Autor als Produzent (2011a) zusammengefasst hat. Durch das Verfassen eines Textes, entstehen Tätigkeiten, die zu Praktiken werden und den Alltag umgestalten. So zum Beispiel kann mit dem Verfassen eines Gedichts, die Gründung einer Zeitschrift einhergehen: Tätigkeiten, die »den Bruch im alltäglichen Ablauf der Arbeit herbeiführen […]« (Rancière 2012: 11; Herv. i. O.). Diesen Bruch hat Rancière im Archiv in Dokumenten von und über französische Schneider, Schuster und Schriftsetzer materialisiert gefunden. Mit der einzelnen Tätigkeit muss also immer auch der Kontext berücksichtigt werden. Nur so kann die Verknüpfung von sozialen, kulturellen und ökonomischen Verbindungen berücksichtigt werden (vgl. Winter 2001b: 55). »Das Verständnis, das sich aus dieser Form von Untersuchung ergibt, bevorzugt interpretative Spezifizierung gegenüber erklärender Verallgemeinerung, historischer und lokale Konkretheit gegenüber formaler Abstraktion, ›dichte‹ Beschreibung von Details gegenüber extensiven, aber ›dünnen‹ Erhebungen.« (Ang 1997: 90) Da sich die Praktiken der einzelnen Leute in diesen materiellen Artefakten wiederfinden lassen, nennt Raymond Williams seine Kulturtheorie kulturellen Materialismus.
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Kultureller Materialismus
Kultureller Materialismus meint im Grund, dass sich die Kultur in materiellen Formen manifestiert. So werden zum Beispiel in Film, Fernsehen, Literatur oder Internetblogs kulturelle Praktiken und Muster aufgezeichnet sowie gespeichert. Kulturelle Formen »sind immer schon Formen und Konventionen sozialer Erfahrung und Kommunikation, in denen ›a particular way of life‹ nicht nur ausgedrückt, sondern auch produziert wird« (Puhl 2017: 98). Die Komplexität von Kultur zeigt sich aber auch in bestimmten Formationen, Institutionen und Traditionen. Wenn konkrete dominante Elemente ei-
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ner Kultur erfasst werden können, kann auch diese kulturelle Formation benannt werden, wie etwa eine feudale Kultur oder eine bourgeoise Kultur. Jedoch bleibt es notwendig, die dynamische Beziehung eines kulturellen Prozesses zu betrachten. Williams unterscheidet dabei ›dominant‹, ›residual‹ und ›emergent‹. Mit der dominanten Kultur ist die Traditionskultur oder Herrschaftskultur gemeint, die mit einem Blick in die Geschichtsbücher auffindbar ist. Die Beschäftigung mit der dominanten Kultur lässt aber nur zu oft die Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart beziehungsweise Zukunft nicht erkennen. Eine Epochenanalyse lässt den bestimmten Zeitabschnitt statisch erscheinen, sodass ein Instrumentarium notwendig ist, davon abweichende Strömungen und Bewegungen zum Vorschein zu bringen. Das Residuelle ist ein aktives und effektives Element im aktuellen kulturellen Prozess, manchmal als ein Überbleibsel der Vergangenheit, aber nicht gezwungenermaßen. Erfahrungen, Bedeutungen und Werte, die nicht ausgedrückt oder als Teil der dominanten Kultur ausgemacht werden können, werden auf der Basis des Residuellen gelebt (vgl. 1977: 122). Während von dieser Gruppe von Menschen also Bedeutungen und Werte geschaffen werden, wird diese Gruppe durch die dominante Kultur daran gehindert, diese Bedeutungen zu artikulieren oder kommunizieren. Das Emergente meint hier primär neue Bedeutungen, Beziehungen, Praktiken und Werte, die laufend neugestaltet werden. Das Schwierige, ist zu bestimmen, wie das Neue innerhalb einer dominanten Kultur entsteht und was zu dieser in Opposition verläuft. Im marxschen Sinne führt die Entstehung einer neuen Klasse, wie im 19. Jahrhundert die Arbeiterklasse, und das folgende Bewusstsein derselben Klasse zu einer neuen kulturellen Formation. Es zeigt sich ein Zwischenspiel der emergenten Kultur und der Inkorporierung der neuen Kultur, die durch die Vereinnahmung entpolitisiert und entschärft wird: »Straight incorporation is most directly attempted against the visibly alternative and oppositional class elements: trade unions, working-class political parties, working-class life styles« (Williams 1977: 124). So zeigt sich, dass ein Teil der Kultur in der dominanten und ein Teil eine ›Gegenkultur‹ bildet. Da Kultur jedoch einem laufenden Prozess unterzogen ist und sich wandelt, geht ein Teil auch verloren. Diesen Vorgang nennt Williams ›selektive Tradition‹. Für die Geschichte scheint die problematische Unterteilung der Vergangenheit in Epochen mehr als nur eine didaktische Notwendigkeit zu sein. Die Epochen scheinen in den Geschichtsbüchern oftmals als Episoden auf: Sie sind abgeschlossen und spielen weder für die vorangegangene noch die darauffolgende Episode eine Bedeutung. Innerhalb einer Gesellschaft hört ein Gedächtnis aber nicht auf zu existieren, da
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dieses laufend kommuniziert wird. Dieses ›kollektive Gedächtnis‹ verändert sich unaufhörlich, wie die ältesten und jüngsten Menschen sich verändern. In diesem Gedächtnis finden sich auch die Traditionen, die unverändert, verändert oder abgelehnt werden: »Es ist im brigen [sic!] schwierig zu sagen, in welchem Augenblick eine kollektive Erinnerung erloschen und ob sie endgültig dem Bewußtsein der Gruppe entfallen ist – eben weil es genügt, daß sie in einem begrenzten Teil des sozialen Körpers aufbewahrt wird, um sie stets darin wiederfinden zu können.« (Halbwachs 1967: 71) Der halbwachssche soziale Körper ist auf Kommunikation angewiesen. Das bedeutet, dass entweder das Wissen mündlich oder durch ein (Speicher-)Medium weitergegeben werden muss. In diesem Prozess findet jedoch immer eine Auswahl statt. Diese verweist auf zwei Komponenten: Zeit und Raum. So erinnert uns Grossberg daran, dass die Geschichte der europäischen Moderne auch immer eine Geschichte der Nationalstaaten ist (Grossberg 2012: 314 und 2017: 48). Durch den literarischen Kanon einer Zeit können somit die dominante und zum Teil die emergente Kultur erkannt werden, jedoch fehlt sowohl der Bereich, der durch die Selektion ausgeklammert wurde als auch das Residuelle. Die Traditionskultur, die durch die Hegemonie aufrechterhalten wird, ist die aktivste von allen Bereichen: »a deliverately selective and connecting process which offers a historical and cultural ratification of a contemporary order« (Williams 1977: 116). Die erkennbarsten und einflussreichsten Gegenkulturen werden am stärksten in der Vergangenheit sichtbar. Das soll aber nicht zu einem Anachronismus der Zeiten führen. Es ist bei der Analyse wichtig, nicht die Vergangenheit in gegenwärtigen Begriffen zu erzählen, sondern die Verbindung und Verwobenheit der Gegenwart darzustellen, also eine ›Geschichte der Gegenwart‹ (Foucault 1977: 43) zu erarbeiten.5 Der kulturelle Materialismus hat es sich also zur Aufgabe gemacht sowohl historische als auch gegenwärtige gesellschaftliche und kulturelle Prozesse zu erfassen (vgl. Göttlich 2008: 101). Williams fasst zusammen:
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Siehe zum Verhältnis Foucaults und Williams den Beitrag von Klaus Puhl: ›Grenzen der Erfahrung, Grenzen der Analyse. Raymond Williams und Michel Foucault. In: Horak, Roman/Pohn-Lauggas, Ingo/Seidl, Monika (Hg.): Über Raymond Williams. Annäherungen. Positionen. Ausblicke.Hamburg: Argument. S. 97-111. Vgl. dazu auch: Simon During (1989): After Death: Raymond Williams in the Modern Era. In: Critical Inquiry, 15, 4. S. 681-703.
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»Yet any ruling class devotes a significant part of material production to establishing a political order. The social and political order which maintains a capitalist market, like the social and political struggles which created it, is necessarily a material production. From castles and palaces and churches to prisons and workhouses and schools; from weapons of war to a controlled press: any ruling class, in variable ways though always materially, produces a social and political order. These are never superstructural activities. They are the necessary material production within which an apparently self-subsistent mode of production can alone be carried on.« (Williams 1977: 93) Obwohl Terry Eagleton bedenkt, dass Williams Konzept des kulturellen Materialismus weniger soziale Prozesse erklärt, sondern mehr eine Beschreibung von bestimmten Phänomenen in materialistischen Begriffen vollzieht, kann er dem kulturellen Materialismus etwas abgewinnen. Denn für Eagleton ist dieser nicht als ein Gegenmodell zum historischen Materialismus nach Marx zu verstehen. Beide Zugänge nehmen jeweils einen anderen Status ein. Williams vervollständigt und erweitert Marx, indem der Bereich des Idealismus in den Raum der Kultur übergeführt wird. Dennoch muss er an Williams Kritik üben, da dieser ausschließlich aus dem kulturellen Materialismus argumentiert. Der historische Materialismus ist ein Konzept, das materiellen Determinierungen in bestimmten Gesellschaften nachgeht und ihre politische Ohnmacht analysieren kann (vgl. Eagleton 1989: 168). In seinen frühen Studien hat Williams die Verbindung zwischen Kunstschaffenden und ihrem Publikum als Gemeinschaft der Sensibilität oder Gemeinschaft des Prozesses beschrieben. Damit wollte er auf die Zeit, die der Kunstproduktion vorausgeht und die des Publikums, das auf das Kunstwerk reagiert hinweisen und die beiden Seiten zusammenfassen. In der Auseinandersetzung mit T. S. Eliot, F. R. Leavis und Marx kam er zu dem Schluss, dass wenn »überall, und nicht nur an bestimmten Stellen, Bedeutungen und Werte geschaffen wurden […], dann mußte ganz allgemein von dem Faktum der Gemeinschaft einer Kultur gesprochen und ihre Notwendigkeit postuliert werden« (Williams 1983: 77). Als Beispiel führt er die Sprache an, die nicht von einer einzelnen Person geschaffen wurde und von manchen erweitert und vertieft wird. Kultur meint in diesem Zusammenhang nicht alles, jedoch ist sie eine Dimension von allem, wie Stuart Hall betont (vgl. Hall 2014: 203). Die Verwendung der Sprache ist eine materielle Praktik, die Auskunft über die gemeinsame Kultur gibt. Ihre Bedeutungsvielfalt hängt von den sozialen Situationen ab. Die (sprachlichen) Praktiken sind dabei sowohl sozial deter-
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miniert als auch Ausdruck einer bestimmten Handlungsmacht (vgl. Winter 2011a: 111).
4.2.2.
Gefühlsstruktur
In den medialen Artefakten kann durch die Analyse eine Gefühlsstruktur einer Gesellschaft in einem bestimmten Zeitraum herausgearbeitet werden, die »durch eine Homologie oder Korrespondenz aus dem kulturellen Text einen Mikrokosmos des Ganzen« (Grossberg 2017: 39) entwickeln lässt. Williams gibt selbst zu, dass der Begriff ›feeling‹ schwierig ist, aber er soll eine Trennung von Bezeichnungen wie Weltanschauung und Ideologie klarmachen. Es geht ihm nicht nur darum, von bereits bestehenden Konzepten abzuweichen, sondern gelebte und gefühlte Bedeutungen und Werte aufzugreifen. Die Bezeichnung ›structures of experience‹ würde besser passen, da Erfahrung diese Dimension besser greift. Jedoch ist damit das Problem der vergangenen Zeit verknüpft. Erfahrungen werden primär nicht mit der Gegenwart in Verbindung gebracht, was eines der größten Probleme ausmacht, wenn Impulsen und Stimmungen oder affektiven Elementen des Bewusstseins und der Beziehungen nachgespürt werden soll: »not feeling against thought, but thought as felt and feeling as thought: practical consciousness of a present kind, in a living and interrelating continuity« (Williams 1977: 132). Später definiert Williams ›structures of feeling‹ rückblickend folgendermaßen: »This was the area of interaction between the official consciousness of an epoch – codified in doctrines and legislation – and the whole process of actually living its consequences« (Williams 2015: 159). Die Gefühlsstruktur soll den Vorteil bringen, soziale Formationen einer spezifischen Art zu ergründen. Sie kann auch als Artikulation einer Gefühlsstruktur gesehen werden – sie unterscheidet sich von anderen semantischen Formationen. Klaus Puhl fasst zusammen: »Der Begriff der structures of feeling soll der spezifischen und eigenständigen Art und Weise, wie soziale, ökonomische und politische Institutionen, dominante Bedeutungen, Werte und Normen, aber auch soziale Widersprüche und Spannungen von den Beteiligten und Betroffenen erfahren, gelebt und reproduziert werden, gerecht werden.« (Puhl 2017: 98; Herv. i. O.) In dieser Zusammenfassung lässt sich die Nähe zu Williams Kulturkonzept (einer gesamten Lebensweise) erkennen (vgl. Seigworth 2006: 111f). Hier offenbart sich Kultur aber nicht nur als eine gesamte Lebensweise, sondern auch als produktive schöpferische Kraft (vgl. Winter 2001a: 63). Die Gefüh-
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le, denen Williams hierbei nachgeht, sind strukturiert, da sie durch eine Art (kulturellen) Muster kommuniziert und dadurch deutlich werden. In Anlehnung an seiner kulturellen Unterscheidung des Dominanten, Residuellen und Emergenten, gibt es auch bei der Gefühlsstruktur eine Unterscheidung. So gibt es bei ihm ›dominante‹ und ›(prä)emergente Gefühlsstrukturen‹. ›Dominante Gefühlsstrukturen‹ unterliegen der dominanten Kultur und beschreiben Gefühle, die bereits bekannt sind. Sie finden sich in medialen Artefakten, aber auch im sozialen Austausch. ›Präemergente‹ oder ›emergente Gefühlstrukturen‹ sind unbekannt und stören das alltägliche Verhalten. Sie können weder benannt, noch erklärt werden, da sie noch mit keinem bekannten Gefühl verbunden werden können: »initially from as a certain kind of disturbance or unease, a particular kind of tension, for which when you stand back or recall them you can sometimes find a referent. To put it another way, the peculiar location of a structure of feeling is the endless comparison that most occur in the process of consciousness between the articulated and the lived.« (Williams 2015: 168) Innerhalb der gelebten Kultur organisiert die Hegemonie das Leben wie die dominante ›structure of feeling‹. Puhl warnt aber davor eine synonyme Verwendung der Begriffe festzustellen, da Williams zwischen der hegemonialen Ideologie und der Kunst als Ort von gegenhegemonialer Gefühlsstrukturen unterscheidet (vgl. Puhl 2017: 104). Diese Unterscheidung ist also wichtig aufrechtzuerhalten, da präemergente oder emergente Gefühlsstrukturen zu einer Krise der bestehenden Ordnung und einer Veränderung führen. Hier stoßen gelebte alltägliche Kultur auf historische Kultur, dominante hegemoniale Strukturen auf krisenhafte beziehungsweise sich in einer Krise befindenden Kultur. Die unweigerliche Folge eines solchen Aufeinandertreffens ist eine kulturelle Transformation. Exemplarisch zeigt dies Williams zum Beispiel an den Formationen des Naturalismus und Expressionismus (vgl. Williams 1971). Hier finden sich auch in den Stücken Beispiele für eine kulturelle Transformation oder zumindest einen historischen Moment der Krise. So in etwa Büchners Dramen Woyzeck und Dantons Tod. Die Figur Woyzeck dient seinem Hauptmann, und als er seine Freundin mit dem gemeinsamen unehelichen Kind finanziell stärker unterstützen möchte, fügt er sich auch noch einem Arzt, der Woyzeck für medizinische Experimente bezahlt. Woyzeck gehorcht den Herr(sch)en(den), hat aber auch – der literarischen Tradition verpflichtet – ein ironisches Bewusstsein. Das macht Woyzeck zugleich zu einem Diener und Kritiker. Das Augenfällige des Dramas sind die Brüche mit den konven-
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tionellen Traditionen, die vereinte Elemente voneinander lösen und für eine weitere kreative Verwendung zugänglich machen. »Dramatically, the excitement of Woyzeck is its reaching in so many directions at once; not the grasp of a single vision, from which new total conventions could be built; but the tumbling experimental touching of one intense vision after another, and the achievement of conventions which for a scene, for a group of scenes, express and control this, and then this.« (Williams 1971: 236; Herv. i. O.) Hier erkennt Williams eine Gefühlsstruktur, da die Mischung aus einer Sage, einem selbstkritischen Erzähler-Bewusstsein und dem Zwiespalt zwischen Menschen und Natur Assoziationen freigibt, die sowohl persönlich als auch historisch sind (vgl. ebenda 235). In diesem Zusammenhang soll nochmal auf Williams Kulturbegriff verwiesen werden, der eben eine gesamte Lebensweise meint. Dabei darf man nicht den Fehler eingehen, zu denken, dass darin Kunst trivial und zu einer gewöhnlichen Handlung werde. Das Gegenteil ist aber auch nicht der Fall. Wer Kunst als etwas Außergewöhnliches ansieht, kommt bald ins Fahrwasser des Besonderen und Genietums. Williams hebt generell den schöpferischen Charakter von Kunst hervor, jedoch auch die Kultur, die wir leben und damit ebenso kreativ (mit)produzieren. »Die Kunst erlangt schließlich gerade dadurch ihren Wert, daß es das Faktum der Kreativität in unserem gesamten Leben gibt. Alles, was wir sehen und tun, die gesamte Struktur unserer Beziehungen und Institutionen hängt letztlich von unserem Bemühen um Lernen, Beschreiben und Mitteilen ab. Wir schaffen unsere menschliche Welt so, wie wir vermeinten, daß Kunst geschaffen würde. Die Kunst ist eines der großen Mittel eben dieses Schaffens. Daher sind auch die Trennung von Kunst und übrigem Leben einerseits und die Abfertigung der Kunst als einer unpraktischen und zweitrangigen Angelegenheit (einer ›Freizeitbeschäftigung‹) andererseits nur zwei Formulierungen des gleichen Irrtums.« (Williams 1983: 43) Ästhetik und Ökonomie stehen sich demnach nicht auf zwei Seiten gegenüber, sondern bilden Möglichkeiten der Beschreibung und Schaffung der Welt. Die Bezeichnungen der Umgebung und der Benennung von Erfahrenem werden in der Gemeinschaft geteilt. Die dafür zugrundeliegende Kommunikation ist der essenzielle Faktor von Kultur, die in medialen Artefakten aufgenommen wird und sich verfestigt. So ist auch einer seiner Schlüsse, dass die Dramatisierung der Gesellschaft durch Medien, wie zum
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Beispiel des Fernsehens, eine zuvor noch nicht gekannte Qualität erreicht hat (vgl. Williams 1998: 240).
4.3.
Eine Ästhetik der Beziehungen »It seems relational aesthetics can be read as a manifesto for a new political art that confronts the service economies of informational capitalism or naïve mimesis of novel forms of capitalist exploitation.« jan jagodzinski 2010: 127f
Mit dem Buch Relational Aesthetics aus dem Jahr 2002 (1998 im französischen Original) belebte Nicolas Bourriaud die Diskussion um Partizipation beziehungsweise Teilhabe und Handlungsmacht bei der Rezeption von künstlerischen Projekten beziehungsweise Gefügen. Das Buch sammelt sieben Aufsätze Bourriauds, die zuvor teilweise in der Kunstzeitschrift Documents sur l’art erschienen sind, die er selbst 1992 mit dem Kunstkritiker und Kurator Eric Troncy sowie den Künstlern Philippe Parreno und Liam Gillick gründete und bis zum Jahr 2000 mitherausgab. Mit dem Kunstkritiker und Kurator Jérôme Sans gründete Bourriaud im Jahr 1999 das Palais de Tokyo in Paris, das beide bis 2006 leiteten. Zwischen 2008 und 2010 war er Kurator des Gulbenkian an der Tate Britain in London, wo er 2009 die vierte Tate Triennal unter dem Motto Altermodern kuratierte. Zwischen 2011 und 2015 war Bourriaud Direktor der École Nationale Supérieure des Beaux-Arts in Paris. Im Folgenden wird zunächst das Konzept der von ihm entwickelten relationalen Ästhetik rekonstruiert und im Anschluss die Standpunkte seiner Kritikerinnen und Kritiker dargestellt.
4.3.1.
Relational Aesthetics
In Relational Aesthetics (2002) attestiert Bourriaud Mängel am theoretischen Diskurs über die Kunst aus den 1990er Jahren, da Kritikerinnen und Kritiker bereits obsolete Fragen an diese Kunst stellen würden, die nicht von den Kunstschaffenden selbst formuliert wurden. Inwiefern relational Aesthetics von Künstlern und Künstlerinnen formuliert wurde, wird in der Aufsatzsamm-
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lung nicht beschrieben, jedoch weist der Künstler Liam Gillick in einem offenen Brief darauf hin, dass die Überlegungen, die Bourriaud formulierte aus einer langen Auseinandersetzung mit verschiedenen Kunstschaffenden resultiere (vgl. Gillick 2006: 96). Wir leben in einer Gesellschaft, in der zwischenmenschliche Beziehungen nicht mehr direkt erlebt werden, sondern in den Repräsentationen der Gesellschaft des Spektakels verwischen, schreibt Nicolas Bourriaud in seiner Einleitung. Daraus leitet er die Notwendigkeit eines Fokus auf Beziehungen in der Gegenwartskunst ab (vgl. 2002: 9). Durch die fortgeschrittene Maschinisierung und Digitalisierung der Welt werden Alltagssituationen mechanisiert. So würden charakterlose Situationen entstehen. Der Alltag wird reproduzierbar und verliere spezielle Beziehungen. Gesten und Handlungen seien durch ökonomische (neoliberale) Strukturen determiniert. Gegenwartskunst besitze demnach die große Aufgabe, zwischenmenschliche Beziehungen wieder in das Zentrum von Kunstschaffenden und Publikum zu rücken (vgl. 17). Seine Überlegungen zu relationaler Kunst fußen auf Gilles Deleuzes und (vielmehr noch) Félix Guattaris Schriften, die er gelegentlich erwähnt, auch wenn sein Verständnis stärker von Guattaris Theorie eines Netzwerks von Beziehungen geprägt ist (vgl. jagodzinski 2014: 1). Bei Deleuze findet sich der Begriff in seinen Überlegungen zum Kino. Wenn jemand die Welt definieren müsste, würde sie durch »relation« (Deleuze 1986: 10) definiert werden. Die Beziehungen sind nicht fixiert, sondern können sich verändern. Sie sind es die Qualitäten verändern und zu Transformationen beitragen (vgl. ebenda). Die Überlegungen zu einer Ästhetik des Relationalen sollen nach Bourriaud verschiedenste Kunstprojekte der 1990er unter einen gemeinsamen Nenner bringen. Im Jahr 1996 hatte er am CAPC musée d’art contemporain de Bourdeaux in Frankreich eine Gruppenausstellung unter dem Namen Traffic kuratiert. Dabei waren Vanessa Beecroft, Henry Bond, Jes Brinch and Henrik Plenge Jakobsen, Angela Bulloch, Maurizio Cattelan, Andrea Clavadetscher und Eric Schumacher, Honoré d’O, Liam Gillick, Dominique GonzalezFoerster, Douglas Gordon, Jens Haaning, Christine Hill, Noritoshi Hirakawa, Carsten Höller, Pierre Huyghe, Peter Land, Miltos Manetas, Gabriel Orozco, Jorge Pardo, Philippe Parreno, Jason Rhoades, Christopher Sperandio und Simon Grennan, Rirkrit Tiravanija, Xavier Veilhan, Gillian Wearing und Kenji Vanobe. Im Vordergrund stand die Verbindung zwischen den Kunstwerken und dem Publikum. Die Kunsthändlerin Emily Tsingou schrieb für das zingmagazine eine Rezension und betonte, dass die Bedeutung der Beziehung immer schon wichtig und notwendig war. Letztendlich entstand durch die
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große Ansammlung von Kunstobjekten in den Hallen des Museums jedoch vielmehr ein Stau und nicht primär ein fließender Verkehr, wie es der Titel Traffic vermuten lassen würde (vgl. Tsingou 1996). Drei Jahre später konnte Bourriaud mit Sans das Pariser Palais de Tokyo leiten, das dazu gedacht war, ausschließlich der Gegenwartskunst einen Platz in Paris zu geben (vgl. Bourriaud/Simpson 2001). Kunstschaffende, die besondere Rücksicht auf die Besuchenden genommen haben und deshalb auch viele von ihnen im Palais de Tokyo ausstellen durften, sind Rirkrit Tiravanija, Philippe Parreno, Vanessa Beecroft, Maurizio Cattelan, Jes Brinch und Henrik Plenge Jacobsen, Christine Hill, Carsten Höller, Noritoshi Hirakawa sowie Pierre Huyghe. Alle haben gemeinsam, dass sie Kunstkonzepte realisieren, die interaktiv beziehungsweise partizipativ und auf eine besondere Art und Weise publikumsfreundlich sind sowie relationale Aspekte konzeptuell zu verwirklichen versuchen. Dadurch hat sich, so Bourriaud, eine sogenannte ›relationale Ästhetik‹ begründet, für die das Hier und Jetzt besonders wichtig ist, da Kunstproduktion und -rezeption in einem Moment gleichzeitig geschehen. Bei Bourriaud bleibt jedoch unklar, ob damit die Kunstschaffenden auch mit den Besuchenden verschmelzen und somit Kunstproduktion sowie -rezeption eins werden. Die Projekte sind aber offen, entwickeln sich situativ und dynamisch. Ihre politische Dimension kann nicht vorhergesehenen werden und bleibt demnach unsicher (vgl. Hudelist/Pilipets 2015: 137). Im Vordergrund ist bei ihm das Ereignis, an dem beide Seiten beteiligt sind. Es entsteht eine Transformation, die aus einem Werk oder vielleicht besser einer Idee oder einem Konzept eine Erfahrung macht. So sagt er in einem Interview: »I like art that allows its audience to exist in the space opened up by it. For me, art is a space of images, objects, and human beings. Relational aesthetics is a way of considering the productive existence of the viewer of art, the space of participation that art can offer.« (Bourriaud/Simpson 2001) Kunst soll demnach den Zuschauerinnen und Zuschauern einen Raum eröffnen, in dem sie Möglichkeiten der Mitgestaltung erfahren können. Darin sieht Bourriaud auch einen klaren Bruch zur Kunst der Moderne. »The possibility of a relational art (an art taking as its theoretical horizon the realm of human interactions and its social context rather than the assertion of an independent and private symbolic space) points to a radical upheaval of the aesthetic, cultural and political goals introduced by modern art.« (Bourriaud 2002: 14)
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Kunst entstehe hier nicht in einem unabhängigen privaten symbolischen Raum, sondern in einer Art und Weise, die den Austausch und Dialog in den Vordergrund rückt. Dabei verweist Bourriaud darauf, dass ›relational Aesthetics‹ keine Kunsttheorie beschreiben soll, sondern eine Theorie der Form. »Relational aesthetics does not represent a theory of art, this would imply the statement of an origin and a destination, but a theory of form« (Bourriaud 2002: 19). Wichtig für ihn ist also ein bestimmter Rahmen, der von den Kunstschaffenden hergestellt wird, um überhaupt eine Beziehung mit der Besucherin und dem Besucher aufbauen und eingehen zu können. »It makes the forms and cultural objects of our daily lives function« (Bourriaud 2002b: 14). Wie erwähnt, geht er genauer auf den Künstler Félix González-Torres ein. An seinen Installationen beschreibt Bourriaud beziehungsstiftende Kunstprojekte, in der die Beziehung zu Dingen im Vordergrund steht. González-Torres sei ein Vorläufer der Bereitstellung des Raumes für Intersubjektivität und zwischenmenschliche Beziehungen (vgl. Bourriaud 2002: 51). Später wurde sein Projekt von Künstlern wie Rirkrit Tiravanija, Dominique Gonzales-Foerster, Douglas Gordon, Jorge Pardo, Liam Gillick und Philippe Parreno ausgeweitet und in unterschiedlichen Kunstformaten erforscht. Besonders González-Torresʼ Arbeiten seit 1991, die aus einer unterschiedlichen Ansammlung von Bonbons bestehen und meistens als Haupttitel untitled tragen, ist die Herstellung von Beziehungen zwischen seinen Installationen und den Besucherinnen beziehungsweise Besuchern besonders wichtig. Dabei geht es um eine Visualisierung von etwas Körperlosen. Die Körper, die von den Bonbons eingenommen werden, sind geometrisch nach der Architektur des Raumes ausgerichtet. Mal findet sich die Ansammlung als Teppich in der Mitte des Raumes, wie etwa in Public Opinion (1991) oder Untitled? Placebo – Landscape – for Roni (1993), mal als ein kleiner Berg in einer Ecke eines Raumes wie in Untitled? Portrait of Ross in L.A. (1991). Was die Installationen unterscheidet, ist aber nicht nur ihre Form der Aufbereitung, sondern auch ihre Verpackung. Das soll heißen, dass die Papiere, in denen die Bonbons eingewickelt sind, immer andere Farben tragen und sich voneinander abheben. Die Bonbons selbst dürfen von den Besuchenden mitgenommen werden. Damit wird zum einen, Kunst für die Besuchenden demokratisch zugänglich, denn jeder und jede darf sich ein Teil des Kunstgefüges mitnehmen, zum anderen kann das Kunstgefüge auch durch das Lutschen des Bonbons konsumiert werden. Dieser Vorgang ist bei den unterschiedlichen Installationen jeweils für sich zu interpretieren. So weist der Konsum von silberweißen, blauen und roten
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Bonbons auf den konsumistischen Neoliberalismus Amerikas hin, in anderen Farben eingewickelte Bonbons unter dem Namen Untitled? Portrait of Ross in L.A. die Anteilnahme am Tod seines Lebenspartners. In beiden Fällen und in den anderen darüber hinaus, entsteht durch die Partizipation immer eine Beziehung zwischen Kunstwerk und Kunstbetrachtenden. »Die produzierten Zugehörigkeiten entstehen im Prozess des Verbindens, sie sind weder im Besitz der Arbeit oder des Künstlers noch im Besitz des Individuums, das die Arbeit betrachtet. Dennoch sind sie nicht unabhängig von dem Begehren nach Zugehörigkeit, das an die Arbeit herangetragen wird.« (Lorenz 2009: 148) Renate Lorenz betont hier den Prozess des Verbindens, der Kunstschaffende und Kunstbetrachtende einander näherbringt. Nach Bourriaud setzt sich González-Torres in seiner Arbeit nicht mit einem thematischen Diskurs wie der Homosexualität auseinander, sondern begegnet den Besuchenden auf einer emotionalen Ebene (vgl. Bourriaud 2002: 50). Dass dieser Künstler sich nicht auf die Ebene der Repräsentation begibt, beschreibt auch Lorenz, da er im Beispiel Untitled? Portrait of Ross in L.A. nicht die Ökonomie der Repräsentation mit der Darstellung von alternativen Möglichkeiten kritisiert, sondern mit einer körperlosen Darstellung (vgl. Lorenz 2009: 148). In diesem Möglichkeitsraum der Phantasie ist auch das Potential der Partizipation verborgen, die über eine rein phänomenologische hinausgeht und die Menschen aktiv handeln lässt. Interessant ist an dieser Stelle, dass González-Torres betont, dass sein Publikum immer sein Partner Ross Laycock war, der 1992 an Aids starb. Im gleichen Jahr entstand eine Fotografie mit einem leeren Bett. Die Beziehung zu Ross, Aids und Homosexualität waren demnach seinen künstlerischen Produktionen immer inhärent. Insofern ist es fragwürdig, warum Bourriaud gerade diese Werke für die relationale Ästhetik heranzieht, den González-Torres verwies mit jedem seiner Kunstwerke auf die politische Dimension von Homosexualität und Aids. Als sein Partner starb, wurde dieser noch stärker ins Zentrum der Werke gerückt. González-Torres hat bei einer Ausstellung 1991 vor dem Stück »Untitled« (Placebo) eine Reaktion beobachten können. Er beschreibt, wie eine weiße Vorstadtmutter aus der Mittelschicht mit zwei kleinen Söhnen den Teppich aus Bonbons in Silberfolie betrachtet und nach etwa 30 Sekunden die Museumsmitarbeiterin der Mutter und den beiden über Aids aufklärt sowie erklärt was dieser Teppich darstellt und was ein Placebo ist. Als die beiden Jungs ihre Taschen mit Bonbons füllen, sagt die Mitarbeiterin, dass nur ein Bonbon mitgenommen werden dürfe. Nach-
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dem die Kinder die meisten wieder zurückgeben, ergänzt sie: ›Vielleicht auch zwei‹. González-Torres schließt die Anekdote begeistert: »The whole thing worked because then they got the piece, they got the interaction, they got the generosity and they got her. It was great« (González-Torres/Storr 1995). Anhand dieser Geschichte kann man erkennen, warum Bourriaud meint, dass die Ausstellungen González-Torresʼ zu seinen Überlegungen der relationalen Ästhetik passen würden. Am erzählten Beispiel erkennt man, wie die Kinder mit dieser künstlerischen Form eine Beziehung eingehen. Das hat auch zur Folge, dass bei der Kunstrezeption nicht mehr eine autoritäre Instanz die Bedeutungen, also der Künstler oder die Künstlerin schafft, sondern immer in Aushandlung mit den Rezipientinnen und Rezipienten neu erschaffen werden. Für Bourriaud ist deshalb besonders wichtig, dass Gegenwartskunst vielfältige Bedeutungen mittels eines Zwischenraums zulässt, in dem sich Menschen treffen können. Nur dann kann nämlich auch von Gemeinschaften gesprochen werden, die zwischenmenschliche Kommunikation nicht nur fördern und individuelle Emanzipation verfolgen, sondern eine Emanzipation der Gemeinschaft unterstützen: »Reintroducing the idea of plurality, for contemporary culture hailing from modernity, means inventing ways of being together, forms of interaction that go beyond the inevitability of the families, ghettos of technological userfriendliness, and collective institutions on offer. […] In our post-industrial societies, the most pressing thing is no longer the emancipation of individuals, but the freeing-up of inter-human communications, the dimensional emancipation of existence.« (Bourriaud 2002: 60) Relationale Ästhetik als eine Theorie der Form fasst nun Kunstprojekte ab den 1990er Jahren zusammen und beschreibt den Anspruch, dass Kunst den Menschen wieder einen Raum zurückgeben kann, der soziale Kommunikation möglich macht. Dafür wurden sogar die Öffnungszeiten des Palais de Tokyo von morgens bis mitternachts erweitert, da ein Museum nicht dieselben Öffnungszeiten wie eine Bank haben sollte (vgl. Bourriaud/Simpson 2001). Auf diese Weise sollte es den Menschen, die montags bis freitags von 8 bis 17 Uhr arbeiten auch möglich sein, das Museum zu besuchen. Mit dieser einfachen Geste sollte das Museum als ein Platz der Zusammenkunft und des sozialen Austausches fungieren. Neben einen allabendlichen Theater- oder Kinobesuch, stünde nun auch das Palais de Tokyo zur Verfügung. Für Bourriaud ist dies besonders wichtig, da dieser neu geschaffene Ort subjektiv gelebten Mikroutopien entgegenwirkt, indem sie durch künstlerische Projekte im so-
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zialen Austausch vergemeinschaftet werden. Bourriaud fasst das politische Potential von relationaler Kunst wie folgt zusammen: »These days, utopia is being lived on a subjective, everyday basis, in the real time of concrete and intentionally fragmentary experiments. The artwork is presented as a social interstice within which these experiments and these new ›life possibilities‹ appear to be possible. It seems more pressing to invent possible relations with our neighbours in the present than to bet on happier tomorrows. That is all, but it is quite something.« (Bourriaud 2002: 45) Der Kontext eines Kunstgefüges, in dem sich Kunstschaffende und Kunstrezipierende treffen, kann eine Beziehung aufbauen. Das Kunst entsteht im Prozess der Produktion und Rezeption und lässt sie zu dem werden, was ›relationale Ästhetik‹ im zwischenmenschlichen Zwischenraum des Kunstprojekts beschreiben soll: Kunst, die den ablaufenden Prozess in den Vordergrund stellt, ohne ein allen bewusstes abschließendes Ziel zu verfolgen. Er schreibt selbst: »It seems more pressing to invent possible relations with our neighbours in the present than to bet on happier tomorrows« (Bourriaud 2002: 45). Genau diese Überlegungen beziehungsweise Charakteristiken der relationalen Ästhetik sind es jedoch, die kritische Stimmen evozieren und Bourriauds Projekt als unglaubwürdig einstufen.
4.3.2.
Kritik
Claire Bishop (2004) schreibt, dass die Überlegung, dass plötzlich Kunst im permanenten Bewegungszustand zerfällt, aus einem Missverständnis postmoderner Theorien und Literatur erfolgt, die nahezu unendlich viele Lesarten und Interpretationsspielräume stärken wollen. Schließlich scheint die Bandbreite der Interpretationsmöglichkeiten so groß wie die Anzahl ihrer Interpretinnen und Interpreten zu sein. Dies wird allerdings zum Problem, wenn Kunst plötzlich demselben Interpretationsraum ausgesetzt sein soll. Löst sich dieser Logik zur Folge nicht das Kunstobjekt auf, beziehungsweise wie kann man über ein Kunstobjekt sprechen, wenn es sich laufend im Prozess verändert und keine Zuschreibungen möglich macht? Kunst ist in diesem Verständnis nur mehr ein Lückenfüller von Freizeit und ein Unterhaltungsfaktor. Die Zuschauer und Zuschauerinnen werden zugleich verantwortlich für das, was sie sehen und erleben. Der Erfolg einer künstlerischen Erfahrung ist von ihrer Kreativität und Fähigkeit sich auf die Situation einzulassen abhängig (vgl.
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Bishop 2004: 52). Was also eine Erfahrung von Kunst ›relationaler Ästhetik‹ ausmachen soll, bleibt unklar. Wenn Bourriaud die wichtige Frage stellt, was ›relationale Ästhetik‹ ausmacht, geht er auf die Intensität beziehungsweise Qualität der Begegnung beziehungsweise des Prozesses nicht ein. Wichtig scheint für ihn nur zu sein, ob man im Kunstprozess einen Raum erlangen und wie man in diesem existieren kann (vgl. Bourriaud 2002: 109). Bishop kritisiert hierbei, dass es scheinbar bei Rirkrit Tiravanija unwichtig ist, wie und was für wen gekocht wird. Essenziell ist bei seinem Vorgehen, dass das gekochte Essen gratis weitergegeben wird. Sie geht der Frage nach, ob wirklich alle Dialoge, die Bourriaud in seinen Überlegungen als essenziellen Bestandteil ›relationaler Ästhetik‹ ausmacht, wirklich so demokratisch und friedvoll ablaufen (vgl. Bishop 2004: 65). Als im Winter 1996 Tiravanija im Kölnischen Kunstverein sein New Yorker Appartement als open space nachgebaut hat, wurden in der Nähe niedergelassene Obdachlose von der Polizei weggebracht, da man befürchtete, dass sie Touristinnen und Touristen verschrecken würden. In den lokalen Tageszeitungen wurde Tiravanijas Kunstprojekt tomorrow is another day gelobt. Die Kölner Kunstschaffenden haben die Zustände stark problematisiert, wobei Tiravanija nicht für die Polizeihandlungen zur Rechenschaft gezogen werden soll. Er betont in seinem Projekt jedoch die Herausforderungen der Kunstschaffenden, die sich einem Dialog verschrieben haben und zugleich ignoriert er den politischen, sozialen und kulturellen Kontext in dem dieser Dialog entsteht (vgl. Kester 2013: 105). Bishop stellt die angeblich demokratische Struktur ›relationaler Ästhetik‹ in Frage, wobei sie auf einer politischen Ebene keinen Konsens, wie es Bourriaud in seinen Schriften voranstellt, sucht, sondern den Dissens als politische Grundlage verstehen wissen möchte. So kritisiert sie die von Bourriaud angeführten Beispiele, allen voran Tiravanija und Gillick, da beide keine Konflikte thematisieren, sondern, wie es eben ›relationale Ästhetik‹ verlange, Konsens während dem sozialen Austausch oder besser den gelebten Beziehungen herstellen. Bishop favorisiert Kunstschaffende wie Thomas Hirschhorn und Santiago Sierra, die in ihren Arbeiten Spannungsverhältnisse und Konflikte erzeugen. Für sie bedeutet dies, dass jene, politische Kunst schaffen können, da sich ihr bevorzugtes politisches Verständnis, das auf Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes (vgl. 2015) Konzept des Antagonismus aufbaut, mit den künstlerischen Arbeiten trifft. Der Antagonismus sei der Schlüsselbegriff des Politischen und baue auf einer Wir-Sie-Unterscheidung auf, die, so Mouffe, nicht aufgelöst werden kann, da keine gemeinsame Basis vorhanden ist. »Die
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antagonistische Dimension ist […] immer gegenwärtig, es ist eine reale Konfrontation, die allerdings durch eine Reihe demokratischer, von den jeweiligen Gegnern akzeptierten Verfahrensweisen reguliert wird« (Mouffe 2016: 31). Bishop lässt in ihrer Betrachtung ihre selbst formulierte Kritik an Bourriaud außer Acht, die darin liegt, dass dieser die speziellen und einzelnen Situationen ignoriert. Auch sie nennt nur Kunstschaffende, kann jedoch letztendlich nicht prüfen, ob Bourriauds Beispiele wirklich nur Konsens und ihre Auswahl tatsächlich nur Dissens herstellen (vgl. Umathum 2011: 166f.). »Es ist ein grundsätzliches Problem, dass Bourriaud die Geschehnisse nicht in Augenschein nimmt, dass er nichts berichtet von Erfahrungen der Differenz, des Widerspruchs oder des Konflikts und stattdessen lediglich die Geselligkeit und Gemeinschaft beschwört.« (Umathum 2011: 165) Vielleicht hat sich Bourriaud in seiner Essaysammlung auch missverständlich ausgedrückt, denn in einem Interview betont er gerade den Prozess der Aushandlung, den ein Kunstgefüge immer mit sich bringt. Die Möglichkeit etwas auszuhandeln sei für ihn sogar die Basis einer Demokratie. Er betont, dass Kunstgefüge immer Beziehungen zur Welt materialisieren – ist Williams kulturellem Materialismus also sehr nahe – und dadurch die Relationen sichtbar werden (können). So stellt er sich selbst die berüchtigte Frage, was Kunst ist und beschreibt Kunst als Materialisierung von Beziehungen, die durch die Materialisierung sichtbar werden. »What’s an artwork? Any artwork materializes a relation to the world; if you see a Vermeer or a Mondrian, it’s concretized, materialized, visible in relation to the world that they had. You can decode and interpret for yourself and use it for your own life. Or for your work if you’re an artist. It’s a chain of relations. History of art is about that – a chain of relations to the world. So, any artwork is a relation to the world made visible.« (Bourriaud/Moss 2002) Hier ist wiederum interessant, dass Bourriaud auf Vermeer und Mondrian eingeht, also zwei Maler, die nicht die Genese ihrer Kunstgefüge in den Vordergrund stellen, sondern die Produkte. In Bourriauds Beispielen finden sich allerdings immer künstlerische Projekte, die im Dialog mit den Besucherinnen und Besuchern entstehen, also Kunst, die sich vorerst nicht konkretisiert oder materialisiert. So schreibt er in Relational Aesthetics: »The artist’s practice, and his behaviour as producer, determines the relationship that will be struck up with his work« (Bourriaud 2002: 42). Bourriauds Beschreibungen
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sind demnach oftmals irreführend und die Aufzählung von mehreren Kunstschaffenden, die mit ihren Kunstwerken politisch oder nicht sein sollen, hilft der Diskussion um die Qualität der Teilnahme von Kunstprojekten nicht wirklich weiter. Sandra Umathum kritisiert in dieser Hinsicht auch Claire Bishop: »Wie gegen Bourriaud ist auch gegen Bishop einzuwenden, dass pauschale Urteile über die intersubjektiven Erfahrungssituationen eher in die Irre als zum Ziel führen« (Umathum 2011: 170). Das ist für sie auch der Grund, warum sie sich in ihrer Arbeit für Beispiele wie Felix González-Torres, Erwin Wurm und Tino Sehgal entschieden hat. Umathum beschreibt genauso wie Liam Gillick die Problematik, dass Kunstschaffende einfach ausgetauscht, jedoch viel zu wenig, die einzelnen künstlerischen Projekte betrachtet werden. Ebenso interessant ist die Auswahl der Künstler, da sowohl bei Bourriaud als auch bei Bishop Künstlerinnen keinen Platz finden können (vgl. Gillick 2006: 99). Leider versäumt Bishop die Rolle und Erfahrung der Besucherinnen und Besucher zu reflektieren, obwohl sie dies in ihrer Antwort auf Gillick behauptet (vgl. Bishop 2006: 107). Grundsätzlich beschreibt Gillick die Reaktionen, die Bourriauds Überlegungen zu einer ›relationalen Ästhetik‹ verursacht haben, sehr gespalten. Entweder wurden seine Texte unkritisch übernommen, oder seine Ausführungen wurden seriös besprochen. Bishops Kritik entziehe sich jedoch jeglichem seriösen Standard. So befasse sie sich weniger mit der Idee ›relationaler Ästhetik‹ und versuche vielmehr, vier der von Bourriaud angeführten Künstler zu analysieren. Leider schaffe sie es deshalb nicht die Widersprüche der zusammengeführten Texte näher zu beleuchten. Schließlich ist die Textsammlung ein Produkt einer längeren Auseinandersetzung zwischen Bourriaud und den behandelten und angeführten Künstlern. Mittlerweile würden bereits viele der beschriebenen Überlegungen zurückgenommen worden sein. So betont Gillick die mächtige Instanz des Kuratierens, die besonders dann ein Problem darstellt, wenn diese Instanz als eine Art »UltraKünstler« (vgl. Gillick 2006: 96) fungiert. Damit verweist Gillick auf die Problematik, dass ›relationale Ästhetik‹ im Palais de Tokyo, aber auch woanders, nicht nur im Dialog zwischen Kunstproduktion und Kunstrezeption entsteht, sondern mindestens in einem Trilog mit den Kuratierenden beziehungsweise den einladenden und organisierenden Personen rund um das künstlerische Event. Der soziale Aspekt ›relationaler Ästhetik‹ ist deshalb vielleicht noch wichtiger als Bourriaud selbst versucht hat, heraus zu arbeiten. Es gibt demnach eine Mehrzahl, die zwei übersteigt, die sich für eine ›relationale Kunst‹ verantwortlich zeichnen müsste. Dass Kunst nicht nur zwischen Kunstschaf-
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fenden und Kunstrezipierenden entsteht, haben bereits Bourdieu und Becker eindrucksvoll gezeigt. In diesem Zusammenhang kritisiert Bishop an anderer Stelle, dass der Zusammenfall von Produktion und Rezeption das Verschwinden eines Auditoriums mit sich bringe, da dieses unweigerlich zur produzierenden Institution werden würde. Kunst könne das Publikum jedoch nicht umgehen. Vielmehr geht es in der partizipativen Kunst nicht darum, das Publikum auszulöschen, sondern zu aktivieren (vgl. Bishop 2012b: 36). Dabei geht sie auf eine Tradition zurück, die die Interpretation und den Dialog zwischen Publikum und dem Kunstwerk stärkt. Dies betont unter anderem auch Richard Shusterman, wenn er über Arthur Danto schreibt: »Danto und andere sind dafür eingetreten, daß ein Kunstwerk ontologisch durch die Interpretation konstituiert wird. Da physisch identische Gegenstände unterschiedliche Werke sein können, wenn sie verschieden interpretiert werden, machen Interpretationen Kunstwerke aus, es gibt keine Kunstwerke ohne sie; ohne sie wären Werke bloße Dinge aus ihrer materiellen Substanz.« (Shusterman 1996: 70) Zygmunt Bauman überlegt sogar das Kunstwerk verschwinden zu lassen, denn wenn die Kunst in den Alltag eingedrungen ist, braucht man nicht mehr ihre materielle Existenz. »Die meisten Kunstkritiker sind der Auffassung, daß die Kunst heute alle Lebensbereiche erobert hat. Damit sind die vermeintlich zweckfreien Träume der Avantgardisten des 20. Jahrhunderts wahr geworden – allerdings in anderer Form, als es sich diese vorgestellt hatten. Denn es scheint, als bedürfe die Kunst, nachdem sie auf ganzer Linie gesiegt hat, des Kunstwerks nicht mehr, um ihre Existenz zu behaupten.« (Bauman 2009: 117) Es ist nicht unproblematisch zu behaupten, dass das Auditorium wegfällt und alle zu Kunstschaffenden oder zumindest Produzierenden werden, da so kein Unterschied mehr zwischen Kunstschaffenden und nicht Kunstschaffenden getroffen werden kann. Die Bezeichnungen wären demnach für nichts mehr zu gebrauchen. Ebenso problematisch ist es aber zu glauben, dass auch das Kunstwerk verschwinden könnte, da ohnehin nur mehr die Alltagserfahrung zählen würde. Ein Kritikpunkt, den sich Bourriaud gefallen lassen muss, wenn er die Beziehung in den Vordergrund stellt, aber nicht das Publikum und darüber hinaus das Kunstwerk an sich verschwinden lässt.
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Pirkko Husemann (2009) schreibt in Choreographie als kritische Praxis, dass er glaube, Theater sei »die relationale Kunstform« (17; Herv. i. O.), da in der Bildenden Kunst, performative Praktiken nur in Ausnahmefällen eine Rolle spielen würden. Dabei lässt er außer Acht, dass Bourriaud, wenn er von ›relationaler Ästhetik‹ schreibt, die 1990er Jahre zwar als Ausgangspunkt bestimmt, jedoch vordergründig die eigenen Kuratierungen beschreibt. Demnach bauen Bourriauds Beispiele immer auf performative Praktiken auf. Die relationale Kunstform scheint es auch nicht zu geben, besonders, wenn man das Hier und Jetzt als beziehungsstiftendes Moment zum Thema machen möchte. Denn über das Hier und Jetzt hat man im Vorhinein so gut wie keine Kontrolle. Dies wiederum bedeutet, dass relationale Kunst nicht immer relational sein muss, wenn auch Bourriaud Gegenteiliges behauptet. Relationale Kunst kann also nicht ›bestellt‹ werden, weder im Museum noch im Theater. Es gibt keine relationale Kunst per se, sondern es können nur besucherfreundliche oder im Sinne der partizipativen beziehungsweise der sozial engagierten Kunst, Kunstkonzepte entwickelt werden. Ob dabei aber eine Beziehung entsteht beziehungsweise welche Qualität dieser innewohnt, kann nicht vorhergesagt werden. Dies gilt im Übrigen auch für klassische museale Ausstellungen. Auch diese können den Bedürfnissen der Besucherinnen und Besucher, also besucherfreundlich ausgerichtet, entsprechen. Dass hier ausnahmslos keine Beziehungen geschaffen werden, ist genauso zweifelhaft, wie die Überzeugung bei gewissen Ausstellungen könne man Beziehung per Konzept herstellen. Demnach hat auch das Theater, das Husemann untersucht, nicht per se eine ›relationale Ästhetik‹, sondern ist aufgrund seiner Überlegungen und Inszenierungsstrategien hinsichtlich der Beziehung mit dem Publikum dem postdramatischen Theater zuzuordnen. So verweist zumindest Husemann auf Hans-Thies Lehmann (2008) und beschreibt zwar die Wichtigkeit des Vollzugs von Handlungsakten hier und jetzt, jedoch auch, dass keine zurückbleibenden Spuren des Sinns vorhanden sein müssen. Bourriaud betont aber gerade den politischen Charakter der ›relationalen Ästhetik‹, der davon zeugt, dass erweiterte Handlungsräume geöffnet und konkrete Lebensalternativen diskutiert werden. Relationale Kunst soll gerade den sozialen Raum schaffen, der Menschen zusammenbringt, um über alltägliche Gespräche hinaus zu gehen und zu reflektieren (vgl. Bourriaud 2002: 45). Auch Husemann sieht in Bourriauds Konzept mehr als nur eine Veränderung der Situation zwischen Produktion und Rezeption:
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»Dabei ist davon auszugehen, dass die sozialen Akteure im kulturellen Feld mittlerweile eine ›kollektive Kreativität‹ bilden. Gemeint ist damit nicht etwa ein Künstlerkollektiv, sondern die Tatsache, dass kreative Prozesse nicht ausschließlich von Künstlern initiiert und bestimmt werden. Es ist vielmehr die Gesamheit [sic!] aller sozialen Akteure des Feldes, die bestimmte künstlerische Ansätze und Arbeitsweisen hervorbringen.« (Husemann 2009: 23) Bei der relationalen Ästhetik kommt es auf den Kontext an. Jedoch ist der Kontext nicht außerhalb der Kunst, sondern wird in der Kunstgenese zwischen Kunstobjekt und Betrachter entwickelt. Der Kontext wird damit automatisch zum Kunstgegenstand. Dies geschieht unter anderem bei der Theaterproduktion der Mentor, auf die ich später noch eingehen werde (vgl. Kapitel 4.3). »As part of a ›relationist‹ theory of art, inter-subjectivity does not only represent the social setting for the reception of art, which is its ›environment‹, its ›field‹ (Bourdieu), but also becomes the quintessence of artistic practice« (Bourriaud 2002: 22). Es ist bei Kunstprojekten der relationalen Ästhetik also kaum zwischen eigentlichem Text und Kontext zu unterscheiden, da beide im Raum der künstlerischen Praxis zusammenfallen und thematisiert werden (vgl. Husemann 2009: 18). Dass Objekte innerhalb von Kunstproduktionen immer weniger wichtig werden, beschreibt auch Suzana Milevska (2006). Gleich wie für Bourriaud, sind für sie die 1990er Jahre Ausgangspunkt für den participatory turn. Sie beschreibt, dass Objekte weniger bedeutend und zwischenmenschliche Beziehungen stärker wurden. Dabei unterscheidet sie zwischen Praktiken partizipatorischer und interaktiver Kunst. Erstere ist um einiges aktiver als interaktive Kunst: »wherein the relations established between the members of the audience or between them and the art objects are much more passive and formal (usually directed by certain formal instructions, given by the artists, that are to be followed during the exhibitions)« (Milevska 2006). Obwohl Bourriaud diese Unterscheidung nicht trifft und auch keine Anweisungen innerhalb von Kunstprojekten thematisiert, betont er den dialogischen Charakter der ›relationalen Ästhetik‹. »If a work of art is successful, it will invariably set its sights beyond its mere presence in space: it will be open to dialogue, discussion, and that form of inter-human negotiation that Marcel Duchamp called ,coefficient of art?, which is a temporal process, being played out here and now.« (Bourriaud 2002: 41)
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Kunst ist also nicht ›nur‹ im Raum präsent, sondern sie öffnet auch eine temporäre Phase, die eine Diskussion im Hier und Jetzt ermöglichen soll. Daraus resultierte, so Bourriaud, der politische Charakter relationaler Kunst. Gerade diese Verallgemeinerung hat ihm, wie schon zum Teil angeführt, viel Kritik eingebracht. Unter anderem auch deshalb, weil er immer in einer Institution und damit im Diskurs, dem die Institution zugehörig, angehörig ist. An dieser Stelle kritisiert Jacques Rancière die ›relationale Ästhetik‹, da diese keinen politischen Anspruch haben könne. Grund dafür sei die nahezu erzwungene Unbestimmtheit der Ästhetik, die nirgendwo hinführt. Besonders problematisch sei die Zurückführung zur repräsentativen Logik, die sich durch die Zurschaustellung des künstlerischen Aktionismus oder sozialen Beziehung zwischen Kunst und Publikum im Museum offenbart (vgl. Rancière 2009: 89). Außerhalb der Logik der Repräsentation wäre demnach ein außerhalb der Institutionen, der das Museum angehört. Dann kann sich auch das politische Potential entfalten. Jedoch besteht Bourriaud darauf, dass die Beispiele, die er als ›relationale Ästhetik‹ anführt, Beispiele politischer Kunst seien. Die Verlängerung der Öffnungszeiten des Palais des Tokyo, die ungewöhnliche Kuratierung innerhalb des Museums mit Performances und künstlerischen Produktionen mit starken partizipativen Charakter sollen zeigen, dass Kunst nicht nur im Stillen aus einer eher passiven Beobachtungsinstanz wahrgenommen werden kann. Kunst löst demnach auch bei der Rezeption ein aktives Element aus. Die vorgestellten Überlegungen Bourriauds verlaufen somit gegenteilig zu dem was zu Beginn der Wirkungsforschung angenommen wurde. Während man in ihren frühen Ansätzen dachte, dass Bedeutungen innerhalb eines linearen-kausalen Wirkungszusammenhangs weitergegeben werden und die damit verbundenen Bedeutungen von den Empfängerinnen so aufgenommen werden, wie von den Senderinnen beabsichtigt, scheint hier die Ausgangsthese zu sein, dass egal, welche Überlegung, die Kunstschaffenden haben, die Besucherinnen die Bedeutung alleine herstellen (können). Sinnvoll ist es dabei die Variable der Interaktion von Zuschauerin und Künstler, beziehungsweise Besucher und Künstlerin zu untersuchen. In den kulturellen und sozialen Kontexten der Begegnung gewinnt dieser Prozess an Sinn. Auch für Adorno ist die These, dass sich eine Handlung in der Gegenwart unmittelbar auf diese auswirkt und eine Veränderung herstellt nicht haltbar. »In unseren Arbeiten wird der Wert von sogenannten Einzelaktionen durch die Betonung der gesellschaftlichen Totalität äußerst eingeschränkt« (Adorno 1969: 206). Wir können nur darauf hoffen, dass die Handlung eines Tages ak-
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tualisiert und damit eine Veränderung erzielt wird. Adorno betont, dass sein Denken in einem indirekten Verhältnis zur Praxis stehe und er kein Modell für Handlungen oder Aktionen erstellt habe (vgl. ebenda 204). Es ist aber nicht die Aktion selbst, auch wenn er sich gegen die Verwendung von MolotowCocktails ausspricht, die Adorno verabscheut, sondern das lokale Handeln. Adorno findet keine Antwort darauf, wie man die Gesellschaft fern ab von individuellem Handeln verändern könne. In einem Interview mit dem Spiegel sagt er, dass er sich von einzelnen Aktionen keine Verbesserung der unmittelbaren Lage verspricht. Kritik zu üben bedeutet nicht gleichzeitig, dass man weiß, wie man es besser machen muss. Er betont jedoch, dass er von einer Antwort der Gewalt nichts hält und sich eine sinnvoll verändernde Praxis nur gewaltlos vorstellen kann. »Es gibt einen Satz von Grabbe, der lautet: ,Denn nichts als nur Verzweiflung kann uns retten.‹ Das ist provokativ, aber gar nicht dumm. – Ich kann darin keinen Vorwurf sehen, daß man in der Welt, in der wir leben, verzweifelt, pessimistisch, negativ sei. Eher sind doch die Menschen beschränkt, die krampfhaft die objektive Verzweiflung durch den Hurra-Optimismus der unmittelbaren Aktion überschreien, um es sich psychologisch leichter zu machen.« (Adorno 1969: 206) Für Grant H. Kester ist Adornos Einstellung eine Melancholie, die sich in eine Sackgasse verlaufen hat. Nach Adorno soll nur der Theoretiker die Gesellschaft als Ganzes erfassen können und demnach hat nur er die Möglichkeit diese zu verändern. »Thus the only form of individual action that Adorno approves involves detached, contemplative artistic or theoretical production« (Kester 2012: 90). Adorno verurteile also nicht jegliche individuelle Handlung, es müssen aber distanzierte, kontemplative künstlerische oder theoretische Produktionen sein. Kester kritisiert, dass die Praxis als eine Bedrohung der kritischen Autonomie verstanden wird und fordert die Erschaffung eines Dialoges. Dieser scheint nach Bourriauds Beschreibungen sehr ansprechend zu sein, jedoch bleibt unklar, welche Voraussetzungen für einen solchen gegeben sind. »While Bourriaud’s writing is compelling, it is also highly schematic. Further, he provides few substantive readings of specific projects. As a result, it is difficult to determine what, precisely, constitutes the aesthetic content of a given relational work« (Kester 2011: 30).
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4.4.
Die radikale Gleichgültigkeit »Beim Politischen der Kunst gehe es […] nicht um Bewusstmachungsprozesse, sondern um die Spaltung der offensichtlichen Wirklichkeiten zugunsten ihrer Neuzusammensetzung. Dazu ist der ästhetische Blick notwendig, weil er die zweckgebundene Zuschreibung verweigert.« Jens Kastner 2012: 119
Der Philosoph Jacques Rancière wurde in Algerien geboren und ist mit zwei Jahren nach Marseille gekommen. Mit fünf ist er nach Paris umgezogen, wo er seine gesamte Kindheit verbrachte. An der Porte de Champerret erlebte er eine Grenze zwischen mehreren Welten. Geprägt von der Nachkriegsatmosphäre nahm er eine sehr durchmischte soziale Welt wahr. In der christlichen Studentenjugend wurde er mit Marx konfrontiert, da ein Geistlicher ihm ein Buch über Marx zeigte, das dieser mit Begeisterung las. Daneben fand Rancière durch die Texte von Jean-Paul Sartre zur Philosophie (vgl. Rancière 2014: 16f). Man könnte hier auch sagen, dass das Heranwachsen von vielen Widersprüchen geprägt war, das in der schulischen Ausbildung und später an der Universität gestärkt wurde. Louis Althussers Vorhaben Marx ›neu‹ zu lesen war von der Idee geleitet, bei Marx einem epistemologischen Bruch nachzuspüren. Daraus resultierte keine ›Neulektüre‹ Marxʼ, sondern eine bestimmte Lektüre, die bei Abweichungen von Althusser eingefordert wurde. Althusser verlangte, dass die Intellektuellen die Arbeiterklasse schulen müssen, damit diese ein Wissen über die Zukunft erhielten und damit ihre Rolle im geschichtlichen Prozess besser verstehen können. Rancière lehnt diese Haltung grundlegend ab, da er nicht davon ausgeht, dass eine spezielle Schulung notwendig sei. Im Mai 1968 haben Studierende und Arbeitende gezeigt, dass sie ihre Proteste ohne theoretische Anleitung vollziehen können (vgl. Davis 2014: 34f). Slavoj Žižek zur Folge scheint Althusser für Rancière ein elitärer Theoretiker zu sein, der zwischen Wissenschaft(stheorie) und Ideologie scharf trennt und dem Volk spontane widerständige (Protest)Aktionen nicht zutraut. Deshalb arbeite Rancière diese ›magischen poetischen Momente‹ der sogenannten Anteillosen immer wieder in seinen Schriften heraus (vgl. Žižek 2006: 69). Mit dem Verweis darauf, dass im Vorwort des Kapitals betont wird,
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dass es keine unschuldige Lektüre gibt, problematisiert Rancière Althussers Projekt, wie Das Kapital zu lesen sei. In seiner wohl ersten deutschsprachigen Übersetzung Wider den akademischen Marxismus schreibt Rancière gegen das theoretische ›Geschwätz‹ an: »Im Mai 1968 klärten sich die Dinge auf brutale Weise. Als der Klassenkampf in offen erklärter Weise auf der Szene der Universität ausbrach, fand sich der Status des Theoretischen selbst in Frage gestellt, und zwar nicht durch endloses Geschwätz über die Praxis und das Konkrete, sondern durch die Realität einer ideologischen Massenrevolte.« (Rancière 1975: 12) Was hatte also die Theorie zu den Protesten beigetragen? Dennoch waren es nicht primär die Umstände von 1968 und die Folgen, sondern die Veröffentlichung von Réponse à John Lewis im Jahr 1973. Dort wiederholt Althusser, in einem sehr polemischen Schreibstil, dass Lewis in der Lage sei, das Thema der Politik zu vermeiden, wenn er über Philosophie spricht. Jedoch gibt es drei Formen des Klassenkampfes: im ökonomischen, politischen und theoretischen Feld. Die Austragung des Klassenkampfes im theoretischen Feld nenne man Philosophie, die eine Praktik einer politischen Intervention durch Theorie sei (vgl. Althusser 1972: 23f). Das Kapital lasse sich aber nicht ausschließlich philosophisch lesen. Jede Lektüre verortet sich »im System der diskursiven Praktiken der Macht« (Rancière 1975: 68). Danach wendet sich Rancière den Arbeiten von Sartre und Bourdieu zu. Hier kommt er aber zum gleichen Schluss wie Marx und Althusser, nämlich, dass alle annehmen, »dass der Pädagoge für jene denken und sie erziehen muss, die nicht für sich selbst denken können; erst dann wird sich die Gesellschaft zum Besseren wandeln« (Davis 2014: 48). Diesen Gedanken verfolgt Rancière insbesondere in seinem Buch Der unwissende Lehrmeister, das auch durch seine Machart sehr interessant ist. Er sagt selbst, dass er im Buch eine Szene erarbeitet habe, die sich im Gegensatz zur Allegorie, die Bilder zur Illustration verwendet, dadurch auszeichnet, dass Bild und Gedanke nicht mehr voneinander unterschieden werden können. Sein Kommentar ist mit der Erzählung von Joseph Jacotot vermengt, sodass beides nicht mehr zu trennen ist. Rancière erarbeitete in seinem Buch eine Szene, in der die Hauptfigur Joseph Jacotot im selben Ausmaß wie Rancière zu Wort kommen soll (vgl. Rancière 2014: 104). Jacotot war 1818 an der Universität Löwen Lehrbeauftragter für französische Literatur. Jedoch konnten die Studierenden kein Französisch. Um trotzdem lehren zu können, nahm er die soeben zweisprachig gedruckte Ausgabe Télémaque von François Fénelon und verteilte sie unter den
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Studierenden. Somit wurde eine gemeinsame Sache hergestellt und Jacotot lerne Niederländisch und seine Studierenden Französisch. Da er eine Prüfung abnehmen musste, verlangte er eine Nacherzählung des Textes mit Hilfe der Vokabeln des gelesenen Textes, eine Verlegenheitslösung. Hier fügt Rancière ein längeres Zitat ein: »›Er erwartete schreckliche Barbarismen, eine absolute Unfähigkeit vielleicht. Wie sollten diese jungen Leute ohne Erklärungen verstehen und die Schwierigkeiten einer für sie neuen Sprache lösen können? Egal! Man musste sehen, wohin dieser zufällig eröffnete Weg sie geführt hatte, welches die Resultate dieses verzweifelten Empirismus waren. Wie war er nicht erstaunt, als er entdeckte, dass diese auf sich selbst angewiesenen Schüler ebenso gut diese heiklen [sic!] Situation bewältigt hatten, wie es viele Franzosen getan hätten! Brauchte man nur zu wollen, um zu können? Waren also alle Menschen virtuell fähig zu verstehen, was andere gemacht und verstanden hatten?‹« (Rancière 2018: 12) Hier liegt die Erkenntnis Rancières, dass es keine (spezifischen) Erklärungen braucht, um Wissen zu schaffen. Jacotos Experiment zeigt, dass der Erfolg nicht von der Anleitung abhängt, sondern vom eigenen Willen. Was hier zählt, ist, dass die Beteiligten gleich-gültig sind. Das Unwissen zwischen oder besser von den Studierenden und Jacotot ist hier eine ideale Voraussetzung für das Wissen. Jacotots Methode ist im strengen Sinn keine Methode, da es kein bestimmtes Vorgehen gibt. Dass, was im Kern die Begegnung ausmacht, ist ein Dialog, der auf Gleichberechtigung basiert. Durch die Situation Jacotots, nämlich kein Niederländisch sprechen zu können, wird die Hierarchie, die automatisch zwischen Lehrbeauftragten und Studierenden vorhanden ist, verhandelt und neu zugewiesen. Nach Winter, folgt Rancière dem brasilianischen Pädagogen Paolo Freire, der in seiner Arbeit Wissen nicht von Lehrenden zu Lernenden weitergeben wollte, sondern die Lernenden dazu ermutigte, so zu handeln als ob sie allen anderen Menschen gleich wären (vgl. Winter 2017: 30). Freire betont, dass beide Seiten, also sowohl Lernende als auch Lehrende sich am pädagogischen Dialog beteiligen müssen. Das Denken mit anderen ermöglicht es erst, allen einzelnen, in die Lage zum Denken zu kommen (vgl. Freire 2007: 28f). Diese radikale Gleichheit zieht sich durch die Texte und das Denken Rancières. Auch in etwa in seinem Buch Aisthesis, in dem es um Kunst, Literatur und Film geht, da mediale Vermittlung von Inhalten somit eine demokratische Dimension bekommt.
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4.4.1.
Ästhetik und Kunst
Im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert bildet sich durch die künstlerische Bearbeitung eines neuen Sujets etwas heraus, das Jacques Rancière Ästhetik nennen möchte. Das Besondere an diesem neuen Sujet sind die vielfältigen Beschäftigungen mit trivialen Alltagsszenen, die sich sehr konträr zu den bis dato üblichen Darstellungen der Mythologie oder Religion dem öffentlichen Blick darbieten. Den Begriff der Ästhetik verdanken wir Alexander Gottlieb Baumgarten, der ein zweibändiges Buch zur Ästhetik schrieb und sich darin mit der sinnlichen Anschauung auseinandersetzte. Immanuel Kant habe diesen Begriff in Kritik der Urteilskraft übernommen. Zwar gibt es für Kant keine Ästhetik, jedoch ästhetische Urteile, die gegensätzlich zur sinnlichen Anschauung, klare Erkenntnisse der Logik produzieren (vgl. Rancière 2001: 9). Ästhetik meint laut Rancière »ein bestimmtes Regime der Freiheit und der Gleichheit von Kunstwerken, in dem diese nicht mehr aufgrund der Herstellungsregeln oder der Hierarchie ihrer Bestimmung als Kunstwerke gelten« (Rancière 2008a: 78). Es bestimmen also weder der dargestellte Inhalt noch die Kunstschaffenden selbst, über den künstlerischen Gehalt eines Kunstwerkes. Nicht nur die Fähigkeit der Malkunst ist wichtig, sondern auch die unterschiedlichen Betrachtungsweisen von Kunstschaffenden, die sich aus dem gemalten Sujet ergeben. So stehen gemalte Szenen aus der Bibel, dem gewöhnlichen Alltag der Bauern gegenüber. Rancières Verständnis von Ästhetik hat nichts mit einer Disziplin, Philosophie oder Wissenschaft zu tun, sondern vielmehr mit einem Erfahrungsmodus, der sich seit dem Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert herausgebildet hat und bis in die Gegenwart wirkt (vgl. Rancière 2001: 9, 2008a: 78, 2013a: 12). »Das Wort Aisthesis bezeichnet einen Erfahrungsmodus, in dem wir seit zwei Jahrhunderten Dinge als gemeinsam der Kunst zugehörig wahrnehmen, die von ihrer Produktionstechnik und ihren Bestimmungen her sehr unterschiedlich sind. Es handelt sich nicht um die ,Rezeption‹ von Kunstwerken. Es handelt sich um das Gewebe sinnlicher Erfahrung, innerhalb dessen sie hergestellt werden. Es sind das ganz materielle Bedingungen – die Orte der Aufführung und der Ausstellungen, Formen der Verbreitung und der Reproduktion –, aber auch Wahrnehmungsweisen und Empfindungsregime, Kategorien, die sie identifizieren, Denkschemata, die sie klassifizieren und interpretieren.« (Rancière 2013a: 12)
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Jens Kastner betont, dass dieser Paradigmenwechsel der Perspektiven sich nicht nur im Bereich der Kunst vollzog, sondern auch andere Lebensbereiche umfasste. »Zum einen wird die Kunst als spezifischer Tätigkeits- und Rezeptionsbereich erst vollständig ausgebildet, zugleich aber verliert sie ihre Spezifik und wird gewissermaßen gleichgültig zu beziehungsweise mit allen anderen Praktiken« (Kastner 2012: 31f). Kunst ist demnach nicht mehr ein Können oder eine Gabe, die von wenigen Personen ausgeführt werden kann. Sie wird vielmehr zu einem Handwerk, das jeder Mensch erlernen kann. Kunst, die gleichgültig ist, kann von jeder Person ausgeübt werden. Darin zeigt sich das demokratische Potential von Kunst. In seinem Buch Der emanzipierte Zuschauer (2009) thematisiert Rancière ein Auditorium, das sich vor verschiedenen Körpern versammelt. Seine Überlegungen zum Status der Zusehenden bauen auf seinem Buch Der unwissende Lehrmeister (2007) auf, das sich mit Joseph Jacotot befasst, der Unwissende genau das lehrte, was er selbst nicht wusste. So zeigt Rancière, dass die Intelligenz allen gleich, also gleichgültig sei und dass es nicht darauf ankommt, etwas mehr zu wissen als eine andere Person, damit diese Person etwas lernen kann. Im Gegenteil: »Der Erklärende braucht den Unfähigen, nicht umgekehrt« (Rancière 2018: 16). Im gleichen Ausmaß scheinen manche Theaterproduktionen so ausgerichtet zu sein, dass sie ein passives Auditorium verlangen. So spielt im aristotelischen beziehungsweise im dramatischen Theater ein aktives Publikum keine große Rolle. Die dramatische Form soll Zuschauerinnen beziehungsweise Zuschauer in die Handlung verwickeln und suggestiv wirken. Der Mensch steht, wie im epischen Theater, zwar im Zentrum, werde jedoch unveränderlich vorgeführt (vgl. Schumacher 1975: 129f). Im Theater scheinen die Rollen zwischen Schauspieler sowie Schauspielerinnen und Zuseherinnen und Zuseher klar aufgeteilt zu sein: die Einen spielen, die Anderen sehen zu. Das Paradox der Zuseher und Zuseherinnen sei jedoch dadurch gekennzeichnet, dass es kein Schauspiel ohne sie gibt. Das könne aus zwei Gründen schlecht aufgefasst werden. Zum einen sieht das Auditorium zu und deshalb kann es nicht wirklich verstehen. Zum anderen sei das Auditorium zur Passivität verdammt, also »zugleich von der Fähigkeit zur Erkenntnis und von der zur Handlung getrennt […]« (Rancière 2009: 12). Demnach braucht es ein Theater ohne Publikum: »nicht ein Theater vor leeren Sitzen, sondern ein Theater, wo die optische passive Beziehung, die alleine vom Wort impliziert wurde, einer anderen Beziehung unterworfen wird, welche ein anderes Wort impliziert, das Wort,
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das das bezeichnet, was auf der Bühne vor sich geht, das Drama. Drama bedeutet Handlung. Das Theater ist der Ort, wo eine Handlung von bewegten Körpern vollbracht wird, gegenüber Körpern, die mobilisiert werden müssen. Diese können auf ihre Macht verzichtet haben. Aber diese Macht wird in der Bewegungsperformance der ersteren aufgenommen, reaktiviert, in der Erkenntnis, die diese Performance herstellt, in der Energie, die sie erzeugt. Auf diese aktive Macht muss man ein neues Theater bauen, oder vielmehr ein Theater, das seine ursprüngliche Tugend wiedererlangt, sein wahrhaftes Wesen, von dem die Schauspieler, die seinen Namen entlehnen, nur eine entartete Version bieten. Man braucht ein Theater ohne Zuschauer, wo die Anwesenden lernen, anstatt von Bildern verführt zu werden wo sie aktive Teilnehmende werden, anstatt passive Voyeurs zu sein.« (Rancière 2009: 14) Zuschauen als Wort, wird oft negativ verwendet. So ist eine Person, die einem Unfall zusieht oder sogar weitergeht, jemand, der oder die nicht handelt. In diesem Kontext ist Zuschauen klar ein Antonym zum Tun. Wer zusieht ist unproduktiv und passiv. So wäre zumindest die Beschreibung für das herkömmliche Theater, in dem die räumliche Aufteilung zwischen Auditorium und Bühne für eine solche Beziehung zwischen Schauspieler sowie Schauspielerinnen und Zuschauer sowie Zuschauerinnen sorgt. Rancière spricht am Schluss des Zitats das Theater Artauds und Brechts (im Anschluss an Erwin Piscator) an. Ein Theater, das alles andere möchte als ein passives Publikum. So beschreibt unter anderem Antonin Artaud die Notwendigkeit, Theaterinszenierungen wie zufällige Begebenheiten betrachten zu müssen. »Für uns muß das Schauspiel, dem wir beiwohnen, einmalig sein, es muß uns den Eindruck vermitteln, daß es ebenso unvorhergesehen, ebenso außerstande ist, sich zu wiederholen, wie irgendein Akt des Lebens, irgendein von den Umständen verursachtes Ereignis« (Artaud 1983: 17). Dies zeigt das von ihm mitgegründete Alfred-Jarry-Theater, das in seinen Schriften zu verstehen gibt, dass einzelne Aufführungen – auch wenn es sich um dieselbe Inszenierung handelt – nicht miteinander zu vergleichen sind. Verschiedene Vorstellungen der gleichen Produktion erscheinen immer wieder in einem anderen Licht, da die Schauspielenden nicht etwas vorzugeben versuchen, demnach nicht schauspielern, sondern das Geschehen selbst sprechen lassen (vgl. Artaud 2000: 9). Ein Leitspruch des Alfred-Jarry-Theaters ist, »[…] das auszudrücken, was das Leben vergißt, verbirgt oder nicht imstande ist, zum Ausdruck zu bringen« (Artaud 2000: 18). Man kann das vorangegangene aus-
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führliche Zitat aus dem Bereich des Theaters auch als Analogie zu Rancières ›Proletarier‹ lesen. Er selbst warnt in seinem Buch Die Nacht der Proletarier davor, den Titel als Metapher zu lesen (vgl. Rancière 2013b: 7). Es geht ihm um die Arbeiten, die die Proletarierinnen und Proletarier nachtsüber vollziehen, da sie während des Tages weder Zeit noch Möglichkeit dafür haben. Die Arbeit, die sie in der Nacht verrichten, wird durch bewegte beziehungsweise aktive Körper vollbracht. Tagsüber sind ihre Körper passiv, durch Anleitung gezwungen Strukturen zu bedienen. Daraus können sie sich in der Nacht befreien und selbständig sein. »Rancière versuchte zu rekonstruieren, wie diese Formen sich zu den etablierten Formen der Zeit verhielten und welche der entdeckten Formen dazu angetan waren, herrschende Darstellungsformen des politischen Willens zu unterlaufen beziehungsweise sich ihnen entgegenzustellen.« (Klass 2016: 41) Der zweite Verweis Rancières gilt Bertold Brechts epischem Theater. Zur Auflösung der aktiven und passiven Raumteilung im Theater passt zum Beispiel das Theaterstück Der gute Mensch von Sezuan, das mit der aristotelischen Einheit von Zeit, Ort und Handlung bricht. Im Stück wird eine Geschichte ohne Ende erzählt, sodass die Zuschauenden diese Leistung selbst erbringen müssen. Für Brecht war nicht die Lösung eines Konflikts von Bedeutung, hier zum Beispiel wie ein Mensch unter schwersten Bedingungen gut bleiben kann, sondern die Konfrontation mit dieser Frage. Ein weiteres Beispiel, das die Dichotomie von aktiv und passiv egalisiert, sind die zusammenhängenden Schulopern Der Jasager und Der Neinsager. Denn hier spielen in der ersten Szene ein Teil der Schülerinnen und Schüler, während der Rest zusieht, wie eine Figur sich freiwillig opfert, um anderen erkrankten Menschen im Dorf zu helfen. In der zweiten Szene, dem Stück Der Neinsager verweigert die Figur sich zu opfern und die vorher noch gewesenen Zuschauer und Zuschauerinnen spielen nun den in der ersten Szene gewesenen Schauspielerinnen und Schauspieler eine Alternative der gleichen Geschichte vor. Die Grenze zwischen Schauspielenden und Zuschauenden wird hier verwischt und im Stück selbst auch thematisiert. Schlussendlich soll im Auditorium der Wunsch entstehen, die Welt verändern zu wollen. Brecht zielt auf einen Zuschauer beziehungsweise auf eine Zuschauerin ab, der oder die, »die Welt nicht mehr nur hinnimmt, sondern sie meistert. Das Theater versucht nicht mehr, ihn besoffen zu machen, ihn mit Illusionen auszustatten,
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ihn die Welt vergessen zu machen, ihn mit seinem Schicksal auszusöhnen. Das Theater legt ihm nunmehr die Welt vor zum Zugriff.« (Brecht 2003: 640) Das Vorführen, dass die Welt veränderbar ist, ist auch für Rancière enorm wichtig. Dennoch spricht sich Rancière gegen das Theater von Brecht aus. Ein solches Theater sei anti-emanzipatorisch, da es vorführe, wie es gehen müsste. Die Kunstschaffenden scheinen in Besitz eines Wissens zu sein, das dem Publikum fehle. Dadurch wird ein Verhältnis aufgebaut, das Aktivität und Passivität trennt und somit eine Hierarchisierung von Wissen aufbaut (vgl. Kleesattel 2016: 180).
4.4.2.
Kunst, Dissens und Gleichheit
Bei Rancière geht es dabei immer um ein Eingreifen in das vorhandene ästhetische Regime. Dies gilt für Kunst genauso wie für populäre Kultur. Soll sie politisch sein, muss sie die aktuelle Ordnung des politischen und alltäglichen Lebens angreifen, stören und durcheinanderbringen, indem die Kunst mit einer neuen Ordnung konfrontiert wird. Dick Hebdige hat diesen Umstand für die Subkultur mit Lärm bezeichnet. Es gehe nicht darum, mit anderen einzustimmen, sondern darum einen Missklang zu erzeugen, der die ordnungsgemäße Reihenfolge in Frage stellt, indem er sie umwirft (vgl. Hebdige 1999: 279). Maria Muhle reicht der Lärm nicht aus, da dieser in eine verständliche Rede gebracht werden muss, um gehört und verstanden zu werden (vgl. Muhle 2008: 9). Gehört zu werden und verstanden zu werden sind bei Rancière wesentliche Ereignisse. Aus seiner Sicht bestimmt eine Ästhetik über die Gleichgültigkeit: über die Qualität der Teilhabe oder Partizipation. Um die politische Dimension messen beziehungsweise benennen zu können, bringt Rancière den Begriff des Dissens ins Spiel. Während eine polizeiliche Handlung darin besteht, die Ordnung, wie sie besteht, beizubehalten und alle anderen auch dazu auffordert, diese Ordnung zu reproduzieren, ist die Politik des Dissens darauf hin ausgerichtet, diese Ordnung zu stören. »Dissens ist nicht die Konfrontation der Interessen oder Meinungen. Er ist die Demonstration eines Abstands des Sinnlichen zu sich selbst. Die politische Demonstration bringt zu Gesicht, was keine Gründe hatte, gesehen zu werden […]« (Rancière 2008b: 35; Herv. i. O.). Es geht beim Dissens also nicht um die Artikulation einer abweichenden Meinung oder Einstellung, sondern um eine wesentliche Erschütterung des Status Quo. Ein Dissens verleiht Unaus-
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gesprochenem ein Gewicht, sodass das Bekannte und Ausgesprochene neu gedacht werden muss. Es ist also wichtig, dass Dissens nicht vordergründig als Antonym zu Konsens gesehen wird. Einen Konsens erreichen zu können, kann sich zwar positiv auf das Leben einzelner Menschen auswirken, jedoch darf man nicht glauben, dass dadurch Ungleichheiten bereinigt werden. Nora Sternfeld erinnert uns, dass Gleichheit immer eine Illusion kreiert und die Grundbedingung für soziale Ungleichheit ist (vgl. Sternfeld 2009: 33). Gleichheit durch einen Konsens hervorgerufen, bedeutet hier die Instandhaltung einer Ordnung, die einzelne Menschen in ihren Handlungsräumen eingrenzen beziehungsweise Anteillose erzeugt. »Die Gleichheit ist kein Ziel, das man erreicht, sondern ein Ausgangspunkt, eine Annahme, die es gilt, unter allen Umständen aufrechtzuerhalten. Niemals würde die Wahrheit für sie sprechen« (Rancière 2018: 160; Herv. i. O.). Deshalb ist der Dissens hier so wichtig. Er bedeutet nicht nur eine konfliktreiche Auseinandersetzung mit verschiedenen Problemen, sondern die Konfrontation mit einer neuen Ordnung. Dies ist der Moment, in dem laut Rancière Politik entsteht. »Das Wesentliche der Politik liegt in den auf Dissens beruhenden Subjektivierungsweisen, welche die Differenz der Gesellschaft zu sich selbst bekunden« (Rancière 2008b: 45). Der Konsens gleicht im Gegensatz dazu alle Unstimmigkeiten an und reduziert die Politik auf die Arbeit der Polizei. Politik an sich kommt damit zu einem Ende und ein normativer Zustand wird laufend hergestellt. Politische Kunst muss eben diese normative Ordnung angreifen. Dabei kritisiert Rancière das Vorgehen im epischen Theater Brechts. Dieser versuche zwar durch die Verfremdung der Zuschauenden von dem erzählten Ereignis ein kritisches Verständnis von den handelnden Personen zu bilden, jedoch ist dies noch lange keine Garantie, dass Kritik vom Auditorium letztendlich auch formuliert wird. Die Politik der Kunst resultiere aus der Verflechtung von drei Logiken; der Logik der Formen der ästhetischen Erfahrung, der Logik der Arbeit der Fiktion und der Logik der metapolitischen Strategien. Alle drei Logiken sind in drei Formen der Wirksamkeit verflochten. Sie sind jedoch keine Zeitalter der Menschheit und sie können koexistieren (vgl. Rancière 2014: 181): • • •
Die repräsentative Logik, die durch Repräsentation Wirkungen hervorrufen möchte. Die ästhetische Logik, die inklusiv ist, da sie sich der Wiederverwertung und Neuinterpretation bedient. Die ethische Logik, die die Formen von Kunst und Politik verschmelzen lässt.
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Letzteres soll im Staat Platons aufgehen. Ethik ist hier ein dialogisches Grundprinzip innerhalb einer Gemeinschaft, das ein gerechtes Zusammenleben ermöglicht. Platon geht es darum, »die politische Gemeinschaft der idealen Polis zum Leben zu erwecken« (Appiano 2015: 55). Die Logik des Repräsentativen ist von bestimmten Regeln geprägt und dadurch auch sehr oft sichtbar. Die ästhetische Logik wirkt dem entgegen, indem sie das Regime der Repräsentation herausfordert und neu zu bestimmen versucht (Ruda/Völker 2008: 101f.). Werner Wintersteiner betont in diesem Zusammenhang die Politik der Literatur, die nicht die politische Motivation der Schreibenden umfassen soll, sondern »das bereits implizit Politische des literarischen Schreibens« (2013: 417). Das epische Theater spielt vor, wieso sich das Publikum in einer gewissen Freiheit fühlt und dekonstruiert dadurch die individuelle Freiheit. Auch wenn dieses Spiel gleichzeitig thematisiert wird, damit keine affektiven Beziehungen aufgrund der Aufführung entstehen können, besteht keine Garantie auf ein kritisches Hinterfragen der eingrenzenden Machtstrukturen. Die Verfremdung regt das Auditorium zum Nachdenken an. »Aber es besteht kein Grund, dass der Zusammenprall von zwei Welten der Sensorialität das Verstehen der Ursachen bewirkt, noch, dass dieses Verstehen die Entscheidung zur Weltveränderung hervorruft« (Rancière 2009: 80f). Im gleichen Ausmaß kritisiert Rancière auch Bourriauds Ansatz der relationalen Ästhetik. Denn diese thematisiert die Entstehung von Beziehungen innerhalb von Kunstprojekten sowie sich selbst: »Contemporary art is definitely developing a political project when it endeavours to move into the relational realm by turning it into an issue« (Bourriaud 2002a: 17). Laut Rancières politischem Verständnis ist es nicht genug sich selbst zu thematisieren und über ästhetische Beziehungen Raum für kritische Reflexion zu schaffen. Für ihn scheint relationale Kunst aus reinem Selbstzweck praktiziert zu werden. »Man nimmt an, dass die Kunst uns empört, wenn sie uns empörende Dinge zeigt, dass sie uns mobilisiert, wenn sie das Atelier oder das Museum verlässt, und uns in Gegner des herrschenden Systems verwandelt, wenn sie sich selbst als Element des Systems verleugnet. Man setzt den Übergang von der Ursache zur Wirkung, von der Absicht zum Ergebnis immer als offensichtlich voraus, wenn nicht, dann ist der Künstler ungeschickt oder der Rezipient verstockt.« (Rancière 2009: 64) Bourriauds Betonung, dass relationale Kunst immer politisch sei, nehme also schon das Ergebnis vorweg. Ein Ergebnis, dass man insbesondere dann
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nicht vorhersagen kann, wenn die Partizipation und das unvorhergesehene Verhalten der Besucherinnen und Besucher einen großen Stellenwert haben soll. Dass dann Kunst politisch sein soll, ist vorab schon nicht mehr möglich, da politische Kunst keinen Konsens herstellen darf, sondern diesen dekonstruieren muss. »Genau so verstehe ich auch die Politik der Kunst, nämlich als Konstruktion sinnlicher Landschaften und als Herausbildung von Sichtweisen, die den Konsens dekonstruieren und zugleich neue Möglichkeiten und Fähigkeiten schaffen. Der traditionelle Irrtum über die Politik der Kunst bestand darin, eine implizite Zielgerichtetheit vorauszusetzen, die aus dieser Neugestaltung der sinnlichen Landschaft ein bloßes Instrument machte, die aktivistischen Energien und Strategien zur Verfügung stünden.« (Rancière 2012: 184; Herv. i. O.) Es geht also nicht darum, bei einer aktivistischen Aktion den Teilnehmenden zu verraten an was sie teilnehmen und was dabei das Ziel ist, sondern im Gegenteil eine Verstörung zu verursachen. Im Vordergrund stehen alternative Fähigkeiten, die man sonst außer Acht lässt und die erst einen Dialog möglich machen, der auf neue Möglichkeiten von Sichtweisen hinweist.
4.4.3.
Die Aufteilung des Sinnlichen
Vieles, was hier angesprochen wurde, nimmt in Rancières Der unwissende Lehrmeister seinen Beginn und wird in Das Unvernehmen theoretisch erstmals erfasst und explizit ausgeführt. Mit der Phrase, die Aufteilung des Sinnlichen betont Rancière, dass Politik eine ästhetische Dimension hat. Für Davis ist diese Aufteilung das Schlüsselkonzept zu Rancières Denken (vgl. Davis 2014: 141). Hier gelangen wir wieder zu den Anteillosen, die, egal ob sie versuchen ihre Beschwerden und Bedenken zu äußern, im sozio-politischen Raum keine Menschen finden, die ihnen Raum und Zeit geben, auf die Inhalte einzugehen. Die Anteillosen sind weder unsichtbar noch unhörbar, man weiß, »um wen es sich handelt« (Rancière 2002: 47; Herv. i. O.). Die Inhalte der Anteillosen werden als Lärm wahrgenommen, jedoch wird ihnen wie früher den Sklaven eine Sprache, in der sie gehört werden, untersagt. So fasst Rancière sein Konzept selbst zusammen: »›Aufteilung des Sinnlichen‹ nenne ich jenes System sinnlicher Evidenzen, das zugleich die Existenz eines Gemeinsamen aufzeigt wie auch die Un-
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terteilungen, durch die innerhalb dieses Gemeinsamen die jeweiligen Orte und Anteile bestimmt werden. Eine Aufteilung des Sinnlichen legt sowohl ein Gemeinsames, das geteilt wird, fest als auch Teile, die exklusiv bleiben. Diese Verteilung der Anteile und Orte beruht auf einer Aufteilung der Räume, Zeiten und Tätigkeiten, die die Art und Weise bestimmt, wie ein Gemeinsames sich der Teilhabe öffnet, und wie die einen und die anderen daran teilhaben.« (Rancière 2008a: 25f) Dieses Zitat kann an einem älteren Beispiel Rancières veranschaulicht werden. In Die Nacht der Proletarier (1981) werden Strategien der Entsubjektivierung von arbeitenden Proletariern diskutiert. Hier betont Rancière, dass auch die Arbeiterinnen und Arbeiter zu widerständigem Verhalten oder Störungen der symbolischen Ordnung fähig sind. So stellt Rancière den Schreiner LouisGabriel Gauny vor, der als Arbeiter im völligen Bewusstsein seiner Rolle, seine Arbeit verrichtet. »›Der Arbeiter gibt der Gewohnheit nach und lenkt dank der Solidarität seine Geschicklichkeit gewissenhaft auf die gute Herstellung des Werkstücks. Während er einen Augenblick der intimen Befriedigung einer nützlichen Arbeit nachgibt, vergisst er seine Umgebung, seine Arme arbeiten, ein Detail des Berufs wird gut abgeschlossen, und in der Erledigung seiner Arbeit ist eine Stunde vergangen.‹« (Rancière 2013b: 79) Während der Verrichtung der Arbeit vergisst Gauny in welcher Position er sich befindet. Die Herstellung des Werkstücks wird zum unmittelbaren Bestandteil einer Produktionsmaschine. Er oder das Subjekt, das ihn konstituiert, tritt in den Hintergrund und lässt ihn über sich regieren. Das Potential des politischen Handelns schrumpft dahin, da in dem Moment nur eines zählt: das Werkstück. Der Gedanke, in der Öffentlichkeit eine politische Stimme abzugeben, kann hier gar nicht entstehen, da weder Raum noch Zeit dafür eröffnet wird. Zudem kommt, dass nach der Arbeit der Körper so geschafft ist, dass die Freizeit für nichts Anderes außer als Ruhephase mehr genutzt werden kann, um sich wieder für die Arbeit vorzubereiten. Trotzdem blitzt hin und wieder ein Ungleichgewicht im Sinne eines Ungehorsams auf. Dieses scheint weder geplant noch bewusst ausgeübt zu werden. Plötzlich ist das Verlangen da, ein väterliches Lieblingslied zu summen und eine Schießerei nachzuahmen (vgl. Rancière 2013b: 80f). Was hier zu Tage tritt ist eine politische Ästhetik, weil sie die Ordnung stört. Auch wenn Gauny bei der Arbeit Zeit und Raum vergisst, gibt es Momente, in denen er nicht den Re-
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geln der Arbeit folgt und abweicht. Hier ist erkennbar was Michel Foucault in Was ist Kritik? formuliert hat, denn da beschreibt er Kritik als eine Kunst, »nicht dermaßen regiert zu werden« (Foucault 1992: 12). Wie Rancière auch am Beispiel von Gauny erklärt, gibt es kein außerhalb der Macht, sondern es geht um die Frage, wie die Strukturen der Macht benützt oder abgearbeitet werden. Das Summen eines Liedes und der abschweifende Blick führen zur Unterbrechung der Arbeit und sind der erste Schritt zum eigenständigen und widerständigen Denken. »Ästhetik ist weder eine allgemeine Kunsttheorie noch eine Theorie, die die Kunst durch ihre Wirkungen auf die Sinne definiert, sondern eine spezifische Ordnung des Identifizierens und Denkens von Kunst. Ästhetik ist eine Weise, in der sich Tätigkeitsformen, die Modi, in denen diese sichtbar werden, und die Arten, wie sich die Beziehung zwischen beiden denken lässt, artikulieren, was eine bestimmte Vorstellung von der Wirksamkeit des Denkens impliziert.« (Rancière 2008a: 23) Wenn zum Beispiel eine Statue eine Göttin darstellt, ist nicht sofort klar, ob diese Statue eine künstlerische Ausdrucksform einer bestimmten Motivation ist. Es gibt unterschiedliche Deutungsmuster, die die Statue zu dem machen, was sie in der Rezeption ist. Sie kann zur Kunst zählen oder nicht, wenn sie es aber tut, sind es unterschiedliche Deutungsregime, die sie zu dem werden lassen, was sie sein soll. So soll die Statue in einem Fall, ein Bild einer göttlichen Figur sein. In diesem Fall ist sie keine Kunst, da sie vielmehr als innere Wahrheit aufgefasst wird und den Riten und Praktiken einer bestimmten Menschengruppe entspricht. In diesem Zusammenhang können nur Fragen beantwortet werden, die Fakten abzufragen versuchen. Diese Statue steht für keine eigentliche Kunst, sondern ausnahmslos für konkrete Bilder. Deshalb schlägt Rancière hier vor, dieses Regime, das ethische Regime der Bilder zu nennen. Ein anderes Regime, ein Regime der Identifizierung nennt er das repräsentative Regime der Künste. Die Statue wird hier zu einer Darstellung, die die Imagination von einer bestimmten Figur mit dem Aussehen der Statue verbindet und dadurch eine Repräsentation von etwas erschafft. Ein weiteres Regime, das Rancière nennt, ist das ästhetische Regime. Kennzeichnend für dieses Regime ist ein bestimmtes Sensorium, das dazu befähigt, Kunst zu sein. Es geht nicht um die Herstellungsweisen, sondern um die »Unterscheidung von Seinsweisen. Das bedeutet ›ästhetisch‹: Die Kunst ist nicht mehr durch Kriterien technischer Perfektion gegeben, sondern durch die Zuweisung zu einer
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bestimmten Form des sinnlichen Erfassungsvermögens« (Rancière 2016: 37). Rancière verbindet letzteres mit Friedrich Schillers Text Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in dem dieser Kants Ästhetik auf die Französische Revolution überträgt. Nach Schiller ist es gerade das Spielen, also der kreative Umgang mit unserer Umwelt, das uns erst zum Menschen werden lässt. »Der Spieltrieb also, als in welchem beide [der sinnliche und der vernünftige Trieb; A. H.] verbunden wirken, wird das Gemüt zugleich moralisch und physisch nötigen: Er wird also, weil er alle Zufälligkeit aufhebt, auch alle Nötigung aufheben und den Menschen sowohl physisch als moralisch in Freiheit setzen.« (Schiller 2009: 58f) Die von ihm aus bezeichnete Nötigung geht auf den sinnlichen Trieb zurück. Ein Trieb, der den Menschen zugleich entfaltet und fesselt, da menschliche (Ausdrucks- und Empfindungs-)Formen immer in materiellen Grenzen existieren. Der dazu entgegengesetzte Formtrieb, soll den Menschen befreien. Das einzelne Subjekt mit all seinen sinnlichen Forderungen geht in ein (moralisches) Gesetz ein. »Wir sind bei dieser Operation nicht mehr in der Zeit, sondern die Zeit ist in uns mit ihrer ganzen nie endenden Reihe. Wir sind nicht mehr Individuen, sondern Gattung; das Urteil aller Geister ist durch das unsrige ausgesprochen, die Wahl aller Herzen ist repräsentiert durch unsre Tat.« (Schiller 2009: 51) Der Formtrieb möchte also selbst bestimmen, was hervorgebracht werden soll. Der sinnliche Trieb lässt sich bestimmen. Beide Triebe sind in ihrer ›reinen‹ Form sehr einseitig. Jedoch zeigen beide Seiten unterschiedliche Qualitäten und erklären die Bedeutung der rancièrschen Ästhetik, welche die Bedingungen der Herstellung sichtbar macht, sowie ihre Praktiken bestimmt und die Beziehung zwischen beiden artikuliert. Als Beispiel führt Schiller die Liebe an, die für die Verbindung des Formtriebes und sinnlichen Triebes stehen kann. »Wenn wir jemand mit Leidenschaft umfassen, der unsrer Verachtung würdig ist, so empfinden wir peinlich die Nötigung der Natur. Wenn wir gegen einen andern feindlich gesinnt sind, der uns Achtung abnötigt, so empfinden wir peinlich die Nötigung der Vernunft. Sobald er aber zugleich unsre Neigung interessiert und unsere Achtung sich erworben, so verschwindet sowohl der Zwang der Empfindung als der Zwang der Vernunft, und wir
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fangen an, ihn zu lieben, d.h., zugleich mit unsrer Neigung und mit unsrer Achtung zu spielen.« (Schiller 2009: 59) Hier ähnelt die Sprache Schillers sehr der von Deleuze und Guattari, wie wir in Kapitel 3.5 noch sehen werden, da er die Qualität des Spieltriebs als Aufhebung der Zeit beschreibt, in der das Werden mit einem absoluten Sein und die Veränderung mit Identität vermengt wird (vgl. Schiller 2009: 58). Kunst existiert weder nur um des Kunstwillens, wie uns l’art pour l’art vormachen möchte, noch um permanente Veränderungen herzustellen, sondern oszilliert in einem bestimmten Regime der Sichtbarkeit, das keine Garantien verspricht. In Rancières Worten: »Das Sinnliche bezeichnet bei mir nirgends eine bloße Gegebenheit der Sensation, die darauf wartet, unter einen Begriff gebracht zu werden. Es bezeichnet immer eine gewisse Form von Artikulation zwischen Sinn und Sinn: Das Wahrgenommene ist wahrgenommen im Ganzen einer Einteilung des Wahrnehmbaren, die dafür sorgt, dass es sichtbar (und nicht unsichtbar) ist, bedeutsam oder unbedeutend, dass es den Regimen der Erfahrung oder der Bedeutung zugeordnet wird usf. Um zu verstehen, was wahrgenommen wird, muss man immer nach dem Sinn fragen, der dem Wahrgenommenen gegeben werden kann und nach der Verteilung der Fähigkeit, diese Verbindung herzustellen.« (Rancière/Klass 2016: 49)
4.5.
Die abstrakte Maschine »Handelt es sich um eine Maschine? Die Frage ist nicht einfach zu beantworten, aber richtiggestellt. Keinesfalls sollte sie lauten: Was ist eine Maschine? oder gar: Wer ist eine Maschine? nicht um das Wesen, sondern um das Ereignis, nicht um das ist, sondern um das und handelt es sich, um die Verkettungen und Anschlüsse, die Zusammensetzungen und Bewegungen, die eine Maschine bestimmen.« Gerald Raunig 2008: 17f
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»Eines Tages wird das Jahrhundert vielleicht deleuzianisch sein«, schreibt Michel Foucault (1977: 129) in einer Rezension zu Deleuzes Büchern Differenz und Wiederholung (1993a) sowie Die Logik des Sinns (1993b). Beide Bücher, die er zu seiner Promotion einreichte, versuchen zum Teil die Umstände des Pariser Mais 1968 zu ergründen. 1969 trat Deleuze die Stelle an der Universität Paris VIII an, an der auch Michel Foucault und Félix Guattari arbeiteten. Über Foucault schreibt er später, dass dieser einen »diabolischen Humor« (Deleuze 1993c: 129) habe und für ihn als »Philosoph, der am vollkommensten Philosoph des 20. Jahrhunderts ist, gewiss der einzige« (Deleuze 1993c: 153) gelte. Für Olaf Sanders (2004: 134) ist es bemerkenswert, dass Deleuzes Foucault-buch (1992) im Kontext der letzten Monographie Leibnitz von Deleuze, Foucault nahezu wie ein ›barocker Denker‹ erscheine. Mit Félix Guattari verfasste Deleuze in weiterer Folge, wahrscheinlich neben Differenz und Wiederholung, seine Hauptwerke Anti-Ödipus (1972) und Tausend Plateaus (1980). Während anfangs meist, auch wenn die mit Guattari verfassten Texte diskutiert wurden, ausschließlich von Deleuze gesprochen wurde, hat man den Anteil Guattaris dabei nicht vergessen, aber immer mitgemeint. Es ist nicht möglich, die Gedanken der beiden jeweils in den Büchern getrennt auszumachen. Ronald Bogue spricht hier von einem einzigen Textkörper, der die Bücher zusammenfasst, die sowohl Deleuze allein als auch in Kollaboration mit Guattari verfasst hat (vgl. Bogue 2003: 9). Als im Jahr 2007 die Zeitschrift Deleuze Studies beim Verlag Edinburgh University Press gegründet wurde, hat man Guattari ebenso mitgemeint. Im selben Jahr wurde auch das erste Deleuze Camp organisiert. 2008 wurde die erste Deleuze Studies Conference realisiert, die seitdem zeitlich dem Camp folgt. Seit 2018 wird jedoch die Zeitschrift, aber auch das Camp sowie die Konferenz nach beiden Denkern benannt: Deleuze and Guattari Studies beziehungsweise Deleuze and Guattari Conference oder Camp. Félix Guattari wird also nicht mehr ›nur‹ mitgemeint, sondern explizit erwähnt. Somit wird man nicht nur dem Philosophen, sondern auch dem Psychiater und Psychoanalytiker sowie Aktivisten Guattari gerecht. Das Denken nach Deleuze und Guattari bezeichnet Éric Alliez als »Deleuzo-Guattarian adventure« (Alliez 2011: 260). Ein Abenteuer, das das Problem verspricht, die verwendeten Begriffe durch die Transformation auf den hier liegenden Untersuchungsgegenstand zu reduzieren, ja sogar zu verfälschen. Gregory Seigworth schreibt, dass gegen Stuart Halls Erwartung, Cultural Studies auf zwei Paradigmen beruhen (vgl. Hall 1999), dass nicht noch ein Paradigma (ev. des Poststrukturalismus) hinzugefügt werden muss,
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sondern im Sinne Deleuzes eher ein Paradigma subtrahiert werden kann (vgl. Seigworth 2006: 109). Deleuze selbst habe sich als ein ›empiricist‹ betitelt: Ein solcher ist »always experiencing, experimenting, not interpreting but experimenting, and what we experience, experiment with, is always actuality; what’s coming into being, what’s new, what’s taking shape« (1995: 106). Ein einzelner Begriff aus den Texten Deleuzes und Guattaris geht immer mit mehreren Begriffen einher und kann daher falsch verknüpft werden (vgl. Sturm 2011: 15). Deshalb sollen in diesem Zusammenhang nur Bezüge zur Kunst hergestellt werden, die in den verschiedenen Texten auftauchen. So werden in den nächsten Abschnitten drei Begriffe vorgestellt, die grundsätzlich im Denken von Deleuze und Guattari immer wieder, nicht nur in gemeinsamen Zusammenhängen, sondern auch zum Thema Kunst genannt werden: Wunschmaschine, Ritornell und Territorium. Wichtig sind dabei Strategien, die mit den konventionellen Vorstellungen brechen und neue Möglichkeiten aufzeigen (vgl. Alliez 2011: 271). Also eine Anregung für den Möglichkeitssinn, der sich im Sinne des Schriftstellers Robert Musils als Fähigkeit definieren ließe, »alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist« (Musil 1978: 16). In dieser musilschen Definition kann man auch erkennen, dass das Verlangen nach alternativen Möglichkeiten keinen Mangel beschreibt, sondern eine Fähigkeit zu denken was nicht ist. Sowohl bei Deleuze und Guattari als auch bei Rancière findet sich dieser Gedanke des Möglichkeitsinns konkret wieder. Bei Rancière heißt es: »Die Bilder der Kunst liefern nicht Bilder für den Kampf. Sie tragen dazu bei, neue Gestaltungen des Sichtbaren, des Sagbaren und des Denkbaren zu entwerfen, und eben dadurch eine neue Landschaft des Möglichen« (Rancière 2009: 121). Deleuze und Guattari betonen insbesondere das Potential des Möglichen. »Diese Welten [der Kunst; A. H.] sind weder virtuell noch aktuell, sie sind möglich, das Mögliche als ästhetische Kategorie (›etwas Mögliches, sonst ersticke ich‹), die Existenz des Möglichen, während die Ereignisse die Wirklichkeit des Virtuellen sind, Formen eines Natur-Denkens, die alle möglichen Welten überfliegen.« (Deleuze/Guattari 2000: 210) Wie und dass etwas möglich ist, ist Inhalt des Konzepts des Virtuellen. Dabei soll aber nicht das Mögliche thematisiert werden, da das Mögliche auf etwas verweist, das nicht real ist und auch nicht real sein muss. Vielmehr bezeichnet das Virtuelle ein Potential, also etwas, das jederzeit möglich werden kann.
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»The concept of the virtual problematizes common-sense notions of imagining what is possible as being based on the actual world, on something that has been actualized, such as, for example, the image of the ›modern man‹. Modern man then becomes the basis for thinking about possibilities and differences of human life, thereby being blind to see other not-actualized potentials for becoming as something that is quite different from the actualized world.« (Hipfl 2018: 8) Für Ian Buchanan ist Deleuzes Begriff ›agencement‹, übersetzt als Gefüge oder Wunschmaschine,6 der beste, um über Utopien nachzudenken, da darin nicht den aktualisierten Gegebenheiten unserer Umwelt nachgegangen wird, sondern ein völlig neues Denken außerhalb von dem uns Bekannten gefördert werden soll. Dabei geht es weder um originelle Gedanken noch um einen besonderen Inhalt. Es geht eher um eine neue Art und Weise des Denkens, wie Deleuze und Guattari zum Beispiel das Konzept des Nomadentums neu geprägt und adaptiert haben. Im Kontext des Utopischen ist das Konzept ›agencement‹ hervorzuheben. Ein Konzept, das Buchanan in Bachtins Verwendung der Polyphonie oder Dialogizität vorhanden findet, der wiederum diese in den literarischen Texten Dostoyevskys ausmacht (vgl. Buchanan 2000: 117f.). Zwar nehmen Deleuze und Guattari weder auf Musil noch Dostoyevsky Bezug, aber unter anderem auf Marcel Proust und Franz Kafka. In ihrem 6
Das Konzept der Wunschmaschine wird im Buch Anti-Ödipus entwickelt. Später wird das Konzept wieder unter einen neuen Begriff, nämlich dem des Gefüges [agencement] wiederaufgenommen (vgl. Deleuze 2005b: 169). Die Übersetzung Gefüge wird unter anderem vom Herausgeber Günther Rösch und der Übersetzerin Gabriele Ricke und dem Übersetzer Ronald Voullié (vgl. Deleuze/Guattari 1997: 12) verwendet. Die Übersetzung von ›agencement‹ – wofür nach Deleuze und Guattari Wunschmaschinen Beispiele sind – aus dem Französischen ist meistens ›assemblage‹. Weder Deleuze noch Guattari verwendet diesen Begriff ausgiebig, schon gar nicht im Sinne eines Gefüges. Der Gebrauch des englischsprachigen Wortes geht auf die englischsprachige Übersetzung Brian Massumis zurück. Für Ian Buchanan ist die Übersetzung unglücklich gewählt und würde im Englischen lieber ›arrangement‹ verwenden. Er erinnert auch daran, dass das Wort eine Übersetzung oder besser eine Neukomposition des deutschsprachigen Wortes ›Komplex‹ ist, das sich auf Sigmund Freuds Ödipuskomplex oder Kastrationskomplex bezieht (vgl. 2015: 383). Den Begriff ›agencement‹ alleine zu definieren ist schwierig, da das ihm innewohnende Konzept erst in Verbindung mit anderen Konzepten verständlich wird. ›Agencement‹ meint im Grunde bestimmte Verbindungen mit anderen Konzepten, wobei es um die Zusammenstellung dieser Verbindungen geht: die Verknüpfung bestimmter Sachverhalte und die Beschreibungen bzw. Wahrnehmungen, die daraus schöpfen (vgl. Phillips 2006: 108).
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Buch über Kafka gehen sie zum Beispiel auf ungeformte Klangmöglichkeiten in verschiedenen seiner Texte ein und zeigen anhand des Beispiels Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse, dass ein Gesang, der nicht einer bestimmten Form folgt, wie in etwa einer Tonleiter, zum einen eine Befreiung aus den vorgegebenen Strukturen andeutet und zum anderen auf etwas Neues hinweist. Insbesondere in diesem Zusammenhang verweisen sie auf die Maschine bei Kafka. »Eine Maschine bei Kafka besteht also aus unterschiedlich streng formalisierten Inhalts- und Ausdrucksformen und aus ungeformten Rohstoffen, die in sie eingehen, aus ihr herauskommen und alle Maschinenzustände durchlaufen« (Deleuze/Guattari 1976: 13). Josefine, die als Sängerin eingeführt wird, ist plötzlich gar keine Sängerin mehr, sondern pfeift nur noch mehr. Doch handelt es sich bei ihr um kein gewöhnliches Pfeifen. Einerseits ist das Pfeifen weit entfernt vom Gesang und somit sofort erkennbar. Andererseits ist es durch seine gewöhnliche Darbietung wiederum so ungewöhnlich, dass Josefine auffällt. »Stellt man sich recht weit von ihr hin und horcht, oder noch besser, läßt man sich in dieser Hinsicht prüfen, singt also Josefine etwa unter andern Stimmen und setzt man sich die Aufgabe, ihre Stimme zu erkennen, dann wird man unweigerlich nichts anderes heraushören, als ein gewöhnliches, höchstens durch Zartheit oder Schwäche ein wenig auffallendes Pfeifen. Aber steht man vor ihr, ist es doch nicht nur ein Pfeifen; es ist zum Verständnis ihrer Kunst notwendig, sie nicht nur zu hören, sondern auch zu sehn. Selbst wenn es nur unser tagtägliches Pfeifen wäre, so besteht hier doch schon zunächst die Sonderbarkeit, daß jemand sich feierlich hinstellt, um nichts anderes als das übliche zu tun.« (Kafka 1995: 260) Für Deleuze und Guattari bezeichnet Josefines Pfeifen einen Wunsch, mehrere Affekte oder einen Prozess. Damit verbunden ist auch ein Immanenzfeld oder ein organloser Körper, »der sich nur durch Intensitätszonen, Schwellen, Gradienten, Ströme definiert« (Deleuze 2005a: 124). Dieser organlose Körper definiert sich mittels eines stetigen Prozesses der Entsubjektivierung: »Als eine sich stets in Bewegung befindliche Grenze ist er weder a priori gegeben, noch lässt er sich jemals vollenden« (Rauter-Nestler 2015: 149). Die Beziehung zum eigenen Ich oder dem Subjekt wird laufend neu hergestellt und laufend verhandelt. Deleuze und Guattari sprechen sich, wenn es um die Funktion ihrer Autorenschaft geht, gegen die Zuweisung zu ihren Subjekten aus.
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»Ein Buch hat weder ein Objekt noch ein Subjekt, es besteht aus verschieden geformten Materien, aus den unterschiedlichsten Daten und Geschwindigkeiten. Wenn man das Buch einem Subjekt zuschreibt, läßt man diese Arbeit der Materien und die Äußerlichkeit ihrer Beziehung außer acht.« (Deleuze/Guattari 1997: 12)7 Beide verschwinden im Buch, das zu einer Wunschmaschine beziehungsweise einem Gefüge [agencement] ihrer Vielfalt wurde und »Fluchtlinien, Bewegungen, die die Territorialisierung und Schichtung auflösen« anbieten soll (vgl. ebenda).
4.5.1.
über Wunschmaschinen
Der Entwicklung der Wunschmaschinen geht eine Kritik an der Psychoanalyse voran. In Anti-Ödipus erklären Deleuze und Guattari die produktive Kraft der Wünsche und stellen ihre These gegen den an den Mangel orientierten ödipalen Komplex. Der von Freud geschaffene Ödipus-Komplex definiert die Subjektpositionen des Kindes, der Mutter und des Vaters, sodass diese nicht aus ihren Rollen befreit werden, sondern noch zusätzlich unterdrückt werden. »[…] statt an der wirklichen Befreiung mitzuwirken, ist die Psychoanalyse Teil jenes allgemeinen bürgerlichen Werkes der Repression, das darin besteht, die europäische Menschheit unter dem Joch von Papa-Mama zu belassen und nie mit diesem Problem zu brechen.« (Deleuze/Guattari 2014: 63; Herv. i. O.) Mit Wunschmaschinen entwickeln Deleuze und Guattari ein Konzept, das die Positionen der Subjekte nicht im Vorhinein definiert und damit festschreibt. Wunschmaschinen produzieren nomadische Positionen, die eine Vielzahl an Möglichkeiten, potenziell unendlich viele Möglichkeiten schaffen. Damit geht die Schizo-Analyse einher, die unterschiedliche Subjektpositionen verbindet und sich der ödipal-kapitalistischen Definition des Subjektes entzieht. Durch die Einschnitte der Wunschmaschinen werden Subjekte geteilt und dadurch vermehrt. Die Auswahl der Subjektpositionen potenziert sich und erreicht potenziell unendlich Möglichkeiten. Die Wunschmaschine vollzieht einen Ein-
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Vgl. hierzu auch die Diskussion zur Frage der Handlungsmacht des Autors oder der Autorin über den Text in Kapitel 2.
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schnitt in andere Maschinen, während diese wiederum in die Wunschmaschine einschneiden (vgl. Nestler 2015a: 107, 2015b: 217). Der Begriff der Maschine soll dabei aber nicht dem Alltag entlehnt sein, denn hier können Maschinen in ihrer Vollständigkeit erkannt und ihre Funktionen verfolgt werden. Für Guattari muss der Begriff von der Faszination der Technik gelöst werden (vgl. Guattari 1995: 116) und neben technischen gleichzeitig die »biologischen, informatischen, sozialen, theoretischen und ästhetischen Aspekte« umfassen (Guattari 2014: 136). Die Maschinen, von denen er und Deleuze sprechen sowie schreiben, sind nicht auf Technik reduziert. Sie gehen darüber hinaus. Ebenso ist die Maschine keine Metapher. Der Begriff steht nicht für etwas, um dieses besser oder in einer anderen Art und Weise veranschaulichen zu können, sondern ist real. Etymologisch gesehen zeigt der Begriff ›Maschine‹, dass er vorerst nicht nur mit Technik verbunden war. So wurde der Begriff ›machina‹ erst beginnend im 13. Jahrhundert und nahezu zur Gänze im 17. Jahrhundert durch die französische Bedeutung ›machine‹ ersetzt. In diesen Zusammenhang hat sich nicht nur die Bedeutung einer überschaubaren Maschine durchgesetzt, die bis heute noch im alltäglichen Sprachgebrauch Verwendung findet. Ende des 19. und zur Gänze im 20. Jahrhundert hat sich der Begriff ›machina‹ wieder aktualisiert. Karl Marx schrieb im Fragment über Maschinen über die Verwandlung »des Arbeitsmittels vom einfachen Werkzeug in eine dem capital fixe entsprechende Form, also in technische Maschinen und ›Maschinerie‹« (Raunig 2008: 19). Maschinen sind nicht dafür vorgesehen primär den arbeitenden Menschen zu helfen, sondern einen Mehrwert zu produzieren. Marx beschreibt den Wandel von der Hand- zur Maschinenarbeit als die größte Transformation der Gesellschaft, die sich danach durch die Industrialisierung formte und organisierte. Hier formten sich die Arbeitermassen und die Industriellen: die Eigentümer der subjektiven Produktionsbedingungen (Arbeitskraft) und die Eigentümer der objektiven Produktionsbedingungen (Produktionsmittel), Proletariat und Bourgeoisie (vgl. Ettrich 2017: 40). Ein elementares Merkmal der Maschinenarbeit ist der damit verbundene Mehrwert oder die Mehrwertrate, der oder die den Grad der Ausbeutung der Arbeitenden ausgibt. Anders als beim Handwerk, wo der Arbeiter ein Werkzeug benützt, wird er in der Fabrik von der Maschine benützt. »Dort geht von ihm die Bewegung des Arbeitsmittels aus, dessen Bewegung er hier zu folgen hat. In der Manufaktur bilden die Arbeiter Glieder eines lebendigen Mechanismus. In der Fabrik existiert ein toter Mechanis-
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mus unabhängig von ihnen, und sie werden ihm als lebendige Anhängsel einverleibt.« (Marx/Engels 1972: 445) Die Arbeitenden werden zum Bestandteil der Maschine und ordnen sich ihr sozial unter. Der Hauptakteur des Produktionsprozesses ist nicht mehr der Arbeiter, sondern die Maschine. Vielmehr kann die menschliche Arbeit auf eine noch nicht integrierte Arbeit der Maschine reduziert werden, die nur mehr eine Stelle markiert, die die Maschine noch nicht zu Gänze erfasst hat (vgl. Guattari 1976: 129f). Die Arbeitszeit wird zunehmend weniger fremdbestimmt, sodass der Mehrwert erschwert zu bestimmen ist. »Das so genannte Wertgesetz (wonach der Wert einer Ware durch die darin verkörperte Arbeitszeit bestimmt ist), für Marx der Grundpfeiler der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse, wird durch die kapitalistische Entwicklung selbst untergraben und widerlegt.« (Virno 2004: 149) Nach Paolo Virno sei hier jedoch ein Missverständnis verborgen, dass Marx im sogenannten Maschinenfragment aufhebt. Es gehe nicht darum, dass die fehlende Arbeitszeit des Menschen den Wert nicht mehr bestimmen könne, sondern dass sich das Wissen und die Technik nicht ausschließlich der Maschine unterwerfen. »Die Verkettung von Wissen und Technik erschöpft sich nicht im fixen Kapital, sondern verweist auch über die technische Maschine, über das in ihr objektivierte Wissen und über die soziale Unterwerfung unter die Maschine hinaus: auf Formen der sozialen Kooperation und Kommunikation, nicht nur als maschinische Indienstnahme, sondern auch als Vermögen immaterieller Arbeit […].« (Raunig 2008: 23) Für Deleuze und Guattari kann die Dichotomie Mensch vs. Maschine nicht aufrechterhalten werden, da für sie die Maschine Produktion als elementaren treibenden Motor besitzt und dieser sowohl auf Menschen als auch Maschine anzuwenden ist. »Die Produktion als Prozeß übersteigt alle idealen Kategorien und stellt derart einen Kreis dar, dem der Wunsch immanentes Prinzip ist« (Deleuze/Guattari 2014: 10f). Wunschmaschinen sind nicht per se gut oder schlecht. Sie tauchen überall auf, wo es eine Form von Machtorganisation gibt. Unter allen Interessen, die von Menschen verfolgt werden, gibt es Wünsche, die sich nicht mit den Interessen der Gesellschaft kreuzen. Hier verortet Deleuze den Wahn. Wünsche verändern sich laufend und können auch die eigene Unterdrückung zum Inhalt haben (vgl. Deleuze 2003a: 382f). Die daraus
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resultierenden Wunschmaschinen haben nichts mit der marxschen Fabrikmaschine zu tun. Während die Maschine einer Fabrik teleologisch ausgerichtet ist und damit beim Menschen ein bestimmtes Subjekt erzeugt, zeichnet sich die deleuze-guattarische Maschine durch einen nicht endenden Prozess aus. Damit ist für Deleuze und Guattari weder der Mensch noch die Maschine oder der Staat, »sondern die Beziehung von Strömen und Einschnitten von Gefügen, in denen organische, technische und soziale Maschinen sich verketten« (Raunig 2008: 25f), von Bedeutung. Raunig weist aber auch darauf hin, dass auch der marxsche Maschinenbegriff nicht rein auf die technische Ausführung reduziert sei. Dieser bestehe aus sowohl mechanischen als auch intellektuellen Organen (vgl. Raunig 2008: 20f). Die Maschine wird also nicht auf ihre Arbeit beschränkt, denn sie verbindet Technik, Wissen, Intellekt und Soziales. Maschinen ermöglichen zum einen Unterwerfung und zum anderen Erneuerung und Widerstand. Für das Subjekt bedeutet hier ein maschineller Einschnitt die Produktion einer Vielheit. Es ist nicht vorhersehbar, wie die Maschine aussehen wird – sie verbindet sich in alle Richtungen und erfährt in jedem Moment ein neues Sein. Da dieser Zustand jedoch nicht andauert, da sich die Maschine durch ihre konstante Wandlung charakterisiert, ist sie selbst in einem ständigen werden. Das Werden als Begriff taucht bei Deleuze und Guattari öfters auf, weil es mit dem Subjektbegriff an sich korrespondiert. In ihrem Sinne ist man nicht ein Subjekt, sondern zugleich immer mehrere, wie sie auch am Beginn von Tausend Plateaus deutlich zu Ausdruck bringen, wenn sie über ihr Buch Anti-Ödipus schreiben: »Wir haben den AntiÖdipus zu zweit geschrieben. Da jeder von uns mehrere war, ergab das schon eine ganze Menge« (Deleuze/Guattari 1997: 12). Wie weit ein solches Spiel literarisch getrieben werden kann, zeigt das Beispiel Flann O’Briens, der als irischer Schriftsteller nicht nur eine Diversität von intertextuellen Textsorten erzeugt hat, sondern mit den Textsorten durch die Verwendung von Pseudonymen jeweils eigene Schreibidentitäten konstruiert hat und somit Dezentrierungen des Subjekts beziehungsweise Entsubjektivierungen literarisch vorführt (vgl. Hudelist 2017a: 123-126). Aber auch am Beispiel Kafkas Die Verwandlung kann an der »polymorph-unbestimmte[n] Beschaffenheit des Käferkörpers« (Öhlschläger 2001: 79) gezeigt werden, wie »die Identität verschwindet« (ebenda: 83). Für Deleuze und Guattari beschreibt die Verwandlung in den Käfer auch das ›Tier-Werden‹, wobei die Deterritorialisierung in der Erzählung letztendlich missglückt, da der Vater die Familie durch den Apfelwurf auf Gregor Samsa re-ödipalisiert und das Familiendreieck ›Papa-Mama-Ich‹ wie-
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derherstellt (vgl. Deleuze/Guattari 1976: 22). Der Ausbruch aus der ödipalen Trias gelingt also nicht, da Samsa schlussendlich sein vordefiniertes Ich, als dem Vater unterlegenes Kind, wieder annimmt und nur mehr auf seinen Tod wartet. Hier wurde die Wunschmaschine radikal gestoppt. Die diversen Verbindungen, die die verschiedenen Bindeglieder mit sich bringen, öffnen Wege in eine Vielheit von Strukturen. »Was Wunschmaschinen gerade definiert, ist ihr Vermögen zu unendlichen, allseits in alle Richtungen sich erstreckenden Konnexionen. Dadurch, mehrere Strukturen gleichzeitig durchdringend und beherrschend, sind die Maschinen« (Deleuze/Guattari: 1977: 503). Als ein weiteres Beispiel schreibt Deleuze über Pierre Bénichous Untersuchung über Masochisten, diese zeige masochistische Maschinen und skizziere anhand seiner Analyse eine Wunschmaschine (vgl. Deleuze 2003b: 353f).
4.5.2.
Das Ritornell und das Territorium von Kunst
Wenn ich vorhin auf den Möglichkeitssinn bei Robert Musil und bei Franz Kafka, in einer seiner letzten Erzählungen auf den Begriff der Maschine eingegangen bin, möchte ich insbesondere beim Kunstverständnis von Deleuze und Guattari Marcel Proust, dem als Schriftsteller nicht nur seitens Deleuze und Guattari ein Buch gewidmet wurde, sondern der immer wieder in ihren Aufsätzen zitiert wird, heranziehen. Insbesondere ihr Verhältnis zum Kunstverständnis kann der Beginn von In Swanns Welt erhellen: »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen. Manchmal fielen mir die Augen, wenn kaum die Kerze ausgelöscht war, so schnell zu, daß ich keine Zeit mehr hatte zu denken: ›Jetzt schlafe ich ein.‹ Und eine halbe Stunde später wachte ich über dem Gedanken auf, daß es nun Zeit sei, den Schlaf zu suchen; ich wollte das Buch fortlegen, das ich noch in den Händen zu haben glaubte und mein Licht ausblasen; im Schlafe hatte ich unaufhörlich über das Gelesene weiter nachgedacht, aber meine Überlegungen waren seltsame Wege gegangen; es kam mir so vor, als sei ich selbst, wovon das Buch handelte: eine Kirche, ein Quartett, die Rivalität zwischen Franz dem Ersten und Karls dem Fünften. Diese Vorstellung hielt zuweilen noch ein paar Sekunden nach meinem Erwachen an; meine Vernunft nahm kaum Anstoß an ihr, aber sie lag wie Schuppen auf meinen Augen und hinderte mich daran, Klarheit darüber zu gewinnen, daß das Licht nicht brannte.« (Proust 1997: 9)
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In diesem längeren Zitat des Buchbeginns scheint der Möglichkeitssinn auf, von dem bei Musil die Rede war. In der sinnlich wahrgenommenen Überlappung zwischen der Umgebung der Erzählfigur und der Gedanken beim Lesen erkennen wir auf den ersten Blick das sinnliche Werden, »durch den etwas oder jemand fortwährend anders-wird (und dabei bleibt, was er ist)« (Deleuze/Guattari 2000: 209). Die lesende Person bleibt im Bett und liest Seite für Seite. Dabei wandert sie von Gedanken zu Gedanken und erfährt ein kontinuierliches Anders-Werden. Die Person bleibt aber nicht nur in einem Schlaf oder Wachzustand, sondern wechselt darin, temporär, ohne in einem Zustand mit dem Bewusstsein verweilen zu können, dass es sich um den Traum- oder Wachzustand handelt. Daraus resultiert das begriffliche Werden, durch das das »Ereignis selbst dem, was ist, ausweicht. Dieses ist die in einer absoluten Form gefaßte Heterogenität, jenes die in einer Ausdrucksmaterie eingebundene Alterität« (Deleuze/Guattari 2000: 210). Die Fremderfahrung wird für die eigene Person lebendig und somit eine Erfahrung, die man auch selbst macht. Nicola Mitterer beschreibt die Fremderfahrung als zentrales Moment der Kunst, die ein gesellschaftliches Reservoir des Fremden beherbergt und dadurch in den Rezipientinnen und Rezipienten wirksam wird (vgl. Mitterer 2016: 271). Noch klarer wird dieses Ereignis in der berühmten ›MadeleineSzene‹, in der die Ich-Erzählerfigur durch die Einnahme einer Madeleine ein ungewöhnliches Ereignis widerfährt. »Sie ließ darauf eines jener dicken ovalen Sandtörtchen holen, die man ›Madeleine‹ nennt und die aussehen, als habe man als Form dafür die gefächerte Schale einer St.-Jakobs-Muschel benutzt. Gleich darauf führte ich, bedrückt durch den trüben Tag und die Aussicht auf den traurigen folgenden, einen Löffel Tee mit dem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen. In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt.« (Proust 1997: 63) Wenn die Kombination der Madeleine und des Tees den Gaumen berührt und somit auf der Zunge die Geschmacksvielfalt erfahren wird, tritt der Moment des Teetrinkens zurück und Erinnerungen beziehungsweise Assoziationsketten werden ausgelöst. Hier tritt die unmittelbare materielle Umgebung nach hinten und eine Vielheit des Werdens nach vorn. Die Bilder, die dabei entstehen sind in Bewegung und repräsentieren nichts.
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»Die Materie ist für uns ein Ensemble von ›Bildern‹. Und unter ›Bild‹ verstehen wir eine bestimmte Existenz, die mehr ist als was der Idealist Repräsentation nennt, aber weniger als was der Realist eine Sache nennt – eine Existenz, die auf halben Wege zwischen dem ›Ding‹ und der ›Repräsentation‹ liegt.« (Bergson 1991: 161) Mit dieser Definition von Materie setzt Bergson das Sein in Bewegung und unterläuft den Subjekt-Objekt-Dualismus (vgl. Sanders 2015a: 22). Bewegung bedeutet immer Veränderung. Und diese ist auf das Territorium zurückführbar, denn dadurch wird Veränderung erst überhaupt ermöglicht. Territorium bezeichnet immer Grund und Boden, also Erde. Im Gegensatz zum Begriff ›Terrain‹, welcher ebenso ein Gebiet oder Gelände im Sinne von Baugelände und Grundstück bezeichnet, meint Territorium auch einen Bezirk oder ein Gebiet, aber im Sinne von Hoheits- oder Staatsgebiet. Ein Territorium zeichnet sich also durch Grenzen aus und vermittelt ein Gefühl von Ordnung. Nach Deleuze und Guattari ist diese Ordnung nicht auf Grund und Boden beschränkt. Am Beispiel eines singenden Kindes erklären sie, wie ein Territorium entstehen kann. »Ein Kind, das im Dunklen Angst bekommt, beruhigt sich, indem es singt. Im Einklang mit seinem Lied geht es weiter oder bleibt stehen. Hat es sich verlaufen, versteckt es sich, so gut es geht, hinter dem Lied, oder versucht, sich recht und schlecht an seinem kleinen Lied zu orientieren. Dieses Lied ist so etwas wie der erste Ansatz für ein stabiles und ruhiges, für ein stabilisierendes und beruhigendes Zentrum mitten im Chaos. Es kann sein, daß das Kind springt, während es singt, daß es schneller oder langsamer läuft; aber das Lied selber ist bereits ein Sprung: es springt aus dem Chaos zu einem Beginn von Ordnung im Chaos, und es läuft auch jederzeit Gefahr zu zerfallen.« (Deleuze/Guattari 1997: 424) Hier erschafft sich das Kind losgelöst von der Erde ein Territorium durchs Singen. Das Lied gibt dem Kind Sicherheit in einer beängstigenden und unbekannten Umgebung. Die Vertrautheit des Gesangs, vielleicht, weil es ein dem Kind bekanntes Lied ist oder aber auch nur ein Summen, das vom Kind selbst kommt, beruhigt es dadurch performativ. Das Kind baut sein Territorium durch den Gesang auf, er bleibt jedoch nicht räumlich verhaftet, sondern wird vom Kind, so wie es sich bewegt, weitergetragen und damit verändert. Die territorialen Grenzen verändern sich stetig und orientieren sich an der Kindesbewegung. Inmitten des Chaos entsteht hier durch den Gesang ein
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Territorium, das durch seine Entstehung ordnet. Vom Kind bleibt nichts zurück (vgl. Sanders 2015b: 54 und Sturm 2011: 43). Der Gesang kommt einem Ritornell gleich, das aber nicht musikalisch gemeint ist, sondern stets mit der Bildung des Territoriums zusammenhängt. In der Musikgeschichte hat der Begriff je nach historischem Zeitabschnitt leicht voneinander abweichende Definitionen erfahren. Ritornell meint aber im Grunde eine Wiederkehr des gleichen Gesangs beziehungsweise des Rhythmus, der das Territorium gestaltet und markiert. Es bestimmt die Dauer und die Intensität der Beweglichkeit des Territoriums und unterscheidet sich von einem gängigen Rhythmus. Die Bewegung des Kindes allein oder der Klang des Gesangs sind zu wenig. Die fliegende Biene, die ihre variierenden Wege zu den Blumen unternimmt, unterscheidet sich nicht von einem dahinrollenden Stein: beide kreieren kein Territorium, denn dieses kommt nur durch das Ritornell zustande (vgl. Kleinherenbrink 2015: 215f). Elisabeth Grosz ist überzeugt, dass Kunst nur zustande kommen kann, wenn Rhythmus und Milieu zusammenfinden. Denn, wenn dadurch ein Ritornell ein Territorium bestimmt, »raw materials of art can erupt and the processes deterritorialization, which are the condition of art, can begin« (Grosz 2008: 48). Für sie ist die Bedingung von Kunst die Deterritorialisierung. Wenn Raum nicht als etwas Abgeschlossenes gedacht wird, sondern als kontinuierliche Bewegung, scheint die Qualität einer Deterritorialisierung immer durch. Die Geographin Doreen Massey betont gerade den Umstand, dass der Raum nicht nur in einer geographischen Dimension zu fassen ist. Für sie ist das Räumliche vierdimensional zu denken: der Raum ist nicht statisch, sondern relational und aus simultan koexistierenden Beziehungsverknüpfungen bestehend von Chaos und Ordnung durchzogen (vgl. Massey 1992: 80). Mit dem Ritornell gehen drei Aspekte einher: Der Sprung in das Zentrum, die Gestaltung und die kontrollierte Öffnung des Kreises. Drei Aspekte, die nicht in einer bestimmten Abfolge entstehen, sondern immer anders und manchmal zugleich. Die Öffnung des Kreises geschieht nicht dort, wo die alten Kräfte des Chaos drängen, sondern an einem neuen Punkt, der sich der Zukunft öffnet. In einem Vortrag hebt Deleuze den Zusammenhang zwischen Kunst und einer möglichen Zukunft hervor, indem er das Kunstpublikum ebenso als ein Entstehendes charakterisiert: »Welche Beziehung besteht zwischen dem Kampf der Menschen und dem Kunstwerk? Die allerengste und für mich die geheimnisvollste. Genau das, was Paul Klee meinte, als er sagte: ›Das Volk fehlt.‹ Das Volk fehlt und fehlt gleichzeitig nicht. Das Volk fehlt: das will heißen, daß diese grundlegende
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Affinität zwischen dem Kunstwerk und einem Volk, das noch nicht existiert, nicht klar ist und nie klar sein wird. Es gibt kein Kunstwerk, das sich nicht an ein Volk wendet, das noch nicht existiert.« (Deleuze 2005c: 308) Den von Deleuze beschriebenen Schöpfungsakt begleitet der vorhin schon beschriebene Möglichkeitssinn, der nicht nur mit der Genese des Kunstgefüges einhergeht, sondern ebenso mit der Vorstellung des Publikums, das in Kontakt mit etwas noch nicht Bekanntem kommt. Sowohl Kunstresultat als auch Publikum sind im Werden. Alles, was dafür notwendig ist, ist ein Haus. So beschreiben Deleuze und Guattari die Möglichkeit Territorien zu erschaffen. Wird das Haus eingerissen, das Territorium zerstört, das Ritornell geöffnet, findet eine Deterritorialisierung statt. Kräfte lassen sich auf ein Territorium ein, um es anschließend den Bewohnerinnen und Bewohnern zu entreißen, um diese auf eine unwiderstehliche Reise schicken zu können. »Doch wenn die Natur wie die Kunst ist, dann immer deshalb, weil sie auf alle möglichen Arten jene beiden lebendigen Elemente verbindet: das Haus und das Universum, das Heimliche und das Unheimliche, das Territorium und die Deterritorialisierung […]« (Deleuze/Guattari 2000: 221). Kunst ist also potenziell in der Lage eine besondere Begegnung zu ermöglichen; eine Begegnung, die im Hier und Jetzt stattfindet und nirgendwo sonst. Kunst ist immer aus dem Alltagsleben zu verstehen, das von Räumen und Orten organisiert wird (vgl. Grossberg 1991: 364). Das Chaos wird durch sie temporär geordnet. Deshalb entsteht Kunst auch aus dem Chaos, obwohl sie nicht aus dem Chaos besteht. Sie bildet einen Chaosmos, welches zwar komponiert ist, jedoch niemals vorausgesehen werden kann (vgl. Deleuze/Guattari 2000: 242). Durch die zeitliche Ordnung, kann ein Subjekt gebildet werden, jedoch setzt sich dieses der Macht aus und wird von ihr geformt: territorialisiert. Ziel der Kunst kann es demnach nicht sein, alternative Subjektpositionen anzubieten, sondern deterritorialisierende (Deleuze/Guattari) oder deindividualisierende (Foucault) Strategien. Ein Kollektiv darf keine organische Einheit hierarchisierender einzelner Menschen sein, sondern ein konstanter Generator von Deindividualisierungen (vgl. Foucault 2004: xv). Im Kapitalismus werden hingegen bekannte Identitäten erzeugt. Dadurch ist es möglich auf das Subjekt Macht auszuüben und einzuschränken. In seinen Arbeiten, wie zum Beispiel Überwachen und Strafen, hat Foucault die Strategien der Disziplinarmacht an verschiedenen Subjekten dargestellt. Ein einzelner Mensch wird dann unterworfen, wenn er besonders gelehrig ist. So wurden im 18. Jahrhundert Soldaten hergestellt. Was zuvor als untauglich galt, wurde mittels Formung jedes
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einzelnen Körperteils tauglich gemacht bis sich die benötigten Körperattribute in Gewohnheitsautomatiken einschrieben. Dazu wurden Soldaten so an die Mauer gestellt, dass Fersen, Waden Schultern und Taille die Hinterwand berühren und der Kopf nach oben gerichtet, sodass der Blick nie gesenkt wurde. Foucault macht hier zwei Register des ›Maschinenmenschen‹ aus. Zum einen anatomisch-metaphysisch (Unterwerfung und Nutzbarmachung), zum anderen technisch-politisch (Funktionen und Erklärung) (vgl. Foucault 1977: 173f). Daraus leitet er den disziplinierten Körper und die Disziplinargesellschaft ab. Während in der Gesellschaft der Disziplinierungen, kontinuierlich zwischen dem 18. und 19. Jahrhunderts Souveränitätsgesellschaften abgelöst werden, folgt während dem Zweiten Weltkrieg die Ablösung durch Kontrollgesellschaften (vgl. Deleuze 1993d: 254). Den Disziplinierungsmechanismus zeigt Foucault am Beispiel des benthamschen Panopticons. Hier sind die Gefangenen jederzeit sichtbar, jedoch nicht die Person, die über sie wacht. Der Maschinenmensch tritt aus dem Dunkeln hervor und kann diszipliniert werden. Die Macht ist »automatisiert und entindividualisiert […] in einer konzertierten [sic!] Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtern und Blicken; in einer Apparatur, deren innere Mechanismen das Verhältnis herstellen, in dem die Individuen gefangen sind« (Foucault 1977: 259). Im Gefängnis agieren die Insassen so, wie es vorgeschrieben ist, da sie nicht wissen, wann sie überwacht werden. So internalisieren sich die Praktiken und werden zu einer unhinterfragten Gewohnheit. Deleuze beschreibt diese Machtpraktik als Gussform, in der die Verhaltensregeln der Menschen angepasst werden. Was nicht diszipliniert werden kann, wird aus der Gesellschaft ausgeschieden. Foucault erklärt dies an den Krankheiten Pest und Lepra. Bei der Pest wird die Stadt geschlossen und alle darin lebenden Menschen werden tagtäglich überprüft. Wer noch lebt, muss am Fenster erscheinen, wenn wer nicht mehr lebt, wird dies durch die Kontrolle festgestellt: eine Parade der Lebenden sowie Toten. Die Ordnung verscheucht die Pest. Die Pestkranken werden gewissenhaft verzeichnet, lokalisiert, und zwar von einer Macht, die nicht an einer Stelle fassbar ist, sondern sich entzweit hat, vielfältig geworden ist. Bei der Lepra wurden die Erkrankten aus der Stadt ausgeschlossen. Die Machtinstanz als Souverän ist hier lokalisierbar und der Aussatz als Stigma gekennzeichnet. Bei der Pest verzweigen sich die Machtstrukturen, sodass nicht mehr klar ist, wer über lebenswertes Leben entscheidet. Die Bürgerinnen und Bürger eilen im Gehorsam voraus, denn wenn sie einen Menschen aus Zuneigung nicht verraten, droht ihnen die Todesstrafe. Es gibt hier also keine Zweiteilung mehr in Gesunde und Erkrankte, sondern es entsteht eine mehrschich-
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tige Verteilung von Überwachungs- und Kontrollinstanzen. Die Bannung der Pest und die Verbannung der Lepra sind jedoch nicht einander ausschließende Mechanismen. Gerade das Beispiel des Gefängnisses, in dem die Insassen sichtbar sind, zeigt die Verknüpfung von Stigmatisierung und Disziplinierung (vgl. Foucault 1977: 252ff). Das heißt in weiterer Folge, dass nicht die Disziplinargesellschaft die Souveränitätsgesellschaft ablöst, sondern die vorhandenen Machtstrukturen verfeinert wurden und zu einer neuen Qualität gefunden haben. Kontrollgesellschaften sind genauso zu verstehen. Die Form der Macht hat sich aber verändert: keine Gussform mehr, sondern eine Modulation. Je nach Lage verändert sich die Gussform und damit auch die Strukturen beziehungsweise Formen der Macht (vgl. Deleuze 1993d: 256). So kommt es, dass viele Disziplinarmechanismen nicht mehr (nur) in Gefängnissen zu finden sind, sondern es bereits in die Schule, Arbeit oder die eigenen vier Wänden geschafft haben (vgl. ebenda 261). Deleuze und Guattari folgend betont Maurizio Lazzarato, »dass der Kapitalismus weder ein ›Produktionsmodus‹ noch ein System ist, sondern eine Anzahl von Dispositiven der maschinischen Indienstnahme und zugleich eine Anzahl von Dispositiven der sozialen Unterwerfung« (Lazzarato 2008: 113). Bei der Unterwerfung dient das Individuum der Maschine und wird durch diese (erst) zum Individuum. Das Subjekt ist eines der Maschine Dienendes. Die Indienstnahme zielt auf eine Ebene ab, auf der noch kein bestimmtes Subjekt angesprochen werden kann. Es ist ein unsichtbarer Teil, der sehr wohl in die menschliche Arbeit und auf das Dividuum eingeht. Der Mensch orientiert sich daran, ist aber nicht dadurch ausnahmslos bestimmt, sodass er immer wieder aufs Neue einer Indienstnahme ausgesetzt ist (vgl. Lazzarato 2008: 121). Dies geschieht über Beziehungen und wirkt auf manipuliertes Handeln in der Kontrollgesellschaft (vgl. jagodzinski 2015: 368). Dieses Handeln kann der Einwirkung entsprechen, jedoch auch, wenn freie Individuen davon betroffen sind, widerständige Handlungen zu evozieren. Nach Lazzarato ist das das dritte Dispositiv, das sowohl bewusste als auch unbewusste Phantasmen beinhält (vgl. Lazzarato 2008: 123). Hier findet sich die abstrakte Maschine wieder, die vorübergehend einen Freiraum der Entfaltung schaffen kann, der aufgrund eines Ritornells gebildet wird. Sie ist »trotz ihres Namens die singulärste Maschine […], jene Maschine, der es gelingt, transversal auf diesen verschiedenen Ebenen zu funktionieren und ihnen eine nicht allein kognitive oder ästhetische, sondern zuerst existenzielle Konsistenz zu verleihen« (Lazzarato 2008: 124). Mit der Kraft des Ritornells ist es möglich, sich von Subjektivitätszuschreibungen zu entziehen. Dafür muss jedoch ein Raum zum Ex-
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perimentieren geschaffen werden; ein Raum den Möglichkeitssinn entfalten zu können. Guattari nennt dies auch das ästhetische Paradigma, das immer ethisch-politische Implikationen hat (vgl. Guattari 2014: 136).
4.6.
Zwischenfazit: zu einer neuen Kunstsoziologie »And yet I still want to make the case that aesthetic evaluation is always situational and a product of its contemporary culture and its values. The continuities of judgment […] point to the persistence across the decades of certain values, particular investments, and, not least, the staying power of art-critical discourse itself […].« Janet Wolff 2008: 42
In diesem Kapitel wurden dialogische Überlegungen verschiedener Praktikerinnen und Praktiker sowie Theoretikerinnen und Theoretiker zusammengetragen. Sie erneuern und erweitern in unterschiedlicher Art und Weise die Kunsttheorien beziehungswiese -philosophien, indem sie die sozialen Beziehung der künstlerischen Genese zu einem politischen Akt machen (Bourriaud), die Entstehung eines Kunstgefüges durch die ›Gleichgültigkeit‹ zwischen Kunstproduzenten und –rezipienten in einem demokratischen Prozess sehen (Rancière), abseits der sozialen Beziehungen der Materialisierung der Kunstgenese und ihrer ›Gefühlstruktur‹ nachspüren (Williams) sowie Kunst als ein ästhetisches Paradigma ansehen, das einen Raum für Experimente eröffnet und unseren Sinn für Möglichkeiten weckt (Deleuze und Guattari). Sie sind Vorboten einer Kunstsoziologie, die neben den Beziehungen während der künstlerischen Praxis auch die Materialitäten, das Kunstgefüge, beachtet und zu einer »new Sociology of Art« führt (vgl. de la Fuente 2010a: 6). Wenn es nicht darum gehen kann, was ein Individuum als Kunst herstellt, sondern was in einer Gemeinschaft oder in den Institutionen als solches entsteht, müssen auch ästhetische Konventionen beachtet werden, wobei das Kunstgefüge selbst auch immer Gegenstand der Untersuchung sein muss. Für Grant H. Kester ist das Zusammenspiel zwischen Produzierenden und Rezipierenden gerade die kollaborative dialogische Arbeit, also die gemein-
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Im Gefüge der Kunst
schaftliche Tätigkeit, die er mit »dialogical aesthetics« zu fassen versucht. In seiner Beschreibung geht es vor allem darum, die Kommunikation zwischen beiden Polen hervorzuheben, die für die dialogische Ästhetik grundlegend ist. »While it is common for a work of art to provoke dialogue among viewers, this typically occurs in response to a finished object. In these projects, on the other hand, conversation becomes an integral part of the work itself. It is reframed as an active, generative process that can help us speak and imagine beyond the limits of fixed identities, official discourse, and the perceived inevitability of partisan political conflict.« (Kester 2013: 8) Wie Becker hebt er die kooperierende Dimension hervor, für die Kommunikation zentral ist. Durch letztere wird das Kunstgefüge vervollständigt. Dadurch entsteht der aktive und generative Prozess, der unsere Vorstellungskraft herausfordert. Kester geht es weniger darum, eine Bewegung zu beschreiben oder festzumachen, sondern einer Neigung nachzugehen, die sich in einer Mehrzahl von Projekten und Kunstschaffenden entwickelt hat. Was die Projekte eint, sind die intersubjektive Erfahrung, die im Kontext eines sozialen oder politischen Aktivismus im öffentlichen Raum gelebt wird. Während diese Art, Kunst zu produzieren auf tiefe und komplexe Wurzeln in der Kunstgeschichte zurückgeht, werden auch jüngere Generationen von Kunstschaffenden davon beeinflusst und animiert Kunst zu schaffen. »What unites this disparate network of artists and arts collectives is a series of provocative assumptions about the relationship between art and the broader social and political world and about the kinds of knowledge that aesthetics experience is capable of producing.« (Kester 2013: 9) Das Konzept der dialogischen Ästhetik geht, wie zuvor schon erwähnt, auf Bachtin zurück, der die Sprache selbst als dialogisch begreift. Bereits im Wort selbst ist die Antwort und damit auch die Basis des Dialogs gegeben. »Das Wort wird im Dialog als seine lebendige Replik geboren, es erlangt seine Form in der dialogischen Wechselwirkung mit dem fremden Wort im Gegenstand. Der Entwurf des Gegenstandes durch das Wort ist dialogisch. Aber darin erschöpft sich die innere Dialogizität des Wortes keineswegs. Nicht nur im Gegenstand trifft das Wort auf ein anderes fremdes. Jedes Wort ist auf eine Antwort gerichtet und keines kann dem tiefgreifenden Einfluß des vorweggenommenen Wortes der Replik entgehen. Das lebendige, umgangssprachliche Wort ist unmittelbar auf das Wort der folgenden
4. Ästhetische Erfahrung. Auf den Spuren einer neuen Kunstsoziologie
Replik eingestellt: es provoziert die Antwort, nimmt sie vorweg und formt sich auf sie hin.« (Bachtin 1979: 172) Bachtins Dialogizität ist also aus mehreren Blickwinkeln erkennbar und nicht abgeschlossen. Für Kester ist der Prozess bedeutsam und dass die künstlerische Praxis nicht mit einem Moment endet. Damit besteht auch die Schwierigkeit einen Prozess beschreiben zu können. Vielmehr geht es Kester um eine Bemerkung einer interaktiven Kunst, die in einem Prozess des Dialoges und der Kooperation entsteht (vgl. Kester 2013: 10). Laila Lucie Huber bezeichnet Kesters Konzept der dialogical aesthetics deshalb als einen operationalen und nicht als einen beschreibenden Begriff. In dieser Art und Weise formuliere er, »ein neues ästhetisches und theoretisches Paradigma des Kunstwerks als Prozess – als Ort des diskursiven Austausches und Verhandelns« (Huber 2017: 87). Im Folgenden sollen diese theoretischen Ausführungen in empirischen Beispielen untersucht werden. Dabei sollen die Beispiele nicht die Theorie abbilden. Das heißt, dass durchaus Unstimmigkeiten auftreten und in weiterer Folge Neues in Erscheinung treten kann. Die diskutierten theoretischen Ansätze sollen helfen, der Frage nachzugehen wie und wo demokratische Strukturen innerhalb der Kunstgenese auftreten. Des Weiteren steht die Qualität der partizipativen Erfahrung im Vordergrund.
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5. Empirische Studien »Wenn die Kunst Teil der Gesellschaft ist, gibt es kein stichhaltiges Ganzes außerhalb ihrer selbst, dem – im Sinne unserer Frage – Priorität zugestanden werden könnte. Kunst ist eine Aktivität wie die Produktion, der Handel, die Politik, das Familienleben. Eine adäquate Untersuchung ihrer Beziehung muß all diese Tätigkeiten als besondere zeitgenössische Formen menschliche Energie auffassen.« Raymond Williams 1987: 48f
Innerhalb der empirischen Analyse möchte ich Kunstschaffende und -rezipierende hinsichtlich beschriebener Ästhetiken untersuchen. Dabei sollen die Strategien der Umsetzung untersucht werden und mögliche Artikulationen bei den Rezipierenden. Welche Rolle spielt der Ort der Aufführung? Gibt es Räume der Partizipation und in welcher Qualität werden diese genutzt? Welche Strategien gibt es, die dissensuale oder konsensuale Dialoge ermöglichen? Treten zwischen den Besuchenden und Kunstschaffenden unterschiedliche Interpretationen des Kunstgefüges auf? Zusammengefasst soll die Analyse den dialogischen Strategien der Kunstschaffenden qualitativ nachspüren. Mittels insgesamt 19 Interviews mit den regieführenden Personen, den Schauspielerinnen und Schauspielern sowie Zuschauern und Zuschauerinnen soll der Frage nach dem politischen Moment und dem Potential der Emanzipation im Kunstprozess nachgegangen werden. Dabei war die Auswahl der Interviewpartnerinnen und -partner eine zufällige. Je nach Bereitschaft und Verfügbarkeit des Produktionsteams wurden Einzelpersonen angefragt, die sich dann für ein Interview bereit erklärt
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Im Gefüge der Kunst
haben. Geschlecht, Alter, Bildungsschicht oder andere soziodemographische Daten spielten im Vorhinein keine Rolle, da diese für die Fragestellungen nicht wesentlich sind. Auch übliche Daten, wie zum Beispiel die Geschlechtszuordnung wurden außen vor gelassen, da dieses Vorwissen eine Dualität vermitteln würde, die in der Analyse gar nicht herausgearbeitet wird. Die partizipierenden Personen wurden per Zufallsprinzip nach den Aufführungen gefragt. Je nachdem, wer sich auf die entsprechenden Stühle oder Orte begab, wurde im Nachhinein, sofern eine Redebereitschaft gegeben war, kurz nach der Partizipationserfahrung interviewt. Die Analyse der Interviews zeigt, dass künstlerische Begegnungen immer ein Moment der Aushandlung und des Zusammenspiels von verschiedenen Beziehungen sind. Dabei müssen unbedingt die gelebten Erfahrungen berücksichtigt werden, die das Publikum mit den Schauspielerinnen und Schauspielern teilt und gleichzeitig verbindet. Dazu wurden sowohl die Kunstschaffenden als auch Rezipierenden interviewt, der Prozess der ›Kunstgenese‹ gefilmt, fotografiert sowie beobachtet. Es wurden Qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung wie teilnehmende Beobachtung und Leitfaden-Interviews angewandt. Die Einzelgespräche entsprechen Fallanalysen. Sie wurden je nach den Wünschen der Interviewteilnehmerinnen und -teilnehmer an ruhigen oder belebten Orten geführt. Als Vorlage für das Gespräch wurde ein Leitfaden erstellt, der einen roten Faden versprechen sollte. Beim Interview wurde aber der von den »Befragten selbst entwickelte […] Erzählstrang« (Witzel 1985: 237) berücksichtigt. Im Vordergrund stand ein Gespräch und nicht das Abarbeiten der Leitfadenfragen. Die zitierten Interviews wurden anonymisiert und mit Nummern versehen. Im Anhang sind die vollständigen Transkripte abgedruckt. Die Sprache wurde Standarddeutsch bereinigt, wobei manche Ausdrücke oder Phrasen umgangssprachlicher Art geblieben sind. Die Interviews wurden mit unterschiedlichem Abstand nach der Kunsterfahrung geführt. Obwohl die meisten Interviewpartner und –partnerinnen so schnell wie möglich nach dem Theaterbesuch das Interview hinter sich bringen wollten, zeigte sich schnell, dass ein gewisser Abstand von großem Vorteil war, um die Reflexion über die Erfahrung thematisieren zu können. Im Vordergrund stand die Frage, wie sie das Erlebnis für sich verstanden haben. »Das Verstehen von etwas ist nicht das Wiederbergreifen eines feststehenden semantischen Inhalts, sondern vielmehr eine Fähigkeit, diese Sache in bestimmten akzeptierten Weisen zu begreifen und mit ihr umzugehen« (Shusterman 1996: 20). Diesem Umgang mit Kunst wird hier nachgespürt. Dabei soll nicht gezeigt
5. Empirische Studien
werden, dass Kunst im Sinne Williamsʼ Kulturauffassung gewöhnlich ist, sondern, dass Kunst einen Teil innerhalb der Gesellschaft ausmacht, in dem Traditionen und Bräuche geteilt und aktiv geschaffen werden. Die folgenden Beispiele sind Theaterstücke, die im öffentlichen Raum oder insbesondere mit der Absicht partizipativ ausgerichtet zu sein realisiert wurden. In der gleich anschließenden Vorstudie wurde ausgetestet, welche Methoden und Zugänge bei der Analyse wichtig sind. Das Jugendtheaterstück DenkMal! wurde von und für Jugendliche gestaltet, sodass es für einen Versuch geeignet war, den Strukturen und Wahrnehmungen sowie Wünschen und Problemen einer partizipativen Kunstaktion genauer nachzuspüren. Diese Erkenntnisse sollen in die Analysearbeit weiterer Beispiele einfließen. Der zweite und dritte Abschnitt beschäftigt sich mit zwei Theaterstücken. Das erste, Romeo und Julia, war für die Forschung interessant, da es im öffentlichen Raum stattfand und einen besonderen Bruch mit einem klassischen Theatertext versprach. Das zweite Stück Der Mentor wurde mit zeitlichem Abstand in einem Theaterkeller realisiert und war auf dialogische Elemente ausgerichtet.
5.1.
DenkMal! – eine Vorstudie »[D]ie Lehren, die wir aus der Shoa, dem Holocaust oder Nationalsozialismus ziehen, haben heute einfach eine große Bedeutung. Und da ist es mir wichtig, das auf kleine alltägliche Sachen herunterzubrechen. Das heißt, was damals zu unfassbaren Verbrechen in einer unfassbaren Größenordnung geführt hat, beginnt ja im Kleinen und dieses Kleine gibt es ja in unserer Gesellschaft auch.« Interview 011
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Die durchgeführten Interviews wurden anonymisiert und mit fortlaufenden Nummern betitelt. Je nach Alter und Situation wurden die Interviews in Sie- oder Du-Form geführt. Um eine Anonymisierung zu gewährleisten, wurde darauf verzichtet, Namen zu vergeben, die auf bestimmte Personen, wie zum Beispiel in den Produktionsteams hin-
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Im Gefüge der Kunst
Das für die Vorstudie herangezogene Theaterstück DenkMal! wurde vom Verein Special Symbiosis in Zusammenarbeit mit dem Gymnasium Perau und der Polytechnischen Schule, beide jeweils in Villach, im Jahr 2013 realisiert. Das Projekt war eines von 190 schulischen Theater- und Tanzprojekten zwischen den Jahren 2008 und 2016, die KulturKontakt Austria (KKA) mit dem DSCHUNGEL Wien beratend im Rahmen von Macht|Schule|Theater betreute. Die Einbindung der Schülerinnen und Schüler erfolgte je nach Projekt immer unterschiedlich, war letztendlich aber Bedingung für die Projektrealisierung. Das Ziel, ein Theaterstück zur Aufführung zu bringen war dabei sekundär, verpflichtend war nur die Zusammenarbeit zwischen Theaterinstitutionen und Schulen. Im Vordergrund standen Gewaltprävention, Förderung von sozialen Kompetenzen und Zivilcourage. Für das Projekt DenkMal! suchte man sich als Aufführungsort einen öffentlichen Platz in der Villacher Widmanngasse aus, an dem das Denkmal der Namen aufgestellt wurde. Dieses wurde 1999 aufgrund der Initiative vom Verein Erinnern errichtet und macht seitdem durch die Dokumentation von Namen auf Opfer des Nationalsozialismus aus Villach aufmerksam. Seit seiner Errichtung wurde das Denkmal bis zum Jahr 2013 insgesamt 15 Mal durch Vandalakte beschädigt. Der Projektleiter des Theaterstücks, Martin Mittersteiner, hatte deshalb auch das Ziel mit den Schülerinnen und Schülern ein Projekt über das Denkmal der Namen zu gestalten. »Das Denkmal der Namen ist für mich als Villacher ein sehr emotionaler Ort, weil es nicht ein Denkmal ist, das mit den Ereignissen der Vergangenheit zu tun hat, sondern durch die oftmaligen Zerstörungen – auch in meiner Jugend sind die passiert oder hat das angefangen – zeigt, dass es ein sehr gegenwärtiges Thema ist.« (Interview 01) Vergangenheit zu vergegenwärtigen, bedeutet aktiv den Blick auf das Vergangene zu richten und die Narration in der Gegenwart mitzugestalten. Vergangenes wird hierbei rekonstruiert und neu verhandelt, wobei dominante hegemoniale Strukturen in der Erzählung der Vergangenheit bis in die Gegenwart wirken (können). Sich mit Geschichte zu beschäftigen, ist also immer ein Prozess, der in der Gegenwart abläuft, aber auch in die Zukunft wirkt (vgl. Brumlik 1995: 93; Kölbl 2010: 29; Dobers/Mayer 2011: 53). Motivation des Projektes war neben der historischen Bildung, ein politisches Bewusstsein über weisen hätten können. Wenn ein Name konkret genannt wird, ist das abgesprochen worden.
5. Empirische Studien
den Umgang mit Geschichte zu schaffen. Hier wurden insbesondere Holocaust und Nationalsozialismus in Bezug auf Villach reflektiert. Geschichte wird also durch die Thematisierung vor Ort erfahrbar gemacht und mit bestimmten Personen rückgebunden. So wurden die Schülerinnen und Schüler mit ausgewählten Vortragenden und NGOs bekannt gemacht.
5.1.1.
DenkMal!
Die im Projekt DenkMal! aufgeführte Geschichte spielt in zwei Zeiten. Zum einen ist es die Vergangenheit, in der man Zeugin beziehungsweise Zeuge wird, dass Josef aufgrund von Ausgrenzung Selbstmord begeht, da er in seinem Umfeld durch stetige Anfeindungen keine Möglichkeit mehr sieht, sein Leben in Frieden leben zu können. Zum anderen ist es in der Gegenwart David, der von seinen Freunden und Freundinnen gemobbt, gestoßen und geschlagen wird. Gleichzeitig beschmieren die Jugendlichen das Denkmal der Namen und beschimpfen Davids Vorfahren. David spielt mit dem Gedanken ebenso Selbstmord zu begehen, wird jedoch von einer Freundin zurückgehalten. Während dieser mit ihr zur Gruppe zurückkommt, zeigen alle Reue, dass es so weit gekommen ist und beginnen, sich bei David entschuldigend, das Denkmal zu reinigen. Die im Projekt involvierten Jugendlichen haben in der Vorbereitungsphase in Workshops mit Martin Mittersteiner kleine, meistens scheinbar harmlose Gewaltakte diskutiert und beschrieben. Wesentlich in der Diskussion war der Gedanke, dass Folgen von Gewaltakten nicht vorherzusehen sind. Des Weiteren näherten sie sich der Vergangenheit mit gut dokumentieren Fällen von Opfern, die am Denkmal der Namen zu finden sind. Daraus formulierten sie in ihren eigenen Worten Geschichten, die zu dialogischen Szenen zusammengestellt wurden. So entstand eine Vielfalt von Texten, die in den Theatertext mündete. Die Vandalakte am Denkmal der Namen zeigen, dass die Erinnerung an eine bestimmte Zeit in der Gegenwart verstören kann. Peter Gstettner betont die hegemonialen Strukturen von Erinnerungspraktiken und erklärt diese zu einem umkämpften Gebiet (vgl. Gstettner 2012: 71f). Insbesondere in Kärnten gibt es scharf voneinander abzugrenzende Narrationen über den Zweiten Weltkrieg. Abwehrkampf und Volksabstimmung sind für das Bundesland von besonderer Bedeutung, da sie grob den Ursprungsmythos Kärntens umreisen (vgl. Sima 2006) und die Identität bis zum heutigen Tage stark mitprägen. So gibt es zum Beispiel offene Geschichtsrevisionen inklusive Täter-Opfer-
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Im Gefüge der Kunst
Umkehr (vgl. Gitschtaler 2016: 204). Bemerkenswert ist an der Erinnerungskultur in Kärnten, dass bis Mitte der 1990er Jahre, Jugendliche nur Adressaten sowie Adressatinnen oder höchstens Statistinnen beziehungsweise Statisten bei Gedenkveranstaltungen sind. Hauptmotive älterer Generationen sich mit dem Thema Nationalsozialismus zu beschäftigen sind ›Treue und Heimatliebe‹, die an Jugendliche weitergegeben werden sollen. Die Jugendlichen selbst scheinen in der medialen Öffentlichkeit keine Rolle zu spielen. Der Millenniumswechsel ist jedoch eine Marke für eine höhere Sensibilisierung von Jugendlichen gegenüber Nationalsozialismus. Dies geht mit dem Entstehen von neuen Erinnerungsinitiativen einher, die eine kritischere Gedächtnispolitik verfolgen und mehrere Stimmen von unterschiedlichen Opfergruppen zulassen. Organisationen wie Kameradschaftsbund, Kärntner Heimatdienst oder Abwehrkämpferbund verlieren an gesellschaftlicher Bedeutung, da (auch) in der Schule ›Treue und Heimatliebe‹ durch verschiedene andere Schwerpunkte der Geschichtsaufarbeitung ersetzt werden. Die Jugendlichen werden dabei erstmals aktiv in die Erinnerungspolitik einbezogen (vgl. Gitschtaler/Hudelist 2017: 47f). Das Theaterprojekt DenkMal ist dafür ein Beispiel, wie eine solche Einbeziehung und Aufarbeitung aussehen kann.2
5.1.2.
zwischen Kirche, Museum und einem Denkmal
Der Ort des Denkmals ist aus mehreren Hinsichten interessant. Zum einen ist er durch die regelmäßigen feierlichen Begehungen bekannt, zum anderen verknüpft die Inszenierung das Denkmal mit dem Rosengarten der Kirche und dem Stadtmuseum. Das Denkmal als räumlicher Begegnungsort weitet sich also aus und thematisiert im Kontext des Museums die Geschichte, insbesondere die Rolle von Villach während dem Nationalsozialismus, aber auch die Rolle der Kirche während dieser Zeit. Die Thematisierung des Raumes ist also zeitgleich auch die Thematisierung dieser Zeit und des heutigen sowie vergangenen Umgangs mit dieser. Was und wie erinnert wird, verweist auf die eigene Beziehung zur Geschichte, aber darüber hinaus auch auf den aktuellen Umgang der Menschen miteinander (vgl. Matzka 2008: 53).
2
An Hand des Beispiels habe ich bereits an anderer Stelle im Vergleich mit der nahezu zeitgleichen Schultheaterproduktion Die Konsumoper die Qualität der Partizipation und Handlungsmacht diskutiert. Vgl. Hudelist, Andreas (2015): Gelebte Erinnerungen. Theater als Erinnerungsmedium und politische Bildung am Beispiel Kärntner Jugendprojekte. In: informationen zur deutschdidaktik (ide), 3. 82-88.
5. Empirische Studien
Darüber hinaus ist der Ort öffentlich und jederzeit zugänglich. Auch bei den Aufführungen war der Platz nicht abgesperrt und das Publikum setzte sich aus Interessierten, Vorbeispazierenden und teilweise anhaltenden Gästen zusammen. In der theatralen Nutzung des Raumes tritt die Produktion von Bedeutungen und verändernden Praktiken hervor, die zwischen den Schauspielenden und dem Publikum (zumindest temporär) entstehen (vgl. Johnson/Chambers/Raghuram/Tincknell 2004: 106). Daraus ergibt sich eine ›relationale Ästhetik‹, die sich durch die anwesenden Menschen, aber auch den sich öffnenden Raum ergibt. Der Raum ist nicht nur sozial konstruiert, sondern auch das Soziale ist räumlich konstruiert (vgl. Massey 1992: 71). Das bedeutet, dass die Inszenierung nicht nur die teilnehmenden Schauspieler und Schauspielerinnen sowie Publikum betrifft, denn auch der Raum ist durch die Aufführung inszeniert. Zeitlich werden durch die Aufführung soziale Codes dargestellt, damit zur Erkennung gebracht und neu verhandelt. Bourriaud folgend ermöglichen die jeweiligen Aufführungen einen Zwischenraum der Auseinandersetzung mit bestimmten Themen, für die es im Alltag keinen Platz gibt. Zumindest nicht in dieser Art und Weise. Denn jährlich findet hier zum Beispiel am 8. Mai eine Veranstaltung – organisiert vom Verein erinnern – zum Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus im Bezirk Villach statt. Somit ist mit dem Ort ein aktives Erinnern verbunden, das durch die Aufführung des Theaterstücks aufgenommen und weitergeführt wird. Der Ort als Auseinandersetzungsstation mit der Villacher Vergangenheit wird nochmals durch das Villacher Stadtmuseum verstärkt, das sich zwar weniger mit der Nationalsozialistischen Vergangenheit, sondern mehr, wie in seiner Dauerausstellung, auf die historischen Funde und bildnerische Kunst aus Villach fokussiert. Das konkrete Narrativ des Denkmals der Namen lebt sowohl performativ als auch affektiv in der Aufführung von Tagebucheinträgen und Feldpostbriefen verstorbener Villacherinnen und Villacher. Die verknüpfende Bearbeitung mit Gewalterfahrung(en) von den Schülerinnen und Schülern macht Affekte und Performativitäten transparent. Die medial vermittelten Erfahrungen werden durch die schauspielenden Schüler und Schülerinnen lebendig und durch die theatrale Inszenierung für das Publikum unmittelbar erfahrbar. Durch die dynamische Simultanität, die durch die Verknüpfung verschiedener Zeiten, Erzählungen (Briefe und Alltagserfahrungen der Schülerinnen und Schüler) und räumlicher Institutionen, wie Kirche und Museum, aber auch das Denkmal hervorgerufen wird, werden die dominanten Narrative herausgefordert und Gegenerzählungen oder widerständige Narrationen formuliert. Das Denkmal
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Abbildung 2: Denkmal der Namen © liegt beim Verfasser
der Namen thematisiert als Artefakt bereits eine historische Zeit, die im Museum nicht behandelt wird. Das Theaterstück hebt jedoch die Geschichte in die Gegenwart und thematisiert gleichzeitig nicht nur den Umgang mit dieser Geschichte, sondern auch den Umgang mit den Menschen, die am Denkmal dokumentiert sind, sowie den Umgang mit den Nachfahren dieser Opfer. So wird der Vandalakt durch die theatrale Beschmutzung reinszeniert und als Symptom des Umgangs mit den Opfern thematisiert. Im Verein erinnern befinden sich zum Teil Nachfahren jener dokumentierten Opfer und erleben durch die Reinigung des Denkmals eine potenziell kathartische Befreiung von den vermehrt aufgekommenen Beschädigungen am Denkmal der Namen. Der Raum rund um das Denkmal eröffnet somit einen neuen Umgang mit der Situation und regt die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an, die in den Raum eingeschriebenen Bedeutungen oder Erzählungen neu zu verhandeln. Die Theateraufführung ist eine politische Intervention, da die zusehenden Menschen dem Vandalismus passiv gegenüberstehen und sich als Voyeurinnen und Voyeure zu erkennen geben. Auch bei den Beschädigungen und Verschmutzungen am Denkmal habe es keine Zeugen- sowie Zeuginnenschaft gegeben. Die Inszenierung wirft somit indirekt die Frage auf, was Zusehen bedeuten kann und inwiefern man dadurch auch (mit)schuldig ist. Die performativ aufgeführten Erinnerungen emanzipieren sich von einem reinen Erinnerungsimperativ, der die Frage wozu ignoriert, und verbinden die Geschichten der Opfer des Nationalsozialismus mit Ausgrenzungs- und Gewalterfah-
5. Empirische Studien
rungen der Schüler und Schülerinnen, wodurch ›Geschichte‹ nicht als eine abgeschlossene Zeitepoche thematisiert, sondern aktuell und unmittelbar erfahren wird. Hier wird auch potenziell Rancières (vgl. 2009: 14) Forderung nach einem emanzipierten Publikum eingelöst. Denn gerade die Konfrontation mit dem voyeuristischen Zusehen provoziert zu Handlungen, auch wenn die aktive Teilnahme während der Aufführung nicht ermöglicht wurde.
5.1.3.
Affektives Erinnern
Die Institutionen stehen vorwiegend für dominante Erzählungen. Das Villacher Stadtmuseum widmet sich der Historie des Villacher Raumes, die Pfarrkirche St. Jakob gedenkt mittels ihrer Fassaden mit dem Eisernen Kreuz den Gefallenen des Ersten und Zweiten Weltkrieges. Die dominanten Erinnerungsnarrative sind also nicht den verfolgten Menschen gewidmet und spiegeln somit den österreichischen Umgang mit dem Nationalsozialismus wider. Zeitgleich aber wird der dominanten Erinnerungskultur der nationalsozialistischen Fremdherrschaft (vgl. Rettl 2011: 228) durch das Denkmal der Namen und seine Dokumentation der Ermordung und Aussiedlung von Villacher Bürgerinnen und Bürgern ein Narrativ entgegengestellt. So kommt nach Williams eine oppositionelle Kultur zum Vorschein, die nicht nur ein neues Narrativ, sondern auch neue Praktiken, wie an den Gedenktagen mit sich bringt. Hier muss aber noch erwähnt werden, dass österreichweit die Opferthese seit dem Waldheimskandal der 1980er Jahre bröckelte und dieser das »Ende der Fiktion einer bewältigten Vergangenheit« (Uhl 1992: 17f) einleitete. Die oppositionelle Narration, die zumindest im Villacher Stadtbild noch keine Entsprechung gefunden hat, scheint aber Ergebnis einer emergenten Erinnerungskultur zu sein, die in den 1980er Jahren fruchtbaren Boden fand und seitdem sowohl national als auch international den sogenannten Opfermythos Österreichs dekonstruierte. Auch wenn es vereinzelt manche Politiker für nötig empfunden haben, die Opferrolle Österreichs während des Nationalsozialismus zu betonen, wie es zum Beispiel Wolfgang Schüssel im Jahr 2000 in der israelischen Tageszeitung Jerusalem Post tat und gleichzeitig aber darauf hinweist, dass sehr viele einzelne Menschen in Österreich zur Zeit des Einmarsches Nazis waren (vgl. Anonym 2000). Sogar eine Sonderausstellung des Villacher Stadtmuseums widmete sich konkret der Erinnerungspolitik Österreichs: Die Ausstellung »›HEISS UMFEHDET, WILD UMSTRITTEN …‹. Geschichtsmythen in Rot-Weiß-Rot« im Jahr 2005 für dessen Konzept Werner Koroschitz und Lisa Rettl (vgl. 2005) verantwortlich
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Im Gefüge der Kunst
waren. Im Ausstellungskatalog kritisiert unter anderem Peter Pirker, dass 2005 zum ersten Mal im Nationalrat eine Tagung zum Widerstand gegen den Nationalismus stattfand und in diesem Zusammenhang erstmals »jene in den Nationalrat eingeladen [wurden], die im Sinne der Moskauer Deklaration ihren Beitrag zur Gründung der Zweiten Republik geleistet haben« (Pirker 2005: 75). Das zeigt, dass die emergente Erinnerungskultur im Jahr 1986 höchstens eingeleitet wurde, wenn auch bereits zuvor kritische Stimmen und Texte, wie in etwa 1961 das Kabarettprogramm Der Herr Karl von Helmut Qualtinger und Carl Merz, breit rezipiert sowie medial diskutiert wurden. Das Denkmal der Namen zeigt in mehrfacher Hinsicht, dass es performative Handlungen evoziert. Zum einen sind es die Vandalakte, die durch das Denkmal provoziert werden, verkörperte Praktiken der Ablehnung gegenüber diesem konkreten Erinnerungsnarrativ der Opfer. Zum anderen sind es die Briefe und Tagebücher verknüpft mit den persönlich erfahrenen Gewalterlebnissen der Schüler und Schülerinnen, die Aspekte der Erfahrungen der Opfer erlebbar machen und durch das Denkmal an diesen Ort verankern, indem diese materialisiert wiederzufinden sind. Es scheinen sich hiermit zwei Erinnerungsnarrative zu begegnen, die im Villacher oder Kärntner kollektiven Gedächtnis vorhanden sind. Dies bestätigt Maurice Halbwachs Theorie zum kollektiven Gedächtnis, die besagt, dass das kollektive Gedächtnis einem laufenden Konstruktionsprozess unterliegt und aus verschiedenen Gedächtnisnarrativen besteht (vgl. 1967: 68). Im kollektiven Gedächtnis ist es also ›normal‹, wenn Erzählungen zu finden sind, die sich teilweise oder auch zu Gänze widersprechen. Ereignisse aus der Vergangenheit werden solange integriert solange sich Menschen innerhalb dieser Gruppe dafür interessieren. Während also Opfergruppen des nationalsozialistischen Regimes in den Gedenkveranstaltungen langsam mehr und mehr gedacht werden, wurde diese emergente Kultur vereinnahmt und ihre Kritik damit entschärft. Wie stark die dominante österreichische Identität in der Nachkriegszeit, spätestens seit Unterzeichnung des Staatsvertrag 1955, von Idylle und Frieden geprägt war, zeigt auch der österreichische Heimatfilm, in dem der Opfermythos Österreichs indirekt immer wieder in den kleinen Dörfern am Land oder in den Naturlandschaften aufblitzte (vgl. Steiner 1987). Hier gibt es im Nachkriegsösterreich keine Gewinner- oder Verlierergruppen. Österreicherinnen und Österreichern scheinen dasselbe Schicksal erfahren zu haben. Es gibt demnach ein kollektives Nachkriegsgefühl oder besser Affekte, die sich durch einen Doppelcharakter auszeichnen. So schreibt Andreas Reckwitz über Affekte:
5. Empirische Studien
»Affekte sind materiell und kulturell zugleich – als Erregungszustände menschlicher Körper kommt ihnen eine Faktizität und Persistenz zu, gleichzeitig sind sie jedoch nur auf der Grundlage bestimmter historisch kultureller Schemata in ihrer Entstehung, Wirkung und sozialen Intelligibilität nachvollziehbar. Dieser Doppelcharakter der Affekte macht ihren Ort im Sozialen aus; und dieser Doppelcharakter ist für ihre sozialwissenschaftliche Analyse zentral.« (Reckwitz 2016: 165) Die hier beschriebene materialisierte kulturelle Praktik könnte auch bei Williams Materiellen Kulturalismus zu finden sein. Denn auf dem Denkmal der Namen sowie den Erinnerungstafeln auf der Kirchenfassade und den Artefakten im Museum sind Erinnerungspraktiken und -narrative materialisiert. In diesem Zusammenhang lässt sich auch das erkennen, was Williams Gefühlsstruktur benannt hat: das Opfernarrativ, das sich im ausgehenden 20. Jahrhundert als Mythos zu erkennen gibt und sich somit langsam auflöst. Davon zeugen unter anderem die für unterschiedliche Opfer zu unterschiedlichen Zeitpunkten aufgestellten Denkmäler.3 Um dem doppelten Charakter der Affekte gerecht zu werden, müssen jedoch ebenso die Praktiken gesichtet werden, die durch die Denkmäler evoziert werden. In Bezug auf Halbwachs schreibt Jan Assmann, dass gerade das Erzählen für das Erinnern eine wesentliche Komponente ausmacht. Denn durch das Narrativ anderer, können wir uns in die Lage versetzen etwas zu erinnern, das wir selbst nicht erlebt haben. Ob wir diese Erinnerung weiter kommunizieren, hängt von unserer Empfindung ab, wie wichtig wir diese einstufen (vgl. Assmann 2007: 36).
5.1.4.
Limitierung(en)
Ein theatrales Projekt, das an einem öffentlichen Ort realisiert wurde, ist im Umfeld der Diskussionen zwischen Jacques Rancière und Nicolas Bourriaud natürlich nicht uninteressant. Wie funktioniert ein emanzipiertes Zuschauen? Wird ein Raum eröffnet, der ansonsten im Alltag nicht betreten werden kann? Welches demokratische Potential wird durch das Kunstprojekt kreiert?
3
Walter Manoschek und Peter Pirker haben im Projekt Politics of Remembrance für Wien eine Unzahl von Denkmälern als Spiegel politischer Machtverhältnisse erarbeitet, die die verschiedenen Motivationen und Akteurinnen sowie Akteure kennzeichnen. Vergleiche dazu https://www.wien.gv.at/wiki/index.php?title=Kategorie:Erinnern [07.05.2018].
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Zu den besprochenen Charakteristiken der Theaterproduktion ist folgende Aussage des Projektleiters und Regisseurs Mittersteiner passend. »Ich glaube man darf hier nicht zu große Erwartungen haben, was so ein Projekt für Auswirkungen haben soll. Weil Jugendliche primär mal in ihrer pubertären Problemwelt und Realität drin sind. Man braucht nur an die eigene Jugend zurückdenken. Wenn man gerade verliebt ist oder sich behaupten muss in der sozialen Gruppe, dann kann das alles auch an jemanden vorbeigehen. Ich mache mir jetzt nicht die Illusionen, dass alle Schüler von damals jetzt wirklich wissen was damals in Villach und in der Welt passiert ist, zur Zeit des Nationalsozialismus. Und ich mache mir auch nicht die Illusion, dass alle in diesem Bewusstsein die heutigen Geschehnisse betrachten. Aber ich denke doch, dass es bei allen Spuren hinterlassen hat. Also es ist schon ein Bewusstseinsbildungsprozess bei allen passiert. Und eigentlich bin ich mir sicher, es ist eine gewisse Sensibilisierung durch das Projekt gegeben. Was das Projekt noch gemacht hat, ist natürlich so eine Art Empowerment. Eine Selbststärkung. Das sie wirklich gezeigt hat, dass sie die Kraft haben, dass sie eigenes Ding realisieren können, wenn man ihnen die richtigen Werkzeuge gibt. Also die Werkzeuge waren wir als Theaterteam, aber sie ihre Produktion und ihre Themen da rüberbringen können. Und natürlich die Theateraufführung am Schluss und die Presseberichte und so weiter. Das war natürlich auch eine schöne Anerkennung für die Jugendlichen, dass das Projekt hier auch eine Wertschätzung erfährt.« (Interview 01) Mittersteiner spricht hier viele Elemente an, die in der Diskussion um Partizipation ebenso Berücksichtigung finden. Implizit steckt in seiner Reflexion, die Erkenntnis, dass es keine Garantien für einen Lernprozess gibt. Auch in welcher Art und Weise eine Entfaltung stattgefunden hat, vermag er nicht zu benennen. Je nach eigener Aufnahmefähigkeit können die Schülerinnen und Schüler stärker oder weniger involviert sein. Was vom Projekt zurückbleibt, ist ebenso unklar, dennoch ist sich Mittersteiner sicher, dass Spuren hinterlassen wurden. Aber auch hier gilt das Gleiche wie soeben. Der angesprochene Bewusstseinsbildungsprozess ist nicht bei allen gleich. Und auch wenn Mittersteiner hier kurz bedenkt, dass dieser stattgefunden hat, gibt es keine Garantie, dass dem so ist. Zurückbleibt die Überzeugung, empowert zu haben und die einzelnen Jugendlichen in ihrer Arbeit gestärkt zu haben. Rainer Winter schreibt über den Akt der Selbstermächtigung:
5. Empirische Studien
»Es sind Veränderungen nicht im Sinne einer revolutionären Umwälzung oder einer Verwirklichung von kommunikativen Vernunftpotentialen, sondern es sind oft kurze, räumlich oder zeitlich gebundene Akte der Selbstermächtigung, Fluchtlinien, die Personen und ihr Leben verwandeln können.« (Winter 2001a: 13) Dies kann man auch auf das Publikum bei Denkmal der Namen übertragen. So betont der Theaterwissenschaftler Gerald Siegmund, dass durch Theaterprojekte »Erfahrungsbilder deponiert und von einem Publikum rezipiert« (Siegmund 1996: 69) werden. Die Qualität der Rezeption steht hier außer Frage. Die nüchterne Feststellung, dass etwas passiert, steht im Vordergrund und wie bei Winter geht es nicht um eine sichtbare Veränderung der Beteiligten, sondern um das Potential der Veränderung. Um diesem jedoch nachspüren zu können, muss sowohl noch das Publikum als auch die schauspielenden Schüler und Schülerinnen befragt werden. Dies wurde in dieser Vorstudie nicht geleistet. Mit dem Interview mit dem Regisseur sollten Beziehungen nachgespürt werden, die die Theaterproduktion eröffnet. Wohin sollte das Projekt aus der Sicht des (Mit)Initiators führen? Wohin werden die Beteiligten des Projekts geführt? Die Jugendlichen haben sich in Schreibworkshops und Vorträgen mit Biographien von Opfern des Nationalsozialismus auseinandergesetzt und diese mit ihren eigenen Erfahrungen verbunden. Damit thematisierten sie aus ihrer eigenen Biographie kleine im Alltag verharmloste Gewaltakte und reflektierten die Ereignisse während des Zweiten Weltkrieges. Diese Beobachtung(en) zeugen schlussendlich für die deskriptive Dimension des Herangehens, die wiederum nicht mehr, aber auch nicht weniger als die konstative Äußerung Bourriauds, Bishops oder Rancières, dass bestimmte künstlerische Projekte beziehungsweise Produktionen ebenso bestimmte Ergebnisse erzielen. Was hier fehlt ist also eine qualitative Untersuchung der Beteiligten, begonnen beim Publikum über die Schauspielerinnen und Schauspieler bis zu den Initiatorinnen und Initiatoren. Dies soll in weiteren empirischen Analysen umgesetzt werden. Im Mittelpunkt steht hier nicht die Interpretation einer Produktion oder eine Textanalyse. Vielmehr müssen für eine zielführende Diskussion über Partizipation, Interaktion und Teilhabe innerhalb künstlerischer Produktionen auch alle Beteiligten interviewt werden und ein zusätzliches Augenmerk auf die Artefakte der künstlerischen Projekte genommen werden. Damit sind nicht nur künstlerische Produkte wie Bilder oder Skulpturen gemeint, sondern auch die
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Im Gefüge der Kunst
theatralen Settings, wie zum Beispiel öffentlicher Raum oder Theaterraum, mit dem man interagieren oder an dem man partizipieren beziehungsweise teilhaben kann. Problematisch wird die partizipatorische Geste nur, wenn sich die Kunstschaffenden über ihre theoretische Souveränität an das autonome Kunstgefüge binden. Denn somit ist eine Hierarchie geschaffen, die der Partizipation widerspricht und diese als reine Floskel enttarnt. Auf diese Weise ist die von Rancière geforderte Gleichgültigkeit schon im Vorhinein unmöglich. »Eine emanzipierte Gemeinschaft ist eine Gemeinschaft, in der jeder seine Bildung daher nehmen kann, wo er sie findet. Das setzt voraus, dass er es mit einer Welt von verfügbaren Worten, Geschichten, Dingen und Bildern zu tun hat, von denen aus er seine eigenen Geschichten, seine ›Intellektuellen Abenteuer‹ konstituieren kann, und nicht mit Bildungs- oder Motivationsprogrammen, deren Verfasser bereits seinen Platz vorgezeichnet hat.« (Rancière 2012: 190) Rancière problematisiert also die Absichten der Kunstschaffenden, seien diese noch so gut gemeint. Wenn nämlich diese zu eng mit dem Kunstgefüge geführt werden, lassen sie keinen Freiraum zu, in dem ein »Eigensinn« (Winter 2001a) des Publikums entstehen und sich entfalten kann. »Das heißt, dass die Werke existieren, indem sie eine Welt bilden, und sie bilden eine Welt, wenn man einen Raum schafft, in dem sie sich begegnen, sich verschieben, sich verformen und neu formen« (Rancière 2012: 190). Rancière meint hiermit, dass diese (künstlerisch hergestellte) Welt für alle zugänglich gemacht sein muss und somit erst durch die Begegnung das Gefüge entstehen kann. Der Ort der Kunst bestimmt nicht den Ort der Reflexion über die künstlerische Erfahrung. Nach Massumi gibt es keine Autonomie oder maßgebliche Kontrolle über das eigene Leben, also auch nicht innerhalb solcher künstlerischen Vorgänge. »Wo auch immer man ist, es gibt immer Potenzial, es gibt Öffnungen und die Öffnungen befinden sich im Unklaren, in den Grauzonen, dort, wo man am empfänglichsten für affektive Ansteckung ist, oder wo man am ehesten in der Lage ist, anzustecken. Niemals liegt es nur in der persönlichen Macht, dies zu entscheiden.« (Massumi 2010: 61) Deshalb interessieren dabei kreative Umwandlung beziehungsweise Transformationsprozesse der Besucher und Besucherinnen. Im Mittelpunkt steht das Ereignis und die dazu gegenwärtigen Beziehungen.
5. Empirische Studien
5.2.
Romeo und Julia – love me queer! »Wenn die Figuren in den Alltag mitgenommen werden, nimmt man die Gefühle und mehr mit und schleppt immer mehr und mehr hinterher, das geht sich dann irgendwann nicht mehr aus. Das packt man seelisch nicht. Also ich ziehe eine starke Linie zwischen Bühne und normalen Leben.« Interview 09
In ihrer Regiearbeit von Romeo und Julia – love me queer! aus dem Jahr 2013 setzt sich die Regisseurin Katrin Ackerl Konstantin mit dem klassischen Text von William Shakespeare auseinander. Das Stück war eine Auftragsarbeit der Neuen Bühne Villach (nbv). Als sie den Auftrag annahm, entwickelte sie unterschiedliche Inszenierungsvarianten, die mit dem Intendanten und dem Produktionsteam diskutiert wurden. Was letzten Endes als Vorschlag angenommen wurde, war für die Regisseurin die konventionellste und in der Herstellung leichteste Inszenierungsvariante des shakespeareschen Stücks. Es sollte im Freien aufgeführt werden, aber in der Nähe des Theaters, sodass eine gewisse vorhandene Infrastruktur die Realisierung erleichtern sollte. In den Vorbereitungen und der Inszenierung thematisierte sie mit den Schauspielerinnen und Schauspielern ›Sex‹ (Geschlecht) und ›Gender‹ (Geschlechtsidentität) der Figuren, aber auch gesellschaftliche Erwartungen von Beziehungen sowie institutionelle und individuelle Zuschreibungen. Die Unterscheidung von ›Sex‹ und ›Gender‹ folgt der Philosophin Judith Butler, die sich dabei unter anderem mit Simone de Beauvoir beschäftigt. Letztere schrieb nämlich in ihrem Roman Das andere Geschlecht: »MAN kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es. Kein biologisches, psychisches, wirtschaftliches Schicksal bestimmt die Gestalt, die das weibliche Menschenwesen im Schoß der Gesellschaft annimmt« (Beauvoir 1987: 265; Herv. i. O.). Daraufhin formulierte Butler eine Körpertheorie, die die Geschlechterdarstellungen in Frage stellte. ›Sex‹ verweist nach ihr auf das biologische Geschlecht, während ›Gender‹ das soziale Konstrukt von Geschlecht benennt. Dabei kritisiert sie umgehend diese binäre Beschreibung und zeigt, dass sowohl biologisches als auch sozial geprägtes Geschlecht nicht von Natur aus gegeben sind, sondern konstruiert werden (vgl. Butler 1991: 60). Diese Unter-
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Im Gefüge der Kunst
scheidung oder besser problematisierte Unterscheidung wurde im Theaterstück nicht thematisiert, soll aber durch die Bezeichnungen, die Diskussion um queere Geschlechtsidentitäten verständlicher machen. Die Regisseurin kennt den butlerschen Diskurs und wenn sie auch nicht dezidiert im Interview dazu Stellung nimmt, scheint Butler nicht unbedeutend zu sein, insbesondere, wenn diese in ihrem Buch Körper von Gewicht schreibt: »Performativität wird nicht als der Akt verstanden, durch den ein Subjekt dem Existenz verschafft, was sie/er benennt, sondern vielmehr als jene ständig wiederholende macht des Diskurses, diejenigen Phänomene hervorzubringen, welche sie reguliert und restringiert.« (Butler 1995: 22) Wie noch zu erkennen sein wird, beschäftigt sich die Regisseurin mit den gesellschaftlichen Strukturen in Romeo und Julia und möchte diese durch die queere Inszenierung vor den Vorhang holen. Deshalb ging sie im Probenprozess vorerst den Vorurteilen der Schauspieler und Schauspielerinnen nach. »Und dann dachte ich es wäre sehr reizvoll es gegengeschlechtlich zu drehen. Von der Rollenstereotypie, die rein mit der Rolle verbunden ist, also wie ist Romeo und wie ist eine Julia und ist das eine typische weibliche Figur und eine typisch männliche. Und da hat es mich sehr interessiert, also im weiteren Verlauf als Prozess, wie, weil ich ja den Probenprozess als einen ganz wichtigen erachte, der genauso wichtig ist, wie der Aufführungsprozess, wie die Schauspielerinnen und Schauspieler herangehen, wenn sie die Rolle spielen. Auch wieder mit ihren Stereotypen, die sie in ihren Erwartungen haben. Diese Neugier auf diesen Probenprozess, die hat dann diese Variante verstärkt […].« (Interview 02) Der Blick auf Geschlechterstereotypen war von Anfang der Fokus für das Stück. Vor der Probenzeit wurden vereinzelt die Schauspielerinnen und Schauspieler gefragt, was sie von der jeweiligen zu spielenden Figur halten und was sie selbst unter den Kategorien männlich und weiblich verstehen. Ein gendersensibler Blick wurde also immer wieder im Prozess mit anderen reflektiert. Was bedeutet männlich, was weiblich? Zudem wurde während der Probezeit ein Drag-Queen-Workshop abgehalten, um den Schauspielenden unterschiedliche Körpererfahrungen anbieten zu können. Die Kostümbildnerin stellte bei der Probe unterschiedliche Kleidungsstücke zur Verfügung, wodurch die Schauspielerinnen und Schauspieler angeregt waren, individuell zu entscheiden, welches Gender, ungeachtet der Rolle, sie auf der
5. Empirische Studien
Bühne darstellen wollten und welche Kleiderstücke dazu passen könnten. Mit dem Anprobieren neuer Kostüme, die unterschiedlichen Geschlechtern zugeschrieben werden, wurde der Wunsch gefördert, gänzlich Rollen zu tauschen. Dieses Verlangen war insbesondere bei den beiden Hauptfiguren während der Leseprobe entstanden. »Und da war Romeo und Julia und die […] die Frau hat Julia gelesen am Anfang und der Mann Romeo und die Frau hat sich nachher beschwert beim Romeo-Leser, dass sie sich nicht weiblich genug gefühlt hat, denn Romeo wäre zu wenig männlich gewesen. Da haben wir gesagt, aha hängt seine Performanz von deiner ab? Ja, irgendwie schon. Und dann haben wir ihn gefragt, kam er sich jetzt zu wenig männlich vor. Ja also Romeo ist so übermännlich, dem habe ich vielleicht wirklich nicht entsprochen. Und dann haben wir es gedreht, und dann hat die Frau halt Romeo gelesen und der Mann Julia. Und dann hat diejenige, die sich vorher beklagt hat, gesagt, ja sie hätte sich beim Romeo sehr gut jetzt gefühlt. Und wir haben gefragt, ist das abhängig davon wie Julia performt. Nein, das ist völlig unabhängig, also Romeo ist einfach klasse.« (Interview 02) Die Schauspielerin und der Schauspieler sind dabeigeblieben und haben die Rollen getauscht. Die anderen Figuren waren ›gemischt‹, was bedeuten soll, dass sich die Schauspielenden nach und nach dafür entschieden haben, ob sie die im Text vorgegebene Geschlechtsidentität annehmen möchten oder nicht. Während der Aufführung wurden hin und wieder die Grenzen der deutschen Sprache getestet, da Pronominal-Wörter anscheinend ›falsche‹ Verwendung erfuhren. »[D]iesen Tick hatte die Amme, dieses sie ihn. Als es um den Grafen ging, den Paris, da war es nicht klar, wie es sein soll. Das sollte offenbleiben, aber bei den Hauptfiguren haben wir es klar gehabt« (Interview 09). Nach dem Willen der Eltern, sollte Paris Julias Ehemann werden. Im Publikum fiel die Schwierigkeit der Amme, Paris zu einer Geschlechtsidentität zuzuordnen, auf. »Das einzige was war, es war noch von irgendjemand anders die Rede. Einer mit dem Julia verheiratet werden sollte, da war eben, ob das ein er oder eine sie ist nicht klar, weil sie gesagt haben er oder sie« (Interview 05). In einem anderen Interview wurde diese Vertauschung nicht spezifisch Paris zugeordnet: »Ja das ist mir öfter aufgefallen. Fand ich gut, dass man das extra noch betont, dass es um das Vertauschen der Geschlechter geht« (Interview 07).
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Im Gefüge der Kunst
5.2.1.
love me queer!
Darüber hinaus, wie der Untertitel love me queer! schon andeutet, war die Repräsentation der Geschlechtsidentität auch bei den anderen Figuren nicht immer eindeutig. Besonders zu Beginn hatte man Schwierigkeiten zu erahnen, ob augenscheinlich Frauen wirklich Frauen und Männer tatsächlich Männer spielten. Romeo spielte eine Frau und Julia einen Mann. Dies war durch die Namensnennung schnell klar. Das übrige Ensemble verwirrte jedoch hinsichtlich der Gender-Frage, da man nicht davon ausgehen konnte, dass die Rollen einfach getauscht worden sind. Die Pronomen er und sie schienen manchmal zum visuellen Auftreten zu passen, manchmal nicht. So sind unterschiedliche Wahrnehmungen des Genders bei ein und derselben Person aufgetreten. Während den Theaterproben las der Schauspieler, der zuerst Romeo spielen sollte seinen Text bei der Leseprobe. Seine Schauspielpartnerin Julia war dabei jedoch verwirrt und kam sich zu wenig weiblich vor. Für ihn war es wiederum nicht möglich so männlich zu sein wie Romeo im Text. Beide waren damit nicht zufrieden und diskutierten mit der Regisseurin die Bedeutung und Wahrnehmung des Weiblichen und Männlichen. Sie empfanden, dass die Intensität der Wahrnehmung beider Geschlechter immer in Relation zu einem männlichen Ideal definiert wird, das jedoch nicht bekannt ist und deshalb immer diffus im Hintergrund bleibt. Sie versuchten die Rollen zu tauschen und lasen den Text erneut. Beim Text von Romeo fühlte sich die Schauspielerin wohler. Julias Text stehe in keiner Relation zu ihrem. Beide fühlten sich in der anderen Rolle besser aufgehoben und so entstand die Idee die Rollen zu tauschen. Zuvor war die Absicht der Regisseurin, dass die Schauspieler sowie Schauspielerinnen auf der Bühne das darstellen, was sie unter typisch männlich oder weiblich verstehen. Diese Idee wich jedoch dem beschriebenen Wunsch. Die weiteren Rollen im Stück wurden von den Schauspielerinnen und Schauspielern unterschiedlich gespielt, je nachdem, wie sie die shakespearschen Figuren wahrgenommen haben, haben sie diese auf der Bühne gespielt. Aus dem Team der Schauspielenden war die Neugier auf die Umsetzung groß: »Ich muss sagen, ich war sehr neugierig, wie sie die Produktion angehen will, weil ich kenne natürlich Romeo und Julia. Ich habe es schon gespielt in den klassischen Rollen und war sehr neugierig und dachte wie das funktionieren soll mit vertauschten Rollen der Geschlechtlichkeit, also, dass Ro-
5. Empirische Studien
meo eine Frau ist und Julia ein Mann, wie sich das ausgehen soll. Ich war sehr neugierig und bei den ersten Proben als wir gelesen haben, hat es sich für mich sehr komisch angehört. Weil ich eben wie gesagt dieses klassische Romeo und Julia noch im Kopf hatte. Wir haben es ja über 30 Mal gespielt und man hört es jeden Abend und irgendwann kann man fast jede Rolle mitsprechen. Und wir hatten damals eine Julia, so eine kleine zarte Person. Da hat es mich im ersten Moment wirklich so gerissen. Aber je mehr man sich damit auseinandersetzt, denkt man sich es geht sich aus. Es geht sich aus und es macht im Endeffekt keinen Unterschied mehr, ob es ein Mann ist oder eine Frau. Weil es geht um Beziehungen allgemein und das war für mich sehr spannend. Und den Begriff queer hatte ich vorhin nicht wirklich gekannt. Ich habe mich einfach überraschen lassen, wie das funktioniert.« (Interview 09) In einer vergangenen Produktion des Theaterstücks, die die interviewte Person angibt, war Julia über 30 Mal eine zierliche und kleine Frau. Dies hinterlässt einen bestimmten und tiefen Eindruck, wie die Figur aussieht, was ihr zugeschrieben wird und darüber hinaus wie diese handelt. Durch die Besetzung Julias durch einen Mann, entsteht eine Störung im Theatergefüge. Die Produktionsgewohnheit, die Figuren nach ihrem biologischen Geschlecht zu besetzen, wird umgekehrt und mit einer neuen Möglichkeit konfrontiert. Erst nach einiger Zeit wurde die Möglichkeit zu einer realen Gegebenheit, sodass die geschlechtliche Verknüpfung in den Hintergrund geriet und für die Problematik der Beziehung Platz machte. Von der Seite der Regie, war es wichtig die Geschlechtsidentität Frau und Mann zu hinterfragen, nicht jedoch die Dichotomie zu verlassen. In der Vorbereitung wurde extra noch darauf hingearbeitet zu reflektieren, warum die Figur männlich oder weiblich (gespielt) sein sollte: »Ich habe sie alle gefragt, ob sie als Mann oder als Frau diese Rolle performen wollen« (Interview 02). Die Assoziationen und Vorurteile begleiteten das Team während der Probezeit: »Tybald hat gesagt, nur ein Mann kann so grausam sein. Und da haben wir gesagt, achso, woher nimmst du diese Annahme. Solche Sätze haben uns so stark beim Probenprozess begleitet. Die waren hoch interessant, wie sie sich erhärtet oder völlig aufgelassen wurden.« (Interview 02) Auf der anderen Seite, nämlich auf der des Publikums, war die Wahrnehmung bezüglich der Aufführung des Geschlechts oder der Geschlechtsidentität sehr unterschiedlich. So dachte man, dass Männer ausnahmslos Frauen spielten
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und Frauen ausnahmslos Männer: »Ne, also das fand ich eben schon relativ eindeutig, das Getausche (Interview 05).« Im gleichen Interview wird jedoch noch betont, dass das ›Getausche‹ weniger über die Kleidung, sondern mehr über das körperliche Verhalten zum Ausdruck kam: »Ich fand halt, dass die Männer, die von Frauen gespielt worden sind, nicht unbedingt so extrem, also gar nicht über das Aussehen, also von der Kleidung, sie hätten sich ja einen Bart ankleben können oder sonst was, dass das so extrem war, sondern dass es eher um die Verhaltensweisen ging. Dass sie sich so bewegt haben oder so.« (Interview 05) In einem anderen Interview wurde am biologischen Geschlecht festgehalten, wenn zum Teil auch die sexuelle Orientierung betont wurde: »Nein, ich meinte, dass Männer, aber halt schwule Männer gespielt haben und Frauen in ihrer Männerrolle Frauen geblieben sind« (Interview 07). Andere hatten Schwierigkeiten, die Rollen und ihre Geschlechterzuweisungen zu verstehen. »Überhaupt in die ganze Geschichte, weil, dass da jetzt Frauen Männer und Männer Frauen spielen, das habe ich so in den ersten zehn, fünfzehn Minuten nicht so ganz noch gecheckt« (Interview 08). Zuletzt war es aber gerade dieses Element, dass die Aufführung zu einem besonderen Erlebnis machte: »Also die vertauschten Gender-Rollen oder Geschlechterrollen vielmehr haben gerade diese Aufführung besonders gemacht« (Interview 08). Eine andere Interview-Stimme war von der vor allem queeren Inszenierung überfordert. »Ich bin letztendlich bei den Rollen nicht so wirklich mitgekommen« (Interview 03). Dieselbe Person konnte auch mit dem Begriff nicht viel anfangen und war sich unsicher, was seine genaue Bedeutung sei. Dem wurde im Interview-Gespräch noch nachgegangen, jedoch war das Interesse der Interviewperson nicht das Queere an Romeo und Julia, sondern das Stück selbst. Auf der anderen Seite des Rezeptionsspektrums war die Wahrnehmung zu fluiden Geschlechterrollen- oder Geschlechtsidentitäten sehr stark ausgeprägt. Hier erkannte man also keine Norm der Geschlechtsidentität, sondern einen lebhaften Wechsel, der von den einzelnen schauspielenden Personen vollzogen wurde. So wird zum Beispiel der Wechsel der Geschlechtsidentität einer Person betont: »Aber am Ende waren es dann verschiedene Szenen, also total gemischt und eine Person, also Romeo oder Julia zum Beispiel hatte in verschiedenen Szenen verschiedene Geschlechterdarstellungen. Auch mit der gleichen Person, die das gespielt hat. Und das fand ich dann total interessant. Das hat
5. Empirische Studien
mir dann eigentlich mehr gefallen, also ziemlich überrascht, wie sie dann so fluide und gemischt […]« waren. (Interview 06) Auch in einem anderen Interview waren Brüche in der Darstellung des Genders wahrzunehmen. Besonders hervor tat sich dabei die Figur des Mercutio, die in ihren Auftritten oftmals sowohl männliche als auch weibliche Charaktereigenschaften zu besessen schien. »[…] da wird’s irgendwie spürbar, dass es für mich nicht mehr einordenbar wird. Und am stärksten war es für mich in der Figur des Mercutio oder Mercutia. […] Weil es hier tatsächlich für mich Momente gegeben hat, in denen das Geschlecht als Kategorie zwar jetzt nicht verschwunden ist, aber wo dennoch diese Ambivalenz […] da war.« (Interview 04) Auch die interviewte Person, die an den schauspielenden Personen Sex und Gender immer gleich wahrgenommen hat, hebt die Figur des Mercutio als sehr widersprüchlich hervor: »Am ambivalentesten und am eindrucksvollsten fand ich den Mercutio. Denn Mercutio ist für mich eben das etwas dazwischen. Der ist für mich eben so Etwas dazwischen« (Interview 07). Es ist interessant, wie hier dieses Dazwischen betont wird. Weder das eine noch das andere. Die Figur bleibt zwar der Mercutio, dennoch scheint es sehr schwierig in einem Moment zu sein, die Entscheidung fällen zu können, welche Geschlechtlichkeit das Gegenüber hat. Ohne uns zu fragen, warum wir Menschen in Geschlechtskategorien einordnen wollen, sind wir manchmal verunsichert, wenn dies nicht sofort gelingt. Eine weitere Stimme hebt ebenso das Schauspiel hervor: »[…] diese verrückte Art zu gehen, sie hat immer so einen verrückten Eindruck gemacht. Mir hat das irrsinnig gefallen, wie sie sich bewegt hat, während sie schwierige Texte gesprochen hat« (Interview 03). Auf Nachfrage wird das abweichende Verhalten unterstrichen und gelobt: »Eher so verrückt einfach. Da habe ich mir ein paar Mal gedacht, dass das nicht so leicht ist. Weil das einfach, ja äh, schwierig ist, da es im Alltag nicht so integriert ist. So […] komisch zu gehen […]« (Interview 03). In den oben zitierten Interviews wurden die Schwierigkeiten beschrieben, den Figuren zu folgen und sie zu einem bestimmten Gender einordnen zu können. Insbesondere die Figur Mercutios hat jedoch manche aufgrund der unklaren Genderrolle interessiert. So wurden fluide Genderfiguren wahrgenommen, die weder dem Weiblichen noch dem Männlichen zugeordnet werden konnten. In Mercutios Rolle erkannten einige den Bruch mit der Dichotomie von Mann und Frau, der durch ein sehr verspieltes Auftreten der Schau-
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spielerin erzeugt wurde. Auf diese Weise entstand eine Öffnung des spezifischen Genderterritoriums, die zwischen männlich und weiblich oszillierte (vgl. Deleuze/Guattari 1992: 437). Durch ihre Bewegungen, die oft anders ausgeführt wurden als zuvor, zum Beispiel hüpfte sie einmal, anstatt zu gehen, zeigte sie wiederholt ein neues Ich. Nach Butler muss die Geschlechtsidentität wiederholt aufs Neue hergestellt und aufgeführt werden, um überzeugend zu sein. »Vielmehr ist die Geschlechtsidentität die wiederholte Stilisierung des Körpers, ein Ensemble von Akten, die innerhalb eines äußerst rigiden regulierenden Rahmens wiederholt werden, dann mit der Zeit erstarren und so den Schein der Substanz bzw. eines natürlichen Schicksals des Seienden hervorbringen.« (Butler 1991: 60) Durch die Aufführung oder besser differenzierenden Ausführungen des Genders werden Möglichkeiten der Ausdrucksform gezeigt, die nicht nur plötzlich sichtbar werden, sondern das Publikum zur Reflexion der Wahrnehmung bringen. Welche Geschlechtsidentität wird hier dargestellt? Durch den wiederholt vorgeführten Bruch zeigt die Figur des Mercutio, dass es möglich ist, männliche und weibliche Attribute zu haben. Dass durch die Wiederholung bei den einzelnen Aufführungsterminen die unterschiedlichen Geschlechtereigenschaften ›natürlicher‹ zu werden scheinen, bestätigt eine schauspielende Person. »Und was bei mir in meiner Rolle oder was bei den meisten war, wie gesagt, wir haben diese Standardfigur, von der wir ausgegangen sind und diese queeren Momente, die sehr rausscheren wie eben diese Festszene, wo diese andere Geschlechtlichkeit viel stärker rauskommt. Und am Anfang war das so, von den Proben her, das waren wie so zwei verschiedene Figuren und je mehr wir daran gearbeitet haben, je mehr ist diese Figur zu einem verschmolzen, dass es so ein homogenes Wesen wird.« (Interview 09) Das Vorführen, dass die Welt veränderbar ist, ist auch für Rancière enorm wichtig. Dies meint die Störung im ästhetischen Regime, das nur mit einem Dissens funktionieren kann. Auch in der Probezeit war dieser Dissens bei den einzelnen Schauspielerinnen und Schauspielern vorhanden. Die Darstellungsweise des Genders war unter anderem auch von der Kleidung beeinflusst. So betont die Person im Interview die zur Verfügung gestellten Schuhe, die je nach Figur und Szene zum Einsatz gekommen sind.
5. Empirische Studien
»[…] wir haben im Stück gesagt, wir haben so queere Momente, wie dieses Fest, wo es viel stärker rauskommt, das andere Geschlecht. Aber es war ein langer Prozess es zu finden. Es war ein langes hin und her, mal so mal so. Wir haben auch viel mit Kostümteilen probiert. Mit verschiedenen Schuhen, weil die Schuhe ja auch ein zentrales Thema waren in dieser Produktion. Mal mit hohen Schuhen, mal mit Stiefeln, mal mit Bauarbeiterschuhen, was macht das mit dem Körper, was es mit der Figur tut, wenn wir die Schuhe ändern.« (Interview 09) Der Bruch mit den Gendern ist ein Bruch mit eingesessenen Sehgewohnheiten und verlangt danach, überdacht zu werden. Dazu gehört auch der Ort der Aufführung(en), der von Regisseurin sowie den Besucherinnen und Besuchern des Öfteren thematisiert wurde.
5.2.2.
am Standesamtplatz
Der Ort des Geschehens war ein öffentlicher Platz: der Standesamtplatz vor dem Villacher Standesamt. Die Publikumstribüne war gerade auf das Amt gerichtet, wobei links und rechts ebenso ein paar Sitzplätze aufgestellt waren. Davon waren ausgewählte Stühle als reserviert gekennzeichnet, damit einzelne Schauspieler sowie Schauspielerinnen sich in bestimmten Szenen dorthin setzen konnten oder auch anders immer wieder in den Bereich des Publikums kamen. So wurde eine rein räumliche Trennung zwischen Publikum und Schauspielenden verringert und teilweise aufgehoben. Darüber hinaus wurden für die Aufführung Räume des Standesamtes benutzt, aus dem einzelne Figuren des Stücks performten. In der Szene einer Party war das Publikum geladener Gast und somit Teil der Inszenierung. Während der Aufführungen war der Platz nie vollständig abgesperrt und stellte somit eine lebendige Intervention in der Stadt dar. Auch wenn der Platz grundsätzlich vom Hauptplatz abgeschirmt war, war er von der Freihausgasse einsichtig und veranlasste so manche Spaziergängerinnen und Spaziergänger während der Aufführungen zur Beobachtung. Mehrere Menschen(gruppen) lehnten manchmal kürzer, manchmal länger beim Gitter zur Freihausgasse und sahen der Theateraufführung zu. Dazu zählten vereinzelte Spaziergängerinnen, Spaziergänger, Paare und Familien, deren Kinder meistens als erstes stoppten und an der eisernen Absperrung Position bezogen, um überprüfen zu können, was denn hier vor sich gehe.
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Abbildung 3: am Schutzweg wird vom haltenden Auto aus der Aufführung zugesehen © liegt beim Verfasser
Des Öfteren sind auch vorbeifahrende Autos auf der Höhe des Freihausplatzes zum Stillstand gekommen. Der Grund dafür war in mehr als der Hälfte die Möglichkeit, kurz einen Blick auf die Aufführung zu erhaschen (vgl. Abbildung 3). Normalerweise spielen die Theaterstücke der Neuen Bühne Villach im Keller der nbv und der Raum ist bis auf den variierenden Bühnenbau von Inszenierung zu Inszenierung den Zuschauerinnen und Zuschauern bekannt. Das hier vorliegende Stück jedoch wurde auf einem öffentlichen Platz, einem realen Ort, wie es die Regisseurin betont, inszeniert. »Zum einen war der Ort ganz wichtig, weil er ein realer Ort ist. […] Wo ein Publikum, das natürlich auch aus der Agglomeration kommt, aber durchwegs auch Villachbezug hat und durchaus in dieses Standesamt täglich, oder manchmal oder einmal bei der eigenen Hochzeit oder wann auch immer durch dieses Amt gegangen ist, und da war mir dieser Platz wichtig als Hauptdarsteller.« (Interview 02)
5. Empirische Studien
Den Ort als Hauptdarsteller zu bezeichnen ist untypisch für eine Theaterinszenierung, jedoch verständlich, wenn diese im öffentlichen Raum stattfindet und dieser öffentliche Raum im Stück wiederum thematisiert wird. So trägt der Standesamtplatz zum Inhalt des Stückes wesentlich bei. Wie von der Regisseurin betont, kannten viele der Zuseher und Zuseherinnen den Platz, auf dessen Weg sie selbst zur eigenen Hochzeit oder der von Freundinnen und Freunden gingen. Damit zeigt sich auch die Bedeutung des Platzes, der mit vielen Einzelnen bereits vor der Inszenierung in einer besonderen Beziehung stand. Nicht zuletzt dadurch ist für die Theaterregisseurin der Platz der Protagonist der Theaterproduktion schlechthin und mitunter auch ein Grund, warum die Eltern und die Institution Kirche im Stück eine geringere Rolle spielten als es im Text vorgegeben ist. Ein Umstand, der auch beim Publikum für Staunen sorgte. »Ja das war, für, mit dem ich war, der Hauptpunkt danach. Er hat gesagt, das hat er arg gefunden, dass die Eltern in dem Sinn nicht vorgekommen sind und auch diese Verfeindung also nicht inszeniert wurde, sondern vorausgesetzt. Das ist ihm am stärksten aufgefallen, dass […] eigentlich […] die Eltern nicht vorgekommen sind.« (Interview 03) Ihre repräsentierenden Personen wurden in dieser Variante von Romeo und Julia nicht mit Schauspieler und Schauspielerinnen bedacht. Die Familiennamen werden unbedeutend, da nicht der soziale Unterschied beider Familien, sondern eben die staatliche und kirchliche Dimension des alltäglichen Lebens die Beziehung unmöglich machen. Deshalb waren in einem Auszug die Zeilen des Priesters auf zwei Holzbretter projiziert und rahmten einen gewissen Teil der Handlung. Denn diese Phrasen auf der Hausmauer standen für die zwei stärksten und größten Institutionen, die besonderen Einfluss, auf die (vertragliche) Gestaltungsart der Liebe haben: Staat und Kirche. Das Standesamtgebäude repräsentiert die Macht, gesellschaftliche Strukturen und Gesetze zu kontrollieren beziehungsweise zu bestimmen. Der Aufführungsplatz ist zu drei Viertel von Gebäuden umsäumt und hat eine offene Seite, an der die Freihausgasse vorbeiführt. Eine Gebäudewand besitzt einen Durchgang zum Hauptplatz, der für die Dauer des Stückes mittels eines schwarzen Vorhangs versperrt war. Die offene Seite war nur durch ein Eisengitter abgetrennt. Hier konnte man also auf die Bühne sehen, was nicht nur Spaziergängerinnen und Spaziergänger dazu veranlasste sich an das Gitter zu lehnen und dem spielerischen Treiben zuzusehen, sondern, wie in der Abbildung 3 ersichtlich, auch hin und wieder ein Auto.
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Die Veränderung des Bühnensettings spielt bei Rancière eine nicht unwesentliche Rolle für die Wahrnehmung durch das Publikum. Denn durch die Abschaffung oder den Abbau der äußerlichen Merkmale des Theatersettings, können die Zuschauer und Zuschauerinnen den Ort der Aufführung ›besetzen‹. »Das Ziel der Performance ist gerade, diese Äußerlichkeit abzuschaffen, mit unterschiedlichen mitteln: indem die Zuschauer auf die Bühne gesetzt werden, und die Performer in den Zuschauerraum und somit der Unterschied zwischen beiden aufgelöst wird; indem die Performance an andere Orte versetzt wird und sie mit der Besitzergreifung der Straße, der Stadt oder des Lebens gleichgesetzt wird.« (Rancière 2009: 26) Die theatrale Thematisierung des Platzes und Verwendung der Anwesenden eröffnet einen Raum des Dissens und ist auch Ausdruck einer Suche nach politischer Handlungsmacht, insbesondere in einem Land (Österreich), in dem gleichgeschlechtliche Ehen zu diesem Zeitpunkt nicht am Standesamt geschlossen werden durften.4 Vielleicht war dies auch der Grund, warum die Räumlichkeiten der eigentlichen standesamtlichen Trauung für die Theaterproduktion verschlossen blieben und jegliche Benützung untersagt war. »Der Ort sind viele Rollen gewesen, die Eltern aber auch die Norm in der Julia eingesperrt ist, dass sie da eigentlich nicht raus kann. Es war interessant, es wurde uns ja mehrmals entsagt einen direkten Weg in das Haus zu
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Sechs Monate nach der Aufführung erinnerte der Justizsprecher der Grünen, Albrecht Steinhauser, im österreichischen Parlament, dass die bis dahin geltende Ehedefinition aus dem Jahr 1811 stammt und einer Erneuerung bedürfe. Der neu formulierte Gesetzesentwurf beinhaltete die Forderung einer völligen rechtlichen und gesellschaftlichen Gleichstellung von Schwulen, Lesben und Transgender-Personen (vgl. Parlamentskorrespondenz Nr. 827 vom 22.11.2013). Fast wieder ein halbes Jahr später wurde ein Antrag der NEOS durch Nikolaus Scherak im Parlament eingebracht, der eine Neufassung des Eherechts zum Thema hatte, wie in etwa die Öffnung der Zivilehe für gleichgeschlechtliche Paare (vgl. Parlamentskorrespondenz Nr. 581 vom 17.06.2014). Im Nationalrat erhielt die gleichgeschlechtliche Ehe und damit der Antrag jedoch keine Mehrheit (vgl. Parlamentskorrespondenz Nr. 834 vom 29.06.2017). Erst mit der Prüfung des Verfassungsgerichtshofs wurden die Wortfolgen »verschiedenen Geschlechts«, »gleichgeschlechtlicher Paare« und »gleichen Geschlechts« als verfassungswidrig aufgehoben. Die Aufhebung trat mit Ende 2018 in Kraft (vgl. Verfassungsgerichtshof 2017). https://www.vfgh.gv.at/downloads/VfGH_ Entscheidung_G_258-2017_ua_Ehe_gleichgeschlechtl_Paare.pdf
5. Empirische Studien
nehmen. […] Ich hatte keine Erlaubnis in das Standesamt reinzugehen. Ich durfte nur bis zur Glastür, darum habe ich dann auch den Vorhang hingehängt. Also da waren auch irgendwie die Türen offen und gleichzeitig geschlossen, dass ich nicht in dieses Haus durfte, nur in diesen oberen Saal.« (Interview 02) Aus diesem Grund konzentrierte sich die Inszenierung auf den Eingang und den ersten Stock des Standesamtes, wobei in der Publikumswahrnehmung das gesamte Standesamt genützt wurde. Daher betont jemand aus dem Publikum die passende Örtlichkeit: »[…] das hat gepasst, definitiv, so eine Geschichte. Das Standesamt ist ja ein ausgezeichneter Ort für so eine Thematik« (Interview 03). Auch in einem anderen Interview wurde der Ort positiv erwähnt: »[…] und das mit dem Standesamt auch ganz passend zu dem Stück irgendwie« (Interview 05). Während sich hier in der Wahrnehmung der Ort mit der Thematisierung überlagert, wurde in einem anderen Interview, die Inszenierung in Bezug auf die Ortswahl in Frage gestellt: »[…] bis auf das, dass das Standesamt für etwas steht, habe ich nicht den Eindruck gehabt, dass der Raum als Raum wesentlich genützt worden ist. Außer vielleicht das Haus, aber dass … ich kann mir jetzt nichts vorstellen, was man nicht auch im Theater machen hätte können. Also ich habe das jetzt nicht als wirkliche Arbeit mit dem Raum als öffentlichen Raum erlebt.« (Interview 04) Hier gehen also die Publikumsmeinungen auseinander und die individuelle Wahrnehmung derselben Inszenierung wird deutlich. Im Interview 04 wird zwar die Bedeutung des Gebäudes anerkannt und mit dem Theaterstück verbunden, wenngleich der öffentlich Raum nicht wesentlich für das Stück wahrgenommen wurde. Es wird sogar dezidiert daraufhin verwiesen, dass dieselbe Inszenierung ebenso im Theater stattfinden hätte können. Eine andere Stimme betont, dass das Spielen aus dem Standesamtssaal, wo die Trauungen stattfinden, besser gewesen wäre: »Ich weiß nicht, wie das im Vorhinein abgemacht war oder nicht. Es wäre natürlich schön gewesen, in dieses Standesamt […] reinzugehen« (Interview 19). Interessant ist vor allem die unterschiedliche Sensibilität, wenn es um den Gebrauch des Raumes geht. Für die Regisseurin war die Nutzung des Platzes ungemein wichtig. »[Die Öffnung des Publikumraums durch den öffentlichen Platz, A. H.] unterstützt vielleicht auch den Gesamtaspekt oder meine Gesamtsuche diesen gemeinschaftlichen Moment spürbar zu machen in diesem realen Raum.
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Im Gefüge der Kunst
Das ist ein Raum, der uns allen gehört, und wo sich Menschen versammeln, um über ein Thema zu variieren, auf der Bühne und von der Bühne entfernt.« (Interview 02) Von der Produktionsseite aus ist der Platz nicht nur ein Bestandteil des Stückes, sondern darüber hinaus eine Möglichkeit ihn zu besetzen, wie wir es auch bei Rancière gelesen haben. Die Zuschauenden können hierbei das Standesamt oder ihr urbanes Umfeld als Handlungsraum entdecken und herausfordern. So wie die Inszenierung auch als eine Forderung gelesen werden könnte, standesamtliche Trauungen für queere Paare zuzulassen. Hier zeigt sich wieder, dass der Raum mehrdimensional gedacht werden muss, da er sich aus den unterschiedlichen Beziehungsverknüpfungen und Lebensbiographien zusammensetzt. Es verändern sich Räume stets und werden laufend aufs Neue durch die Konstruktion von neuen Beziehungen mit Bedeutungsinhalten aufgeladen (vgl. Massey 1992: 80 und 2005: 107). So entstehen Widersprüche aus den sozialen Beziehungen zum Raum. In der theatralen Besetzung des Raumes tritt ein widerständiges Verhalten auf und lässt das Publikum die klassische Narration räumlich neu erfahren. Da die Inszenierung mit dem Platz und dem Gebäude inhaltlich nicht konformgeht, werden Machtstrukturen und damit verbundene Gegenöffentlichkeiten sichtbar. Es entsteht im Sinne Bourriauds ein Zwischenraum (vgl. Bourriaud 2002a: 14) oder in Rancières Worten ein Zusammenprall von sich nicht vereinenden Positionen: ein Dissens. Mit einer solchen Kreation werden die Zuschauer und Zuschauerinnen zu handelnden Personen, da sie von passiven Voyeurinnen und Voyeuren zu aktiven Teilnehmenden werden (vgl. Rancière 2009: 14). Durch die unterschiedlichen Strategien, die Äußerlichkeiten des Theaters aufzulösen, werden Publikum und Schauspielende zu Kooperationspartnern und nähern sich somit gegenseitig an. Rezeption und Produktion werden verkettet und neu angeordnet. Es ensteht daraus ein Gefüge, welches unterschiedliche Logiken zusammenbringt (vgl. Deleuze/Guattari 1997: 12).
5.2.3.
über das Gefühl, dabei zu sein
Wie geht es aber den Zuschauerinnen und Zuschauern, wenn die Äußerlichkeiten der Theateraufführungen verblassen? Welche Vorstellung(en) hat das Publikum von Partizipation? Fühlen sie sich eingeladen mitzuspielen, und wenn ja, in welcher Intensität und wie?
5. Empirische Studien
Selbstverständlich gab es während der Vorstellung eine Vielzahl von Erfahrungen. Innerhalb dieser Erfahrungen soll der Frage nachgegangen werden, ob die Zuschauenden während der Aufführung in einer Interaktion, Partizipation oder Teilhabe verwickelt waren. Die in den Aufführungen verwendeten Begrifflichkeiten, wurden selten eindeutig verstanden, da sie sehr unterschiedlich in Verwendung waren. Während sich Interaktion auf die Ausführung einer Anleitung bezieht, meint Partizipation ganz allgemein eine mögliche Art und Weise des Vermittelns, da sie Beratung, Entscheidung und Umsetzung umfasst oder in konkreten Beispielen umfassen sollte. »Partizipation ist damit per se ein Vermittlungsprinzip zwischen den Individuen und den allgemeinen, sozialen oder politischen Institutionen« (Zirfas 2015). Die Teilhabe soll eine Übertretung der reinen Vermittlungsebene ermöglichen, die das Ziel verfolgt, »neue Wissenskonstellationen zu ermöglichen und zu diskutieren« (Hoins/von Mallinckrodt 2015: 16). Im Interview erklärte eine Person ihr Verständnis von Partizipation und dass die Aufführung demnach nicht partizipativ war. »Ich habe nicht den Eindruck gehabt, dass ich in irgendeiner Form direkt angesprochen werde, außer mit dem Verweis auf das Volk, ja also, dass ich mich manchmal im Volk positioniert gesehen habe. Da habe ich den Eindruck gehabt, ok, ich spiele als Volk mit, da habe ich mir gedacht, will ich das überhaupt, […] es regt sich in mir immer gleich der Widerstand. Da denke ich, ich bin gar nicht gefragt worden, ob ich die Rolle übernehme.« (Interview 04) Im zitierten Interview ging es auch darum, an einer Stelle während der Aufführung eine Möglichkeit zu bekommen, eingeladen zu werden, an der Handlung mitzuwirken. Da dies nicht gegeben war, wäre die Aufführung auch nicht partizipativ ausgerichtet. Nur als die abstrakte Bezeichnung Volk fiel, fühlte sich die Person angesprochen und somit als potenzieller Dialogpartner im Stück. Jedoch wurde dies in der Inszenierung nur angedeutet. Das Publikum wurde an keiner Stelle eingeladen am Stück aktiv teilzunehmen. Die interviewte Person fragte sich an dieser Stelle, ob sie das überhaupt wolle. Denn ungefragt eine Rolle zu übernehmen, die ohnehin nur aus ›passiver Teilnahme‹ besteht, bleibt hier sehr unbefriedigend. Nach der Definition von Partizipation, stellt sich hier die Frage, wie hier und ob überhaupt zwischen dem Publikum und der Aufführung vermittelt wurde. Auch wenn im Vorhinein durch Inputs mit einem Teil des Produktionsteams (er)klärende Inhalte zur Inszenierung dem Publikum weitergegeben wurden, gab es keine Diskussi-
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Im Gefüge der Kunst
on, sodass sich die partizipative Ebene vorerst mit der Vermittlung befasste, nicht mit Umsetzungen. Zudem kommt hinzu, dass der Bühnenraum einen Machtraum widerspiegelt, in dem nur bestimmte Personen agieren dürfen. »[F]ür mich [ist] der Theaterraum oder die Bühne […] der machtvollste Ort im Theater. Und wer auf der Bühne agiert, […] dem ist es erlaubt zu sprechen oder der ist erlaubt zu sprechen, so lernen wir es. Und um diese Grenze zu überschreiten und zu durchbrechen braucht’s […] entweder jemanden von Seite der Bühne, die diesen Machtraum öffnet und aktiv einlädt durch Interaktions- und Kommunikationsangebote: es ist gewünscht, dass ihr da seid.« (Interview 04) Da es von den Figuren oder in der Inszenierung keine Einladung gab, sich an der Theateraufführung zu beteiligen, wurde hier kein Gefühl der Partizipation erzeugt. Zum Gefühl ein Teil des Stückes zu sein, gehört aber auch die Positionierung im Publikumsraum. So hat eine Person überraschenderweise keinen Sitzplatz mehr bekommen und sich somit notgedrungen auf die Treppen der Tribüne gesetzt. Dadurch war sie mitten zwischen den Stühlen, also an einem Ort, der ihr durch das Theatersetting eigentlich nicht zustehen würde. In dieser Situation fand sich die Person jedoch stärker mit den Schauspielenden als dem Publikum verbunden. Sie empfand sich sogar als ›Teil des Stücks‹. »Teilweise ja auch Teil des Stück, weil eben die Schauspieler die Stufen auch benutzt haben als Teil der Bühne und weil ich auf den Stufen gesessen bin, musste ich mich so wirklich auf die Seite quetschen, weil ich im Weg war. Ob das die gleiche Wirkung gehabt hätte, wenn ich auf den Stühlen gesessen bin, weiß ich nicht. Und ich glaube da ich nicht mit dem Rest des Publikums auf den Stühlen gesessen bin, habe ich mich schon etwas mehr isolierter gefühlt als sonst. Aber das hat mit meinem Sitzplatz zu tun.« (Interview 06) Als Grund für die Verbundenheit wird also der geteilte Bühnenraum mit den Schauspielerinnen und Schauspielenden genannt. Dies war aber nicht nur der Fall, weil die Person zufällig auf den Treppen der Tribüne platznehmen musste, sondern auch auf einigen Stühlen links und rechts von der Tribüne. Diese waren jeweils mit einem Zettel mit dem Aufdruck reserviert gekennzeichnet. Dorthin wurden gewisse Sequenzen des Bühnengeschehens hin verlagert. Teil des Stücks zu sein, stärkte auch, wie in einem Interview hervorgehoben wurde, der öffentliche Raum.
5. Empirische Studien
»Du fühlst dich eher als Teil des Raums, des gesamten Raums. […] wenn du da dann wohnst, dann gehst du vielleicht jeden Tag vorbei und dann entsteht an diesem Ort etwas Anderes. Und dann fühlst du dich in diesem Ort oder an diesem Ort anders eingebunden, aber das entsteht ja erst dadurch, erst durch diese Performance sozusagen. Und dieses sich anders fühlen an diesem Ort entsteht durch diese Performance und insofern kann man sagen, man fühlt sich anders, aber man wird auch zu diesem Teil. Ich weiß nicht wie man das beschreiben soll.« (Interview 07) In diesem Interviewausschnitt wird deutlich, wie sich das Wissen über den Ort und die Intervention durch die Inszenierung in die Erfahrung einschreiben. So werden mittels einer »gelebten Textualität« (Winter 2011b: 77) Handlungen und Praktiken geprägt. »[…] Sprache, Diskurse und Texte [spiegeln] nicht Erfahrungen wider, sondern schaffen sie neu. In diesem kreativen Prozess wird das, was beschrieben wird, moduliert, transformiert und aufgeschoben« (ebenda). Die Theateraufführungen verstärken diese Dimension. Denn Shakespeare erfährt durch die Inszenierung eine gelebte Textualität sowie die Inszenierung durch die Aufführung vor dem Publikum. Die verschiedenen Texte und Diskurse werden in diesem Zusammenhang immer wieder neu individuell verhandelt und konstruiert. So entstehen einzelne qualitativ voneinander unterschiedliche Erfahrungen, die sich zum Beispiel durch die Intensität der Partizipation auszeichnen. So meint eine interviewte Person: »[…] ich würde sogar sagen, dass die Partizipation mit der Irritation beginnt, sogar sehr häufig beginnt. Weil dann fühlst du dich automatisch eingebunden in das Geschehen, weil du dich ja damit auseinandersetzt« (Interview 07).
5.2.4.
Irritation?
Wenn Partizipation tatsächlich mit einer Irritation beginnt, stellt sich die Frage, ob die Menschen, die vom Theaterstück nicht irritiert waren, in dieser Logik auch nicht partizipiert haben. Dabei ist eine Antwort in einem Interview nicht uninteressant, die Aufschluss darüber gibt, welche Erinnerungen an das Stück nach dem Besuch existieren. Auf die Frage, ob in letzter Zeit einmal oder öfters an die Aufführung gedacht wurde, antwortet die Person: »Also nie daran gedacht habe ich nicht. Es gibt da so ein paar Szenen, weil es einfach auch ein schöner Abend war. Ich habe damit verknüpft irgendwie, weil da gab es einen ziemlichen Sturm und man hat gedacht, dass das Stück gleich abgebrochen und dann ist aber nicht abgebrochen worden,
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man hat zu Ende spielen können. Es hat dann ja auch gar nicht geregnet. Das taucht hier und da immer wieder mal auf und auch die Kombination mit der Gundstoryline, die wo ich sagen muss, ich kenne diesen Leonardo di Capriofilm und ich habe mich nicht wirklich an die Handlung erinnern können. Ist auch schon lang her, dass ich ihn gesehen habe. Aber das hat mir die Handlung wieder nähergebracht und […] ich könnte die Kurzzusammenfassung wiedergeben.« (Interview 08) Dieselbe Person hat auch gesagt, dass der Beginn des Stücks nicht so einfach verständlich war, da der Rollentausch zwischen Romeo und Julia in den ersten zehn Minuten für Verwirrung sorgte. Im Nachhinein kann also diese Aussage so gedeutet werden, dass der Umstand des Rollentauschs für die Geschichte irrelevant war, da sich der Vergleich zum gesehenen Film aufdrängt und damit nicht die Adaption des Theaterstücks, sondern die Basisgeschichte für die Rezeption und die Gedanken danach prägend waren. Auf ein paar Szenen wird verwiesen, weil es ein schöner Abend war. Der aufkommende Sturm, der so schnell gegangen wie gekommen war, ist nun ein Verweis auf das Stück. Dieses wurde dadurch wieder in Erinnerung gerufen und vielleicht ist es gerade die aufwühlende Geschichte des Paares, das sich im Diesseits nicht lieben darf, sodass es versucht im Jenseits zueinander zu finden, die durch den Sturm eine Assoziation gefestigt hat. Im Grunde habe sich die Inszenierung vom bekannten Film nicht unterschieden. »Von der Grundgeschichte nicht. Es ist einfach eine andere Form von ästhetischer Darstellung. Ein anderer Zugang. Ein anderer Zugang mit der gleichen Geschichte« (Interview 08). Die Theaterinszenierung wurde in diesem Interview als eine andere ästhetische Ausdrucksform der Geschichte als der Film (!) wahrgenommen, die Geschichte, also der Inhalt, aber nicht wesentlich anders. Ob Romeo von einer Frau dargestellt wird und Julia von einem Mann ist hier nicht wesentlich. Auch hier gibt es eine konkrete Vermittlungsebene, obwohl die Dimension des Genderbeziehungsweise Geschlechtertausch nicht im Vordergrund wahrgenommen wurde. Jede Person spielt eine Rolle, so eine Aussage im Interview, und damit ist jede Person individuell. Sex und Gender rücken dabei anscheinend in den Hintergrund. Es wurde nicht stärker darauf eingegangen und die Irritation zu Beginn des Theaterbesuchs wich einer Zuseherinnen- und Zuseherhaltung aus dem Publikum: »Also ich bin da jetzt weniger jemand, der da so viel Wert draufgibt, mitten drin zu fühlen, der gerne von außen zusieht und nichts beitragen muss. Aber man musste ja auch nichts beitragen. Man war einfach ein bisschen mehr mitten drin als nur anwesend« (Interview 08). Der Inhalt des
5. Empirische Studien
Theaterbesuchs war also nicht unwichtig, jedoch war eine Beschäftigung mit dem Stück weder im Vorhinein noch im Nachhinein wichtig. Das ›mehr mitten drin‹ verweist auf den öffentlichen Ort und die erlebte Witterung, welche dem Stück noch eine zusätzliche Dimension in der Erinnerung verschaffte. In einem Interview wird darauf verwiesen, dass im Vorhinein zum Stück oder besser zur Begrifflichkeit queer recherchiert wurde: »Na ich habe […] jemand darüber sprechen hören oder jemanden sagen, das ist ja queer. Dann habe ich nachgeschaut, was es heißt, weil ich es nicht gewusst habe« (Interview 03). Später reflektiert die Person »Was es genau übersetzt heißt, habe ich schon wieder vergessen, so verdreht, verachtet war es nicht, aber so […] etwas schräges abweichendes Verhalten« (Interview 03). Wichtig war hier auch das Gespräch im Anschluss der Aufführung im Freundinnen- und Freundeskreis. Dabei wurden verschiedene Wahrnehmungen und Auffälligkeiten, wie in etwa das Fehlen von den Eltern, besprochen. Es blieben jedoch viele Fragen offen, die im Interview angesprochen wurden und das Gespräch als Möglichkeit der Klärung genutzt wurde. Das Interview wurde jedoch ein Tag nach dem Theaterbesuch geführt, sodass die Beschäftigung mit dem Stück im Nachhinein recht kurz ausfällt. Im Interview wurden stark die Funktionen der einzelnen Figuren im Stück diskutiert und inwiefern heutzutage Zwangsehen oder ähnliches noch aktuell sind. Die bereits hervorstechende Figur des Mercutio war im Interview 04 der Beschäftigungsmotor über die Aufführungszeit hinaus. Zusätzlich dazu hat die Sprache für Irritation gesorgt und zum Nachdenken im Nachhinein geführt. Insbesondere wird der Anlass der Auseinandersetzung durch Brüche und Irritation beschrieben. »und das hat mich weiter beschäftigt: die Brüche. […] was mich auch beschäftigt hat, waren Irritationen, die ich noch immer nicht zuordnen kann, warum es notwendig war Dialekt zu sprechen, […] weil das ist mir nicht klar« (Interview 04). Im Vorhinein war das Interesse an der queeren Thematik groß, da diese auch immer wieder ein Thema für die interviewte Person ist. An der Figur von Mercutio war der Bruch mit Sex und Gender besonders spürbar, da keine eindeutige Zuordnung stattfinden konnte. »Hm… also was in jeden Fall für mich spannend, also wo ich es eingelöst gefunden hab, war in den Brüchen, die sich immer wieder ergeben haben für mich in der Rezeption. Weil ich gesagt habe, das stimmt, da wird’s irgendwie spürbar, dass es für mich nicht mehr einordenbar wird. […] am stärksten war es für mich in der Figur des Mercutio oder Mercutia oder, weil es da tat-
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sächlich für mich Momente gegeben hat, wo das Geschlecht als Kategorie zwar jetzt nicht verschwunden ist, aber wo dennoch diese Ambivalenz oder dieses Gleiten der Signifikanten, das Mögliche da war. Das war in der Figur für mich am stärksten da. Die Gefahr ist ja immer, wenn man sich quasi dem Thema Geschlecht zuwendet, dass man es damit als Kategorie noch einmal festschreibt. Und das ist dann an manchen Stellen im Stück auch passiert, aber ich glaub da gibt’s auch – denk ich, kein Entkommen, also in einer geschlechtlich binär codierten Welt ist es halt sehr schwierig in das Dazwischen reinzugehen. […] ich habe die Versuche spannend gefunden, vor allem diese Idee, dass wir ziehen uns quasi diese Rollen an, im Sinne der Schuhe, so diese goffmannsche Idee der Rolle ja, oder dieses wir alle spielen. Gleichzeitig ist es dann halt so, als wäre darunter noch etwas, was nicht angezogen ist, also diese Idee der Oberfläche und Tiefe, die ich auch problematisch finde. Ich habe dann auch diese Stimme gehört, dass […] das biologische Geschlecht dekonstruiert wird. Das habe ich nicht wahrgenommen.« (Interview 04) Während man immer, wenn man die Normen von weiblich und männlich hinterfragen und überschreiten möchte, diese auch konstruieren muss, damit sie erstmals überschritten werden können, gab es in der Inszenierung einen Zwischenraum, der die Ambivalenz der beiden Pole deutlich machte. Im Interview werden diese Momente als Brüche bezeichnet, als Momente der Irritation und Uneindeutigkeit. Dadurch war ein großer Spielraum vorhanden, in dem man sich selbst aussuchen konnte, was gemeint war. Der Interpretationsraum wurde gestärkt und die Zuschauenden konnten durch ihre Bereitschaft zur Eigenständigkeit die Figuren deuten. Aus der Sicht des Schauspiels wurde die Vielschichtigkeit der Geschlechtsidentität und ihre Ambivalenz betont: »Ich glaube, dass so jeder seine Anteile hat. Männliche und Weibliche. Bei einem ist das Eine stärker ausgeprägt und beim anderen das Andere. Aber ich glaube, dass beides ein bisschen durchkommt« (Interview 09). Im Interview 05 war die Beschäftigung mit dem Stück in unterschiedlichen Belangen recht intensiv. Dies lag unter anderem auch daran, weil die Person im Interview 05 die Arbeiten der Regisseurin bereits kannte. Sie hatte ein Stück von ihr bereits gesehen und von der Absicht Romeo und Julia aufzuführen zuvor an der Universität über die ÖH gehört. Zum Aufführungsabend kam sie mit einer von der ÖH organisierten Gruppe, wobei an diesem Abend vor der Aufführung ein öffentliches Gespräch mit der Regisseurin, der Bühnenbildnerin und der Leiterin des Drag-Queen-Workshops für die Schauspie-
5. Empirische Studien
lerinnen und Schauspieler stattfand. Zwar habe die interviewte Person den Inhalt des Stücks weder gelesen noch in einem Film gesehen, wüsste aber im Allgemeinen, dass es um die Liebe zwischen Romeo und Julia und die Schwierigkeiten zwischen ihren Familien geht. Die Figuren in der Inszenierung bleiben bei ihr insbesondere durch ihr Verhalten in Erinnerung. Es ist genau das Spiel mit Gender und Geschlecht, das sie im Nachhinein nicht loszulassen scheint. Dabei war ihr die Frage, ob es sich nun bei einer Person um einen Mann oder eine Frau handelt nebensächlich. Spannender fand sie eben diese Uneindeutigkeit: »Ja da fand ich es nicht eindeutig, außer das, was irgendwie so rüberkam […] Halt so Selbstbewusstsein. Sie oder er hätte die Körperhaltung nicht angenommen, von der ich gesprochen habe. So einen gesenkten Kopf und vorsichtige Schritte und so was. Das war halt irgendwie. Das ist mir halt aufgefallen.« (Interview 05) In der Reflexion setzt sie sich immer zum Verhalten der spielenden Figuren in Beziehung. So erklärt sie, wie bestimmte Haltungen bei den Figuren nicht vorkommen können, da diese nach einem gewissen Schema spielen – aus diesem jedoch auch hin und wieder ausbrechen. Diese Möglichkeit sich selbst zu wandeln oder anders ausdrücken zu können beschäftigt sie sehr. Sie denkt über ihr eigenes alltägliches Verhalten nach und was sie mit ihrem körperlichen Auftreten bei anderen bewirkt. »Ich fand das halt sehr beeindruckend irgendwie. Also gerade so wie die Frauen gespielt haben als Männer äh. Und ich dachte so romeomäßig, das kriege ich halt nicht hin. Aber so manche Verhaltensweisen, halt irgendwie sind bei mir zu hinterfragen. Ebenso, das meintest du ja, so eine etwas unterwürfige Haltung oder so etwas wie die Julia, dass ich mich damit besser identifizieren konnte gegenüber Romeo, aber dass mich das schon stört, weil, also ich sehe da schon irgendwie, also die Julia würde da ja jetzt… wie soll man das sagen… ja schon… es war ja jetzt nicht so, dass Julia gar nichts von sich gehalten hätte. Aber so extrem so zart und empfindlich, ich denke das ist ja auch alles gut irgendwie, aber eben dann irgendwo hinzugehen und sich so hinzustellen mit gesenktem Kopf und keine Ahnung so… hm tu mir bitte nichts. Das ist halt wieder so denk ich mir wieder so ich glaube es gab bestimmt genug Situationen und darüber habe ich halt so nachgedacht, wo ich so gehandelt habe und das finde ich halt nicht gut.« (Interview 05)
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Obwohl sie versucht Wertungen zu vermeiden, problematisiert sie die Figur Julias, die durch den Schauspieler nochmals zusätzlich verletzlicher von ihr wahrgenommen wurde. Durch diese Irritation identifiziert sie sich teilweise mit der Figur und vergleicht sich und ihre eigenen Handlungsweisen. Was sie an den Handlungen Julias nicht gut empfindet, wird zu einem Störfaktor an der eigenen Person. Als ich die Person im Interview gefragt habe, ob nach dem Stück eine Situation erfahren wurde, die in der Reflexion mit der Aufführungserfahrung etwas zu tun hat, wurde von einer bestimmten Situation gesprochen, jedoch nicht konkret ausgeführt. Als das Aufnahmegerät abgeschaltet wurde, erfuhr ich die Geschichte, dass die interviewte Person darunter litt, oftmals wie Julia manchmal sehr leise und tendenziell unterwürfig aufzutreten. Dieser Umstand war insbesondere in ihrer Beziehung ein Problem, da sie sich schon seit längerer Zeit sehr unwohl gefühlt hatte, jedoch nicht in der Lage war, eine Veränderung herbeizuführen, die sie zufrieden stimmte. Mit der Irritation oder besser der Erfahrung von Romeo und Julia im Hintergrund war sie aber beeinflusst und wusste, dass sie auch als Frau wie die Schauspielerin, die Romeo spielte, auftreten könnte. Das veranlasste die Person aus dem Interview 05, ihre Beziehung aktiv zu beenden, auch wenn sie im Nachhinein in der Situation nicht zur Gänze damit zufrieden war, wie diese verlief. »In der Situation ist es mir eigentlich nicht so ganz gelungen. Da habe ich eigentlich an das Theaterstück gedacht, dass es nicht immer so leicht ist. Ja« (Interview 05). Mit der von ihr herbeigeführten Trennung fühlt sich die Person im Nachhinein jedoch sehr wohl und hat außerdem für sich das Ziel formuliert, öfters selbstbestimmter sowie selbstbewusster aufzutreten.
5.2.5.
Zwischenfazit
Die Inszenierung von Romeo und Julia fordert das Produktionsteam, die Schauspielenden und das Publikum in unterschiedlicher Art und Weise heraus. Die Interviews haben gezeigt, dass es sehr stark voneinander abweichende Interpretationen der Inszenierung gibt, wie es zum Beispiel an der Diskussion über die biologischen beziehungsweise sozialen Geschlechter zu erkennen ist. Obwohl in der Inszenierung die Auflösung der Geschlechterdichotomie angelegt ist, nehmen diese nur ein Teil des Publikums wahr, wobei individuell andere Schwerpunkte in der Rezeption hervortreten. Der Aufführungsort beeinflusst die Rezeption sehr stark und lässt die einzelnen Besucher und Besucherinnen noch im Nachhinein an den Theaterabend erinnern. Für die Regisseurin ist die Inszenierung im öffentlichen Raum
5. Empirische Studien
eine Aneignung desselben, wobei jeder und jede Einzelne eine eigene Beziehung zum Ort und zur Geschichte gestaltet. Die Qualität der Teilnahme am Projekt zeigt sich in den Interviews sehr unterschiedlich, weshalb immer eine grundsätzliche Partizipation gegeben ist. Jedoch ist darauf zu achten, welches Ausmaß diese annimmt. Wie stark ist man während der Aufführung involviert und was bedeutet diese Involvierung wiederum für das aufgeführte Stück? Auch wenn bei der Aufführung keine Möglichkeit zur Teilhabe gegeben war, bedeutet dies nicht, dass alternative Lebensmöglichkeiten oder Vorschläge für den Umgang miteinander im Alltag im Nachhinein umgesetzt werden.
5.3.
Der Mentor »Natürlich hat ein Zuschauer einen suggestiven Einfluss. Das ist ja der Partner. Drum sage ich immer: ›Der eigentliche Partner ist erst bei einer Vorstellung der Zuschauer und das ist das wofür ich Theater spiele.‹« Interview 13
Nachdem ich die Regisseurin von Romeo und Julia – Love me queer! interviewt hatte, wurde ich von ihr angefragt als Regieassistent bei ihrem nächsten Projekt mitzuarbeiten, da hier Fragen der Partizipation gestellt werden sollten. Die Proben begannen dazu im Jänner 2014 und die Premiere war der 14. Feber 2014. Das Theaterstück der Mentor vom Skripteur Daniel Kehlmann wurde 2012 am Theater an der Josefstadt uraufgeführt und kam im Jahr 2014 an die Neue Bühne Villach. Die Geschichte dreht sich um den alten Literaturstar Benjamin Rubin – der nach seinem berühmten und erfolgreichen Theaterstück Der lange Weg vermeintlich nichts Nennenswertes mehr auf Papier brachte, auch wenn er noch neun andere Stücke, zwei Romane und zwölf Drehbücher verfasste – und den aufstrebenden Theaterautor Martin Wegner, der aufgrund der guten Kritiken seines ersten Stücks als Shootingstar der Literaturszene gefeiert wird und nun an seinem zweiten Stück schreibt. Beide treffen sich auf Grund eines Stipendiums am Land, um an Wegners zweitem Stück zu arbeiten. Dort betreut sie der nicht erfolgreiche Maler Erwin Wangenroth,
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der für die Stiftung arbeitet, die das Preisgeld zur Verfügung stellt. Doch die scheinbare ländliche Idylle kippt recht bald als sich beide »Autoren« gegenseitig vorwerfen, nicht schreiben zu können. Da Wegners Frau Gina, selbst Kunsthistorikerin beim Nationalmuseum, den alten Rubin anhimmelt, bleibt sie bei ihm als Martin Wegener vom Schreibwochenende kurzfristig Abschied nimmt, um schlussendlich wiederkehrend sein Manuskript und nebenbei seine Frau zu holen. Aufgeführt wurde das Stück auf der Bühne der nbv, die insgesamt mit dem Publikumsraum ein Quadrat von neun Meter pro Seite aufweist. Der Bühnenraum verfügt über zwei Ein- beziehungsweise Ausgänge. Der erste für das Publikum, der zweite für den Aufgang beziehungsweise Abgang der Schauspieler und Schauspielerinnen. Die Sitzanordnung wird gerne verändert. So sind die Zuschauerinnen- und Zuschauerplätze zwar meistens rechts vom Publikumseingang zu finden, oftmals aber auch auf einer anderen oder gar auf zwei Seiten. Vor dem Bühnenraum befindet sich die Bar und ein paar Sitzgelegenheiten. Danach geht man einen Halbstock höher zur Garderobe oder gelangt über die von dort beginnende Treppe nach draußen zwischen Rathaus- und Standesamtplatz. Die Inszenierung war jedoch nicht auf den quadratischen Bühnenraum beschränkt, sondern erweiterte sich durch den Umkleideraum und die Bar, wo in beiden Fällen Kameras installiert waren, die Live-Bilder in den Bühnenraum mit den Zuschauerinnen und Zuschauern übertrugen. Damit war in gewisser Weise der inhaltliche Rahmen der Erzählung in der Form wiedergegeben. Der Bühnentext beginnt nämlich mit einer Rede Martin Wegeners, der einen nach seinem Mentor Benjamin Rubin benannten Preis entgegennimmt. Danach sind es die Erinnerungen an Rubin, die das Stück inhaltlich füllen. Am Schluss gibt es jedoch keine Auflösung, sodass Wegeners Rede beendet wird, sondern ein um 20 Jahre gealterter Rubin bekennt, dass er keine Ahnung hat, was aus Martin Wegener geworden ist, da kein Stück von ihm mehr aufgeführt wurde. Er selbst sei schon seit langem tot und einen nach ihm benannten Preis habe es nie gegeben.
5.3.1.
Wirklichkeitsräume
Da nicht klar ist, ob es sich beim Theatertext um eine Rückblende des jungen Theaterautors Martin Wegener handelt, der bei einer Preisrede in Erinnerungen schwelgt oder um eine Erzählung des bereits toten Benjamin Rubin, stellt
5. Empirische Studien
sich auch die Frage wer ist innerhalb der Narration das Publikum oder die Zuhörenden beziehungsweise die Zuschauenden? In dieser Hinsicht wurde das Bühnenbild konzipiert, das aus einer Art schneckenartigen Bestuhlung aus Kinosesseln bestand. So sitzen sich Zuschauerinnen und Zuschauer gegenüber und beobachten sich beim Beobachten. Zudem sind auf drei Wänden Projektionen zu sehen, die verschiedene Funktionen haben. Zum einen zeigen die auf die Wand geworfenen Bilder Anhaltspunkte, wo wir uns gerade befinden könnten, wie zum Beispiel einen Teich oder Live-Bilder von der Bar oder aus dem Umkleideraum. Während mittels Kamera in die Umkleidekabine der voyeuristische Blick gelangt, wo er sonst keinen Zutritt hat, zielen die Blicke Richtung Bar bei laufender Vorstellung auf Erwin Wangenroth, wie er den »Autoren« oder Gästen ein Getränk vorbereitet oder einfach nur der Szene folgt und in der Pause sowie zu Beginn auf das rein- und rausgehende Publikum. Das Publikum ist damit konfrontiert, nicht nur die Schauspielenden, das Stück, die Ausstattung etc. zu bewerten beziehungsweise sich ein Urteil darüber zu bilden, sondern auch über sich selbst. In der Mitte des Raumes sind zwei Sitzreihen Rücken an Rücken platziert. Sie werden vorwiegend von den beiden Theaterschriftstellern besetzt, die sich kaum ins Gesicht sehen können. Das Setting zeigt, wie beide stark durch ihre Arbeit verbunden und gleichzeitig durch ihr Alter und ihren Status getrennt sind. Man kann die entgegengesetzten Stuhlreihen auch als Dichotomie lesen, die in der Inszenierung problematisiert wird. Davon ausgehend folgen wir einer laufenden Dekonstruktion von Wahrheiten und Behauptungen, die uns immer wieder in gedankliche Sackgasse laufen lassen. Die Dekonstruktion wird von einer Deterritorialisierung begleitet, die die Konstruktion nicht nur als ein Solches erkennen lässt, sondern auch einen Raum für neue Konstruktionen ermöglicht. In einem Gespräch über Contemporary Art mit Oliver Zahm erklärt Félix Guattari, dass gerade innerhalb der Konzeptkunst ein hohes Transformationspotential besteht, da keine Formen bestehen, die Möglichkeiten eingrenzen. Die Idee der Deterritorialisierung gehe mit dem Konzept ›plane of composition‹ zusammen. »It is on condition that the powers of redundancy that live in the material are defeated, that other houses, another cosmos, other constellations of the universe are recomposed, that composition is possible. What is most important in this idea of a ›plane of composition‹ is the pragmatic perspec-
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Abbildung 4: Bühnenbild der Inszenierung ›Der Mentor‹ © liegt beim Verfasser
tive that it opens up. That means that there is something to do, something that isn’t a prisoner of a state of things, of a given society, of a given state of technology. With that one can create.« (Guattari/Zahm 2011: 44) Gerade in den Situationen, in denen die Form in Frage gestellt wird oder eine Auflösung erfährt, ist der Raum für Interpretationen groß. Dabei ist dieser Umstand nicht nur innerhalb der Kunst(rezeption) vorhanden, sondern geht über sie in den Alltag über. Der Moment, in dem das Publikum gefordert ist, etwas zu tun, entfaltet einen Möglichkeitsraum. In diesem Raum sind Aktionen möglich, wobei nichts zu tun, eine legitime Handlung ist und genauso dazu gehört. Wenn dieser Umstand eintritt, werden andere Bedeutungsdimensionen des Stücks stärker in den Vordergrund gerückt. In den Proben wurden nicht nur Partizipationsmöglichkeiten ausgelotet, sondern auch die Übergänge dieser Wirklichkeitsräume geprüft. »Wir haben auch probiert, wenn da jetzt keine Interaktion stattfindet. Dann sind das eher so Wirklichkeitsräume die ich ineinandergreifen lassen möchte und das ist so sozusagen für mich gegeben durch die Inszenierung durch das Hineinnehmen der, dieses z.B. dieser Live-Kamera die sich dann einfach in die reale Bar hinzieht und dann noch wieder, wenn die Pause ist, die Leu-
5. Empirische Studien
te in die Bar gehen und das dann noch sehen, dass die dann auch sozusagen live mit dabei sind. Da ist so für mich im Sinne eine Partizipation gegeben und da findet in diesen Stücken von mir sozusagen die Performance auch in der Realität statt und wir sind eigentlich aufgefordert oder wir haben die Möglichkeit, die spielerisch zu gestalten und auch neu zu gestalten.« (Interview 10) Die spielerische Gestaltung sollte demnach im Stück angeregt und in den Alltag transportiert werden. Dabei geht es nicht primär um die partizipative Einbindung des Publikums, sondern um die Verknüpfung der Theatersituation mit der Alltagswelt. Bevor jedoch eine mögliche Transtopie entstehen kann, muss die Gleichgültigkeit der Teilnehmer und Teilnehmerinnen hergestellt sein und zudem eine Freiwilligkeit zur Partizipation bestehen.
5.3.2.
Partizipation und Interaktion
Von der Regieseite wird betont, dass Partizipation hier ausdrücklich Interaktion meint. Die Zuschauerinnen und Zuschauer werden angefragt beziehungsweise aufgefordert, zum Teil auch angeleitet, eine Aktion auszuführen. Auf die Frage, was vom Publikum hinsichtlich der Partizipation zu erwarten sein werde, wird geantwortet: »Zu dem Begriff der Partizipation. Das ist ja immer so eine Frage wie man ihn interpretiert oder deutet, was Partizipation ist. Ich denke, du fragst jetzt bezüglich der Interaktion und da bin ich gespannt, wie sie reagieren, wenn sie aufgefordert werden, Platz zu machen, z.B. stehen sie auf? Sie werden aufgefordert mitzuklatschen. Eventuell machen sie das mit. Sie werden aufgefordert, ins Stück auch verbal einzugreifen. Wie wird das klappen?« (Interview 10) Als Vorbereitung für die möglichen Szenarien in den Aufführungen wurden Zustimmungen und Ablehnungen durchgespielt und in den Proben diskutiert. In der Inszenierung gibt es immer Einstiegsmöglichkeiten für die Zuschauerinnen und Zuschauer, wobei diese jeweils durch die Szenen geführt werden und genau wissen, wann der konkrete Dialog oder die Interaktion mit ihnen beendet ist. Auf der Seite der Schauspielenden verändert sich dadurch jede Aufführung in den bestimmten Momenten, da es immer einen Unsicherheitsfaktor gibt, der zur Irritation führt.
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»Na ja, es ist so, dass man sich darauf einstellen muss, dass es ein bisschen anders läuft und dann braucht man schon Sekunden, dass man wieder sozusagen in den normalen Ablauf hineingeht. Das ist ganz klar und manchmal ist man auch, muss ich auch zugeben, ein bisschen irritiert, weil es doch ein bisschen ganz anders ist. Oder wenn man, zweimal habe ich schon eine Absage bekommen vom Publikum, dann habe ich selber gelesen und da muss man sich schon einstellen oder das Niedersetzen beim, aber ja. Es ist nicht wirklich so, dass es irritiert oder etwa […] verstärkt oder so. Ich glaube, dass das Publikum, da habe ich das Gefühl, wenn das angenommen wird, und es wird meistens angenommen, der Kommentar von den Leuten und das Lachen darüber auch, dass man so aussteigt aus dem Stück vermeintlich. Das kommt an und ich muss ehrlich sagen, wir haben bis auf ein zwei Mal, wo Reaktionen sehr zurückhaltend waren, aber eigentlich immer starken, nicht nur starken Applaus, sondern wie ich höre, über die Technik, die das hört, oder von der Kantine, gute Rücksprache darüber, dass das insgesamt gefällt.« (Interview 13) Bei dieser geschilderten Irritation geht es aber nicht nur darum, wieder in den Text zu finden, sondern auch die, für einen bestimmten Zeitraum, aufgelöste Hierarchie wiederaufzubauen. Es sind Situationen der Interaktion, in denen nur in einem gewissen Rahmen Möglichkeiten vorgegeben werden. Die Distanz zwischen Publikum und Schauspiel wird gebrochen und Zuseherinnen werden zu Schauspielerinnen, da sie vom Bühnenlicht erfasst und ihre Handlungen vom restlichen Publikum verfolgt werden. So setzt sich zumindest nach Peter Brook eine Theaterhandlung zusammen. Es reicht grundsätzlich, wenn einer Person zugeschaut wird (vgl. Brook 1970: 27), jedoch benötigt man für eine Entwicklung ein drittes Merkmal (vgl. Brook 1994: 25). Dieses dritte Merkmal setzt sich hier aus unterschiedlichen Komponenten zusammen. Denn gerade in den dialogischen Situationen sind zum einen die Artefakte, die die Brücke zwischen den schauspielenden Interaktionsinitiatoren und -initiatorinnen und den noch Zusehenden bilden. Zum anderen ist es das Publikum selbst, dass die Entwicklung des Stückes vorantreibt und eine Dimension der Narration zum Vorschein bringt, die sonst eher verborgen geblieben wäre. So in etwa das kollektive Werten, das innerhalb des Publikums automatisch geschieht und die Unsicherheit, wann man selbst aktiv in Interaktion gebeten wird. Jemand erzählt aus dem Publikum: »Und, dass halt ich das Gefühl hatte, dass das Publikum gemerkt hat, dass sie nie sicher waren oder alle nie sicher waren, was passieren kann. Wo
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jetzt jemand auf sie zugehen kann oder ob jetzt noch jemand aus dem Publikum aufsteht und sich als Schauspieler oder Schauspielerin enttarnt. Dass ich das Gefühl hatte, dass eben so eine Unsicherheit war oder dabei mitgespielt hat. Wo halt niemand wusste, wie man sich verhalten sollte oder wie man darauf reagieren soll.« (Interview 18) Eine Unsicherheit die zum einen eint, also wieder ein kollektives Gefühl herstellt und zum anderen durch die Unsicherheit ein Zwischenraum entsteht; ein Raum, der weder nur Theater ist noch Alltag. Situationen, in denen man als Zuschauende im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, werden als Erlebnis bezeichnet, das man gerne wieder einmal erfährt (Interview 17) oder als ein ›Wecken‹ aus einer schläfrigen Haltung (Interview 15). »Die Leistung und Stärke interaktiver Kunst besteht meiner Meinung nach darin, die Situation zu ihrem ›Objekt‹ zu machen. Keine Funktion, keinen Nutzen, kein exploratives oder anderwietiges [sic!] Verhalten, keine AktionReaktion, sondern eine Situation mit ihrem eigenen kleinen Komplexitätsozean. Die interaktive Kunst kann sich eine Situation vornehmen und potenziell die Interaktionen, die sie ermöglicht, ›öffnen‹.« (Massumi 2010: 148) Obwohl Interaktion zuvor als reine Ausführung einer Handlung unter Anleitung beschrieben wurde, kann man hier erkennen, dass trotzdem keine Grenzen vorhanden sind, die mögliche Potenziale verhindern, etwas Neues entstehen zu lassen. Es sind insbesondere hier die Beziehungen, die durch die ›Kunstbegegnung‹ ermöglicht werden und in denen jan jagodzinski ein Transformationspotential (vgl. jagodzinski 2014: 27f) sieht. Dabei betont er ebenso, dass es für diese Transformation keine Garantie gibt. Im Mittelpunkt steht jedoch das Potential, das als Orientierung Kunstschaffende und Lehrende leiten müsste. Diesen Weg jedoch zu gehen, ist ein Kraftakt, den man leisten muss. Die Welt, wie sie uns umgibt, wird dadurch ästhetisiert, der Körper durch die Form affiziert und ein Zwischenraum eröffnet. Für jagodzinski entstehe so eine post-situationalistische Aisthesis, ein neues gesellschaftliches Potential (vgl. jagodzinski 2010: 139). Durch die Anordnung der Kinositze wurde der eigene voyeuristische Blick freigelegt, da man sich selbst gegenübersaß und sich als zusehendes Publikum erlebt. Dieser auf sich selbst gerichtete Blick fördert nicht nur die Auseinandersetzung mit sich selbst, als Teil des Publikums, sondern auch mit der ästhetisierten Umgebung, die sich als solche zu erkennen gibt. Wenn sich zum Beispiel Martin Wegener in der Dusche der Umkleidekabine nass macht,
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um gleich darauf mit noch tropfendem Gewand die Szenerie zu betreten und spielt als wäre er im Teich gewesen, um sein Manuskript zu retten, wird den Zuseherinnen und Zusehern ein Blick hinter die Kulissen offenbart. Folgt man der Idee des epischen Theaters Brechts, geht es bei der Enthüllung der dramaturgischen Effekte darum, dem Publikum die Möglichkeit zu geben, nicht von der Handlung überrannt zu werden und sich mehr mit den Problemen des Stücks auseinander zu setzen. Dies kann aber zu einer Überforderung führen, so zumindest verweist jemand vom Schauspieler- und Schauspielerinnenteam auf die Partizipation mit dem Publikum: »Ich glaube, dass natürlich der Zuschauer, glaube ich, oft überfordert war sozusagen in der Funktion des Partizipierenden zu sein und nicht des Konsumierenden. […] Das ist ja schon durch Licht ein bisschen gegeben. […] Du bist dann in der Beobachtung und die sitzen da und […] [d]a geht ein extremer Prozess grade ab. Unglaublich ja. So also diese Dinge sind schon und ja ansonsten glaube ich, dass es grundsätzlich für die Zuschauer eine sehr spannende Erfahrung ist, sich dem so auszusetzen.« (Interview 14) Der Rollenwechsel von der Position des Konsums in die Position der Partizipation zu schlüpfen, wird als mögliche Überforderung beschrieben, wobei dies nicht nur durch das Ansprechen mittels der Schauspielerinnen und Schauspieler geschah, sondern auch über die Inszenierung an sich, wie zum Beispiel Bühnenbild oder Licht. Interessanterweise wurde die Partizipation nicht von allen gleich wahrgenommen. So erzählt jemand aus dem Publikum, dass die Partizipation nicht als solche empfunden wurde, da die Dialoge mit den Menschen aus dem Publikum meist abgesprochen seien. »Ich habe gedacht, das ist abgemacht. Ich habe gedacht, na das ist meistens so, dass es ausgemacht ist. Aber, wenn er auf mich zugekommen wäre, hätte ich kein Problem gehabt. Aber das habe ich auch nicht erwartet« (Interview 16). Nach dem Stück hat eine Person, die von einem Schauspieler in den Ablauf und damit in das Theatergeschehen direkt miteinbezogen wurde ihre Überraschung betont. »Es war dann im Endeffekt, eher nicht so schlimm. Aber wie gesagt im Moment habe ich mich ein bisschen erschrocken. Ich bin noch nie in so eine Situation gekommen. […] Ja ähm, ich kann mir denken, dass es vielleicht, wenn ich es öfter mache, dann nicht so schlimm ist. Weil das ist ja, jedenfalls war es ein Erlebnis.« (Interview 17)
5. Empirische Studien
Die Umstände im Theaterraum, plötzlich exponiert vor Schauspielenden und Zusehenden im Geschehen eine Rolle zu übernehmen, sind im Normalfall eine Ausnahme. Trotzdem wird nach der Aufführung sofort darauf hingewiesen, dass diese Situation gerne wiederholt werden könne. Was die Person von diesem Theaterabend mitnimmt, ist zumindest eine Geschichte, die weitererzählt werden kann. Eine Geschichte, die nicht nur die Situation als Überraschung in Erinnerung behält, sondern den Theaterabend, welcher sich von den anderen schon allein durch den Dialog unterscheidet. Ein Umstand, der in einem Interview aus der Sicht der Schauspielenden besonders hervorgehoben wurde: »Aber das fand ich schön, weil ich sozusagen zwei, drei oder vier Leuten an diesem Abend immer eine Geschichte geöffnet habe, die sie nie lösen. Und das schönste, was du jemanden im Leben schenken kannst, ist eine Geschichte« (Interview 14). Außer der Geschichte als Geschenk wird noch betont, dass die abgelehnte Interaktion als partizipatives Moment im Publikum im Nachhinein stark weiterschwingt. Denn die Verweigerung führte in der Situation zwar zu einer Irritation des Geschehens, welches im weiteren Verlauf im Theater gelöst wird, bei der Person noch nacharbeiten kann, da die Situation tatsächlich zum Objekt oder Zentrum des Theaterabends wurde. Ansprechpartner für Rückmeldungen zum Stück oder einfach nur für kurze Antworten auf die Frage, ob es denn gefiel, ist der in der nbv angestellte Garderobiere. Er begrüßt vor der Vorstellung das Publikum und kennt die meisten Besucherinnen und Besucher, weil er im Theater eine Mehrfachfunktion innehat. Erstens ist er bei jeder Vorstellung für die Garderobe zuständig und verkauft auch das Programmheft. Zudem übt er auch die Arbeit des Inspizients aus, kontrolliert also das Bühnenbild, bevor er selbst die Tür zum Theaterraum öffnet, um gleich darauf die Eintrittskarten zu kontrollieren. Er behält immer einen Überblick über leere Sitzplätze und gibt den Schauspielerinnen und Schauspielern in deren Garderobe Meldung, wann sie sich bereitmachen müssen. Bei vielen ist er auch bekannt, da er die Arbeit des Plakatierens übernimmt und an entsprechenden Orten Plakate und Flyer für aktuelle Theaterproduktionen platziert. In diesen Funktionen ist er immer über aktuelle Aufführungen und Theaterproben informiert und gibt relevante Informationen zu den Stücken bereits bei seiner Öffentlichkeitsarbeit weiter. Bei der Mentor hat er im Vorgespräch mit interessierten Menschen immer auf den partizipativen Teil hingewiesen und verdeutlicht, dass das Publikum einen relevanten Teil, inwiefern wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht, ›mitspielen‹ müssten. Damit hat er durchaus Neugier geweckt, da Besucher
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und Besucherinnen sowohl im Vorhinein als auch in Nachhinein mit ihm darüber gesprochen haben. In einem weiteren Interview wird indirekt auf die Multimedialität der Inszenierung hingewiesen, denen Theaterstücke meistens unterliegen. Dabei wird auf die Problematik verwiesen, nicht einhundert Prozent eine Aufführung bewusst wahrnehmen zu können, sondern immer durch den individuellen Fokus Teilaspekte zu betonen. Damit entstehen die Beziehungen zum Raum und den Artefakten. Die Einladungen zur Partizipation sind in diesem Zusammenhang keine Ausnahme. Die konkrete Einbeziehung in das Stück geht somit immer mit einer bestimmten Fokussierung einer Handlung und somit einer bestimmten Beziehung einher. Während also dialogisch ein Raum geöffnet wird, geschieht im selben Moment eine neue Grenzziehung sowohl der Wahrnehmung als auch der Handlungsmöglichkeiten. »Weil du wirklich aufgefordert bist, wenn dir auf den Schoß geklatscht wird, die eine Schauspielerin hat ja mit einer Person geredet, schönes Kleid haben sie an, da kannst schon etwas sagen, etwas darauf antwortet, da fühlst du dich schon einbezogen in das Stück. Und für mich war das schon durch das Bühnenbild und wie sich die Schauspielerinnen und Schauspieler bewegen und durch diese Bilderübertragungen hat es schon nicht so eine Schaukastenart bekommen, also schon eine offenere Art. Eine Art wo du dich auf verschiedene Punkte fokussieren kannst, aber nicht musst, wo du halt unterschiedliche Impulse mitnehmen kannst und das was auf der Bühne passiert du auch mal vergessen kannst. Und zum Beispiel nur mal das Video anschauen kannst und dich das Video halt in diesem Moment affiziert und du es lustig empfindest, es spannend empfindest, was trotzdem irgendwie Teil der Geschichte ist, aber nicht was im Zentrum auf dieser Bühne ist oder im Mittelpunkt steht. Wie es halt immer im Theater ist. Da hast du eine Bühne und das steht im Mittelpunkt. Du könntest also deine Aufmerksamkeit auf anderes auch richten.« (Interview 18) Die Berührung von einem Schauspieler oder von einer Schauspielerin ist in einem Stück nicht gewöhnlich und mit einer gewissen Forderung verbunden, sich mit der Person auseinanderzusetzen. Brian Massumi sieht in diesen entstehenden Beziehungen, die herstellende Basis des Ereignisses, die das eigentlich Medium auf immaterieller Basis herstellt. »In den Projekten werden äußerst einheitliche ästhetische Effekte durch sehr verschiedene Mittel erzeugt. Eine andere Möglichkeit ist, dass die Ver-
5. Empirische Studien
mischung der Medien das Medium als Status eines Trägermaterials in ein immaterielles Ergebnis umdefiniert. Vielleicht muss der einheitliche Effekt, der heterogen erreicht wurde, selbst als Medium des kreativen Prozesses, den es auslöst, angesehen werden. In anderen Worten ist das Medium der relationalen Architektur, das, was es benennt, das, was es entmaterialisierend ›produziert‹: die Relation.« (Massumi 2010: 203) Aus den Beziehungen, die an jedem Abend immer wieder durch und als ein neues Zusammentreffen entstehen, wächst ein »potenzialisierendes Ereignis des Dazwischen« (Massumi 2010: 204). Alle Beteiligten lassen sich auf etwas Neues ein und erleben sowohl individuell als auch kollektiv im Hier und Jetzt wie sie herausgefordert werden, sich auf die Situation einzulassen.
5.3.3.
Affektive Allianz
Im Nachgespräch mit einer Person aus dem Publikum, der Benjamin Rubin geholfen hat, aus dem Manuskript Martin Wegeners zu lesen, wurde insbesondere der Einfluss auf die Aufmerksamkeit hervorgehoben. »Wie soll ich sagen, ich war etwas überrascht, weil ich habe davor mit dem Schlaf gekämpft. [lacht] Ja? Dafür haben sie dann aber sehr gut gelesen, mit den Anfangsschwierigkeiten mit der Brille, aber sie haben es dann… Ich habe es wirklich nicht gesehen. Ich brauche eine Brille zum Lesen und diese Theaterbrille, die er gehabt hat… Die ist ja sehr leicht, nicht? Die andere Schrift war dann sehr groß, naja, es wäre ohne auch gegangen, aber es war, naja, man hilft gerne aus. Ja? Hat es ihnen Spaß gemacht? Der Whisky hat geschmeckt.« (Interview 15) Die Aufgabe war einfach; es sollte aus dem Manuskript, das Wegener verfasste, rezitiert werden, wobei Rubin den Leser oder die Leserin mehrmals unterbrach, um die unzureichende Qualität des Geschriebenen zu unterstreichen. Die Person hatte kein Problem damit, aus dem Manuskript zu lesen, jedoch war das erste Blatt zu klein gedruckt und sie auf eine Sehhilfe angewiesen. In der Vorbereitung wurde dafür ein Ausdruck der vorzulesenden Stellen gemacht mit einer deutlich größeren Schrift, sodass das Zitieren aus dem Manuskript aufgrund des Schriftbildes keine weiteren Schwierigkeiten bereitete.
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Die Person hat gerne mitgemacht und freute sich darüber im Anschluss von Erwin Wangenroth einen Whisky bekommen zu haben. Dies war zwar nicht vorgesehen, jedoch improvisierte dabei der Schauspieler. Die Situation, in der die Person im Publikum aus dem anbahnenden Schlaf gerissen wurde und zur Interaktion gebeten wurde, ist ein Beispiel für die sich laufend verändernde Beziehung zum Stück, zu den Schauspielenden, zu den Zusehenden etc. Es eröffnet sich ein Beziehungsmuster, das die unterschiedlichen qualitativen Beziehungen betont. Ein weiteres Beispiel zeigt, dass manche im Publikum überhaupt kein Problem haben, mit den Schauspielerinnen und Schauspielern während des Stücks in Kontakt zu treten, manche schienen vielleicht darauf gewartet zu haben. »Nachdem meine Figur nur ein einziges Mal zum Publikum wirklich aufmacht, wo ich konkret jemand anspreche und heute auch eine sehr nette Dame erwischt habe die da wirklich, also ich habe sie gefragt, ob ich ihren Pullover mal begutachten kann und sie, ja wollen sie mal angreifen, wo ich mir echt gedacht hab das ist ja sehr nett, kann ich nicht so viel dazu sagen.« (Interview 11) Die Dame aus dem Publikum ist schlagfertig genug mit der alltäglichen Frage während des Theaterstücks umzugehen. Da die Theaterproduktion im Vorhinein als partizipativ angekündigt wurde, war diese Person vielleicht schon vorbereitet. Dennoch war während der Aufführung in gewisser Art und Weise eine Unsicherheit zu spüren. Dem entspricht eine weitere Stimme aus dem Publikum, die die Unsicherheit aus der Publikumsperspektive betont und damit eine gewisse Spannung, die in ihrer Intensität laufend neu verhandelt wird. »Es war schon immer wieder anwesend diese Unsicherheit. Ich habe sie halt am Anfang stark gespürt oder in der Pause stark gespürt. Es gab aber auch Momente, wo es sich gelöst hat, wo man merkt, okay, jetzt wurde jemand damit beauftragt etwas zu tun und ich bin es nicht, so in diesem Sinn. Oder warte wo habe ich es noch gespürt.« (Interview 18) Wenn man also die vermeintliche Strategie der Partizipation erkannt hat, das heißt, dass man vermeintlich weiß, wann wer drankommen kann und wann es nicht vorgesehen sein dürfte, lehnt man sich je nachdem gelöst zurück oder bleibt angespannt im Stuhl sitzen. Nach individueller Anspannung und Lösung ist die Distanz zum Geschehen stärker oder schwächer. Dabei ist die Kontrolle, ob und in welcher Art am Geschehen partizipiert wird, auch nicht
5. Empirische Studien
in den eigenen Händen. Als die Person im Publikum Erwin Wangenroth die Hand schüttelte, geschah dies aus einem Reflex, jedoch nicht aus der Überzeugung die Handlung ausführen zu wollen. »Es ging halt darum, dass man permanent, dass er hat halt thematisiert als Kulturattaché oder wie man das nennt, als Mensch, der halt für die Stiftung tätig ist, halt so eine Nebenrolle eingenommen hat. Er hat halt nie geschafft, das zu machen, was er wollte und läuft halt diese Nebenrolle und dann macht er daraus eine Persiflage oder ironisiert das halt vollkommen. Indem er dir die Hand schüttelt und dich so künstlich anlächelt oder dir zeigt, jaja so funktioniert das in diesem Betrieb, wir lächeln uns alle künstlich an, da wirst du Teil des Betriebs. So kam es für mich rüber.« (Interview 18) Wie im empirischen Beispiel zuvor, gibt es hier wieder die Fragestellung, ob man denn überhaupt Teil von etwas sein möchte. Die partizipative Situation im Stück lässt jedoch keine große Wahlmöglichkeit. In der Schnelle muss man sich entscheiden oder man reagiert, ohne eine Wahl getroffen zu haben und so ist man plötzlich zugehörig. Ein Umstand, der auf den ersten Blick nicht zufrieden stellen kann, da man hier nur von einer Dichotomie in die nächste rückt. Es geht in der Kunst aber nicht darum ein neues Konzept zu präsentieren, sondern gegenwärtige Verhältnisse zu problematisieren. Deleuze folgend erklärt Elisabeth Grosz: »Art, according to Gilles Deleuze, does no produce concepts, though it does address problems and provocations. It produces sensations, affects, intensities as its mode of addressing problems, which sometimes align with and link to concepts, the object of philosophical production, which are how philosophy deals with or addresses problems.« (Grosz 2008: 1f) Die Konfrontation mit der zu identifizierenden Gruppe ohne Wahlmöglichkeit ist immer eine Provokation. Durch sie wird das Problem von Zugehörigkeiten thematisiert und reflektiert, inwiefern die Identität überhaupt erwünscht ist. Durch die Interaktion geschieht aber auch eine Auflösung der Hierarchisierung zwischen Publikum und Schauspielenden. Der Raum wird geöffnet und eine Fluchtlinie ermöglicht. Man wird Teil der Maschine und dadurch ergriffen. Die ästhetische Form des Theaterstücks sorgt für einen kurzen Moment der Emanzipation, welcher je nach Vermögen des Publikums außerhalb der Theaterinszenierung verlängert wird. Der Moment hat jedoch das Potential der Beginn eines Ritornells zu sein.
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Dass jedoch das Publikum im Ganzen oder ein Teil zu Akteurinnen und Akteuren der erzählten Geschichte werden, bedeutet nicht, dass es keinen Einfluss auf den Theaterabend ausübt. Von der Seite der Schauspielenden ist der Einfluss in unterschiedlicher Qualität individuell zu spüren. Die Wahrnehmung des Publikums scheint nach Alter, aber ganz besonders nach der persönlichen Erfahrung unterschiedlich. Grundlage dafür ist die zwischenmenschliche Kommunikation, die sowohl verbal als auch nonverbal geschieht. Wie sich diese Beziehung zwischen dem Publikum und den Schauspielern und Schauspielerinnen zusammensetzt, bleibt jeden Abend ungewiss. »Was du Ungewissheit nennst, ist die Spontanität. Ich glaube, dass ist der einzig wahrhafte Moment. Das ist der einzige Moment, der sozusagen lebendig ist. Alles andere ist sozusagen, […] eine Wiederholung von etwas, was mal war und dadurch ist es tot oder als Zuschauer für mich halt fad. Und das andere ist sozusagen, das hat nichts mit umgehen zu tun, also du gehst immer damit um, indem du damit reagierst, fertig. Und da beginnt, indem diese Kommunikation so startet und so hin und her geht und sie auch ernst nimmst und da du auch den Zuschauer ernst nimmst und nicht davon ausgehst, einer der permanent kreischt und gackert, dass das der bessere Zuschauer ist als einer der sitzt und kein Geräusch von sich gibt. Das ist ein Irrglaube auch. Also, das ist so meine Meinung.« (Interview 14) Theater ist ein Dialog, dessen Ziel die Kommunikation und Entstehung eines Theaterstückes ist. Die Schauspielenden sowie das Publikum werden zu Kollaborateuren, die für einen gewissen Zeitraum und zu einem gewissen Teil ins Ungewisse arbeiten, spielen oder einfach nur kommunizieren. Darin ist wieder ein Trieb enthalten, der den sinnlichen und vernünftigen Trieb zusammenfasst und gleichzeitig die Beteiligten sowohl befreit als auch emanzipiert. Es geht jedoch nicht um gut oder schlecht oder darum etwas politisch Relevantes zu vollbringen, sondern um das Schaffen selbst. Es geht um das entstehen lassen an sich, wozu uns der schillersche Spieltrieb verhilft. Da die Kreation im Mittelpunkt steht, kann es nicht um duale Zuschreibungen wie gut oder schlecht gehen, sondern um Zusammenarbeit und Kommunikation, die sich in der spontanen Begegnung entfalten können. Somit wird jede Aufführung anders, da diese Momente immer für einen neuen und frischen Dialog sorgen. Nur dort, wo die Kommunikation vorgegeben wurde, stellt sich eine Verstimmung ein, da man dem kreativen Raum nicht folgen kann.
5. Empirische Studien
»Das Schwierige ist, dass es sehr klar festgelegt wurde, von der Regie, wann sind offene und wann sind geschlossene Momente. Und manchmal stellt sich da die situative Realität, in der man dann spielt vor dem Publikum, dagegen. Und dagegen dann anzugehen und das Konzept zu behaupten, quasi von da ist ein geschlossener Szenenablauf. Wenn da starke Reaktionen sind, nicht im Sinne von das bedienen zu wollen, oder so was. Das meine ich gar nicht. Sondern auch eine Figur zu behaupten zu verteidigen in, weil du sagst das Publikum ist ein Teil und sich auch damit auseinanderzusetzen und das auch anzunehmen und darauf selbst als Spieler zu reagieren. Die Freiheit mich zu entscheiden, wann ich das tue und wie, habe ich ja wirklich gar nicht, wenn ich dem Regiekonzept folge. Das ist manchmal schwierig und verwirrend gewesen.« (Interview 12) Das theatrale Setting tritt hier stärker hervor, da gewisse Regeln die Handlungen bestimmen und auch den ganzen Theaterabend von ungefähr 70 Spielminuten beachten. Das heißt, dass der geöffnete Raum immer wieder geschlossen wird, für das Theaterstück sogar geschlossen werden muss, damit die Narration erzählt werden kann. Letztendlich ist sie die Klammer der Begegnung und gleichzeitig Motor der Theaterinszenierung, die entscheidet, wann wer und wie einen ›kreativen Dialog‹ führen kann. »Es gibt halt ein Konzept, was sagt, wann geht man welche Wege und das war gar nicht so, dass ich mich ausgesetzt gefühlt habe, sondern es hat es kleiner gemacht, es hat es irgendwie kleiner gemacht und es verleitet dann noch dazu, die Spielenergie nicht, aber so bestimmte Sachen dann so ein bisschen, das hat so ein Gemeinschaftsgefühl hergestellt. Das daran zu passen. Was aber dann irritiert, wahrscheinlich eher das Publikum als einen selbst, wenn dann eben nicht real diese Gemeinschaft ist, wenn man ja doch da ist und die Zuschauer schauen das Stück und die Akteure spielen das Stück, mal sind sie offen zu halten und mal nicht. Das ist unvorhersehbar für die anderen. Für einen Spieler weiß man ja, wann es diese Momente gibt und wann nicht. Das war so ein bisschen gegensätzlich.« (Interview 12) Im Gespräch werden die Regeln und Vorschläge betont, auf die man sich in der Vorarbeit geeinigt hat und nun eingehalten werden sollen. Im Konzept wurden bestimmte Ideen dargelegt, welche in den Proben diskutiert und schlussendlich festgelegt wurden. Die Choreographie, wie die Bewegungen im Raum ablaufen sollen, gehören dazu. Sie sind zu vollziehen, wenn die Schauspielenden zum Publikum die vierte Wand nicht aufmachen. Die vier-
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te Wand umschreibt das Publikum, das vor Einem sitzt. Wenn sie geöffnet wird, bedeutet das, da die Schauspielerin oder der Schauspieler direkt zum Publikum spricht. Bekannt ist dies zum Beispiel in Peter Handkes Publikumsbeschimpfung (1966). Hier wird die vierte Wand geöffnet und die Zuschauerinnen und Zuschauer direkt angesprochen. Es findet jedoch kein Dialog statt, sodass Personen aus dem Publikum nichts sagen dürfen. Sie haben keinen Raum dafür. Obwohl sie im Zentrum stehen, sind sie nach der Form des Theaters dazu verdammt, auf den Stühlen sitzen zu bleiben und die Beschimpfung über sich ergehen zu lassen. In dem Moment, in dem Menschen im Saal aufstehen und zu Zwischenrufern oder –ruferinnen werden, wird das Stück auf den Kopf gestellt, da genau das Eintritt, was es vorschlägt. »Im Stehen könnten sie besser als Zwischenrufer wirken« (Handke 1966: 30). Zwei oder mehr Zuschauer sind tatsächlich aufgestanden und haben den Text und das Vorgehen kommentiert. Als mehrere von ihnen die Bühne betreten, wird die Handlung unterbrochen und die Zwischenrufe des restlichen Publikums lauter. Die Zuschauenden auf der Bühne müssen von Helfern weggeführt werden, damit die Dichotomie von aktiv und passiv wiederhergestellt wird und das Stück seine Narration fortführen kann. Die Schauspieler waren darauf nicht vorbereitet und griffen auch nicht in besonderer Art ein. Nach Beschwichtigungen der ›Zwischenrufer auf der Bühne‹ wurden diese von anderen weggebracht und die vier Schauspieler tauschten sich kurz aus, um den Text und Tempo wieder aufnehmen zu können. Während der Text die epische Form des Theaters thematisiert und kritisiert, ist es gerade die Form, die nicht den eigenen Text stützen kann. Handke nennt Publikumsbeschimpfung ein Sprechstück, das keine Handlung habe, da eine Handlung auf der Bühne nur ein Bild von einer Handlung sei. »Sprechstücke sind verselbständigte Vorreden der alten Stücke. Sie wollen nicht revolutionieren, sondern aufmerksam machen« (Handke 1966: 96). Handke geht es also darum aufzuzeigen, dass die auf der Bühne vorgezeigten Handlungen nur Bilder von denselben sind, da sie nichts bewegen außer sich selbst. Doch genau die kritisierte Starre des Publikums hat dasselbe herausgefordert und auf die Bühne gelockt, sodass das auf der Bühne hergestellte Bild von einer Handlung zu einer Handlung wurde und die Bilder mit einem Auftritt weggewischt wurden. Dieser Überlegung folgend, funktionieren die Schauspielenden in der Mentor wie die Zwischenrufer und vier Schauspieler in einer Person. Sie bestimmen selbst, wann die vierte Wand geöffnet und der Dialog mit einer Person aus dem Publikum beendet wird. Natürlich gibt es dabei einen Unsicherheitsfaktor, dass niemand der Zuschauenden die Narration stört, indem
5. Empirische Studien
Handlungen außerhalb der Erwartungen gesetzt werden oder einfach nur der Störung wegen. Die Inszenierung spielt mit diesem Wissen und dem Bruch der Erzählebene sowie Realitätsebene. Deshalb wurde in der Vorbereitung darauf geachtet, dass Einstiegs- und Ausstiegsszenarien klar sind; für Schauspieler und Schauspielerinnen sowie für Zuschauerinnen und Zuschauer. Das bedeutet, dass wenn die vierte Wand nicht aufgemacht wurde, keine Illusionen aufgebaut wurden, partizipativ handeln zu können. Dies war nur zu bestimmten Momenten gegeben, wenn um Mitarbeit oder direkte Ansprache die Wand durchbrochen wurde. Die Schauspielenden haben wieder die vierte Wand geschlossen, indem sie sich bedankt oder entschuldigt und sich von den Personen im Publikum abgewandt haben. Zusätzlich wurde das Licht, das gleichzeitig mit der Öffnung der vierten Wand auf den Publikumssessel mittels angebrachter Scheinwerfer fiel, wieder ausgemacht. Der Einbruch der Realität in das Hier und Jetzt des Theaterabends wird durch die Form und Narration des Theaterstücks geführt. Damit soll mit dem Besuch von der Mentor die Möglichkeit gestärkt werden, außerhalb des Theaters motiviert zu sein, in die Realität aktiv einzugreifen.
5.3.4.
Zwischenfazit
Die Theatererfahrung von der Mentor kann als Experiment gesehen werden. Im Französischen ist die Erfahrung, l’expérience, homonym und bedeutet neben Erfahrung auch Experiment.5 Ausgehend davon kann gesagt werden, dass jede gezielte Erfahrung einen Charakter eines Experiments aufweist. Es gibt zwar ein paar Grundregeln, an die man sich halten sollte, jedoch ist der Ausgang ungewiss. Das Verständnis vom Mentor oder welche Person in diesem Stück eigentlich als Mentor fungiert, ist in einigen Antworten umschrieben worden, da in allen Figuren des Schauspiels Charaktereigenschaften eines Mentors oder einer Mentorin gesehen wurden, teilweise wurden die Eigenschaften eines oder eben des Mentors auf eine einzelne Figur zusammengefasst. Die Intensität der Interaktion oder der Unsicherheit während des Stücks ist von den einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmern unterschiedlich wahrgenommen worden. Das Publikum ist recht unterschiedlich auf die Interaktionsmomente eingegangen, wenn auch in der gesamten Spiel-
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Ich danke Jessie Beier für diese Anregung.
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periode des Stücks nur etwa zwei Abende vorgekommen sind, an denen jemand die geplante Interaktion verweigerte (vgl. Interview 13).
6. Wie wird Kunst? Teil 2 »Wir müssen das Wissen anerkennen, das im Unwissenden am Werk ist und die Aktivität, die dem Zuschauer eigen ist. Jeder Zuschauer ist bereits Akteur seiner Geschichte, jeder Schauspieler, jeder Mann der Tat ist der Zuschauer derselben Geschichte.« Jacques Rancière 2009: 28
Da in den empirischen Beispielen nochmal durch die Interviews deutlich wurde, dass die Kunstproduktionen wesentlich auf der Basis von Kommunikation basieren, scheint es angebracht, die bereits beschriebenen Überlegungen zum Verhältnis von Publikum und Kunstschaffenden nochmal in Reflexion der Beispiele detailliert zu betrachten. Ein wesentliches Problem bleibt aufrecht, wie wir bereits gesehen haben, wenn Kunstschaffende und -publikum als zwei voneinander getrennte Entitäten verstanden werden (vgl. Grossberg 2010: 46). Wie beim bereits problematisierten ›Stimulus-Response-Modell‹ gehen die klassischen und auch heute noch in ihrer Basis verwendeten Kommunikationsmodelle von direkten oder linearen Zusammenhängen aus. Grundlegend dafür war das Modell nach Shannon und Weaver, nach dem sich aufgrund seiner Einfachheit viele orientiert haben. Die einfache Darstellung und die damit verbundene Erklärung erfuhren jedoch starke Kritik. Selbst Shannon und Weaver problematisierten drei Ebenen der Kommunikation. Zuerst fragen sie auf der technischen Ebene, wie Kommunikationssymbole transportiert oder vermittelt werden können. Die zweite Ebene fragt nach der Genauigkeit der Übertragung und beschäftigt sich also mit der Semantik der übertragenen Botschaft. Shannon und Weaver sind davon ausgegangen, dass umso besser die Botschaft verschlüsselt oder encodiert wird, desto besser diese auch entschlüsselt be-
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ziehungsweise decodiert werden kann. Die dritte Ebene beschäftigt sich mit der Effektivität, die darauf fokussiert ist, ob die Botschaft von A auch von B so verstanden wird, wie A sie gemeint hat. Wenn dieser Fall eintritt, ist die Kommunikation mit starker Effektivität verlaufen. Eine ästhetische oder emotionale Involvierung der Antwort sei ein Effekt der Kommunikation. Das Ziel des Modells war es, die Kommunikation zu verbessern, insbesondere die Genauigkeit und Effektivität (vgl. Fiske 1990: 7). Für Shannon und Weaver ging es also vor allem um die Produzierenden, die die Nachricht richtig verschlüsseln sollten, denn so würde sie auch möglichst effektiv entschlüsselt werden. Die Beispiele Romeo und Julia – love me queer! und der Mentor haben jedoch gezeigt, dass es weder nur um die Instanz der Produktion noch um die der Rezipierenden gehen kann. »Egal ob der Text oder das Publikum […] die Macht hat, die Bedeutung eines bestimmten Kommunikationsereignisses zu bestimmen, Kommunikation ist der Vorgang, durch den diese Kluft überwunden, das Unbekannte bekannt, das Fremde vertraut wird.« (Grossberg 2010: 46) Für die Betrachtung der Theaterprojekte ist es wichtig zu erkennen, dass nicht nur die Inszenierung, sondern auch der Theatertext nicht über eine einzige Interpretation funktionieren. Dies liegt an den unterscheidbaren Deutungen des Publikums und der Polysemie, die den Texten inhärent ist. John Fiske hat anhand von einer Vielzahl von Fernsehserien diese Polysemie belegt. Dabei betont er, dass die Interpretationen nicht losgelöst vom Publikum hergestellt werden, sondern innerhalb ihres soziokulturellen Kontextes. So schreibt er über das Fernsehpublikum »[T]he television audience is composed of a wide variety of groups and is not a homogeneous mass; and […] these groups actively read television in order to produce from it meanings that connect with their social experience. These propositions entail the corollary that the television text is a potential of meanings capable of being viewed with a variety of modes of attention by a variety of viewers.« (Fiske 1987: 84) Diese Vielzahl oder, in Deleuze und Guattaris Worten, Vielheit, findet sich bei allen künstlerischen Produktionen. Bevor der Text dramatisiert und choreographiert wird, ist er einem kontinuierlichen Prozess der Interpretation ausgesetzt, die einmal ein Thema, ein anderes Mal eine völlig andere Ebene des Textes stärkt. Das Produktionsteam, das aus dem Leiter des Theaters bis zur Sekretärin der Produktion besteht, nimmt auf die Auswahl, Produkti-
6. Wie wird Kunst? Teil 2
onsidee und Realisierung einen Einfluss. Einzelne Personen, wie zum Beispiel die Regisseurin können sich aufgrund von einer hierarchischen besseren Stellung mehr Einfluss erhoffen, jedoch ist dieser nicht garantiert und wird von Stück zu Stück, aber auch während der Produktion eines Theaterstückes laufend neu ausgehandelt. Dabei kommt ein komplexes Machtfeld zutage, das unterschiedliche Interessen transparent macht. So kann zum Beispiel zwischen Produktion und Regie der Bühnenraum besprochen und die Anzahl von 70 Publikumsstühlen beschlossen werden, nach ein paar Tagen kann diese Zahl im Gespräch zwischen Theaterleitung und Produktion auf 85 Sitzplätze angehoben werden. Darauf folgt ein Konflikt der Interessen, der auf den unterschiedlichen Kommunikationskanälen ausgetragen wird. Neben dieser Problematik konkurrieren jedoch auch unterschiedliche Vorstellungen davon, wer welche Rolle spielen soll. So denkt ein Schauspieler, dass die Figur des jungen Schreibenden falsch besetzt wurde und hatte damit eine andere Vorstellung, wer diese Rolle und wie diese Person sie spielen müsste. Auch bei Fragen, wie zum Beispiel, wer welches Gender verkörpert oder wer in diesem Stück eigentlich der Mentor sei, gehen die Meinungen stark auseinander. Mittels der Interviews wurde den komplexen Wegen der Interpretationen nachgegangen und deutlich, dass die Bedeutungen weder allein von den Kunstschaffenden noch vom Publikum geschaffen werden. Aus dem Hintergrund tritt eine komplexe Bedeutungsvielheit hervor, die nicht auf einen Grund zurückgeführt werden kann. Allein die Interpretationsvielfalt zu betonen, reicht aber nicht aus, um den Handlungen nachzugehen, die alle Beteiligten aufgrund der Erfahrung ausführen. »Die aktive Beschäftigung mit Texten ist selten ausschließlich durch den interpretativen Gehalt der Bedeutungsproduktion bestimmt. Welche Texte Menschen auswählen, und wie sie sie nutzen, sich aneignen oder sogar interpretieren, hängt oft von einer Vielfalt anderer Arten von Beziehungen ab – zum Beispiel, welche Lüste sie gewinnen können.« (Grossberg 2010: 51) Grossberg schließt gleich an, dass die Idee der Lust nicht weniger Komplex als die der Bedeutung sei. Dazu kämen noch die Ebenen der Sehnsucht oder der Ideologie. Kulturelle Texte sind in ihrer Potenz wesentlich multifunktional (vgl. ebenda: 52). Deleuze und Guattari sprechen in diesem Zusammenhang vom Begehren und einem Mehr-Werden. So sind es auch keine vorhandenen Subjekte, die einen Dialog mit dem Text eingehen. »Eher sind es kleine Ereignisse, Richtungen, keine Tatsachen: Möglichkeiten« (Bee 2018: 18). Eine Reduktion auf die Semantik einer Kunstproduktion oder auf die unter-
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schiedlichen Interpretationsleistungen durch das Publikum greift somit zu kurz. Der Ausgangspunkt eines Modells, das von Sende- und Empfangspositionen ausgeht, hat unterschiedliche Studien und Ansätze hervorgebracht. Matthias Wieser teilt diese in drei Gruppen ein. Erstens, die die die Produktionsseite thematisieren, zweitens, die andere Seite dieses Spektrums, nämlich die Rezeptionsseite und drittens diejenigen, die nach Bedeutungen zwischen den Ebenen dieser beiden Seiten suchen. Er konstatiert, dass der Kommunikationskanal meist unberücksichtigt bleibt und möchte diesen unter der Folie der Akteur-Netzwerk-Theorie verstärkt betrachtet wissen (vgl. Wieser 2012: 102f). Er fasst wie folgt zusammen: »Es geht immer auch um die Aneignung der Medien und nicht nur die Aneignung der Produzenten oder der Rezipienten« (Wieser 2012: 103; Herv. i. O.). Der menschliche Körper als Medium muss in diesem Zusammenhang ebenso beachtet werden. Obwohl dem Körper im Kontext von ästhetischen Erfahrungen eine zentrale Rolle zugesprochen wird, ist die Aufmerksamkeit, die ihm geschuldet wird, überraschender Weise gering (vgl. Brandstätter 2008: 111). Ein Grund ist dafür sicherlich das, was Merleau-Ponty als Leibapriori bezeichnet. Der Körper ist unser Medium, durch das wir unsere Umwelt wahrnehmen. Er ist zugleich Zugang und Barriere. Wir können ihn nicht umgehen. Der Körper »ist nicht zunächst im Raum: er ist zum Raum« (Merleau-Ponty 1965: 178). Im Unterschied zur gewöhnlichen Wahrnehmung wird der Körper in der ästhetischen Wahrnehmung zum Thema. Es ist entscheidend, dass der Körper als Medium die Wahrnehmung in der speziellen Art und Weise ermöglicht. »Die ästhetische Wahrnehmung ist auf das gleichzeitige und das augenblickliche Gegebensein ihres Gegenübers gerichtet« (Seel 2003: 54). Körper, Zeit und Raum sind im Verhältnis und werden gezielt wahrgenommen. Da unsere Wahrnehmung meist vom Visuellen und dem Sehsinn geprägt ist, scheinen unsere Interpretationen der Domestizierung des Visuellen unterlegen zu sein. So erkennen wir vieles durchwegs als starr oder fest, obwohl es in Bewegung ist. Eigentlich ist alles, wenn man es von einem physikalischen Standpunkt aus betrachtet, in Bewegung. Auch ein Tisch, der uns als abgeschlossene Einheit erscheint, ist in Bewegung und mit seiner Umwelt nicht abgeschlossen. Die Atome bewegen sich in einem Tisch nur dichter zueinander als Atome im (zum Beispiel) Wasser – das wir aufgrund dieser Beschaffenheit nicht so streng von seiner Umwelt, wie den Tisch, abgegrenzt wahrnehmen können. Wir sind also darauf konditioniert, dass wir Objekte als solche erkennen und zusätzlich von anderen trennen. Das macht die Schwierigkeit größer, die Prozesse der sich
6. Wie wird Kunst? Teil 2
laufend verändernden Produktionen oder Gefüge von Subjektivierungen erkennen zu können. Auf Oliver Zahms Frage, wie dies möglich sein soll, wenn Subjektivität oder Subjektivierung doch immer auf einem Narrativ basiere, antwortet Guattari: »Not in terms of narrativity, but in terms of nuclei [foyers] of mutant productions of subjectivity. Precisely not in terms of narrativity« (Guattari/Zahm 2011: 47; Herv. i. O.). Es ist wichtig festzuhalten, dass die Subjektivierung ausdrücklich nicht auf Narration beruht. Zahm sieht jedoch im Konzept der Refrains eine Narration, die ein Territorium herstelle. Doch Guattari widerspricht dieser Annahme: »A story is by definition something discursive. There is a term, then another term, then a third that relates to the first two. There is more montage than composition, whereas in my way of seeing things the subjective mutation made by the aesthetic refrain is not discursive, it is the outbreak of the non-discursive at the heart of the discursive. That is why it always crosses a threshold of non-sense, a threshold that ruptures the coordinates of the world.« (Guattari/Zahm 2011: 47) Guattari sieht im Refrain einen Ausbruch aus den (angebotenen) Narrationen, die zumeist die Eigenschaft besitzen, nicht eigens als Narration zusammengestellt worden zu sein, sondern als Montageteile von verschiedenen Versatzstücken zusammenzufinden und somit eine Norm vorzugeben. Der Refrain ist dazu im Gegensatz vielmehr ein Ausbruch aus der Normativität. Der Refrain belebt die Grenze zum Unsinn, da dieser kognitiv nicht in bekannten Narrationsmodellen erkannt werden kann. Die Belebung hat das Potential alternative Möglichkeiten zu schaffen. Innerhalb von Romeo und Julia hat Mercutio eine bestimmte Rolle. Neben den beiden hauptdarstellenden Figuren, ist er die wichtigste Figur. Mit dem Auftritt in der Inszenierung, der an einigen Stellen an einen Clown erinnerte und sich somit von anderen sehr stark abhob (vgl. Interview 04). Die performative Darstellung der Figur und insbesondere der Gang kennzeichnete Mercutio als Sonderling. In roten Schuhen und einer Hose mit jeweils grauem und weißem Hosenkanal sowie mit schwarzem T-Shirt, auf dem ein silberner Totenkopf aufgedruckt war, trat Mercutio sowohl als Sänger(in) als auch als klassische Sprechfigur auf. Die Kleidung war ein zusätzliches Merkmal, das die Figur von den anderen abgrenzte und das clowneske Verhalten unterstrich. Dadurch ermöglichte ihre Figur unterschiedliche Interpretationen, die nicht die uns bekannten Narrationen erzählte, sondern an den Grenzen der
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Verständlichkeit, Raum für Neues schuf. Als Beispiel kann die nicht mögliche Zuordnung zu einem bekannten Geschlecht angeführt werden oder einfach auch nur die Irritation, die die Figur ausgelöst hat und von den interviewten Personen am häufigsten genannt wurde. Die Erklärung entzieht sich aber der Sprache, da sprachlich nicht gefasst werden kann, warum die Figur Mercutio auch im Nachhinein in Erinnerung geblieben ist. »Naja ich war ziemlich beeindruckt von Mercutio. Also ich kann jetzt nicht sagen, dass ich nachgedacht habe, aber diese Irritation war immer wieder mal da, aber sehr positiv da. Ich kann jetzt nicht sagen, dass ich über das Konzept nachgedacht habe, über den Inhalt nachgedacht habe. Aber ich war da und ich habe es gesehen, es hat mir gefallen. Aber ich war da, es hat mich interessiert und es hat mir gefallen und es hat mich affiziert. Also es war auf jeden Fall immer wieder mal da, wenn ich, ich weiß jetzt gar nicht was der Auslöser war, wenn ich plötzlich wieder mal in Verbindung mit dem Theaterstück an etwas Anderes gedacht habe. Ich weiß jetzt gar nicht wie das zustande gekommen ist. Ein paar Mal definitiv, aber es war jetzt nicht, also in diesem Interview erzähle ich jetzt zum ersten Mal, wie ich das empfunden habe. Ich habe die Performance mit niemanden sonst besprochen oder so.« (Interview 07) Im Interview konnte nicht erklärt werden, woran die Erinnerung im Alltag anknüpft. Aber es wurde betont, dass die Assoziation zum Theaterstück insbesondere in Verbindung mit der Darstellung von Mercutio auftaucht. Die Betonung, dass man vor Ort war, scheint unbewusst die körperliche Anwesenheit in den Mittelpunkt zu stellen. Nicht die Narration der Geschichte, sondern die performative Erfahrung ist für das Erinnern zentral. Zusätzlich scheint es noch etwas zu geben, das die körperliche Erfahrung aufleben lässt. Um diese Ebene etwas mehr ins Licht zu rücken, werden noch affektive Dimensionen diskutiert, da diese den Bereichen nachspüren, die nicht innerhalb von Repräsentationen oder Kognition verankert sind. Zuerst folgt aber eine Typologie der unterscheidbaren beteiligten Personen, die im Gefüge der künstlerischen Produktionen vorkommen und dazu beigetragen haben, dass die Produktion überhaupt realisiert werden konnte.
6. Wie wird Kunst? Teil 2
6.1.
Typologien im Kunstgefüge »Der Prozess, durch den die Zeichen, die in jedem Moment der Aufführung wahrgenommen werden, im Verlauf der Aufführung zu ›Strängen‹ und ›Strukturen‹ oder Muster solcher Stränge verschmelzen, hängt wesentlich von der Gedächtnisarbeit des einzelnen Zuschauers ab.« Martin Esslin 1989: 118
Akteurinnen und Akteure im Kunstgefüge haben, wie wir in den empirischen Beispielen sehen konnten, ein sehr unterschiedliches Verständnis von Kunst oder den Künsten und ihren Anforderungen sowie Zielsetzungen. Die nachfolgenden Typologien sollten in dieser Vielfalt der Beteiligung(en) besondere Merkmale hervorheben. Die drei beschriebenen Typologien sollen nicht den Eindruck vermitteln, dass nur diese Wahrnehmungstypen vorhanden sind, sondern eine Orientierung in der Bandbreite der unterschiedlichen Partizipationsintensitäten geben. Die beschriebenen Typen folgen den charakteristischen Eigenschaften, die in der Interviewanalyse zum Vorschein kamen. Das bedeutet nicht, dass diese Typen in der Sozialwelt existieren. Sie vereinfachen die Analyse und geben Merkmale der Beobachtung wieder, die sich zwischen der Produktions- sowie Rezeptionserfahrung und Alltag ergeben. Diese Eigenschaften der Partizipationsintensität sind nicht einem einzelnen Menschen zuordenbar, sondern der vielfältigen Vielfalt des einzelnen Subjekts und der der Gruppe. Rainer Winter hat in seinem Buch Der produktive Zuschauer, die Medienaneignung als kulturellen und ästhetischen Prozess bei Horrorfans analysiert. Im Anschluss an John Fiske (1992: 37) unterteilt Winter die Aneignung der Fans aus der Sicht der Produktivität. Es entsteht daraus eine Dreiteilung – die semiotische, expressive und textuelle Produktivität. Die semiotische Ebene erklärt, wie die medial vermittelten Texte im eigenen Alltag integriert werden. Die expressive Produktivität verweist darauf, dass Bedeutungen innerhalb einer Gruppe oder an einzelne Personen kommuniziert werden. Die Dimension des Textuellen umfasst alle selbst erstellten medialen Artefakte mit relevanten Inhalten zur Rezeptionserfahrung (vgl. Winter 2010: 258-273, Fiske 1992: 3740). Die textuelle Produktivität geht nach Fiske auch am intensivsten mit der
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Partizipation einher. Sie beginnt jedoch schon mit der öffentlichen Rezeption und der Richtigstellung von Narrativen oder dem Hinzugeben von Bedeutungen, wie das Hineinrufen von Wörtern oder Phrasen während der Vorstellung. Fiske unterscheidet aufgrund des Textwissens zwischen dem Schaffen von Distanz und Vertrautheit. Dabei differenziert er klassisch zwischen Hoch- und Popkultur. Erstere entspräche der Arbeit einer Autorin oder eines Künstlers. Letztere sei ein offensichtliches kulturindustrielles Produkt, das aufgrund seines niederen Status offen für partizipative Teilnahme des Publikums wäre. »Official culture likes to see its texts (or commodities) as the creations of special individuals or artists: such a reverence for the artist and, therefore, the text necessarily places its readers in a subordinate relationship to them. Popular culture, however, is well aware that its commodities are industrially produced and thus do not have the status of a uniquely crafted art-object. They are thus open to the productive reworking, rewriting, completing and to participation in the way that a completed art-object is not.« (Fiske 1992: 47) Die diskutierten Beispiele entgegnen bereits dieser Beschreibung von hermetisch geschlossenen Bedeutungstexten. So ist die Inszenierung von Romeo und Julia bereits eine Textmontage von verschiedenen Übersetzungen und war bei den Proben laufend Diskussionsbasis von Streichungen und Überarbeitungen: die Pronomen wurden genauso verändert wie die akzentfreie Sprache, Figuren wurden aus der Inszenierung gestrichen sowie Lieder einer Sängerin und Sounds einer DJane hinzugefügt. Das Publikum war eingeladen den Ort der Vorstellung mit der Aufführung zu verknüpfen und persönliche Erfahrungen mit dem klassischen Text zu verbinden. Im aktuelleren Text Der Mentor war das Publikum das Zentrum der Inszenierung, da dieses dem Stück die Form gab und darüber hinaus auf die Mitarbeit des Publikums ausgerichtet, auch wenn das Publikum die Narration nicht ändern konnte. Die Interaktionselemente durchbrachen jedoch das hierarchische Setting zwischen Publikum und Schauspielteam anhand von mehreren Interventionen während der Aufführung. Mittels Livebildübertragung wurde der Theaterraum erweitert und verschiedene Realitäten miteinander verbunden. Die Zuschauerin beziehungsweise der Zuschauer verbrachte so ab Ankunft über Pause bis zum Schluss zwischen der fiktiven Theaternarration und der aktuellen Raumrealität des Theaters und mussten sich immer wieder zum Geschehen positionieren.
6. Wie wird Kunst? Teil 2
Auch in der Vorstudie DenkMal! ist die künstlerische Genese von einem Aushandlungsprozess gekennzeichnet, der aus der Verwendung von Feldpostbriefen und Tagebucheinträgen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges und selbst verfassten Texten von den Schülerinnen und Schülern entstand. Die Theaterstücke sind demnach keine vervollständigten Kunstobjekte, die sich der Interpretation der einzelnen Beteiligten entziehen können oder möchten. Die Beteiligung findet je nach ästhetischen, kulturellen, politischen oder sozialen Vorlieben in unterschiedlicher Qualität statt. In diesem Zusammenhang unterscheide ich zwischen den Typologien: die Schlafenden, die Gäste sowie die Träumenden.
6.1.1.
die Schlafenden
Zur Kategorie der Schlafenden gehören diejenigen, die zwar an der Kunstgenese oder Kunsterfahrung beteiligt sind, aber weder im Vorhinein einen großen Drang verspüren, sich darauf vorzubereiten, noch im Nachhinein mit anderen die Erfahrung in Gesprächen vertiefen. Die Teilnahme an der Auseinandersetzung mit Kunst ist nicht durch ihre intrinsische Motivation begründet. Die Bezeichnung ›die Schlafenden‹ zeigt schon über die Verwendung des Partizip 1, dass grundsätzlich eine gewisse Passivität mit der Handlung einhergeht, wenn auch eine Handlung, wie zum Beispiel der Theaterbesuch ausgeführt wird. Eine Besucherin erzählte zum Beispiel, dass sie nur in das Theaterstück ging, weil sie dazu eingeladen wurde. Sie interessierte sich nicht für die Geschichte, auch nicht für die Inszenierung; was für sie wichtig zu sein schien, war das gemeinschaftliche Zusammenkommen, wobei der Theaterabend nur als Drehangel dazu diente. Ihr Hauptgrund war eigentlich das mit ihren Freundinnen und Freunden geplante Getränk hinterher: Eine gesellige Zusammenkunst also, die ohne den Theaterbesuch nicht realisiert worden wäre. Die Aufmerksamkeit mancher Zuschauerinnen und Zuschauer während der Aufführung wurde von mehreren Teilnehmenden als schlafend bezeichnet. Jemand aus dem Team der Schauspielenden berichtete, dass es sehr wohl Schlafende in einer Abendvorstellung gegeben hat (vgl. Interview 13), zudem gibt jemand aus dem Publikum im Interview zu, schläfrig gewesen zu sein (vgl. Interview 15), eine andere Stimme betont, jemanden beim Schlafen zugesehen zu haben (vgl. Interview 16). Dabei fordern genau diese Theaterproduktionen eine erhöhte Aufmerksamkeit, da die offene Bühne und der öffentliche Platz dazu einladen, auf nicht aufführungsrelevante Ereignisse zu ach-
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ten. Das Geschehen am Ort der Inszenierung verstärkt den Umstand, dass nicht alles in der Inszenierung wahrgenommen werden kann (vgl. Interview 18). Der Figur einer Schlafenden oder eines Schlafenden werden unterschiedliche Charaktermerkmale zugesprochen. Die Abwesenheit und die fehlende intellektuelle Involvierung in der Kunstgenese stehen dabei im Mittelpunkt. Für den Prozess jedoch macht die Anwesenheit der Schlafenden einen großen Unterschied. Egal ob das Publikum aus nur wenigen Personen oder vielen besteht, die Schlafenden unterstützen den Eindruck von Ab- oder Anwesenheit. Jede Reaktion im Publikum ist eine Antwort auf das gegenwärtige Geschehen. So antwortet jemand im Interview, dass alle Publikumsreaktionen ernst genommen werden. Im Grunde gibt es ein starkes Vertrauen in das Publikum. Welche Publikumshaltung bei der Aufführung entsteht, ist dabei zu vernachlässigen, da die Schauspielenden sich ohnehin darauf einstellen (müssen). »[…] du gehst immer damit um, indem du damit reagierst, fertig. Und da beginnt, indem diese Kommunikation so startet und so hin und her geht und sie auch ernst nimmst und da du auch den Zuschauer ernst nimmst und nicht davon ausgehst, einer der permanent kreischt und gackert, dass das der bessere Zuschauer ist, das einer der sitzt und kein Geräusch von sich gibt. Das ist ein Irrglaube auch, also, das ist so meine Meinung.« (Interview 14) Auch die Personen, die der Kategorie der Schlafenden zugeordnet werden, sind im Kommunikationsprozess involviert. Ihr Verhalten beeinflusst das Verhalten sowohl der schauspielenden als auch der zuschauenden Personen. Die ersten Personen, die im Kontext der Kategorie der Schlafenden vielleicht verdächtigt werden, sind wahrscheinlich die Theaterbesucher beziehungsweise -besucherinnen mit einem Abonnement. Ohne Interesse an einer konkreten Aufführung, ist das Erscheinen und sich zeigen lassen wichtiger als der eigentliche Genuss an der Rezeption, da dieser tatsächlich im Schlaf während der Aufführung besteht. Diese Personen sind jedoch nicht der Prototyp. Vielmehr beschreibt die Position der Schlafenden die geringe Involviertheit am Geschehen. Es gibt grundsätzlich eine Interaktion zwischen dem Ort, dem Publikum und den Schauspielerinnen sowie Schauspielern. Die Vorgaben der Theatervorstellung werden akzeptiert und nicht gestört. Die Schlafenden sind mit dem Setting einverstanden und folgen den Regeln. Nach Eco könnte die Intensität der Beteiligung am Kunstgefüge den Kunstwerken in
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Bewegung zugeordnet werden, da das Publikum eingeladen wird, es zu vollenden, wie am Beispiel des Vorlesens zu erkennen ist (vgl. Eco 1973: 56). Auch wenn die vierte Wand geöffnet wird, lässt man dies über sich ergehen, ohne in irgendeinem Moment nachzufragen, welchen Grund die Öffnung hätte oder ob die eigene Person verlangt wäre. In einem Interview reagiert die Person auf meine Frage, ob sie denn an einem Zeitpunkt während der Aufführung Angst gehabt hätte, selbst dran zu kommen mit Unverständnis. »Nein, um Gottes willen, wie kommst du darauf, ich habe keinen Gedanken daran, wie kommst du darauf jetzt? Ich frage nur. Nein, sicher nicht. […] Ich habe gedacht, das ist abgemacht.« (Interview 16) Die Person hat sich demnach nicht nur selbst zurückgehalten sich näher auf die Aufführung einzulassen, sondern auch ihr Verhalten auf andere projiziert. Sie ist von einem theatralen Setting mit vorbestimmten Normen und vorgegebenen Rollen ausgegangen, obwohl die Vorankündigung, im Programmheft und das Bühnenbild ein anderes Setting nicht nur Nahe legte, sondern auch explizit erklärte. Unsicher ist der Fall bei einem Mann aus dem Publikum, der die Interaktion – ein Händeschütteln – mit einem Schauspieler verweigerte. »Weiß nicht, ob du auch drinnen warst, wo ich dem einen mal die Hand geben wollte und der hat sie nicht geben können. Da geht ein extremer Prozess grade ab. Unglaublich ja. So also diese Dinge sind schon und ja, ansonsten glaube ich, dass es grundsätzlich für die Zuschauer eine sehr spannende Erfahrung ist, sich dem so auszusetzen.« (Interview 14) Für den Schauspieler ist dies eben ein Fall, in dem sich das Publikum nicht brav, also den Regeln entsprechend verhält, deshalb gehe auch ein intensiver Prozess ab. Der Besucher konnte dazu leider nicht befragt werden, da dieser nach dem Stück das Theater mit seiner Begleitung sehr schnell verließ. Massumi betont, dass das ausgelöste Verhalten von interaktiver Kunst zu beachten sei. »Das wichtige bei interaktiver Kunst ist nicht so sehr die ästhetische Form, in der sich ein Kunstwerk dem Publikum präsentiert […], sondern eher das Verhalten, das das Kunstwerk im Betrachter auslöst« (Massumi 2010: 131). Wichtig ist es festzuhalten, dass es nicht darum geht, bei den Schlafenden kein Verhalten auszulösen, sondern ein Regelkonformes. Sie fühlen sich
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von der Inszenierung getrennt, das heißt, es existiert die Vorstellung von unterschiedlichen Entitäten. Das Publikum ist, wie auch die Aufführung, eine eigene Entität, die, da sie zwei Entitäten bilden, miteinander interaktiv agieren können. Interaktiv bedeutet, dass die Beziehungen zwischen den Schauspielenden und Zusehenden recht formal und passiv sind, also vorgegeben wurden und während der Vorstellung zu befolgen sind (vgl. Milevska 2006). Nach Rancière orientieren sich die Teilnehmenden an einem Konsens und fallen deshalb auch nicht besonders auf. Dies gilt nicht nur für das Publikum, sondern genauso für die Schauspielerinnen und Schauspieler. Wenn nach dem Probeprozess keine neuen Erkenntnisse formuliert werden können und die Regeln der Regie und der Kollegen- sowie Kolleginnenschaft ohne ein Hinterfragen befolgt werden, kommt man nicht von der Stelle, da die gleiche Logik verfolgt wird. Das wesentliche Ziel ist die Beibehaltung der Ordnung, indem alles bejaht wird (vgl. Rancière 2008: 32).
6.1.2.
die Gäste
Eine Stimme aus dem Publikum war an der Theaterproduktion interessiert, vor allem an der Inszenierung. Der Stoff Romeo und Julia habe sie seit der Schulzeit nicht mehr losgelassen und immer wieder in verschiedenen Stadien ihres Lebens begleitet: »[I]ch hab sie auch schon in unterschiedlichsten Varianten gehört und erzählt bekommen. Sie auch schon selbst […] gespielt und verkörpert in meiner Ausbildung als Theaterpädagogin. Habe aber den Romeo gespielt und nicht die Julia […]« (Interview 04). Diese Person passt zur Kategorie der ›Gäste‹. Und zwar, weil ein Gast sich zu einem bestimmten Anlass vorbereitet. Gäste überlegen, welche Kleidung passend wäre, ob die Gelegenheit ein Geschenk oder Mitbringsel erfordert, wie man an den erwünschten Ort gelangt, ob dafür der öffentliche Verkehr besser geeignet wäre etc. Während des Aufenthalts verhält man sich interessiert, auch wenn man schon längst müde ist. Darüber hinaus spricht man noch später mit anderen Freundinnen und Freunden oder Bekannten über das Treffen. Die Bedeutung des Begriffs Gast liegt der des Fremden sehr nahe. Die nahe Verwandtschaft zeigt die Geschichte des Gebrauchs von Gastarbeiter, der den des Fremdarbeiters ersetzt hat. In der Etymologie findet man die gleiche Bedeutungswurzel; ein Gast bezeichnet einen Fremden. Deutlich auch im Lateinischen ›hostis‹ oder ›hospes‹, was sowohl Gast als auch Feind bedeuten kann. Nicht nur feind, sondern auch fremd wird sehr oft mit Negativem konnotiert. Im Gegensatz dazu empfindet man, wenn die Bezeichnung
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Gast fällt, ein positives Gefühl (vgl. Wintersteiner 2017: 79f). Ein Gast ist im Normalfall geladen und sein Verbleib erwünscht. Dabei gilt dieses Verständnis jedoch eher dem, das bis zum Mittelalter gültig war: das Gastrecht oder ius hospitalis. Mit dem Aufkommen der Nationalstaaten hat das Fremdenrecht das Gastrecht abgelöst. Letzteres scheint aktuell nur noch in den Menschenrechten aufzufinden zu sein (vgl. Fountoulakis/Previšić 2011: 9, FN 9). Prinzipiell lässt sich jedoch ein markanter Unterschied zum Fremden nennen: der Gast sucht nur vorübergehend Kontakt mit einer spezifischen Gruppe oder Person (vgl. Schütz 2015: 45f). Die Gäste in dieser Untersuchung zeigten sich von einer Seite, die in ihrem Verhalten, dem von heutigen prototypischen Gästen entsprechen. Sie sind mit vielen Regeln konfrontiert. Wie sich ein Gast zum Beispiel Wissen aneignet, zeigen Ausschnitte aus den Interviews. Mehrfach wird betont, im Vorhinein sich über entweder das Stück oder die Inszenierung informiert zu haben: Es wurde unter anderem zum Begriff ›queer‹ recherchiert (vgl. Interview 03), die Thematik im Vorfeld bereits bearbeitet (vgl. Interview 04 und Interview 06) oder die Arbeit der Regie (zurück)verfolgt (Interview 04, Interview 05 und Interview 06). Die Gäste wollen durch ihr Wissen also nicht nur einen guten Eindruck erwecken, sondern auch nicht auffallen. Sie haben sich voller Vertrauen den ›Regeln‹ des Theaterstückes angepasst, die sie erkennen konnten. Niemand scheint über die Art und Weise des Umgangs enttäuscht gewesen zu sein. Die Befragten waren eher angetan, Teil der Aufführung gewesen zu sein und diskutierten dies noch im Nachhinein im Kreis der Freundinnen und Freunde weiter, auch wenn die Auseinandersetzung damit abgeschlossen zu sein scheint (vgl. Interview 03). Die Beschäftigung mit dem Gesehenen nach der Aufführung ist unerlässlich und gehört zur Theatererfahrung beziehungsweise zum Theaterbesuch dazu. Im Unterschied zu den Schlafenden, konsumieren die Gäste den Theaterabend ›nicht nur‹, sondern lassen sich darauf mit zeitlichem Abstand im Vor- und im Nachhinein ein. Dazu gehören alltägliche Gespräche über kommende kulturelle Termine, in denen darauf hingewiesen wird; Recherchen zu bestimmten Erwartungen oder Unverständlichkeiten; Diskussionen im Anschluss der Rezeption oder auch zu späteren Zeitpunkten, wenn der Ort oder das Thema, Merkmale der künstlerischen Auseinandersetzung verständlicher machen. Sie beschäftigen sich mit der Inszenierung nicht nur während der Aufführung, sondern auch darüber hinaus.
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Die Gäste nehmen die Regeln der Aufführung nicht nur an, sondern diskutieren beziehungsweise kommentieren diese. Während der Vorstellung werden einzelne Momente besprochen wie ein Beispiel zeigt: »Gehört habe ich nur einmal, aber das ist ja nur, weil mir das zugetragen wurde, dass man immer dort, wo die […] Frau vom Martin, so flüstert in der Ecke. Da haben die immer gesagt das ist die Souffleuse. […] Das ist die Souffleuse. Da waren sie irritiert. Zuerst haben sie es ja gar nicht gesehen dort hinten im Eck, dass sie dem Erik einsagt. Das ist die Souffleuse, nicht, da hinten im Eck und da ist eine gewisse Irritation entstand, aber das ist dann, wenn es weitergeht, weg.« (Interview 13) Die für den Schauspieler entstandene Irritation resultiert also aus der Bereitschaft mit den ›Gastgebenden‹ ins Gespräch zu kommen. Das Publikum bildet eine kollektive Gemeinschaft, die Teil der Theateraufführung ist. In diesem Verständnis gibt es keine getrennten Entitäten, sondern eine Ebene des Dialogs. Das Publikum nimmt am Ereignis teil, obwohl es gar nicht in bestimmten Momenten vorgesehen ist. Die Regeln des Theaters werden also nicht immer streng befolgt. Die Rezeption regt stets zu neuen Verknüpfungen an, die im Publikum kommuniziert werden. Für Eco ist dies ein Zuordnungskriterium zu einer umfassenderen Gattung des ›Kunstwerks‹ in Bewegung (vgl. Eco 1973: 56). Den Gästen sind etymologisch gesehen, freundliches und feindliches Verhalten inhärent, jedoch sind sie in dieser Kategorie Menschen, die nicht nur während der Veranstaltung die Bereitschaft eines Dialoges kommunizieren, sondern sich bereits zuvor auf den Abend eingestellt haben und danach wieder den Kontakt suchen und sich zu bedanken wissen. Nach der Theateraufführung sind es die Gespräche untereinander, manche warten aber auch auf die Schauspielenden nach der Aufführung an der Bar oder sprechen mit dem Personal. Da das Thema potenziell immer angesprochen werden kann, führt dazu, dass sich die Teilnehmenden vordergründig als Kollektiv wahrnehmen und als ein Solches agieren. Gedanken oder spontane Ideen werden unmittelbar an weitere weitergegeben, sodass von affektiven Gefügen gesprochen werden kann. Nicht der Inhalt der Kommunikation ist wichtig, sondern die Form der Weitergabe, eine Art kreative Unterbrechung: die performative Kommunikation des Affekts. Dabei ist wesentlich, dass der Affekt selbst nicht besprochen wird, sondern der Auslöser des kommunikativen Akts ist. Die performative Ebene wird durch den kommunikativen Akt bestimmt und
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dadurch auch sichtbar. Daran wird auch die von Esslin bezeichnete Gedächtnisarbeit erkennbar (vgl. Esslin 1989: 118).
6.1.3.
die Träumenden
Die dritte und letzte Typologie, die ich hier vorstellen möchte, ist die der ›Träumenden‹. In dieser Kategorie findet eine stärkere Involvierung als in den anderen beiden statt. Die Erfahrung kann nach dem Ende nicht so einfach vergessen oder abgelegt werden. Sie dauert an und lässt nicht so einfach los. Es scheint neben dem Zeitraum und Ort der Kunsterfahrung noch ein Dialog zu bestehen, der die Person in eine gewisse Unruhe versetzt, die unterschiedlich artikuliert wird. Eine interviewte Person war vom Auftreten der Schauspielerin, die Romeo spielte, mehr als beeindruckt. Zwar nicht während sie im Publikum saß, aber danach. Ihre Geschichte zeigt, dass jede Begegnung individuell ist und wir jede Einzelne ernst nehmen müssen. Obwohl sie sich nicht eingeladen fühlte, sich am Theaterstück zu beteiligen, fühlte sie sich stark mit Romeo verbunden. Das weibliche Erscheinungsbild und die starke Präsenz der männlichen zugeschriebenen Durchsetzungskraft beeinflusste sie so stark, sodass sie über ihr eigenes (performatives) Handeln für eine längere Zeit nachdachte. Im Interview erzählte sie davon, dass sie in ihrer Beziehung sehr gelitten hat und nicht wusste, wie sie die Kraft aufbringen kann, diese zu beenden. Auf der einen Seite konnte sie nicht so wie Romeo selbstsicher und bestimmt im Alltag auftreten, auf der anderen Seite fehlte ihr neben diesem Auftreten auch die Entscheidungskraft. Das Thema des Theaterstücks über eine Liebe, die aufgrund von äußeren Kräften nicht möglich ist, wurde für diese Besucherin ein Theaterstück über Dominanz, Selbstvertrauen und Weiblichkeit. Was stellen Geschlechter dar, ohne, dass wir sie bewusst so konstruieren und mit welchen Konsequenzen muss man leben? Die Rolle von Romeo hat sie ermutigt, kraftvoller aufzutreten und Mut zu fassen. In ihrem Fall hat es dazu geführt, dass sie ihre Beziehung, unter der sie seit längerer Zeit litt, beendete. Romeo, im Stück von einer Frau gespielt, hat ihr vorgezeigt, wie dies machbar ist (vgl. Interview 05). Auch in einem anderen Interview wird betont, dass ein Gefühl, das durch die Theatererfahrung erzeugt wurde, auch mit zeitlichem Abstand wieder gefühlt und von Ort und Zeit der Aufführung gelöst empfunden wurde (vgl. Interview 08).
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Dabei erkennt man zum einen, dass der ›kreative Akt‹, wie ihn zum Beispiel Duchamp bezeichnet, vom Publikum vollzogen wird, aber zum anderen, dass dieser nicht allein in der Interpretation vollzogen wird. Die kognitive Tätigkeit einer Interpretation reicht nicht aus, um die dialogischen Vorgänge ausreichend erklären zu können. Wenn man in der Lage ist, sich selbst auszudrücken, entsteht eine Möglichkeit, in der man selbst wird. Dieses Werden ist generativ. Es entsteht damit eine positive, produktive und generierende Macht, die dem eigenen Selbst die Fähigkeit gibt, Selbst zu werden (vgl. Massumi 2010: 142). Verschiedene Elemente spielen hier zusammen, die zumindest zeigen, wie komplex der Vorgang ist, da dieser nicht auf eine einzelne Beobachtung reduziert werden kann. Zudem wird erkennbar, dass sich der Prozess zwischen Anpassung an vorhandene Strukturen und Vorstellungen sowie Widerstand des Eigensinns (vgl. Winter 2001a) erstreckt. Der kreative Akt vollzieht sich demnach immer in zwei voneinander abweichenden Bewegungen. Butler betont, dass das Selbst sich nicht nur selbst formt, sondern dies immer »innerhalb von Formen [geschieht], die schon mehr oder weniger vorgegeben sind oder sich abzeichnen. Man könnte auch sagen, das Subjekt ist gezwungen, sich in Praktiken zu formen, die mehr oder weniger schon da sind. Vollzieht sich diese Selbst-Bildung jedoch im Ungehorsam gegenüber den Prinzipien, von denen man geformt ist, wird Tugend jene Praxis, durch welche das Selbst sich in der Entunterwerfung bildet, was bedeutet, dass es seine Deformation als Subjekt riskiert und jene ontologisch unsichere Position einnimmt, die von neuem die Frage aufwirft: Wer wird hier Subjekt sein, und was wird als Leben zählen, ein Moment des ethischen Fragens, welcher erfordert, dass wir mit den Gewohnheiten des Urteilens zu Gunsten einer riskanteren Praxis brechen, die versucht, den Zwängen eine künstlerische Leistung abzuringen?« (Butler 2001) Die interviewte Person, die ihre Beziehung beendete und ihr Verhalten im Nachhinein mit dem Auftreten der Schauspielerin verglich, die Romeo spielte, hat nicht bewusst für sich entschieden, dass sie nach der Rezeption des Theaterstücks selbstbewusster auftreten möchte. Im Gegenteil, es überwog das Gefühl, dass dieser selbstbewusste Auftritt nicht gelingen könnte: »Ich fand das halt sehr beeindruckend, irgendwie. Also gerade so wie die Frauen gespielt haben als Männer auch äh. Und ich dachte, ganz so romeomäßig, das kriege ich halt nicht hin« (Interview 05). Mit zunehmendem Abstand zum Theaterabend, nahm auch anscheinend die Unzufriedenheit zu und damit
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ging eine Befragung der eigenen Existenz einher. Nach Butler ein Prozess, der nicht ungefährlich ist, da dadurch die Person in ihrem Umfeld an Sicherheit verliert. Für Maurizio Lazzarato sind dies Eigenschaften eines politischen Ereignisses. »Das politische Ereignis erstattet uns die Welt und die Subjektivität zurück. Es gibt der Welt ihre wahre Natur wieder: Sobald die Welt durch das Ereignis geöffnet und aufgerissen ist, zeigt sich, dass sie nicht einfach das ist, was ist, sondern auch das, was sich gerade herstellt und was herzustellen ist.« (Lazzarato 2011; Herv. i. O.) Die Öffnung der Welt bedeutet eine Inakzeptanz der Normen und die Möglichkeit der Veränderung. Das politische Ereignis weckt in uns einen Möglichkeitssinn, der zu Handlungen aufruft. Die ausgeführte Handlung, wie das Beenden der Beziehung, ist die Aktualisierung des Affekts, der die Möglichkeit offenbarte. Für Deleuze ist Kunst ein starker Lieferant für Affekte, da das Publikum immer wieder mit Neuem konfrontiert wird (vgl. Deleuze 1997: 138; Deleuze/Guattari 2000: 210). Die Möglichkeit, Neues zu schaffen, ist immer mit der Schwierigkeit verbunden, nicht in gewohnte (Denk)Muster zu verfallen. Wie auch Lazzarato, betont Rancière die politische Dimension des sich im Moment entwickelnden Subjekts. »Die Politik kann sich durch kein Subjekt definieren, dass ihr vorausginge« (Rancière 2008c: 9). Politik kann demnach nur entstehen, wenn etwas Neues formuliert wird. Dies ist auch im Dissens zu finden, den Rancière als unumgänglich sieht, um politisch zu sein. Wenn man sich auf das was ist einigt, also einen Konsens eingeht, entsteht nichts Neues und in diesem Sinne auch nichts Politisches. Für Lazzarato ist das Politische zudem dynamisch und ausschließlich über einen längeren Zeitraum wirksam (vgl. Lazzarato 2011). Das Subjekt erlebt eine Veränderung, es transformiert sich und kann nicht mehr zurück. Im Interviewbeispiel erkennt man, dass ein längerer Zeitraum vonnöten war, um die Beziehung zu beenden. Der Affekt an sich, hat keinen Inhalt, keine Narration. Er bewegt jedoch etwas und lässt in diesem Beispiel Zweifel aufkommen. Dieser Zweifel ist Austragungsort einer nicht überzeugten Lebensführung und Resultat eines persönlichen Dissenses, der anscheinend durch den Theaterabend affektiv ausgelöst wurde und bei der Ausführung des Schlussmachens performative Gestalt annahm. Letztendlich trat der Körper performativ in der Sprache auf, ohne nur mehr Sprache zu sein (vgl. Butler 2011: 12). Dass performative Äußerungen gleichzeitig ein soziales Handeln mit sich ziehen, betont auch Sybille Krämer, die damit nicht die Struktur
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der Sprache, sondern den Gebrauch dieser hervorhebt (vgl. Krämer 2011: 141). Die Narration, nicht mehr in einer Beziehung zu sein, wird plötzlich möglich und als positive Alternative akzeptiert. Wie im Museum of Broken Relationships die Sammlung von gescheiterten Beziehungen, durch die museale Ästhetisierung, ausstellungswerte und damit wertvolle Geschichten werden, wird durch die performative Ausführung des inneren Zweifels das Leben aktiv geführt und die Person dadurch emanzipiert. Dabei ging es nicht nur um den Moment des Schlussmachens, sondern um den alltäglichen Auftritt. Wichtig ist hier zu sehen, dass die Handlung keine rein performative war, da eine solche nicht den gewünschten Effekt hervorgebracht hätte. Eine performative Handlung weicht zwar durch ihre Wiederholung immer wieder ab, bestätigt jedoch das Hervorgebrachte: »Performativität wird nicht als der Akt verstanden, durch den ein Subjekt dem Existenz verschafft, was sie/er benennt, sondern vielmehr als jene ständig wiederholende Macht des Diskurses, diejenigen Phänomene hervorzubringen, welche sie reguliert und restringiert.« (Butler 1995: 22) Erst die affektiv initiierte performative Handlung schafft eine dissensorientierte soziale Handlung, die mit der Norm bricht und etwas Neues hervorbringt. Die Handlung wird durch den kreativen Akt bestimmt, der sich von den gewohnten Strukturen loslöst und einen Eigensinn verfolgt, der noch gefunden werden muss. Dies mag im ersten Moment etwas verrückt erscheinen, doch genau ein Verrücken der eigenen Position wird verfolgt. Damit wird ein Ablauf in Gang gesetzt, der stark vom Werden nach Deleuze und Guattari geprägt ist. Es wird dabei kein Ziel verfolgt, das erreicht werden soll, sondern eine Fluchtlinie gefunden, die einen woanders hinbringt als man gerade ist. »Genau so verstehe ich auch die Politik der Kunst, nämlich als Konstruktion sinnlicher Landschaften und als Herausbildung von Sichtweisen, die den Konsens dekonstruieren und zugleich neue Möglichkeiten und Fähigkeiten schaffen. Der traditionelle Irrtum über die Politik der Kunst bestand darin, eine implizite Zielgerichtetheit vorauszusetzen, die aus dieser Neugestaltung der sinnlichen Landschaft ein bloßes Instrument machte, die aktivistischen Energien und Strategien zur Verfügung stünden.« (Rancière 2012: 184) Durch die künstlerische Erfahrung wurde der Konsens des Alltags in Frage gestellt und alternative Möglichkeiten geschaffen. Diese bildungspolitische Dimension erfährt bei den Träumenden eine besondere Rolle, da »›Techni-
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ken‹ der Lebensführung« (Ortheil 1994: 130) erkundet werden können sowie über das individuelle Handeln hinaus auf der Basis von ästhetischer und affektiver Gemeinsamkeiten ein Kollektiv gebildet wird, das wiederum eine eigene Kultur konstituiert (vgl. Winter 2010: 278). Dies ist auch das Ziel einer relationalen Ästhetik, wie sie Nicolas Bourriaud beschreibt. Durch die neu geschaffene Beziehung ensteht potenziell etwas, was vorher nicht vorhanden war, vielmehr was vorher nicht vorhanden sein hat können. In einem Interview konnte ein Beispiel für Fiskes textuelle Produktivität ausgemacht werden. Ein paar Jahre nach der Aufführung von Romeo und Julia – love me queer! wurde ein Theaterstück unter dem Titel Romeo und Julia gehen fremd realisiert. Auf die Frage hin, ob das Stück aufgeführt worden wäre, wenn die interviewte Person nicht bei Romeo und Julia – love me queer! mitgemacht hätte, wird wie folgt reflektiert: »Das ist schwer zu sagen, ich glaube nicht, auch aus dem Grund, weil wir damals uns […] mit Romeo und Julia zu diesem Zeitpunkt sehr intensiv beschäftigt haben. Das heißt, das hätte ich wahrscheinlich nicht getan. Dazwischen waren zwei Jahre und ich weiß nicht ob ich Romeo und Julia zu den wichtigen Stücken gezählt hätte, mit denen ich mich beschäftigt hätte. Und der Zugang von love me queer hat nicht so viel Einfluss gehabt im Anfangsstadium, weil ich am Anfang von Romeo und Julia gehen fremd für mich noch nicht ganz klar war, wohin das Stück geht.« (Interview 19) Während also die Beschäftigung mit dem Stoff von Romeo und Julia wahrscheinlich dazu geführt hat, das Thema zu aktualisieren, wird der Einfluss der ersten Inszenierung als gering eingeschätzt. Trotzdem schimmern parallele Überlegungen und Ideen der ersten Inszenierung beim Jugendtheaterstück durch: »Ja bei der Transsexualität zum Beispiel, aber auch Intersexualität, also diese Dinge waren Thema. Und eben Homosexualität war ein Thema. Wir haben halt Figuren auf die Bühne gestellt, die mit solchen Dingen zu tun haben« (Interview 19). An der Bearbeitung des Stoffes von Romeo und Julia kann man die Erosion der Unterscheidung zwischen Hoch- und Populärkultur erkennen. Für Fiske zeichnet sich ein Produkt der Hochkultur durch die übergeordnete Stellung zum Publikum aus. Unter anderem entsteht diese durch die künstlerische Schöpfung des Textes oder der auratischen Aufladung des »Autors«, wie in diesem Fall Shakespeare (vgl. Fiske 1992: 47). Jedoch zeigt die doppelte Bearbeitung des Stoffes und die Weiterführung, dass auch dieser kanonisierte
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Text, offen für Bearbeitung und Überschreibung ist. Letztendlich deswegen, weil die Texte nur in einem Gefüge rezipiert werden können. Die Träumenden werden affiziert und sind auch in der Lage zu affizieren. Im Mittelpunkt steht die Teilhabe, die den Menschen nicht das Gefühl gibt, mitmachen zu können, sondern teilzuhaben. Sie sind Teil des Stücks, Teil der Produktion, Teil der Rezeption. Sie sind Teil des affektiven Gefüges, das während der Aufführungen performativ als Gruppe wahrgenommen werden kann, danach meist vereinzelt als Individuum. Aber als ein Individuum in Beziehung zum Ort, zur Bühne, zum Sound, zur Musik und zum Bühnenbild, zu den Schauspielerinnen und Schauspielern, zu ihren Kostümen, zu den Requisiten und in Beziehung zum restlichen Publikum.
6. Wie wird Kunst? Teil 2
6.2.
Affektive Performativität? »In jedem Bereich […] repräsentiert der Übergang von einem Sachverhalt zum Körper über die Vermittlung eines Potentials oder einer Potenz […] einen wesentlichen Moment. Hier findet der Übergang von der Mischung zu Wechselwirkung statt. Und schließlich beginnen die Wechselwirkungen der Körper eine Sinnlichkeit, eine Proto-Perzeptibilität und eine ProtoAffektivität, die sich bereits in den mit den Sachverhalten verknüpften Partialbeobachtern ausdrücken, obwohl sie ihre Aktualisierung nur im Lebendigen vollenden. Was man ›Perzeption‹ nennt, ist kein Sachverhalt mehr, sondern ein Zustand des Körpers […] und entsprechend ist ›Affektion‹ der Übergang von diesem Zustand zu einem anderen […]: Keiner ist passiv, vielmehr ist alles Wechselwirkung, selbst das Gewicht.« Gilles Deleuze und Félix Guattari 1997: 179f; Herv. i. O.
In der Kommunikationswissenschaft wurde seit Anbeginn dem Zusammenhang von Medienkonsum und den Handlungen der konsumierenden Menschen nachgespürt. Wie im Kapitel 2 dargestellt, wurde diesem Umstand mehrheitlich linear nachgegangen und komplexere Beziehungsmuster blieben unbeachtet (vgl. Hipfl 2012: 72). Brigitte Hipfl plädiert für eine stärkere Beschäftigung mit dem Körper und den emotionalen Prozessen. Als Ausgangspunkt nennt sie Spinoza, der die körperlichen und intellektuellen Dimensionen zwar unterscheiden konnte, jedoch nicht voneinander trennte. Er beschrieb eine nicht bewusste Intensität im Körper als Affekt. Die Bedeutung von Affekt für eine sich damit befassende Forschung fasst Hipfl wie folgt zusammen:
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»Das Interesse an Affekten hat damit zu tun, dass Affekte gerade nach dem spannungsreichen Verhältnis einer Person zu ihrer Außenwelt und damit nach der Relationalität zwischen den physiologischen und geistigen Dimensionen von Emotionen und der biologischen, sozialen und kulturellen Umwelt fragen.« (Hipfl 2012: 74) Den Affekt genau zu bestimmten, ist schwierig, weil er beispielsweise ein Auslöser von Emotionen ist. Das heißt, dass Emotionen, die uns bewusstwerden, nicht mehr der Affekt sein können. Der Affekt kann die Emotionen ausgelöst haben. Wo und wann das geschah ist jedoch nicht ortbar. Der Affekt entsteht im ›Da-zwischen-sein‹. Gregory Seigworth und Melissa Gregg nähern sich dem Affekt wie folgt: »Affect arises in the midst of inbetween-ness: in the capacities to act and be acted upon. Affect is an impingement or extrusion of a momentry or sometimes more sustained state of relation as well as the passage (and the duration of passage) of forces or intensities. That is, affect is found in those intensities that pass body to body (human, nonhuman, part-body, and otherwise), in those resonances that circulate about, between, and sometimes stick to bodies and worlds, and in the very passages or variations between these intensities and resonances themselves. Affect, at its most anthropomorphic, is the name we give to those forces […] that can serve to drive us toward movement, toward thought and extension, that can likewise suspend us (as if in neutral) across a barely register in accretion of force-relations, or that can even leave us overwhelmed by the world’s apparent intractability. Indeed, affect is persistent proof of a body’s never less that ongoing immersion in and among the word’s obstinacies and rhythms, its refusals as much as its invitations.« (Seigworth/Gregg 2010: 1) Dort ist also der Affekt verortet: im Dunklen, im Unreinen, im Nebel. Er liegt in der Fähigkeit affiziert zu werden und selbst zu affizieren. Der Affekt folgt dem Prozess von Intensitäten beziehungsweise Kräften. Das Beständige an ihm, ist seine Unbeständigkeit. Deshalb kann auch nicht vorhergesagt werden, ob ein Affekt zu einer Erweiterung oder Reduktion der Handlungsmacht führt. Während im Duden Affekt als heftiger Erregungszustand definiert wird, bezeichnen Philosophen den Affekt als schwer bestimmbar, da dieser als eine Art handelnde Kraft aus dem Körper kommt und zu unterschiedlichen Handlungen stimuliert. Aufbauend auf Spinoza und Bergson erklären Gilles Deleuze und Félix Guattari den Affekt als Fähigkeit beziehungs-
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weise Eigenschaft affiziert zu werden und zu affizieren. In der Historie des Begriffs wird Affekt meist mit etwas Negativem verbunden, weil man den Affekt nicht unter Kontrolle haben kann. Deshalb war der Affekt weit vom Geist entfernt und nur im Körper enthalten. Später war man hingegen überzeugt, dass mit geistigem Training, Affekte kontrolliert werden könnten. Ab ungefähr dem 18. Jahrhundert wandelt sich der Begriff ein wenig und erfährt auch positive Zuschreibungen. Bei Bergson wirkt sich der Affekt körperlich sowie geistig aus (vgl. Hoff 2015: 23). Der Affekt ist nicht Teil von einem großen Ganzen, sondern besitzt eine eigene Entität, die über eine eigene Zuordnung in Raum und Zeit verfügt. Er resultiert aus einem Zusammenspiel zwischen unseren Wirkungsmöglichkeiten auf die Dinge beziehungsweise Artefakte um uns herum und die möglichen Wirkungen dieser auf uns (vgl. Bergson 1991: 43). Massumi nach, ist der Affekt in gewisser Weise autonom, da dieser der körperlichen Begrenzung entweicht und dessen Beweglichkeit sowie Potential für eine Handlung ausmacht. Als Beispiel führt er Emotionen an, die das intensivste Beispiel dafür sind, dass der Körper verlassen wird und gleichzeitig aber auch als unüberschreitbare Grenze fungieren kann. »That is why all emotion is more or less disorienting, and why it is classically described as being outside of oneself, at the very point at which one is most intimately and unshareably in contact with oneself and one’s vitality. If there were no escape, no excess or remainder, no fade-out to infinity, the universe would be without potential, pure entropy, death. Actually existing, structured things live in and through that which escapes them. Their autonomy is the autonomy of affect.« (Massumi 2002: 35) Auch wenn das Ende des Zitats tautologisch zu sein scheint, wird die Paradoxie deutlich. Nämlich wie Affekte zu einer Erweiterung der Handlungsmacht beitragen können, da sie auf der einen Seite Möglichkeiten erschaffen, die ohne sie nicht existiert hätten, auf der anderen Seite das Potential zu handeln einschränken, da sie zu einer Verwirrung oder Regungslosigkeit führen können. Erst der Ausbruch des Affekts kennzeichnet diesen mit einer gewissen Autonomie, obwohl er nicht losgelöst von den unmittelbaren Kontexten funktionieren kann. »Affekte ereignen sich in Tendenzen, die Differenzierungsprozesse tragen und die sich quer durch das vorliegende Material ziehen und verschiedene Ebenen ausbilden« (Bee 2018: 19). Der Affekt wird erst in seiner Aktualisierung sichtbar beziehungsweise bemerkbar (vgl. Massumi 2002: 220f). Dann verliert er auch seine Autonomie und formt sich dem Kontext, wobei dieser nicht einfach aus einem zeitlichen sowie räumlichen Territori-
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um besteht, dem man sich unterordnet, sondern der Kontext wird mittels Praktiken und Identitäten ebenso hervorgerufen (vgl. Winter 2001b: 46). »We can only grasp affect in its actualization – its virtual potential is obviously unconscious to us. Hence, such an expression marks the functional limitation of its potential. Affect is autonomous to the extent it participates in the virtual and to the degree that it escapes confinement, necessary for any organism to ›live‹.« (jagodzinski 2012: 2) Affekte sind also überall, jedoch nicht immer befreit, sondern ein Potential, das in unterschiedlichen Artikulationen, Praktiken oder Handlungen sichtbar werden kann. Sichtbar werden sie also nie als Affekt, jedoch in den Effekten, die sie auslösen (vgl. Hipfl 2014: 8). Wichtig ist dabei der erwähnte Differenzierungsprozess, der etwas als Anders überhaupt erkennbar macht. Über bestimmte Performativitäten werden diese Differenzen ebenso sichtbar. Besonders dann, wenn die Handlungen ausgeführt werden. Die Verbindung mit dem Konzept der Performativität ist hier wichtig, da damit ersichtlich werden kann, wie Wirklichkeit durch die affektiv eingeleiteten performativen Handlungen hergestellt wird. Das Subjekt wird durch die ausgeführten Handlungen laufend geformt. Konstant bleibt dabei nur die Veränderung, die sich nach ›Beglaubigungsstrategien‹ (vgl. Klein/Göbel 2017: 13) orientiert. Die performativen Ausführungen folgen den vorgegebenen Normen beziehungsweise Erwartungen, damit das Subjekt als fix, überzeugend und klar wahrgenommen wird. Um Druck ablassen zu können, wird in Parodien und Satiren aus der Rolle ausgebrochen, um später wieder zu den Beglaubigungsstrategien zurückzufinden. Im Theater oder beim Besuch einer Theateraufführung werden diese Beglaubigungsstrategien ebenso angewandt. Die Regeln während einer Aufführung oder beim Besuch der Theaterinstitution sind beim Publikum meist schon bekannt. Deshalb dauert es auch länger, wenn das Publikum bei einer Aufführung zur Interaktion aufgefordert wird. So setzt sich zum Beispiel das Publikum bei DenkMal! sehr langsam in Bewegung, wenn es den schauspielenden Schülerinnen und Schülern in den Rosengarten und danach wieder zum Villacher Denkmal der Namen folgen muss. Das Publikum tritt dabei aus seiner Rolle der Zusehenden der Theaterinszenierung heraus und wird zu Zuschauerinnen sowie Zuschauern der vorgespielten Szene im Stück. Da es sich bei DenkMal! um die Reinszenierung der Beschädigung des Denkmals handelt, spielen die einzelnen Zusehenden ungefragt die Mitschuldigen. Es ist also nur verständlich, wenn eine Interaktion auf dieser
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Basis nicht reibungslos verläuft, da die Interaktion in zweierlei Hinsicht erschwert wird. Zum einen wurden die Menschen nicht gefragt, ob sie diese Rolle übernehmen möchten und zum anderen müssen sie von einer auf die andere Sekunde ihre Position verlassen und eine Rolle übernehmen, mit der sie sich noch gar nicht beschäftigt haben. Im dritten empirischen Beispiel Der Mentor verhielt sich dieser Umstand anders. Das Publikum wusste bereits vorher aufgrund der Werbung für die Theaterinszenierung, dass gewisse Rollen von den Besuchenden erwartet werden. Bereits beim Einlass wurde darüber gesprochen und bei der Garderobe oftmals gewitzelt, was gleich während der Aufführung passieren würde. Dass nur ein paar Momente in der Inszenierung von der Interaktion mit dem Publikum geprägt waren, machte den Befragten nichts aus. Die Antworten auf die Frage, ob sie wieder einmal in einem Theaterstück in ähnlicher Art ›aushelfen‹ würden, wurde durchwegs mit ›ja‹ beantwortet. Obwohl nicht klar war, welche Rollen übernommen werden würden, haben die Teilnehmenden spontan mitgemacht. Im Unterschied zu DenkMal! war das Publikum zum größten Teil darauf vorbereitet, Teil der Inszenierung zu sein. Das heißt, dass sich die Menschen nicht vor den Kopf gestoßen fühlten, als sie interaktiv werden sollten. Zudem haben die Schauspieler und die Schauspielerinnen in den verschiedenen Szenen immer die Möglichkeit betont mitzumachen. Es sollte kein Gefühl des Zwangs vermittelt werden. Wenn jemand nicht mitmachen wollte, wurde entweder das Stück weitergespielt oder in einer Szene die Sitznachbarin oder der Sitznachbar gefragt. Die Theaterinszenierung von Romeo und Julia – love me queer! war nur in einer Situation in der Narration des Stücks auf Interaktion ausgerichtet, wobei diese darin bestand, dass das Publikum als solches zwar angesprochen wurde, es jedoch nicht vorgesehen war, dass dieses sprachlich oder körperlich interagiert. So kam in einem Interview auch der Missmut auf, dass man nicht darüber entscheiden konnte, ob man denn überhaupt in die Rolle gedrängt werden möchte oder nicht (vgl. Interview 04). Die Rolle in einem Theaterstück zu übernehmen, sei es nun aus dem Publikum heraus oder als schauspielende Person eines Stückes, ist jedoch immer etwas grundsätzlich Anderes als im Alltag. »Eine Rolle, die im Theater dargestellt wird, ist nicht auf irgendeine Weise wirklich und hat auch nicht die gleichen realen Konsequenzen wie die gründlich geplante Rolle eines Hochstaplers; aber die erfolgreiche Inszenierung beider falscher Gestalten basiert auf der Anwendung realer Techniken
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– der gleichen Techniken, mit deren Hilfe man sich im Alltagsleben in seiner realen sozialen Situation behauptet.« (Goffman 2008: 233) Obwohl sich die Techniken des Sozialen von denen aus dem Alltag nicht unterscheiden, muss die Bereitschaft zur Kooperation oder Kollaboration im Stück am besten im Vorhinein geklärt sein. Wenn dies nicht der Fall ist, fühlt sich das Publikum überrumpelt oder nicht ernst genommen. Die Regeln der Teilnahme müssen also im Vorhinein geklärt sein, damit diese besser angenommen werden können. Die Menschen im Publikum wissen dann auch ihre Möglichkeit, in eine Rolle schlüpfen zu dürfen. Umso mehr Informationen über die Partizipationsmöglichkeiten bekannt sind, umso eher gelingt es Menschen zum direkten Dialog zu motivieren. Im Gegensatz zur Rolle des Hochstaplers, die in jedem Moment immer wieder neu verhandelt und angepasst werden muss, zudem kaum verlassen werden darf, ist die Rolle während einer Theateraufführung zeitlichen begrenzt und findet prinzipiell in einem geschützten Rahmen statt. Die auszuführenden Handlungen, die im Theaterkontext soziale Realität herstellen, werden zumeist angeleitet und sind nicht immer Resultat eines Affektes. Es geht vielmehr um das Entlangtasten an den Beglaubigungsstrategien innerhalb von Spielregeln. Es ist das Spiel, das laut Schiller von allen Zwecken befreit sein sollte, damit es sich bestmöglich entfalten kann. In diesem Zusammenhang ist das möglich, was man allgemein eine Transformation nennt. Die Idee der Transformation liegt bereits in John L. Austins Ausarbeitung des Begriffs performative. Das ›Ja sagen‹ bei einer Hochzeit oder das Aussprechen von ›ich taufe dich‹ sind nur zwei berüchtigte Beispiele von Sprechakten, die von der transformativen Kraft zeugen. Durch die sprachlichen Ausführungen wird nicht nur Realität hergestellt, sondern eine konstruiert, die von der zuvor abweicht. Wenn die Rezipientinnen und Rezipienten als ausführende Kraft der Genese einer künstlerischen Produktion tätig sind, ist auch hier eine Veränderung zu erkennen und eine Transformation kann gelingen. Bei künstlerischen Erfahrungen ist der Körper immer mitzudenken, da sich die Bedeutungen, wie schon gezeigt wurde, nicht im Sprachlichen erschöpfen. »Im Prozeß der ästhetischen Erfahrung tritt so besonders plastisch hervor, daß Bedeutung ohne den Körper nicht zu denken und zu haben ist, daß es sich bei Bedeutung in diesem Sinne immer um verkörperte Bedeutung handelt« (Fischer-Lichte 2001: 356). Jon McKenzie warnt davor, dass diese verkörpernden Erfahrungen im Neoliberalismus das sein werden beziehungsweise bereits das sind, was ›Disziplin‹ für das 18. und 19. Jahrhundert war (vgl. McKenzie 2003: 117). Des-
6. Wie wird Kunst? Teil 2
halb ist es umso wichtiger Aufführungen und die damit verbundenen Ausführungen von Handlungen immer kontextuell zu sehen und kritisch zu hinterfragen. Im Kontext sind die Machtstrukturen vorhanden, die Aufschluss darüber geben können, ob das Performative zu einer Befreiung des Körpers oder zu dessen Züchtigung beiträgt. Die bereits angeführte Geschichte aus dem Interview 05 zeigt, wie stark performative Normen Handlungen und den Alltag einer Person einengen können. Erst die Konfrontation mit Alternativen lässt eine Affizierung zu, die zu einer Transformation führt. Diese geschieht nicht von heute auf morgen, auch nicht im Hier und Jetzt des Theaterstücks, sondern im Hier und Jetzt des Moments, der potenziell aufgrund der Kunstrezeption später zu einem politischen Moment wird: der Moment der Aktualisierung. »Consequently, it is the very act of protest, or in current terms, the event of insurrection or negation, i.e. Deterritorialization, that defines the actuality and the limit of the political« (Grossberg 2014: 15). Durch die Aktualisierung verschwindet das Potential des Affekts, der in der Handlung endet. Grossberg warnt jedoch zu Recht davor, einer Dualität zu verfallen, die Deleuze und Guattari in Frage stellen. Die Gegenüberstellung des Aktuellen und Virtuellen suggeriert jedoch zwei Phasen des Affekts, die sich ablösen. Aber weder der politische Moment noch das Potential des Affekts enden hier. Wenn eine Transformation eintritt, geschieht eine Veränderung von einem Zustand des Körpers zu einem anderen. Realität ist ein kontinuierlicher Prozess des Werdens, das zuerst durch die künstlerischen Produktionen ausgelöst, das teilnehmende Publikum affiziert und die Fähigkeit zu affizieren in Gang setzt. Die Bereiche des Virtuellen und Aktuellen sind zwei Modalitäten der Realität, die gleichzeitig existieren (vgl. Hipfl 2018: 12). Es kann demnach nur vermutet werden, dass im Interview 16 die Person, die die Teilnahme einzelner Besucher und Besucherinnen nicht als solche wahrgenommen hat, da sie dachte das sei abgemacht, weniger affiziert wurde. Das bedeutet jedoch nicht, dass kein Potential im Virtuellen vorhanden ist. Nach dem Aufführungsbesuch konnten weniger Beziehungen zum Stück und weniger Affekte erkannt werden. Es ist aber möglich, dass die Rolle des klassischen Theaterpublikums so prägend ist, dass in dieser Erfahrung keine Partizipation außerhalb der Rolle des rezipierenden Publikums möglich war. Letztendlich oszilliert der Affekt zwischen potenzieller Befreiung und potenzieller Beherrschung. »For Deleuze and Guattari, as for Foucault, there can be no actualization of reality without structure, organization and hence, power. You can attack
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or even undo a particular actuality, a particular regime of power, but that same regime may reappear elsewhere, or in another articulation, or some other regime will appear in its place. That is what I might call the endless becoming of the political as the power of becoming.« (Grossberg 2014: 16) Egal, wie gegen die Machtinstanz angekämpft wird, sie wird nie zur Gänze verschwinden, da wir immer in Machtstrukturen existieren. Unterschieden werden muss jedoch Macht und Herrschaft, da beides Unterscheidbares meint. Während Herrschaft die Dominanz über etwas oder jemanden ist, beschreibt Macht ein Geflecht von Beziehungen, in dem verschiedene Subjektpositionen möglich sind. Macht setzt immer freie Subjekte voraus. Im Konzept der Herrschaft, fehlen solche Subjekte zur Gänze (vgl. Nestler 2011: 90). Auch Affekte oder Performativität sind immer in Machtbeziehung zu sehen. Diese Beziehungen erschaffen und formen die künstlerische Genese, die »als Zusammenkunft oder Versammlung von Menschen (Produzenten, Konsumenten, Distributoren, Instandhalter usw.), Artefakten (Kabel, Bildschirmen, Kameras usw.) und Bildern sowie Texten verstanden werden; als eine Versammlung, aus der Affekte, Intentionen und Aktionen emergieren.« (Wieser 2012: 104) Am Beispiel des Künstlers Stelarc zeigt jagodzinski, dass der menschliche Körper in den Künsten auch ein Objekt sein kann. Die künstlerischen Erweiterungen, die uns mit technischen Hilfsmitteln zeigen, wie unser Körper und seine Wahrnehmung erweitert werden können, helfen uns über die Grenze des Bekannten zu schreiten und Neuland zu betreten (vgl. jagodzinski 2012). Die Differenzierung mit dem eigenen Standpunkt lässt Fremdes als verbogene Seite unserer Identität erkennen (vgl. Kristeva 1995: 11). Die Künste zeigen uns Möglichkeiten auf, wobei Ablehnung und Annahme des Rezipierten keine Dualität ist, sondern lediglich eine Spannbreite aufmacht, in der sich die eigenen Handlungen Bewegen können (vgl. Hudelist 2017c: 378). Die Künste umfassen ein soziales und kulturelles Reservoir des Fremden und ermöglichen somit eine Wahrnehmung, die über das eigene Wissen hinausgeht und das utopische Potentiel möglich werden lässt (vgl. Mitterer 2016: 271). Diese Unbestimmtheit ist eine Übergangsphase: ein Dissens und ein Werden. Es ist dieses Zwischenspiel zwischen etwas Neuem und bereits Bekanntem, das uns verunsichert, uns aber weitermachen lässt. Laut Sanders ist damit eine Parallele zu Bildungsprozessen sichtbar:
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»Die Transformation von Deutungsmustern – und nichts anderes ist hier mit Bildung gemeint – geschieht im Durchgang durch ein Moment der Unbestimmtheit, das lang dauern kann. Alte Deutungsmuster reichen nicht mehr hin, neue funktionieren noch nicht.« (Sanders 2015: 98) Durch Unbestimmtheit entsteht ein Dazwischen. Wenn alte Deutungsmuster für Erklärungen nicht mehr ausreichen, verliert man in gewisser Hinsicht die Kontrolle und die eigene Identität wird fragil. Diese Transformation beschreibt Grossberg als »jene Kontrolle, die man erlangt, indem man das Risiko eingeht, Kontrolle zu verlieren, um jene Identität, die man hat, indem man Identitäten ablehnt. […] Anstatt nach Stabilität zu streben, feiert sie die Instabilität« (Grossberg 2000: 48). Dieses Dazwischen-Sein kann auch als ein Bildungsprozess bezeichnet werden, der ein bestimmtes Potential der Transformierung verspricht. Nach Sanders beschreibe dies eine »Unbestimmtheitssemantik«, die im Kontext von Emanzipierung und Bildung der Beginn ist (vgl. Sanders 2001: 172).
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7. Fazit: Bildungsprozesse im Gefüge der Kunst »Anstatt zu beschreiben, was der Mensch sei, gilt es in Aussicht zu stellen, was er aus sich selbst machen kann, und zwar durch eine tägliche Übung, die sich am ehesten durch Ausdrücke wie Spiel oder play bezeichnen lässt: Eine Übung, die Spiel (gioco) und Schauspielkunst (recitazione) zugleich ist.« Paolo Virno 2017: 180
In dieser Arbeit geht es nicht um eine Ist-Beschreibung der Menschen, die an einer künstlerischen Begegnung, teilnehmen, es geht also nicht darum, wie die Personen in einer gewissen Situation reagieren beziehungsweise interagieren, sondern es geht um die dynamischen Relationen sowohl von als auch zwischen Menschen, Artefakten und deren Handlungsmacht. Basierend auf Erfahrungen von Theaterbesuchen wurde diskutiert, welche Momente für sie besonders intensiv waren und wie beziehungsweise wann sie die Erfahrungen aus der Rezeption in andere Momente transformieren oder mitnehmen konnten. Im Mittelpunkt steht die transformative Kraft, die durch die künstlerische Erfahrung ausgelöst wird und in den Beziehungen zu den Menschen, aber auch unmittelbaren Artefakten der Erfahrung liegt. Es überwiegt weder die Produktion noch die Rezeption. Keine dieser Seiten ist per se für die Erfahrung bestimmend. Einzig bestimmend ist der Kontext, der keine bestimmte Seite, aber konkrete Erfahrungsimpulse schneller zugänglich macht als andere. Die relationale Ästhetik entsteht im Hier und Jetzt und passt sich relational den verschiedenen beteiligten Elementen an. Die Qualität des Dissenses prägt das Potential der Aushandlung. Im Vordergrund steht ein offener Dialog, der, ohne ein Ziel im Auge zu haben, das Zusammenspiel zwischen
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den beteiligten Elementen in den Aushandlungsprozessen einschließlich der affektiven und performativen Dimensionen fördert. Es ist zu beachten, dass keine Garantie über die Entstehung eines solchen Dialogs und über das Ergebnis abgegeben werden kann. Grant H. Kester betont den Prozess und, dass der Dialog immer von einem unbestimmbaren Ende gekennzeichnet ist (vgl. 2013: 87). Grossberg schreibt, dass Deleuze und Guattari sich für eine Beschreibung der Prozesse und Transformationen der gegebenen Verhältnisse interessieren. Beide setzten sich für Analysemöglichkeiten ein, die die Welt als eine prozesshafte Konstruktion erkennbar machen, die nicht ausschließlich von Menschenhand beeinflusst wird (vgl. Grossberg 2014: 19). In den vorangegangenen Analysen geht es sowohl um erkennbare Momente der Veränderung, die teilweise erst spät im Nachhinein vollzogen wurden als auch um nicht lokalisierbare Prozesse, die transformative Momente erzeugt haben. Zu Beginn des Buches werden popkulturelle Einflüsse sowie auch Auswirkungen von künstlerischen Prozessen im Alltag thematisiert. Dabei ist stets ein spielerischer Umgang im Dialog mit den unterschiedlichen Medien zu erkennen. In dieser dialogischen Ästhetik wird die sich stetig verändernde Zusammensetzung der Welt eingangs sowohl mit der Verflechtung von Kunst und Alltag als auch mit einem Rückblick in die Diskursgeschichte der Künste nachgezeichnet. Es stellte sich heraus, dass auch auratisch aufgeladene Kunst sehr polysem strukturiert ist und, dass das Publikum eine Vielheit von Bedeutungen und Praktiken im Zusammenhang mit einer solchen Kunst findet. Die Einflüsse und Inspirationen sind wechselseitig gegeben und bilden ein zusammenhängendes Gefüge, in dem unter anderem Orte wie Institutionen oder öffentliche Plätze, Praktiken der Populärkultur oder Kunst sowie materielle Artefakte und Menschen aufzufinden sind. Diesen ästhetischen Erfahrungen gingen wir in den unterschiedlichen, aber doch auch teilweise verwandten Ansätzen von Umberto Eco, Arthur C. Danto, Howard S. Becker, Grant H. Kester und Janet Wolff, etwas genauer bei Raymond Williams, Nicolas Bourriaud, Jacques Rancière, Gilles Deleuze und Félix Guattari nach. Den Ansätzen ist gemeinsam, dass grundsätzlich von einer Dialogizität ausgegangen werden kann, die in unterschiedlichen Bedingungen immer wieder aufs Neue erprobt und experimentiert werden muss. Die empirischen Beispiele sind Beweis für diesen Dialog, der sich je nach Materialität, Publikum, Plätzen, Regie, Institution, Schauspielerinnen und Schauspielern, Situation oder Zugänglichkeit verändert. Die Interviews und Beobachtungen zeugen von der potenziellen transformativen Kraft des Dialo-
7. Fazit: Bildungsprozesse im Gefüge der Kunst
ges. In der Analyse werden machtvolle Strukturen transparent und lassen Erkenntnisse über Interaktion, Partizipation und Teilhabe zu. Die im vorangegangenen Kapitel angesprochene Unbestimmtheitssemantik verweist darauf, dass keine Garantien in Bildungsprozessen ausgesprochen werden können. Die Art und Weise der Entfaltung hängt von vielen Faktoren ab. Die empirischen Beispiele übermitteln einen Eindruck, welche Faktoren das sein können. Wie schon beschrieben, schlügen nach Rancière geplante Bildungsprozesse mit Garantie fehl, da sie einen Weg vorzeichnen, der gegangen werden muss. Unter solchen Umständen kann kein Bildungsprozess entstehen. Deleuze und Guattari folgend sind Prozesse des Lernens nur durch Differenz möglich und müssen daher immer etwas Neues mitbringen. Es ist dieses Neue, das befremdet, jedoch einen Transformationsprozess auslösen kann. Damit kann die durch die Begegnung zweier Menschen ausgelöste Differenz gemeint sein, aber auch die Differenz, die durch einen Dialog zwischen einem Menschen und beispielsweise einem Film ausgelöst wurde. In der empirischen Analyse wurden verschiedene Differenzen transparent gemacht. Die sehr unterschiedlichen Deutungen der künstlerischen Produktionen zeigen, wie Menschen durch Text, Ton, Ort, Aufführung, Inszenierung, Musik, Requisiten, mediale Artefakte, Schauspiel, Bühnenbild und Publikum angeregt werden, selbst vollzogene Interpretationen zu bilden. Das Zitat am Kapitelanfang von Virno unterstreicht die schillersche Bedeutung des Spiels und streicht die Qualität eines spielerischen Zugangs heraus. Das bedeutet, dass die Begegnung mit etwas Neuem oder wertender mit etwas Fremdem niemals als bedrohlich empfunden werden sollte, sondern als Möglichkeit sich selbst besser kennen zu lernen, indem noch nicht bekannte Handlungen und Emotionen erkundet werden. Während ein Produktionsteam vorwiegend die Aneignung des öffentlichen Ortes durch die künstlerische Realisation betont, setzen Menschen aus dem Publikum und Schauspiel andere Schwerpunkte und betonen z.B. eine neue Deutung einer Figur aus dem Stück. Die Typologien der Schlafenden, Gäste und Träumenden loten diese Vielfalt aus. Letztlich sind es nämlich immer wieder sowohl affektive oder performative Allianzen, die kurzfristig geschmiedet werden, um dem diskursiven Gefüge der Kunst entgegnen zu können. In allen Typologien kann gezeigt werden, dass ein Dialog eingegangen wird und je nach Typ auch eine unterschiedliche Qualität im widerständigen Verhalten auftritt. Die einzelnen Typologien sind jedoch nicht mit einem Gefüge gleichzusetzen. Jeder einzelne Prozess ist ein Gefüge. Die unterschiedlichen Qualitäten sind in den Typologien zusammengefasst worden, um eine Übersicht zu ermöglichen. Dieses Verhalten ist in
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unseren Identitäten begründet, die sich durch ihre Widersprüchlichkeit und Dynamik auszeichnen. »Ich ist ein anderer, eine Mannigfaltigkeit von anderen, verkörpert an der Kreuzung der Komponenten von Partialenunziationen, die an allen Rändern über die individuierte Identität und den organisierten Körper hinausgehen« (Guattari 2014: 108). Der Zwischenraum von Befreiung und Beherrschung unterliegt einer kontinuierlichen Überprüfung, die laufend affektiv und performativ bestätigt und widerlegt wird. Dazu hilft uns der spielerisch-kreative Umgang mit unserer Umwelt, der uns verhilft auszuloten, wer und wie wir überhaupt werden können. Um dieses Spiel zu fördern, sind Aufführungsästhetiken notwendig, die das Gegenüber (das Publikum, einzelne Leserinnen oder Zuhörer) ernst nehmen und einladen mitzugestalten. Ob dieser Einladung gefolgt wird oder nicht, kann und soll auch nicht bestimmt werden. »The realities of social existence are constituted by the interactions, contradictions, competitions and synergies of multiple processes (machines) and structures« (Grossberg 2014: 19). Was wir brauchen ist ein von der Kunst gefördertes poetisches Denken. Nach Žižek beschreibt Rancières politisches Denken eine solche magische Poesie: »of how we are to continue to resist« (Žižek 2006: 79; Herv. i. O.). Damit geht eine intensivere Lebensweise einher, die sich auf das Potential des Möglichen einlässt. Es geht dabei nicht um eine Verwirklichung des noch nicht Vorhandenen, also einer Utopie, sondern um die Belebung von dem was da ist, jedoch durch das Gesagte, Gehörte, Gesehene und Gefühlte verdrängt wird. Dahin zielt in gewisser Art Musils »Conjunctivus potentialis« (Musil 1978: 19) ab: eine mögliche Welt zu erfassen, die es so nicht gibt. Der Haken dabei ist, dass es sie auch nie so geben wird, da die Intensivierung der möglichen Welt neue Möglichkeiten offenbart. Die Kunst lässt sich nicht so einfach in das Leben übertragen. Sie löst aber eine Spirale aus, die uns stetig das Mögliche näherbringt, indem sie es von uns gleichzeitig wieder entfernt (vgl. Mitterer 2016: 14). Anders ausgedrückt ist das Mögliche nicht das Gegenteil des Unmöglichen, sondern das Notwendige, das, wenn es realisiert wird, wieder Neues notwendig macht (vgl. Rancière 2014: 206). Dieses Paradoxon beschreibt eine Lebenspraxis des Werdens und den andauernden Prozess. »[E]ine Linie des Werdens hat weder Anfang noch Ende, weder Ausgangspunkt noch Ziel, weder Ursprung noch Bestimmung« (Deleuze/Guattari 1997: 400). Das Werden ist aber eine intensivere Art und Weise sich auf die Umwelt einzulassen. Auch wenn die Resultate nicht vorhergesagt werden können, liegt in der Kunst das Potential ein solches Werden zu fördern und das Leben zu intensivieren (vgl. Massumi 2010: 140). »Das Unvorhersagbare zu
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kennen bedeutet, sich auf seine Gegenwart, eine Gegenwart, in der man lebt, einzustimmen, aber anders, nicht auf empirische, nicht auf systematische, sondern auf poetische Weise« (Glissant 1997: 6). Dabei geht es nicht um ein bloßes Hinterfragen der Ereignisse oder der Inhalte, wie sie uns unter anderem (Massen-)Medien, Populärkultur und Kunst präsentieren. Vielmehr müssen wir Fragen stellen, die Veränderungen implizieren. Dies soll durch den kreativen Akt gelingen, der etwas Neues schöpft und nicht bloß Vorhandenes neu ordnet. Es muss hier vage bleiben, wie so ein kreativer Akt auszusehen hat, denn jeder Vorschlag gibt einen bestimmten Weg vor, der alte Pfade nur austrampelt und festigt aber nicht neue Möglichkeiten in den Vordergrund stellt. Die Voraussetzungen eines kreativen Aktes verändern sich jedes Mal. Demnach kann eine solche kreative Umgangsweise oder die beschriebene poetische Weise nicht wie ein Medikamt verschrieben werden. Jedoch sollen zumindest die empirischen Beispiele in diesem Buch gezeigt haben, dass Transformationsprozesse möglich sind. Sie unterscheiden sich in ihrer Qualität, doch stärken sie die Handlungsmacht. Das Gefüge der Kunst oder der Künste verweist nur auf einen Prozess und potentzielle Möglichkeiten an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Die diskutierten Beispiele sollten jedoch gezeigt haben, wie sehr Kreativität notwendig ist, wenn es um Bildungsprozesse und um eine Erweiterung der Handlungsmacht geht. Die poetische Weise wohnt dem Gefüge der Kunst inne; in den Artefakten, den Beziehungen, den Handlungen, den Kontexten, den Körpern, den Materialien, den Menschen, den Praktiken und den Räumen; in Affekten und Performativitäten; im Hier und Jetzt. Das Gefüge der Kunst erlaubt uns zu erahnen, dass sowohl die unmittelbare als auch vermittelte Realität nicht als Grenze, sondern als Möglichkeit des Überschreitens und Überschreibens zu verstehen ist. Wenn das gelingt, beginnt man wieder von vorne – aber aus einer neuen Position.
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Danksagung »What I like about art is that it is about the real world, which cannot be understood by experiencing this world directly. Art derives from the real experience, but it is different from the real experience, it takes the symbolic form.« Stuart Hall 2008, In: Winter/Azizov
Wie Erfahrungen künstlerischer Begegnungen immer wieder neue Ansichten, Einsichten und Aussichten entstehen lassen können und damit das unmittelbare Umfeld mit einer neuen Perspektive versehen, ist es das menschliche Beziehungsgefüge, das die vorliegende Arbeit ermöglicht. Es sind viele Menschen, die zum Abschluss dieser Arbeit beigetragen haben. Manche haben mich, ohne es zu wissen, neue Gedanken finden lassen, einige haben mich punktuell begleitet, andere waren von Beginn an bis zum Schluss wesentliche Bestärkungs- und Informationsquellen. Mein Dank geht an alle, die mich unterstützt haben. Rainer Winter möchte ich danken, dass er mich schon als Diplomstudent ermutigt und eingeladen hat, an einer internationalen Konferenz teilzunehmen, um meine wissenschaftlichen Erkenntnisse zu diskutieren und anzureichern. Dem folgten inspirierende Gespräche und konstruktive Kritik. Ich möchte auch für die entgegengebrachte Geduld danken, die diese Arbeit durch verschiedene Unterbrechungen erfordert hat. Brigitte Hipfl danke ich für ihre lange Begleitung der Arbeit in verschiedensten Lehrveranstaltungen, aber auch auf Tagungen und Sommerschulen. Der unkomplizierte Umgang, die Empfehlungen und Hinweise auf weitere Möglichkeiten, sich wissenschaftlich zu vertiefen, scheinen in den Gesprä-
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chen und Mails immer so selbstverständlich zu sein; sie sind es aber nicht. Die vorliegende Arbeit wäre ohne diese Hinweise eine völlig andere geworden. Dank gebührt auch meinen Kolleginnen und Kollegen am Institut für Medien und Kommunikationswissenschaft sowie dem Institut für Deutschdidaktik an der Universität Klagenfurt, wo ich meine Arbeit immer wieder diskutiert habe, unter anderem Nicola Mitterer, Hajni Nagy, Elena Pilipets, Sebastian Rauter-Nestler und Werner Wintersteiner. Zudem möchte ich Matthias Wieser danken, der nicht nur einer der angenehmsten Schreibtischnachbarn ist, den man sich vorstellen kann, sondern auch noch in die Arbeit reingelesen und wertvolle Vorschläge eingebracht sowie produktive Einwände vorgebracht hat. Die Arbeit wäre auch nicht möglich gewesen, wenn sich nicht verschiedene Menschen dazu bereit erklärt hätten, Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern zu werden. Die Gespräche mit ihnen haben die Arbeit nicht nur bereichert, sondern ihre Gedanken und Geschichten gehören zum Kern dieser Arbeit. Vielen Dank für das entgegengebrachte Vertrauen und die vielen Gespräche. Hier sei auch der Neuen Bühne Villach für die Unterstützung gedankt. Meiner Familie sowie meinen Freundinnen und Freunden gebührt ebenso großer Dank. Das Interesse an meiner Arbeit ließ mich immer wieder neue Worte und Verknüpfungen im Gefüge finden.
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Zwei Artefakte aus dem ›Museum of Broken Relationships‹:›ex-ace‹ (li.) und ›red wig‹ (re.) © liegt beim Verfasser ............................................................. 27 Abbildung 2: Denkmal der Namen © liegt beim Verfasser ............................................................ 150 Abbildung 3: am Schutzweg wird vom haltenden Auto aus der Aufführung zugesehen © liegt beim Verfasser ............................................................ 166 Abbildung 4: Bühnenbild der Inszenierung ›Der Mentor‹ © liegt beim Verfasser ............................................................ 182
Literaturverzeichnis
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Filmverzeichnis
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Kulturwissenschaft Gabriele Dietze
Sexueller Exzeptionalismus Überlegenheitsnarrative in Migrationsabwehr und Rechtspopulismus 2019, 222 S., kart., Dispersionsbindung, 32 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4708-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4708-6
Gabriele Dietze, Julia Roth (eds.)
Right-Wing Populism and Gender European Perspectives and Beyond April 2020, 286 p., pb., ill. 35,00 € (DE), 978-3-8376-4980-2 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4980-6
Stephan Günzel
Raum Eine kulturwissenschaftliche Einführung März 2020, 192 S., kart. 20,00 € (DE), 978-3-8376-5217-8 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5217-2
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Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan
Postkoloniale Theorie Eine kritische Einführung Februar 2020, 384 S., kart. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5218-5 E-Book: 22,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5218-9
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Elena Beregow, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Annekathrin Kohout, Nicolas Pethes, Miriam Zeh (Hg.)
POP Kultur & Kritik (Jg. 9, 1/2020) April 2020, 180 S., kart. 16,80 € (DE), 978-3-8376-4936-9 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4936-3
Birgit Althans, Kathrin Audehm (Hg.)
Kultur und Bildung – kulturelle Bildung? Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2019 2019, 144 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4463-0 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4463-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de