ILO und EU: Zum Gebot der Berücksichtigung der Normen der Internationalen Arbeitsorganisation bei der Auslegung des Unionsrechts [1 ed.] 9783428583058, 9783428183050

Das Mehrebenensystem in Europa wirft – auch im Arbeitsrecht – bekanntlich schwierige Fragen nach dem Verhältnis der einz

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German Pages 420 Year 2021

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ILO und EU: Zum Gebot der Berücksichtigung der Normen der Internationalen Arbeitsorganisation bei der Auslegung des Unionsrechts [1 ed.]
 9783428583058, 9783428183050

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Abhandlungen zum deutschen und internationalen Arbeits- und Sozialrecht Band 2

ILO und EU Zum Gebot der Berücksichtigung der Normen der Internationalen Arbeitsorganisation bei der Auslegung des Unionsrechts

Von

Hendric Stolzenberg

Duncker & Humblot · Berlin

HENDRIC STOLZENBERG

ILO und EU

Abhandlungen zum deutschen und internationalen Arbeits- und Sozialrecht Band 2

ILO und EU Zum Gebot der Berücksichtigung der Normen der Internationalen Arbeitsorganisation bei der Auslegung des Unionsrechts

Von

Hendric Stolzenberg

Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main hat diese Arbeit im Jahre 2020 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 30 Alle Rechte vorbehalten

© 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 2747-9021 ISBN 978-3-428-18305-0 (Print) ISBN 978-3-428-58305-8 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Dissertation ist während meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an dem Lehrstuhl für Arbeitsrecht und Bürgerliches Recht unter Berücksichtigung der europäischen und internationalen Bezüge des Arbeitsrechts bei Professor Dr. Bernd Waas angefertigt und im Wintersemester 2020/2021 von dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main als Dissertation angenommen worden. Die Disputation fand am 19. November 2020 statt. Die im September 2019 eingereichte Fassung wurde für die Drucklegung überarbeitet und aktualisiert. Rechtsprechung und Literatur sind bis Ende Dezember 2020 berücksichtigt. Nicht berücksichtigt werden konnte daher die Entscheidung des EuGH v. 11. Februar 2021 in den verb. Rs. C-407/19 und C-471/19, auf welche zumindest an dieser Stelle noch ausdrücklich hingewiesen werden soll. Professor Dr. Bernd Waas möchte ich für die Betreuung der Dissertation und dafür danken, dass ich an seinem Lehrstuhl das nationale, europäische und internationale Arbeitsrecht in seiner vollen Bandbreite kennenlernen durfte. Insbesondere danke ich ihm für die Ermöglichung der Teilnahme an einer Vielzahl von Konferenzen, die mir spannende Einblicke in die Arbeitsrechtswissenschaft gaben. Dank gebührt zudem Professor Dr. Manfred Weiss für die äußerst schnelle Erstellung des Zweitgutachtens sowie wertvolle Anmerkungen zu meiner Dissertation. Von Herzen danke ich außerdem Irmela Dölle für ihren unerschütterlichen Beistand während der gesamten Promotionszeit. Besonderer Dank gilt meinen Eltern Kaya und Frank Stolzenberg. Mit großem Interesse begleiteten sie mich auf meinem Weg und bereiteten mir durch ihre bedingungslose Unterstützung eine sorgenfreie Studien- und Promotionszeit. Ihnen beiden ist diese Arbeit gewidmet. Frankfurt am Main, im März 2021

Hendric Stolzenberg

Inhaltsübersicht Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 A. Verbindungsmöglichkeiten für eine Reise nach Genf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 B. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Teil 1 Die Normen der ILO

32

A. Die Hintergründe der Entstehung und Entwicklung der ILO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Weg zur Gründung der ILO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die ersten Jahre als produktive Normsetzungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Erklärung von Philadelphia: Vorreiterrolle der ILO im internationalen Menschenrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Tripartismus in Zeiten des Ost-West-Konflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Antworten auf die Globalisierung: Kernarbeitsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Erweiterte Agenda der ILO: die Centenary-Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32 32 36 37 39 42 47

B. Normsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Normsetzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Beteiligung der EU an der Normsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Beteiligung der europäischen Sozialpartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49 50 54 63

C. Normbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Übereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Erklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65 65 72 73

D. Überwachung der Einhaltung der Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Regelmäßige Kontrolle durch Überprüfung der Staatenberichte . . . . . . . . . . . . . . II. Anlassbezogene Kontrollverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Bewertung des Überwachungssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76 76 94 101

E. Norminterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 I. Interpretationsmethodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 II. Norminterpreten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 F. Fazit zu Teil 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

10

Inhaltsübersicht Teil 2 Kollidierende Vorgaben des ILO- und Unionsrechts

171

A. Laval- und Viking-Line-Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Unvereinbarkeit mit ILO-Normen: Schlussfolgerungen des Sachverständigenausschusses in den Bericht 2010 – 2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Jahrelanges Festhalten der EU an den Laval- und Viking-Line-Entscheidungen . . IV. Bevorstehende Kollission: Die Holship-Entscheidung des EFTA-Gerichtshofs vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

173 173

B. Bewältigung der griechischen Staatsschuldenkrisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die arbeitsrechtlichen Reformen in Griechenland auf Basis der Memoranda of Understanding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Schlussfolgerungen der Ausschüsse, Ergebnisse der High-Level-Mission . . . . . . . III. Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

201

C. Vereinbarkeit der FNV-Kunsten-Entscheidung mit völkerrechtlichen Vorgaben? . . . . I. Die FNV-Kunsten-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Schlussfolgerungen der Überwachungsausschüsse der ILO . . . . . . . . . . . . . . III. Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

210 210 212 213

180 183 189

202 203 209

D. Zwischenfazit und daraus resultierende Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Teil 3 Völkerrechtliche Bindung der EU an ILO-Normen A. Grundlagen: Institutionelle Beziehungen zwischen ILO und EU . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Beobachterstatus der EU und Beziehungen der Kommission zur ILO . . . . . . . . . . II. Beziehungen zu anderen Organen, Institutionen und Stellen der EU . . . . . . . . . . . III. Rolle der ILO bei der Entstehung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft . . .

215 215 216 219 220

B. Kraft Bindung an Völkergewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 C. Kraft Beitritt zur ILO und anschließender Ratifizierung der Übereinkommen . . . . . . 228 I. Erfordernisse einer komplementären Mitgliedschaft auf völkerrechtlicher Ebene . 228 II. Erfordernisse einer komplementären Mitgliedschaft auf EU-Ebene . . . . . . . . . . . 232 D. Kraft Ratifizierung einzelner Übereinkommen ohne Beitritt zur ILO . . . . . . . . . . . . . 237 E. Kraft völkerrechtlicher einseitiger Bindungserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 F. Kraft Funktionsnachfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Voraussetzungen einer Funktionsnachfolge nach der Rechtsprechung des EuGH . II. Völkerrechtliche Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Keine Bindung der Union an die Übereinkommen der ILO kraft Funktionsnachfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

240 240 242 245

G. Fazit zu Teil 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246

Inhaltsübersicht

11

Teil 4 Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

247

A. Transformation der Gewährleistungsinhalte von Übereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . 247 I. SeearbeitsübereinkommensdurchführungsRL 2009/13/EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 II. FischereiarbeitsbedingungenRL 2017/159/EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 B. Keine Bindung, aber befristeter Vorrang von Übereinkommen nach Art. 351 AEUV . I. Kein Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 351 Abs. 1 AEUV in den Van-Wesemael- und Höpfner-und-Elser-Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. „Relative Unwirksamkeit der Übertragung“: Stoeckel-, Levy- und Minne-Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vanitas-Absatz 2: Die Kommission/Österreich-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Regelungslücke für Übereinkommen, die Völkergewohnheitsrecht kodifizieren . V. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Gebot der Berücksichtigung der ILO-Normen im Rahmen der Auslegung der GRCh . I. Anwendungsbereich der Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Berücksichtigung der Normen der ILO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Berücksichtigung der Spruchpraxis der zuständigen Ausschüsse . . . . . . . . . . . . . . IV. Parallele Normen: GRCh – ILO-Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

253 255 256 259 261 262 263 263 271 283 290

D. Gebot der Berücksichtigung der ILO-Normen bei der Bestimmung allgemeiner Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 I. Allgemeine Rechtsgrundsätze als eigene Rechtsquelle des Grundrechtsschutzes neben der GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 II. ILO-Normen als Rechtserkenntnisquelle für allgemeine Grundsätze des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 E. Gebot der Berücksichtigung von ILO-Normen aufgrund von Bezugnahmen in Verordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeines-Präferenzsystem-VO 978/2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. AntidumpingVO 2016/1036 und AntisubventionsVO 2016/1037 . . . . . . . . . . . . . III. Europäische ArbeitsbehördenVO 2019/1149 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Nachhaltige Investitions-Rahmen-VO 2020/852 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

295 296 298 300 301

F. Berücksichtigung wegen Bezugnahmen auf ILO-Normen in Richtlinien . . . . . . . . . . . 302 I. Durch EuGH und Generalanwälte berücksichtigte Bezugnahmen . . . . . . . . . . . . . 303 II. Bislang nicht berücksichtigte Bezugnahmen in Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 G. Fazit zu Teil 4 und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Teil 5 Vom Gebot der Berücksichtigung der Normen der ILO zu ihrer tatsächlichen Berücksichtigung 371 A. Steigerung der Sichtbarkeit der Bezüge der ILO-Normen zum Unionsrecht . . . . . . . . 371 I. Maßnahmen der ILO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 II. Maßnahmen der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374

12

Inhaltsübersicht

B. Sicherstellung der Berücksichtigung der ILO-Normen und Spruchpraxis in Verfahren vor dem EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Konkretisierung der Verfahrensordnung des EuGH: Aufarbeitung der völkerrechtlichen Vorgaben durch den Generalanwalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vorlagefragen mit Verweisen auf Arbeitsvölkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Einholung von Gutachten des Internationalen Arbeitsamts . . . . . . . . . . . . . . . . . .

377 377 378 379

Gesamtfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 A. Verbindungsmöglichkeiten für eine Reise nach Genf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 B. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

Teil 1 Die Normen der ILO

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A. Die Hintergründe der Entstehung und Entwicklung der ILO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 I. Der Weg zur Gründung der ILO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 II. Die ersten Jahre als produktive Normsetzungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 III. Die Erklärung von Philadelphia: Vorreiterrolle der ILO im internationalen Menschenrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 IV. Tripartismus in Zeiten des Ost-West-Konflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 V. Antworten auf die Globalisierung: Kernarbeitsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 VI. Erweiterte Agenda der ILO: die Centenary-Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 B. Normsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 I. Normsetzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 1. Verabschiedung von Übereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 a) Double-discussion procedure als Regelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 b) Single-discussion procedure in besonders dringenden Fällen . . . . . . . . . . . . 54 2. Verabschiedung von Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 II. Beteiligung der EU an der Normsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 1. Anfänglicher Disput über die Rolle der Kommission bei der Normsetzung der ILO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2. EuGH-Gutachten Nr. 2/91 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3. Folge: Gemeinsames Auftreten der EU-Mitgliedstaaten und -Organe . . . . . . . . 57 4. Aktuelle Beispiele der Einflussnahme der EU auf die Normsetzung der ILO 59 5. Zwischenfazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 III. Beteiligung der europäischen Sozialpartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

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Inhaltsverzeichnis

C. Normbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 I. Übereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 1. Inkrafttreten von Übereinkommen, Notwendigkeit und Verfahren der Ratifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2. Rechtsnatur der Übereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 a) Keine „internationalen Gesetze“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 b) Kein internationales Recht sui generis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 c) Einordnung als völkerrechtliche Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 3. Beendigung der Bindung von Übereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 a) Ablösung durch aktuellere Übereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 b) Kündigung eines Übereinkommens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 c) Außerkraftsetzung und Aufhebung von Übereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . 70 4. Zeitgemäße, Interim-Status- und veraltete Übereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . 71 II. Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 III. Erklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 D. Überwachung der Einhaltung der Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 I. Regelmäßige Kontrolle durch Überprüfung der Staatenberichte . . . . . . . . . . . . . . 76 1. Überprüfung durch den Sachverständigenausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 a) Entwicklung des Sachverständigenausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 aa) 1926 – 1939: Einrichtung des Sachverständigenausschusses und erste Erfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 bb) 1944 – 1961: Erweiterung des Mandats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 cc) 1962 – 1989: Stärkung der Beteiligungsrechte der Sozialpartner und Überprüfung der praktischen Umsetzung der Übereinkommen . . . . . . . 81 dd) 1990 – 2012: Anpassung der Methodik an die Neuausrichtung der ILO im Kontext der Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 ee) 2012 bis heute: Überlegungen zur weiteren Verbesserung des Überwachungsmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 b) Die veröffentlichten Berichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 c) Formen der Anmerkungen des Sachverständigenausschusses . . . . . . . . . . . . 87 2. Normenanwendungsausschuss als politisches Follow-up-Verfahren . . . . . . . . . 89 a) Mandat des Normanwendungsausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 b) Formen der Anmerkungen des Normanwendungsausschusses . . . . . . . . . . . 90 aa) Liste der 24 Fälle gravierender Verstöße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 bb) Special paragraphs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 cc) Überlegungen zur Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 c) Kein Rangverhältnis zwischen Sachverständigenausschuss und Normanwendungsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 II. Anlassbezogene Kontrollverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 1. Beschwerdeverfahren nach Art. 24 f. ILO-Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

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2. Klageverfahren nach Art. 26 ff. ILO-Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3. Spezielles Verfahren bei Verstößen gegen die Vereinigungsfreiheit . . . . . . . . . 99 III. Bewertung des Überwachungssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 E. Norminterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 I. Interpretationsmethodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 1. Auslegung anhand der Vorgaben der WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2. Einheitliche Interpretation ohne die Beachtung nationaler Besonderheiten . . . 104 II. Norminterpreten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 1. Internationaler Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 a) Unbestrittene Verbindlichkeit der Auslegung des IGH . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 b) Keine Anrufung des IGH zur Klärung des Gewährleistungsgehalts von Art. 3 Übereinkommen Nr. 87 oder der Reichweite des Mandats des Sachverständigenausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 2. Internes Gericht für Auslegungsstreitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 a) Derzeitige Überlegungen zur Aktivierung von Art. 37 Abs. 2 ILO-Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 b) Einrichtung als ständiges Gericht oder Ad-hoc-Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . 113 c) Einsetzung des ILO-internen Gerichts als Gefahr für die Funktionsfähigkeit des Normüberwachungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 3. Internationale Arbeitskonferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 4. Normanwendungsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 5. Verwaltungsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 6. Internationales Arbeitsamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 7. Sachverständigenausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 a) Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 aa) Enge Mandatierung in den 1930er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 bb) Allgemeine Akzeptanz der Spruchpraxis bis 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 cc) Vorboten des Konflikts im Zeitraum 1989 – 1996 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 dd) Eskalation des Konflikts auf der IAK 2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 ee) Wiederannäherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 ff) Weitestgehende Beilegung des Konflikts durch gemeinsame Erklärung der Sozialpartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 b) Mandat zur Überwachung umfasst Mandat zur Auslegung der Übereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 c) Bindungswirkung der Spruchpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 aa) Keine generelle Verbindlichkeit aufgrund einer institutionell-rechtlichen Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 (1) Eindeutige Zuweisung des Rechts zur verbindlichen Auslegung an den IGH oder ein internes Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 (2) Keine weitergehenden Rechte als die des Verwaltungsrats . . . . . . . . 135

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Inhaltsverzeichnis (3) „Feststehende Übung“ i. S. v. Art. 5 WVK i. V. m. Art. 2 Abs. 1 lit. j) WVK-IO spricht für Unverbindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 (4) Vergleich mit anderen Menschenrechtsausschüssen . . . . . . . . . . . . . 137 bb) Berücksichtigung der Spruchpraxis bei der Auslegung einzelner Übereinkommen als „spätere Übung“, Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVK . . . . . . . . 137 (1) Berücksichtigung einer späteren Übung im Bereich des Menschenrechtsschutzes anerkannt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 (2) Tatbestandsvoraussetzungen der ergänzenden Auslegungsregel des Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 (a) „Bei der Anwendung des Vertrags“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 (b) „Spätere Übung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 (c) Maßgebliche Parteien für die Bestimmung einer „Übereinstimmung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 (d) Bestehen einer „Übereinstimmung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 (aa) Zustimmung als Schweigen in Ausnahmefällen anerkannt 142 (bb) Gegenausnahme: Keine Annahme einer Zustimmung bei Schweigen zu Bemerkungen internationaler Überwachungsausschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 (cc) Folge: Feststellung der Zustimmung allein anhand der Äußerungen der Vertreter der Regierungs-, Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 (dd) Notwendigkeit einer Übereinstimmung über die Beantwortung der konkrete Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 (3) Kein Verstoß gegen Art. 37 ILO-Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 d) Zwischenfazit und Einordnung des Ergebnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 8. Ausschuss für Vereinigungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 a) Sammlung und Abstrahierung der Entscheidungen zu Spruchpraxis in der compilation of decisions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 b) Bindungswirkung der Spruchpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 9. Praktische Bedeutsamkeit der Spruchpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 a) Rezeption durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte . . . . . . 149 aa) Vereinzelte Rezeptionen zwischen 1983 und 2005: Van der Mussele, Sidabras, Wilson, Tüm Haber Sen und weitere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 bb) Evolutiv-völkerrechtsfreundliche Auslegungsmethodik seit Demir und Baykara . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 (1) „Zusammenführung“ bekannter Auslegungsmethodik . . . . . . . . . . . 150 (2) Bindung der Mehrheit der Mitgliedstaaten der EMRK genügt . . . . . 152 (3) Berücksichtigung der Spruchpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 cc) Rezeption der ILO-Normen und Spruchpraxis als ständige Rechtsprechung: Enerji Yapi-Yol Sen, Kiyutin, Palomo Sanchez, Stummer, Graziani-Weiss, Tymoshenko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

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dd) „Selektive“ Anwendung der evolutiv-völkerrechtsfreundlichen Auslegungsmethodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 (1) Keine Auseinandersetzung mit der Spruchpraxis etwa in HLS, K.M.C., Icelandic Association of Academics und Barbulsecu . . . . . 156 (2) Ausdrückliche Abweichung in RMT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 ee) „Abweichung nach oben“ weiterhin möglich: Matelly und Adefdromil 159 ff) Rezeption von Übereinkommen (Béláné Nagy, Chowdury, Acar) und Spruchpraxis (Manole, Ognevenko, S.M.) weiterhin Teil der Auslegungsmethodik des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 gg) Der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit als internationale Untersuchungsinstanz im Sinne von Art. 35 Abs. 2 lit. b) EMRK . . . . . . . . . . . 163 hh) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 b) Rezeption von ILO-Spruchpraxis durch den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 c) Rezeption durch nationale (Verfassungs-)Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 aa) Rezeption der Spruchpraxis durch den kanadischen Obersten Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 bb) Rezeption der Spruchpraxis durch das Südafrikanische Verfassungsgericht am Beispiel der Tarifeinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 F. Fazit zu Teil 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

Teil 2 Kollidierende Vorgaben des ILO- und Unionsrechts

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A. Laval- und Viking-Line-Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 I. Die Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 1. Das Nordische Korporatismus-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 2. Der Laval-Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 3. Der Viking-Line-Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 4. Begründung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 5. Auswirkungen der Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 II. Die Unvereinbarkeit mit ILO-Normen: Schlussfolgerungen des Sachverständigenausschusses in den Bericht 2010 – 2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 1. BALPA-Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 2. Gesetzesänderungen in Schweden (Lex Laval) und Entscheidung des Arbetsdomstolen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 III. Jahrelanges Festhalten der EU an den Laval- und Viking-Line-Entscheidungen 183 1. Bewusstsein der Unvereinbarkeit: Rezeption der ILO-Spruchpraxis in der Begründung des Monti-II-Verordnungsentwurfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 2. Bestätigung der Laval/Viking Line-Linie in der Fonnship-Entscheidung . . . . . 184

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Inhaltsverzeichnis 3. Die Mitteilung „Aviation: Open and connected Europe“ der Europäischen Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 4. Völkerrechtskonformität aufgrund der Reform der EntsendeRL weitesgehend hergestellt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 IV. Bevorstehende Kollission: Die Holship-Entscheidung des EFTA-Gerichtshofs vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 1. Einleitender Exkurs: Übereinkommen Nr. 137 und die Rechtsprechung des EuGH zur Hafenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 2. Der Holship-Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 3. Entscheidung des EFTA-Gerichtshofs und des norwegischen Obersten Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 4. Bisher neutrale Haltung des Sachverständigenausschusses zu potentiellen Verstößen gegen Übereinkommen Nr. 137 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 5. Verfahren vor dem EGMR und Aufeinandertreffen der Viking-Line- und LavalRechtsprechung mit den Demir und Baykara-Grundsätzen . . . . . . . . . . . . . . . . 199

B. Bewältigung der griechischen Staatsschuldenkrisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 I. Die arbeitsrechtlichen Reformen in Griechenland auf Basis der Memoranda of Understanding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 II. Schlussfolgerungen der Ausschüsse, Ergebnisse der High-Level-Mission . . . . . . . 203 1. 2011: Aufnahme in die Liste der gravierendsten Verletzungen durch den Normanwendungsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 2. 2011: Bericht der High-Level-Mission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 3. 2012: Schlussfolgerungen des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit im Verfahren Nr. 2820 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 4. 2012 – 2014: Bericht des Sachverständigenausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 5. 2015 – 2020: Kein Verweis auf Auflagen der Troika trotz neuem Memorandum of Understanding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 III. Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 C. Vereinbarkeit der FNV-Kunsten-Entscheidung mit völkerrechtlichen Vorgaben? . . . . 210 I. Die FNV-Kunsten-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 II. Die Schlussfolgerungen der Überwachungsausschüsse der ILO . . . . . . . . . . . . . . 212 1. Keine Annahme eines Verstoßes durch den Sachverständigenausschuss . . . . . . 212 2. Geteilte Meinungen im Normanwendungsausschuss über das Vorliegen eines Verstoßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 III. Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 D. Zwischenfazit und daraus resultierende Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

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Teil 3 Völkerrechtliche Bindung der EU an ILO-Normen

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A. Grundlagen: Institutionelle Beziehungen zwischen ILO und EU . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 I. Beobachterstatus der EU und Beziehungen der Kommission zur ILO . . . . . . . . . . 216 II. Beziehungen zu anderen Organen, Institutionen und Stellen der EU . . . . . . . . . . . 219 III. Rolle der ILO bei der Entstehung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft . . . 220 1. Französische Forderungen nach Harmonisierung des Arbeits- und Sozialrechts 220 2. Die erste europäische Regionalkonferenz der ILO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 3. Der Ohlin-Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 4. Auswirkungen des Ohlin-Berichts auf den Inhalt des EWG-Vertrags . . . . . . . . 223 B. Kraft Bindung an Völkergewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 C. Kraft Beitritt zur ILO und anschließender Ratifizierung der Übereinkommen . . . . . . 228 I. Erfordernisse einer komplementären Mitgliedschaft auf völkerrechtlicher Ebene 228 1. Problematische Steigerung des Einflusses der EU? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 2. Gefahr der Bindung der EU-Mitgliedstaaten gegen ihren Willen . . . . . . . . . . . 230 3. Notwendigkeit gesteigerter Beteilgung europäischer Sozialpartner . . . . . . . . . . 231 4. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 II. Erfordernisse einer komplementären Mitgliedschaft auf EU-Ebene . . . . . . . . . . . 232 1. Implizite geteilte auswärtige Kompetenz für das Gebiet des Arbeits- und Sozialrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 2. Kein Entgegenstehen des Streitbeilegungs- und Auslegungsmonopols des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 D. Kraft Ratifizierung einzelner Übereinkommen ohne Beitritt zur ILO . . . . . . . . . . . . . 237 E. Kraft völkerrechtlicher einseitiger Bindungserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 F. Kraft Funktionsnachfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 I. Voraussetzungen einer Funktionsnachfolge nach der Rechtsprechung des EuGH 240 II. Völkerrechtliche Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 1. Übertragung der Regeln zur Staatensukzession . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 2. Treu und Glauben (Hypothekentheorie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 3. Funktionsnachfolge als eigener Rechtssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 III. Keine Bindung der Union an die Übereinkommen der ILO kraft Funktionsnachfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 G. Fazit zu Teil 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246

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Inhaltsverzeichnis Teil 4 Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

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A. Transformation der Gewährleistungsinhalte von Übereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . 247 I. SeearbeitsübereinkommensdurchführungsRL 2009/13/EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 1. Übertragung des Inhalts des Seearbeitsübereinkommens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 2. Übernahme der Änderungen der Codes des Seearbeitsübereinkommens . . . . . 251 II. FischereiarbeitsbedingungenRL 2017/159/EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 B. Keine Bindung, aber befristeter Vorrang von Übereinkommen nach Art. 351 AEUV 253 I. Kein Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 351 Abs. 1 AEUV in den Van-Wesemael- und Höpfner-und-Elser-Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 II. „Relative Unwirksamkeit der Übertragung“: Stoeckel-, Levy- und Minne-Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 1. Auseinandersetzung mit Übereinkommen Nr. 89 durch den Generalanwalt und den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 2. Konsistenz der Schlussanträge mit der Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 3. Rechtsfolge: Vorläufiger Vorrang der ILO-Übereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . 258 III. Vanitas-Absatz 2: Die Kommission/Österreich-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . 259 1. Rechtsfolge: Pflicht zur Kündigung eines Übereinkommens bei Unvereinbarkeit mit Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 2. Auflösung der Problematik in der ILO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 3. Befristung des Vorrangs auf höchstens 10 Jahre und 364 Tage . . . . . . . . . . . . . 261 IV. Regelungslücke für Übereinkommen, die Völkergewohnheitsrecht kodifizieren

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V. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 C. Gebot der Berücksichtigung der ILO-Normen im Rahmen der Auslegung der GRCh 263 I. Anwendungsbereich der Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 1. „Keine Erweiterung der Kompetenzen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 2. Verpflichtete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 a) Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 b) Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ 266 aa) Weite Auslegung des Begriffs der Durchführung in Åkerberg Fransson, Alemo-Herron und Asklepios . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 bb) Engere Auslegung des Begriffs in Iida, Siragusa, Hernández und weiteren Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 II. Berücksichtigung der Normen der ILO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 1. Gebot der Berücksichtigung, Art. 53 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 a) Berücksichtigungsgebot als wichtigste Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 b) Inhalt des Berücksichtigungsgebots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274

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c) Berücksichtigungsgebot aus Art. 53 GRCh nur für ILO-Verfassungsprinzipien und gewisse Übereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 aa) Anlehnung an das Mehrheitsprinzip des EGMR nicht überzeugend . . . 276 bb) Abstellen auf Ratifizierung der Übereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 cc) Abstellen auf Beteiligung der Mitgliedstaaten am Abschluss der Übereinkommen und Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 dd) Kombination der Ansätze maßgeblich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 2. Gebot der Berücksichtigung im Rahmen des Befolgungsgebots nach Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 3. Allgemeiner Rechtsgrundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung . . . . . . 281 4. Auslegung der Grundrechtecharta im Lichte der Sekundärrechtsakte und deren Erwägungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 5. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 III. Berücksichtigung der Spruchpraxis der zuständigen Ausschüsse . . . . . . . . . . . . . . 283 1. Die Grant-Entscheidung zur Berücksichtigung von Spruchkörpern internationaler Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 a) Ablehnung der Spruchpraxis des UN-Ausschusses für Menschenrechte zur Auslegung von Art. 28 IPbpR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 b) Folgerung abstrakter Kriterien für Berücksichtigung von Spruchpraxis . . . . 286 c) Weitere Entscheidungen mit Bezügen zu Schlussfolgerungen internationaler Menschenrechtsausschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 2. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 IV. Parallele Normen: GRCh – ILO-Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 D. Gebot der Berücksichtigung der ILO-Normen bei der Bestimmung allgemeiner Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 I. Allgemeine Rechtsgrundsätze als eigene Rechtsquelle des Grundrechtsschutzes neben der GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 II. ILO-Normen als Rechtserkenntnisquelle für allgemeine Grundsätze des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 E. Gebot der Berücksichtigung von ILO-Normen aufgrund von Bezugnahmen in Verordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 I. Allgemeines-Präferenzsystem-VO 978/2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 1. Bezugnahmen der APS-Verordnung auf die acht Kernarbeitsübereinkommen 296 2. Auswirkungen auf die Auslegung der Bezugnahmen in arbeitsrechtlichen Richtlinien und anderen Rechtsakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 II. AntidumpingVO 2016/1036 und AntisubventionsVO 2016/1037 . . . . . . . . . . . . . 298 III. Europäische ArbeitsbehördenVO 2019/1149 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 IV. Nachhaltige Investitions-Rahmen-VO 2020/852 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

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F. Berücksichtigung wegen Bezugnahmen auf ILO-Normen in Richtlinien . . . . . . . . . . . 302 I. Durch EuGH und Generalanwälte berücksichtigte Bezugnahmen . . . . . . . . . . . . . 303 1. Gleichbehandlungs-Rahmen-RL 2000/78/EG und weiterer primär- und sekundärrechtlicher Diskriminierungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 a) Die einschlägigen Übereinkommen und Empfehlungen der ILO . . . . . . . . . 305 aa) Diskriminierung wegen des Geschlechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 bb) Diskriminierungen wegen anderer Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 b) Entscheidungen zur Auslegung von RL 2000/78/EG mit ausdrücklicher Rezeption von ILO-Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 aa) Marschall-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 (1) Rezeption in den Schlussanträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 (2) Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . 307 (3) Keine Rezeption in der Entscheidung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . 309 bb) Egenberger- und I.R.-Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 cc) Rezeption von EuGH-Entscheidungen zur Auslegung der RL 2000/78/ EG durch den Sachverständigenausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 c) Rezeption von ILO-Normen trotz fehlendem Verweises in Art. 157 AEUV, der Arbeitnehmer-Gleichbehandlungs-RL 2006/54/EG und der TeilzeitRL 97/81/EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 aa) Defrenne-I-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 (1) Rezeption in den Schlussanträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 (2) Keine Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses . . . . . . . . . . . 313 (3) Entscheidung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 bb) Sabbatini-Bertoni-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 (1) Rezeption in den Schlussanträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 (2) Keine Rezeption in der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 cc) Defrenne-II-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 (1) Rezeption in den Schlussanträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 (2) Keine Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses möglich . . . . 316 (3) Rezeption in der Entscheidung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 dd) Defrenne-III-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 ee) Macarthys-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 ff) Voß-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 2. ArbeitszeitRL 2003/88/EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 a) Die einschlägigen Übereinkommen und Empfehlungen der ILO . . . . . . . . . 322 b) Die Bezugnahme auf die ILO-Normen in Erwägungsgrund Nr. 6 der Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 aa) Reichweite des Verweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 bb) Auslegung des Verweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324

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c) Bezahlter Jahresurlaubsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 aa) FNV-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 (1) Rezeption in den Schlussanträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 (2) Einschlägige Spruchpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 (3) Keine Rezeption in der Entscheidung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . 326 bb) Schultz-Hoff-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 (1) Die deutschen Gerichte und das Übereinkommen Nr. 132 . . . . . . . . 327 (2) Rezeption in den Schlussanträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 (3) Einschlägige Spruchpraxis zum Zeitpunkt der Entscheidung . . . . . . 329 (4) Rezeption in der Entscheidung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 (5) Exkurs: Rezeption der EuGH-Entscheidung durch den Sachverständigenausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 cc) KHS-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 (1) Rezeption in den Schlussanträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 (2) Keine ergiebige Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses zur achtzehnmonatigen Begrenzung bei Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 (3) Rezeption in der Entscheidung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 (4) Exkurs: Rezeption der EuGH-Entscheidung durch den Sachverständigenausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 dd) Williams-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 (1) Rezeption in den Schlussanträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 (2) Keine ergiebige Spruchpraxis zur Berechnung des Urlaubsentgeltanspruches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 (3) Keine Rezeption in der Entscheidung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . 338 ee) King-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 (1) Rezeption in den Schlussanträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 (2) Keine ergiebige Spruchpraxis zur achtzehnmonatigen Befristung bei fehlender Regelung und Möglichkeit den Urlaub zuvor zu nehmen 339 (3) Rezeption in der Entscheidung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 ff) Dicu-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 (1) Schlussanträge des Generalanwalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 (2) Keine ergiebige Spruchpraxis zum Verfall des Urlaubs bei Elternzeit 341 (3) Rezeption in der Entscheidung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 gg) Bauer- und Shimizu-Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 d) Mindestruhezeiten und wöchentliche Höchstarbeitszeiten – Simap-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 aa) Rezeption in den Schlussanträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 bb) Zum Zeitpunkt der Entscheidung keine ergiebige Spruchpraxis zur Einordnung von Bereitschaftszeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 cc) Keine Rezeption in der Entscheidung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346

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Inhaltsverzeichnis dd) Exkurs: Rezeption der EuGH-Entscheidung durch den Sachverständigenausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 3. Bewertung der bisherigen Rezeptionspraxis des EuGH und der Generalanwälte 349 a) Einordnung der bisherigen Rezeptionspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 b) Konsistenz der Rezeptionspraxis des EuGH mit der Spruchpraxis der ILOAusschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 II. Bislang nicht berücksichtigte Bezugnahmen in Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 1. JugendarbeitsschutzRL 94/33/EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 2. Erneuerbare-Energien-RL 2009/28/EG und Otto-und-Dieselkraftstoffe-Qualitäts-RL 98/70/EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 3. RL 2011/36/EU zur Bekämpfung und Verhütung des Menschenhandels . . . . . 355 4. EU-Offshore-Erdöl-und Erdgasaktivitäten-RL 2013/30/EU . . . . . . . . . . . . . . . . 356 5. Öffentliche-Auftragsvergabe-RL 2014/24/EU, SektorenRL 2014/25/EU und KonzessionsRL 2014/23/EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 a) Konformität der Vergaberichtlinien mit Übereinkommen Nr. 94 . . . . . . . . . 357 b) Kollision der Grundfreiheiten mit Übereinkommen Nr. 94 im Rahmen der Vergabe öffentlicher Aufträge – Rüffert-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 aa) Kollision mit Übereinkommen Nr. 94 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 bb) Spruchpraxis vor der Entscheidung Rüffert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 cc) Spruchpraxis nach der Entscheidung Rüffert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 dd) Weitere Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 6. CSR-Reporting-RL 2014/95/EU zur Änderung der BilanzRL 2013/34/EU . . . 365 a) Inhalt der Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 b) Bezugnahmen auf ILO-Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 c) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 7. Zwischenfazit zu bisher unberücksichtigten Bezugnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . 368

G. Fazit zu Teil 4 und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369

Teil 5 Vom Gebot der Berücksichtigung der Normen der ILO zu ihrer tatsächlichen Berücksichtigung 371 A. Steigerung der Sichtbarkeit der Bezüge der ILO-Normen zum Unionsrecht . . . . . . . . 371 I. Maßnahmen der ILO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 1. Verbesserte Auffindbarkeit der Normen und Spruchpraxis der ILO . . . . . . . . . 372 2. General survey zu den Bezügen inter- und supranationalen Rechts zu den Normen der ILO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 3. Regelmäßige Fortbildung der EuGH-Référendaires auf dem Gebiet des Arbeitsvölkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373

Inhaltsverzeichnis

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II. Maßnahmen der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 1. Zweite offizielle Erläuterungen der GRCh mit Verweisen auf die völkerrechtlichen Rechtserkenntnisquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 2. Bezugnahmen auf ILO-Normen in neuen Sekundärrechtsakten . . . . . . . . . . . . 375 B. Sicherstellung der Berücksichtigung der ILO-Normen und Spruchpraxis in Verfahren vor dem EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 I. Konkretisierung der Verfahrensordnung des EuGH: Aufarbeitung der völkerrechtlichen Vorgaben durch den Generalanwalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 II. Vorlagefragen mit Verweisen auf Arbeitsvölkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 III. Einholung von Gutachten des Internationalen Arbeitsamts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Gesamtfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415

Abkürzungsverzeichnis AMRK BALPA CGT ECOSOC ECSR EFSF EFSM ESC ESM ETUC GO-IAK GRULAC IAA IAGMR IAK IALL ICERD IJCLLIR ILO IOE IPbpR IPwskR ITF ITUC MPEIL RMT SDG SRM SRM-TWG StIGH WKStV WTFU WVK WVK-IO

Amerikanische Menschenrechtskonvention British Airways Pilots’ Association Confédération générale du travail UN-Wirtschafts- und Sozialrat Europäischer Ausschuss für Soziale Rechte Europäische Finanzstabilisierungsfazilität Europäischer Finanzstabilisierungsmechanismus Europäische Sozialcharta Europäischer Stabilitätsmechanismus Europäischer Gewerkschaftsbund Geschäftsordnung der Internationalen Arbeitskonferenz Latin American and Caribbean Group Internationales Arbeitsamt Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte Internationale Arbeitskonferenz Internationale Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz UN-Rassendiskriminierungskonvention International Journal of Comparative Labour Law and Industrial Relations Internationale Arbeitsorganisation International Organisation of Employers Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte International Transport Workers’ Federation International Trade Union Confederation Max Planck Encyclopedia of Public International Law National Union of Rail, Maritime and Transport Workers Sustainable Development Goals Standard Review Mechanism Standard Review Mechanism Tripartite Working Group Ständiger Internationaler Gerichtshof Wiener Konvention zur Staatennachfolge in Verträgen World Federation of Trade Unions Wiener Vertragsrechtskonvention Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge zwischen Staaten und internationalen Organisationen oder zwischen internationalen Organisationen

Einleitung A. Verbindungsmöglichkeiten für eine Reise nach Genf Bei der Planung einer arbeitsrechtlichen Reise nach Genf stehen mehrere Routen zur Auswahl, gleich ob die Fahrt in Brüssel (Rechtsetzung) oder Luxemburg (Rechtsprechung) beginnt. Besonders komfortabel reist es sich auf den völkerrechtlichen Direktverbindungen. Diese sind bislang allerdings nur rudimentär ausgebaut und spielen in der Streckenplanung nach wie vor eine nur eine untergeordnete Rolle. Insbesondere zeichnet sich ein Beitritt der EU zum Verkehrsverbund der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organization, im Folgenden ILO) derzeit nicht ab.1 Wichtiger als die völkerrechtlichen Verbindungen dürften für Pendler des Arbeitsrechts ohnehin die unionsrechtlichen Vorgaben sein. Eine der kürzesten Verbindungen in die völkerrechtlichen Höhen Genfs führt überraschenderweise über das Meer. So wurden zwei Übereinkommen der ILO auf dem Gebiet des Seearbeitsrechts bereits in unionsrechtliche Richtlinien übernommen.2 Doch auch die Verbindungen vom Festland werden stetig ausgebaut. So stellt die Grundrechtecharta-Magistrale, die das gesamte europäische Netz durchzieht (vgl. Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh), eine wichtige Verbindung nach Genf sicher.3 Daneben sind andere Routen, etwa die der Erwägungsgründe von Richtlinien, bekannt und wurden von Luxemburg aus mehrfach genutzt. Sollten Sie von Luxemburg reisen, empfiehlt sich zudem ein Zwischenhalt in Straßburg. Der Streckenabschnitt von Luxemburg nach Straßburg gehört zu den Klassikern des europäischen Schienennetzes, während Straßburg-Genf ab dem 12. November 2008 zu einem Highspeed-Abschnitt ausgebaut wurde. Bekanntermaßen orientiert sich der EuGH bei der Bestimmung des Gewährleistungsinhalts der Unionsgrundrechte an der Rechtsprechung des EGMR. Der EGMR greift wiederum auf die Spruchpraxis internationaler Überwachungsausschüsse zurück.4 Die Verbindungen zwischen Brüssel und Genf sind älter, als man annehmen könnte. Bekanntermaßen wurde das europäische Streckennetz mit den Römischen Verträgen vor 61 Jahren in Betrieb genommen. Bei der Frage, ob dieses Netz auch die arbeitsrechtliche Bestimmungen beinhalten sollte, wurden Experten aus Genf (die 1

Hierzu unter Teil 3 C. Hierzu unter Teil 4 A. 3 Hierzu unter Teil 4 C. 4 Zur Rezeptionspraxis des EGMR in der Demir und Baykara-Entscheidung unter Teil 1 E. II. 9. a). 2

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Einleitung

Ohlin-Kommission) eingebunden. Diese trafen die folgenschwere Annahme, dass die Arbeits- und Lebensbedingungen auch ohne Einbindung in das Streckennetz langfristig von der europäischen Einigung profitieren würden.5 Zwar wurde das Arbeitsrecht nach und nach doch noch in das unionsrechtliche Netz eingebunden. Die damalige Pfadentscheidung bereitet aber bis heute Schwierigkeiten, wie sich etwa im Fall des Fährunglücks der Rosella am 11. Dezember 2007 zeigte. Der EuGH wählte in der Entscheidung über die Umflaggung des Fährschiffs Rosella in der VikingLine-Entscheidung trotz der Kenntnisse der Existenz der Verbindung nach Genf einen folgenschweren anderen Kurs.6 Diesen Ereignissen widmet sich der erste Teil dieser Arbeit. Sucht man nach schnellen Zugverbindungen, sollte man im echten Leben Uhrzeit, Wochentag, Wetter und weitere Rahmenbedingungen berücksichtigen, um das Risiko von Verspätungen und sonstigen Ärgernissen zu verringern. Ebenso sind bei der Bestimmung eines Berücksichtigungsgebots von ILO-Normen im Unionsrecht viele Faktoren zu beachten. Eine sinnvolle Auseinandersetzung mit dem Berücksichtigungsgebot macht einen häufigen Wechsel zwischen rechtlichen, politischen, historischen, aber auch zwischen nationalen, supranationalen, regional-internationalen und universal-internationalen Ebenen notwendig. So weist Alan Bogg im Hinblick auf eine Auseinandersetzung der Beziehung von EU und ILO darauf hin, dass nicht zwei, sondern sechs Beziehungen von Relevanz sind: 1. Das Verhältnis des EuGH zu den Rechtsnormen der ILO sowie den Berichten der Überwachungsausschüsse. 2. Die politischen Beziehungen zwischen den Institutionen der ILO und der EU. 3. Die Beziehungen zwischen den Institutionen der EU und den nationalen politischen und rechtlichen Institutionen, insbesondere wenn nationales Recht der Einhaltung von ILO-Normen dient. 4. Das Verhältnis zwischen den Institutionen und Normen der ILO und den nationalen Rechtsordnungen. 5. Das Verhältnis zwischen den Normen und Institutionen des Europarates und jenen der EU. 6. Das Verhältnis zwischen den Normen und Institutionen des Europarates und jenen der ILO.7 Hinzuzufügen ist, dass für die Bestimmung des Einflusses der Normen der ILO auf das Unionsrecht auch die sich ständig in Bewegung befindlichen Bedingungen innerhalb der ILO berücksichtigt werden müssen. Es genügt daher nicht „Genf“ als Zielort anzugeben. Um zur ILO zu gelangen, ist auch der dortige Nahverkehrsplan unter den Maßgaben zu studieren: 5 6 7

Hierzu unter Teil 3 A. III. Hierzu unter Teil 2 A. Bogg, in Freedland/Prassl, Viking, Laval and Beyond, S. 41, 63.

B. Gang der Untersuchung

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1. Welche Formen von Normen existieren; 2. Welche Bindungen diese erzeugen; 3. Wie Verstöße gegen die Normen festgestellt werden; 4. Wer die Normen auslegen darf; und 5. Wessen Auslegung verbindlicher Charakter zukommt.

B. Gang der Untersuchung Der ILO und ihren Rechtsakten wurden – bedauernswerter Weise – in Deutschland bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Es wird daher im ersten Teil der Arbeit („Die Normen der ILO“) ein umfassender Überblick über die Normen der ILO gegeben, um diese im Anschluss richtig im Unionsrecht einordnen zu können. Dieser Überblick umfasst nach einer kurzen Darstellung der Entstehung und Entwicklung der Organisation vier Abschnitte: Erstens wird das Normsetzungsverfahren der ILO dargestellt. Dabei wird untersucht, ob aufgrund der derzeitig bereits ausgeprägten Beteiligung der Europäischen Kommission an der Normsetzung eine Stärkung der Europäischen Sozialpartner notwendig ist, da die nationalen Sozialpartner bislang nicht über gesicherte Anhörungsrechte im Rahmen der Festlegung der Position der EU in der ILO verfügen. Zweitens wird die Bindungswirkung der verschiedenen Rechtsakte – also der Übereinkommen, Empfehlungen und Erklärungen – untersucht, wobei die Untersuchung der Rechtsnatur der Übereinkommen im Vordergrund steht. Im dritten Abschnitt wird das Normüberwachungssystem der ILO näher beleuchtet. Die Organe, Ausschüsse und sonstigen Gremien der ILO veröffentlichen im Rahmen der Normüberwachung eine Vielzahl unterschiedlicher Berichte. Für das Verständnis der Berichte im Verlauf der sich anschließenden Kapitel ist daher eine breite Darstellung der Arbeit der Ausschüsse geboten. Im Mittelpunkt steht hierbei der Sachverständigenausschuss. Viertens wird untersucht, wie die Normen der ILO ausgelegt werden (sollten) und welche Bindungswirkung die veröffentlichten Berichte inner- und außerhalb der ILO entfalten. Bei der Untersuchung, wessen Stellungnahmen und Berichte welche rechtliche Qualität zukommt, wird mit dem Internationalen Gerichtshof und einem – bislang nicht eingerichteten – internen Gericht begonnen, da die ILO-Verfassung zur Beilegung von Auslegungsstreitigkeiten die Anrufung eines dieser Gerichte vorsieht. In tatsächlicher Hinsicht kommt jedoch den Berichten des Sachverständigenausschuss eine weitaus größere Bedeutung zu, weswegen auch dieser im Mittelpunkt des vierten Abschnitts steht. Es wird zunächst dargestellt, wie das Mandat des Sachverständigenausschusses im Verlauf der Jahre durch die in der ILO vertretenen

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Einleitung

Gruppen wahrgenommen wurde und welche Auswirkungen die sogenannte Verfassungskrise von 2012 auf das Mandat des Ausschusses hatte. Mittels einer Darstellung der – auch für den EuGH beachtlichen – EGMR-Rechtsprechung wird exemplarisch die praktische Bedeutung der Spruchpraxis der Ausschüsse der ILO beleuchtet. Im zweiten Teil der Arbeit („Kollidierende Vorgaben des ILO- und Unionsrechts“) wird sodann aufgezeigt, warum ILO- und EU-Normen in der Vergangenheit kollidierten. Behandelt werden zunächst die Laval- und Viking-Line-Entscheidungen des EuGH. Sodann wird die Problematik anhand der Vorgaben der EU (als Teil der Troika) auf dem Gebiet des Arbeits- und Sozialrechts, welche Griechenland erfüllen musste, um die Auszahlung von Krediten zu erreichen, verdeutlicht. In beiden Fällen wurden Mitgliedstaaten letztlich durch Unionsrecht veranlasst, ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen gegenüber der ILO zu vernachlässigen. Dieser Zustand erscheint schon aus Gesichtspunkten der Rechtsstaatlichkeit als äußerst unbefriedigend. Vor dem Hintergrund dieses Missstandes werden in dieser Arbeit Überlegungen angestellt, wie das Recht der ILO bereits im Unionsrecht besser berücksichtigt werden kann. Hierzu wendet der dritte Teil („Völkerrechtliche Bindung der EU an ILO-Normen“) sich zunächst der Frage zu, ob bereits eine völkerrechtliche Bindung der Union an ILO-Normen besteht bzw. ob eine solche Bindung durch einen Beitritt der EU zur ILO oder der Ratifizierung einzelner Übereinkommen hergestellt werden könnte. Hierbei werden auch die völkerrechtlichen Beziehungen zwischen den beiden Organisationen näher beleuchtet. Der vierte Teil behandelt die unionsrechtliche Ebene. Dieser Teil ist bewusst weit überschrieben („Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILONormen“), da die Werkzeuge, mittels derer eine Bindung oder jedenfalls Berücksichtigung der Normen der ILO im Unionsrecht hergestellt werden kann, sehr unterschiedlich sind. Es lassen sich hier sechs Fallgruppen unterteilen: Erstens sind Normen der ILO im Unionsrecht – auch ohne eine direkte Bindung – beachtlich, da die Union den Gewährleistungsgehalt von Übereinkommen in eigene Rechtsakte transformiert hat. Zweitens kann die EU ihren Mitgliedstaaten keine Vorgaben machen, welche gegen den Gewährleistungsgehalt von ILO-Übereinkommen verstoßen, sofern es sich bei Letzteren um Übereinkünfte im Sinne des Art. 351 AEUV handelt, an die der Mitgliedstaat vor seinem Beitritt zur Union gebunden war. Hierzu existiert eine Vielzahl an Entscheidungen des EuGH, welche in diesem Abschnitt referiert werden. Während in den beiden zuvor genannten Fallgruppen eine Befolgung der Vorgaben des ILO-Rechts – zumindest zeitweise – zwingend ist, stellen die Vorgaben des ILO-Rechts in den vier weiteren Fallgruppen keine Rechtsquelle, sondern lediglich eine „Rechtserkenntnisquelle“ dar. Zentrale Norm ist hierbei der im dritten Abschnitt näher beleuchtete Art. 53 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

B. Gang der Untersuchung

31

Dieser gebietet eine Berücksichtigung der Normen der ILO. Da die Charta über einen spezifischen Anwendungsbereich verfügt, ist dieser zunächst herauszuarbeiten. Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht die Frage, was konkret unter einem solchen „Gebot der Berücksichtigung“ zu verstehen ist. Dieses erwartet vom Normanwender zunächst eine Auseinandersetzung mit den einschlägigen völkerrechtlichen Normen (materielles Berücksichtigungsgebot). Daneben beinhaltet Art. 53 GRCh ein „formelles“ Berücksichtigungsgebot, nach dem die Auseinandersetzung mit den internationalen Normen dokumentiert werden muss und – im Falle einer Abweichung – begründet werden muss, warum das Unionsrecht nicht in Übereinstimmung mit den völkerrechtlichen Übereinkünften ausgelegt werden kann. Neben der Frage, ob die Normen der ILO selbst Berücksichtigung finden müssen, ist zudem von wesentlicher Bedeutung, ob auch die einschlägigen Berichte der Ausschüsse der ILO zur Auslegung ebendieser Normen herangezogen werden müssen. Ein weiteres „Einfallstor“ für die Normen der ILO in das Unionsrecht und damit die vierte Fallgruppe bildet Art. 6 Abs. 3 EUV, der es ermöglicht, Normen der ILO für die Gewinnung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes des Unionsrechts heranzuziehen. Eine fünfte Fallgruppe bilden Verordnungen, welche ausdrückliche Bezüge zu Normen der ILO aufweisen. So finden Normen der ILO nicht nur im Arbeits- und Sozialrecht der Union Berücksichtigung, sondern auch bei der Ausgestaltung der Außenbeziehungen der EU zu Drittstaaten. Eine sechste, neben der Grundrechtecharta zentrale Fallgruppe bilden die Bezugnahmen in zahlreichen Richtlinien. Soweit diese Bezugnahmen in der Rechtsprechung bereits aufgegriffen wurden, wird die Rezeptionspraxis kritisch analysiert. Hierbei werden für jeden Fall einer Rezeption von ILO-Normen durch den EuGH und die Generalanwälte überprüft, aus welchen Gründen eine Rezeption erfolgte und ob die Auslegung der als einschlägig erachteten Norm der ILO mit der Spruchpraxis der ILO-Ausschüsse übereinstimmt. Der die Arbeit abschließende fünfte Teil stellt schließlich Überlegungen an, wie die Normen der ILO – und zwar unter Berücksichtigung ihrer Auslegung durch die zuständigen Überwachungsausschüsse – künftig besser in das Unionsrecht integriert werden können.

Teil 1

Die Normen der ILO Im Jahr 2019 feierte die ILO das 100. Jubiläum ihrer Gründung. Sie ist die älteste noch bestehende internationale Organisation. Ob das Jubiläum zu einer vermehrten Rezeption von Normen der ILO in Deutschland führt, bleibt abzuwarten.1 So ist dem Recht der ILO in Deutschland bislang nie die Aufmerksamkeit zuteilgeworden, die sie in anderen Rechtsordnungen inner- und außerhalb Europas erfährt. Das dürfte insbesondere auf die restriktive Linie des BAG und anderer Gerichte zurückzuführen sein. Diese stellten für eine Reihe von Übereinkommen fest, dass diese keine einklagbaren (self-executing) Rechte beinhalten.2 Im Folgenden soll ein Überblick über die Normen der ILO gegeben werden. Dies schließt eine Darstellung der Normsetzung und Normbindung sowie der Normüberwachung und Norminterpretation mit ein. Das Recht der ILO ist in vielen Aspekten geprägt von weltpolitischen Veränderungen, ohne deren Kenntnis das Verständnis für Besonderheiten dieser internationalen Organisation schwerfällt. Diese sollen zuerst erläutert werden.

A. Die Hintergründe der Entstehung und Entwicklung der ILO I. Der Weg zur Gründung der ILO Die Erkenntnis der Notwendigkeit zwischenstaatlicher Kooperation zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen auf der nationalen Ebene geht auf das 19. Jahr1 Jüngste Erscheinungen lassen zumindest in der Wissenschaft und Ausbildung ein gewisses Umdenken erkennen, vgl. insb. Schlachter/Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht; Schubert/Buschmann, Arbeitsvölkerrecht; eine Ausnahme bildet zudem insbesondere die tarifund arbeitskampfrechtliche Literatur, siehe etwa Löwisch/Rieble, TVG, Grundlagen, Rn. 350 ff.; Lörcher, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 10. 2 BSG v. 9. September 1975 – 7 RAr 5/73, Rn. 62; BAG v. 8. Dezember 1978 – 1 AZR 303/ 77, juris; BAG v. 19. Januar 1982 – 1 AZR 12/81, juris, Rn. 30; BAG v. 7. Dezember 1993 – 9 AZR 683/92, juris, I.5; BAG v. 3. Dezember 1997 – 7 AZR 236/97, juris, Rn. 17 ff.; unmittelbare Anwendbarkeit von Übereinkommen bejaht in: BSG v. 18. Dezember 1969 – 2 RU 162/ 67, juris; BVerwG v. 28. Mai 1991 – 1 C 20/89, juris, I.3; vgl. zur Rezeption von ILO-Übereinkommen auch BSG v. 26. März 1992 – 11 RAr 25/90, NZA 1992, 1050, Rn. 9; BVerfG v. 4. April 1967 – 1 BvR 126/65, NJW 1967, 971, C. III. 3. d; s. a. mit Blick auf „völkerrechtsfreundliche Auslegung“ des GG BVerfG v. 11. Juni 2017 – 1 BvR 1571/15 u. a., NZA 2017, 915, Rn. 209; BAG v. 26. Juni 2018 – 1 ABR 37/16, NZA 2019, 188, Rn. 73; BVerfG v. 5. November 2019 – 1 BvL 7/16, juris, Rn. 151.

A. Die Hintergründe der Entstehung und Entwicklung der ILO

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hundert zurück.3 Die Industrialisierung und ihre Auswirkungen auf den Menschen hatten in Europa zur Erkenntnis geführt, dass zumindest Bereiche wie Kinderarbeit, Arbeitszeiten und Arbeitsschutz staatlich reguliert werden müssten.4 Jedoch befürchteten sowohl Arbeitgeber als auch Regierungen, dass diese Regulierung zu Wettbewerbsnachteilen gegenüber Produzenten aus Staaten führen würde, die über keine oder signifikant niedrigere Standards verfügten.5 Hintergrund bildete die parallel zur Industrialisierung beginnende Frühphase der Globalisierung des Welthandels, die sich unter anderem durch eine Vereinfachung des Transportwesens, Innovationen in der Kommunikationstechnik, ein komplexes und leistungsstarkes internationalen Bankensystem und ein gewisses Maß an Freizügigkeit in Gestalt der Migration nach Nord- und Südamerika und in die Kolonien zeigte.6 Den ersten Versuch einer zwischenstaatlichen Regulierung der Arbeitsbedingungen stellte die Berliner Konferenz von 18907 dar, auf der Resolutionen über Sozialstandards wie beispielsweise die Arbeitsbedingungen in Minen, wöchentliche Ruhezeiten und Reglementierungen der Arbeit von Kindern, Jugendlichen und Frauen verabschiedet wurden.8 Diese Resolutionen waren völkerrechtlich unverbindlich.9 Ein weiterer Schritt hin zur einer internationalen Organisation, in der 3 Sauer, in: Wolfrum, MPEIL, International Labour Organization, Stand: August 2014, Rn. 1. 4 Ibid.; Brinkmann, in: BMAS/BDA/DGB, Weltfriede durch soziale Gerechtigkeit, S. 14 führt als Motive, die Staaten zu nationalen Arbeitsschutzmaßnahmen veranlassten u. a. christlich-humanitäre (Beseitigung unmenschlicher Arbeitsbedingungen), militärische (Erhaltung der Wehrtauglichkeit der Bevölkerung), wirtschaftliche (Erhöhung der Leistungsfähigkeit), politische (Verhütung von Unruhen) sowie kulturelle (Sicherung eines Mindestunterrichts und von Freizeit zur Erholung) Gründe an, vgl. auch Däubler, in: Schlachter/Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht, § 2, Rn. 1 ff.; Servais, International Labour Law, Rn. 6. 5 Sauer, in: Wolfrum, MPEIL, International Labour Organization, Stand: August 2014, Rn. 1; van der Heijden, IOLR 2018, 203, 204; Brinkmann, in: BMAS/BDA/DGB, Weltfriede durch soziale Gerechtigkeit, S. 14 verweist darauf, dass sozialpolitische Maßnahmen die Produktivität steigern und damit auch die Wettbewerbsfähigkeit erhalten und sogar erhöhen können. 6 Krebber, JZ 2008, 53, 55; kritisch zur Beschreibung als „first period of globalization“ Standing, Development and Change 2008, S. 355. 7 „Internationale Konferenz zur Regelung der Arbeit in gewerblichen Anlagen und Bergwerken“ v. 15. bis 29. März 1990 unter Teilnahme von Regierungsvertretern aus 13 europäischen Staaten, vgl. Brinkmann, in: BMAS/BDA/DGB, Weltfriede durch soziale Gerechtigkeit, S. 13 und S. 17 ff. Neben Regierungsvertretern waren vereinzelt auch einzelne Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter unter den Delegierten, s. S. 23. Zu früheren Bemühungen u. a. von Robert Owen, Charles Hindle und Édouard Ducpétiaux: Servais, International Labour Law, Rn. 7 f.; Maul, The International Labour Organization, S. 15 f. 8 Sauer, in: Wolfrum, MPEIL, International Labour Organization, Stand: August 2014, Rn. 1; Wisskirchen, ZfA 2003, 691, 693; Maul, The International Labour Organization, S. 16. 9 Brinkmann, in: BMAS/BDA/DGB, Weltfriede durch soziale Gerechtigkeit, S. 13; Adamy/ Bobke/Lörcher, in: Däubler/Kittner/Lörcher, Internationale Arbeits- und Sozialordnung, S. 177; Weiss, in: FS Richardi, S. 1093, 1095. Die Regierungen wollten zu diesem Zeitpunkt schlicht keine Verpflichtungen eingehen, die sie zur Vorlage konkreter Gesetzesmaßnahmen

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neben Regierungsvertretern auch Vertreter der Sozialpartner Beteiligungsrechte haben,10 war die Gründung der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz (IALL) im Jahr 1901,11 eines privatrechtlichen Vereins liberaler und christlicher Politiker und Arbeitsrechtsexperten, der sich mit der Ausarbeitung internationaler Konventionen befasste.12 Erste durch die (nicht-staatliche) IALL erarbeitete Konventionen wurden 1906 in Bern von Regierungsvertretern aus ganz Europa angenommen und später von einem Großteil der Teilnehmerstaaten ratifiziert.13 Weitere Arbeiten des Vereins mussten jedoch mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs vertagt werden. Die Idee internationaler arbeitsrechtlicher Mindeststandards ging durch den Ersten Weltkrieg aber nicht verloren. Vielmehr wurde sie durch die Besonderheiten der Kriegswirtschaft als auch die politischen Umwälzungen gestärkt. Die Kriegssituation führte etwa in Großbritannien zu einer Berufung von Arbeitnehmervertretern in das Kriegskabinett, wo sie eine reibungslose Organisation der Kriegsindustrie gewährleisten sollten.14 Zu diesem Zweck wurde auch ein Komitee von Regierungs-, Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern etabliert, das nach seinem Vorsitzenden als Whitley Council bekannt ist.15 Einerseits dürfte es für die Regierungen der Kriegsparteien von enormer Wichtigkeit gewesen sein, die Arbeitnehmer in der (Rüstungs-)Industrie von ihren Plänen zu überzeugen und die Kriegswirtschaft effizient zu gestalten (zu diesem Zweck wurden auch der Burgfrieden in Deutschland und die Union sacrée in Frankreich geschlossen).16 Andererseits dürfte den westlichen Alliierten spätestens mit der russischen Oktoberrevolution 1917 daran gelegen

zwingen würden. Alle Teilnehmerstaaten der Berliner Konferenz sind heute Mitgliedstaaten der EU. 10 Auch wenn sich bereits auf der Berliner Konferenz 1890 bereits vereinzelt Arbeitgeberund Arbeitnehmervertreter unter den Delegierten befanden (vgl. Brinkmann, in: BMAS/BDA/ DGB, Weltfriede durch soziale Gerechtigkeit, S. 13, 23), kann dies noch nicht im Sinne einer dreigliedrigen Struktur verstanden werden. 11 Servais, International Labour Law, Rn. 10; Weiss, in: FS Richard, S. 1093, 1095; teilweise mit 1900 angegeben, siehe Krebber, JZ 2008, 53, 56; Maul, The International Labour Organization, S. 17. 12 Sauer, in: Wolfrum, MPEIL, International Labour Organization, Stand: August 2014, Rn. 1; Stübig, Flexibilität und Legitimität in der ILO, S. 99; Schlachter, EuZA 2020, 143, 145. 13 Gitzel, Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 10; Krebber, JZ 2008, 53, 56; Däubler, in: Schlachter/Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht, § 2, Rn. 5. 14 Gitzel, Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 13: in geringerem Umfang wurden die Arbeitnehmer in Frankreich und Deutschland von den Regierungen eingebunden. So wurden in Deutschland Versammlungs-, Vereinigungsfreiheit und ein eingeschränktes Streikrecht gewährt und in Frankreich Albert Thomas, der später zum ersten Generaldirektor der ILO gewählt werden sollte, zum Rüstungsminister ernannt. 15 Gitzel, Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 24; zur Beteiligung der Arbeitnehmer im britischen Kriegskabinett und dem Whitley Council auch: Delevigne, in: Shotwell, The origins of the International Labour Organization, Vol. 1, S. 53. 16 Vgl. auch Maul, The International Labour Organization, S. 42 f.

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gewesen sein, gewerkschaftlich organisierte Arbeiter für sich zu gewinnen und eine Revolution in den eigenen Ländern zu verhindern.17 Doch nicht nur die Regierungen waren an einer internationalen Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Arbeits- und Sozialrechts interessiert. Sowohl aufseiten der Alliierten als auch der Achsenmächte forderten Gewerkschaften die Einrichtung einer internationalen Kommission zur Überwachung der Einhaltung von Arbeitnehmerrechten18 und die Garantierung von Rechten wie etwa die Koalitionsfreiheit, Arbeitsschutzstandards, den Zehn-Stunden-Tag und das Verbot von Kinderarbeit.19 Diese Forderungen fanden auch Gehör. So entschieden sich die Alliierten dazu, in die Friedensverträge auch Regelungen über den internationalen Schutz von Arbeiterund Gewerkschaftsrechten zu treffen sowie eine internationale Organisation zu gründen.20 Sie beauftragten im Rahmen der Pariser Friedenskonferenz eine Kommission mit der Ausarbeitung eines entsprechenden Vorschlags. Bei dessen Erarbeitung fanden insbesondere die amerikanische und die britische Sichtweise Beachtung.21 So spiegelte sich etwa das britische Beteiligungsmodell nun in der tripartistischen Organisationsform der geplanten internationalen Organisation.22 Der Bericht der Kommission wurde weitestgehend in die Endfassung des XIII. Kapitels des Versailler Vertrags übernommen, durch welches die ILO als eigenständige in17 Stübig, Flexibilität und Legitimität in der ILO, S. 93; Servais, International Labour Law, Rn. 12; La Hovary, IOLR 2015, 204, 209; Schlachter, EuZA 2020, 143, 145. 18 Gitzel, Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 14; Sauer, in: Wolfrum, MPEIL, International Labour Organization, Stand: August 2014, Rn. 2; Peruzzo, NJW 1981, 496; Ebert, in: Wolfrum, MPEIL, Labour Law, International, Stand: Januar 2013, Rn. 3; La Hovary, in: Gött, Labour Standards in International Economic Law, S. 37, 40; Maul, The International Labour Organization, S. 21 f. 19 Resolution of the International Labor Conference at Leeds, July 1916, in Shotwell, The origins of the International Labor Organization Vol. 2, S. 23 ff. 20 Zu den Details und den anderen diskutierten Formen der internationalen Absprachen bspw. durch ein internationales Arbeitsparlament: Sauer, in: Wolfrum, MPEIL, International Labour Organization, Stand: August 2014, Rn. 2. 21 Als Grundlage seiner Arbeit diente der Kommission (unter Vorsitz eines Vertreters der American Federation of Labor) ein Entwurf der britischen Regierung, deren Vertreter der Vizepräsident der Kommission war, vgl. Bellace, ILR 2014, 29, 32. Die Gewerkschaften konnten hierbei jedoch nicht alle ihre Forderungen (zumindest nicht in vollem Umfang) durchsetzen. Sie hatten sich eine internationale Organisation erhofft, die ihre sozialen Normen selbst in den Mitgliedstaaten durchsetzen kann. Die Kompromisslösung blieb hierhinter weit zurück, Adamy/Bobke/Lörcher, in: Däubler/Kittner/Lörcher, Internationale Arbeits- und Sozialordnung, S. 178. Auch die Einschränkungen hinsichtlich des Koalitionsrechtes in Art. 427 Versailler Vertrag, der die neun Grundsätze „mit besonderer Dringlichkeit“ aufzählt, blieben hinter den Forderungen der Gewerkschaften zurück. So wurde das Recht des Zusammenschlusses zwar in Art. 427 Nr. 2 des Versailler Vertrages allen Arbeitnehmern und Arbeitgebern gewährt, aber nur „zu allen nicht dem Gesetz zuwiderlaufenden Zwecken“. 22 Gitzel, Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 13 und S. 24 f.; Hidalgo-Weber, in: Kott/ Droux, Globalizing Social Rights, S. 17, 23 ff.; La Hovary, IOLR 2015, 204, 209 weist darauf hin, dass Tripartismus auf der nationalen Ebene ansonsten nur vereinzelt verbreitet war; zu den Details der Verhandlungen Maul, The International Labour Organization, S. 23 ff.

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ternationale Organisation und Unterorganisation des Völkerbunds ins Leben gerufen wurde.23 Neben den realpolitischen Motiven (wie zur Verhinderung einer kommunistischen Revolution mehr Rechte zu gewähren) dürften auch die Eindrücke des Ersten Weltkriegs einen wesentlichen Beweggrund zur Gründung der ILO dargestellt haben. Die Gründung der ILO erfolgte laut Präambel des XIII. Kapitels24 in der Überzeugung, dass Weltfrieden „nur auf dem Boden der sozialen Gerechtigkeit aufgebaut werden kann“. Zudem spielte die Furcht vor „Sozialdumping“, wie sie bereits für die Berliner Konferenz ausschlaggebend gewesen war, weiterhin eine Rolle.25 Hierzu führt die Präambel aus, dass „die Nichteinführung wirklich menschenwürdiger Arbeitsbedingungen durch eine Nation die Bemühungen anderer Nationen um Verbesserung der Arbeitnehmer in ihren Ländern hemme“.

II. Die ersten Jahre als produktive Normsetzungsphase Die im XIII. Kapitel des Versailler Vertrags vorgesehenen Verfahren zur Verabschiedung internationaler Arbeitsstandards wurden von Beginn an rege genutzt. Bereits auf der ersten Tagung der Arbeitskonferenz im Oktober 1919 konnte die ILO sechs Übereinkommen beschließen.26 Insgesamt wurden im Zeitraum von der Gründung der ILO bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ganze 67 Übereinkommen verabschiedet, unter anderem zu Arbeitszeit, Arbeitslosigkeit, Kinderarbeit,27 Mutterschutz, Zwangsarbeit und dem Umgang mit Gefahrstoffen oder Berufskrankheiten.28 In dieser ersten Phase der ILO ist dem Jahr 1934 besondere Wichtigkeit beizumessen. Nachdem bereits im Oktober 1933 das von den Nationalsozialisten beherrschte Deutschland aus der ILO ausgetreten war,29 traten ihr 1934 die USA und die 23 Sauer, in: Wolfrum, MPEIL, International Labour Organization, Stand: August 2014, Rn. 2 f.; Ebert, in: Wolfrum, MPEIL, Labour Law, International, Stand: Januar 2013, Rn. 3; Wisskirchen, ILR 2005, 253, 254. 24 Inhalt von Kapitel XIII des Versailler Vertrags veröffentlicht in IAA, Official Bulletin, Vol. 1, 1923, S. 332; s. a. Waas, AVR 2019, 123, 123 f.; Schlachter, EuZA 2020, 143, 146. 25 Weiss, in: FS Richardi, S. 1093, 1096; s. a. Schlachter, EuZA 2020, 143, 145. 26 Sauer, in: Wolfrum, MPEIL, International Labour Organization, Stand: August 2014, Rn. 4. 27 Siehe zur Entwicklung der Kinderarbeitsübereinkommen und ihre Hintergründe Tapiola, in: Ahlberg/Bruun, New Foundations of Labour Laws, S. 81, 81 f. 28 Pieper, AuR 2016, G5, G7; vgl. auch Däubler, in: Schlachter/Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht, § 2, Rn. 14. 29 Mit Wirkung zum Jahr 1935; Pieper, AuR 2016, G5, G7; Däubler, in: Schlachter/ Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht, § 2, Rn. 15; Erdmann, in: BMAS/BDA/DGB, Weltfriede durch soziale Gerechtigkeit, S. 27, 31 ff. 1951 wurde die BRD in die ILO aufgenommen. Diese erklärte sich bereit, die 17 Übereinkommen, die das Deutsche Reich während seiner

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UdSSR30 bei.31 Hierdurch wurde die ILO für eine weitaus größere Anzahl von Beschäftigungsverhältnissen relevant. Ebenfalls 1934 wurde das XIII. Kapitel aus dem Versailler Vertrag herausgelöst und zu einem unabhängigen völkerrechtlichen Vertrag, der Verfassung der ILO.32 Dieser Vorgang bildete die rechtliche Grundlage für den weiteren Bestand der ILO nach der sich abzeichnenden Auflösung des Völkerbundes.33 Nicht nur die rechtlichen Grundlagen änderten sich in dieser Phase. Auch die Gewichtung der Beweggründe für die Schaffung internationaler Arbeitsnormen verschob sich. Während 1890 auf der Berliner Konferenz, bei den Verhandlungen zum XIII. Kapitel des Versailler Vertrages und den ersten Übereinkommen der ILO die Vermeidung von Wettbewerbsnachteilen im Vordergrund gestanden hatte, trat dieser Gedanke vermehrt gegenüber der Idee eines internationalen „Menschenrechtsschutzes“ zurück. Diese Verschiebung manifestierte sich spätestens mit der Erklärung von Philadelphia.34

III. Die Erklärung von Philadelphia: Vorreiterrolle der ILO im internationalen Menschenrechtsschutz 1944 wurde auf der 26. Internationalen Arbeitskonferenz (IAK) in Philadelphia die „Erklärung über die Ziele und Zwecke der Internationalen Arbeitsorganisation“35 angenommen, in welcher die ILO ihre Grundsätze und Ziele konkretisierte und erweiterte.36 Diese Erklärung von Philadelphia formulierte universelle37 Rechte, die „für alle Völker der Welt volle Geltung haben“.38 Das Mandat der ILO sollte sich nicht nur auf Arbeiter, sondern auf alle Menschen erstrecken.39 Die Erklärung verMitgliedschaft in der ILO ratifiziert hatte, als für sich bindend anzuerkennen, vgl. S. 33. Die DDR erklärte (nach Aufnahme beider deutschen Staaten in die UN) 1974 ihren Beitritt zur ILO. 30 Diese trat 1940 aus der ILO aus, nachdem sie 1939 aus dem Völkerbund ausgeschlossen worden war, und trat erst 1954 wieder ein, vgl. Pieper, AuR 2016, G5, G7 f. 31 Pieper, AuR 2016, G5, G7. 32 Sauer, in: Wolfrum, MPEIL, International Labour Organization, Stand: August 2014, Rn. 3. 33 DBG, „Die ILO und internationale Arbeitsnormen“, abrufbar unter: http://www.dgb.de/ themen/++co++848d2e14-8acb-11e0-5636-00188b4dc422/@@dossier.html. 34 Seifert, FS Pfarr, S. 459, 462; zu früheren vereinzelten grundrechtlichen Garantien (etwa in Art. 1 Übk. Nr. 11) Bellace, ILR 2014, 29, 36 f. 35 15 UNTS 40. 36 Wisskirchen, ILR 2005, 253, 254; Stoll, in: Gött, Labour Standards in International Economic Law, S. 12, 15. 37 Supiot, Der Geist von Philadelphia, S. 9 mit dem Hinweis, dass diese Erklärung universeller Rechte auch der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vorausging. 38 Art. V S. 1 der Erklärung. 39 Ebert, in: Wolfrum, MPEIL, Labour Law, International, Stand: Januar 2013, Rn. 5; van der Heijden, IOLR 2018, 203, 204.

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deutlicht, dass sich die Aufgaben der ILO nicht darauf beschränken, handels- und wirtschaftspolitisch motivierte Schutzstandards zu schaffen und durchzusetzen. Vielmehr ist die ILO dem Schutz und der Verwirklichung der Vereinigungs- und Meinungsfreiheit sowie des Grundsatzes „Arbeit ist keine Ware“ verpflichtet.40 Die menschenrechtliche Justierung des Mandats tritt mit der Erklärung von Philadelphia deutlich neben die wirtschaftspolitische Motivation.41 Diese Entwicklung ist in einem breiteren Kontext zu sehen: Im August 1941 veröffentlichten Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill die „Atlantikcharta“,42 in der sie die gemeinsamen Ziele ihrer Nationen für die Nachkriegsordnung formulierten. Die Ziele 1, 4 und 5 der Atlantikcharta (das „geistige Gründungsdokument“ der Vereinten Nationen)43 waren auch von größter Relevanz für das Mandat der ILO.44 Daher überrascht es kaum, dass bereits im Oktober 1941, also zwei Monate nach Veröffentlichung der Atlantikcharta und drei Jahre vor Verabschiedung der Erklärung von Philadelphia, die IAK beschlossen hatte, die Atlantikcharta nicht nur zu befürworten, sondern unter ihrem Eindruck auch zu handeln.45 Daneben dürfte die konkrete Formulierung der Erklärung von Philadelphia auch eine Entgegnung auf die Gräuel des Zweiten Weltkriegs mit seinen über 60 Millionen Toten darstellen, sowie einen Versuch, in der sich abzeichnenden neuen bipolaren Weltordnung Menschenrechten den ihnen gebührenden Stellenwert zu sichern.46 Seit 1947 ist die Erklärung von Philadelphia Bestandteil der ILO-Verfassung und stellt neben der Präambel eine dieser gleichrangige Zielbestimmung der Organisation dar.47 40 Servais/Van Goethem, ILO, Rn. 34; zur (philosophischen) Einordnung von Arbeitsstandards als Menschenrechte: Novitz/Fenwick in Novitz/Fenwick, Human Rights at Work, S. 1 ff. 41 Seifert, in: FS Pfarr, S. 459, 462; Bryde, AuR 2019, 494, 495; Maul, The International Labour Organization, S. 111 sieht in ihr auch eine Art zweite „Gründung“ der ILO. 42 League of Nations Treaty Series, Vol. CCIV, no. 4817 (1941 – 1943), 384. 43 Pieroth, NJW 1989, 1333, 1334; eine konkrete Aussage über die Schaffung dieser Institution enthielt die Charta jedoch noch nicht. Der Atlantik-Charta schlossen sich nach dem Kriegseintritt der USA mit der zum 1. Januar 1942 abgegeben „Deklaration der Vereinten Nationen“ aber 26 weitere Staaten an. Diese Selbstbezeichnung wurde später zum Namen der Organisation, vgl. Gareis/Varwick, Die Vereinten Nationen, S. 25. 44 Servais/Van Goethem, ILO, Rn. 30; die Ziele 1, 4 und 5 erscheinen im Gegensatz der ILO allerdings eher wirtschaftspolitisch geprägt, vgl. etwa Ziel 5, nach welchem die beiden Staaten in einer Nachkriegsordnung die engste Zusammenarbeit aller Nationen auf wirtschaftlichem Gebiete anstreben, „mit dem Ziel der Herbeiführung besserer Arbeitsbedingungen für alle, von wirtschaftlichem Ausgleich und sozialer Sicherheit“; s. a. Nußberger, Sozialstandards im Völkerrecht, S. 56. 45 IAA, IAK, Außerordentliche Session 1941, Record of Proceedings, Anhang I, S. 163; s. a. Servais/Van Goethem, ILO, Rn. 30. 46 Pieper, AuR 2016, G5, G7; Nußberger, Sozialstandards im Völkerrecht, S. 57. 1946 wurde die ILO schließlich erste UN-Sonderorganisation i. S. v. Art. 63 UN-Charta, also Teil dieser vom institutionalisierten Völkerrecht geprägten neuen Ordnung, Sauer, in: Wolfrum, MPEPIL, International Labour Organization, Stand: August 2014, Rn. 4. 47 Art. 1 Abs. 1 ILO-Verfassung; Sauer, in: Wolfrum, MPEPIL, International Labour Organization, Stand: August 2014, Rn. 4.

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IV. Tripartismus in Zeiten des Ost-West-Konflikts Ebenso wie nach dem Ersten Weltkrieg waren auch die Jahre unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg von einer erstaunlichen Dynamik der Normsetzung geprägt. Zwischen 1946 und 1950 wurden 30 neue Übereinkommen verabschiedet, davon 20 allein 1946 – 1947.48 Auch für diese neuen Übereinkommen zeigt sich, dass die Normsetzung der ILO sowohl von menschenrechtsfreundlichen als auch pragmatischen Motiven geprägt war. Am deutlichsten wird dies an der Erarbeitung und dem Abschluss der Übereinkommens Nr. 87 über die Gewerkschaftsfreiheit und den Schutz der Gewerkschaftsrechte von 1948 und Nr. 98 über das Vereinigungsrecht und das Recht auf Kollektivverhandlungen von 1949.49 Beide zählen bis heute zu den zentralen menschenrechtlichen Übereinkommen der ILO. Ihre Verabschiedung wurde durch die 1946 erfolgte Einsetzung des UN-Wirtschafts- und Sozialrats (ECOSOC) ausgelöst. Die Kompetenzen von ECOSOC und ILO wiesen Überschneidungen auf, ohne dass geklärt war, wie sich die beiden Institutionen zueinander verhielten.50 Diese Unklarheit nutzte 1947 der (kommunistisch dominierte) World Federation of Trade Unions (WTFU),51 um das Mandat der ILO zu untergraben.52 Gegenüber dem Generalsekretär der UN forderte der WTFU, dass ECOSOC auf seiner nächsten Sitzung Maßnahmen zum Schutz von Gewerkschaftsrechten prüfen müsse.53 Zudem leitete der WTFU dem Generalsekretär auch den Entwurf einer Resolution mit entsprechenden Vorschlägen zu.54 Hiergegen wendete sich die American Federation of Labor (die dem WFTU wegen dessen politischer Ausrichtung und seinen Verbindungen nach Moskau nicht beigetreten war)55 mit 48 Pieper, AuR 2016, G5, G7; die Gegenstände der Übereinkommen zeigen ebenfalls eine Verschiebung hin zum Schutz grundlegender Menschenrechte, so insbesondere das Übk. Nr. 87 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechts von 1948, das Übk. Nr. 98 über die Anwendung der Grundsätze des Vereinigungsrechtes und des Rechtes zu Kollektivverhandlungen von 1949 (näheres zur Entstehungsgeschichte von Übk. Nr. 98 und 98 sogleich, das Übk. Nr. 100 über die Gleichheit des Entgelts männlicher und weiblicher Arbeitskräfte für gleichwertige Arbeit von 1951, das Übk. Nr. 105 über die Abschaffung von Zwangsarbeit von 1957 (dieses ergänzte das Übk. Nr. 29 über Zwangs- oder Pflichtarbeit von 1930) und das Übk. Nr. 111 über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf von 1958, siehe Servais/Van Goethem, ILO, Rn. 50. 49 Zum damit verbundenen besonderen Verfahren bei Verstößen gegen die Vereinigungsfreiheit siehe Teil 1 D. II. 3. 50 Bellace, ILR 2014, 29, 40; Gitzel, Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 74 ff.; Maul, The International Labour Organization, S. 136 weist darauf hin, dass bei den Verhandlungen der Alliierten über die Schaffung des ECOSOC die ILO noch nicht einmal erwähnt wurde. 51 Im Überblick zur Geschichte des IGB und des WTFU: Gitzel, Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 72 ff. 52 Schließlich waren sowohl die Gründung 1919 als auch die Neuausrichtung von 1944 durch die Westmächte initiiert worden und daher durch den WTFU abgelehnt worden. 53 „Guarantees for the exercise and development of trade union rights“, vgl. Dunning, ILR 1998, 149, 159. 54 Dunning, ILR 1998, 149, 159; Bellace, CLLPJ 2017, 495, 512. 55 Gitzel, Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 73; Bellace, ILR 2014, 29, 40.

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einem Memorandum, in welchem sie vorschlug, statt einer eigenen Resolution ein entsprechendes Übereinkommen der ILO anzuregen. Mit 15 zu 3 Stimmen entschied sich ECOSOC gegen ein eigenes Verfahren zum Schutz von Gewerkschaftsrechten56 und forderte die ILO dazu auf, einen Bericht darüber anzufertigen, welche Übereinkommen und Mechanismen der ILO zum Schutz der Vereinigungsfreiheit existierten.57 Die ILO verfügte zu diesem Zeitpunkt allerdings weder über ein spezifisches Überwachungsverfahren noch über allgemeine, das heißt nicht-sektoralbeschränkte Übereinkommen zum Schutz der Vereinigungsfreiheit. Beim Zustandekommen von Übereinkommen Nr. 87 zeigt sich erneut die pragmatische Seite der ILO. Die Einigung über seinen Wortlaut kam schnell zustande, was angesichts des Scheiterns aller entsprechenden bisherigen Bemühungen viele Beteiligte überraschte.58 Nicht mehr als vier Monate vergingen zwischen dem Votum im ECOSOC im März 1947 und der Einigung über die Grundlagen zur Vereinigungsfreiheit auf der IAK im Juni 1947, durch welche die Entscheidung über die Annahme von Übereinkommen Nr. 87 bereits auf die Agenda der folgenden IAK gesetzt werden konnte.59 Es folgte die Annahme von Übereinkommen Nr. 98 auf der 32. IAK 1949. Man ging aber noch einen Schritt weiter: Da der Grundsatz der Vereinigungsfreiheit bereits ausdrücklich durch die Präambel der ILO-Verfassung sowie die Erklärung von Philadelphia geschützt wurde, entschied man sich zur Schaffung eines spezifischen Überwachungsverfahrens. Voraussetzung sollte nicht die Ratifizierung der Übereinkommen Nr. 87 oder Nr. 98 sein, sondern allein die Mitgliedschaft in der ILO.60 Der Hintergrund war der, dass die bestehenden Überwachungsverfahren als zu langwierig erachtet wurden, um in akuten „Notfällen“ Rechte von Gewerkschaften wirksam zu schützen61 und man einer entsprechenden Bemäkelung seitens ECOSOC zuvorkommen wollte.62 Die zügige Verabschiedung der Übereinkommen und die Einführung des – tripartistisch besetzten – Ausschusses für Vereinigungsfreiheit wären wohl nicht möglich gewesen, hätten nicht die Sozialpartner und die Vertreter der westlichen Staaten intensiv zusammengearbeitet. Die Arbeitgeberseite gab ihren fast zwei 56

Dunning, ILR 1998, 149, 159. Dunning, ILR 1998, 149, 160; Bellace, ILR 2014, 29, 40; Bellace, CLLPJ 2017, 495, 512. 58 IAA, Verwaltungsrat, 103rd Session December 1947, Minutes, S. 20: „astonished at the speed with which [the ILO] had discussed, drafted and voted on the texts“, hierzu: Bellace, ILR 2014, 29, 41, die in diesem Zusammenhang auch auf die seit 20 Jahren anhaltenden Schwierigkeiten hinweist, sich in der ILO auf die Verfassung ausformende Regelungen zur Vereinigungsfreiheit zu einigen. 59 Bellace, ILR 2014, 29, 40. 60 Nach der Einigung mit ECOSOC war nicht einmal die Mitgliedschaft in der ILO, sondern lediglich in der UN notwendig, hierzu Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 49 f.; zur Übereinstimmung des Begriffs der „Vereinigungsfreiheit“ in der Verfassung mit den Gewährleistungen von Übk. Nr. 87 und Nr. 98 siehe Bellace, AVR 2019, 153, 161 ff. 61 Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 50. 62 Maupain, Journal of International Economic Law 1999, 273, 277. 57

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Jahrzehnte andauernden Widerstand gegen entsprechende Übereinkommen auf, da sie ebenso wie die Gewerkschaften eine Verlagerung der Zuständigkeiten von der ILO auf die ECOSOC ablehnte. Eine solche hätte Einschnitte hinsichtlich der Beteiligungsrechte bei der Ausarbeitung und Überwachung von Übereinkommen zur Folge gehabt: Sowohl in der UN als auch im ECOSOC verfügen die Sozialpartner (bis heute) nicht über so weitreichende Rechte wie in der ILO, die es ihnen sogar ermöglicht, gemeinsam viele Entscheidungen der Organisation zu blockieren. Für die westlichen Gewerkschaften dürfte zudem die permanente Verletzung von Gewerkschaftsrechten in den Staaten des real existierenden Sozialismus bis hin zur Verfolgung, Inhaftierung und Ermordung von Gewerkschaftern einen weiteren Beweggrund dargestellt haben, dem Vorgehen des WTFU zu misstrauen. Die Sicherung des Mandats der ILO zum Schutz der Vereinigungsfreiheit gegenüber ECOSOC mündete in eine (zumindest bis zum Ende des Kalten Krieges bestehende) vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den Sozialpartnern. Der Ost-West-Konflikt hatte jedoch weiterhin großen Einfluss auf die Arbeit der ILO, was vor dem Hintergrund der Position der UdSSR zur ILO wenig verwundert.63 Spätestens mit dem Beitritt der Sowjetunion 1954 wurde in Bezug auf die Vereinigungsfreiheit, aber auch auf andere Normen, befürchtet, dass sich langfristig „Doppelstandards“ herausbilden könnten,64 dass also Mitgliedstaaten, die Übereinkommen und Bemerkungen der Überwachungsausschüsse umsetzen,65 anders behandelt werden würden als Staaten des Ostblocks, in denen die Vereinigungsfreiheit in tatsächlicher Hinsicht nicht durchgesetzt wurde. Wie erwähnt, waren Gewerkschaften in diesen Ländern nicht frei und selbstbestimmt, sondern auf Grundlage der jeweiligen Verfassung zumeist der kommunistischen Partei unterstellt und dienten dieser als Propagandainstrument.66 Ebenso existierten in diesen Ländern grundsätzlich keine (größeren) privaten Unternehmen; ein Arbeitgeberverband war daher im Ergebnis ebenfalls staatlich kontrolliert. Zwar wurden diese Verletzungen der ILO-Verfassung sowie der Übereinkommen von den Überwachungsgremien der ILO kritisiert. Dies führte jedoch nicht zu einer Anwendung der internationalen Normen durch die kritisierten Staaten, sondern lediglich dazu, dass die UdSSR und ihre Satellitenstaaten ihrerseits die Unabhängigkeit der Überwachungsausschüsse 63 Diese wird von Osakwe, The Participation of the Soviet Union in Universal International Organizations, S. 79 wie folgt beschrieben: „Im Namen der friedlichen Koexistenz sah es die Sowjetunion zwischen 1919 und 1934 als einen Verrat der Internationalen Arbeiterbewegung an, Kontakt mit der ILO zu haben. Im Namen der friedlichen Koexistenz hielt es die Sowjetunion zwischen 1934 und 1939 für hinnehmbar, in einen „konstruktiven Dialog“ mit der ILO zu treten. Im Namen der friedlichen Koexistenz begann die Sowjetunion zwischen 1939 und 1953 neue Auseinandersetzungen mit der ILO. Schließlich erachtete die Sowjetunion 1954 die Vollmitgliedschaft in der ILO im Sinne der friedlichen Koexistenz doch nicht als allzu schlecht“; s. a. Jacobson, International Organization 1960, S. 402. 64 Servais, International Labour Law, S. 29. 65 Zu beachten ist, dass die große Mehrheit der (oder möglicherweise sogar alle) Mitgliedstaaten bereits gegen den Inhalt von Übereinkommen verstoßen haben. 66 Servais, International Labour Law, S. 29; Servais/Van Goethem, ILO, Rn. 53.

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und insbesondere des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit in Frage stellten.67 Diese Position wurde sodann von totalitären Ländern geteilt, die etwa aufgrund vergleichbar autoritär ausgestalteter Beziehungen zu Arbeitgebern und Arbeitnehmern ebenfalls durch die ILO-Überwachungsausschüsse kritisiert worden waren.68 Diese Auseinandersetzung hatte eine zunehmende Politisierung der ILO-Organe zur Folge, die neben der Normüberwachung auch die Erarbeitung neuer Übereinkommen erschwerte. Sie fand ihren Höhepunkt mit der Austrittserklärung der USA aus der ILO im Jahr 1975. Die USA begründeten ihren Austritt unter anderem mit der Erosion des Tripartismus, einer selektiven Auseinandersetzung mit Menschenrechten und der Missachtung rechtsstaatlicher Verfahren.69 Die Mitgliedschaft erlosch nach zweijähriger Austrittsfrist im November 1977. Der Austritt hatte erhebliche Auswirkungen auf die Tätigkeiten der ILO, da die USA zuletzt 25 Prozent des damaligen Budgets der ILO gestellt hatten und sich zudem weigerten, bereits zugesagte Mittel auszuschütten.70 Dieser Druck führte zu einer Reihe struktureller Reformen der eingeschüchterten ILO, worauf die USA schon drei Jahre später, 1980, erneut beitraten.71

V. Antworten auf die Globalisierung: Kernarbeitsnormen Hatte der Ost-West-Konflikt die Entwicklung der ILO spätestens ab 1947 geprägt und vielfach für Bündnisse unter den Sozialpartnern zur Unterstützung der ILO gesorgt, wurde mit Ende des Kalten Krieges zusehends deutlich, wie fragil diese Bündnisse waren. So schwand unmittelbar mit dem Fall des Eisernen Vorhangs die Unterstützung der ILO durch viele westliche Arbeitgeberverbände. Diese hatten die 67

Servais/Van Goethem, ILO, Rn. 53, zum Sachverständigenausschuss siehe Teil 1 D. I. 1. cc). 68 Servais/Van Goethem, ILO, Rn. 53. 69 Vorgeworfen wurde, dass die IAK willkürlich einzelne Fälle der Verletzung von Übereinkommen herausgriff, vgl. IAA, Verwaltungsrat, 198th Session November 1975, Doc GB.198/ 22/11; Osieke, Constitutional Law and Practice in the International Labour Organisation, S. 35; kritische Auseinandersetzung mit der Argumentation der USA durch Standing, Development and Change 2008, S. 355, 360 f. Die Politisierung der ILO zeige sich laut USA auch im 1975 verliehenen Beobachterstatus der palästinensischen PLO. Dies dürfte jedoch nur den unmittelbare Auslöser dargestellt haben, vgl. Van Daele, in: Van Daele/Rodriguez Garcia/Van Goethem/van der Linden, ILO Histories, S. 13, 29; siehe zum Austritt der USA im Detail auch Maul, The International Labour Organization, S. 219 ff., insb. 221 f. 70 Osieke, Constitutional Law and Practice in the International Labour Organisation, S. 36 f.; Standing, Development and Change 2008, S. 355, 359; Van Daele, in: Van Daele/ Rodriguez Garcia/Van Goethem/van der Linden, ILO Histories, S. 13, 29. 71 Osieke, Constitutional Law and Practice in the International Labour Organisation, S. 36; Servais/Van Goethem, ILO, Rn. 54; außerst kritisch Standing, Development and Change 2008, S. 355, 361 „[The reforms] allowed the body to become merely a weed of opposition to the supply-side economic revolution that was marking the first phase of the Global Transformation“.

A. Die Hintergründe der Entstehung und Entwicklung der ILO

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Übereinkommen der ILO und insbesondere die Normüberwachungsmechanismen als ein nützliches Instrument bei der Ausübung moralischen Drucks auf die Staaten des real existierenden Sozialismus gesehen sowie dafür, den nationalen Verhandlungspartnern vor Augen zu führen, dass die Situation der Arbeiterklasse in den Staaten des Ostblocks nicht im Entferntesten der gewünschten Utopie gleichkam.72 Mit dem Fall der Berliner Mauer war die Grundlage für die „heilige Allianz“73 mit den westlichen Gewerkschaften entfallen.74 Diese Tendenz zeigte sich auch in der abnehmenden Bereitschaft vieler Regierungen, die jüngeren Übereinkommen zu ratifizieren.75 Die ILO musste daher neue Instrumente schaffen, um eine Beteiligung in der Organisation wieder attraktiver zu machen. Das Ende der bipolaren Weltordnung ist allerdings nur im Rahmen der Diagnose hilfreich, warum die bisherigen Instrumente nicht mehr funktionierten. Es war aber kein Anlass für die Verabschiedung der „Erklärung über grundlegende Rechte bei der Arbeit und ihre Folgemaßnahmen“.76 Während die Gründung der ILO untrennbar mit dem Ersten Weltkrieg und seinen Auswirkungen und die Erklärung von Philadelphia mit dem Zweiten Weltkrieg sowie der sich abzeichnenden Nachkriegsordnung verbunden ist, wurde die „Erklärung über grundlegende Rechte bei der Arbeit und ihre Folgemaßnahmen“ als Antwort auf die Globalisierung formuliert. Sowohl der Inhalt als auch der zeitliche Abstand zur Gründung der WTO am 15. April 199477 deuten darauf hin, dass die ILO mit dieser Erklärung versuchte, nach der Institutionalisierung der Globalisierung des Welthandels ihren bisherigen Bestrebungen neuen Auftrieb zu geben.78 Hierauf deutet auch der siebte Erwägungsgrund der Erklärung hin, nach dem es „angesichts der zunehmenden wirtschaftlichen Verflechtung unbedingt erforderlich [sei], den unveränderlichen Charakter der in der Verfassung der Organisation verankerten grundlegenden Prinzipien und Rechte erneut zu bekräftigen und ihre universelle Anwendung zu fördern“.79 Ähnlich dem Vorgehen zur Gründung des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit, wurde bei der Erklärung über grundlegende Rechte bei der Arbeit und ihre Folgemaßnahmen bestimmt, „dass alle Mitglieder, auch wenn sie die betreffenden 72

Siehe etwa die CFA Fall Nr. 148 (Polen), 1956 und CFA Fall Nr. 111 (UdSSR), 1956, zur Positionierung der westlichen Arbeitgeberverbände und Regierungen während des Kalten Kriegs siehe Novitz/La Hovary, Internatinonal Union Rights 2013, S. 19. 73 Maupain, IOLR 2013, 117, 123. 74 Novitz/La Hovary, International Union Rights 2013, S. 19; Maupain, ILR 2015, S. 103, 105; Maupain, IOLR 2013, 117, 124. 75 Siehe zu weiteren Ursachen Bellace, IJCLLIR 2001, 269, 270. 76 Angenommen durch die IAK auf ihrer 86. Tagung. 77 Agreement Establishing the World Trade Organization, 1915 UNTS 103, Inkraftgetreten am 1. April 1995. 78 Ähnlich IAA, Verwaltungsrat, 338th Session 2020, Doc GB.338/INS/3/1, Rn. 3. 79 Volltext in deutscher Übersetzung abrufbar unter: http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/pu blic/–europe/–ro-geneva/–ilo-berlin/documents/normativeinstrument/wcms_193727.pdf.

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Teil 1: Die Normen der ILO

Übereinkommen nicht ratifiziert haben, allein aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der Organisation verpflichtet sind, die Grundsätze betreffend die grundlegenden Rechte, die Gegenstand dieser Übereinkommen sind, in gutem Glauben und gemäß der Verfassung einzuhalten, zu fördern und zu verwirklichen“80. Bei diesen Grundsätzen handelt es sich um a) die Vereinigungsfreiheit und die effektive Anerkennung des Rechts zu Kollektivverhandlungen; b) die Beseitigung aller Formen von Zwangs- oder Pflichtarbeit; c) die effektive Abschaffung der Kinderarbeit; d) die Beseitigung der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf.81 Die Auswahl der vier Grundsätze als zentrale Gewährleistungen geht auf den damaligen Generaldirektor Hansenne zurück,82 wurde allerdings zuerst außerhalb der ILO aufgegriffen.83 So verpflichteten sich bereits 1995 auf dem UN-Weltgipfel für soziale Entwicklung in Kopenhagen die vertretenen Regierungen, auf nationaler Ebene ebendiese vier der damals in sieben Übereinkommen der ILO konkretisierten Grundsätze zu stärken.84 In der Tat kann nicht bestritten werden, dass diese vier Grundsätze einen zentralen Wert für Beschäftigte weltweit haben. Allerdings irritiert doch, warum andere Grundsätze von ebenfalls erheblicher Relevanz für eine menschenwürdige Ausgestaltung eines Arbeitsverhältnisses nicht aufgenommen wurden.85 So dürfte für viele Arbeitnehmer weltweit etwa die Einhaltung von Arbeitsschutzstandards und damit der Schutz von Leben und Gesundheit einen ebenso hohen Stellenwert haben.86 Die – 80

IAA, IAK, 86th Session 1998, Record of Proceedings, Vol. 2, S. 20. § 2 der Erklärung über grundlegende Rechte und Prinzipien bei der Arbeit und ihre Folgemaßnahmen. 82 Stoll, in: Gött, Labour Standards in International Economic Law, S. 12, 27; Maul, The International Labour Organization, S. 250 f. nennt die Gewerkschaften als ursprünglichen Urheber der Idee von Kernarbeitsnormen. 83 Bellace, IJCLLIR 2001, 269, 271. 84 UN, Report of the World Summit for Social Development v. 19. April 1995, S. 4, Commitment 3 lit. i), A/CONF.166/9; vgl. auch Charnovitz, Max Planck Yearbook of United Nations Law 2000, 147, 151 f.; Tapiola, in: Ahlberg/Bruun, New Foundations of Labour Laws, S. 81, 83; Beke/D’Hollander/Hachez/Pérez de las Heras, The integration of human rights in EU development and trade policies, S. 21, abrufbar unter: http://www.fp7-frame.eu/wp-content/up loads/2016/08/07-Deliverable-9.1.pdf; Ein Verweis auf die Kernarbeitsnormen findet sich (ohne die Konkretisierung auf die vier Prinzipien) ebenfalls in § 4 der WTO-Ministererklärung von Singapur v. 13. Dezember 1996, WT/MIN(96)/DEC; vgl. zur Historie der Erklärung von 1998 auch IAA, IAK, 86th Session 1998, Report VII, Abschnitt I. 85 Überlegungen zur Ausweitung auf Übk. Nr. 102, Nr. 128, Nr. 131, Nr. 158 und Nr. 155 durch Weiss, in: FS Lörcher, S. 21, 25; Darstellung weiterer Kritikpunkte bei Maul, The International Labour Organization, S. 261 ff. 86 Zur Einordnung von Arbeitsschutz als grundlegendes Menschenrecht: Hilgert, CLLPJ 2013, S. 715. 81

A. Die Hintergründe der Entstehung und Entwicklung der ILO

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derzeit zur Diskussion stehende – Aufnahme des Arbeitsschutzes in den Kreis der zentralen Garantien wäre gerade mit Blick auf die Präambel der ILO schon damals durchaus vertretbar gewesen.87 Standing kritisiert insoweit, dass es sich bei den vier in der Erklärung verankerten Kernarbeitsnormen um Abwehrrechte handele, die außerhalb des eigentlichen Sozial- und Arbeitsrechts lägen.88 Die Initiative zur Verbreitung der Kernarbeitsnormen stellt einen wichtigen Erfolg für die ILO dar, der ihr Mandat und ihre Relevanz für die Arbeitsbedingungen weltweit auch im 21. Jahrhundert sicherte. Bislang erfolgten insgesamt 1.384 Ratifizierungen der inzwischen acht Übereinkommen durch die derzeit 187 Mitgliedstaaten, was knapp 92 Prozent aller möglichen Ratifizierungen entspricht. 141 Mitgliedstaaten haben alle die Kernarbeitsnormen konkretisierenden Übereinkommen ratifiziert.89 Hervorzuheben ist hierbei, dass nicht nur die Mitgliedstaaten der EU, sondern nahezu90 sämtliche in Europa gelegenen Länder alle Kernarbeitsnorm-Übereinkommen ratifiziert haben. Allein die Erklärung über grundlegende Rechte bei der Arbeit und die sich anschließende Ratifizierung der acht Kernarbeitsnorm-Übereinkommen durch den Großteil der Mitgliedstaaten der ILO boten allerdings keine abschließende Antwort auf die besonderen Herausforderungen der Globalisierung.91 Während anfangs die Probleme der Globalisierung allein im Zusammenhang mit dem Erstarken multinationaler Konzerne gesehen wurden,92 verschob sich die Debatte mit der Zeit hin zur Frage, wie mit der Globalisierung und ihren Auswirkungen

87 Siehe Abs. 2 der Präambel der ILO-Verfassung: „Eine Verbesserung dieser Bedingungen ist dringend erforderlich, zum Beispiel durch Regelung der Arbeitszeit, einschließlich der Festsetzung einer Höchstdauer des Arbeitstages und der Arbeitswoche, Regelung des Arbeitsmarktes, Verhütung der Arbeitslosigkeit, Gewährleistung eines zur Bestreitung des Lebensunterhaltes angemessenen Lohnes, Schutz der Arbeitnehmer gegen allgemeine und Berufskrankheiten sowie gegen Arbeitsunfälle, Schutz der Kinder, Jugendlichen und Frauen, Vorsorge für Alter und Invalidität, Schutz der Interessen der im Auslande beschäftigten Arbeitnehmer, Anerkennung des Grundsatzes ,gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit‘, Anerkennung des Grundsatzes der Vereinigungsfreiheit, Regelung des beruflichen und technischen Unterrichtes und ähnliche Maßnahmen.“ 88 Standing, Development and Change 2008, 355, 367: Das Verbot der schlimmsten Formen der Kinderarbeit, das Verbot der Zwangsarbeit, der Schutz vor Diskriminierung des Geschlechts sowie die Vereidigung der Vereinigungsfreiheit seien Inhalte des bürgerlichen Rechts und stellen keine progressive Agenda zur Stärkung „positiver Rechte“ des Sozial- und Arbeitsrechts dar; latente Kritik ebenfalls durch Zimmer, in: Schlachter/Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht, § 5, Rn. 60; vgl. auch Schlachter, EuZA 2020, 143, 152. 89 Stand: Dezember 2020. 90 Ausnahme bilden lediglich die Kleinststaaten Andorra und Monaco, die keine Mitglieder der ILO sind. 91 Waas, AVR 2019, 123, 124. 92 Zur Dreigliedrigen Grundsatzerklärung über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik unter Teil 1 C. III.

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Teil 1: Die Normen der ILO

auf die Arbeitswelt als solche umzugehen sei (sog. Decent Work-Agenda)93.94 Aus dieser Debatte ging die am 10. Juni 2008 verabschiedete Erklärung über soziale Gerechtigkeit für eine faire Globalisierung hervor.95 Diese basiert auf dem Grundgedanken, dass es nur mithilfe einer Verknüpfung von Globalisierung und menschenwürdigen Arbeitsbedingungen gelingen kann, Wirtschaftswachstum nachhaltig zu sichern.96 Mit der Erklärung wird das Mandat der ILO an die Gegebenheiten der fortschreitenden Globalisierung angepasst, die „gekennzeichnet [wird] durch die Verbreitung neuer Technologien, den Fluss von Ideen, den Waren- und Dienstleistungsverkehr, die Zunahme von Kapital- und Finanzströmen, die Internationalisierung der Wirtschaft und Wirtschaftsverfahren sowie des Dialogs und des Personenverkehrs, insbesondere arbeitender Frauen und Männer“97. Die Erklärung wiederholt die Werte der ILO sowie ihre vier „übergreifenden strategischen“ Ziele:98 die Förderung von Beschäftigung, Entwicklung und Stärkung von Maßnahmen des sozialen Schutzes, Förderung des sozialen Dialogs und der Dreigliedrigkeit sowie die Achtung, Förderung und Verwirklichung der grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit. Zudem wurden die vier Kernarbeitsnormen um vier sogenannte GovernanceÜbereinkommen (Tripartismus,99 Beschäftigungspolitik100 und Arbeitsaufsicht101) ergänzt. Hintergrund bildet, dass vor der Verabschiedung neuer Standards die tatsächliche Einhaltung der existierenden Übereinkommen unter anderem durch eine funktionierende Arbeitsaufsicht und die Beteiligung der Sozialpartner sichergestellt werden soll.102 Die Erklärung wurde 2010 zudem um einen Abschnitt über ein System regelmäßiger Gespräche ergänzt, das sich an den vier strategischen Zielen orientiert.103 Die Schwierigkeit, die konkreten Auswirkungen der Globalisierung 93 Dieser Begriff geht auf den Bericht und die Antrittsrede des damaligen Generalsekretärs der ILO, Juan Somavia, auf der IAK 1999 zurück, vgl. IAA, IAK, 87th Session 1999, Record of Proceedings, S. 4/7, 4/9; s. a. Stoll, in: Gött, Labour Standards in International Economic Law, S. 12, 28. 94 Servais, International Labour Law, Rn. 202. 95 IAA, IAK, 97th Session 2008, Record of Proceedings, Vol. 2, S. 2; i. E. basiert diese auf der Erklärung von Philadelphia und der Erklärung über grundlegende Rechte, vgl. Servais, International Labour Law, Rn. 211. 96 Stübig, Flexibilität und Legitimität, S. 120. 97 1. Erwägungsgrund der Erklärung über soziale Gerechtigkeit für eine faire Globalisierung. 98 Servais, International Labour Law, Rn. 211; Stübig, Flexibilität und Legitimität, S. 119. 99 Übk. Nr. 144 über dreigliedrige Beratungen zur Förderung der Durchführung internationaler Arbeitsnormen (1976). 100 Übk. Nr. 122 über die Beschäftigungspolitik (1964). 101 Übk. Nr. 81 über die Arbeitsaufsicht in Gewerbe und Handel (1947); Übk. Nr. 129 über die Arbeitsaufsicht in der Landwirtschaft (1969). 102 Stübig, Flexibilität und Legitimität, S. 121. 103 Ibid., S. 119, 121.

A. Die Hintergründe der Entstehung und Entwicklung der ILO

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vorauszuahnen, macht es auch für die ILO notwendig, ihre Normen stetig den aktuellen Gegebenheiten anzupassen. Auch außerhalb der ILO fand die Decent-Work-Agenda Beachtung. Insbesondere wurde sie in einem der 17 Ziele der neue „2030 Agenda für nachhaltige Entwicklung“ (sog. Sustainable Development Goals, SDG) der Vereinten Nationen rezipiert104 und kann so auch als ein Beitrag der ILO zur Erreichung der SDGs verstanden werden. Soweit die anderen SDGs das Mandat der ILO betreffen, berücksichtigt sie diese Ziele der UN bei ihrer Tätigkeit. Hierbei ist beispielsweise an den nachhaltigere und schonenderen Umgang mit der Umwelt zu denken,105 der (auch) mittels eine entsprechende Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen erreicht werden kann.106

VI. Erweiterte Agenda der ILO: die Centenary-Erklärung Neben der Globalisierung und der Notwendigkeit eines verbesserten Umweltund Klimaschutzes zeigt zunehmend eine weitere Entwicklung Auswirkungen auf die Arbeitswelt – und zwar unabhängig davon, ob es sich um die Arbeitswelt in Postindustrie-, Industrie-, Schwellen- oder Entwicklungsländer handelt. Die Rede ist von der Digitalisierung, auf welche die ILO im Rahmen der Future-of-Work-Initiativen Antworten geben möchte.107 Die Centenary-Initiatives mündeten in die auf der 108. IAK 2019 verabschiedeten „Centenary-Erklärung zur Zukunft der Arbeit“, die viele aus früheren Erklärungen bekannte Themen aufgreift, aber auch eigene, neue Schwerpunkte setzt. Die Erklärung gewährleistet, dass allen Menschen ermöglicht werden müsse, an den neuen Chancen einer sich wandelnden Arbeitswelt teilhaben zu können.108 Diese Zielsetzung könne nur durch die „effektive Verwirklichung lebenslangen Lernens und qualitativ hochwertiger Bildung für alle“, einen „universellen, umfassenden und nachhaltigen Sozialschutz“ sowie „aktive Maß104 Ziel 8 „Decent Work and Economic Growth“; IAA, IAK, 105th Session 2016, Report I (B), Report of the Director-General, The End to Poverty Initiative – The ILO and the 2030 Agenda, Rn. 22 ff.; Stoll, in: Gött, Labour Standards in International Economic Law, S. 12, 28; van der Heijden, IOLR 2018, 203, 218; zum Inhalt der Decent Work Agenda Servais, International Labour Law, Rn. 1161 ff.; Hofmann, AVR 2019, 234, 241 ff.; s. a. IAA, IAK, 108th Session 2019, Report III (Part A), Report of the CEACR, General Report, Rn. 42 ff. 105 Hierzu enthält IAA, IAK, 109th Session 2020, Report III (Part B), General Survey, Promoting employment and decent work in a changing landscape, Rn. 139 auch einen Verweis auf das 2014er Programm der Kommission. 106 Hierzu IAA, IAK, 105th Session 2016, Report I (B), Report of the Director-General, The End to Poverty Initiative – The ILO and the 2030 Agenda, Rn. 5 ff.; zur Zusammenarbeit der ILO und EU auf dem Gebiet des Klimaschutzes Pastore/Gausˇas/Styczyn´ska, EU and ILO: Shaping the Future of Work, S. 46 ff.; IAA, Verwaltungsrat, 338th Session 2020, Doc GB.338/ INS/3/1, Rn. 6. 107 Siehe IAA, IAK, 102nd Session 2013, Report I (Part A), Report of the Director-General; IAA, IAK, 104th Session 2015, Report I, Report of the Director-General. 108 Diese Formulierung scheint den capability approach aufzugreifen, der in früheren Erklärungen der ILO bislang keine Rolle gespielt hat.

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Teil 1: Die Normen der ILO

nahmen zur Unterstützung durch den zunehmenden Wandel, dem die Menschen ausgesetzt sein werden“ erreicht werden.109 Die Centenary-Erklärung garantiert zudem Rechte, die für alle Arbeitnehmer (im weiteren Sinne; „workers“), unabhängig von ihrem Beschäftigungsstatus („employment status“) und vertraglichen Vereinbarungen, gälten110 – und die zum Teil in keiner der vorangegangenen Erklärungen Erwähnung finden. Teil III. B. der Erklärung statuiert etwa, dass „alle Arbeitnehmer angemessenen Schutz im Einklang mit der Decent-Work-Agenda genießen“ sollten, wozu ein angemessener Lohn sowie gesunde und sichere Arbeitsbedingungen zählten.111 Zudem seien Politiken und Maßnahmen zur Gewährleistung eines angemessenen Schutzes der Privatsphäre und personenbezogener Daten notwendig. Auch die flexiblere Gestaltung der Arbeitszeiten rückt im Zusammenhang mit der Gewährleistung der Geschlechtergerechtigkeit in den Vordergrund.112 Bei der Umsetzung dieser umfassenden Agenda sieht die ILO ihre eigene Rolle in der Erarbeitung klarer, beständiger sowie zugleich zeitgemäßer und praxistauglicher Standards, die „für alle Beschäftigungsformen den notwendigen Schutz bieten“.113 Zudem müsse die ILO ihre Zusammenarbeit mit anderen internationalen Organisationen „unter Anerkennung“ der komplexen Wechselwirkungen der Handels-, Finanz-, Wirtschafts, Sozial- und Umweltpolitiken ausbauen, um das Ziel einer auf den Menschen ausgerichtet Zukunft der Arbeit zu erreichen. Der ILO selbst komme hierbei eine Führungsrolle zu.114

109 IAA, IAK, 108th Session 2019, Report IV – Centenary Declaration, Teil III. A (i) – (iii); siehe hierzu auch den am 22. Januar 2019 veröffentlichten vorbereitenden Bericht IAA, Globale Kommission zur Zukunft der Arbeit, Für eine bessere Zukunft arbeiten, S. 25 ff. zur Stärkung der Fähigkeitden der Menschen. Zum Sozialschutz gehöre „ein sozialer Basisschutz […], der allen Bedürftigen eine Grundsicherung bietet und durch beitragspflichtige Sozialversicherungssysteme ergänzt wird, die umfassenderen Schutz gewähren.“, vgl. S. 37. Konkretisierend zur „menschenwürdigen und nachhaltiven Arbeit“ S. 53 ff. 110 Zur Zusammenarbeit der ILO und EU bei der Bekämpfung von Scheinselbstständigkeit Pastore/Gausˇas/Styczyn´ska, EU and ILO: Shaping the Future of Work, S. 57 ff.; zur crowd- und gig-economy S. 66. 111 Zur Resolution über die Erarbeitung von Überlegungen zur Aufnahme des Rechts auf gesunde und sichere Arbeitsbedingungen und die Beteiligung der EU hierbei, siehe unter Teil 2 B. II. 2. 112 IAA, IAK, 108th Session 2019, Report IV – Centenary Declaration, Teil II. B. (vii), vgl. auch Teil III. B (i) – (vi); s. a. IAA, Globale Kommission zur Zukunft der Arbeit, Für eine bessere Zukunft arbeiten, S. 40 ff. Zu den in früheren Erklärungen erwähnten Rechten zählen die Achtung der Grundrechte und die Begrenzung der Höchstarbeitszeiten. 113 IAA, IAK, 108th Session 2019, Report IV – Centenary Declaration, Teil IV. A.; hierzu IAA, Globale Kommission zur Zukunft der Arbeit, Für eine bessere Zukunft arbeiten, S. 61. 114 IAA, IAK, 108th Session 2019, Report IV – Centenary Declaration, Teil IV. E.; hierzu auch IAA, Globale Kommission zur Zukunft der Arbeit, Für eine bessere Zukunft arbeiten, S. 63 f.; erste detailreichere Überlegungen zur Verbesserung der Zusammenarbeit finden sich in IAA, Verwaltungsrat, 338th Session 2020, Doc GB.338/INS/3/1, Rn. 29 ff.

B. Normsetzung

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In einer die Erklärung begleitenden Resolution ist zudem vorgesehen, dass der Verwaltungsrat unverzüglich Maßnahmen zur Aufnahme des Arbeitsschutzes in den Rang der Kernarbeitsnormen eruieren soll.115 Hintergrund des Auftrags an den Verwaltungsrat bildet das Begehren der Arbeitnehmerseite bereits in der CentenaryErklärung den Grundsatz gesunder und sicherer Arbeitsbedingungen zur Kernarbeitsnormen zu erklären, für welches sich trotz Unterstützung mehrerer Staatengruppen, hierunter auch der EU-Gruppe, keine ausreichende Mehrheit fand.116 Der Auftrag an die Erarbeitung von Möglichkeiten stellt insofern einen Kompromiss dar. Es wird sich zeigen, ob und wie die ILO ihren selbstgesteckten neuen Zielen gerecht werden wird.117 Ein wichtiger erster Schritt zur Umsetzung der CentenaryErklärung wäre, dass die ILO zu Fragen des „angemessenen Lohns“, zur Weiterbildung von Beschäftigten (life-long-learning), zur Einführung flexiblerer Arbeitsmodelle als auch zum Datenschutz normsetzend tätig würde, das heißt verbindliche Übereinkommen zu diesen Themen verabschiedet. Nur ein verbindlicher, internationalen Rechtsrahmen ermöglicht es den Mitgliedstaaten der ILO, die bevorstehenden Umwälzung der Arbeitswelt in einer „auf den Menschen ausgerichteten“ Weise (Teil II. A. der Erklärung: a „human-centred approach to the future of work“) zu gestalten, ohne befürchten zu müssen, gegenüber anderen Ländern Wettbewerbsnachteile zu erleiden.118

B. Normsetzung Die ILO hat im Laufe ihres Bestehens ihre Tätigkeiten erheblich ausgeweitet. So stellt inzwischen etwa die technische Zusammenarbeit, also die Unterstützung der Mitgliedstaaten beim Aufbau eines funktionierenden Arbeitsrechts und seiner Durchsetzung, ein wichtiges Aufgabenfeld dar. Nach wie vor ist aber auch die Verabschiedung internationaler Mindestnormen eine zentrale Aufgabe der ILO. Das Verfahren zur Erarbeitung und Verabschiedung der Standards ist seit Gründung der ILO im Wesentlichen unverändert geblieben, insbesondere ist es den Mitgliedstaaten nur mit Stimmen von Arbeitgeber- oder Arbeitnehmervertreten möglich, Normen zu verabschieden. Vor dem Hintergrund der arbeitsrechtlichen Kompetenzen der EU, auf deren Grundlage die Rechtsordnungen ihrer Mitgliedstaaten teilharmonisiert wurden, ist es interessant zu sehen, dass die EU als Organisation, die im europäischen 115

Näheres hierzu unter Teil 1 B. II. 4. Ibid. Vgl. auch Europäische Kommission/IAA, Conclusions of the 15th High Level Meeting between the International Labour Office and the European Commission, abrufbar unter: https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/–europe/–ro-geneva/–ilo-brussels/documents/ meetingdocument/wcms_757939.pdf, S. 5. 117 Zur Rolle der ILO während der Covid 19-Pandemie siehe Selberg, Italian Labour Law eJournal 2020, abrufbar unter: https://doi.org/10.6092/issn.1561-8048/11202. 118 Zu Überschneidungen mit den Politiken der EU Pastore/Gausˇas/Styczyn´ska, EU and ILO: Shaping the Future of Work, S. 79 ff. 116

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Teil 1: Die Normen der ILO

Raum ein wichtiges Forum bei der Teilharmonisierung des Arbeitsrechts darstellt, bei der universalen Teilharmonisierung durch Normen der ILO ebenfalls über Beteiligungsrechte verfügt. Aufgrund der fehlenden Mitgliedschaft der EU in der ILO verfügt die Union zwar über kein Stimmrecht. Über die starke Einbindung der Europäischen Kommission bei der Normsetzung ist ihr Einfluss aber nicht zu unterschätzen (hierzu Teil 1 B. II. 4.). Eine ebenso starke Beteiligung der europäischen Zusammenschlüsse der nationalen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände dürfte insbesondere von den nationalen Sozialpartnern nicht gewünscht sein, da eine Koordination ihrer Interessen bereits durch die internationalen Zusammenschlüsse gesichert ist und die Beteiligung regionaler Verbünde bislang nicht institutionalisiert werden muss (hierzu Teil 1 B. III.).

I. Normsetzungsverfahren Die ILO kann sowohl rechtlich verbindliche als auch rechtlich unverbindliche Normen verabschieden. Die Verfahren zur Verabschiedung der Übereinkommen und Empfehlungen sind in der Verfassung geregelt. Konkretisierende Ergänzungen finden sich in der Geschäftsordnung der IAK (im Folgenden „GO-IAK“), der Geschäftsordnung des Verwaltungsrates sowie im Übereinkommen zwischen der UN und der ILO von 1946.119 1. Verabschiedung von Übereinkommen Die wichtigsten Normen der ILO sind die Übereinkommen. Sie begründen rechtliche Verpflichtungen.120 Derzeit hat die ILO 190 Übereinkommen verabschiedet, die nahezu sämtliche Bereiche des Individual- und Kollektivarbeitsrechts behandeln. Manche Übereinkommen, wie etwa Übereinkommen Nr. 87 über die Vereinigungsfreiheit oder Übereinkommen Nr. 111 über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf, sind auf den Schutz grundlegender Menschenrechte gerichtet, während andere Übereinkommen, etwa aus dem Bereich des Arbeitsschutzes, konkrete Regeln (etwa zum Umgang mit Benzol) enthalten.121 Einige Übereinkommen beinhalten trotz ihrer rechtlichen Verbindlichkeit keine konkreten Vorgaben, sondern sind als sogenannte promotional conventions auf die Herbeiführung bestimmter Politiken mittels Leitlinien gerichtet.122 Zu beachten ist zudem, dass von den 190 Übereinkommen derzeit nur 129 zur Ratifizierung freigegeben 119

Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 26. Hierzu unter Teil 1 C. I. 1. 121 Siehe Übk. Nr. 136 über den Schutz vor den durch Benzol verursachten Vergiftungsgefahren; Stübig, Flexibilität und Legitimität in der ILO, S. 105 nennt als Beispiel Spezifikationen für Ausweisdokumente als Gegenstand von Übereinkommen. 122 Stübig, Flexibilität und Legitimität in der ILO, S. 105, 113. 120

B. Normsetzung

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sind, da die übrigen Übereinkommen entweder von aktuelleren Übereinkommen abgelöst oder aus anderen Gründen als nicht mehr zeitgemäß erachtet werden. a) Double-discussion procedure als Regelfall Das Verfahren zur Verabschiedung der Übereinkommen unterscheidet sich deutlich vom Normsetzungsprozess in anderen internationalen Organisationen. Die Verabschiedung von Übereinkommen erfolgt in der Regel in einem zweistufigen Verfahren. Insgesamt benötigt die Verabschiedung eines Übereinkommens von den Beratungen im Verwaltungsrat bis zur abschließenden Entscheidung der IAK im zweistufigen Verfahren regelmäßig vier Jahre.123 Zunächst beschließt der tripartistisch besetzte Verwaltungsrat,124 die Prüfung einer bestimmten Frage auf die Tagesordnung einer künftigen IAK zu setzen.125 Auf Grundlage des Verwaltungsratsbeschlusses erstellt das Internationale Arbeitsamt (IAA) einen vorläufigen Bericht (white report)126 über die rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten in den Mitgliedstaaten und einen darauf basierenden Fragebogen.127 Beides lässt es den Mitgliedstaaten zukommen.128 123

Wisskirchen, ZfA 2003, 691, 697. Der Verwaltungsrat setzt sich aus 28 Regierungs-, 14 Arbeitgeber- und 14 Arbeitnehmervertretern zusammen. Zehn der 28 Regierungsvertreter werden durch die Mitgliedstaaten mit der wirtschaftlich größten Bedeutung ernannt, Art. 7 Abs. 2 ILO-Verfassung. Derzeit sind unter diesen zehn Repräsentanten mit Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien vier EU-Mitgliedstaaten, vgl. IAA, Verwaltungsrat, Composition of the Governing Body, Doc GB.05 (2017 – 2020) Rev.7, S. 1. Die 18 weiteren Sitze der Regierungsvertreter werden von der IAK unter Ausschluss der Delegierten der zehn Mitgliedstaaten mit der größten wirtschaftlichen Bedeutung gewählt, Art. 7 Abs. 2 a. E. ILO-Verfassung. Hierunter befinden sich derzeit zwei weitere EU-Mitgliedstaaten, Bulgarien und Rumänien. Die 28 Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter werden von der jeweiligen Delegiertengruppe der IAK gewählt, Art. 7 Abs. 4 ILO-Verfassung. 125 Art. 14 Abs. 1 ILO-Verfassung; Waas, AVR 2019, 123, 125; Wisskirchen, ZfA 2003, 691, 696; zu den abweichenden Möglichkeiten bei komplexeren Gegenständen oder bei besonderer Dringlichkeit: IAA, Handbuch der Verfahren, S. 2. Zu Problemen bei der Entscheidungsfindung im Verwaltungsrat Servais, International Labour Law, Rn. 77 ff. Selbst im Falle eines Antrags der IAK auf Erarbeitung eines Übereinkommens muss über die Einleitung des Verwaltungsrat abstimmen. In einem solchen Fall kann der Antrag erst im Folgejahr von der IAK behandelt werden, vgl. Art. 16 Abs. 3 ILO-Verfassung; Stübig, Flexibilität und Legitimität in der ILO, S. 101. 126 Benannt nach der Farbe der Titelseite, vgl. Stübig, Flexibilität und Legitimität in der ILO, S. 108. 127 Art. 39 Abs. 1 S. 1 GO-IAK; IAA, Handbuch der Verfahren, S. 3; Wisskirchen, ZfA 2003, 691, 696. Hierbei werden die Regierungen und nationalen Sozialpartner bereits einbezogen, vgl. IAA, Handbuch der Verfahren, S. 8, s. a. Art. 5 Abs. 1 lit. a) Übk. Nr. 144 über dreigliedrige Beratungen und Abs. 5 lit. a) Empfehlung Nr. 152 betreffend dreigliedrige Beratungen. 128 Bericht und Fragebogen werden den Mitgliedstaaten so übersandt, dass diese spätestens 18 Monate vor Eröffnung der IAK eintreffen, auf welcher der Gegenstand behandelt werden soll, vgl. Art. 39 Abs. 1 S. 2 a. E. ILO-Verfassung. 124

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Teil 1: Die Normen der ILO

Auf Grundlage der Antworten der Mitgliedstaaten129 erstellt das IAA einen zweiten Bericht (yellow report).130 Der zugehörige neue Fragebogen beinhaltet auch die Frage, ob die Mitgliedstaaten die Regelung der entsprechenden Frage auf internationaler Ebene überhaupt befürworten.131 Die Entscheidung über die Verabschiedung wird durch die IAK getroffen. Bei dieser handelt es sich um die Vollversammlung der Mitglieder132 und das oberste Organ der ILO.133 Sie tritt mindestens einmal jährlich zusammen.134 Die IAK ist tripartistisch besetzt: Aus jedem Mitgliedstaat nehmen zwei Regierungsvertreter und je ein Vertreter der Arbeitnehmer und Arbeitgeber teil.135 Alle Delegierten – unabhängig von ihrer Gruppenzugehörigkeit – haben die gleiche Rechte und Pflichten.136 Die erste Debatte über ein neues Übereinkommen findet in einem tripartistischen Ausschuss statt.137 Er berät, ob der Gegenstand in einem Übereinkommen oder mittels Empfehlung geregelt werden soll.138 Auf Grundlage der Maßgaben des Ausschusses erarbeitet das IAA einen weiteren Bericht (brown report) und einen ersten Entwurf des Übereinkommens.139 Beides wird den Mitgliedstaaten und Sozialpartnern übermittelt. Nach Austausch mit den Sozialpartnern hat die Regierung die Möglichkeit, Änderungsvorschläge oder Bemerkungen vorzubringen.140 Zugleich konsultiert das IAA die UN und ihre Sonderorganisationen, sofern sich Überschneidungen mit deren

129 Ihre Antworten müssen spätestens 11 Monate vor Eröffnung der IAK beim IAA eingehen, vgl. IAA, Handbuch der Verfahren, S. 3. 130 Er wird Mitgliedstaaten spätestens vier Monate vor der IAK übermittelt, IAA, Handbuch der Verfahren, S. 3; Gitzel, Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 35. 131 Wisskirchen, ZfA 2003, 691, 696. Die ausgefüllten Fragebögen werden der IAK vollständig oder (i. d. R.) in einem durch das IAA erstellten Überblick zugeleitet, Art. 39 Abs. 4 GOIAK. 132 Art. 2 lit. a) ILO-Verfassung. 133 Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 23. 134 Art. 3 Abs. 1 ILO-Verfassung. 135 Art. 3 Abs. 1 S. 2 ILO-Verfassung. Die Auswahl der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter hat im Einverständnis mit den jeweiligen Berufsverbänden des betr. Landes zu erfolgen, vgl. Art. 3 Abs. 5 ILO-Verfassung. 136 So hat jeder Delegierte das Recht, über alle der IAK unterbreiteten Fragen „für seine Person“ abzustimmen, vgl. Art. 4 Abs. 1 ILO-Verfassung. Alle Delegierten üben ein freies Mandat aus, Wisskirchen, ZfA 2003, 641, 702; Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 24. Sie können vom Stimmverhalten der anderen Repräsentanten ihres Mitgliedstaates abweichen, Gitzel, Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 21. 137 Die Ausschüsse der IAK sind allesamt tripartistisch besetzt, Gitzel, Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 21 f. Eine Ausnahme bildet der für den Haushalt der ILO zuständige Finanzausschuss, da die Finanzierung der ILO allein von den Regierungen bestritten wird. 138 Art. 39 Abs. 4 GO-IAK. 139 Stübig, Flexibilität und Legitimität in der ILO, S. 108. 140 Art. 39 Abs. 6 GO-IAK.

B. Normsetzung

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Kompetenzbereichen ergeben.141 Auf Grundlage der eingegangenen Antworten verfasst das IAA einen endgültigen Bericht (blue report), der den Wortlaut des Übereinkommens mit allen notwendigen Änderungen enthält.142 Die IAK entscheidet nun, ob das Übereinkommen ein zweites Mal in einem Ausschuss besprochen werden muss, bevor darüber abgestimmt werden kann.143 Der endgültige Entwurf wird schließlich im Plenum beraten144 und dem Redaktionsausschuss zwecks Ausarbeitung des endgültigen Wortlauts übermittelt.145 Hiernach stimmt die IAK über die Annahme des Übereinkommens ab. Die Verabschiedung des Übereinkommens bedarf einer Zweidrittelmehrheit der anwesenden Delegierten.146 Nach Annahme eines Übereinkommens durch die IAK werden zwei Ausfertigungen erstellt und durch den Vorsitzenden der IAK sowie den Generaldirektor unterzeichnet.147 Zuletzt war nur ein Normsetzungsverfahren in Gange: 2019 verabschiedete die IAK ein neues Übereinkommen zum Schultz vor Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz (Übereinkommen Nr. 190).148 Diese wurde von der Empfehlung Nr. 190 begleitet.149 Zudem wurden in der Standard Review Mechanism Tripartite Working Group (SRM-TWG)150 Überlegungen zu einem neuen Instrument zum Schutz von Praktikanten getroffen, wozu inzwischen ein Vorschlag durch das IAA erarbeitet wurde.151 141 Zu denken wäre bei Übereinkommen zum Gesundheitsschutz an die WHO oder bei der Maritime Labour Convention an die IMO. Ihre Anmerkungen werden ebenfalls der IAK vorgelegt, vgl. Art. 39bis GO-IAK; Gitzel, Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 35; Servais, International Labour Law, Rn. 98. 142 Art. 39 Abs. 7 S. 1 GO-IAK. 143 Servais, International Labour Law, Rn. 99. 144 Ibid. 145 Ibid.; IAA, Handbuch der Verfahren, S. 4. 146 Art. 19 Abs. 2 ILO-Verfassung; Wisskirchen, ZfA 2003, 691, 697. 147 Eine Ausfertigung wird in den Archiven der ILO aufbewahrt, die andere dem Generalsekretär der UN übersandt. Der Generaldirektor übersendet außerdem eine beglaubigte Kopie an jeden Mitgliedstaat, vgl. Servais, International Labour Law, Rn. 100. 148 IAA, IAK, 1087th Session 2019, Provisional Record of Proceedings, Part 7C, Outcomes of the work of the Standard-Setting Committee on Violence and Harassment in the World of Work, S. 25; IAA, IAK, 107th Session 2018, Provisional Record of Proceedings, Part 8B(Rev.1); s. a. den Entwurf der Kommission über einen Beschluss des Rates zur Ermächtigung der Mitgliedstaaten, das Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation gegen Gewalt und Belästigung von (Nr. 190 von 2019) im Interesse der Europäischen Union zu ratifizieren, COM(2020) 24 final. 149 IAA, IAK, 1087th Session 2019, Provisional Record of Proceedings, Part 7C, Outcomes of the work of the Standard-Setting Committee on Violence and Harassment in the World of Work, S. 22 f. 150 Zum Mandat und den bisherigen Treffen der SRM-TWG siehe IAA, Verwaltungsrat, 338th Session 2020, Doc GB.338/LILS/3, S. 3 f. 151 IAA, Verwaltungsrat, 334th Session 2018, Doc GB.334/INS/2/1, Rn. 21, vgl. auch Rn. 30.

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Teil 1: Die Normen der ILO

b) Single-discussion procedure in besonders dringenden Fällen Das einstufige Verfahren kann unter der Voraussetzung besonderer Dringlichkeit beschritten werden, sofern der Verwaltungsrat mit einer Dreifünftelmehrheit zugestimmt hat.152 Das Verfahren unterscheidet sich insoweit, als dass auf Grundlage der Antworten der Regierungen zum ersten Bericht (white report) vom IAA bereits ein endgültiger Bericht (brown report) erstellt wird.153 Dieser enthält den Entwurf des Übereinkommens und wird den Mitgliedstaaten rechtzeitig vor Eröffnung der IAK zugestellt.154 Über das Übereinkommen wird auf der Konferenz abgestimmt; zur Annahme ist wie beim zweistufigen Verfahren ebenfalls die Zustimmung einer Zweidrittelmehrheit der anwesenden Delegierten nötig. 2. Verabschiedung von Empfehlungen Die Verfassung sieht vor, dass Empfehlungen nur verabschiedet werden sollen, falls „sich der behandelte Gegenstand überhaupt nicht oder unter einem bestimmten Gesichtspunkt nicht für die sofortige Annahme eines Übereinkommens eignet“.155 Da es sich erst zu einem recht späten Zeitpunkt entscheidet, ob der Gegenstand mittels eines Übereinkommens oder einer Empfehlung geregelt werden soll, ist das Verfahren zur Verabschiedung von Empfehlungen größtenteils identisch. Auch für Empfehlungen kann je nach Gegenstand das zwei- als auch einstufige Verfahren gewählt werden. Im Unterschied zu Übereinkommen ist zur Verabschiedung von Empfehlungen nur eine einfache Mehrheit der anwesenden Delegierten notwendig.156

II. Beteiligung der EU an der Normsetzung Weder hat die EU ein Stimmrecht auf der IAK, noch werden der Kommission durch das IAA die Berichte und Fragebögen zugeleitet. Trotzdem hat die Union erheblichen Einfluss auf die Verabschiedung von Übereinkommen, Empfehlungen und Erklärungen.

152 153 154 155 156

Art. 34 Abs. 5 GO IAK. Peruzzo, NJW 1981, 496. Ibid. Art. 19 Abs. 1 ILO-Verfassung. Art. 17 Abs. 2 ILO-Verfassung.

B. Normsetzung

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1. Anfänglicher Disput über die Rolle der Kommission bei der Normsetzung der ILO Die Bestimmung der Reichweite ihrer Beteiligungsrechte führte in der Vergangenheit zu weitreichenden Auseinandersetzungen zwischen der Kommission und den EU-Mitgliedstaaten.157 Zwar fanden seit Beginn der Teilharmonisierung des Arbeitsrechts auf europäischer Ebene vorbereitende Treffen zwischen Kommission und Vertretern der Mitgliedstaaten vor Verwaltungsratssitzungen und der jährlichen IAK statt.158 Es war allerdings ungeklärt, ob und gegebenenfalls über welche Rechte die Kommission bei der Normsetzung der ILO verfügt, sofern sich Überschneidungen mit den Rechtsakten der EG ergaben. Beispiele für entsprechende Auseinandersetzungen bilden etwa die Verhandlungen zu Übereinkommen Nr. 153 über die Arbeits- und Ruhezeiten im Straßentransport von 1977 bis 1979. Dessen Regelungsgegenstand war in der EG zu großen Teilen in Verordnung Nr. 543/69 von 1969 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr geregelt.159 Ein 1981 dem Verwaltungsrat vorgelegtes Gutachten des IAA kam zwar zum Ergebnis, dass die EG-Mitgliedstaaten auf Grundlage der (insoweit neutralen) ILOVerfahrensvorschriften berechtigt waren, die Kommission zur Ausübung ihrer Rechte zu ermächtigen.160 Wegen starker Vorbehalte, auch unter den Drittstaaten und Sozialpartnern, wurden diese Ergebnisse aber nie in die GO-IAK oder die Geschäftsordnung des Verwaltungsrates überführt.161 Zu beachten ist hierbei, dass die EU erst seit 1989 einen Beobachterstatus bei Beratungen der ILO innehat162 und erst seit diesem Zeitpunkt (ohne Stimmrecht) überhaupt an den Sitzungen der IAK und des Verwaltungsrates teilnehmen kann.163 Nachdem die Problematik zwischen 1983

157 Delarue, in: de Waele/Kuipers, The European Unions Emerging International Identity, S. 131, 133 bezeichnet insb. den Zeitraum von 1983 – 2000 als von Divergenzen geprägt, s. a. Scheffler, Die Europäische Union als rechtlich-institutioneller Akteur im System der Vereinten Nationen, S. 451. 158 Nedergaard, EIoP 2008, 3; zur Entwicklung der Beziehungen zwischen ILO und EU siehe unter Teil 3 A. I. – II. 159 Muhr, in: BMAS/BDA/DGB, Weltfriede durch soziale Gerechtigkeit, S. 204, 206; Hartlapp, in: Senghaas-Knobloch, Weltweit geltende Arbeitsstandards trotz Globalisierung, S. 157, 162. Siehe nun Verordnung (EG) Nr. 561/2006. 160 IAA, Verwaltungsrat, 215th Session 1981, The relationship of rights and obligations under the Constitution of the ILO to rights and obligations under treaties establishing regional groupings, Doc GB.215/SC/4/1, Rn. 10. 161 Scheffler, Die Europäische Union als rechtlich-institutioneller Akteur im System der Vereinten Nationen, S. 537 f. 162 Van Vooren/Wessel, EU External Relations Law, S. 255; vgl. auch Tietje, in: Grabitz/ Hilf/Nettesheim, Art. 229 AEUV, Rn. 27. 163 Art. 12 Abs. 2 ILO-Verfassung; näheres unter Teil 3 A. I. Nicht selbstverständlich ist hierbei, dass die EU auch an den Sitzungen des Verwaltungsrates teilnehmen kann, verfügt sie so doch über größere Einflussmöglichkeiten als ein ILO-Mitgliedstaat, der dem Verwaltungsrat

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Teil 1: Die Normen der ILO

und 1986 bei der Ausarbeitung von Übereinkommen Nr. 162 über Sicherheit bei der Verwendung von Asbest erneut relevant geworden war, versuchte sich die Kommission im Rahmen der Verhandlungen zu Übereinkommen Nr. 170 über die Sicherheit bei der Verwendung chemischer Stoffe bei der Arbeit (1988 bis 1990)164 vor dem EuGH zumindest Klarheit darüber zu verschaffen, wer – im Außenverhältnis zur ILO – über die Kompetenz zum Abschluss, also zur Ratifizierung des Übereinkommens verfügt.165 2. EuGH-Gutachten Nr. 2/91 In seinem Gutachten Nr. 2/91 entschied der EuGH vereinfacht gesagt, dass auch bei geteilter Zuständigkeit zwischen EG und Mitgliedstaat im Innenverhältnis der Mitgliedstaat im Außenverhältnis gegenüber der ILO zum Abschluss des Übereinkommens berechtigt bleibt.166 Soweit die Voraussetzungen der Beteiligung an einem völkerrechtlichen Vertrag dem Abschluss durch die Gemeinschaft selbst entgegenstünden, das Gebiet, in welches das Abkommen falle, aber zur auswärtigen Zuständigkeit der Gemeinschaft gehöre, könne diese Zuständigkeit nur durch die Mitgliedstaaten ausgeübt werden. Diese müssten „im Interesse der Gemeinschaft gemeinsam handeln“.167 In solchen Fällen erfordere die Notwendigkeit einer geschlossenen völkerrechtlichen Vertretung der Gemeinschaft eine enge Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsorganen sowohl bei der Aushandlung und dem Abschluss des Übereinkommens als auch bei dessen Durchführung.168 Konkretere Vorgaben zur Umsetzung dieser Pflicht zur Zusammenarbeit wurden durch den EuGH nicht gemacht.169 nicht angehört, vgl. Scheffler, Die Europäische Union als rechtlich-institutioneller Akteur im System der Vereinten Nationen, S. 537. 164 Adamy, in: BMAS/BDA/DGB, Weltfriede durch soziale Gerechtigkeit, S. 179, 196 weist darauf hin, dass die bestehenden gemeinschaftsrechtlichen Mindestnormen die Verabschiedung des Übereinkommens positiv beeinflusst hatten. 165 EuGH v. 19. März 1993 – Gutachten 2/91; Delarue, in: de Waele/Kuipers, The European Union’s Emerging International Identity, S. 131, 142; siehe zum früheren Verfahren von 1986 welches aufgrund eines Kompromissbeschlusses eingestellt wurde Muhr, in: BMAS/BDA/ DGB, Weltfriede durch soziale Gerechtigkeit, S. 204, 206; Scheffler, Die Europäische Union als rechtlich-institutioneller Akteur im System der Vereinten Nationen, S. 541. 166 EuGH v. 19. März 1993 – Gutachten 2/91; Hartlapp, in: Senghaas-Knobloch, S. 157, 162; Schwichtenberg, Kooperationsverpflichtung der EU, S. 91 f. unter Darstellung weiterer Entscheidungen zur Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit der EU und ihrer Mitgliedstaaten im Rahmen internationaler Organisationen. 167 EuGH v. 19. März 1993 – Gutachten 2/91, Rn. 2. 168 Ibid., Rn. 6. 169 Delarue, in: de Waele/Kuipers, The European Union’s Emerging International Identity, S. 131, 142; aus der Sicht von 1994 Muhr, in: BMAS/BDA/DGB, Weltfriede durch soziale Gerechtigkeit, S. 204, 214 ff. Auch der heutige Art. 4 Abs. 3 EUV, der eine Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit beim Abschluss gemischter Übereinkommen statuiert, enthält hierzu keine konkreten Regelungen; siehe zu völkerrechtlich verbindlichen Handlungen von Mitglied-

B. Normsetzung

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3. Folge: Gemeinsames Auftreten der EU-Mitgliedstaaten und -Organe Zur Umsetzung des Gutachtens erarbeitete die Kommission mehrere Vorschläge. Im Vorschlag von 1994170 war etwa vorgesehen, dass die Kommission Fragebögen des IAA ausfüllen und diesem selbst übersenden könne, hierbei aber eine enge Abstimmung mit den Mitgliedstaaten und den nationalen Sozialpartnern anstreben solle.171 Allerdings kam es aus unterschiedlichen Gründen172 nie zur Verabschiedung eines Rechtsakts oder einer sonstigen schriftlichen Konkretisierung der Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Zusammenarbeit mit der Kommission.173 Stattdessen ist die Zusammenarbeit weiterhin von informellen Absprachen und Koordinierungsmechanismen geprägt.174 Sie wird allerdings spätestens seit 2003 von allen Beteiligten als gut beurteilt.175 So ist es inzwischen üblich, dass auf der IAK der Mitgliedstaat, welcher den Vorsitz im Rat der Europäischen Union innehat, für die übrigen Mitgliedstaaten spricht.176 Bei Gegenständen, die in die Zuständigkeit der Union fallen, kann die Kommission (vertreten etwa durch den zuständigen Kommissar) auf Grundlage einer von der Ratspräsidentschaft erbetenen Erlaubnis für die staaten, die zuvor getroffene Ratsbeschlüsse ignorieren (und hierdurch Unionsrecht verletzen) EuGH v. 27. März 2019 – C-620/16 (OTIF), Rn. 82 ff. 170 Europäische Kommission, Proposal for a Council Decision on the exercise of the Community’s external competence at international labour conferences in cases falling within the joint competence of the Community and its Member States v. 12. Januar 1994, COM(94) 2 final. 171 Scheffler, Die Europäische Union als rechtlich-institutioneller Akteur im System der Vereinten Nationen, S. 543. 172 Der nicht auf die ILO begrenzte, sondern auf die Zusammenarbeit in weiteren internationalen Organisationen aufgelegte Versuch der Europäischem Kommission vom 10. September 2003 (The European Union and the United Nations: The choice of multilateralism, COM(2003) 526 final) scheiterte wohl an Spanien und Griechenland, die für die sie besonders sensiblen Bereiche der Fischerei und Schifffahrt nicht die Kontrolle an die Kommission abgeben möchte, vgl. Nedergaard, EIoP 2008, 3; Nedergaard, in: Jørgensen, The European Union and International Organizations, S. 149, 154; Delarue, in: de Waele/Kuipers, The European Union’s Emerging International Identity, S. 131, 142. 173 Nedergaard, EIoP 2008, 3.; Delarue, in: de Waele/Kuipers, The European Union’s Emerging International Identity, S. 131, 142. 174 Scheffler, Die Europäische Union als rechtlich-institutioneller Akteur im System der Vereinten Nationen, S. 544. Die Rspr. des EuGH zur Zusammenarbeit bei der Aushandlung von Übereinkommen hat sich weiter verfestigt, vgl. Gutachten v. 15. November 1994 – C-1/94 (WTO); EuGH v. 19. März 1996 – C-25/94 (FAO); EuGH v. 16. Juni 1998 – C-53/96 (Hermés); EuGH v. 14. Dezember 2000 – verb. C-300/98 u. C-392/98 (Dior/Tuk); EuGH v. 30. Mai 2006 – C-459/03 (Kommission u. a./Irland u. a.); EuGH v. 20. April 2010 – C-246/07 (Kommission/ Schweden), siehe ferner: Epiney, ZaöRV 2014, S. 465, 498 f. 175 Delarue, in: de Waele/Kuipers, The European Union’s Emerging International Identity, 131, 142; Scheffler, Die Europäische Union als rechtlich-institutioneller Akteur im System der Vereinten Nationen, S. 544. 176 Siehe etwa IAA, IAK, 108th Session 2019, Provisional Record of Proceedings, 5 A (Part 1), Rn. 124.

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Teil 1: Die Normen der ILO

gesamte EU sprechen.177 Sofern die Kommission Anträge einbringen möchte, kann sie dies aber nur im Namen und auf Grundlage einer Erlaubnis der Mitgliedstaaten.178 Um ein geschlossenes Auftreten nach außen hin zu sichern und die gemeinsame Position der EU zu bestimmen, tritt seit Beginn der 1990er Jahre vor jeder IAK der Rat der Europäischen Union in Form des Rats für Beschäftigung, Soziales, Gesundheit und Verbraucherschutz zusammen. Diese Treffen finden in enger Zusammenarbeit mit und unter Vorbereitung durch die Kommission statt.179 Zudem ist zu beachten, dass Vertreter der Kommission sich nicht nur im Rahmen der Absprache 177 Brinkmann, in: FS Lörcher, S. 331, diese wurde laut ihm bisher immer gegeben; Novitz/ Sypris, ELLJ 2015, 104, 116. Das Rederecht folgt auch aus dem Beobachterstatus, vgl. Scheffler, Die Europäische Union als rechtlich-institutioneller Akteur im System der Vereinten Nationen, S. 547. Deutlich wurde die zunehmende Zusammenarbeit auch 2016 auf der 106. Tagung der IAK, als Kommissionspräsident Juncker die Hauptrede der Konferenz zum Thema Jugendbeschäftigung und die Schaffung einer Sozialen Säule der EU hielt, vgl. IAA, IAK, 105th Session 2016, Record of Proceedings, S. 17/5 ff.; zur Beteiligung der ILO an der Erklärung über die soziale Säule der EU Teklè, ELLJ 2018, 236; Pons-Deladrière, in: Kaddous, The European Union in International Organisations and Global Governance, S. 93, 94 mit Hinweis auf die Rede des ILO-Generalsekretärs: „Our natural relationship is now married to an urgent need“. 178 Brinkmann, in: FS Lörcher, S. 331. 179 Nedergaard, EIoP 2008, 3; vgl. auch Ferri, in: Kaddous, The European Union in International Organisations and Global Governance, S. 77, 89 mit dem Hinweis auf jüngere Übereinkommen, in denen die EU-Regierungsvertreter in der IAK konsistent abstimmten. Die hinreichende Beteiligung der Union bei der Umsetzung von ILO-Übereinkommen, die Regelungsbereiche der Union betreffen, wird durch Beschlüsse des Rates sichergestellt, in denen die Mitgliedstaaten ermächtigt werden, das jeweilige Übereinkommen zu ratifizieren, siehe etwa Beschluss des Rates 2010/321/EU v. 7. Juni 2010 zur Ermächtigung der Mitgliedstaaten, das Übereinkommen über die Arbeit im Fischereisektor der Internationalen Arbeitsorganisation aus dem Jahr 2007 (Übereinkommen Nr. 188) im Interesse der Europäischen Union zu ratifizieren, ABl. 2010 L 145, 12; Beschluss des Rates 2014/51/EU v. 28. Januar 2014 zur Ermächtigung der Mitgliedstaaten, das Übereinkommen über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte, 2011, der Internationalen Arbeitsorganisation (Übereinkommen Nr. 189) im Interesse der Europäischen Union zu ratifizieren, ABl. 2014 L 32, 32; hierzu Novitz/Sypris, ELLJ 2015, 104; Beschluss des Rates 2014/52/EU v. 28. Januar 2014 zur Ermächtigung der Mitgliedstaaten, das Übereinkommen über Sicherheit bei der Verwendung chemischer Stoffe bei der Arbeit der Internationalen Arbeitsorganisation von 1990 (Übereinkommen Nr. 170), im Interesse der Europäischen Union zu ratifizieren, ABl. 2014 L 32, 33; Entwurf der Kommission über einen Beschluss des Rates zur Ermächtigung der Mitgliedstaaten, das Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation gegen Gewalt und Belästigung (Nr. 190 von 2019) im Interesse der Europäischen Union zu ratifizieren, COM(2020) 24 final; vgl. zu dieser Praxis Ferri, in: Kaddous, The European Union in International Organisations and Global Governance, S. 77, 82; ferner auch Ruchti, ILO-Übereinkommen Nr. 94, S. 82. Im Zeitraum zwischen 1996 und 2000 hatte die Europäische Kommission rechtlich unverbindliche Empfehlungen über die Ratifizierung von Übereinkommen an die Mitgliedstaaten gerichtet, vgl. Empfehlung der Kommission über die Ratifizierung von ILO Übk. Nr. 177, ABl. 1998 L 165, 32; Empfehlung der Kommission v. 18. November 1998 über die Ratifizierung von ILO Übk. Nr. 180 und die Ratifizierung des Protokolls Nr. 147, ABl. 1999 L 43, 9; Empfehlung der Kommission v. 15. September 2000 über die Ratifizierung von ILO Übereikommen Nr. 182, ABl. 2000 L 243, 41; hierzu Ferri, in: Kaddous, The European Union in International Organisations and Global Governance, S. 77, 82.

B. Normsetzung

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der Positionen der Mitgliedstaaten der Union sondern auch in den Fachausschüssen der IAK an der Ausarbeitung des konkreten Übereinkommenstextes beteiligen.180 Die verbesserte Zusammenarbeit und das gemeinsame Auftreten sind nicht auf die IAK beschränkt. Die Kommission nimmt auch an den Treffen des Verwaltungsrates teil.181 Der Beobachterstatus ermöglicht es ihr inzwischen, auch aktiv an den Debatten teilzunehmen.182 Auch im Verwaltungsrat wird die Union „als Ganze“ durch den Mitgliedstaat, welcher die Ratspräsidentschaft innehat, vertreten, sofern die Rechte, die ihr durch den Beobachterstatus zukommen, nicht ausreichen.183 4. Aktuelle Beispiele der Einflussnahme der EU auf die Normsetzung der ILO Der Einfluss der EU und ihrer Mitgliedstaaten zeigte sich etwa (wie von Novitz/ Sypris genauer untersucht) im Rahmen der Verabschiedung des Übereinkommens Nr. 189 über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte auf der 100. IAK 2011.184 Das gemeinsame Auftreten und die gemeinsame Einflussnahme der EU auf die Normsetzung der ILO tritt zudem deutlich in den Sitzungsprotokollen des mit der Verabschiedung der Centenary-Erklärung befassten Ausschusses zu Tage.185 180 Hierzu Pons-Deladrière, in: Kaddous, The European Union in International Organisations and Global Governance, S. 91, 97 f. mit dem Hinweis auf die zunehmende Größe der Delegationen, welche durch Kommission in den vergangenen Jahren entsandt wurden. PonsDeladrière sieht hierin eine Zunahme der Bedeutung der IAK für die Kommission. 181 Siehe Teil 3 A. I. 182 Delarue, in: de Waele/Kuipers, The European Union’s Emerging International Identity, S. 131, 140; zum Einsatz der diplomatischen Ressourcen der EU ferner Scheffler, Die Europäische Union als rechtlich-institutioneller Akteur im System der Vereinten Nationen, S. 549 f. 183 Sollte das Land, welches die Präsidentschaft innehat, nicht im Verwaltungsrat vertreten sein, wird diese Aufgabe durch einen anderen EU-Mitgliedstaat wahrgenommen, vgl. Delarue, in: de Waele/Kuipers, The European Union’s Emerging International Identity, S. 131, 143. 184 Siehe Novitz/Sypris, ELLJ 2015, 104, 115 ff. Zur Umsetzung des Übereinkommens Nr. 189 in Deutschland Trebilcock, IJCLLIR 2018, 149; zu Überlegungen über neue Übereinkommen, welche die EU in Handelsabkommen in Bezug nehmen könnte Hartlapp, in: Senghaas-Knobloch, Weltweit geltende Arbeitsstandards trotz Globalisierung, S. 157, 163; Novitz, Maastricht Journal of European and Comparative Law 2003, S. 231, 245 ff.; vgl. auch jüngst BAG v. 11. Juni 2020 – 2 AZR 660/19, BeckRS 2020, 18811, Rn. 17. 185 Siehe IAA, IAK, 108th Session 2019, Provisional Record of Proceedings, 6B (Rev.). Es lässt sich auch ein beträchtlicher Einfluss der EU auf die Verabschiedung der Erklärung über soziale Gerechtigkeit für eine faire Globalisierung von 2008 feststellen, vgl. Pastore/Gausˇas/ Styczyn´ska, EU and ILO: Shaping the Future of Work, S. 27. Über die Gründe des forcierten Engagements der EU und ihrer Mitgliedstaaten für die Aufnahme des Rechts auf sichere und gesunde Arbeitsbedingungen in den Rang der Kernarbeitsnormen ist bislang nichts bekannt. Gemutmaßt werden kann, dass die Aufnahme des Arbeitsschutzes den Spielraum der Union in ihren Beziehungen zu Drittstaaten vergrößern würde. So könnten die Sozialkapitel künftiger Handelsabkommen (hierzu statt vieler Gött/Holterhus, in: Gött, Labour Standards in International Economic Law, S. 236 ff.; auch Zimmer, in: Gött, Labour Standards in International Economic Law, S. 211 ff.; Novitz, in: Gött, Labour Standards in International Economic Law, S. 113, 127 ff.; Agusti-Panareda/Ebert/LeClercq, CLLPJ 2015, 347; Beke/D’Hollander/Ha-

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Teil 1: Die Normen der ILO

Wie bereits erwähnt, wurde die Centenary-Erklärung186 von einer Resolution begleitet, in welcher die Delegierten der 108. IAK 2019 den Verwaltungsrat ersuchen, „unverzüglich“ zu eruieren, mittels welcher Maßnahmen „sichere und gesunde Arbeitsbedingungen“187 in den Rang der Kernarbeitsnormen aufgenommen werden könnten.188 Es bleibt jedoch abzuwarten, ob und wie diese Resultion umgesetzt werden wird.189 chez/Pérez de las Heras, The integration of human rights in EU development and trade policies, S. 59 ff., abrufbar unter: http://www.fp7-frame.eu/wp-content/uploads/2016/08/07-Deliverable9.1.pdf) ebenso wie das Allgemeine Präferenzsystem an die Einhaltung von Übereinkommen anküpfen, welche den Grundsatz sicherer und gesunder Arbeitsbedingungen konkretisieren. Es dürften aber nicht alle Übereinkommen zum Arbeitsschutz eine Konkretisierung einer entsprechenden Kernarbeitsnorm darstellen, vgl. auch IAA, Verwaltungsrat, 340th Session October 2020, Doc GB.340/INS/4, Rn. 38 ff. Der Legal Adviser des IAA gab im Rahmen der Debatten des Konferenzausschusses eine erste Einschätzung dahingehend ab, dass allein Übk. Nr. 155 und Übk. Nr. 187 als Konkretisierung der Kernarbeitsnorm zu verstehen sein dürften, vgl. IAA, IAK, 108th Session 2019, Provisional Record of Proceedings, 6B (Rev.), Rn. 1002; so auch IAA, Verwaltungsrat, 340th Session October 2020, Doc GB.340/INS/4, Rn. 27, wobei auch Übk. Nr. 161 genannt wird). Zu erwähnen bleibt, dass die Gefahr etwa bei dem Entzug von Zollpräferenzen wegen der Verletzung von Arbeitsschutzstandards gegen WTO-Recht zu verstoßen bei einem Verweis auf Übereinkommen im Rang von Kernarbeitsnormen minimiert sein dürfte. Siehe zum Allgemeinen Präferenzsystem unter Teil 4 E. I.; zu dieser Problematik zudem Stolzenberg, AVR 2019, 207, 228. 186 Hierzu unter Teil 1 A. VI. 187 Der Begriff „sichere und gesunde Arbeitsbedingungen“ wird im IPwskR verwendet, während in den aktuelleren Übereinkommen wie Übk. Nr. 187 meist von einem „sicheren und gesunden Arbeitsumfeld“ die Rede ist, vgl. IAA, Verwaltungsrat, 340th Session October 2020, Doc GB.340/INS/4, Rn. 25. Vor diesem Hintergrund wären mögliche Formulierungen unter anderem: „das Recht auf ein sicheres und gesundes Arbeitsumfeld“, „das Recht auf Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit“, „die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten“, „die Gewährleistung sicherer und gesunder Arbeitsumgebungen“ oder „die Förderung sicherer und gesunder Arbeitsumgebungen“, siehe IAA, Verwaltungsrat, 340th Session October 2020, Doc GB.340/INS/4, Rn. 25. 188 IAA, Resolution zur Centenary-Erklärung der ILO für die Zukunft der Arbeit v. 21. Juni 2019, dt. Fassung abrufbar unter: https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/–ed_norm/–rel conf/documents/meetingdocument/wcms_712271.pdf; s. a. IAA, Verwaltungsrat, 338th Session 2020, Doc GB.338/INS/3/2, Rn. 1; ITUC, Presseerklärung v. 21. Juni 2019, abrufbar unter: https://www.ituc-csi.org/ILO-100-Declaration?lang=en; insoweit ist auffällig, dass die Urheber der Resultion sich nicht darauf einigen konnten, den Arbeitsschutz als „Prinzip“, „Grundsatz“ oder „Recht“ auf gesunde und sichere Arbeitsbedingungen zu bezeichnen, obwohl die Aufnahme in den Rang der Kernarbeitsnormen geplant ist. Die Idee einer die Erklärung begleitenden Resolution geht auf einen gemeinsamen Entwurf der Sozialpartner zurück, IAA, IAK, 108th Session 2019, Provisional Record of Proceedings, 6B (Rev.), Rn. 6. Zu beachten ist, dass in der urspr. Fassung der Begleitresolution kein Auftrag an den Verwaltungsrat enthalten war, Überlegungen hinsichtlich einer Kernarbeitsnorm „Arbeitsschutz“ zu treffen. So steht die Arbeitgeberseite der Aufnahme des Arbeitsschutzes in den Rang der Kernarbeitsnormen wohl bislang ablehnend gegenüber, siehe Ibid., Rn. 26; vgl. auch die ablehnenden Änderungsvorschläge in Rn. 986. Die Arbeitnehmervertreter hingegen zustimmend, Rn. 47; zustimmend zudem die EU-Gruppe, Rn. 53; die Türkei, Rn. 77; die Golf-Gruppe GCC, Rn. 81; Japan, Rn. 82; Neuseeland, Rn. 1005. Viele Länder, u. a. Australien und die USA, zeigten sich nicht

B. Normsetzung

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Die EU-Gruppe trat auf der 108. IAK 2019 als eine der Unterstützerinnen des Vorhabens der Aufnahme des Rechts auf gesunde und sichere Arbeitsbedingungen in den Rang einer Kernarbeitsnorm auf.190 Ihr Formulierungsvorschlag orientiert sich hierbei – wie zu erwarten – am Unionsrecht. So legte die EU-Gruppe dem mit der Ausarbeitung der Centenary-Erklärung betrauten Ausschuss einen Vorschlag vor, nach welchem in der Erklärung der Begriff des „Arbeitsschutzes“ durch das „Recht auf sichere und gesunde Arbeitsbedingungen“ (so die deutsche Sprachfassung)191 ersetzt werden sollte.192 Diese Formulierung ähnelt wohl nicht zufällig Art. 31 GRCh („Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen“).193

grundsätzlich abgeneigt, warnten jedoch vor einer vorschnellen Änderung der Erklärung von 1998. 189 Nahe liegt die Verabschiedung einer weiteren Erklärung, in welcher der Inhalt der Erklärung von 1998 um den fünften Grundsatz erweitert wird, vgl. IAA, Verwaltungsrat, 338th Session 2020, Doc GB.338/INS/3/2, Rn. 17. Schwierigkeiten könnte jedoch bereiten, vergleichbare Zustimmungsraten wie für die Erklärung von 1998 zu erreichen. So könnte aus einer niedrigeren Zustimmungsrate stets der Rückschluss gezogen werden, dass – anders als mit Blick auf die vier ursprünglichen Kernarbeitnormen – kein weltumfassender Konsens besteht. Siehe ferner IAA, Verwaltungsrat, 337th Session 2019, Doc GB.337/INS/3/2, wobei jedoch zu beachten ist, dass der Verwaltungsrat Abweichungen von der darin enthaltenen Roadmap beschlossen hat; zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen IAA, Verwaltungsrat, 338th Session 2020, Doc GB.338/INS/3/2, Rn. 9 ff. Auf der 338. Sitzung im März 2020 legte das IAA für den Generaldirektor erste Vorschläge für die Zusammensetzung und das Mandat einer tripartistischen Arbeitsgruppe vor, mit deren Hilfe der Verwaltungsrat die Einleitung der Umsetzung der Resolution auf der 339. Sitzung im November 2020 beschließen konnte, siehe IAA, Verwaltungsrat, 340th Session October 2020, Doc GB.340/INS/4; IAA, Verwaltungsrat, 337th Session 2019, Doc GB.337/Decisions, S. 6 (GB.337/INS/12/1(Rev.1)); IAA, Verwaltungsrat, 337th Session 2019, Provisional Agenda, Doc GB.337/Agenda; IAA, Verwaltungsrat, 338th Session 2020, Doc GB.338/INS/3/2, Rn. 2. 190 IAA, IAK, 108th Session 2019, Provisional Record of Proceedings, 6B (Rev.), Rn. 53; hierin stimmten die Arbeitnehmervertreter mit der EU „überein“, vgl. IAA, IAK, 108th Session 2019, Provisional Record of Proceedings, 6B (Rev.), Rn. 1004: „She agreed with the EU that a big step was needed on the issue“. Die EU-Gruppe präferierte unmittelbar in die CentenaryErklärung aufzunehmen, dass der Grundsatz gesunder und sicherer Arbeitsbedinungen neben die vier in der Erklärung von 1998 genannten Grundsätze treten soll, vgl. auch die Einschätzung des Legal Advisers des Konferenzausschusses zu der Frage, dass eine solche Erweiterung rechtlich möglich sei, IAA, IAK, 108th Session 2019, Provisional Record of Proceedings, 6B (Rev.), Rn. 1002 und Rn. 1011. Für diesen weitreichenden Vorstoß kam jedoch keine Mehrheit in der IAK zustande. Es konnte jedoch der Kompromis getroffen werden, dem Verwaltungsrat den oben genannten Prüfungsautrag im Wege einer Resolution zu erteilen, vgl. auch Teil II der Centenary-Erklärung in der von der IAK angenommenen Fassung: „The Conference declares that: […] D. Safe and healthy working conditions are fundamental to decent work“. 191 Engliche Sprachfassung: „the right to safe and healthy working conditions“; französische Sprachfassung: „Le droit à des conditions de travail sûres et salubres“. 192 IAA, IAK, 108th Session 2019, Provisional Record of Proceedings, 6B (Rev.), Rn. 986: „The right to safe and healthy working conditions is a fundamental principle and right at work in addition to those specified in the ILO Declaration on Fundamental Principles and Rights at Work (1998)“ anstelle der früheren Fassung, welche den Begriff des Arbeitsschutzes (occupational safety and health) wählte.

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Teil 1: Die Normen der ILO

5. Zwischenfazit und Ausblick Die EU hat keinen unmittelbaren Einfluss auf die Annahme oder Ablehnung von Übereinkommen oder Empfehlungen. Ihr Einfluss zeigt sich aber insbesondere im gemeinsamen Auftreten der EU-Mitgliedstaaten und in der Rolle der Kommission in der Koordinierung der Interessen der Union und der Mitgliedstaaten.194 Durch diese Koordinierung ist es der EU-Gruppe möglich Es ist zu überlegen, ob sich die EU künftig verstärkt auch an der Überarbeitung vorhandener Standards beteiligt. So könnte etwa das Recht der ILO durch fortschrittlichere Normen des Unionsrechts etwa auf dem Gebiet des Arbeitszeitrechts profitieren.195 Die vorhandenen Normen der ILO sind hier besonders unübersichtlich196 und erschweren es dadurch dem nationalen Normanwendern, dem Recht der ILO Rechnung zu tragen. Bei der Erarbeitung eines zentralen Übereinkommens, welches die bestehenden Übereinkommen ablöst,197 könnte man sich – zumindest als Ausgangspunkt – an der ArbeitszeitRL 2003/88/EG orientieren.198 Auch die jüngst durch die SRM-TWG angeregte Erarbeitung neuer Standards auf dem Gebiet biologischer Gefahren und der Ergonomie und der Handhabung von Maschinen199 könnte die EU-Kommission unterstützen.200 Es sollte aber stets darauf geachtet 193 Engl. Fassung: „right to working conditions which respect his or her health, safety and dignity“; franz. Fassung: „droit à des conditions de travail qui respectent sa santé, sa sécurité et sa dignité“. Der Vorschlag der EU-Gruppe findet sich in „abgeschwächter“ Form auch in der Endfassung des Teil II.C der Centenary-Erklärung wieder. Scheinbar wollten die Verfasser der Resolution die Bezeichnung als „Recht“ vermeiden („Aufnahme sicherer und gesunder Arbeitsbedingungen in das IAO-Rahmenwerk grundlegender Prinzipien und Rechte bei der Arbeit“), vgl. engl. Fassung: „safe and healthy working conditions“, franz. Fassung: „la question des conditions de travail sûres et salubres“. Dies konnte jedoch den Rat der Europäischen Union nicht davon abhalten, im Nachgang der IAK – in Schlussfolgerungen zur Erklärung zum hundertjährigen Jubiläum der ILO – ihren Standpunkt beizubehalten. Zudem findet sich im Anhang der Schlussfolgerungen bereits ein Verweis auf potenziell einschlägige Übereinkommen zum Arbeitsschutz (Nr. 155, Nr. 187, Nr. 190), siehe Rat der Europäischen Union, Doc 12765/19 v. 17. Oktober 2019, S. 9 f. 194 Zu beachten ist, dass eine Koordinierung auch mit anderen westlichen Staaten im Rahmen der IMEC-Gruppe stattfindet. Dieser gehören neben den EU-Mitgliedstaaten elf weitere westliche Staaten wie etwa die USA, Norwegen und die Schweiz an, vgl. hier Ferri, in: Kaddous, The European Union in International Organisations and Global Governance, S. 77, 87. 195 Vgl. Seifert, SR 2018, 169, 175; zur Berücksichtigung der ILO-Normen bei der Auslegung der ArbeitszeitRL 2003/88/EG unter Teil 4 F. I. 2. c) und d). 196 Hierzu Teil 4 F. I. 2. a). 197 Zur Ablösung der Vielzahl von Übk. auf dem Gebiet des Seearbeitsrechts durch das Seearbeitsübereinkommen unter Teil 4 A. I. sowie Teil 1 C. I. 3. c). 198 Ähnlich Seifert, SR 2018, 169, 175. 199 IAA, Verwaltungsrat, 339th Session 2019, Doc GB.337/LILS/1, Rn. 5. 200 Dies ist schon aufgrund der Fülle an unionsrechtlichen Normen auf diesem Gebiet sinnvoll, siehe insb. EG-SchutzRL Biologische Arbeitsstoffe 2000/54/EG; BildschirmgeräteSicherheitRL 90/270/EWG; Lasten-SicherheitsRL 90/269/EWG.

B. Normsetzung

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werden, dass die EU nicht versucht, eigene Standards auf die universelle Ebene zu transformieren, ohne zu prüfen, ob diese Standards überhaupt – etwa in Entwicklungsländern – umgesetzt werden können.

III. Beteiligung der europäischen Sozialpartner Es ist zu befürchten, dass eine stärkere Beteiligung der EU bzw. der Europäischen Kommission an der Normsetzung der ILO mit einer Schwächung der Sozialpartner einhergeht und zwar sowohl der nationalen Sozialpartner, weil diese gegenüber der Kommission nicht über gesicherte Anhörungsrechte im Rahmen des Festlegung der Position der EU in der ILO verfügen, als auch der europäischen Sozialpartner, weil diesen bislang keine Rolle bei der Normsetzung zukommt.201 Die Unmittelbarkeit der Beziehungen ist jedoch ein wesentliches Merkmal effektiver Konsultationen.202 Parallel zur Beteiligung der EU könnte daher überlegt werden, auch die repräsentativen203 europäischen Zusammenschlüsse der Sozialpartner, also den europäischen Gewerkschaftsbund ETUC204 sowie etwa die größte205 europäische Vereinigung der Arbeitgeberverbände BUSINESSEUROPE, am Normsetzungsprozess stärker zu beteiligen, sofern Bereiche betroffen sind, die von unionsrechtlichen Regelungsbereichen erfasst sind.206 Bislang ist zumindest eine Institutionalisierung einer solchen Beteiligung nicht der Fall207 und auch nicht geplant. Zwar findet auf tatsächlicher Ebene bereits ein nicht unerheblicher Austausch statt. Es ist aber zu beachten, dass die nationalen Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter bislang kein Interesse daran haben, Beteiligungsrechte an die europäischen Zusammenschlüsse zu übertragen, da sie durch

201

Zudem sind in vielen Mitgliedstaaten der EU die Gewerkschaften nicht nach dem Prinzip der Einheitsgewerkschaft in einer Spitzenorganisation organisiert. 202 Ähnlich Böhmert, Das Recht der ILO, S. 217 f. unter Hinweis auf Übk. Nr. 144. 203 Ein Gleichlauf mit den Kriterien des Art. 154 AEUV dürfte sinnvoll sein, zu diesen Franzen, in: Franzen/Gallner/Oetker, AEUV, Art. 154, Rn. 3 ff. Zum Erfordernis der Repräsentativität siehe EuG v. 17. Juni 1998 – T-135/96 (UEAPME/Rat), Rn. 89 ff. 204 Daneben existiert zumindest ein weiterer Zusammenschluss von Gewerkschaften auf europäischer Ebene, die „Europäische Union der Unabhängigen Gewerkschaften“ (CESI). 205 Franzen, in: Franzen/Gallner/Oetker, AEUV, Art. 154, Rn. 5. 206 Neben ETUC und BUSINESSEUROPE ist auch CEEP als europäischer Verband der öffentlichen Unternehmen sowie sektorale Verbände anerkannt, die wiederum soweit überprüfbar Mitglieder von ETUC, BUSINESSEUROPE oder CEEP sind. Die bislang von diesen Sozialpartnern vereinbarten und umgesetzten Rahmenvereinbarungen (Art. 155 Abs. 2 S. 1 Var. 3 AEUV) führen Löwisch/Rieble, TVG, Grundlagen, Rn. 465 unter Nennung der jeweiligen Parteien auf. 207 Böhmert, Das Recht der ILO, S. 217; Scheffler, Die Europäische Union als rechtlichinstitutioneller Akteur im System der Vereinten Nationen, S. 536.

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entsprechende Reformen Einschränkungen ihrer bisher starken Stellungen im tripartistischen System befürchten.208 Denkbar wäre aber, den europäischen Verbänden zumindest einen Beobachterstatus in der ILO zuzuerkennen. Ebenso verfügen bereits die International Trade Union Confederation (ITUC) und die International Organisation of Employers (IOE) über einen Beobachterstatus, der ihnen die Teilnahme an der IAK und den Sitzungen des Verwaltungsrates neben den Vertretern der nationalen Sozialpartner ermöglicht.209 Weder ETUC noch BUSINESSEUROPE sind Mitglieder in ihrem weltweit agierenden Äquivalent; es handelt sich um „parallele“ Zusammenschlüsse nationaler Spitzenorganisationen, die nur bei Bedarf zusammenarbeiten.210 Auch im System des Europarats ist aber ein Nebeneinander weltweiter und regionaler Dachverbände bekannt. Sowohl die IOE als auch BUSINESSEUROPE verfügen über einen Beobachterstatus im Regierungssozialausschuss der ESC.211 Die ETUC hat hingegen mit der ITUC vereinbart, dass erstere die Interessenvertretung in der EU und dem Europarat übernimmt, während ITUC auf universal-internationaler Ebene tätig wird, weshalb die ITUC im Europarat nicht tägig wird.212 Da auch hier Bedenken der internationalen Verbände der verschiedenen Ebenen erkennbar sind, dass sie sich gegenseitig in ihrer Arbeit behindern könnten, wäre der Beobachterstatus nur dann wahrzunehmen, wenn die Kommission in der IAK oder dem Verwaltungsrat tätig wird.

208

Wirtschafts- und Sozialausschuss, Initiativstellungnahme „Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Internationalen Arbeitsorganisation“ v. 25. Januar 1995, ABl. 1995 C 102, 7; Scheffler, Die Europäische Union als rechtlich-institutioneller Akteur im System der Vereinten Nationen, S. 539 unter Hinweis auf ein Gespräch mit einem Mitarbeiter der Kommission im Juni 2007. 209 Vgl. etwa IAA, Verwaltungsrat, 328th Session November 2016, Final list of persons attending the session, http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/@ed_norm/@relconf/docu ments/meetingdocument/wcms_533698.pdf, S. 35. 210 Vgl. die Aussagen auf den Websites der Organisationen, siehe https://www.etuc.org/ how-does-etuc-relate-international-trade-union-confederation-ituc zur Beziehung zwischen ITUC und ETUC und http://www.ioe-emp.org/working-at-regional-level/europe/ zur Beziehung zwischen IOE und BUSINESSEUROPE. 211 Vgl. Art. 27 Abs. 2 S. 1 ESC i. d. F. des Turin-Protokolls. 212 Vgl. Clauwaert, in: Bruun/Lörcher/Schömann/Clauwaert, The European Social Charter and the Employment Relation, S. 104.

C. Normbindung

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C. Normbindung I. Übereinkommen 1. Inkrafttreten von Übereinkommen, Notwendigkeit und Verfahren der Ratifizierung Für die Bindung eines Mitgliedstaates an ein Übereinkommen müssen zwei Kriterien erfüllt sein: Erstens muss der Mitgliedstaat das Übereinkommen ratifiziert haben. Zweitens muss das Übereinkommen in Kraft getreten sein. Das Abstimmungsverhalten der Regierungs-, Gewerkschafts- und Arbeitgebervertreter der IAK zum jeweiligen Übereinkommen spielt hingegen keine Rolle. Die Maßgaben des Inkrafttretens werden nicht durch die Verfassung, sondern durch das jeweilige Übereinkommen geregelt. Gemäß den seit der elften IAK im Jahr 1928 verwendeten Standard-Schlussbestimmungen tritt ein Übereinkommen zwölf Monate nach Eintragung mindestens zweier Ratifizierungen in Kraft.213 In besonderen Fällen wurde von dieser Standardklausel abgewichen. So bestimmt Art. VII Abs. 2 des Seerechtsübereinkommens von 2006, dass dieses erst zwölf Monate nachdem mindestens 30 Mitgliedstaaten, die zusammen über eine Bruttoraumzahl von mindestens 33 Prozent der Welthandelsflotte verfügen, das Übereinkommen ratifiziert haben, in Kraft tritt. Art. 19 Abs. 5 lit. d) ILO-Verfassung sieht vor, dass der Mitgliedstaat dem Generaldirektor die förmliche Ratifizierung mitteilt und die erforderlichen Maßnahmen zur Durchführung der Bestimmungen des betreffenden Übereinkommens trifft.214 Die Vorgaben zur Ratifizierung selbst ergeben sich aus den jeweiligen nationalen Verfassungsbestimmungen und -praktiken.215 2. Rechtsnatur der Übereinkommen Sowohl für Fragen der Auslegung als auch solche der potentiellen völkerrechtlichen Inkorporationsmechanismen in das Recht der EU216 ist entscheidend, wie die Mitgliedstaaten durch die Ratifizierung an die Übereinkommen gebunden werden.217 213 IAA, NORMES, Handbook of procedures, S. 18; Wisskirchen, ZfA 2003, 691, 697; Servais, International Labour Law, Rn. 107 f. 214 Zu den teilweise mit der Ratifizierung abzugebenden obligatorischen und fakultativen Erklärungen in verschiedenen Abkommen siehe IAA, Handbuch der Verfahren, S. 15 ff. 215 IAA, Handbuch der Verfahren, S. 15; Servais, International Labour Law, Rn. 118. 216 Hierzu unter Teil 3 C. und D. 217 In der Vergangenheit wurde den Abkommen vereinzelt auch sämtlicher Bindungscharakter abgesprochen, so etwa durch den ehemaligen Präsidenten des BAG, Gerhard Müller, der in seinem Gutachten für das BMAS den Übereinkommen der ILO ihren völkerrechtlichen Charakter absprach, siehe Müller, Arbeitskampf und Arbeitsrecht, insbesondere die Neutralität des Staates und verfahrensrechtliche Fragen. Dies kann jedoch schon aufgrund der Anerken-

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a) Keine „internationalen Gesetze“ Anders als teilweise angenommen wird, handelt es sich bei Übereinkommen nicht um „internationale Gesetze“.218 Ausgangspunkt dieser Ansicht bildet die Beteiligung der Nichtregierungsgruppen bei der Verabschiedung der Übereinkommen auf der IAK, welche in diesem Zusammenhang ein „internationales Arbeitsparlament“ bilden. Hierfür lässt sich anführen, dass weder die Regierungsvertreter noch die Vertreter der Sozialverbände einem Weisungsrecht unterliegen und somit – anders als die Vertreter in anderen internationalen Organisationen – ein freies Mandat ausüben.219 Ebenso wird für die Gesetzestheorie angeführt, dass Übereinkommen bereits vor Ratifizierung eine Bindung für die Mitgliedstaaten erzeugen, da diese den zuständigen nationalen Stellen vorgelegt werden müssen.220 Die Ratifizierung der Übereinkommen wird unter den Vertretern der Gesetzestheorie unterschiedlich eingeordnet. Gemeinsam ist den Theorien die Idee, dass der Ratifizierung nur die Funktion zukomme, den Übereinkommen innerstaatliche Wirkung zu verleihen, den Übereinkommen aber bereits vor beziehungsweise ohne Ratifizierung rechtlicher Gehalt zukomme.221 Gegen die Gesetzestheorien lässt sich jedoch zunächst anführen, dass die ILO als internationale Organisation keine Gesetze erlassen kann, sondern dies nur Staaten und im eingeschränkten Umfang supranationalen Organisationen wie der EU möglich ist. Letzterer steht die Möglichkeit zu, Normen zu verabschieden, die auch ohne das Erfordernis der Ratifizierung für ihre Mitgliedstaaten („normative“) Wirkung entfalten, die über bloße Vorlagepflichten hinausgeht.222 Diese Möglichkeit steht der ILO im Gegensatz zur EU gerade nicht zu. Gegen das Argument, dass Übereinkommen auch ohne eine Ratifizierung Wirkung entfalten, lässt sich zudem anführen, dass die Verpflichtung zur Vorlage nicht aus den Übereinkommen, sondern bereits aus der ILO-Verfassung folgt.

nung des völkerrechtlichen Charakters durch die Mitgliedstaaten und die Stellung als Sonderorganisation der UN nicht überzeugen, daher soll nicht weiter auf die Argumente Müllers eingegangen werden (ablehnend mit anderen Argumenten: Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 28). 218 Siehe Böhmert, Das Recht der ILO, S. 66 m. w. N. 219 Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 29. 220 Art. 19 Abs. 5 lit. b) ILO-Verfassung; Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 29 m. w. N. 221 Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 29 m. w. N. 222 I. E. so auch Zimmer, Soziale Mindeststandards und ihre Durchsetzungsmechanismen, S. 69.

C. Normbindung

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b) Kein internationales Recht sui generis Vereinzelt wird vertreten, dass Übereinkommen weder internationale Gesetze noch völkerrechtliche Verträge sind, sondern internationales Recht sui generis.223 Hiernach sollen die Übereinkommen zwar innerstaatlich als völkerrechtliche Verträge angesehen und wie solche umgesetzt werden, gegen eine Einordnung als völkerrechtliche Verträge sprächen jedoch das Fehlen des Erfordernisses der Einstimmigkeit beim Zustandekommen,224 Schwierigkeiten bei der Bestimmung der „Vertragsparteien“ des Übereinkommens sowie die Besonderheit, dass ILO-Übereinkommen nicht durch Staatenvertreter, sondern nur durch den Vorsitzenden der IAK sowie den Generaldirektor unterzeichnet werden müssen. Auch dies kann jedoch aus mehreren Gründen nicht überzeugen. Zunächst spricht gegen eine Einordnung als internationales Recht sui generis, dass durch diesen Begriff letztlich überhaupt keine Einordnung vorgenommen wird und alle wesentlichen Fragen offengelassen werden. Für eine Einordnung als Rechtsnorm sui generis fehlt zudem schlicht die Notwendigkeit. Vielmehr bietet das Recht der internationalen Verträge genügend Flexibilität, sodass einem Rückgriff auf ihre sonstigen Regeln grundsätzlich nichts entgegensteht.225 So bietet die WVK einer internationalen Organisation gerade die Möglichkeit, Abweichungen von ihren Regeln vorzunehmen, vgl. Art. 5 der WVK, nach dem sie „auf jeden Vertrag Anwendung [findet], der die Gründungsurkunde einer internationalen Organisation bildet, sowie auf jeden im Rahmen einer internationalen Organisation angenommenen Vertrag, unbeschadet aller einschlägigen Vorschriften der Organisation“.226 Die Abweichung vom Prinzip der Unterzeichnung durch alle Staatenvertreter lässt sich zudem bereits mit Art. 10 lit. a) WVK entkräften.227 Gemäß Art. 10 wird der Text eines Vertrags als authentisch und endgültig festgelegt, „[lit a)] nach dem Verfahren, das darin vorgesehen oder von den an seiner Abfassung beteiligten Staaten vereinbart wurde, oder [lit. b)], in Ermangelung eines solchen Verfahrens, durch Unterzeichnung, Unterzeichnung ad referendum oder Paraphierung des Ver223 Zimmer, Soziale Mindeststandards und ihre Durchsetzungsmechanismen, S. 69 f.; Zimmer, in: Schlachter/Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht, § 5, Rn. 18 die hier aber zum Ergebnis gelangt, dass sie letztlich doch „(weitgehend)“ wie völkerrechtliche Verträge auszulegen seien; Urmoneit, Internationale Kontrolle mitgliedstaatlicher Verpflichtungen im Bereich des Sozialrechts, S. 81; Nachweise für französischsprachige Quellen mit entsprechender Ansicht bei Böhmert, Das Recht der ILO, S. 67 f. 224 Urmoneit, Internationale Kontrolle mitgliedstaatlicher Verpflichtungen im Bereich des Sozialrechts, S. 78. 225 Im Ergebnis so auch Casale, in: FS Evju, S. 109, 111. 226 Schmalenbach, in: Dörr/Schmalenbach, WVK, Art. 5, Rn. 20 nennt neben der ILO die FAO, die WHO und den Europarat als Beispiele für Organisationen, die über entsprechende abweichende Regelungen verfügen. 227 Ähnlich Böhmert, Das Recht der ILO, S. 70 und Servais, International Labour Law, Rn. 174. Nicht-dispositive Regeln der WVK, wie etwa Nichtigkeit eines Vertrags wegen Zwang gegen einen Staat durch Androhung oder Anwendung von Gewalt, Art. 52 WVK sind nicht betroffen, vgl. auch Schmalenbach, in: Dörr/Schmalenbach, WVK, Art. 5, Rn. 18 und Rn. 20.

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tragswortlauts oder einer den Wortlaut enthaltenden Schlussakte einer Konferenz durch die Vertreter dieser Staaten.“ Da von der Möglichkeit in Art. 10 lit. a) Gebrauch gemacht wurde, ist es gerade nicht notwendig, dass alle Mitgliedsstaaten unterzeichnen. In den einschlägigen Kommentierungen wird für lit. a) das Verfahren der ILO sogar als einziges Beispiel angeführt.228 Für die Einordnung der Übereinkommen als völkerrechtliche Verträge spricht auch die Beteiligung der ILO an der Ausarbeitung der WVK. So nahm die ILO, vertreten durch Wilfried Jenks, nachweislich Einfluss auf den Vertragstext der WVK und hierbei insbesondere auf Art. 5 WVK.229 c) Einordnung als völkerrechtliche Verträge Richtigerweise handelt es sich bei Übereinkommen somit um völkerrechtliche Verträge,230 auf die die in der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK)231 kodifizierten völkergewohnheitsrechtlichen Regeln Anwendung finden, sofern sich aus der ILO-Verfassung keine Abweichungen ergeben.232

228

Hoffmeister, in: Dörr/Schmalenbach, Art. 10 WVK, Rn. 7. Leary, International Labour Conventions and National Law, S. 16; zu Art. 3 i. d. F. des Entwurfs, nun Art. 5 WVK führte Jenks laut Verlaufsprotokoll (United Nations Conference on the Law of Treaties Official Records, S. 36, abrufbar unter: http://legal.un.org/diplomaticconfe rences/lawoftreaties-1969/vol/english/1st_sess.pdf) aus: „The exception was equally important because there were cases in which an organization had special rules and a well-established body of practice governing conventions which created a body of international obligations more coherent, stable and better-adapted to requirements of the situation than could be secured by applying the more flexible provisions of the general law. The International Labour Organisation was responsible for 128 international labour conventions ratified by over 115 member States, […]. In some cases there was a clear incompatibility between ILO’s rules and practice and the provisions of the draft articles and a change in the former, which could not in any case operate retroactively in respect of conventions to which member States had already become parties, would be inconsistent with the Organisation’s constitutional structure and with the object of labour conventions. In other cases, the ILO’s rules and practice and the provisions of the draft articles could be rendered compatible only by a strained interpretation of the one or the other or by some artificial modification of the ILO’s existing rules, for which there was no particular need. In still other cases, in order to obtain a reasonable and equitable result, the draft articles would have to be read in the light of established ILO rules and practice“. 230 Leary, International Labour Conventions and national law, S. 10; Leinemann/Schütz, BB 1993, 2519; Peruzzo, NJW 1981, 496; Charnovitz, Max Planck Yearbook of United Nations Law 2000, 147, 171; Servais, International Labour Law, Rn. 174; Baccini/Koenig-Archibugi, „Why do states commit to international labour standards? The importance of ,rivalry‘ and ,friendship‘“, Political Science and Political Economy Working No. 1/2011, abrufbar unter: http://www.lse.ac.uk/government/research/resgroups/PSPE/pdf/PSPE_WP1_11.pdf; siehe auch die Angaben des IAA auf der Homepage der ILO, abrufbar unter: https://www.ilo.org/global/stan dards/introduction-to-international-labour-standards/conventions-and-recommendations/langen/index.htm. 231 UNTS Vol. 1155 S. 331. 232 Vgl. Art. 5 WVK. 229

C. Normbindung

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3. Beendigung der Bindung von Übereinkommen Die Bindung eines Übereinkommen kann durch Außerkraftsetzung für alle Mitgliedstaaten ohne deren Zutun beendet werden. Daneben ist es Mitgliedstaaten auch möglich, sich durch einseitige Erklärungen von der Bindung an ein Übereinkommen zu befreien. Zu diesem Zweck enthalten alle seit 1929 verabschiedeten Übereinkommen standardisierte Bestimmungen, die die Möglichkeit der Aufhebung und Kündigung des jeweiligen Übereinkommens vorsehen.233 a) Ablösung durch aktuellere Übereinkommen Nach einem Artikel der standartisierten Schlussbestimmungen234 gilt durch die Ratifizierung eines neuen Übereinkommens, welches das bisherige Übereinkommen explizit ablösen soll, das alte Übereinkommen mit sofortiger Wirkung als gekündigt. Das alte Übereinkommen kann zudem von keinem Mitgliedstaat mehr ratifiziert werden. Mitgliedstaaten, die das neue Übereinkommen (noch) nicht ratifiziert haben, bleiben weiterhin an das ursprüngliche Übereinkommen gebunden.235 b) Kündigung eines Übereinkommens Die standardisierten Bestimmungen ermöglichen den Mitgliedstaaten zudem die Kündigung des Übereinkommens ohne die Ratifizierung eines das alte Übereinkommen ersetzenden neuen Übereinkommens. Jedes Mitglied, das das Übereinkommen ratifiziert hat, kann es nach Ablauf von zehn Jahren ab dessen Ratifizierung und Inkrafttreten durch förmliche Mitteilung an den Generaldirektor kündigen. Die Kündigung wird ein Jahr nach der Eintragung durch den Generaldirektor wirksam.236 Sollte der Mitgliedstaat nicht binnen eines Jahres nach Verstreichen des Zehnjahreszeitraums von seinem Kündigungsrecht Gebrauch gemacht haben, bleibt es für weitere zehn Jahre gebunden.237 Es ist also nur alle zehn Jahre möglich, ein Übereinkommen mit einer Frist von einem Jahr zu kündigen.238 Die vor 1929 geschlossenen Übereinkommen Nr. 1 bis 25 enthalten keine einheitlichen Schlussvorschriften und allesamt nur Regelungen zur erstmaligen Möglichkeit der Kündigung (zum Beispiel nach fünf beziehungsweise zehn Jahren). Sie können heute jederzeit

233 Servais, International Labour Law, Rn. 84. Entsprechend kommen die Regeln der WVK gem. Art. 5, 54 lit. a), 56 WVK nicht zu Anwendung, vgl. Böhmert, Das Recht der ILO, S. 73. 234 Bspw. Art. 29 Abs. 1 Übk. Nr. 162. 235 Art. 29 Abs. 2 Übk. Nr. 162; zu den abweichenden Wirkungen eines Protokolls Servais, International Labour Law, Rn. 104. 236 Art. 25 Abs. 1 Übk. Nr. 162. 237 Art. 25 Abs. 2 S. 1 Übk. Nr. 162. 238 Art. 25 Abs. 2 S. 2 Übk. Nr. 162; zur Frage der Kündigung eines Übereinkommens durch einen EU-Mitgliedstaats wegen Verletzung von EU-Recht, siehe unter Teil 4 B.

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gekündigt werden,239 sofern der Mitgliedstaat nicht zwischenzeitlich Übereinkommen Nr. 80 oder Nr. 116 ratifiziert hat. Diese Übereinkommen dienten der Anpassung der Schlussbestimmungen der alten Übereinkommen entsprechend den jüngeren Standartklauseln. c) Außerkraftsetzung und Aufhebung von Übereinkommen Weder durch die Ablösung noch durch die Kündigung durch einzelne Mitgliedstaaten wird das Übereinkommen jedoch als solches beseitigt; es ist lediglich für den jeweiligen Mitgliedstaat nicht mehr verbindlich. Die Möglichkeit ein Übereinkommen zurückzunehmen, das beispielsweise als nicht mehr zeitgemäß erscheint, wurde allerdings zunehmend bedeutsamer. Aus diesem Grund entschloss sich die IAK 1997 zu einer Verfassungsänderung. Diese sollte es ermöglichen, veraltete Übereinkommen außer Kraft zu setzen und noch nicht in Kraft getretene Übereinkommen sowie Empfehlungen aufzuheben.240 Die Verfassungsänderung wurde jedoch wegen zunächst fehlender Ratifizierungen erst mit Wirkung zum 8. Oktober 2015 wirksam.241 Gemäß Art. 19 Abs. 9 ILO-Verfassung soll ein Übereinkommen außer Kraft gesetzt beziehungsweise aufgehoben werden, wenn es veraltet ist, wenn also „der Anschein besteht, dass das Übereinkommen seinen Zweck verloren hat oder nicht mehr einen nützlichen Beitrag zur Verwirklichung der Ziele der Organisation leistet“.242 Außerkraftsetzung und Aufhebung erfolgen durch ein Acte-contraire-Verfahren, das dem gleichen Prozedere folgt, wie es auch zur Verabschiedung eines Übereinkommens beziehungsweise einer Empfehlung einzuhalten ist.243 Auf dieser Grundlage wurden (jeweils basierend auf einem Beschlusses des Verwaltungsrates)244 auf der 106. IAK 2017245 sowie der 107. IAK 2018246 jeweils sechs Übereinkommen sowie mehrere Empfehlungen aufgehoben.247 239

Böhmert, Das Recht der ILO, S. 74. Art. 19 Abs. 9 ILO-Verfassung; IAA, IAK, 106th Session 2017, Report VII (1), S. 1; IAA, Handbuch der Verfahren, Rn. 6; Servais, International Labour Law, Rn. 84. 241 IAA, IAK, 106th Session 2017, Report VII (1), S. 1. 242 Art. 19 Abs. 9 ILO-Verfassung. 243 Servais, International Labour Law, Rn. 84. 244 IAA, Verwaltungsrat, 325th Session October-November 2015, Minutes, Rn. 32 ff. 245 Übk. Nr. 4 über die Nachtarbeit der Frauen; Übk. Nr. 15 über das Mindestalter (Kohlenzieher und Heizer); Übk. Nr. 28 über den Unfallschutz der Hafenarbeiter; Übk. Nr. 41 über die Nachtarbeit (Frauen) (abgeändert); Übk. Nr. 60 über das Mindestalter (nichtgewerbliche Arbeiten) (abgeändert); Übk. Nr. 67 über die Arbeitszeit und die Ruhezeiten (Straßentransport); vgl. auch van der Heijden, IOLR 2018, 203, 206. 246 Übk. Nr. 21 über die Vereinfachung der Aufsicht über die Auswanderer an Bord von Schiffen; Übk. Nr. 50 über die Regelung bestimmter Sonderverfahren der Anwerbung von eingeborenen Arbeitnehmern; Übk. Nr. 64 über die Regelung der schriftlichen Arbeitsverträge der eingeborenen Arbeitnehmer; Übk. Nr. 65 über die Strafvorschriften gegen Arbeitsvertragsbruch durch eingeborene Arbeitnehmer; Übk. Nr. 65 über die Höchstdauer der Arbeitsverträge der eingeborenen Arbeitnehmer; Übk. Nr. 104 über die Abschaffung von Strafvor240

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Geplant ist zudem die Außerkraftsetzung acht weiterer Übereinkommen sowie die Aufhebung von neun Übereinkommen und elf Empfehlungen auf der 109. IAK 2021, die allesamt das Seearbeitsrecht betreffen und durch das Seearbeitsübereinkommen normativ „konsumiert“ wurden.248 Der Verwaltungsrat hat zudem die Außerkraftsetzung des Übereinkommen Nr. 34 über Büros für entgeltliche Arbeitsvermittlung für die Tagesordnung der 110. IAK 2021 – nun auf 2022 verschoben – sowie des Übereinkommens Nr. 96 über Büros für entgeltliche Arbeitsvermittlung für die Tagesordnung der 119. IAK 2030 vorgesehen.249 4. Zeitgemäße, Interim-Status- und veraltete Übereinkommen Bereits vor Inkrafttreten der Verfassungsänderung zur Außerkraftsetzung und Aufhebung von Übereinkommen wurde offensichtlich, dass die weltweiten gesellschaftlichen Veränderungen in den vergangenen 100 Jahren auch Auswirkungen auf die Aktualität der Übereinkommen der ILO haben mussten. So überrascht es wenig, dass Übereinkommen wie das Übereinkommen Nr. 4 über die Nachtarbeit der Frauen von 1919, das diese streng reglementierte und größtenteils verbot, nicht mit einem modernen Verständnis von Arbeitsrecht – und ebenso wenig mit den Wertungen des Übereinkommens Nr. 111 – vereinbar sind.250 Von März bis April 1995 richtete der Verwaltungsrat daher eine Arbeitsgruppe („Cartier-Arbeitsgruppe“) ein und beauftragte sie mit der Überprüfung aller Übereinkommen und Empfehlungen.251 Die Arbeitsgruppe schloss ihre Arbeiten im März 2002 ab. Sie formulierte eine beträchtliche Anzahl an Vorschlägen, die vom Verwaltungsrat einstimmig angenommen wurden.252 Insgesamt wurden vom Verwaltungsrat auf Grundlage der Cartier-Berichte Beschlüsse zu 183 Übereinkommen und schriften gegen Arbeitsvertragsbruch durch eingeborene Arbeitnehmer; Empfehlung Nr. 7 betreffend die Begrenzung der Arbeitszeit in der Fischerei; Empfehlung Nr. 61 betreffend Anwerbung, Arbeitsvermittlung und Arbeitsbedingungen der Wanderarbeiter; Empfehlung Nr. 62 betreffend die zwischenstaatliche Zusammenarbeit hinsichtlich der Anwerbung, der Arbeitsvermittlung und der Arbeitsbedingungen der Wanderarbeiter. 247 Zu weitergehenden Überlegungen des Verwaltungsrats IAA, Verwaltungsrat, 334th Session 2018, Doc GB.334/INS/2/1, Appendix II. 248 Es handelt sich um Übk. Nr. 8, Nr. 9, 16, 53, 73, 74, 91 und Nr. 145, die außer Kraft gesetzt werden sollen sowie Übk. Nr. 7, Nr. 54, Nr. 57, Nr. 72, Nr. 76, Nr. 93, Nr. 109, Nr. 179 und Nr. 180 und die Empfehlungen Nr. 27, Nr. 31, Nr. 49, Nr. 107, Nr. 137, Nr. 139, Nr. 153, Nr. 154, Nr. 174, Nr. 186 und Nr. 187, vgl. IAA, IAK, 109th Session 2021, Report VII A (1). 249 IAA, Verwaltungsrat, 337th Session 2019, Doc GB.337/INS/2(Add.1). 250 Siehe auch unter Teil 4 B. II. 251 Vgl. Wisskirchen, ILR 2005, 253, 262. 252 IAA, Working Party on Policy regarding the revision of standards (Cartier Working Party), Follow-up decisions by the Governing Body Information note on the progress of work and decisions taken concerning the revision of standards (updated in June 2002), abrufbar unter: http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/–ed_norm/–normes/documents/genericdocument/ wcms_125644.pdf, Rn. 1.

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Teil 1: Die Normen der ILO

191 Empfehlungen gefasst.253 Hierbei stellte sich heraus, dass nur 71 Übereinkommen und 73 Empfehlungen als zeitgemäß betrachtet werden konnten.254 54 Übereinkommen sowie 67 Empfehlungen waren hingegen klar veraltet.255 Die verbleibenden Übereinkommen und Empfehlungen können nach Ansicht der Cartier-Gruppe durch umfassende Überarbeitung auf neuesten Stand gebracht werden (sogenannter Interim-Status).256 Auch im Rahmen des Standard Review Mechanism (SRM) findet derzeit eine Überprüfung der Übereinkommen und Empfehlungen statt.257 Ausweislich des Mandats der tripartistisch besetzen Arbeitsgruppe soll diese unter anderem Empfehlungen an den Verwaltungsrat ausarbeiten, in denen der Status aller Normen, einschließlich der 2002 als zeitgemäß betrachteten Normen, (erneut) überprüft werden.258 Dieser Vorgang ist derzeit noch nicht abgeschlossen. So muss die SRMTWG noch 67 der 235 zur Überprüfung stehenden Instrumenten klassifizieren.259 Hiervon werden zehn Instrumente im Rahmen des bevorstehenden 6. Treffens noch bis Ende 2020 überprüft.260 Es ist aber zu erwarten, dass Änderungen an der Einstufung mancher Übereinkommen und Empfehlungen vorgenommen werden.

II. Empfehlungen Empfehlungen können nicht ratifiziert werden, sondern geben Leithilfen in Bezug auf Politik, Gesetzgebung und Praxis.261 Empfehlungen werden heute zumeist ergänzend oder erklärend zu Übereinkommen verwendet, etwa als Leitfäden zur 253 Ibid., Rn. 3: Die Gruppe gelangte zu keinen Schlussfolgerungen zu zwei Rechtsakten: zum Übk. Nr. 158 über die Beendigung der Beschäftigung (1982) und zur Empfehlung Nr. 166. 254 Ebert/La Hovary, in: Wolfrum, MPEPIL, Labour Law, International, Stand: Januar 2013, Rn. 6. 255 Wisskirchen, ILR 2005, 253, 262; Weiss, in: FS Richardi, S. 1093, 1097. 256 Weiss, in: FS Richardi, S. 1093, 1097; Hepple, Labour Laws and Global Trade, S. 63. 257 Zu den Ergebnissen der ersten Treffen der SRM-TWG IAA, Verwaltungsrat, 329th Session 2017, Doc GB.329/LILS/2, Rn. 7 ff.; zur Planung des Vorgehens der Überprüfung siehe IAA, Verwaltungsrat, 334th Session 2018, Doc GB.334/INS/5. 258 Siehe IAA, Terms of reference for the Standards Review Mechanism Tripartite Working Group, abrufbar unter: http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/–ed_norm/–normes/docu ments/genericdocument/wcms_450466.pdf, Rn. 9. 259 IAA, Verwaltungsrat, 335th Session March 2019, Doc GB.335/INS/5, The Standards Initiative: Overall review of its implementation, Rn. 13; sodann acht weitere Instrumente im Rahmen des 5. Treffens, IAA, Verwaltungsrat, 337th Session 2019, Doc GB.337/LILS/1, The Standards Initiative: Report of the fifth meeting of the Standards Review Mechanism Tripartite Working Group. 260 IAA, Verwaltungsrat, 337th Session 2019, Doc GB.337/LILS/1, The Standards Initiative: Report of the fifth meeting of the Standards Review Mechanism Tripartite Working Group, Rn. 5 und IAA, Verwaltungsrat, 337th Session 2019, Doc GB.337/Decisions. 261 IAA, Handbuch der Verfahren, S. 2.

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Umsetzung oder zur (rechtlich unverbindlichen) Konkretisierung der Vorgaben.262 Es handelt sich um bloße Absichtserklärungen.

III. Erklärungen Eine Sonderstellung innerhalb des Normgefüges der ILO kommt den Erklärungen (declarations) zu.263 Zu diesen zählen die Erklärung von Philadelphia von 1944, die Erklärung über grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit von 1998, die dreigliedrige Grundsatzerklärung über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik von 1977, zuletzt 2017 geändert, die Erklärung über soziale Gerechtigkeit für eine faire Globalisierung von 2008264 sowie die auf der 108. IAK 2019 verabschiedeten Centenary-Erklärung.265 Während die Erklärung von Philadelphia 1946 als Annex zu Art. 1 Bestandteil der Verfassung wurde,266 stellt sich für die anderen genannten Erklärungen die Frage nach ihrer Rechtsnatur und Bindungswirkung. Trotz der hohen Zustimmungsraten bei der Abstimmung über die Annahme der Erklärungen in der IAK sind sie für die Mitgliedstaaten rechtlich unverbindlich.267 Ihnen kommt nur ein empfehlender Charakter zu. Sie können und müssen nicht ratifiziert werden.268 Das bedeutet allerdings erstens nicht, dass dem Inhalt der Erklärungen nicht durchaus verbindlicher Charakter zukommen kann, wenn dieser etwa bereits durch die Verfassung geschützt wird. So ist anerkannt, dass die vier Kernarbeitsnormen bereits in der Präambel der ILO-Verfassung sowie der Erklärung von Philadelphia

262

S. 79 f.

Stübig, Flexibilität und Legitimität in der ILO, S. 106; Böhmert, Das Recht der ILO,

263 Nicht zu verwechseln mit den Resolutionen/Entschließungen der IAK, die zum Teil zur Entscheidung von Sachfragen verabschiedet werden (etwa zu Abkommen über die Beziehung zu anderen Organisationen), zum Teil aber auch inhaltliche Fragen behandeln, vgl. auch Van der Heijden, IOLR 2018, 203, 207. Die Decent Work in Global Supply Chains Resolution der 105. IAK 2016 hat bisher nur wenig Beachtung gefunden und ist rechtlich unverbindlich. 264 Weitere Erklärungen sind etwa der Globaler Beschäftigungspakt von 2008 und die Erklärung der Europäischen Regionalkonferenz von Oslo über die Wiederherstellung von Vertrauen in Beschäftigung und Wachstum von 2013. 265 IAA, IAK, 108th Session 2019, Report IV – ILO Centenary Declaration, S. 5. 266 Laut Servais, International Labour Law, Rn. 198 wurde Weg gewählt eine Erklärung zu verabschieden, die die Verfassung ändert, statt die Verfassung direkt zu ändern, um die Fristen für eine Verfassungsänderung zu umgehen „so that ILO could make ist voice heard in the new United Nations system.“ 267 So auch der vorbereitende Bericht des IAA, vgl. IAA, IAK, 86th Session 1998, Report VII, Abschnitt III, S. 6 ff. Für die Organe der Organisation nimmt das IAA hingegen eine Bindung an. 268 Wisskirchen, ILR 2005, 253, 267; zudem erfolgte die Annahme der Erklärung auf der 86. IAK 1998 ohne Gegenstimme.

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verankert sind.269 Hierauf deutet auch die Erklärung von 1998 hin, nach der „alle Mitglieder, auch wenn sie die betreffenden Übereinkommen nicht ratifiziert haben, allein aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der Organisation“ verpflichtet sind, die Kernarbeitsnormen „in gutem Glauben und gemäß der Verfassung einzuhalten, zu fördern und zu verwirklichen“.270 Zweitens ergibt sich aus den Erklärungen eine Rangordnung der Übereinkommen im Verhältnis zueinander. Dies betrifft insbesondere die acht Übereinkommen, welche die vier in der Erklärung über die grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit genannten Verfassungsprinzipen konkretisieren und inzwischen als die zentralen Übereinkommen der ILO angesehen werden können.271 Die hervorgehobene Stellung äußerst sich zunächst in rechtlicher Hinsicht. So müssen die Mitgliedstaaten dem Sachverständigenausschuss über die Einhaltung der acht Übereinkommen weitaus häufiger berichten als über die Einhaltung anderer von ihnen ratifizierten Übereinkommen.272 Die Bedeutung der acht Übereinkommen zeigt sich auch in Hinblick auf ihren geografischen Geltungsbereich. So weisen die acht Übereinkommen eine gegenüber den sonstigen Übereinkommen deutlich erhöhte Ratifizierungsrate auf. Übereinkommen Nr. 182 ist durch alle Mitgliedstaaten der ILO ratifiziert worden.273 Die Spaltung in zentrale Übereinkommen (die acht Kernarbeitsnormen), wichtige Übereinkommen (die vier in der Erklärung über soziale Gerechtigkeit für eine faire Globalisierung in Bezug genommenen Governance-Übereinkommen) und die sonstige Übereinkommen ist auch außerhalb der ILO spürbar geworden.274 So verweisen viele bi- und multilaterale Handels- und Investitionsschutzabkommen auf die acht Übereinkommen.275 Ebenso nehmen etwa der UN Global Compact, die ISO 269

Wisskirchen, ILR 2005, 253, 267; Zimmer, Soziale Mindeststandards und ihre Durchsetzungsmechanismen, S. 70; Böhmert, Das Recht der ILO, S. 42. 270 Nr. 2 der Erklärung. 271 Es handelt es sich um das Übk. Nr. 87 (Vereinigungsfreiheit und Schutz des Vereinigungsrechtes), Nr. 98 (Vereinigungsrecht und Recht zu Kollektivverhandlungen), Nr. 29 (Zwangsarbeit, zu beachten auch das dazugehörige Protokoll von 2014), Nr. 105 (Abschaffung der Zwangsarbeit), Nr. 100 (Gleichheit des Entgelts), Nr. 111 (Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf), Nr. 138 (Mindestalter), Nr. 182 (Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit). Auch der EuGH konkretisiert den Inhalt der Grundrechte der Grundrechtecharta und der allgemeinen Grundsätze anhand des Inhalt von Richtlinien, so etwa in EuGH v. 12. Juni 2014 – C-118/13 (Bollacke) den Inhalt von Art. 31 Abs. 2 GRCh anhand des Inhalts von Art. 7 RL 2003/88/EG. 272 Hierzu unter Teil 1 D. I. 1. a) dd). 273 Am 4. August 2020 hinterlegte Tonga die Ratifizierungsurkunde bei dem Generaldirektor der ILO, siehe unter: https://www.ilo.org/global/about-the-ilo/newsroom/news/WCMS_ 749858/lang-en/index.htm. 274 Casale, in: FS Evju, S. 109, 111. 275 Hierzu statt vieler: Agusti-Panareda/Ebert/LeClercq, CLLPJ 2015, 347; „instruktiv“ mit Blick auf das Vorhaben der von der Leyen-Kommission, die Durchsetzung der in Bezug genommenen Sozialstandards zu verbessern Bronckers/Gruni, CMLR 2019, 1591 ff.

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26000,276 die OECD-Guidelines oder die dreigliedrige Grundsatzerklärung über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik der ILO Bezug auf die Kernarbeitsnorm-Übereinkommen.277 Ebenso wie die Erklärung über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit sind auch die Erklärung über soziale Gerechtigkeit für eine faire Globalisierung von 2008 sowie die dreigliedrige Grundsatzerklärung über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik278 selbst rechtlich unverbindlich. Letztere wurde 1977 vom Verwaltungsrat angenommen und zuletzt im März 2017 geändert.279 Sie geht auf die steigende Zahl von Konzernen in den 1960er/1970er Jahren zurück,280 deren weltweite Tätigkeiten neue Fragen der internationalen Regulierung aufwarfen. Ziel der Erklärung ist, diese Unternehmen zu ermutigen, einen Beitrag zum wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Beteiligten im Rahmen der Globalisierung zu leisten.281 Die Erklärung richtet sich sowohl an die Mitgliedstaaten als auch an die multinationalen Unternehmen direkt. Schon in der Erklärung selbst ist aber klargestellt, dass ihre Befolgung freiwillig erfolgt.282 Im Anhang der Erklärung findet sich eine Liste von Übereinkommen und Empfehlungen, „die für die Erklärung von Bedeutung sind“.283 Die Liste beinhaltet alle Übereinkommen und Empfehlungen der Kernarbeitsnormen.284

276 Zu den Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen der ISO und der ILO sowie der am 8. März 2019 wirksam gewordenen Kündigung des Abkommens über die Zusammenarbeit der Organisationen auf dem Gebiet des Arbeitsschutzes Thau, NZA-Beilage 2019, 13, 16. 277 Mit Blick auf Deutschland ist zudem erwähnenswert, dass auch eine Reihe von LänderVergabegesetzen Bezug auf die Kernarbeitsnormen nehmen, siehe etwa § 11 des Gesetzes über die Vergabe öffentlicher Aufträge in Mecklenburg-Vorpommern vom 7. Juli 2011 (GVOBl. MV S. 411), zuletzt geändert durch Zweites ÄndG vom 21. Dezember 2015 (GVOBl. M-V S. 587); § 2a des Landesgesetzes zur Gewährleistung von Tariftreue und Mindestentgelt bei öffentlichen Auftragsvergaben (Rheinland-Pfalz) vom 1. Dezember 2010 (GVBl. S. 426), zuletzt geändert durch Art. 1 Zweites ÄndG vom 8. März 2016 (GVBl. S. 178); zu den unionsrechtlichen Vorgaben siehe Teil 4 F. II.5. 278 IAA, Dreigliedrige Grundsatzerklärung über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik; zuletzt geändert durch IAA, Verwaltungsrat, 329th Session March 2017, GB.329/POL/ 7, Rn. 5; zu den Hintergründen der Änderungen: GB 313/POL/9 (Rev.), S. 4 ff. 279 Ibid. 280 Servais, International Labour Law, Rn. 199. 281 Ibid., Rn. 201. 282 Ibid.; Kocher, AVR 2019, 183. 283 IAA, Dreigliedrige Grundsatzerklärung über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik, S. 19. 284 Servais, International Labour Law, Rn. 200.

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Teil 1: Die Normen der ILO

D. Überwachung der Einhaltung der Normen Die bloße Existenz einer „verbindlichen“ Norm führt nicht automatisch zu ihrer Einhaltung. So ist etwa auch die Einhaltung einer strafrechtlichen Norm nur bedingt von der Androhung der Strafe und dem Strafrahmen abhängig. Vielmehr hängt die Einhaltung primär von anderen Faktoren wie Präventionsmaßnahmen und der Aufklärungsquote ab. Ohne die konkrete Gefahr der Überführung des „Täters“ läuft eine Norm ins Leere.285 All dies trifft auch auf die Normen der ILO zu: Würde sich die ILO auf die Verabschiedung von Übereinkommen beschränken und eine Verletzung der Pflichten aus Verfassung und Übereinkommen nicht aufdecken und maßregeln, würde die Hemmschwelle bei vielen Staaten sinken, internationale Standards zu missachten.286 Entsprechend war die Überwachung der Einhaltung der Pflichten der Mitgliedstaaten schon im Versailler Vertag vorgesehen und wird bis heute kontinuierlich weiterentwickelt und sich verändernden sozialen, wirtschaftlichen und technischen Bedingungen angepasst.287 Die Überwachungsverfahren lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: regelmäßige Kontrolle und anlassbezogene Kontrolle. Obwohl beide Verfahren bereits in der ILO-Verfassung vorgesehen sind,288 ist (anders als etwa bei einem Großteil der UNMenschenrechtspakte)289 in der Verfassung kein spezielles Organ vorgesehen, welches die Einhaltung der Übereinkommen überprüft.

I. Regelmäßige Kontrolle durch Überprüfung der Staatenberichte Ausgangpunkt des regelmäßigen Überwachungsverfahrens bilden mehrere Berichtspflichten der Mitgliedstaaten. Art. 22 der ILO-Verfassung regelt die Pflicht zur Vorlage von Berichten über die Umsetzung ratifizierter Übereinkommen. Gem. Art. 19 Abs. 5 ILO-Verfassung muss ein Mitgliedstaat zudem nicht ratifizierte Übereinkommen der oder den nationalen Stellen der Gesetzgebung vorzulegen, in 285

Joecks, in: MüKoStGB, Einl., Rn. 72. Zu den politikwissenschaftlichen Theorien der compliance von Staaten mit internationalem Recht Hofmann, Internationale Sozialstandards, S. 263 ff., siehe zudem S. 269 ff. zum Ansatz des transnationalen Rechtsprozesses. 287 Auch derzeit wird das Überwachungsverfahrens im Rahmen der Arbeiten der SRMTWG überarbeitet. Die Überarbeitung des Überwachungssystems ist auch eines der Ziele der centenary initiatives, siehe: http://www.ilo.org/global/about-the-ilo/history/centenary/ WCMS_472742/lang-en/index.htm. 288 Etwa die Berichtserstattungspflichten nach Art. 19 Abs. 5, 22, 23 und 35 ILO-Verfassung und die Beschwerde- und Klageverfahren, Art. 24 ff. ILO-Verfassung, vgl. auch Keller, in: Wolfrum, MPEIL, Reporting Systems, Stand: Juni 2009, Rn. 32; Hofmann/Schuster, AVR 2013, 483, 492. 289 Hofmann/Schuster, AVR 2013, 483, 492. 286

D. Überwachung der Einhaltung der Normen

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deren Zuständigkeitsbereich das Übereinkommen fällt.290 Gleiches gilt für die Vorlage von Empfehlungen nach Art. 19 Abs. 6 lit. d) ILO-Verfassung.291 Über diese Vorlagepflichten muss der Mitgliedstaat ebenfalls Bericht erstatten.292 Daneben existieren besondere Berichtsmodi, etwa zur Umsetzung der Inhalte der Kernarbeitsnormen oder zur dreigliedrigen Erklärung über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik.293 Zunächst waren die Berichte der Mitgliedstaaten zu jeder Sitzung der IAK fällig, was mit steigender Zahl an Mitgliedern und Übereinkommen impraktikabel wurde. Daher wurden die Berichte zu den Übereinkommen der Kernarbeitsnormen sowie den vier Governance-Übereinkommen grundsätzlich alle drei Jahre sowie für alle weiteren Übereinkommen bislang grundsätzlich alle fünf Jahre fällig.294 Die Übereinkommen wurden hierzu thematisch geordnet und können so gruppiert im Drei- bzw. Fünfjahresrhythmus überprüft werden.295 Auf Grundlage entsprechender Vorschläge der SRM-TWG wurde der Berichtszyklus für die sonstigen Übereinkommen seit 2019 von fünf Jahren auf sechs Jahre verlängert werden.296 1. Überprüfung durch den Sachverständigenausschuss Die regelmäßige Kontrolle der Staatenberichte war ursprünglich als flankierende Maßnahme zur Erleichterung der Klage- und Beschwerdeverfahren nach Art. 408

290 Diese Pflicht besteht für die Mitgliedstaaten ab einem Jahr nach Verabschiedung des jeweiligen Übereinkommens durch die IAK, also unabhängig von dessen Inkrafttreten; zum Umfang dieser Berichtspflicht Waas, AVR 2019, 123, 133. 291 Zimmer, Soziale Mindeststandards, S. 63. 292 Seit kurzem hat der Sachverständigenausschuss sein Vorgehen bei Verstößen gegen die Vorlagepflicht formalisiert. So wird ein Mitgliedstaat bei einem erstmaligen Verstoß im Bericht erwähnt („the Committee will note“), im zweiten Jahr mit einem Zusatz der Enttäuschung erwähnt („the Comittee will note with regret“), im dritten Jahr mit einem gesteigerten Zusatz („the Committee will note with deep regret“) und dem Hinweis, dass der Sachverständigenausschuss die Einhaltung des Übereinkommens im Folgejahr auch ohne Staatenbericht überprüfen wird, IAA, IAK, 108th Session 2019, Report III (Part A), Report of the CEACR, General Report Rn. 10, siehe auch Rn. 53 ff. 293 Zimmer, Soziale Mindeststandards, S. 63. 294 IAA, IAK, 105th Session 2016, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 1, Fn. 2; zur Historie siehe unter Teil 1 D. I. 1. a) dd); die SRM-TWG regt an, diesen Zyklus auf sechs Jahre zu verlängern, vgl. IAA, IAK, 108th Session 2019, Provisional Record of Proceedings, 5 A (Part 1), Rn. 58. 295 IAA, IAK, 105th Session 2016, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 1 Fn. 2. 296 Siehe hierzu die Übersicht für die Jahre 2019 – 2025 unter IAA, Verwaltungsrat, 335th Session March 2019, Doc GB.335/INS/5, Rn. 52; vgl. auch IAA, Governing Body, 334th Session October-November 2018, GB.334/PV, Minutes, Rn. 189 ff.; siehe auch IAA, IAK, 107th Session 2018, Report III (Part A), Report of the CEACR, General Report, Rn. 2; IAA, IAK, 108th Session 2019, Report III (Part A), Report of the CEACR, General Report, Rn. 9; Waas, AVR 2019, 123, 133.

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Teil 1: Die Normen der ILO

Versailler Vertrag bzw. Art. 24 ff. ILO-Verfassung gedacht.297 Sie ist über die Jahrzehnte jedoch zum zentralen Überwachungsinstrument der ILO gewachsen, dessen Bedeutung die des Klage- und Beschwerdeverfahrens bei weitem übersteigt.298 a) Entwicklung des Sachverständigenausschusses aa) 1926 – 1939: Einrichtung des Sachverständigenausschusses und erste Erfolge Bis zur Einrichtung des Sachverständigenausschusses war es die Aufgabe der IAK, die von den Mitgliedstaaten eingereichten Berichte zu überprüfen. Diese Aufgabe konnte aber durch eine jährlich einberufene, tripartistische Konferenz, die sich insbesondere zum damaligen Zeitpunkt primär mit der Erarbeitung neuer Standards und der Aufnahme neuer Mitglieder befasste, nicht effektiv ausgeübt werden.299 Wenig überraschend ist es daher, dass bereits auf der achten Arbeitskonferenz 1926, also knapp fünf Jahre nach praktischer Aufnahme der Kontrolltätigkeit, die IAK den Normanwendungsausschuss einrichtete. Zudem strebte die IAK in einer Resolution die Einrichtung eines Sachverständigenausschusses durch den Verwaltungsrat an.300 Dessen Aufgabe sollte in der Auswertung und Erläuterung der von den Mitgliedstaaten eingereichten Berichte liegen.301 Für die Erstellung eines solchen „technischen“ Berichts wurde eine tripartistische Besetzung für hinderlich erachtet, da die „politische“ Bewertung der Sachverhalte dem Normanwendungs-

297 IAA/Koroma/van der Heijden, Verwaltungsrat, 326th Session March 2016, Review of ILO Supervisory Mechanism, Doc GB.326/LILS/3/1, S. 13; Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 63. 298 Ibid. Hauptgrund dieser Verschiebung dürfte laut Maupain, IOLR 2013, S. 117, 152 gewesen sein, dass das in der Verfassung vorgegebene System der ILO in praktischer Hinsicht nicht durchführbar war. Hierfür fehlte es laut Maupain insbesondere in der Frühphase an strukturellen und personellen Kapazitäten der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände auf internationaler und nationaler Ebene, die es ihnen ermöglicht hätten, Beschwerde- und Klageverfahren gegen all jene Mitgliedstaaten anzustrengen, die ratifizierte Übereinkommen nicht einhielten. Gleiches traf laut Maupain auf einen Großteil der für die ILO zuständigen diplomatischen Vertretungen zu, die ebenfalls nicht über die heutigen technischen Möglichkeiten verfügten. Ohne das regelmäßige Verfahren, durch welches – trotz in vielen Ländern fehlender autonomer Gewerkschafts- und Arbeitgeberverbände – Probleme bei der Umsetzung ratifizierter Übereinkommen schnell erkannt werden konnten, wäre laut Maupain die Normüberwachung und somit die ILO zum Scheitern verurteilt gewesen. 299 IAA, IAK, 103th Session 2014, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, deutsche Fassung, S. 2. 300 IAA, IAK 8th Session 1926, Record of Proceedings S. 249; Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 54 ff.; IAA/Koroma/van der Heijden, Verwaltungsrat, 326th Session March 2016, Review of ILO Supervisory Mechanism, Doc GB.326/LILS/3/1, S. 13. 301 Gitzel, Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 61; IAA, IAK 8th Session 1926, Record of Proceedings S. 398: The ILC „would be advised as to the facts by this technical experts Committee“.

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ausschuss vorbehalten bleiben sollte.302 Entsprechend sollte der Sachverständigenausschuss mit Experten auf dem Gebiet des Arbeitsrechts besetzt werden, deren persönliche und sachliche Unabhängigkeit die Neutralität und Objektivität der Berichte garantieren sollte.303 Bis heute bilden Unabhängigkeit und fachliche Expertise die wesentlichen Voraussetzungen für eine Benennung als Mitglied des Sachverständigenausschusses durch den Verwaltungsrat.304 Die Kompetenzen des Sachverständigenausschusses waren zu Beginn allerdings sehr eng gefasst worden. So einigte sich das mit der Ausarbeitung der Resolution der IAK305 beauftragte Komitee darauf, dass dem Sachverständigenausschuss keine „gerichtliche“ oder „quasi-gerichtliche“ Funktion zukommen sollte.306 Seine Aufgabe wurde stattdessen, wie bereits erwähnt, in der Erstellung eines „technischen“ Berichts gesehen, der dem Generaldirektor vorzulegen war und die IAK gegebenenfalls auf unterschiedliche Auslegungen eines Übereinkommens aufmerksam machen sollte.307 Auf Grundlage dieses Mandats erfolgte die Einrichtung des Sachverständigenausschuss noch im gleichen Jahr.308 Seit 1926 befasst sich der Sachverständigenausschuss jährlich mit der Überprüfung der Berichte. Für die 110. IAK 2020 verfasste er von November bis Dezember 2019 seinen 90. Bericht.309 Dieser wurde aufgrund der pandemiebedingten Aussetzung der IAK im Jahr 2020 erstmals losgelöst von einer Internationalen Arbeitskonferenz veröffentlicht. Für das Mandat des Sachverständigenausschusses ist aus diesem Zeitraum zudem ein Beschluss des Normanwendungsausschusses bedeutend, in welchem er zu den unterschiedlichen Aufgaben der Ausschüsse Stellung bezog.310 In diesem zeigten 302 Siehe IAA, IAK 8th Session 1926, Record of Proceedings S. 398; siehe auch Bellace, AVR 2019, 153, 166. 303 Ibid. 304 Siehe IAA, IAK, 108th Session 2019, Report III (Part A), Report of the CEACR, General Report, Rn. 39; IAA/Koroma/van der Heijden, Verwaltungsrat, 326th Session March 2016, Review of ILO Supervisory Mechanism, Doc GB.326/LILS/3/1, S. 14; der Sachverständigenausschuss ist bei seiner Arbeit an die Grundsätze der Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Objektivität gebunden, siehe zu den Auswahlkriterien Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 76; IAA, IAK, 103th Session 2014, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 2. 305 Diese bildete die Grundlage des Beschlusses des Verwaltungsrates. 306 IAA/Koroma/van der Heijden, Verwaltungsrat, 326th Session March 2016, Review of ILO Supervisory Mechanism, Doc GB.326/LILS/3/1, S. 13. 307 IAA, Verwaltungsrat, 30th Session January 1926, Minutes, S. 56; IAA/Koroma/van der Heijden, Verwaltungsrat, 326th Session March 2016, Review of ILO Supervisory Mechanism, Doc GB.326/LILS/3/1, S. 13; Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 60. 308 Seine endgültige Bezeichnung Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations trägt der Ausschuss seit 1949, zu den vorherigen Namen ebenfalls: Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 64 f. 309 Vgl. IAA, IAK, 108th Session 2019, Report III (Part A), Report of the CEACR, General Report, Rn. 1: The CEACR „held its 89th Session […] from 21 November to 8 December 2018“. 310 IAA/Koroma/van der Heijden, Verwaltungsrat, 326th Session March 2016, Review of ILO Supervisory Mechanism, Doc GB.326/LILS/3/1, S. 14.

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sich die Mitglieder des Normanwendungsausschusses der IAK 1939 darin einig, dass der Auftrag des Sachverständigenausschusses darauf beschränkt sei, die ihm zur Verfügung gestellten Dokumente zu überprüfen, während der Normanwendungsausschuss als tripartistisch besetztes Gremium in einer besseren Position sei, die Richtigkeit der Angaben zu überprüfen und insbesondere mit der tatsächlichen Situation in den Mitgliedstaaten abzugleichen.311 Diese Aussage steht allerdings in dem Kontext, dass es dem Sachverständigenausschuss zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich war, mittels direct requests312 in einen Dialog mit den Mitgliedstaaten zu treten.313 bb) 1944 – 1961: Erweiterung des Mandats Im Nachgang der Erklärung von Philadelphia von 1944 nahm die ILO auch eine Überarbeitung ihres Überwachungssystems vor. So wurde 1947 der Arbeitsauftrag des Sachverständigenausschusses vom Verwaltungsrat auf dessen 103. Tagung deutlich erweitert.314 Ab dem Inkrafttreten der Verfassungsänderung 1948 umfasste das Mandat des Sachverständigenausschuss die Überprüfung 1. der aufgrund von Art. 22 ILO-Verfassung vorgelegten Jahresberichte der Mitgliedstaaten über die Durchführung der ratifizierten Übereinkommen und der von den Mitgliedstaaten erteilten Auskünfte über die Ergebnisse von Aufsichtsmaßnahmen, 2. (nun auch) der Auskünfte und Berichte, die von den Mitgliedstaaten gem. Art. 19 Abs. 5 – 7 ILO-Verfassung übermittelt werden315 sowie 3. der Auskünfte und Berichte über die Maßnahmen, die von den Mitgliedstaaten gemäß Art. 35 ILO-Verfassung getroffen wurden.316

311

IAA, IAK, 25th Session 1939, Record of Proceedings, Appendix V, (abrufbar unter: http://www.ilo.org/public/libdoc/ilo/P/09616/09616(1939-25).pdf), S. 414; IAA/Koroma/van der Heijden, Verwaltungsrat, 326th Session March 2016, Review of ILO Supervisory Mechanism, Doc GB.326/LILS/3/1, S. 14. 312 Hierzu unter Teil 1 D. I. 1. b). 313 Ein System zum direkten Austausch mit den Regierungen war nur rudimentär vorhanden, vgl. IAA/Koroma/van der Heijden, Verwaltungsrat, 326th Session March 2016, Review of ILO Supervisory Mechanism, Doc GB.326/LILS/3/1, S. 14. Erstmals kontaktierte der Sachverständigenausschuss 1957 betreffende Regierungen, vgl. IAA, IAK, 108th Session 2019, Report III (Part A), Report of the CEACR, General Report, Rn. 37; Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 170. 314 Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 96 f. 315 Zur Umsetzung dieser Pflicht in Deutschland Heyen, in: BMAS/BDA/DGB, Weltfriede durch soziale Gerechtigkeit, S. 141 ff. 316 IAA, Verwaltungsrat, 103rd Session Dezember 1947, Minutes, Anhang XII, Rn. 37 (S. 173); vgl. Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 96 f.

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Die unter 2. aufgeführten Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, Berichte zu den bisher nicht ratifizierten Übereinkommen und Empfehlungen zu übermitteln,317 bildet bis heute die Grundlage der erstmals 1956 erstellten general surveys318 durch den Sachverständigenausschuss.319 In diese zweite Phase fällt auch die erstmalige Einbindung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände in das regelmäßige Kontrollverfahren. Diesen ist es seit Inkrafttreten der Verfassungsänderung möglich, Erklärungen zu den Berichten der Regierungen abzugeben, die durch den Sachverständigenausschuss bei der Ausarbeitung seiner Berichte berücksichtigt werden.320 Auch das Verhältnis zum Verwaltungsrat änderte sich in dieser Zeit grundlegend. Während dieser bisher eigene Stellungnahmen zu den Berichten des Sachverständigenausschusses abgegeben hatte, nimmt er diese ab Mitte der 1950er Jahre nur noch „zur Kenntnis“.321 cc) 1962 – 1989: Stärkung der Beteiligungsrechte der Sozialpartner und Überprüfung der praktischen Umsetzung der Übereinkommen Während das der Tätigkeit des Sachverständigenausschusses zugrundeliegende Mandat im Folgenden unverändert blieb, wurden Arbeitsweise und Methodik in den folgenden Jahrzehnten stetig an die sich verändernden Rahmenbedingungen angepasst. Die Nachkriegsphase bis zum Fall der Berliner Mauer war dabei insbesondere von zwei Entwicklungen geprägt: den Auswirkungen der Dekolonisation sowie dem Ost-West-Konflikt, der eine weitere Stärkung des Tripartismus erschwerte. Die Dekolonisation resultierte in die Zunahme an Mitgliedstaaten und Ratifizierungen von Übereinkommen, weshalb durch den Sachverständigenausschuss fortan eine erheblich gesteigerte Anzahl an Berichten zu erstellen war. Hierauf ist auch die Erhöhung seiner Mitgliederzahl von ursprünglich acht auf die bis heute maßgebliche Anzahl von 20 Experten im Jahr 1979 zurückzuführen.322 317

Art. 19 Abs. 5 – 7 ILO-Verfassung. Hierzu unter Teil 1 D. I. 1. b). 319 IAA/Koroma/van der Heijden, Verwaltungsrat, 326th Session March 2016, Review of ILO Supervisory Mechanism, Doc GB.326/LILS/3/1, S. 15: die General Surveys werden seitdem auch vom Normanwendungsausschuss diskutiert; IAA, IAK, 106th Session 2017, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 7. 320 IAA/Koroma/van der Heijden, Verwaltungsrat, 326th Session March 2016, Review of ILO Supervisory Mechanism, Doc GB.326/LILS/3/1, S. 15. Von diesem Recht machte erstmals 1953 eine Gewerkschaft Gebrauch. Wenn in einem Staat keine freien und unabhängigen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände existieren, können die Berichte auch von den internationalen Verbänden kommentiert werden, Stübig, Flexibilität und Legitimität in der ILO, S. 145. 321 IAA/Koroma/van der Heijden, Verwaltungsrat, 326th Session March 2016, Review of ILO Supervisory Mechanism, Doc GB.326/LILS/3/1, S. 15. 322 IAA/Koroma/van der Heijden, Verwaltungsrat, 326th Session March 2016, Review of ILO Supervisory Mechanism, Doc GB.326/LILS/3/1, S. 17. Zudem wird seit dieser Zeit auch darauf geachtet, dass die Besetzung des Sachverständigenausschusses die unterschiedlichen 318

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Der Ost-West-Konflikt zeigte sich insbesondere darin, dass die durch den Sachverständigenausschuss häufig hinsichtlich der Verletzung der Vereinigungsfreiheit kritisierten sozialistischen Staaten323 ihrerseits kritisierten, dass das Mandat, die Zusammensetzung und die Methodik des Sachverständigenausschusses nicht auf einer formalen Geschäftsordnung basierten und die Berichte des Sachverständigenausschusses politisch (d. h. westlich) vereinnahmt seien.324 Die Mehrheit der Mitglieder der IAK konnte hiervon jedoch nicht überzeugt werden und lehnte die Erarbeitung einer Geschäftsordnung ab, da sie von der von der Objektivität und Integrität des Sachverständigenausschusses, eines (so die Protokolle der IAK) „quasi-gerichtlichen Spruchkörpers, dessen professionelle Kompetenz außer Frage stehe“,325 überzeugt waren.326 Ebenfalls in diesen dritten Zeitabschnitt fällt der verstärkte Fokus auf die Einbindung der Sozialpartner in das System der Normüberwachung. Während die rechtliche Grundlage hierfür bereits in der zweiten Phase geschaffen worden waren, wurde die Beteiligung der Sozialpartner nun intensiviert.327 Hintergrund hierfür bildeten die Verabschiedung des Übereinkommens Nr. 144 im Jahr 1976 und das Erstarken der internationalen Gewerkschaftsbewegung,328 welches den tatsächlichen Nutzen der Einbindung sicherstellte. Durch die verstärkte Beteiligung der Sozialpartner wurde der Sachverständigenausschuss so in die Lage versetzt, neben der Überprüfung der Konformität des Wortlauts nationaler Rechtsvorschriften mit den Übereinkommen auch festzustellen, ob diese Rechtsvorschriften tatsächlich angewirtschaftlichen, sozialen und (rechts-)kulturellen Bedingungen in den Mitgliedstaaten widerspiegelt, also etwa nicht nur Experten aus westlichen Industrienationen vertreten sind. 323 Hierzu bereits unter Teil 1 A. IV. Siehe auch Servais, International Labour Law. S. 29; Servais/Van Goethem, ILO, Rn. 53; Klotz, in: BMAS/BDA/DGB, Weltfriede durch soziale Gerechtigkeit, S. 217. 324 IAA/Koroma/van der Heijden, Verwaltungsrat, 326th Session March 2016, Review of ILO Supervisory Mechanism, Doc GB.326/LILS/3/1, S. 17; bei den Antragstellern handelte es sich um die Regierungen der UdSSR, Bulgarien, der Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik, der Tschechoslowakei, Rumänien, und der Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik sowie der Arbeitnehmervereinigungen aus der Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik und Weißrusslands, vgl. IAA, IAK, 47th Session 1963, Record of Proceedings, Appendix V, S. 513, Rn. 9. 325 IAA, IAK, 47th Session 1963, Record of Proceedings, Appendix V, S. 513 f., Rn. 10: „A large number of Government members, the Employers’ members and the great majority of the Workers’ members did not agree on the need to establish such formal rules. They considered that these proposals were inspired by a lack of confidence in the Committee of Experts and they expressed their faith in the impartiality, objectivity and integrity of the Committee of Experts, a quasi-judicial body whose professional competence was beyond question“. 326 IAA/Koroma/van der Heijden, Verwaltungsrat, 326th Session March 2016, Review of ILO Supervisory Mechanism, Doc GB.326/LILS/3/1, S. 17. 327 1973 merkte der Sachverständigenausschuss an, dass die Zahl der Anmerkungen der Sozialpartner von sieben (Vorjahr) auf 30 gestiegen war. 1985 betrug die Anzahl bereits 149, siehe IAA/Koroma/van der Heijden, Verwaltungsrat, 326th Session March 2016, Review of ILO Supervisory Mechanism, Doc GB.326/LILS/3/1, S. 17. 328 Ibid., S. 16.

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wendet werden. Ausdrücklich wird der Vollzug des Rechts durch einen Mitgliedstaat seit 1963 überprüft, was der Normanwendungsausschuss ausdrücklich unterstützt.329 Ebenfalls in diesen Zeitabschnitt fällt eine erste Zusammenarbeit mit Organen des Europarats.330 dd) 1990 – 2012: Anpassung der Methodik an die Neuausrichtung der ILO im Kontext der Globalisierung Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs begann eine Phase zunehmend offensiv geführter Auseinandersetzung über die Reichweite des Mandats des Sachverständigenausschusses, nämlich über dessen Berechtigung, die Übereinkommen selbst auszulegen und die Verbindlichkeit der Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses bei der Auslegung der Übereinkommen.331 Höhepunkt dieser Auseinandersetzung stellte die Auseinandersetzung im Normanwendungsausschuss der IAK 2012 im Zusammenhang mit dem general survey dar, der auch Fragen des Streikrechts behandelte.332 Die Phase war aber auch geprägt von weiteren Reformen, die durch die Erklärung über die grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit von 1998 als auch die Erklärung über soziale Gerechtigkeit für eine faire Globalisierung von 2008 angestoßen wurden. Insbesondere wurden die Vorlagepflichten entsprechend der oben beschriebenen heutigen zyklischen Verteilung angepasst.333 ee) 2012 bis heute: Überlegungen zur weiteren Verbesserung des Überwachungsmechanismus Die Ausnahmesituation auf der IAK 2012 führte zur Forderung nach einer grundlegenden Überprüfung der Methodik des Sachverständigenausschusses sowie des Überwachungssystems insgesamt. Im März 2015 wurden die ihrerzeitigen Vorsitzenden des Sachverständigenausschusses (Abdul Koroma) und des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit (Paul van der Heijden) vom Verwaltungsrat mit der Erstellung eines Berichts betraut, der mögliche Verbesserungen des Überwa329 Vgl. zu den Hintergründen IAA, IAK, 47 h Session 1963, Record of Proceedings, Appendix V, S. 513, Rn. 8. 330 IAA/Koroma/van der Heijden, Verwaltungsrat, 326th Session March 2016, Review of ILO Supervisory Mechanism, Doc GB.326/LILS/3/1, S. 17; IAA, IAK, 106th Session 2017, Report III (1 A), Report of the CEACR, S. 7, 29 f. 331 Hierzu ausführlich in Teil 1 E. 7. II. c). 332 IAA, IAK, 101st Session 2012, Report III (Part 1B), General Survey on the fundamental Conventions concerning rights at work in light of the ILO Declaration on Social Justice for a Fair Globalization. 333 IAA, IAK, 107th Session 2018, Report III (Part A), Report of the CEACR, General Report, Rn. 22: „The Committee also recalls that, at its 306th Session (November 2009), the Governing Body decided to increase from two to three years the regular reporting cycle for the fundamental and governance Conventions and to maintain the cycle at five years for the other Conventions“.

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chungssystems aufzeigen sollte.334 In diesem Bericht wurde unter anderem335 die Etablierung von – den internationalen Verfahren vorgeschalteten – Streitbeilegungsverfahren auf nationaler Ebene vorgeschlagen.336 Als Beispiel hierfür wird das Comité Especial de Tratamiento de Conflictos ante la OIT in Kolumbien angeführt.337 Diese Vorschläge wurden nach der Veröffentlichung des Berichts von der Mehrzahl der ILO-Mitgliedstaaten und den Sozialpartnern als auch der EU unterstützt.338 Statt den Bericht von Koroma/van der Heijden eins zu eins umzusetzen, 334

IAA, Verwaltungsrat, 323rd Session March 2015, Minutes, GB.323/PV, Rn. 84. Zudem wurden jährliche Treffen zwischen den Vorsitzenden des Sachverständigenausschusses, des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit und des Normanwendungsausschusses vorgeschlagen, durch welche eine bessere Koordination zwischen den Gremien erreicht werden sollte. IAA/Koroma/van der Heijden, Verwaltungsrat, 326th Session March 2016, Review of ILO Supervisory Mechanism, Doc GB.326/LILS/3/1, S. 42. Diese Treffen finden inzwischen bereits regelmäßig statt, vgl. IAA, IAK, 108th Session 2019, Report III (Part A), Report of the CEACR, General Report, Rn. 12 ff.; zum Bericht auch Bellace, AVR 2019, 153, 175 f. Auch wurde vorgeschlagen, neben den Sozialpartnern auch NGOs einzubinden, die die Interessen jener Arbeitnehmer wahrnehmen, die in der informellen Wirtschaft beschäftigt werden und nicht gewerkschaftlich organisiert sind, vgl. ibid., hierzu IAA, IAK, 104th Session 2015, Report V (Part 2B), Der Übergang von der informellen zur formellen Wirtschaft, ILC.104/V/2B; siehe auch La Hovary, IOLR 2015, 204, 223 ff. mit Darstellung der bisherigen Gegenargumente; dies., in: Gött, Labour Standards in International Economic Law, S. 37, 50 m. w. N. zu früheren Intiativen zur Einbindung der Zivilgesellschaft. 336 Neben der vorgebrachten Entlastung der internationalen Ausschüsse lässt sich für die Einführung nationaler Mechanismen anführen, dass diese bei entsprechender Besetzung einen besseren Kenntnisstand über die Besonderheiten und die Hintergründe des jeweiligen Falles sowie möglicherweise mehr Einfluss auf die Beteiligten hätten. Gegen die Einführung nationaler Vorverfahren spricht allerdings, dass hierdurch die Anrufung der internationalen Gremien verzögert würde, sich keine allgemeine Aussage über den Nutzen nationaler Vorverfahren treffen lässt und kaum Fälle denkbar sind, in denen nationale Vorverfahren tatsächlich nützlich wären. Die Mitgliedstaaten der ILO dürften sich vielmehr in zwei Gruppen aufteilen lassen: In der einen sind ILO-spezifische nationale Vorverfahren nicht notwendig. In der anderen Gruppe sind sie nicht dafür geeignet, das Problem zu lösen. So dürften in der ersten Gruppe bereits funktionierende Verfahren zur Überprüfung der Einhaltung der nationalen Gesetze und der internationalen Verpflichtungen vorhanden sein, seien es neutrale staatliche Gerichte oder sonstige Streitbeilegungsmechanismen zwischen den Sozialpartnern. In diesen Fällen ist die Einführung einer weiteren Instanz nicht notwendig. In der zweiten Gruppe handelt es sich um Mitgliedstaaten, in denen keine neutralen staatlichen Gerichte oder anderweitige funktionierende Mechanismen bereits existieren, sollte auch weiterhin der direkte Weg zu den internationalen Ausschüssen offenstehen, da die Einführung eines neutralen nationalen Vorverfahrens als nicht sonderlich realistisch eingestuft werden kann. 337 IAA/Koroma/van der Heijden, Verwaltungsrat, 326th Session March 2016, Review of ILO Supervisory Mechanism, Doc GB.326/LILS/3/1, S. 46. Hierdurch könnte die Belastung des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit, nicht jedoch des Sachverständigenausschusses gesengt werden, da das regelmäßige Kontrollverfahren gerade losgelöst von der Anrufung von nationalen Parteien durchgeführt wird. 338 EU Statement concerning the standards initative, ILO Governing Body 326th Session, abrufbar unter: http://eeas.europa.eu/archives/delegations/un_geneva/documents/eu_statments/ ilo/20160318_lils3.pdf, zu den von Koroma/van der Heijden diskutierten Fragen der Verbind335

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haben sich 2017 die Gruppen der ILO auf dem 332. Treffen des Verwaltungsrates auf eine Gesamtüberprüfung der bis dahin vorgenommenen Schritte geeinigt.339 Der Verwaltungsrat genehmigte hierzu einen „Arbeitsplan zur Stärkung des Aufsichtssystems“, welcher zehn Vorschläge zur Verbesserung des Systems enthält.340 In Bezug auf das Mandat und die Arbeitsweise des Sachverständigenausschusses sind insbesondere die Vorschläge 4.1 (clear recommendations of the supervisory bodies), 3.1 (streamlining of reporting)341 und 1.2 (regular conversation between supervisory bodies) von Bedeutung. Diese wurden zum Teil bereits umgesetzt.342 In Vorschlag 4.1 ist etwa vorgesehen, dass der Sachverständigenausschuss noch stärker auf die Verständlichkeit der observations und direct requests achten soll.343 Zudem soll die Verständlichkeit der Berichte fortlaufend von einem Unterausschuss des Sachverständigenausschusses sowie auf jährlichen Treffen des Sachverständigenausschusses mit den stellvertretenden Vorsitzenden des Normanwendungsausschusses überprüft werden.344 Im Kontext der Maßnahmen zur Erhöhung der Verständlichkeit der Berichte ist auch die Darstellung der Kriterien für single und double footnotes zu sehen,345 welche sich erstmals im Bericht von 2019 findet. Vorschlag 1.2 sieht zudem vor, den Austausch unter den Mitgliedern der Überwachungsausschüssen weiter zu stärken und Verfahren, welche die Konsistenz der Spruchpraxis sicherstellen, zu formalisieren.346 Die Bedeutung von Vorschlag 1.2 zeigt sich auch in den aktuellen Berichten des Sachverständigenausschusses. Seit dem für die 107. IAK 2018 erstellten Bericht findet sich im general report eine Übersicht, in welcher der Sachverständigenausschuss die Anmerkungen des Normanwendungsausschusses des Vorjahres gesammelt darstellt und auf die einschlägigen lichkeit der Auslegung der Übereinkommen, der Anrufung des IGH oder der Schaffung eines gesonderten Gerichts für Auslegungsstreitigkeiten der ILO wurden keine Aussagen getätigt. 339 IAA, Verwaltungsrat, 329th Session March 2017, Doc GB.329/INS/5, Rn. 5. 340 IAA, Verwaltungsrat, 335th Session March 2019, Doc GB.335/INS/5, Rn. 4, 22 ff. Die zehn Vorschläge konzentrieren sich auf vier Schwerpunktbereiche, sog. „focus areas“; vgl. auch IAA, Verwaltungsrat, 329th Session März 2017, Doc GB.329/INS/5(Add.)(Rev.), S. 3 ff. (überarbeitete Fassung zu GB.329/INS/5, S. 4) und unter Teil 1 D. I. 2. b) cc). 341 Dieser richtet sich auf die Einführung eines e-reporting-Systems, vgl. IAA, Verwaltungsrat, 335th Session March 2019, Doc GB.335/INS/5, Rn. 52, welches den Mitgliedstaaten und Sozialpartnern die Erstattung ihrer Berichte und dem Sachverständigenausschuss deren Auswertung erleichtern soll. Bislang wurden die Berichte postalisch dem IAA übersandt, welches die gesammelten Berichte dem Sachverständigenausschuss bei dessen Zusammentreffen in Genf bereitstellt. 342 Siehe hierzu den Bericht „The Standards Initiative: Overall review of its implementation“ IAA, Verwaltungsrat, 335th Session March 2019, Doc GB.335/INS/5. 343 IAA, Verwaltungsrat, 335th Session March 2019, Doc GB.335/INS/5, Rn. 56. Hierzu soll die elektronische Form der Berichte künftig Hyperlinks zu früheren Schlussfolgerungen und anderen Dokumenten enthalten. 344 Ibid., Rn. 58. 345 Siehe unter Teil 1 D. I. 1. c). 346 Ibid., Rn. 34 ff.

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Stellen in seinem eigenen aktuellen Bericht verweist (sog. follow-up examinations).347 b) Die veröffentlichten Berichte Die Ergebnisse des Sachverständigenausschusses werden derzeit als „Bericht III“ der IAK vorgelegt.348 Seit 2003 folgt Bericht III folgendem Aufbau:349 Bei Teil I handelt es sich um den Allgemeinen Bericht (general report), der einen Überblick über die Arbeit des Sachverständigenausschusses gibt, den Verwaltungsrat, die IAK und die Mitgliedstaaten auf Fragen allgemeiner Bedeutung hinweist und zur Einhaltung der Berichtspflichten der Mitgliedstaaten Auskunft gibt.350 Teil II beinhaltet die Bemerkungen in Bezug auf die Umsetzung ratifizierter Übereinkommen, die Vorlage von Übereinkommen und Empfehlungen an die zuständigen nationalen Stellen sowie die sonstigen Berichtspflichten.351 Teil I und Teil II werden in einem Band veröffentlicht (report III – part A).352 Teil III, ein gesonderter Band (report III – part B),353 enthält den general survey. Dieser liefert umfassende Informationen zu einem durch den Verwaltungsrat ausgewählten Sachgebiet. Er wird auf Grundlage der Berichte über die Vorlage nicht ratifizierter Übereinkommen und über Empfehlungen erstellt.354 2014 widmete sich der general survey ausgehend von Übereinkommen Nr. 131 Fragen zum Mindestlohn (minimum wage systems), 2016 den Rechten von Wanderarbeitern (promoting fair migration), 2017 dem Arbeitsschutz (working together to promote a safe and healthy working environment), 2018 dem Arbeitszeitrecht (ensuring decent working time for the future) und 2019 staatlichen Maßnahmen zur sozialen Sicherheit. Er basiert auf den Antworten der Mitgliedstaaten zu Empfehlung Nr. 202 betreffend den innerstaatlichen sozialen Basisschutz.355 Anders als etwa für den Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) und Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle 347 Ibid., Rn. 35; IAA, IAK, 107th Session 2018, Report III (Part A), Report of the CEACR, General Report, Rn. 43; IAA, IAK, 108th Session 2019, Report III (Part A), Report of the CEACR, General Report, Rn. 73. 348 IAA, Handbuch der Verfahren, S. 39. 349 Siehe IAA, IAK, 106th Session 2017, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. i. 350 IAA, IAK, 108th Session 2019, Report III (Part A), Report of the CEACR, S. 3; IAA, Handbuch der Verfahren, S. 39; Stübig, Flexibilität und Legitimität, S. 149 f.; Waas, AVR 2019, 123, 139. 351 IAA, IAK, 108th Session 2019, Report III (Part A), Report of the CEACR, S. 3; IAA, Handbuch der Verfahren, S. 39; Waas, AVR 2019, 123, 139. 352 Ibid. Bis 2017 lautete die Bezeichnung „report III – part 1 A“. 353 IAA, Handbuch der Verfahren, S. 39, 40; Waas, AVR 2019, 123, 139. Bis 2017 lautete die Bezeichnung „report III – part 1B“. 354 Ibid.; Stübig, Flexibilität und Legitimität, S. 150. 355 IAA, IAK, 108th Session 2019, Report III (Part B), general survey concerning the Social Protection Floors Recommendation, 2012 (No. 202).

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Rechte (IPwskR), werden für die Übereinkommen der ILO keine allgemeinen Bemerkungen (general comments) durch den Sachverständigenausschuss erarbeitet. Die Spruchpraxis des Ausschusses ergibt sich „mosaikartig“356 aus den einzelnen Bemerkungen zur Einhaltung der Übereinkommen und den general surveys, sofern für das jeweilige Übereinkommen existent. c) Formen der Anmerkungen des Sachverständigenausschusses In seinen Berichten zur Überprüfung der Einhaltung der Übereinkommen (Teil II) verwendet der Sachverständigenausschuss verschiedene Formen von Anmerkungen, deren Bedeutung in den Berichten auch erläutert wird.357 Es handelt sich um die direkte Anfrage (direct request), die Anerkennung sowie die Bemerkung (observation).358 Gelangt der Sachverständigenausschuss zur Feststellung, dass ein Mitgliedstaat eine Verpflichtung aus einem ratifizierten Übereinkommen verletzt hat, nimmt er eine entsprechende observation in seinen Bericht auf.359 Diese kann sich auf die bloße Feststellungen der Verletzung beschränken, aber auch Vorschläge für ein übereinkommenskonformes Verhalten umfassen.360 Im Ergebnis handelt es sich um eine Rüge.361 Eine observation kann auf die Maßregelung eines konkreten Sachverhalts gerichtet sein (etwa die Verletzung eines Übereinkommens durch ein neues Gesetz oder die Entscheidung eines Gerichts) oder übereinkommensübergreifend die mangelnde Zusammenarbeit eines Mitgliedstaats mit dem Ausschuss (general observations) zum Inhalt haben.362 Typischerweise wählt der Sachverständigenausschuss für seine Bemerkungen eine diplomatische Sprache. Begrifflich reichen diese von „surprise“, „amazement“, „incredulity“, „disapproval“, „reprobation“ bis hin zu „condemnation“.363 Sollte aus Sicht des Sachverständigenausschusses eine „bloße“ observation nicht genügen, um den Mitgliedstaat zum Einlenken zu bewegen, kann er die Bemerkung mit einer sogenannten „single footnote“ hervorheben.364 Als Folge muss der Mitgliedstaat einen detaillierten Bericht zum beanstandeten Sachverhalt bis zur nächsten Sitzung 356

Nußberger, Sozialstandards im Völkerrecht, S. 233. IAA, IAK, 108th Session 2019, Report III (Part A), Report of the CEACR, S. 2. 358 Siehe ausführlich Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 193 ff.; Waas, AVR 2019, 123, 139 ff. 359 Stübig, Flexibilität und Legitimität in der ILO, S. 152. 360 Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 193; siehe bereits unter Teil 1 D. I. 1. a) ee) zu Vorhaben die observations vermehrt auf konkrete Vorschläge auszurichten. 361 Stübig, Flexibilität und Legitimität in der ILO, S. 152. 362 Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 193 f. 363 Ibid., S. 198. 364 Stübig, Flexibilität und Legitimität in der ILO, S. 153; die Kriterien für die Vergabe einer footnote waren bislang nicht bekannt und sind nun erstmals im aktuellen Bericht veröffentlicht, siehe IAA, IAK, 108th Session 2019, Report III (Part A), Report of the CEACR, General Report, Rn. 75 ff. (insbesondere Rn. 77 zu den Kriterien für double footnotes). 357

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des Sachverständigenausschusses einsenden.365 Bei besonders schwerwiegenden Verstößen kann auch eine sogenannte „double footnote“ ergehen, in welcher der Staat aufgefordert wird, sich öffentlich vor dem Normanwendungsausschuss zu erklären.366 Zwischen 2010 und 2015 hatte der Sachverständigenausschuss im Schnitt fünf double footnotes in seine jährlichen Berichte aufgenommen.367 Sollte ein Staat ein Übereinkommen nicht mehr verletzen, wird eine entsprechende Entwicklung mit einer positiven Bemerkung wie etwa „notes with satisfaction“ oder „notes with interest“ versehen oder in Form eines „acknowledgments“ (Anerkennung) in den Bericht aufgenommen.368 Wie erwähnt, dienen die direct requests dem Sachverständigenausschuss dazu, sich auf Grundlage weiterer Informationen des Mitgliedstaats über die nationale Rechtslage oder sonstige Fragen Klarheit zu verschaffen.369 Direct requests werden nicht im Volltext in die Berichte übernommen,370 sondern lediglich tabellarisch zu jeder Gruppe von Übereinkommen

365 Stübig, Flexibilität und Legitimität in der ILO, S. 153; zu den Kriterien auch Waas, AVR 2019, 123, 140 f. 366 Ibid. Die betroffenen Staaten werden in einer gesonderten Liste im General Report benannt. 367 Beispielsweise IAA, IAK, 105th Session 2016, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 111 (Philippinen, Übk. Nr. 87), S. 177 (Weißrussland, Übk. Nr. 29), S. 216 (Turkmenistan, Übk. Nr. 105), S. 274 (Madagascar, Übk. Nr. 182), S. 307 (Nigeria, Übk. Nr. 138); IAA, IAK, 104th Session 2015, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 138 (Venezuela, Übk. Nr. 87), S. 161 (Eritrea, Übk. Nr. 29), S. 193 (Bolivien, Übk. Nr. 138), S. 199 (Kambodscha, Übk. Nr. 182), S. 202 (Kamerun, Übk. Nr. 182); IAA, IAK, 103th Session 2014, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR: S. 64 (Weißrussland, Übk. Nr. 87), S. 208 (Niger, Übk. Nr. 138), S. 273 (Jemen, Übk. Nr. 182), S. 292 (Dominikanische Republik, Übk. Nr. 111), S. 354 (Bangladesch, Übk. Nr. 81), S. 519 (Griechenland, Übk. Nr. 102); IAA, IAK, 102nd Session 2013, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR mit vier double footnotes, S. 121 (Honduras, Übk. Nr. 98), S. 331 (Kenia, Übk. Nr. 138), S. 408 (Usbekistan, Übk. Nr. 182), S. 484 (Iran, Übk. Nr. 111). 368 Thomann, Steps to Compliance with International Labour Standard, S. 116; IAA, Handbuch der Verfahren, S. 39, Fn. 8; siehe etwa IAA, IAK, 106th Session 2017, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 47 f.; vgl. auch IAA/Koroma/van der Heijden, Verwaltungsrat, 326th Session March 2016, Review of ILO Supervisory Mechanism, Doc GB.326/LILS/3/1, S. 17: Fortschritte hinsichtlich der Einhaltung der Normen werden seit 1964 in den Berichten dokumentiert; auch der Einsatz dieser Formulierungen wurde nun an konkrete Bedingungen geknüpft, siehe IAA, IAK, 108th Session 2019, Report III (Part A), Report of the CEACR, Rn. 83 ff. 369 Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 199; Stübig, Flexibilität und Legitimität in der ILO, S. 152; La Hovary, IOLR 2015, 204, 231; La Hovary, in: Gött, Labour Standards in International Economic Law, S. 37, 47 f. moniert die „Ersetzung“ vieler Observations durch Direct Requests im Nachgang der Verfassungskrise von 2012 („self-censorship“). 370 IAA, Vorsitzende des Verwaltungsrates, Backgroundpaper: The ILO supervisory system: A factual and historical information note, abrufbar unter: http://www.ilo.org/public/english/bu reau/leg/download/2012_factual_and_historical_supervisoy_system_en.pdf, Rn. 11; Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 171.

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aufgeführt.371 Sie sind jedoch auf der Homepage der ILO (ilo.org/normlex) im vollen Wortlaut abrufbar.372 Stellungnahmen der Mitgliedstaaten werden vom Sachverständigenausschuss hingegen in den Berichte zusammengefasst wiedergegeben und häufig mit einer eigenen Positionierung versehen.373 2. Normenanwendungsausschuss als politisches Follow-up-Verfahren Der tripartistisch besetzte Normenanwendungsausschuss wurde erstmals 1926, also im gleichen Jahr wie der Sachverständigenausschuss, eingesetzt.374 Seitdem wurde der Normanwendungsausschuss von jeder IAK eingerichtet. a) Mandat des Normanwendungsausschusses Das Mandat des Normanwendungsausschusses wurde auf Grundlage der 1946 erfolgten Verfassungsänderung im gleichen Umfang erweitert wie die Berichtspflichten der Mitgliedstaaten und besteht seither in unveränderter Form.375 Es ist auch mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben vereinbar. Ebenso wie zum Mandat des Sachverständigenausschusses enthält die Verfassung keine ausdrücklichen Vorgaben zum Mandat des Normanwendungsausschusses. Art. 22 ILO-Verfassung bestimmt lediglich, dass jeder Mitgliedstaat verpflichtet ist, der IAK jährlich einen Bericht über seine Maßnahmen zur Durchführung der Übereinkommen vorzulegen, die es ratifiziert hat. Zur weiteren Behandlung der auf Grundlage von Art. 19, 22 und 35 erhaltenen Berichte in der IAK schweigt die Verfassung.376 Orientiert man sich allein am Wortlaut der Verfassung, könnte man annehmen, dass der IAK daher keine Kompetenz zur Prüfung der Staatenberichte zukommt und sich der Zweck der Berichte darin erschöpft, Delegierten der IAK Informationen bereitzustellen, die ihnen die Einleitung der anlassbezogenen Kontrollverfahren ermöglichen377 – entsprechendes wurde zumindest 1936 von mehreren Regierungen im Verwaltungsrat vertreten und hierbei von manchen Arbeitnehmervertretern unterstützt.378 371

IAA, Handbuch der Verfahren, S. 40, Fn. 9; IAA, IAK, 106th Session 2017, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, etwa S. 595 und S. 597. 372 IAA, IAK, 107th Session 2018, Report III (Part A), Report of the CEACR, S. 2. 373 Hofmann/Schubert, AVR 2013, 483, 493 f. 374 IAA/Koroma/van der Heijden, Verwaltungsrat, 326th Session March 2016, Review of ILO Supervisory Mechanism, Doc GB.326/LILS/3/1, S. 13. 375 Ibid., S. 15. 376 Maupain, IOLR 2013, 117, 151. 377 Vgl. Maupain, IOLR 2013, 117, 151 f. 378 IAA, Verwaltungsrat, 74th Session February 1936, Minutes, S. 20 f.: „Mr Picquenard said […that t]he Conference would not appear to have any power of supervision over the

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Teil 1: Die Normen der ILO

Wie für den Sachverständigenausschuss kann das Mandat des Normüberwachungsausschusses auf Art. 19, 22 f., 35 ILO-Verfassung gestützt werden, obwohl diese dem Wortlaut nach keine weiteren Rechtsfolgen vorsehen.379 Es folgt aber schon aus dem Sinn und Zweck (Art. 31 Abs. 1 a. E. WVK), dass ein Bericht, der für die IAK verfasst wurde, von dieser auch inhaltlich diskutiert werden darf. Zum Inhalt des Mandats gibt Art. 7 der Geschäftsordnung der IAK Auskunft,380 die auch bei der Auslegung der Art. 22 f. ILO-Verfassung nach Art. 5 bzw. Art. 31 Abs. 3 lit. a) WVK Berücksichtigung finden muss. Gemäß Art. 7 IAK-GO soll die IAK unverzüglich einen Ausschuss einrichten, der die von den Mitgliedern getroffenen Maßnahmen zur Durchführung der Bestimmungen der Übereinkommen, die für sie bindend sind, sowie die von ihnen erteilten Auskünfte über die Ergebnisse von Aufsichtsmaßnahmen überprüft.381 Nach Abschluss dieser Tätigkeit soll der Normanwendungsausschuss dem Plenum der IAK Bericht erstatten, Art. 7 IAK-GO. Entsprechend ist die Überprüfung der Staatenberichte durch den Normanwendungsausschuss verfassungsmäßig zulässig. b) Formen der Anmerkungen des Normanwendungsausschusses Die Sitzungen des Normanwendungsausschusses382 beginnen jedes Jahr mit einer Aussprache zu allgemeinen Fragen der Normüberwachung und hierbei insbesondere zu Problemen, die im Zusammenhang mit dem general report (Bericht III Teil I) des Sachverständigenausschusses möglicherweise aufgetreten sind.383 Daraufhin wid-

application of Conventions; neither did the Constitution empower it to form a judgment on any possible failure of States Members to fulfil the obligations which they had assumed. Under Article 22 of the Constitution, the Conference was simply empowered to receive the summary of reports submitted to it by the Director. […] [T]here were no sanctions for the breach of obligations contracted by States Members. The Constitution did in fact provide for sanctions of that kind. In the place there was the procedure of representations, which might be made by any employers’ or workers’ organisation against a State which, in its view, was not fulfilling its obligations.“ 379 Maupain, IOLR 2013, 117, 151 f.; mit Blick auf entsprechende Diskussionen vor Einsetzung des Sachverständigen- und Normanwendungsausschuss: Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 55. 380 Standing Orders of the International Labour Conference i. d. F. der 101. Sitzung 2012 der IAK; Swepston, IJCLLIR 2013, 199, 202. 381 Art. 7 Abs. 1 lit. a) der Geschäftsordnung. Der Normenanwendungsausschuss überprüft wie der Sachverständigenausschuss auch andere Berichte, u. a. zur Vorlagepflicht bei den zuständigen nationalen Stellen. 382 Die Arbeitsweise des Normanwendungsausschusses ist derzeit ebenfalls in Überprüfung. Die EU-Gruppe stimmte den bisherigen Änderungen zu, vgl. Erklärung der EU und ihrer Mitgliedstaaten, abrufbar unter: https://eeas.europa.eu/delegations/un-geneva/45438/internatio nal-labour-conference-107th-session-committee-application-standards-general_en. 383 Wisskirchen, ILR 2005, 253, 280: Regelmäßig steht hier die Rüge der verspäteten Abgabe der Berichte durch die Mitgliedstaaten im Vordergrund.

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met sich der Normanwendungsausschuss (in aller Regel sehr kurz) dem general survey.384 aa) Liste der 24 Fälle gravierender Verstöße Das Hauptaugenmerk des Normanwendungsausschusses liegt auf der Auswahl besonders gravierender oder anderweitig besonders relevanter Fälle aus dem Bericht III Teil II des Sachverständigenausschusses.385 Die ausgewählten Fälle sollen nicht als Verstöße gegen die Übereinkommen „sichtbar“ gemacht werden – diese Aufgabe hat bereits der Sachverständigenausschuss im Bericht III Teil II erfüllt – sondern durch den Dialog mit den Mitgliedstaaten und dessen Sozialpartnern „beseitigt“ werden.386 Im Regelfall werden von Normanwendungsausschuss (nun)387 24 Fälle bestimmt, zu denen die jeweilige Regierung aufgefordert wird, vor dem Ausschuss Stellung zu nehmen.388 Bei den Verstößen handelte es sich in der Vergangenheit zu einem überwiegenden Teil um Fälle, in denen gegen Übereinkommen zum Schutz der Vereinigungsfreiheit verstoßen wurde.389 EU-Mitgliedstaaten befanden sich zuletzt keine unter den 24 diskutierten Ländern.390 Es entspricht inzwischen dem Prozedere neben den 24 Fällen schwerwiegender Verstöße auch einen Fall zu diskutieren, in welchen ein Land besondere Fortschritte hinsichtlich der Einhaltung internationaler Arbeitsstandards gemacht hat. Zudem werden die bereits durch den Sachverständigenausschuss mit einer double footnote belegten Mitgliedstaaten geladen.391 bb) Special paragraphs In den special paragraphs seines Berichts beschreibt der Normanwendungsausschuss zudem besonders schwerwiegende Fälle. Im Schnitt handelt es sich hierbei um ungefähr drei Fälle pro Jahr.392 Als aktuelles Beispiel lässt sich die Auseinandersetzung über Verstöße gegen Übereinkommen Nr. 87 in Bangladesch auf der IAK 384

Wisskirchen, ILR 2005, 253, 280 f. Gitzel, Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 61; Lörcher, in: BMAS/BDA/DGB, Weltfriede durch soziale Gerechtigkeit, S. 76, 78; Wisskirchen, ILR 2005, 253, 281. 386 Gitzel, Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 61. 387 Zuvor wurden zumeist 25 Fälle verhandelt, die Reduktion auf 24 Fälle ging mit der Reduktion der Tagungsdauer der IAK einher; vgl. nun etwa IAA, IAK, 108th Session 2019, Provisional Record of Proceedings, 5B (Part 2). 388 Swepston, IJCLLIR 2013, 199, 202; van der Heijden, IOLR 2018, 203, 209: „black list“. Hierüber werden die Regierungen spätestens 30 Tage vor Beginn der IAK informiert, Waas, AVR 2019, 123, 135. 389 Swepston, IJCLLIR 2013, 199, 202. 390 Siehe IAA, IAK, 108th Session 2019, Provisional Record of Proceedings, 5B (Part 2). 391 Stübig, Flexibilität und Legitimität in der ILO, S. 154. 392 Ibid. 385

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Teil 1: Die Normen der ILO

2016 anführen. Die Regierung Bangladeschs hatte in Folge verschiedener Unglücksfälle393 zwar Schritte unternommen, Arbeitsschutzmaßnahmen in inländischen Fabriken zu verstärken. Allerdings ist es in den „export processing zones“ weiterhin nahezu unmöglich, Gewerkschaften zu gründen. Nachdem die ILOAusschüsse in ihren Berichten Bangladesch bereits in den vergangenen Jahren stetig auf diesen Missstand aufmerksam gemacht hatte, wurde der Mitgliedstaat 2016 vom Normanwendungsausschuss in den special paragraph aufgenommen.394 Durch den zurückhaltenden Einsatz des special paragraphs und die damit einhergehende besondere Hervorhebung wird versucht, die Aufmerksamkeit der IAK und der Öffentlichkeit auf diese Verletzungen zu lenken.395 Sollte ein Staat mehrmals, möglicherweise sogar in Folge, in den special paragraphs aufgeführt werden oder anderweitig besonders schwere Verletzungen zur Last gelegt bekommen, kann dies als Steigerung ebenfalls aufgeführt werden (sogenannter „continued failure to implement“ paragraph).396 Es handelt sich dabei um die schwerstmögliche Form des „naming and shaming“ vonseiten des Normanwendungsausschusses. cc) Überlegungen zur Reform Sowohl die Auswahl der 24 gravierenden als auch der drei besonders schwerwiegenden Fälle erfolgt in ständiger Praxis einvernehmlich zwischen den Gewerkschaften und Arbeitgebervertretern. Die Regierungsvertreter beteiligen sich hieran nicht.397 Bereits vor dem bisher einmaligen Ereignis, dass sich die Vertreter der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften auf der IAK 2012 nicht auf eine Liste von (damals) 25 Fällen einigen konnten, wurde dieses Verfahren kritisiert, da die einvernehmliche Festlegung manche Verletzungen aus politischen Gründen besonders häufig oder trotz ihrer tatsächlichen Schwere überhaupt nicht aufgeführt wurden.398 Die SRM-TWG eruiert daher, ob und wie die Arbeitsmethodik des Normanwendungsausschusses zu reformieren ist. Diskutiert wird etwa, ob Art. 19 ILO393 Siehe exemplarisch Süddeutsche.de, „Fabrikeinsturz zwingt H&M und Zara zu Zugeständnissen“, Artikel vom 13. Mai 2013, abrufbar unter: http://www.sueddeutsche.de/wirt schaft/arbeitsbedingungen-in-bangladesch-fabrikeinsturz-zwingt-hm-und-zara-zu-zugestaend nissen-1.1671704 mit Hinweis auf die Bemühungen u. a. der ILO. 394 IAA, IAK, 105th Session 2016, Record of Proceedings, Part 16/I, Rn. 140 ff. m. w. N.; vgl. auch ITUC, „Asian Supply Chain Countries Under ILO Spotlight“, Nachricht v. 14. Juni 2016 http://www.ituc-csi.org/asian-supply-chain-countries-under. 395 Stübig, Flexibilität und Legitimität in der ILO, S. 154. 396 Siehe etwa IAA, IAK, 105th Session 2016, Record of Proceedings, Part 16/I, Rn. 151; und IAA, IAK, 108th Session 2019, Provision Record of Proceeding, 5 A (Part 2): Dieses Jahr wurde allein Kasachstan wegen Verstößen gegen Übk. Nr. 87 in einem solchen special paragraph genannt. 397 Maupain, IOLR 2013, 117, 120. 398 Ibid., 138; anderweitige Kritik an der Auswahl auch durch Wisskirchen, ILR 2005, 253, 281.

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Verfassung Rechtsgrundlage weitergehender Maßnahmen gegen Mitgliedstaaten, die gegen Berichtspflichten verstoßen, genutzt werden könnte.399 Bisher werden Art. 19 Abs. 5 lit. e) und Abs. 6 lit. d) ILO-Verfassung lediglich als Grundlage zur Anforderung von Informationen zur Erstellung der general surveys sowie der jährlichen Follow-up-Berichte zu den Kernarbeitsnormen genutzt.400 Die Überlegung der Ausweitung basiert auf dem Gedanken, dass die Fokussierung auf die Behandlung der (nun) 24 Fälle dazu führe, dass auf der IAK lediglich die Verletzung ratifizierter Übereinkommen behandelt werden, nicht jedoch die Verletzung von Berichtspflichten nach Art. 19 Abs. 5 lit. e) ILO-Verfassung. Hierdurch werde laut Maupain der falschen Anreiz gesetzt, Übereinkommen nicht zu ratifizieren. Aus Sicht eines Mitgliedstaats spreche gegen die Ratifizierung nämlich nicht nur die Möglichkeit eines Verlusts von Wettbewerbsnachteilen gegenüber Mitgliedstaaten, die das Übereinkommen nicht ratifizieren, sondern außerdem, dass man im Unterschied zu diesen fortan für Verstöße gegen das Übereinkommen auch noch öffentlich kritisiert werden kann.401 Entscheidet man sich hingegen gegen eine Ratifizierung, ist selbst bei Missachtung der Berichtspflichten abgesehen von der Aufführung in den Berichten des Sachverständigenausschusses keine Missbilligung oder Benennung des Verstoßes vonseiten des Normanwendungsausschusses zu erwarten.402 In der Tat bieten die Berichtspflichten des Art. 19 Abs. 4 ILO-Verfassung genügend Ansatzpunkte dafür, auch jene Mitgliedstaaten zu kritisieren, die bewusst keine Ratifizierung vorgenommen haben. Eine Möglichkeit könnte darin bestehen, auch Rechtfertigungspflichten gegenüber dem Normanwendungsausschuss zu begründen, warum sich beispielsweise die Vorlage bei einem nationalen Parlament verzögert. Durch eine entsprechende Pflicht zur Abgabe von Erklärungen gegenüber dem Normanwendungsausschuss könnte auch das Interesse innerhalb des Mitgliedstaates am Inhalt des jeweiligen Übereinkommens gestärkt werden. c) Kein Rangverhältnis zwischen Sachverständigenausschuss und Normanwendungsausschuss Aus der Auswahl besonders schwerwiegender Fälle aus den Berichten des Sachverständigenausschusses durch den Normanwendungsausschuss kann kein Rangverhältnis zwischen den Ausschüssen gefolgert werden. Sie agieren unabhängig voneinander und ergänzen sich gegenseitig in ihrer Arbeit.403 Dieses „Ne399

Vgl. auch IAA, Verwaltungsrat, 335th Session March 2019, Doc GB.335/INS/5, Rn. 66 f. IAA, Verwaltungsrat, 329th Session March 2017, Doc GB.329/INS/5, Annex III, S. 15 f.; siehe zum Follow-Up-Verfahren Bellace, IJCLLIR 2001, 269, 282 ff. 401 Maupain, ILR 2015, 103, 109. 402 Ibid. 403 Swepston, IJCLLIR 2013, 199, 202; Maupain, IOLR 2013, 117, 120; Waas, AVR 2019, 123, 134; ebenfalls in diesem Sinne beschreibt auf der IAK 1984 der damalige Generaldirektor Blanchard Aufgaben und Funktion der Ausschüsse, vgl. IAA, IAK, 70th Session 1984, Report of the Director-General, S. 24: „[T]he ILO system combines technical evaluation by independent 400

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Teil 1: Die Normen der ILO

beneinander“ zweifelt die Arbeitgeberseite seit Beginn der 1990er-Jahre im Normanwendungsausschuss zusehends an. Sie geht davon aus, dass der Sachverständigenausschuss dem Normanwendungsausschuss untergeordnet ist. Begründet wird dies durch eine historisch begründete alleinige Zuständigkeit zur Normüberwachung der IAK. Die Kompetenz des Sachverständigenausschuss werde hieraus nur abgeleitet.404 Auch Wisskirchen geht davon aus, dass die Auslegung der Übereinkommen durch den Normanwendungsausschuss der IAK, also das zentrale Organ der ILO, „eindeutig“ Vorrang vor den Bemerkungen eines „vorbereitenden“ Ausschusses hätten.405 Dieses Rangverhältnis lässt sich jedoch nicht aus der Verfassung ableiten. Laut dieser werden die Berichte der IAK „zugeleitet“. Wie beschrieben, wird hingegen nicht geregelt, wie mit den Berichten zu verfahren ist. Das regelmäßige Überwachungsverfahren konnte sich gerade auf Grund des offenen Verfassungstextes etablieren. In diesem seit Jahrzehnten im Wesentlichen unverändert gebliebenen System haben sich bestimmte Aufgaben der beiden Ausschüsse herausgebildet. Diese unterscheiden sich insoweit, als im Normanwendungsausschuss eine öffentliche Auseinandersetzung zwischen ILO und dem betroffenen Mitgliedstaat im Vordergrund steht und hierbei auch politische Erwägungen einfließen können.406 Politische Erwägungen, insbesondere darüber, welche Mitgliedstaaten besonders „gebrandmarkt“ werden sollen, da von ihnen womöglich ein Einlenken zu erwarten ist,407 sind der Arbeit des Sachverständigenausschusses als unparteiischem Expertengremium grundsätzlich fremd.

II. Anlassbezogene Kontrollverfahren Wie erwähnt dürften die Staatenberichte, die die Grundlage des regelmäßigen Überwachungsverfahrens bilden, ursprünglich zur Vorbereitung der anlassbezogenen Verfahren gedacht gewesen sein. In der Verfassung der ILO finden sich zwei Verfahren, die es ermöglichen sollen, außerhalb des regelmäßigen Prozederes die Verletzung von Übereinkommen zu ächten. Während im in Art. 24 f. ILO-Verfassung geregelten Beschwerdeverfahren die Feststellung und Ächtung der Verletzung eines Übereinkommens im Vordergrund steht, kann das Klageverfahren nach den Art. 26 ff. ILO-Verfassung sogar – wie im Fall von Myanmar im Jahr 2000 – zum Entzug von Mitgliedschaftsrechten führen. experts and tripartite review. The former is designed to obtain an impartial, objective assessment of compliance with obligations. The latter enables those directly concerned to examine the situation, make known their views and suggest solutions to problems“. 404 Vgl. IAA, IAK, 101st Session 2012, Record of Proceedings, S. 19 (Rev.)/I/5, Rn. 12; Swepston, IJCLLIR 2013, 199, 208. 405 Wisskirchen, ILR 2005, 253, 279. 406 Swepston, IJCLLIR 2013, 199, 202; Maupain, IOLR 2013, 117, 120. 407 Vgl. zum politischen Charakter des Verfahrens Schlachter, RdA 2011, 341, 345.

D. Überwachung der Einhaltung der Normen

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Neben die beiden in der Verfassung aufgeführten Verfahren traten 1951 aufgrund von Befürchtungen, die ILO könne nach der Gründung des ECOSOC an Relevanz verlieren, das Verfahren bei Verstößen gegen die Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Kollektivverhandlungen.408 Besonders der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit hat durch seine große Anzahl an Fällen eine „Quasijudikatur“ geschaffen. Schon an dieser Stelle sei erwähnt, dass diese (soweit ersichtlich) mit der Spruchpraxis des Sachverständigenausschuss kompatibel ist.

1. Beschwerdeverfahren nach Art. 24 f. ILO-Verfassung Das in Art. 24 f. ILO-Verfassung vorgesehene Verfahren gibt Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden409 das Recht, eine Beschwerde gegen einen Mitgliedstaat zu richten. Das durch eine spezielle Geschäftsordnung des Verwaltungsrates konkretisierte410 Beschwerdeverfahren richtet sich gegen Verstöße gegen den Inhalt von Übereinkommen, die der betroffene Mitgliedstaat ratifiziert hat.411 Art. 24 ILOVerfassung ist dahingehend eindeutig, dass die Gewerkschaft oder der Arbeitgeberverband nicht selbst betroffen sein muss. Zur Ermittlung des Verstoßes wird ein tripartistischer Untersuchungsausschuss eingesetzt.412 Dieser prüft die Beschwerde und legt dem Verwaltungsrat einen Bericht mit der Darstellung des Sachverhalts und Empfehlungen für einen Beschluss des Verwaltungsrats vor.413 Gemäß Art. 25 ILOVerfassung kann der Verwaltungsrat die Beschwerde gemeinsam mit einer Replik des betroffenen Staates veröffentlichen.414 Druckmittel ist somit erneut die „öffentliche Bloßstellung“ des Staates.415 408

Hierzu bereits unter Teil 1 A. IV. Vgl. Art. 2 Abs. 2 lit. b) der Geschäftsordnung über das Beschwerdeverfahren. 410 Geschäftsordnung über das Beschwerdeverfahren (Standing Orders concerning the procedure for the examination of representations under articles 24 and 25 of the Constitution) angenommen durch den Verwaltungsrat auf seiner 57. Sitzung 1932, geändert i. R. d. 82. Sitzung 1938, der 212. Sitzung 1980 und der 291. Sitzung 2004. 411 Gitzel, Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 62. Kein Gegenstand des Verfahrens ist hingegen die Vorlagepflicht nach Art. 19 Abs. 5 lit. e) ILO-Verfassung. 412 Vgl. zu den genauen Vorgaben Art. 3 der Geschäftsordnung über das Beschwerde- und Klageverfahren. 413 Vgl. einleitende Bemerkungen zur Verfahrensordnung des Verwaltungsrates, abgedruckt etwa in IAA, Handbuch der Verfahren, S. 52; IAA, Verwaltungsrat, 329th Session March 2017, Doc GB.329/INS/5, S. 12. 414 Eine solche Veröffentlichung erfolgt in den Dokumenten des Verwaltungsrates, vgl. etwa IAA, Bericht des Untersuchungsausschusses über die Einhaltung von Übk. Nr. 29 durch Thailand v. 14. März 2017, Doc GB.329/INS/20/6. Die Replik muss innerhalb einer durch den Verwaltungsrat jeweils festgelegten Frist eingegangen sein. Sollte Verwaltungsrat die erhaltene Replik nicht für befriedigend halten, kann er die Beschwerde auch ohne Antwort veröffentlichen. 415 Gitzel, Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 64; ein Überblick über die derzeit anhängigen Beschwerdeverfahren findet sich unter IAA, Verwaltungsrat, 338th Session 2020, Doc GB.338/ INS/INF/3, Rn. 2. 409

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Teil 1: Die Normen der ILO

Zum Teil wird das Verfahren hinsichtlich seiner Rechtsfolgen und der eingeschränkten Möglichkeiten der Sachverhaltsaufklärung als wenig effizient eingeschätzt.416 Hierauf deutet auch die vergleichsweise geringe Anzahl an Beschwerdeverfahren hin, woraus man folgern kann, dass auch die Sozialpartner andere Wege für effektiver halten, um Druck auf betreffende Mitgliedstaaten auszuüben.417 Zu beobachten ist zwar, dass die Anzahl der Beschwerden in den vergangenen Jahren leicht zugenommen hat.418 Diese (lediglich) leichte Zunahme bedeutet im Lichte des Zusammenbruchs des Ostblocks jedoch genau das Gegenteil: So ermöglichte der Zusammenbruch der dortigen Regime erstmalig tatsächlich die Einlegung einer Beschwerde durch die nationalen Sozialpartner. Hierzu kam es allerdings nie.419 Inzwischen ist die Zahl der Verfahren sogar wieder rückläufig.420 Ein Grund für die zurückhaltende Nutzung des Verfahrens dürfte wohl in den umständlichen Vorgaben der ILO-Verfassung und der speziellen Geschäftsordnung zur Durchführung des Beschwerdeverfahrens des Verwaltungsrates liegen.421 Im Rahmen des SRM wird derzeit über eine Reform des Beschwerdeverfahrens verhandelt. Die Überlegungen umfassen die Einführung eines ständigen Ausschusses, der anstelle der Ad-hoc-Ausschüsse die Beschwerden prüfen soll. Daneben spielen die Einführung von Fristen422 zur Überprüfung von Beschwerden, die engere Verzahnung mit der Arbeit anderer Überwachungsausschüsse423 und den Folgemaßnahmen nach Veröffentlichung einer Beschwerde sowie die Berücksichtigung 416

Ibid., S. 65. Ibid. 418 So Gitzel, Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 64; 419 Maupain, IOLR 2013, 117, 134 spricht von einer eigentlich zu erwartenden „Explosion“ der Verfahrenszahlen; siehe jüngst zum Beschwerdeverfahren gegen Weissrussland wegen Verletzungen von Übk. Nr. 87 und Nr. 98 die Folgebericht des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit IAA, Verwaltungsrat, 336th Session June 2019, Doc GB.336/INS/4/2. 420 Stübig, Flexibilität und Legitimität, S. 161: Während bis Ende der 1970er Jahre nur 12 Verfahren dokumentiert wurden, stieg in den Jahren zwischen 1980 – 1989 die Zahl der Verfahren auf 26; zwischen 1990 – 1999 auf 64. Von 2000 bis 2009 sank die Zahl der Verfahren allerdings wieder auf 31 Verfahren. Zwischen 2010 und Dezember 2020 wurden 65 Verfahren angestrengt. 421 Dies dürfte auch beabsichtigt gewesen sein: Durch die insgesamt acht Schritte, die das Verfahren bis zu einer Veröffentlichung des Verstoßes durchläuft, bildet das Verfahren den Gegenstand vieler Sitzungen des Verwaltungsrates, wodurch eine wiederkehrende Gelegenheit zum (diplomatischen) Austausch mit dem Mitgliedstaat geschaffen wird. Während des Verfahrens kann die Veröffentlichung als Druckmittel genutzt werden, um den Mitgliedstaat etwa zur (verstärkten) technischen Zusammenarbeit zu bewegen. Entsprechend handelt es sich bei dem Beschwerdeverfahren trotz seiner grundsätzlich konfrontativen Ausgangslage um ein konsensuales und diplomatisches Verfahren. Diese Herangehensweise scheint für die nationalen Gewerkschaften allerdings nicht sonderlich attraktiv zu wirken. 422 Derzeit finden sich keinerlei zeitliche Angaben zur Durchführung einer Beschwerde in der Geschäftsordnung, vgl. IAA, Verwaltungsrat, 329th Session March 2017, Doc GB.329/INS/ 5, S. 13. 423 Zur Bedeutung der Berichte des Sachverständigenausschusses vor und nach Einsetzung des tripartistischen Ausschusses Waas, AVR 2019, 123, 131. 417

D. Überwachung der Einhaltung der Normen

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der Verfügbarkeit (effektiver) nationaler Rechtsmitteln eine Rolle bei der Entscheidung, ob eine Beschwerde weiterverfolgt wird.424 Die Einrichtung eines ständigen Überwachungsausschusses scheint angesichts der gleichbleibenden Fallzahlen bisher nicht notwendig zu sein, zumal bezweifelt werden kann, dass das Fehlen eines ständigen Ausschusses die Hauptursache für die geringen Fallzahlen darstellt. Vielmehr dürfte hierfür die (beabsichtigt) umständliche Ausgestaltung des Verfahrens verantwortlich sein. Zudem würde die Einrichtung eines ständigen weiteren Ausschusses das ohnehin komplexe Überwachungsverfahren weiter verkomplizieren.425 2. Klageverfahren nach Art. 26 ff. ILO-Verfassung Ebenso wie das Beschwerdeverfahren zielt das Klageverfahren nach Art. 26 – 34 ILO-Verfassung im Ergebnis darauf ab, anstelle von Sanktionen einen Mitgliedstaat vor Abschluss des Verfahrens zu einem Einlenken zu bewegen. Beim Klageverfahren handelt sich aber um ein deutlich offensiveres Kontrollverfahren sowohl hinsichtlich der Möglichkeiten der ILO zur Sachverhaltsaufklärung als auch hinsichtlich der Rechtsfolge einer festgestellten Verletzung eines ratifizierten Übereinkommens. Es wird daher in einer kürzlich veröffentlichten gemeinsamen Erklärung der Sozialpartner als „last recourse“ bezeichnet.426 Anders als das Beschwerde- kann das Klageverfahren nicht von einer Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberorganisation, sondern durch einen Mitgliedstaat, einen Delegierten der IAK oder durch den Verwaltungsrat eingeleitet werden.427 Zudem unterscheidet sich das Klageverfahren dahingehend, dass es nicht näher durch eine Verfahrensordnung geregelt ist.428 Entsprechend steht es dem Verwaltungsrat frei, jedes Klageverfahren auf den konkreten Einzelfall anzupassen, solange die Vorgaben der Verfassung eingehalten werden. Auch ohne eine Geschäftsordnung hat sich jedoch ein standardisierter Ablauf herausgebildet. Ebenso wie zur Untersuchung einer Beschwerde nach Art. 24 f. ILO-Verfassung wird ein Ad-hoc-Ausschuss damit beauftragt, den der Klage zugrundeliegenden Sachverhalt aufzuklären. Dieser ist jedoch nicht tripartistisch, sondern mit unabhängigen Experten besetzt, die keiner der drei Gruppen zugeordnet werden können. Zur Aufklärung des Sachverhalts kann der Untersuchungsausschuss eine Stellung424

IAA, Verwaltungsrat, 329th Session March 2017, Doc GB.329/INS/5, S. 7, 12 f. Ibid., S. 7, 13. 426 IAA, Verwaltungsrat, 329th Session March 2017, Doc GB 329/OV, Annex II, S. 193. 427 Art. 26 Abs. 1, Abs. 4 ILO-Verfassung. 428 IAA, Verwaltungsrat, 329th Session March 2017, Doc GB.329/INS/5, S. 6 f. Die Verabschiedung einer Geschäftsordnung ist derzeit in Überlegung, wird jedoch von den Spezialpartnern mit der Begründung abgelehnt, dass durch zu starre Strukturen die Möglichkeit genommen wird, das Verfahren an die jeweilige Situation anzupassen, vgl. IAA, Verwaltungsrat, 329th Session March 2017, Minutes, GB.329/PV, S. 193. 425

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nahme des betreffenden Mitgliedstaates einholen und ergänzende Informationen bei der beschwerdeführenden Gewerkschaft oder dem Arbeitgeberverband erbitten. Der Ausschuss kann den Sachverhalt zudem vor Ort aufklären, ohne dass es hierfür der Zustimmung des Staates bedarf. Der Mitgliedstaat ist dazu verpflichtet, vollumfänglich zu kooperieren.429 Der Bericht des Ausschusses wird in den Dokumenten des Verwaltungsrates und später in einer Sonderbeilage des Amtsblatts der ILO veröffentlicht.430 Der größte Unterschied des Klageverfahrens zum Beschwerdeverfahren liegt in der Rechtsfolge. Der Bericht der Untersuchungskommission mündet nicht in eine Entscheidung des Verwaltungsrats, den Verstoß zu veröffentlichen, sondern wird durch den Generaldirektor dem Verwaltungsrat und „jeder am Streitfall interessierten Regierung“ mitgeteilt.431 Jede dieser Regierungen hat dem Generaldirektor innerhalb von der drei Monaten mitzuteilen, ob sie die in dem Bericht des Ausschusses enthaltenen Empfehlungen anerkennt oder zurückweist und für den Fall der Zurückweisung, ob sie den Streitfall dem IGH überweisen möchte.432 Sollten die Empfehlungen der Untersuchungskommission (oder des IGH) nicht befolgt werden, kann der Verwaltungsrat der IAK die Maßnahmen empfehlen, die ihm zur Sicherung der Empfehlung zweckmäßig erscheinen.433 Hierbei handelt es sich um die schärfste mögliche Sanktion der Normüberwachung.434 Seit Gründung der ILO wurden lediglich 41 Verfahren angestrengt.435 Bisher nur in einem Fall, nämlich auf der 87. IAK 1999436, wurde auf der Grundlage von Art. 33 ILO-Verfassung eine Reso-

429 Art. 27 ILO-Verfassung; Stübig, Flexibilität und Legitimität, S. 156, die darauf hinweist, dass bereits die Verweigerung einer Vor-Ort-Mission einen sanktionierbaren Verfassungsbruch darstelle, zu Myanmar: IAA, Report of the Commission of Inquiry appointed under article 26 of the Constitution of the International Labour Organization to examine the observance by Myanmar of the Forced Labour Convention, 1930 (No. 29) v. 2. Juli 1998, Official Bulletin, Vol. LXXXI, 1998, Series B, Special Supplement, S. 138. 430 Siehe etwa IAA, Bericht des Untersuchungsausschusses zur Überprüfung der Einhaltung von Übk. Nr. 87 und Nr. 98 durch Simbabwe v. 18. Dezember 2009, Official Bulletin, Vol. XCIII, 2010, Series B, Special Supplement. 431 Art. 29 Abs. 1 ILO-Verfassung. 432 Art. 29 Abs. 2 ILO-Verfassung; zum Bericht der Untersuchungskommission über Verstöße der DDR gegen Übk. Nr. 111 Maupain, Journal of International Economic Law 1999, 273, 283. 433 Art. 33 ILO-Verfassung. 434 Gitzel, Schutz der Vereinigungsfreiheit, S. 67; Wisskirchen, ILR 2005, S. 253, 269 f.; Stübig, Flexibilität und Legitimität, S. 157 f. weist zudem darauf hin, dass trotz entspr. Forderungen seitens ITUC sowohl die IOE als auch die G7 einer Erweiterung der Sanktionsmöglichkeiten ablehnend gegenüberstehen. 435 Stand: Dezember 2020; Stübig, Flexibilität und Legitimität, S. 158 geht davon aus, dass sich Anzahl in den letzten 40 Jahren auf fünf bis sechs Verfahren pro Dekade eingependelt hat. 436 Abrufbar unter: http://www.ilo.org/public/english/standards/relm/ilc/ilc87/com-myan. htm.

D. Überwachung der Einhaltung der Normen

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lution verabschiedet: Myanmar hatte nach Ansicht der Untersuchungskommission437 und der IAK gravierende Verletzungen von Übereinkommen Nr. 29 wegen Zwangsarbeit zu verantworten und erhielt daher keine weitere technische Unterstützung mehr durch die ILO.438 Auf der 88. IAK im Jahr 2000439 stellte die IAK zudem in einer weiteren Resolution fest, dass Myanmar die Empfehlungen immer noch nicht umgesetzt hatte.440 Daher entschloss sich die IAK zur Aufforderung aller Mitgliedstaaten, ihre Beziehungen mit Myanmar dahingehend zu überprüfen, dass im Rahmen dieser Beziehungen nicht auf Zwangsarbeit zurückgegriffen wird.441 Die Ergebnisse der Untersuchungskommission nahm auch die EG zum Anlass, 1997 Zollpräferenzen gegenüber Myanmar zurückzunehmen.442 3. Spezielles Verfahren bei Verstößen gegen die Vereinigungsfreiheit Neben den beiden verfassungsmäßig vorgesehenen Verfahren existiert ein drittes anlassbezogenes Verfahren. So überprüft der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit Verstöße gegen die unmittelbar durch die Verfassung geschützte Vereinigungsfreiheit.443 Der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit setzt sich aus je drei Regierungs-, 437 IAA, Report of the Commission of Inquiry appointed under article 26 of the Constitution of the International Labour Organization to examine the observance by Myanmar of the Forced Labour Convention, 1930 (No. 29) v. 2. Juli 1998, Official Bulletin, Vol. LXXXI, 1998, Series B, Special Supplement. 438 Eine Ausnahme war lediglich auf dem Gebiet der Zwangsarbeit vorgesehen, hierzu Langille, in: Blackett/Trebilcock, Transnational Labour Law, S. 509 f.; Charnovitz, Max Planck Yearbook of United Nations Law 2000, 147, 154 f. 439 Abrufbar unter: http://www.ilo.org/public/english/standards/relm/ilc/ilc88/resolutions. htm#_ftn1. 440 Hierzu Langille, in: Blackett/Trebilcock, Transnational Labour Law, S. 509, 518. 441 Siehe Pressemitteilung der ILO v. 13. Juni 2012, http://www.ilo.org/global/about-the-ilo/ newsroom/news/WCMS_183287/lang-en/index.htm; zum aktuellen Stand im Follow-up-Verfahren siehe IAA, Verwaltungsrat, 337th Session 2019, Doc GB.337/INS/I, Progress report on the follow-up to the resolution concerning remaining measures on the subject of Myanmar adopted by the Conference at its 102nd Session (2013). 442 VO (EG) Nr. 552/97 d. Rates v. 24. März 1997 zur vorübergehenden Rücknahme der allgemeinen Zollpräferenzen für Waren aus Myanmar, ABl. 1997 L 85, 8. 2012 und 2013 wurden die Maßnahmen seitens der IAK schließlich aufgehoben, vgl. Resolution concerning the measures on the subject of Myanmar adopted under article 33 of the ILO Constitution; hierzu Langille, in: Blackett/Trebilcock, Transnational Labour Law, S. 509, 520. Die Verordnung (EG) Nr. 552/97 wurde daraufhin aufgehoben. Myanmar genießt (rückwirkend) seit dem 13. Dezember 2012 wieder EBA-Präferenzen. Myanmar habe Fortschritte bei der Umsetzung der ILO-Empfehlungen erzielt und die Verstöße seien auf Grundlage der Schlussfolgerungen der ILO-Ausschüssen nicht mehr als „schwerwiegend und systematisch“ zu betrachten, siehe VO (EU) Nr. 607/2013 d. Parlamentes und d. Rates v. 12. Juni 2013 zur Aufhebung der VO (EG) Nr. 552/97, Erwägungsgrund Nr. 6. 443 Namentlich die Präambel sowie die Erklärung von Philadelphia; hierzu schon Teil 1 A. III und Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 49; Waas, AVR 2019, 123, 129.

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Teil 1: Die Normen der ILO

Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern zusammen444 und trifft seine Entscheidungen, soweit möglich, im Konsens.445 Auch der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit kann die betreffenden Staaten und Sozialpartner anhören oder vor Ort die Einhaltung der Übereinkommen überprüfen.446 Vertreter des betroffenen Staats sind während den Beratungen des Ausschusses ansonsten nicht anwesend.447 Die Schlussfolgerungen des Ausschusses haben zwar lediglich empfehlenden Charakter. Ihre Umsetzung wird allerdings überwacht. Im Fall eines Staats, der Übereinkommen Nr. 87 oder Nr. 98 ratifiziert hat, erfolgt die Überwachung der Umsetzung durch den Sachverständigenausschuss.448 Bei Staaten, die die Übereinkommen nicht ratifiziert haben, überwacht der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit mit Hilfe des IAA die Umsetzung der Empfehlungen selbst.449 Die tatsächliche Bedeutung des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit geht weit über die Ausschüsse der Beschwerde- und Klageverfahren hinaus. Zum 31. Dezember 2020 hat sich der Ausschuss mit 3.393 Fällen befasst, davon entfallen 666 auf Europa.450 Seine Empfehlungen werden auch veröffentlicht, sofern der Verwaltungsrat dem zustimmt. Die Veröffentlichung erfolgte zunächst dreimal jährlich, seit 2018451 in einem jährlich Bericht452 auf der Homepage des Verwaltungsrats und (zumeist knapp drei Jahre) später im Amtsblatt der ILO.453 Gerade im Zusammenhang mit der Frage der authentischen Interpretation der Übereinkommen auf Grundlage der Spruchpraxis der Überwachungsausschüsse sei darauf hingewiesen, dass der Ausschuss für Ver444 IAA, Compilation of decisions of the CFA, S. 307; Stübig, Flexibilität und Legitimitär, S. 163; Neugebauer, in: Senghaas-Knobloch, Weltweit gelende Arbeitsstandards trotz Globalisierung, S. 125, 129. Es kann sich kein Vertreter des Mitgliedes, gegen das eine Beschwerde erhoben wurde, oder eine Person, die eine offizielle Stelle in der nationalen Koalition einnimmt, die die Beschwerde eingereicht hat, an Beratungen des Ausschusses über den Fall beteiligen oder sogar anwesend sein. Ebenso werden die Unterlagen, die den Fall betreffen, nicht zugestellt. Hierdurch wird gewährleistet, dass das Gremium trotz der tripartistischen Besetzung unabhängige Entscheidungen trifft. 445 IAA, Compilation of decisions of the CFA, S. 307. 446 IAA, Compilation of decisions of the CFA, S. 317; Stübig, Flexibilität und Legitimität, S. 163. 447 Stübig, Flexibilität und Legitimität, S. 163. 448 Auch zwischen dem Ausschuss für Vereinigungsfreiheit und dem Sachverständigenausschuss besteht kein Rangverhältnis, sondern sie ergänzen sich in ihrer Arbeit. Widersprüche zwischen den Bemerkungen der beiden Ausschüsse sind bislang nicht bekannt. Zum Verhältnis der beiden Ausschüsse Bellace, AVR 2019, 153, 168 f. 449 Ibid.; IAA, Compilation of decisions of the CFA, S. 318 f. 450 Siehe http://www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=1000:20060:0::NO:20060::. 451 Bellace, AVR 2019, 153, 177 begrüßt diese Änderung grundsätzlich, da sie die öffentliche Wahrnehmung der Entscheidungen des Ausschusses so erhöht sieht. 452 Dieser 386. Bericht des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit beinhaltet die Darstellung dessen Entscheidungen aus dem Jahr 2017, siehe IAA, Verwaltungsrat, 333rd Session June 2019, 333rd Session June 2018, Doc GB.333/INS/6/3. 453 Siehe etwa den 367. Bericht des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit: IAA, Official Bulletin, Vol. XCVI 2013, Series B, No. 1.

D. Überwachung der Einhaltung der Normen

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einigungsfreiheit seit 1972 einen regelmäßig aktualisierten digest of decisions (nun: compilation of decisions)454 veröffentlicht, in dem die normativen Aussagen in den Empfehlungen zusammengefasst und, soweit für das Verständnis notwendig, ergänzt werden.455

III. Bewertung des Überwachungssystems Ob man die ILO-Überwachungssysteme als effektiv erachtet, hängt von mehreren Gesichtspunkten ab. Erstens ist die Einordnung des Überwachungssystems als effektiv oder weniger effektiv davon abhängig, was man unter dem Begriff der „Einhaltung“ versteht. Wann ILO-Übereinkommen eingehalten werden, hat Maupain wie folgt herausgearbeitet. Ein ratifiziertes Übereinkommen wird dann durch den Mitgliedstaat eingehalten, wenn: 1. dessen Rechtsvorschriften konform mit dem Übereinkommen sind, 2. die Rechtsvorschriften tatsächlich eingehalten werden und 3. weder die Rechtsvorschriften noch deren tatsächliche Umsetzung von der authentischen Bedeutung des Textes des Übereinkommens abweichen.456 Zweitens ist zu beachten, dass die ILO bei der Sicherstellung der Einhaltung der Übereinkommen als internationale Organisation nur über die Kompetenzen verfügt, die ihr von ihren Mitgliedstaaten übertragen wurden. Über Möglichkeiten, die Einhaltung der Normen auch gegen den Willen des Verpflichteten durchzusetzen, verfügen die ILO und ihre Überwachungsgremien gerade nicht.457 Stattdessen basiert das Überwachungssystem auf „weichen“ Methoden, nämlich im Benennen der Verletzungen und im Versuch, durch Diplomatie und Überzeugungskraft den Mitgliedstaat zur Einsicht zu führen, dass die Einhaltung der Verfassung und der ratifizierten Übereinkommen im eigenen Interesse ist. Teilweise erinnert das Vorgehen der Überwachungsgremien eher an eine Mediation im Sinne einer Konfliktlösung, bei welcher der Dialog zwischen dem der verletzten Norm Verpflichteten und dem durch die Norm Begünstigten im Vordergrund steht. Seltener wird die Einhaltung eines Übereinkommens durch ein offensiveres naming and shaming angemahnt. Als schwerwiegendste Sanktion können Rechte des Mitgliedstaats in der ILO ausgesetzt und die anderen Mitgliedstaaten aufgefordert werden, Sanktionen zu erlassen.

454

Zu möglichen Hintergründen der Umbenennung unter Teil 1 E. II. 8. a). Stübig, Flexibilität und Legitimität, S. 164. 456 Maupain, IOLR 2013, 117, 148 f. 457 Wisskirchen, ILR 2005, 253, 269 mit dem Hinweis auf die – in gewissem Umfang – bestehenden Möglichkeiten der Durchsetzung der Entscheidungen der Vereinten Nationen gegen den Willen eines Staates auf dem Gebiet des humanitären Völkerrechts, grds. kritisch zur effektiven Normdurchsetzung Weiss, in: FS Richardi, S. 1093, 1098 ff. 455

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Teil 1: Die Normen der ILO

Letzteres bildet allerdings die absolute Ausnahme und wurde bisher ein einziges Mal angewandt.458 Ausgehend von diesen Gesichtspunkten, kann das Überwachungssystem als effizient im Rahmen der ihm zustehenden Möglichkeiten bezeichnet werden. Es gilt aber als das Beste unter den Überwachungssystemen der Sonderorganisationen der Vereinten Nationen.459 Insbesondere die Berichte des seit 1926 regelmäßig eingesetzten Sachverständigenausschusses, die Debatten im Normanwendungsausschuss der IAK sowie die Verfahren vor dem Ausschuss für Vereinigungsfreiheit stoßen regelmäßig auf ein großes öffentliches Interesse und haben in der Vergangenheit viele Mitgliedstaaten zur Einhaltung von Übereinkommen bewegt.460

E. Norminterpretation Bekanntermaßen bedürfen Vorschriften, die auf die Regelung abstrakt-genereller Sachverhalte gerichtet, der Klärung ihrer Bedeutung mittels Auslegung, um Erkenntnisse für den konkreten Einzelfall ableiten zu können. Völkerrechtliche Normen wie die Verfassung der ILO und ihre Übereinkommen bilden hier keine Ausnahme.

I. Interpretationsmethodik Unabhängig von der Frage, wer zur Auslegung der Verfassung und der Übereinkommen der ILO befugt ist und welcher rechtliche und tatsächliche Stellenwert der Spruchpraxis der ILO-Ausschüsse zukommt, ist bei der Auslegung der Normen durch alle Normanwender die gleiche Methodik anzuwenden. 1. Auslegung anhand der Vorgaben der WVK Die Auslegungsregeln ergeben sich allerdings weder aus ausdrücklichen Regelungen in der ILO-Verfassung noch aus anderen ILO-Dokumenten.461 In den standardisierten Schlussbestimmungen der Übereinkommen wird lediglich bestimmt, dass die französische und die englische Sprachfassung gleichrangig verbindlich 458 459

S. 93. 460

Siehe unter Teil 1 D. II. 2. Wisskirchen, ILR 2005, 253, 269; Addo, Core Labour Standards and International Trade,

IAA/Koroma/van der Heijden, Verwaltungsrat, 326th Session March 2016, Review of ILO Supervisory Mechanism, Doc GB.326/LILS/3/1, S. 32 ff. 461 Pärli, in: Pärli u. a., Arbeitsrecht im int. Kontext, Rn. 1048; Wisskirchen, ILR 2005, 253, 277.

E. Norminterpretation

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sind.462 Entsprechend der Einordnung der Übereinkommen als völkerrechtliche Verträge sind die Regeln der Wiener Vertragsrechtskonventionen maßgebend, soweit sich im Einzelfall nicht doch eine nach Art. 5 WVK vorrangig zu berücksichtigende interne Regel ergibt. Diese Ansicht wird auch beispielsweise von der IAK,463 vom Sachverständigenausschuss,464 Arbeitgebervertretern im Normanwendungsausschuss,465 dem IAA,466 Regierungsvertretern im Verwaltungsrat sowie dem Generaldirektor467 geteilt.468 Eine wichtige Besonderheit469 besteht darin, dass Übereinkommen unter Berücksichtigung der sonstigen Normen der ILO, also den Erklärungen, Empfehlungen – und anderen Übereinkommen der ILO – auszulegen sind. So sind die Übereinkommen der ILO auf eine einheitliche Anwendung in den Mitgliedstaaten ausgelegt.470 So verweisen Übereinkommen nicht selten auch ausdrücklich aufeinander.471 Auch der Sachverständigenausschuss achtet darauf, Diskrepanzen zwischen der Auslegung einzelner Übereinkommen zu vermeiden.472

462

Nr. 87. 463

Pärli, in: Pärli u. a., Arbeitsrecht im int. Kontext, Rn. 1048; siehe bspw. Art. 21 Übk.

IAA, IAK, 88th Session 2000, Record of Proceedings, S. I/5, Rn. 7 und 11. Etwa IAA, IAK, 106th Session 2017, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 565; siehe weitere Beispiele bei Wisskirchen, ILR 2005, 253, 277. 465 Etwa IAA, IAK, 104th Session, 2015, Conference Committee on the Application of Standards, Extracts from the Record of Proceedings, Rn. 39; s. a. Wisskirchen, ILR 2005, 253, 276 f. 466 Bspw. Faundez, A view on international labour standards, labour law and MSEs Employment Working Paper No. 18, abrufbar unter: http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/pu blic/–ed_emp/documents/publication/wcms_110485.pdf, S. 3. 467 Etwa IAA, Verwaltungsrat, 323rd Session March 2015, Report of the Director-General, GB.323/INS/11/5, Rn. 31 u 67. 468 IAA, Verwaltungsrat, 328th Session October 2016, Minutes, GB.328/PV, Rn. 571. 469 Waas, AVR 2019, 123, 144 f. sieht es zudem als denkbar, den Vorarbeiten eines Übereinkommens aufgrund der tripartistischen Struktur der IAK einen größeren Stellenwert einzuräumen als es nach den Auslegungsregeln der Art. 31 ff. WVK der Fall wäre. Eine weitergehende Berücksichtigung etwa der aktuellen Positionen der drei Gruppen zur Auslegung eines Übereinkommens erscheint hingegen bedenklich, vgl. Bellace, AVR 2019, 153, 170. 470 Waas, AVR 2019, 123, 144 mit dem Argument, dass die Übereinkommen einer einheitlichen Struktur folgen. 471 Siehe etwa Art. 5 Übk. Nr. 111. 472 Etwa IAA; IAK, 63rd Session 1977, Report III (Part 1), Report of the CEACR, S. 16: „The interpretation of ,industrial undertaking‘ is the same as that in the Convention but there is no reference to a line of division between industry, commerce and agriculture“; IAA, IAK 73rd Session 1987, Report III (Part 1, 2 and 3), Report of the CEACR, Rn. 41: „working parties have been set up occasionally to examine questions of interpretation and principle relating to particular Conventions or the relations between several Conventions“; siehe auch Waas, AVR 2019, 123, 144. 464

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Teil 1: Die Normen der ILO

2. Einheitliche Interpretation ohne die Beachtung nationaler Besonderheiten Spätestens mit Beginn der Dekolonialisierung und dem damit einhergehenden Beitritt vieler Entwicklungsländer zur ILO stellt sich die Frage, ob Übereinkommen überhaupt weltweit einheitlich interpretiert werden können. So führten Vertreter mancher Staaten an, dass Übereinkommen, die bereits vor ihrem Beitritt in Kraft getreten waren, die Unterschiede der Arbeitsbedingungen in industrialisierten und weniger industrialisierten Ländern nicht genügend berücksichtigen würden. Zudem würden Entwicklungsländer nicht über die notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen verfügen, um die Formulierung neuer Übereinkommen ernsthaft mitgestalten zu können.473 Da die Besonderheiten der Arbeitsbeziehungen in weniger entwickelten Ländern im Übereinkommenstext kaum Berücksichtigung fänden, sei es daher an den Überwachungsausschüssen, die nationalen Besonderheiten in die Auslegung der Übereinkommen einfließen zu lassen. Neben den Entwicklungsländern führten auch Länder mit sozialistischen Planwirtschaften an, dass ihr Wirtschafts- und Sozialmodell eine abweichende Auslegung der Übereinkommen bedinge.474 Allerdings ermöglicht es bereits der Wortlaut vieler Übereinkommen ausdrücklich, entsprechende Unterschiede zu berücksichtigen475 – wie es bereits in Art. 19 Abs. 3 ILO-Verfassung vorgesehen ist.476 Die beschriebenen Forderungen an die Ausschüsse, den Inhalt sämtlicher Bestimmungen eines Übereinkommens „zugeschnitten“ auf den nationalen Einzelfall zu bestimmen, kann daher nicht überzeugen. Einerseits ermöglichen die meisten Übereinkommen bereits eine gewisse Flexibilität hinsichtlich des Einflusses lokaler, nationaler oder klimatischer477 Bedingungen. So muss etwa ein Mitgliedstaat gem. Art. 15 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 117 geeignete Maßnahmen zur Durchsetzung des schrittweisen Ausbaus eines umfassenden Systems der Schul-, Berufs- und Lehrlingsausbildung treffen, um die Kinder und die Jugendlichen beider Geschlechter wirksam auf eine nützliche Beschäftigung vorzubereiten, „soweit die örtlichen Voraussetzungen es irgendwie zulassen“.478 Andere Übereinkommen ermöglichen es den Mitgliedstaaten, „innerstaatliche Verhältnisse und Gepflogenheiten“ zu berücksichtigen.479 Eine Berücksichtigung nationaler 473

Servais/Van Goethem, International Labour Organization, Rn. 119. Hierzu Servais, International Labour Law, Rn. 156 ff. 475 So auch Wisskirchen, ILR 2005, 253, 259. 476 Smit, CLLPJ 2017, 395, 398; Thüsing, in: BMAS/BDA/DGB, Weltfriede durch soziale Gerechtigkeit, S. 254, 259 sieht hier Verbesserungsbedarf. 477 Siehe etwa Art. 8 Abs. 1 Übk. Nr. 126: „Für die Quartierräume der Besatzung ist, entsprechend den klimatischen Verhältnissen, eine angemessene Heizanlage vorzusehen“. 478 S. a. Art. 11 Abs. 1 Nr. 6 Übk. Nr. 117: „Die Löhne sind regelmäßig in solchen Zeitabschnitten auszuzahlen, daß die Wahrscheinlichkeit der Verschuldung der Arbeitnehmer verringert werden kann, es sei denn, daß dieser Regelung ein örtlicher Brauch entgegensteht, dessen Beibehaltung die Arbeitnehmer nach Feststellung der zuständigen Stelle wünschen“. 479 Siehe Art. 2 Übk. Nr. 140: „Jedes Mitglied hat eine Politik festzulegen und durchzuführen, die dazu bestimmt ist, mit Methoden, die den innerstaatlichen Verhältnissen und Ge474

E. Norminterpretation

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Besonderheiten ist zudem aufgrund von Formulierungen wie „soweit praktikabel“ oder „vernünftigerweise“ möglich, die sich in vielen Übereinkommen finden.480 Äußerst selten lassen es Übereinkommen den Mitgliedstaaten sogar offen, den persönlichen Anwendungsbereich des Übereinkommens selbst festzulegen.481 Durch die offene Gestaltung der Übereinkommen ist es daher auch nach der Verabschiedung der Übereinkommen möglich, den Inhalt in vielerlei Hinsicht im Kontext der konkreten Bedingungen zu bestimmen, wodurch auch die Interessen von Ländern genügend Berücksichtigung finden, die bei der Aushandlung eines Übereinkommens ihre Interessen und potentielle Probleme bei der Umsetzung nicht artikulieren konnten.482 Aufgrund der mannigfaltigen ausdrücklichen Möglichkeiten der Berücksichtigung nationaler Besonderheiten sind alle Bestimmungen, die keine Abweichungen zulassen, für alle Länder gleich auszulegen.483 Dies folgt auch aus der Einordnung der Übereinkommen als völkerrechtliche Verträge,484 deren Ratifizierung zudem jedem Mitgliedstaat freisteht. Zu guter Letzt würde das Absenken des Schutzniveaus wegen der Beachtung nationaler Besonderheiten den Charakter der garantierten Rechte als universelle Menschenrechte ad absurdum führen.

II. Norminterpreten Das Völkervertragsrecht sieht vor, dass die Staaten nicht nur in der Entscheidung frei sind, Vertragsbeziehung einzugehen. Die Vertragsparteien bestimmen durch ihr Verhalten vor und nach Vertragsschluss auch die Auslegung der Verträge.485 Sollten sich die Vertragsparteien hinsichtlich der Auslegung des Vertrags uneins sein, steht es ihnen offen, die Frage nicht selbst im Wege von Verhandlungen zu lösen, sondern an den IGH oder ein anderes Gericht oder Gremium zu delegieren. Sollte eine entsprechende Delegation stattfinden, sind die Möglichkeiten der Einflussnahme der Vertragsparteien auf die Interpretation zwar eingeschränkt. Andererseits genießen die Gerichte keine völlige Freiheit bei der Auslegung des Vertragstextes,486 sondern pflogenheiten angepaßt sind, und nötigenfalls schrittweise, die Gewährung von bezahltem Bildungsurlaub zu fördern“. Andere Beispiele sind Art. 7 Übk. Nr. 156 und Art. 9 Übk. Nr. 166. 480 Hierzu IAA, Office of the Legal Adviser, Manual for drafting ILO instruments, Appendix 8, S. 124 ff. mit zahlreichen Beispielen, etwa Art. 1 Übk. Nr. 2, Art. 5 Abs. 1 lit. c) Übk. Nr. 13, Art. 2 Abs. 2, Abs. 3 Übk. Nr. 14. 481 Bspw. Art. 8 Abs. 2 Übk. Nr. 172 über Arbeitsbedingungen (Hotels und Restaurants) und Art. 8 Übk. Nr. 175 über Teilzeitarbeit, hierzu: IAA, Office of the Legal Adviser, Manual for drafting ILO instruments, S. 48 f. 482 Stübig, Flexibilität und Legitimität, S. 80. 483 Smit, CLLPJ 2017, 395, 398. 484 So auch Wisskirchen als Vertreter der IOE im Normanwendungsausschuss der IAK 1986, vgl. IAA, IAK, 72nd Session 1986, Record of Proceedings, S. 38/14. 485 Roberts, in: Nolte, Treaties and Subsequent Practice, S. 95, 95; vgl. insb. Art. 31 Abs. 3 lit. a) und lit. b) WVK. 486 Roberts, in: Nolte, Treaties and Subsequent Practice, S. 95, 95 f.

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Teil 1: Die Normen der ILO

sind an die Vorgaben der WVK gebunden. Diese sehen (auch für internationale Gerichte) die Berücksichtigung des Verhaltens der Vertragsparteien vor. Sowohl hinsichtlich der (freiwilligen) Einschränkung der Vertragsparteien im Falle der Delegation einer Auslegungsstreitigkeit an eine dritte Partei als auch hinsichtlich der Bindung der Vertragsparteien und Dritter an die WVK ergeben sich im Kontext internationaler Organisationen grundsätzlich keine Abweichungen.487 Ein Unterschied ergibt sich jedoch im Hinblick auf die Organe, die mit der Konstituierung der internationalen Organisation ins Leben gerufen wurden: Etwa durch die Verfassung der ILO werden zwischenstaatliche Beziehungen auf dem Gebiet des Arbeits- und Sozialrechts durch institutionalisierte multilaterale Beziehungen nicht nur ergänzt, sondern zum Teil sogar ersetzt. So erfolgen Ausarbeitung und der Vertragsschluss (hier die Verabschiedung der Übereinkommen) nicht unmittelbar zwischen den Staaten, sondern durch Organe der ILO, in denen nicht nur Regierungsrepräsentanten vertreten sind. Ebenso wurden Organe und Ausschüsse mit der Überwachung der Einhaltung der Standards betraut. Die Ausgangslage ist somit unweigerlich komplexer als in gängigen zwischenstaatlichen Beziehungen. In dieser komplexen Matrix stellt sich die Frage, wer zur Auslegung der Übereinkommen befugt ist und wessen Auslegung verbindlicher Charakter zukommt. Ausgangspunkt der Frage nach der verbindlichen Auslegung von Übereinkommen bildet die Verfassung der ILO: In ihr sind zwei Mechanismen zur verbindlichen Auslegung der Verfassung und von Übereinkommen vorgesehen. So kann gem. Art. 37 Abs. 1 ILOVerfassung der IGH angerufen werden. Daneben besteht die Möglichkeit, ein eigenes Gericht für entsprechende Fragen einzurichten, Art. 37 Abs. 2 ILO-Verfassung. 1. Internationaler Gerichtshof a) Unbestrittene Verbindlichkeit der Auslegung des IGH Art. 37 Abs. 1 ILO-Verfassung bestimmt, dass alle Fragen oder Schwierigkeiten in der Auslegung der Verfassung oder der Übereinkommen dem Internationalen Gerichtshof vorgelegt werden.488 Hieraus wird gefolgert, dass neben dem (bisher nicht eingesetzten Gericht nach Art. 37 Abs. 2) allein der IGH über die Kompetenz verfügt, die Übereinkommen verbindlich auszulegen.489 Von der Möglichkeit der 487 Dies bestätigen auch die mit den Art. 31 f. WVK wortgleichen Art. 31 f. WVK-IO; vgl. auch Gardiner, Treaty Interpretation S. 126 m. w. N. insb. zur Sichtweise der International Law Commission. 488 Art. IX Abs. 3 der ILO-UN-Vereinbarung sieht vor, dass die IAK und der Verwaltungsrat auf Grundlage der Beauftragung durch die IAK dem IGH eine Frage zur Klärung vorlegen kann. Die Antragsberechtigung wurde durch Beschluss vom 27. Juni 1949 dem Verwaltungsrat zugewiesen, vgl. Seifert, in: FS Eichenhofer, S. 603, 615. Ein einzelner Mitgliedstaat oder eine einzelne Gruppe kann den IGH nicht anrufen. 489 IAA, NORMES, Handbook of procedures, S. 42; siehe auch IAA, Verwaltungsrat, 338th Session March 2020, Doc GB.338/INS/5, Rn. 21 („appears mandatory“); auf die Diskrepanzen in den Formulierungen in den maßgeblichen franz. und engl. Sprachfassungen und die Auf-

E. Norminterpretation

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Anrufung des IGH in Art. 37 Abs. 1 ILO-Verfassung, Art. IX ILO-UN-Vereinbarung,490 Art. 36 IGH-Statut wurde allerdings bisher nicht Gebrauch gemacht.491 Der Vorgänger des IGH, der Ständige Internationale Gerichtshof (StIGH), wurde hingegen zwischen 1922 und 1932 sechsmal angerufen.492 Hierbei stand lediglich die letzte493 Vorlage mit der Interpretation eines Übereinkommens in Zusammenhang. Konkret ging es um die Bestimmung des Anwendungsbereichs von Übereinkommen Nr. 4 (Nachtarbeit von Frauen).494 Spätere Überlegungen über die Vorlage von Auslegungsfragen wurden allesamt verworfen.495 b) Keine Anrufung des IGH zur Klärung des Gewährleistungsgehalts von Art. 3 Übereinkommen Nr. 87 oder der Reichweite des Mandats des Sachverständigenausschusses In der jüngeren Geschichte der ILO wurde 2006 im Zusammenhang mit dem Klageverfahren über die Einhaltung von Übereinkommen Nr. 29 durch Myanmar lösung dieser Unklarheit über Art. 33 Abs. 3 WVK soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden, vgl. La Hovary, in: SJEC, Ensuring Coherence in Fundamental Labor Rights Case Law, abrufbar unter: http://www.thehagueinstituteforglobaljustice.org/wp-content/uploads/2016/09/ SJEC-Conference-booklet-Final-15-September.pdf, S. 50, 53. 490 IAA, ILO Official Bulletin v. 20. Dezember 1946, Vol. XXIX, No. 6, S. 385, 388. 491 Heuschmid/Klebe, in: FS Lörcher, S. 336, 337; Schlachter, RdA 2011, 341, 345; Seifert, in: FS Eichenhofer, S. 603, 606 u. 613. 492 StIGH, Designation of the Worker’s Delegate for the Netherlands at the Third Session of the International Labour Conference (PCIJ Rep Series B No 1); Competence of the International Labour Organization in regard to International Regulation of the Conditions of Labour of Persons Employed in Agriculture (PCIJ Rep Series B No 2); Competence of the International Labour Organization to Examine Proposals for the Organization and Development of Methods of Agricultural Production (PCIJ Rep Series B No 3); Competence of the International Labour Organization to Regulate Incidentally the Personal Work of the Employer (PCIJ Rep Series B No 13); Free City of Danzig and the International Labour Organization (PCIJ Rep Series B No 18); and Interpretation of the Convention of 1919 concerning Employment of Women during the Night (PCIJ Rep Series A/B No 50). Die drei zuerst genannten Gutachen wurden 1922 abgegeben, die nachfolgenden 1926, 1930; das Gutachten zur Nachtarbeit von Frauen 1932; vgl. auch Maupain, Journal of International Economic Law 1999, 273, 287; Servais, International Labour Law, Rn. 144. 493 Die ersten fünf Vorlagen bezogen sich auf Fragen der Reichweite von Kompetenzübertragungen der Mitgliedstaaten auf die ILO. Diese Entscheidungen waren für die ILO insoweit von Bedeutung, der StIGH von einer sehr weiten Regelungskompetenz der ILO ausging; näheres zu den Gutachten in: La Rosa/Saint-Pierre Guilbault, in: Wolfrum, MPEIL, Advisory Opinions of the Permanent Court of International Justice on Issues of the International Labour Organization (Stand: Februar 2011); vgl. auch La Hovary, CLLPJ 2017, 337, 340; Nußberger, Sozialstandards im Völkerrecht, S. 249 f. 494 Servais, International Labour Law, S. 79; Bellace, CLLPJ 2017, 495, 503. 495 Vgl. etwa Sitzungsprotokoll des 51. Treffens des Verwaltungsrates 1931, IAA, Verwaltungsrat, 51st Session 1931, Minutes, S. 117 ff.; IAA, Verwaltungsrat, 338th Session March 2020, GB.338/INS/5, Rn. 17; zu den zwei Fällen, in denen der Sachverständigenausschuss eine Anrufung des IGH erwog Waas, AVR 2019, 123, 142.

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Teil 1: Die Normen der ILO

eine Anrufung des IGH relevant.496 Die Vorlage an den IGH erfolgt im Rahmen des Klageverfahrens allerdings über Art. 29 Abs. 2 ILO-Verfassung und nicht über Art. 37 Abs. 1 ILO-Verfassung. 2007 beschloss der Verwaltungsrat, die Frage zurückzustellen und machte deutlich, eine interne Lösung zu bevorzugen, wobei auch das ILO-interne Gericht auf Grundlage von Art. 37 Abs. 2 ILO-Verfassung als Alternative zum IGH diskutiert wurde.497 Mehrere informelle Treffen in 2010 führten zu keinem Ergebnis, insbesondere nicht zur Einrichtung eines ILO-internen Gerichts.498 Grund hierfür war, dass keine der drei Gruppen die Errichtung eines ILO-internen Gerichts zu diesem Zeitpunkt als Vorteil für die eigene Position wahrnahm. Die Arbeitgebervertreter wünschten die Beendigung der informellen Konsultationen und machten deutlich, dass sie an keiner weiteren Diskussion über dieses Thema mehr teilnehmen würden.499 Sie forderten stattdessen eine bessere „Beteiligung“500 bei der Auslegung von Übereinkommen, auch im Sachverständigenausschuss.501 Die Arbeitnehmervertreter sahen keinen Grund für die Veränderung des bestehenden Systems, das sie als integer und glaubwürdig erachteten.502 Auf Regierungsseite waren die Meinungen sehr unterschiedlich und reichten von einer entschiedenen Ablehnung etwa durch die Gruppe Lateinamerika und Karibik (GRULAC) bis hin zur uneingeschränkten Unterstützung eines ILO-internen Gerichts insbesondere durch Frankreich und die Schweiz.503 Die Regierungs- und Gewerkschaftsvertreter stimmten aber darin überein, dass weitere Konsultationen erforderlich waren.504 Hierzu kam es aber im Folgenden zunächst nicht. 496 La Hovary, in: SJEC, Ensuring Coherence in Fundamental Labor Rights Case Law, S. 50, 55; siehe auch Maupain, IOLR 2013, 117, 125; Hofmann/Schuster, AVR 2013, 483, 498; zum Klageverfahren unter Teil 1 II. 2. 497 IAA, Verwaltungsrat, 298th Session 2007, Conclusions on item GB.298/5; La Hovary, in: SJEC, Ensuring Coherence in Fundamental Labor Rights Case Law, S. 50, 55; La Hovary, CLLPJ 2017, 337, 346. 498 La Hovary, in: SJEC, Ensuring Coherence in Fundamental Labor Rights Case Law, S. 50, 55. 499 IAA, Informal Report of the November 2010 Consultations – Interpretation of ILC, Rn. 3, 5, 17. 500 La Hovary, in: SJEC, Ensuring Coherence in Fundamental Labor Rights Case Law, S. 50, 55, legt nahe, dass es ihnen eher um Kontrolle ging. 501 IAA, Informal Report of the November 2010 Consultations – Interpretation of ILC, Rn. 4. 502 La Hovary, CLLPJ 2017, 337, 346: Zudem seien unnötige Kosten zu vermeiden, die Rolle der Ausschüsse sei zu stärken und das bestehende Überwachungssystem offener und transparenter zu gestalten, vgl. IAA, Informal Report of the November 2010 Consultations – Interpretation of ILC, Rn. 4; La Hovary, in: SJEC, Ensuring Coherence in Fundamental Labor Rights Case Law, S. 50, 55. 503 La Hovary, in: SJEC, Ensuring Coherence in Fundamental Labor Rights Case Law, S. 50, 56; La Hovary, CLLPJ 2017, 337, 347. 504 La Hovary, in: SJEC, Ensuring Coherence in Fundamental Labor Rights Case Law, S. 50, 55 f.

E. Norminterpretation

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Erst die Ereignisse auf der IAK im Jahr 2012505 führten zu erneuten informellen Treffen. Bis zur 320. Sitzung des Verwaltungsrats im März 2014 schien zwar kein Konsens hinsichtlich des konkreten Inhalts einer Vorlagefrage über das Streikrecht zu bestehen. Alle Gruppen stimmten aber darin überein, dass eine Vorlage erfolgen sollte, um die bestehenden Diskrepanzen zu beseitigen.506 Auf Grundlage der Vorarbeiten des Generaldirektors deutete sich auf der 322. Sitzung des Verwaltungsrats im November 2014 an, dass dem IGH die Vorlagefrage übermittelt werden sollte, ob „das Streikrecht von Übereinkommen Nr. 87 geschützt werde“.507 Im Februar 2015 wurde die Vorlage jedoch von der Tagesordnung des Verwaltungsrates genommen und nicht weiterverfolgt.508 Grund hierfür bildete folgende Verschiebung: Zum Zeitpunkt der Entschließung des Verwaltungsrats befürwortete die Gewerkschaftsseite eine Klärung durch den IGH. Sie ging (aus guten Gründen)509 davon aus, dass eine gerichtliche Klärung zugunsten einer Gewährleistung des 505

Hierzu ausführlich unter Teil 1 E. II. 7. a) dd). IAA, Verwaltungsrat, 320th Session March 2014, Minutes, GB.320/PV, Rn. 574 ff.; IAA, Verwaltungsrat, 320th Session March 2014, Doc GB.320/LILS/4, Rn. 21 f.; s. a. La Hovary, in: Blackett/Trebilcock, Transnational Labour Law, S. 316, 317; Seifert, in: FS Eichenhofer, S. 603, 616 weist darauf hin, dass durch die allgemeine Feststellung eines Streikrechts „nicht viel gewonnen“ sei, da sich die Gruppen ohnehin vor allem um die konkreten Konturen des Rechts stritten. 507 IAA, Verwaltungsrat, 322nd Session October-November 2014, Doc GB.322/INS/ 5(Add.), S. 4. Entsprechend veröffentlichten zu dieser Frage sowohl IOE als auch ITUC Gutachten, vgl. IOE, Do ILO Conventions 87 and 98 recognise a right to strike, abrufbar unter: http://www.ioe-emp.org/fileadmin/ioe_documents/publications/Policy%20Areas/international_ labour_standards/EN/_2014-11-03__IOE_Paper_on_the_Right_to_Strike_in_Conventions_87_ and_98__final_web_and_print_.pdf; ITUC, The right to strike and the ILO, abrufbar unter: http://www.ituc-csi.org/IMG/pdf/ituc_final_brief_on_the_right_to_strike.pdf. 508 La Hovary, in: Blackett/Trebilcock, Transnational Labour Law, S. 316, 317; Lörcher, in: HSI-Newsletter zum europäischen Arbeitsrecht, 01/2015, abrufbar unter: http://www.hugo-sinz heimer-institut.de/hsi-newsletter/europaeisches-arbeitsrecht/2015/newsletter-012015.html#c64 99; Bellace, AVR 2019, 153, 174. 509 Hierfür spricht schon die entsprechende Auslegung vieler Verfassungsüberlieferungen und anderer völkerrechtlicher Instrumente. Auch die Spruchpraxis des Sachverständigenausschuss und des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit wäre sicherlich nicht unberücksichtigt geblieben. So hatte der IGH etwa in seinem Gutachten zum Mauerbau in besetzten palästinensischen Gebieten auf Spruchpraxis des Menschenrechtskomitees sowie des Ausschusses für Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte zurückgegriffen, um den Geltungsbereich des IPbpR und des IPwskR zu definieren, vgl. IGH v. 9. Juli 2004, Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory (Advisory Opinion), ICJ Reports 2004, 136, Rn. 109 f.; Nolte, Treaties and Subsequent Practice, S. 378, Fn. 442. Ein entsprechendes Vorgehen wird dem IGH zudem sogar in seinen Statuten vorgegeben. Gem. Art. 38 Abs. 1 lit. d) des IGH-Statuts hat dieser (unter Vorbehalt des Grundsatzes der inter partesWirkung) sowohl „gerichtliche Entscheidungen“ als auch die „Lehren der anerkanntesten Autoren der verschiedenen Völker“ als Hilfsmittel zur Feststellung der Rechtsnormen zu nutzen. Hierbei wird der Begriff der „gerichtlichen Entscheidungen“ weit ausgelegt und umfasst auch die Einschätzungen von Menschenrechtsausschüssen in ihren Empfehlungen und Berichten, vgl. Adenas/Leiss, Article 38(1)(d) ICJ Statute and the Principle of Systemic Institutional Integration, University of Oslo Faculty of Law Research Paper No. 2016 – 20. 506

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Teil 1: Die Normen der ILO

Streikrechts von Übereinkommen Nr. 87 ausgegangen wäre.510 Allerdings war die Vorlage der Frage nach dem Gewährleistungsgehalt von Übereinkommen Nr. 87 zu diesem Zeitpunkt nicht mehr511 im Interesse der Arbeitgeberverbände. Aus diesem Grund passten sie ihre Position zur Sitzung des Verwaltungsrats im November 2012 an. So führte de Rioja, Vertreter der Arbeitgebergruppe, an, den Arbeitgebern bleibe nichts anderes übrig als eine Vorlage an den IGH zu verlangen, sofern die beiden anderen Gruppen hinsichtlich des Mandats des Sachverständigenausschusses weiterhin eine andere Ansicht vertreten würden.512 Die Anpassung der Vorlagefrage wird erst auf den zweiten Blick deutlich: Nicht mehr die Frage, ob das Streikrecht von Übereinkommen Nr. 87 gewährleistet wird, sondern die institutionelle Frage, ob die Auslegungen des Sachverständigenausschusses verbindlich sind, sollte nach dem Willen der Arbeitgebervertreter vorgelegt werden. Diese Anpassung der Vorlagefrage durch die Arbeitgebergruppe wurde zwar durch die Arbeitnehmerseite nicht übernommen, da sie im Fall der Vorlage und einer negativen Beantwortung durch den IGH eine Beschädigung der Glaubwürdigkeit des Normüberwachungssystems der ILO befürchtete.513 Viele Regierungen konnten

510 Maupain, IOLR 2013, 117, 142; vgl. auch Bellace, ILR 2014, 29, 42; Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 131; Hofmann/Schuster, AVR 2013, 483, 485 mit dem Hinweis, dass andere ILO-Übereinkommen das Bestehen eines Streikrechts freilich voraussetzen, z. B. Art. 69 lit. i) Übk. Nr. 102 sowie Art. 1 lit. d) Übk. Nr. 105. 511 Vgl. auch die frühere Position in IAA, IAK, 101st Session 2012, Record of Proceedings, S. 27/4. 512 IAA, Verwaltungsrat, 316th Session November 2012, GB.316/PV(&Corr.), Rn. 98/21: „A referral to the ICJ carries significant political and legal risk for us all in the ILO. In June we said that there is no need to make a referral to the ICJ because the experts’ mandate is clear. It remains clear to us. If we in the Governing Body cannot agree the current mandate, then the Employers must now accept that regrettably this position will have to change, as article 37 requires us to properly consider an ICJ referral.“; Maupain, IOLR 2013, 117, 143. 513 Da diese Ansicht aber weder vom Sachverständigenausschuss noch von einer Regierungs- oder der Arbeitnehmergruppe 2012 oder im Nachgang geteilt wurde, wäre eine Entscheidung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zugunsten der rechtlichen Unverbindlichkeit der Spruchpraxis ausgegangen (so auch Maupain, IOLR 2013, 117, 143 f.; ähnlich Bellace, CLLPJ 2017, 495, 503). Zur Frage des Gewährleistungsgehalts von Übk. Nr. 87 führte de Rioja aus, dass im Fall der Verbindlichkeit der Spruchpraxis viele Länder u. a. politische Streiks und Solidaritätsstreiks legalisieren müssten. Auch Unternehmen, die freiwillig internationalen Rahmenabkommen, genannt werden der UN Global Compact, die ISO 26000, die OECD Guidelines und die dreigliedrige Grundsatzerklärung über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik der ILO, unterworfen hätten, müssten sodann das Streikrecht gegenüber ihren Beschäftigten beachten, und zwar unabhängig davon, ob das Land, in dem sie tätig sind, Übk. Nr. 87 ratifiziert und umsetzt, vgl. IAA, Verwaltungsrat, 316th Session November 2012, GB.316/PV(&Corr.), Rn. 98/25. Laut Maupain wollte de Rioja hierbei den Eindruck vermitteln, dass es sich bei der Frage nach dem Mandat des Sachverständigenausschusses und der Frage nach dem Gewährleistungsinhalt von Art. 3 Übk. Nr. 87 lediglich um eine andere Formulierung derselben Frage handele. Durch die Überlagerung und teilweise Vermischung der Fragen sollten laut Maupain die Regierungsvertreter gegen eine Vorlage zur Auslegung von Übk. Nr. 87 beeinflusst werden, vgl. Maupain, IOLR 2013, 117, 143 f.

E. Norminterpretation

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allerdings von der Position der Arbeitgebervertreter überzeugt werden.514 Aufseiten der Regierungen ist zudem zu beachten, dass gerade die USA eine schwierige Beziehung515 zum IGH pflegt und eine Vorlage schon aus diesem Grund nicht unterstützte.516 Entsprechend überrascht es nicht, dass die Bestrebungen der Vorlage einer der Fragen an den IGH im Februar 2015 durch den Verwaltungsrat aufgegeben wurden.517 Zu diesem Zeitpunkt hatten die Sozialpartner auch eine politische (uneindeutige)518 Einigung über das Streikrecht und die Reichweite des Mandats des Sachverständigenausschusses erzielt.519 2. Internes Gericht für Auslegungsstreitigkeiten Bis 1946 war neben der Anrufung des StIGH/IGH keine weitere Möglichkeit zur Klärung von Auslegungsstreitigkeiten in der Verfassung vorgesehen.520 Erst die 514

Vgl. Bellace, CLLPJ 2017, 495, 500 f. Zu denken ist nur an die Rücknahme der Unterwerfungserklärung durch die USA im Zuge des Nicaragua-Falles, aber auch an den vorherigen Conally-Vorbehalt. 516 La Hovary, in: SJEC, Ensuring Coherence in Fundamental Labor Rights Case Law, S. 50, 58; siehe allerdings die Position der US-Regierung zur Garantie des Streikrechts durch Übk. Nr. 87, wiedergegeben bei: Vogt, CLLPJ 2017, 537, 541. 517 IAA, Verwaltungsrat, 323rd Session March 2015, Minutes, GB.323/PV, Rn. 84, lit. b); Koroma/van der Heijden, Review of ILO Supervisory Mechanism, GB.326/LILS/3/1, S. 43, die im gleichen Beschluss mit diesem Gutachten beauftragt wurden, sehen die Anrufung des IGH auch weiterhin als sinnvolles Mittel, das genutzt werden wollte: „A viable approach could be to emphasize the role of the ICJ as the authorative body for interpretation and promote the procedure in article 37(1)“. 518 Hierzu unter Teil 1 E. II. 7. a) ff). 519 Vgl. Seifert, in: FS Eichenhofer, S. 603, 606. Zu Bedenken seien laut La Hovary, CLLPJ 2017, 337, 342 f. offene rechtliche Fragen, wie etwa ob auf Grundlage von Art. 37 Abs. 1 ILOVerfassung ein Urteil oder ein Gutachten durch den IGH angefordert werden könne, da sich die engl. und franz. Sprachfassungen hier unterschieden. Diese Frage dürfte durch Art. IX Abs. 2 des ILO-UN-Abkommens hinreichend geklärt sein. Hiernach ist ein Gutachten (advisory opinion) einzuholen. Ebenso führt La Hovary (S. 343) an, dass unklar sei, welche Beteiligungsrechte den Gruppen der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter im Rahmen eines IGHVerfahrens zustünden. In der Tat ist die Rolle von NGOs in IGH-Verfahren bislang nicht zufriedenstellend geregelt worden, vgl. auch Rosenne, in: Wolfrum, MPEIL, International Court of Justice (Stand: Juni 2006), Rn. 107; Del Vecchio, in: Wolfrum, MPEIL, International Courts and Tribunals, Standing (Stand: November 2010), Rn. 13. Allerdings basieren die Regeln des IGH zu den Rechten Verfahrensbeteiligter auf jenen des StIGH. Dieser hatte im Rahmen der sechs Verfahren zur ILO den internationalen Gewerkschafts- und Arbeitgeberverbänden weitrechende Rechte, wie etwa die Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme und Beteiligung am mündlichen Verfahren gegeben, vgl. La Rosa/Saint-Pierre Guilbault, in: Wolfrum, MPEIL, Advisory Opinions of the Permanent Court of International Justice on Issues of the International Labour Organization (Stand: Februar 2011), Rn. 5 und Rn. 16 f. Die Bedenken sind daher nicht stichhaltig. 520 Vgl. IAA, IAK, 29th Session 1946, Instrument for the Amendment Adopted by ILC at its 29th Session, Official Bulletin v. 15. November 1946 XXIX, Nr. 4, S. 241 f.; Servais, International Labour Law, Rn. 142. 515

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Teil 1: Die Normen der ILO

Verfassungsänderung ermöglicht es dem Verwaltungsrat in einem neuen zweiten Absatz des Art. 37 ILO-Verfassung Regeln zur Errichtung eines Gerichtes „zur raschen Erledigung von Fragen oder Schwierigkeiten, die sich aus der Auslegung eines Übereinkommens ergeben und dem Gericht vom Verwaltungsrat oder nach den Bestimmungen dieses Übereinkommens vorgelegt werden können“ aufzustellen und der IAK zur Genehmigung zu unterbreiten.521 Mit dem neuen Absatz erhoffte man sich eine schnellere Lösung von Meinungsverschiedenheit.522 Von der Möglichkeit der Einrichtung eines ILO-internen Gerichts wurde bisher kein Gebrauch gemacht.523 Anders als die Vorlage an den IGH ist die Errichtung eines ILO-internen Gerichts aber (wohl) weiterhin in Diskussion.524 Die Errichtung wäre völkerrechtlich keine Ausnahme. Beispiele für entsprechende internationale Spruchkörper sind der auf Grundlage des Seerechtsübereinkommens525 gebildete Internationale Seegerichtshof und die panels sowie der appelate body der WTO526.527 a) Derzeitige Überlegungen zur Aktivierung von Art. 37 Abs. 2 ILO-Verfassung Gemäß dem aktuellen Standard-Review-Mechanism-Arbeitsplan des Verwaltungsrats sollen zunächst Leitlinien für den dreiseitigen Meinungsaustausch über die Aktivierung von Art. 37 Abs. 2 ILO-Verfassung erarbeitet werden. Die zu lösenden Fragen sollen zuvor durch das IAA strukturiert werden.528 Bereits 2010 wurden hierbei drei vorrangige Problemkreise identifiziert: Erstens müsse das Gericht überhaupt geeignet sein, einen Beitrag zur Stärkung des Normensystems, einschließlich des Überwachungssystems, zu leisten. Zweitens müsse es einen Beitrag aller drei Gruppen zur Auslegung der Übereinkommen ermöglichen. Drittens soll die 521

IAA, NORMES, Handbook of procedures, S. 42; La Hovary, CLLPJ 2017, 337, 341 f. Servais, International Labour Law, Rn. 145; Valticos, International Labour Law, Rn. 119; etwa Koroma/van der Heijden, Review of ILO Supervisory Mechanism, GB.326/ LILS/3/1, S. 44. Hinzu kam, dass 1946 noch im Ungewissen lag, ob die ILO unmittelbar vom IGH Rechtsgutachten verlangen konnte, da dies erst später über Art. IX der Vereinbarung mit der UN eingeräumt wurde, vgl. Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 204; IAA, IAK, 29th Session 1946, Record of Proceedings, S. 65 f.; zu damaligen Überlegungen über die Einführung eines „Vorabentscheidungsverfahrens“ Waas, AVR 2019, 123, 151 f., der dieses für eine auch heute diskutable Option hält. 523 Servais, International Labour Law, Rn. 142; Koroma/van der Heijden, Review of ILO Supervisory Mechanism, GB.326/LILS/3/1, S. 44. 524 Siehe IAA, Verwaltungsrat, 331st Session October-November 2017, Doc GB.331/INS/5, Rn. 68. 525 Seerechtsübereinkommen der UN vom 10. Dezember 1982, UNTS 1833, S. 3. 526 Zu dessen Rechtsgrundlagen (insbesondere der DSU) siehe: Stoll, in: Wolfrum, MPEIL, World Trade Organization, Dispute Settlement (Stand: Oktober 2014), Rn. 5 m. w. N. 527 Koroma/van der Heijden, Review of ILO Supervisory Mechanism, GB.326/LILS/3/1, S. 44. 528 IAA, Verwaltungsrat, 331st Session October-November 2017, Doc GB.331/INS/5, Rn. 68. 522

E. Norminterpretation

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Integrität des regelmäßigen und anlassbezogenen ILO-Überwachungssystems gewahrt bleiben.529 Ein entsprechender Entwurf wurde dem Verwaltungsrat 2014 vorgelegt, über den allerdings nicht entschieden wurde, sondern der erneut in eine tripartistische Arbeitsgruppe überwiesen wurde.530 Eine Entscheidung über die Einrichtung eines ILO-internen Gerichts und dessen Funktionsweise wurden nachwievor noch nicht getroffen. Es sind aber bereits künftige Treffen der Arbeitsgruppe anberaumt.531 Ferner sei darauf hingewiesen, dass ein weiterer Aspekt wesentlich für die Funktionsfähigkeit sein dürfte: Hauptzweck eines ILO-internen Gerichts wäre die Beantwortung grundlegender, abstrakt-genereller Fragen, die durch die vorhandenen Mechanismen nicht zur Zufriedenheit der Beteiligten geklärt werden könnten. Es handelt sich um Fragen, die einerseits nicht durch Rückgriff auf (grundsätzlich) unverbindliche Spruchpraxis der Überwachungsausschüsse gelöst werden können und andererseits aufgrund der arbeitsrechtlichen Bezüge auch nicht durch den IGH (der mit Experten auf dem Gebiet des Völkerrechts und nicht des Arbeitsrechts besetzt ist) sinnvoll beantwortet werden kann,532 dessen Anrufung zudem allgemeinhin als zeitaufwändig und schwerfällig angesehen wird. Entsprechend wäre das Verfahren eines ILO-internen Gerichts möglichst effizient zu gestalten, was etwa durch die Vorgaben (realistischer) Fristen, die nur bei Zustimmung aller Verfahrensbeteiligter verlängert werden können, gewährleistet werden kann. b) Einrichtung als ständiges Gericht oder Ad-hoc-Gericht Es stellt sich die Frage, ob das ILO-interne Gericht als ständiges Gericht oder als ein Ad-hoc-Spruchkörper eingerichtet werden soll.533 Ersteres wird derzeit von den zuständigen Mitarbeitern des IAA präferiert. So soll das interne Gericht als eine weitere Kammer des bereits bestehenden Verwaltungsgerichts der ILO eingerichtet werden.534 Eine solche Eingliederung soll insbesondere Kosten senken und den 529

S. 44.

Koroma/van der Heijden, Review of ILO Supervisory Mechanism, GB.326/LILS/3/1,

530 IAA, Verwaltungsrat, 322nd Session 2014, Doc GB.322/INS/5, Rn. 50 ff.; hierzu Seifert, in: FS Eichenhofer, S. 603, 617. 531 IAA, Verwaltungsrat, 335th Session March 2019, Doc GB.335/INS/5, Rn. 84: „with respect to the proposal to consider further steps to ensure legal certainty, decided to hold informal consultations in October 2019 and, to facilitate that tripartite exchange of views, requested the Office to prepare a paper on the elements and conditions for the operation of an independent body under article 37(2) and of any other consensus-based options“; siehe zuletzt IAA, Verwaltungsrat, 338th Session March 2020, Doc GB.338/INS/5. 532 Ähnlich Fraterman, Georgetown Journal of International Law 2011, 879, 891, vgl. auch IAA, Verwaltungsrat, 320th Session March 2014, Doc GB.320/LILS/4, S. 4. 533 Hierzu offen La Hovary, CLLPJ 2017, 337, 344. 534 Das Verwaltungsgericht der ILO entscheidet über Beschwerden von Bediensteten des IAA und solcher internationaler Organisationen, die das Verwaltungsgericht anerkannt haben,

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Teil 1: Die Normen der ILO

Verwaltungsaufwand reduzieren. Der Vorschlag von 2014 präferiert die Ernennung von zwölf unabhängigen Richtern, von denen jeweils fünf Richter eine Vorlage behandeln sollen.535 Gegen die Einrichtung des internen Gerichts als weitere Kammer des Verwaltungsgerichts der ILO spricht insbesondere, dass hierdurch der Charakter als „Verfassungsgericht“ verloren gehen könnte. Unabhängig von der Frage der Eingliederung in das Verwaltungsgericht lassen sich aber auch Argumente gegen eine anderweitige Einrichtung als ständiges Gericht finden. Nach der hier vertretenen Auffassung ist die einmalige Regelung einer Verfahrensordnung für Verfahren vor einem Ad-hoc-Gericht und die Einsetzung eines Spruchkörpers nur bei Anrufung sinnvoller. Zwar ließe sich für die Einrichtung als ständiges Gericht anführen, dass hierdurch schnellere Entscheidungen getroffen werden könnten, da die Richterauswahl im Bedarfsfall bereits abgeschlossen ist und ein ständiger Spruchkörper unmittelbar nach Anrufung mit der Bearbeitung des Verfahrens beginnen kann. Bei einem Adhoc-Gremium könnte hingegen schon die Besetzung der Richterposten zu einem Politikum werden, da bei der Richterauswahl neben der fachlichen Eignung auch Gesichtspunkte wie Unabhängigkeit und regionaler Proporz zu berücksichtigen wären.536 Für die Vorgehensweise, eine Verfahrensordnung zu verabschieden und das Gericht nur als Ad-hoc-Spruchkörper bei Anrufung einzusetzen, spricht allerdings, dass die Richter anhand ihrer Expertise hinsichtlich des Vorlagegegenstands ausgewählt werden könnten. Hierdurch wäre ein noch höheres Maß an fachlicher Kompetenz sichergestellt. Um die Besetzung des ad-hoc-Spruchkörpers zu vereinfachen, könnte ein aus dem internationalen Schiedsrecht bekanntes Verfahren angewendet werden: Jede Gruppe benennt einen Richter. Die benannten Richter bestimmen sodann einen oder mehrere unparteiische Richter als Vorsitzende. Da anders als etwa im DSU-Schiedsrecht der WTO nicht zwei, sondern drei Parteien zu berücksichtigen sind, müssten sich die drei durch die Parteien benannten Richter einstimmig auf zwei weitere Richter einigen, um die Möglichkeit des Gleichstands auszuschließen. Dieses Verfahren erscheint effizienter und vor allem weniger konfliktträchtig als die Bestimmung aller Richter durch die drei Gruppen im Verwalvgl. Sauer, in: Wolfrum, MPEIL, International Labour Organization (Stand: August 2014), Rn. 8. 535 IAA, Verwaltungsrat, 322nd Session 2014, Doc GB.322/INS/5, Rn. 60, vgl. auch Seifert, in: FS Eichenhofer, S. 603, 617 f. 536 Für ein ständiges Gericht lässt sich zudem die Entstehungsgeschichte des zweiten Absatzes von Art. 37 ILO-Verfassung anführen, die gemäß Art. 32 WVK bei der Auslegung zu berücksichtigen ist. Aus den Sitzungsprotokollen des mit der Ausarbeitung des neuen Absatzes befassten Konferenzausschusses lässt sich erkennen, dass dieser ein ständiges Gericht vor Augen hatten, vgl. Fraterman, Georgetown Journal of International Law 2011, 879, 892 m. w. N. Die Formulierung des Art. 37 Abs. 2 ILO-Verfassung schließt einen Ad-hocCharakter des Gerichts allerdings nicht aus.

E. Norminterpretation

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tungsrat und stellt eine gute Alternative zur Einrichtung eines ständigen Gerichts dar.537 c) Einsetzung des ILO-internen Gerichts als Gefahr für die Funktionsfähigkeit des Normüberwachungsverfahrens Eines der durch die drei Gruppen der ILO bereits identifizierten Probleme bei der Einrichtung eines ILO-internen Gerichts stellt die Wahrung der Integrität des regelmäßigen und anlassbezogenen Überwachungssystems dar. So besteht die Gefahr, dass die Rollen des Sachverständigenausschusses und des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit bei der Normüberwachung durch die Einführung eines internen Gerichts unterminiert werden könnten.538 Schon die Einführung eines neuen Mechanismus zur verbindlichen Auslegung von Übereinkommen könnte dazu führen, dass Mitgliedstaaten sich häufiger darauf berufen, dass die vom Sachverständigenausschuss geäußerten Bedenken unbeachtlich seien, da der Ausschuss (im Gegensatz zum internen Gericht) keine verbindliche Auslegung der Übereinkommen vornehmen könne. Sollte ein internes Gericht tatsächlich eingeführt werden, ist daher zumindest durch die Richter darauf zu achten, bei der Entscheidung über die Vorlagefrage das Normüberwachungsverfahren nicht zu gefährden. Letztlich lässt sich diese Aufgabe nur durch eine sorgfältige Auswahl von Richtern sicherstellen, die sich dieser schwierigen Aufgabe bewusst sind. Zudem ist zu bedenken, dass die Einsetzung eines internen Gerichts nur dann notwendig erscheint, wenn überhaupt mit Streitigkeiten zu rechnen ist, die dieses Gericht zu entscheiden hat. Zum Schutz des seit 93 Jahren funktionierenden Normüberwachungssystems der ILO sollte bei der Einsetzung insbesondere eines ständigen Gerichts vorsichtig agiert und sollten alle Gruppen der ILO angehalten werden, weiterhin kompromissbereit über die Beilegung von Streitigkeiten zu verhandeln. 3. Internationale Arbeitskonferenz Zwar sieht die ILO-Verfassung nur den IGH und das bisher nicht eingerichtete interne Gericht als Institutionen vor, die verbindlich über die Auslegung der Verfassung und der Übereinkommen entscheiden können. Es scheint allerdings naheliegend, dass auch die IAK als Verfasserin der Übereinkommen über das Recht zur verbindlichen Auslegung der Übereinkommen verfügt. Dies würde dem allgemeinen 537 Denkbar wäre auch die Erstellung einer Liste von Personen durch den Verwaltungsrat, die grundsätzlich als „neutrale“ Richter in Betracht kommen. Aus dieser Liste könnten sodann durch die drei von den Gruppen benannten Richter zwei Richter ausgewählt werden. 538 IAA, Verwaltungsrat, 320th Session March 2014, Doc GB.320/LILS/4, S. 4; Servais, CLLPJ 2017, 375, 384, der davon ausgeht, dass die Errichtung eines ILO-internen Gerichts inzwischen nicht mehr zur Debatte steht. Zum Verhältnis der Entscheidung des internen Gerichts zu Entscheidungen des IGH siehe Fraterman, Georgetown Journal of International Law 2011, 879, 891 f.

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Teil 1: Die Normen der ILO

völkerrechtlichen Grundsatz entsprechen, dass diejenigen, die eine völkerrechtliche Norm geschaffen haben, auch zu ihrer Auslegung befugt sind.539 Die Möglichkeit der verbindlichen Auslegung von Übereinkommen durch die IAK ist jedoch abzulehnen.540 Die Verfassung sieht in beiden Absätzen des Art. 37 vor, dass ein „Gericht“ über die verbindliche Auslegung der Verfassung und der Übereinkommen entscheiden muss.541 Gegen die Verbindlichkeit von Erläuterungen der Übereinkommen durch die IAK spricht auch das Prinzip der Gewaltenteilung. Trotz des völkervertragsrechtlichen Charakters des ILO-Normsetzungsverfahrens lassen sich doch Komponenten einer internationalen „Legislative“ auf dem Bereich des Arbeits- und Sozialrechts erkennen. Deren Macht durch eine „Judikative“ zu begrenzen erscheint sinnvoll.542 Die Beteiligung der IAK an der Einleitung eines Verfahrens ist zudem hinreichend sichergestellt, da sie dieses nach Art. 37 Abs. 1 ILO-Verfassung durch einen Beschluss starten kann. Diese Möglichkeit wäre nicht notwendig, wenn die IAK selbst verbindliche Einschätzungen vornehmen könnte. Eine verbindliche Auslegung von Übereinkommen kann selbst im Falle eines Beschlusses mit Zustimmung von zwei Dritteln der anwesenden Delegierten der IAK, wie sie etwa zur Verabschiedung eines Übereinkommens notwendig ist, nicht überzeugen: Es steht der IAK zwar offen, durch eine Änderung der Übereinkommen eine gewünschte Auslegung direkt in den Vertragstext aufzunehmen.543 Diese Änderung muss aber wie ein neues Übereinkommen durch die Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Sollte ein Mitgliedstaat, der die ältere Fassung des Übereinkommens ratifiziert hat, die Ansicht der Mehrheit der IAK-Delegierten über die Auslegung eines Übereinkommens nicht teilen, ist es bis zur Ratifizierung des geänderten Textes nicht an die abweichende Ansicht gebunden. Erst recht kann nicht durch einfachen Beschluss verbindlich über die Auslegung und den Inhalt eines Übereinkommens bestimmt werden.544

539

Maupain, IOLR 2013, 117, 155. I. E. auch Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 208; siehe auch Bellace, AVR 2019, 153, 170 gegen die Möglichkeit der drei Gruppen eine Vereinbarung über eine bestimmte Auslegung von Übereinkommen zu treffen. 541 Maupain, IOLR 2013, 117, 155. 542 Hierzu IAA, Verwaltungsrat, 74th session 1936, Minutes, S. 22: [the Conference Committee on the Application of Convention’s] „work was not part of the essential functions of the International Labour Conference; the Conference was a legislative body, the duty of which was to adopt Conventions and Recommendations. There were other bodies responsible for supervising the application of Conventions, namely the Governing Body, the Commissions of Enquiry, and in the last instance, the Permanent Court of International Justice. There seemed to be some tendency to confuse these two functions“. 543 Maupain, IOLR 2013, 117, 155. 544 Ähnlich Maupain, IOLR 2013, 117, 155. 540

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4. Normanwendungsausschuss Wie bereits beschrieben, besteht die Aufgabe des Normanwendungsausschuss in der Auseinandersetzung mit den Berichten des Sachverständigenausschusses, der Auswahl der nun zumeist 24 besonders schwerwiegender Verletzungen von Übereinkommen und der Auswahl derjenigen Fälle, deren Grad der Verletzung eines Übereinkommens die Nennung in einem special paragraph notwendig macht. Ähnlich dem Sachverständigenausschuss kann auch der Normanwendungsausschuss diese Aufgabe nicht erfüllen, ohne die Übereinkommen auszulegen, da eben für eine Bewertung eines Sachverhalts als „besonders schwerwiegende“ Verletzung das Übereinkommen zwingend ausgelegt werden muss. Gegen die Verbindlichkeit der Auslegung der Übereinkommen durch den Normanwendungsausschuss spricht jedoch dessen politisches Mandat. Zudem erfolgt die Einsetzung des Normanwendungsausschusses durch die IAK. Entsprechend kann das Mandat des Normanwendungsausschuss nicht weiter gehen als das der Konferenz (Nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet). 5. Verwaltungsrat Der Verwaltungsrat muss Übereinkommen im Rahmen der ihm verfassungsmäßig übertragenen Aufgaben auslegen. So muss er etwa im Rahmen des Klageverfahrens prüfen, ob die erhobenen Vorwürfe die Einsetzung einer Untersuchungskommission rechtfertigen.545 Ohne eine Subsumption der Vorwürfe unter die Vorgaben des Übereinkommens erscheint eine solche Prüfung nicht möglich. Den im Rahmen dieser Tätigkeit vorgenommenen Auslegungen der Übereinkommen kommt aber keine allgemeingültige, also erga omnes verbindliche Qualität zu. Hiergegen spricht bereits der eindeutige Wortlaut des Art. 37 ILO-Verfassung, der die eindeutige Bestimmung des Inhalts eines Übereinkommens Gerichten – und gerade nicht einem Exekutivorgan – vorbehält.546 6. Internationales Arbeitsamt In der Praxis ist es üblich, dass das IAA auf Anfrage von Regierungen unter Berücksichtigung der Spruchpraxis der Ausschüsse eigene Einschätzungen zum Inhalt von Übereinkommen abgibt.547 Diese Gutachten wurden zum Teil vom Verwaltungsrat im Amtsblatt der ILO veröffentlicht, wodurch die Einschätzungen des IAA der Öffentlichkeit bekannt wurden.548 Die Gutachten enthalten jedoch stets 545

Zur Frage der Verbindlichkeit der Auslegung von Übereinkommen durch Untersuchungsausschüsse im Rahmen des Klage- und Beschwerdeverfahrens Maupain, Journal of International Economic Law 1999, 273, 289 f.; Seifert, in: FS Eichenhofer, S. 603, 612 f. 546 Ähnlich Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 203 und 208. 547 Servais, International Labour Law, Rn. 143; Seifert, in: FS Eichenhofer, S. 603, 607 f. 548 Servais, International Labour Law, Rn. 143.

118

Teil 1: Die Normen der ILO

einen Hinweis, dass den eigenen Einschätzungen keine rechtliche Verbindlichkeit zukomme.549 7. Sachverständigenausschuss Die Berichte des Sachverständigenausschusses enthalten eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Inhalten der Übereinkommen. Im Rahmen der jahrzehntelangen Ausübung seines Mandats der Überprüfung der Vereinbarkeit nationaler Gesetze und tatsächlicher Gegebenheiten mit den Übereinkommen hat sich zu vielen Auslegungsfragen eine „Spruchpraxis“ herausgebildet: Aus vergleichbaren in den Berichten beschriebenen nationalen Fallkonstellationen und deren gleichbleibenden Einordnung als Verletzung beziehungsweise Verwirklichung eines Übereinkommens ist es möglich, generelle, normative Aussagen zu gewinnen, die auf vergleichbare, bisher nicht entschiedene Fälle übertragen werden können. Im Verlauf seiner Tätigkeit ist der Sachverständigenausschuss in den Fokus der Streitigkeiten über die Frage der verbindlichen Auslegung von Übereinkommen gerückt. Von den Vertretern der Arbeitgeberverbände wurden die Einordnung bestimmter Fälle als Verletzungen von Übereinkommen als eine „Überinterpretation“ der Übereinkommen ebenso wie eine fehlende „Authentizität“ der Berichte als solchen bemängelt. Die gleichbleibende Qualität und Konsistenz der Spruchpraxis hatte zuvor dazu geführt, dass die Berichte des Sachverständigenausschusses von vielen internationalen und nationalen Gerichten zur Auslegung des Übereinkommenstextes herangezogen wurden. Der Sachverständigenausschuss kann insoweit auch als „Opfer des eigenen Erfolgs“550 gesehen werden. Die Frage nach der Reichweite seines Mandats ist inzwischen eng mit dem Streitpunkt verknüpft, ob Art. 3 des Übereinkommens Nr. 87 ein Recht zum Streik umfasst.551 Dem Wortlaut nach ist ein solches Streikrecht nicht in Art. 3 Übereinkommen Nr. 87 vorhanden.552 Jedoch hatte dies der Sachverständigenausschuss 549

Ibid.; Seifert, in: FS Eichenhofer, S. 603, 608. Blanpain, IOLR 2013, 117, 128. 551 Zu Versuchen in der ILO das Streikrecht explizit zu regeln Novitz, International and European Protection of the Right to Strike, S. 91 ff. 552 In der Literatur wird mit teils unterschiedlicher Argumentation die Gewährleistung des Streikrechts durch Art. 3 Übk. Nr. 87 zum Teil bejaht (Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 130, 141 ff.; Engelen-Kefer, in: BMAS/BDA/DGB, Weltfriede durch soziale Gerechtigkeit, S. 87, 93 ff.; Bogg, in: Freedland/Prassl, Viking, Laval and Beyond, S. 41, 47 f.; Sädevirta, EuZA 2017, 505, 509; Hayen/Ebert, AuR 2008, 19, 23; Lörcher, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 46; Fütterer, Die Reichweite des Solidaritätsstreikrechts, S. 212 f.; (wohl) Herresthal, EuZA 2011, 3, 12; (wohl) Liukkunen, in: Basedow/Su/Fornasier/Liukkunen, Employee Participation and Collective Bargaining in Europe, S. 129, 133 ff.; Novitz, CLLPJ 2017, 353, 357), insb. in der deutschsprachigen Literatur hingegen zumeist ablehnend: Hornung-Draus, CLLPJ 2017, 531 (die das Streikrecht allerdings im Ergebnis wohl als vom Verfassungsgrundsatz der Vereinigungsfreiheit geschützt ansieht, vgl. S. 535); Burchardt, Streikrecht und internationale Verpflichtungen, S. 14 ff.; Wisskirchen, ZfA 2003, 691, 726 ff.; Henssler, ZfA 2010, 397, 403; 550

E. Norminterpretation

119

erstmals 1959 in seinem Bericht zur Anwendung von Übereinkommen Nr. 87 angenommen.553 Auch die anderen Ausschüsse, allen voran der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit, haben das Streikrecht anerkannt.554 Sowohl die Brisanz der Thematik als auch mögliche rechtliche Auswirkungen getroffener Aussagen (etwa im Hinblick auf eine „spätere Übung“) gebieten es, einen Abriss über die im Verlauf der Jahrzehnte vertretenen Positionen zu den Fragen zu geben, ob der Sachverständigenausschuss im Rahmen der Erstellung seiner Berichte zur Auslegung der Übereinkommen berechtigt ist und der Spruchpraxis des Ausschusses eine Bindungswirkung zukommt.555 a) Historische Entwicklung aa) Enge Mandatierung in den 1930er Jahren Ob das Mandat des Sachverständigenausschusses die Berechtigung zur Auslegung von Übereinkommen umfasst, war in den ersten Jahren nach seiner Errichtung im Jahr 1926 nicht eindeutig geklärt. Unbestritten gehörte die Überprüfung der Staatenberichte zu seinem Auftrag. Hierbei hatte er auch den Verwaltungsrat auf notwendige Modifikationen der Fragebögen hinzuweisen sowie (über das IAA) auf die vollständige Beantwortung der Fragen durch die Mitgliedstaaten hinzuwirken.556 Allerdings wurde durch mehrere Mitglieder des mit der Einsetzung des Sachverständigenausschusses befassten Konferenzausschuss die Befürchtung geäußert, das Mandat des Sachverständigenausschusses könne souveräne Rechte der Mitgliedstaaten oder die im Vertrag vorgesehenen Befugnisse anderer Organe verletzten. Es wurde daher vereinbart, dass der Sachverständigenausschuss „keine gerichtliche Befugnis“ habe und nicht befugt sei, „die Bestimmungen der Übereinkommen zu interpretieren oder sich für eine Auslegung anstelle einer anderen zu entscheiden“.557 Engels, ZESAR 2008, 475, 476; Gooren, Der Tarifbezug des Arbeitskampfes, S. 171 ff.; Kissel, Arbeitskampfrecht, § 20, Rn. 43; Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, § 4, Rn. 56; neutral: Hergenröder, in: EAS, B 8400 (203. Aktualisierung Dezember 2018), Rn. 11); Rebbahn, ZESAR 2008, 109, 111; auch der EuGH sieht, wie bereits erwähnt, das Recht auf kollektive Maßnahmen als von Übk. Nr. 87 gewährleistet, vgl. EuGH v. 18. Dezember 2007 – C341/05 (Laval), Rn. 90; EuGH v. 11. Dezember 2007 – C-438/05 (Viking-Line), Rn. 43. 553 IAA, IAK, 43rd Session 1959, Report III (Part IV), S. 114 f.; IAA, IAK, 81st Session 1994, Report III (Part 4B), S. 66, Bellace, ILR 2014, 29, 48 f.; Seifert, CLLPJ 2017, 487, 488; ITUC, The Right to Strike and the ILO, abrufbar unter. http://www.ituc-csi.org/the-right-to-stri ke-and-the-ilo?lang=de, S. 19. 554 Hierzu IAA, Verwaltungsrat, 323rd Session March 2015, GB.323/INS/5, Appendix III, Rn. 6 ff.; Novitz, International and European Protection of the Right to Strike, S. 192 ff. 555 Eigene rechtliche Bewertung sodann unter Teil 1 E. II. 7. b) – c). 556 Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 60 u. 63; zur Erweiterung des Mandats siehe oben unter Teil 1 D. I. 1. a) bb). 557 IAA, IAK, 8th Session 1926, Record of Proceedings, S. 405: „Some fear was expressed by certain members of the Committee as to whether the functions thus outlined might not be

120

Teil 1: Die Normen der ILO

Er sollte stattdessen lediglich auf unterschiedliche Interpretationen von Vorschriften eines Übereinkommens in den Mitgliedstaaten hinweisen.558 Diese enge Beschreibung des Mandats war allerdings von Beginn an realitätsfremd: Bereits die ersten Berichten des Sachverständigenausschusses zeigen, dass Staatenberichte ohne die Möglichkeit einer Auslegung der Übereinkommen nicht überprüft werden können. Wie bereits in Teil 1 D. I. 1. a) aa) beschrieben, wurde der Sachverständigenausschuss nicht nur einmalig, sondern seither regelmäßig zur Überprüfung der Staatenberichte eingesetzt, woraus zu schließen ist, dass die Methodik der Überwachung der Übereinkommen durch Auslegung und Subsumption der Übereinkommen durch den Verwaltungsrat und die IAK befürwortet wurde. Auch der Sachverständigenausschuss selbst hat in der Folge wiederholt auf die Notwendigkeit hingewiesen, den Inhalt der Bestimmungen der Übereinkommen konkretisieren zu müssen, um seinen Auftrag ausführen zu können.559 Ob die Einschätzungen des Sachverständigenausschusses verbindlich sind, wurde durch den mit der Klärung der Voraussetzungen der erstmaligen Einsetzung des Sachverständigenausschusses beauftragten Konferenzausschuss nicht explizit befürwortet oder abgelehnt. Entsprechend dem oben wiedergegebenen Beschluss muss aber davon ausgegangen werden, dass zum Zeitpunkt der Einsetzung des Sachverständigenausschusses ein Konsens dahingehend bestand, dass den Einschätzungen des Sachverständigenausschusses (erst recht) keine Verbindlichkeit zukomme. bb) Allgemeine Akzeptanz der Spruchpraxis bis 1989 Dass der Sachverständigenausschuss in jedem seiner Berichte Übereinkommen auslegte, wurde jahrzehntelang von der Mehrheit der drei Gruppen im Normanwendungsausschuss (mit Ausnahme der Vertreter kommunistischer Staaten) nicht kritisiert, sondern ob der Objektivität der Spruchpraxis sogar gelobt.560 Besonders deutlich wird dies am Beispiel von Übereinkommen Nr. 87. Als der Sachverständigenausschuss im general survey von 1959 Einschränkungen des Streikrechts im such as to trespass upon the sovereign rights of the States Members, or upon the powers of the other organs provided for in the Treaty. It was agreed however that the Committee of experts would have no judicial capacity nor would it be competent to give interpretations of the provisions of the Conventions nor to decide in favour of one interpretation rather than of another. It could not therefore encroach upon the functions of the Commissions of Enquiry and of the Permanent Court of International Justice in regard to complaints regarding the non-observance of ratified Conventions or in regard to their interpretation“; vgl. auch Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 205. 558 Siehe IAA, IAK, 8th Session 1926, Record of Proceedings, S. 401; vgl. auch Waas, AVR 2019, 123, 136. 559 So etwa IAA, IAK, 63rd Session 1977, Report III (Part 1), General Report of the CEACR, Rn. 32. 560 Auf die Folgen eines Abrückens der Arbeitgebervertreter von dieser Ansicht schon 1994 hinweisend Engelen-Kefer, in: BMAS/BDA/DGB, Weltfriede durch soziale Gerechtigkeit, S. 87, 96.

E. Norminterpretation

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öffentlichen Sektor als Verletzung von Übereinkommen Nr. 87 einstufte,561 äußerte die Arbeitgeberseite hiergegen keine Bedenken.562 Auch der general survey von 1973, in dem das Streikrecht nun deutlich breiter behandelt wurde,563 stieß nicht auf Ablehnung vonseiten der Arbeitgeber.564 So führte im Normanwendungsausschuss der IAK 1973 der australische Arbeitgebervertreter Polites aus, der Normanwendungsausschuss habe bei der Behandlung dieses grundlegenden Themas „zu viel Zeit und Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Vereinigungsfreiheit und Streik im öffentlichen Dienst verwendet“. Man sei im Ausschuss einer Meinung, dass dies wichtige Gesichtspunkte seien. Es gebe aber auch andere wichtige Fragen, die behandelt werden müssten.565 Weder werden Bedenken hinsichtlich der Auslegungsmethodik des Sachverständigenausschusses geäußert noch die Gewährleistung des Streikrechts durch Übereinkommen Nr. 87 angegriffen, sondern lediglich die Gewichtung einzelner Problemkreise im general survey kritisiert.566 Dies zeigt sich auch im Zusammenhang mit dem Allgemeinen Bericht von 1977, in dem der Sachverständigenausschuss darauf hinwies, dass sein Mandat die Auslegung der Übereinkommen zwar nicht vorsehe, da die Zuständigkeit hierfür gemäß Art. 37 der Verfassung dem IGH übertragen worden sei. Um die Einhaltung von Übereinkommen zu überprüfen, müsse der Ausschuss jedoch seine Ansichten über den Inhalt von Bestimmungen äußern können.567 Dieser Passus wird im Normanwendungsausschuss der IAK weder kritisiert noch überhaupt thematisiert. Die Kritik der sozialistischen Staaten bezieht sich zu diesem Zeitpunkt allein darauf, dass nach Ansicht des Sachverständigenausschusses Übereinkommen ohne die Berücksichtigung nationaler Besonderheiten auszulegen sind, während die sozialistischen Staaten für ihr Wirtschaftssystem abweichende Bewertungsmaßstäbe forderten.568 561 IAA, IAK, 43rd Session 1959, Report III (Part I), Report of the CEACR, S. 109, 127; IAA, IAK, 43rd Session 1959, Report III (Part II), S. 25, 49, 104, 114 f.; hierzu auch IOE, Do ILO Conventions 87 and 98 recognise a right to strike, S. 2; Bellace, AVR 2019, 153, 159. Bereits 1952 hatte der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit das Streikrecht als Teil der Vereinigungsfreiheit anerkannt, vgl. Bellace, CLLPJ 2017, 495, 516; Bellace, AVR 2019, 153, 159; Vogt, CLLPJ 2017, 537, 539; Seifert, CLLPJ 2017, 487, 488. Hornung-Draus, CLLPJ 2017, 531 sieht das Streikrecht daher im Ergebnis als vom Grundsatz der Vereinigungsfreiheit, nicht hingegen als von Übk. Nr. 87 geschützt an. 562 Novitz/La Hovary, International Union Rights 2013, 19. 563 IAA, IAK, 58th Session 1973, Report III (Part 4B), General Survey on Freedom of Association and Collective Bargaining, S. 43 ff. 564 Novitz/La Hovary, International Union Rights 2013, 19. 565 IAA, IAK, 58th Session 1973, Record of Proceedings, S. 728. 566 Vgl. auch Bellace, ILR 2014, 29, 52. 567 IAA, IAK, 63rd Session 1977, Report III (Part I), Report of the CEACR, S. 11, Rn. 32. 568 IAA, IAK, 63rd Session 1977, Record of Proceedings, S. 557; die Kritik knüpft somit an Rn. 32 des vorgenannten Berichts des Sachverständigenausschusses an; zur dogmatischen Begründung der „Interessenharmonie“ in sozialistischen Staaten Seifert, in: FS Eichenhofer, S. 603, 605 m. w. N.

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Teil 1: Die Normen der ILO

Nichts anderes ergibt sich aus den Dokumenten des Verwaltungsrats: Ausgehend von der Frage eines italienischen Regierungsvertreters wurde 1982 im Verwaltungsrat diskutiert, wie sich ein Staat verhalten sollte, falls er Aussagen über den Gewährleistungsgehalt eines Übereinkommens in einem Gutachten des IAA für unvereinbar mit der Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses hält.569 Um sich widersprechende Aussagen auszuschließen, sei laut dem italienischen Regierungsvertreter durch das IAA darauf hinzuweisen, dass seine Einschätzungen „weder gegenüber dem IGH noch dem Sachverständigenausschuss“ als Beweismittel (evidence) angeführt werden können.570 Die sich anschließende Diskussion setzte sich allein mit der Unverbindlichkeit der Aussagen des IAA auseinander.571 Die Frage, ob die Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses verbindlich ist, wurde nicht behandelt. Auch 1983, als der Sachverständigenausschuss erneut einen general survey zu Übereinkommen Nr. 87 veröffentlicht hatte, blieb die Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses seitens der Arbeitgebervertreter unangegriffen, obwohl der Bericht in einem gesamten Unterkapitel Fragen des Streikrechts behandelte. Während sich Arbeitnehmer- und westliche Regierungsvertreter positiv über den Abschnitt über das Streikrecht äußerten, schwiegen die Arbeitgeber zu dieser Thematik.572 Dies lässt sich wohl insbesondere mit der weltpolitischen Situation erklären: Zu diesem Zeitpunkt galt im Danziger Hafen das Kriegsrecht und alle Gewerkschaftsaktivitäten der Solidarnos´c´ wurden unterdrückt.573 Statt die Konfrontation mit dem Sachverständigenausschuss zu suchen, schwiegen die westlichen Arbeitgeber lieber „zulasten“ des Ostblocks.574 Wenige Jahre darauf, auf der 72. IAK im Jahr 1986, lobten die Arbeitgebervertreter die Arbeit des Sachverständigenausschusses ausdrücklich,575 nachdem erneut Vertreter der UdSSR und der anderen sozialistischen Mitgliedstaaten der ILO die Spruchpraxis angegriffen hatten.576 Gleiches gilt für das Jahr 1987, als die Vertreter 569 IAA, Verwaltungsrat, 220th Session 1982, Minutes, S. III/17; klarstellend IAA, Verwaltungsrat, 221th Session 1982, Minutes, S. IV/6. 570 IAA, Verwaltungsrat, 221th Session 1982, Minutes, S. IV/6. 571 Ibid. 572 IAA, IAK, 69th Session 1983, Record of Proceedings, S. 39/5 ff. 573 Bellace, ILR 2014, 29, 53 f.; vgl. auch Goddeeris, in: Van Daele/Rodriguez Garcia/Van Goethem/van der Linden, ILO Histories, S. 423 ff.; siehe zur Rolle der ILO bei dem Solidarnos´c´-Streik Maul, The International Labour Organization, S. 223 ff. 574 Vgl. die Diskussion des Berichts des Sachverständigenausschusses, IAA, IAK, 69th Session 1983, Record of Proceedings, S. 31/4. 575 IAA, IAK, 72th Session 1986, Record of Proceedings, S. 38/14 ff.; es wurde allerdings auf Verbesserungen der Arbeitsweise gefordert; vgl. auch IAA, IAK, 102nd Session 2013, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, General Report, Rn. 34. 576 Vgl. IAA, IAK, 72th Session 1986, Record of Proceedings, S. 38/17 ff.: Teilweise gleichen sich die Argumente mit den späteren Argumenten der Arbeitgeberseite. So erklärte der Gewerkschaftsvertreter der UdSSR etwa, dass der Sachverständigenausschuss sein Mandat überschreite, vgl. IAA, IAK, 73th Session 1987, Record of Proceedings, S. 31/13. Die Ein-

E. Norminterpretation

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der Arbeitgeber die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Objektivität des Sachverständigenausschusses sowie die hohe Qualität und umfangreichen Charakter des Berichts lobten und ihre Unterstützung bekräftigten.577 cc) Vorboten des Konflikts im Zeitraum 1989 – 1996 Im Jahr 1989 wurde der Bericht des Sachverständigenausschusses im Normanwendungsausschuss vonseiten der westlichen Arbeitgeberverbände erstmals – zumindest in dieser Deutlichkeit – kritisiert.578 Sie erklärten, der Bericht des Sachverständigenausschusses sei zwar Grundlage der Arbeit des Normanwendungsausschusses. Dies bedeute aber nicht, dass man mit allen Einschätzungen des Sachverständigenausschusses übereinstimme. Die Spruchpraxis sei zuweilen schwankend und variabel.579 Das schwedische Arbeitgebermitglied wies ergänzend darauf hin, dass nur der IGH Übereinkommen verbindlich auslegen könne580 und der Sachverständigenausschuss nicht immer die Auslegungsregeln der WVK beachtet habe.581 Der Bericht des Sachverständigenausschusses von 1989 enthalte eine Reihe von „Überinterpretationen“, insbesondere zu den Gewährleistungsinhalten von Übereinkommen Nr. 87.582 Die Arbeitnehmervertreter reagierten mit Ablehnung.583 So wurde etwa entgegnet, dass eine Fortentwicklung der Spruchpraxis nicht mit Inkohärenz zu verwechseln sei.584 Ein Vertreter des Generalsekretärs hob hervor, dass der Sachverständigenausschuss über viele Jahre seine Arbeitsmethodik und auch die angewendeten Grundsätze zur Auslegung der Übereinkommen in seinen Berichten erläutert habe.585 Bereits 1982 habe der Verwaltungsrat durch das IAA die Frage der Auslegung von Übereinkommen untersuchen lassen. Die im Bericht beschriebene bisherige Praxis sei von den drei Gruppen als „vollkommen zufriedenstellend“ eingeschätzt worschätzungen des Sachverständigenausschusses, dessen „ursprüngliche Rolle die eines technischen Ausschusses gewesen sei“, sollten daher nicht als „final judgments“ gesehen werden, vgl. IAA, IAK, 73th Session 1987, Record of Proceedings, S. 31/16. 577 IAA, IAK, 73th Session 1987, Record of Proceedings, S. 31/10; vgl. auch IAA, IAK, 102nd Session 2013, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, General Report, Rn. 34. 578 Vgl. Seifert, in: FS Eichenhofer, S. 603, 605; La Hovary, in: Gött, Labour Standards in International Economic Law, S. 37, 44. 579 IAA, IAK, 76th Session 1989, Record of Proceedings, S. 838, Rn. 21; vgl. auch Wagner, Schutz sozialer Rechte, S. 209. 580 Zur besonderen Rolle der schwedischen Arbeitgeberverbände in der ILO nach dem Ende des kalten Krieges Tapiola, in: Ahlberg/Bruun, New Foundations of Labour Laws, S. 81, 85. 581 IAA, IAK, 76th Session 1989, Record of Proceedings, S. 838, Rn. 21. 582 Ibid., Rn. 21; s. a. Bellace, CLLPJ 2017, 495, 520. 583 IAA, IAK, 76th Session 1989, Record of Proceedings, S. 838, Rn. 22. 584 Ibid. 585 Ibid., Rn. 23.

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Teil 1: Die Normen der ILO

den.586 Sollte eine Regierung Einschätzungen der Überwachungsausschüsse nicht teilen, könne sie die Anrufung des IGH anregen.587 1990 reagierte der Sachverständigenausschuss auf die Kritik: Eine endgültige Entscheidung über die Auslegung eines Übereinkommens könne gemäß Art. 37 Abs. 1 ILO-Verfassung nur der IGH treffen. Um prüfen zu können, ob die Bestimmungen eines Übereinkommens eingehalten wurden, müsse der Ausschuss aber den Inhalt der Übereinkommen bestimmen.588 An dieser Stelle äußert sich der Sachverständigenausschuss erstmals auch zur Verbindlichkeit seiner Spruchpraxis: „Der Ausschuss vertritt daher die Auffassung, dass seine Ansichten, soweit sie denen des IGH nicht widersprechen, als gültig und allgemein anerkannt gelten.“589 Gleiches gelte für Berichte eines im Rahmen eines Klageverfahrens eingesetzten Untersuchungsausschusses, welche nur durch den IGH aufgehoben werden können.590 Die Akzeptanz der Berichte des Sachverständigenausschusses sei unerlässlich für die Aufrechterhaltung des Legalitätsprinzips und der Rechtssicherheit und der Funktionsfähigkeit der ILO als Ganzes.591 Diese Sichtweise wurde in der IAK desselben Jahres kontrovers diskutiert. Während die Arbeitnehmervertreter592 und viele Regierungsvertreter593 die Ansicht des Sachverständigenausschusses teilten, lehnte die Arbeitgeberseite den Standpunkt des Sachverständigenausschusses ab. Dieser stelle einen Verstoß gegen die Verfassung und die Geschäftsordnung der Konferenz über die Vorlage von Regierungsberichten sowie des Mandats des Normanwendungsausschusses dar. Letzteres sehe ein unabhängiges Prüfungsrecht des Normanwendungsausschusses und die Möglichkeit der Abweichung von der Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses vor.594 So sei man etwa hinsichtlich der Frage, ob Übereinkommen Nr. 87 das Streikrecht garantiere, anderer Auffassung als der Sachverständigenausschuss.595 Zudem sei der Vergleich mit dem Klageverfahren nicht überzeugend. Die Verfassung 586

Ibid. Ibid. 588 IAA, IAK, 77th Session 1990, Report III (Parts 1, 2 and 3), Report of the CEACR, General Report, Rn. 7; vgl. auch Maupain, Journal of International Economic Law 1999, 273, 288; Hornung-Draus, CLLPJ 2017, 531, 533. 589 IAA, IAK, 77th Session 1990, Report III (Parts 1, 2 and 3), Report of the CEACR, General Report, Rn. 7. 590 Ibid., s. a. Art. 32 ILO-Verfassung. 591 IAA, IAK, 77th Session 1990, Report III (Parts 1, 2 and 3), Report of the CEACR, General Report, Rn. 7. 592 Ibid. 593 Zu den Positionen der einzelnen an der Diskussion beteiligten Regierungen: IAA, IAK, 77th Session 1990, Record of Proceedings, S. 27/8 f. 594 IAA, IAK, 77th Session 1990, Record of Proceedings, S. 27/6; s. a. Swepston, IJCLLIR 2013, 199, 211: In der Vergangenheit habe man in der Regel die Ansichten des Sachverständigenausschusses geteilt und werden dies auch in Zukunft tun, „weil es gute Gründe hierfür“ gäbe. 595 IAA, IAK, 77th Session 1990, Record of Proceedings, S. 27/6. 587

E. Norminterpretation

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sehe vor, dass die Konferenz selbst jährlich die Staatenberichte überprüfe. Art. 37 ILO-Verfassung sei in Verbindung mit Art. IX des UN-ILO-Abkommens zu lesen, nach welchem nur die IAK oder der Verwaltungsrat den IGH anrufen können. Nur im Rahmen des Klageverfahrens könne eine einzelne Regierung den IGH anrufen. Für den Fall der Ablehnung der Kritik des Sachverständigenausschusses sei in der Verfassung kein Recht eines betroffenen Mitgliedstaats vorgesehen, den IGH anzurufen zu können.596 Die Arbeitnehmervertreter gingen auf die von der Arbeitgeberseite vorgebrachten Argumente nicht inhaltlich ein. Die Verbindlichkeit der Spruchpraxis sei der einzig praktikable Weg, um die Universalität der Übereinkommen zu gewährleisten.597 Das IAA merkte an, dass der Normanwendungsausschuss kein „Berufungsgericht“ sei, welches die Berichte des Sachverständigenausschusses prüfen solle. Stattdessen solle man sich auf den Dialog mit den vorgeladenen Mitgliedstaaten konzentrieren, für den die Berichte des Sachverständigenausschusses die Grundlage bilden.598 Allerdings seien die Aussagen des Sachverständigenausschusses rechtlich nicht verbindlich. Verbindlichkeit komme lediglich den Entscheidungen des IGH zu.599 Bereits im Jahr darauf reagierte der Sachverständigenausschuss auf die von der Arbeitgeberseite600 vorgetragenen Argumente und wich von der Beschreibung aus dem Vorjahr ab:601 Urteile und Gutachten des IGH seien verbindlich – die eigenen Einschätzungen seien hingegen keine verbindlichen, rechtskräftigen Entscheidungen, da man kein Gericht sei.602 Die eigenen Einschätzungen hätten keine Wirkung erga omnes.603 Der Sachverständigenausschuss machte allerdings auch darauf aufmerksam, dass das reibungslose Funktionieren der Normüberwachung voraussetze, dass ein Staat die vom Sachverständigenausschuss geäußerte Kritik nicht „anfechten“ beziehungsweise anzweifeln könne.604 Andernfalls wäre so lange mit Rechtsunsicherheit über Sinn und Umfang der Bestimmungen der Übereinkommen zu rechnen, bis die Frage durch eine Entscheidung des IGH geklärt werde.605 Es sei trotz fehlender Ergaomnes-Wirkung wichtig, dass die Einschätzungen als „gültig und allgemein aner596

Ibid. Ibid., S. 27/7. 598 Ibid., S. 27/9. 599 Ibid., S. 27/9. 600 IAA, IAK, 78th Session 1991, Report III (Part 4 A), Report of the CEACR, General Report, Rn. 10. 601 Wagner, Schutz sozialer Rechte, S. 209 spricht von einer „Präzisierung“ des Mandats. 602 IAA, IAK, 78th Session 1991, Report III (Part 4 A), Report of the CEACR, General Report, Rn. 11; vgl. auch Maupain, Journal of International Economic Law 1999, 273, 289. 603 IAA, IAK, 78th Session 1991, Report III (Part 4 A), Report of the CEACR, General Report, Rn. 12. 604 Ibid., Rn. 11. 605 Ibid., Rn. 11. 597

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Teil 1: Die Normen der ILO

kannt“ betrachtet werden.606 Trotzdem habe der Normanwendungsausschuss das Recht, von den Ansichten des Sachverständigenausschusses abzuweichen.607 Die Mandatsbeschreibung blieb in den Folgejahren im Wesentlichen unverändert, wurde aber 1994 dahingehend ergänzt, dass zwischen Sachverständigenausschuss und Normanwendungsausschuss kein „Rangverhältnis“ bestehe,608 was wiederum durch die Arbeitgeberseite abgelehnt wurde.609 Der 1994 veröffentliche general survey, der letztmals vor 2012 sektorübergreifend610 Fragen des Streikrechts behandelte, wurde durch die Arbeitgeberseite entsprechend seiner neuen Linie kritisiert.611 Es lässt sich beobachten, dass sich die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite mit der neuen Situation zu arrangieren schienen. Jährlich wurden die gleichbleibenden Argumente ausgetauscht: Während die Arbeitnehmerseite ein breites Mandat des Sachverständigenausschusses unterstützte,612 betonten die Arbeitgebervertreter, dass den Einschätzungen des Sachverständigenausschusses keine Verbindlichkeit zukomme und der Normanwendungsausschuss gegenüber dem Sachverständigenausschuss eine übergeordnete Stellung einnehme.613 Letztere Einschätzung wurde ab 1999 allerdings „abgeschwächt“: Ab diesem Zeitpunkt wurde auch durch die Arbeitgeberseite vermehrt das „Nebeneinander“ der Ausschüsse betont.614 Dies bedeutet aber nicht, dass der Streit über das Mandat zwischen 1991 und 2012 beigelegt wurde. So wiederholten auch im Zeitraum zwischen 1999 und 2012 beide Seiten ihre jeweiligen Positionen.615 Die „Eskalation“ des Konflikts im Jahr 2012 dürfte daher nicht auf Ereignisse im Sachverständigenausschuss oder Normanwendungsausschuss zurückzuführen zu sein, sondern hat externe Ursachen: Durch die Erklärung über die grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit von 1998 606

Ibid., Rn. 12. Ibid., Rn. 12. 608 In den Jahren 1992 und 1993 wurden keine Änderungen vorgenommen, zum Inhalt der Anpassungen von 1994 siehe bereits unter Teil 1 D. I. 2. c); s. a. Swepston, IJCLLIR 2013, 199, 211. 609 IAA, IAK, 81th Session 1994, Record of Proceedings, S. 25/7 ff. 610 Der general survey zum Tarifrecht im öffentlichen Sektor behandelte ebenfalls das Streikrecht, vgl. IAA, IAK, 102nd Session 2013, Report III (Part 1B), General Survey concerning labour relations and collective bargaining in the public service, Rn. 401 ff. 611 IAA, IAK, 81th Session 1994, Record of Proceedings, S. 25/22 ff.; Bellace, ILR 2014, 29, 55 geht davon aus, dass die Arbeitgeberseite hier erstmals den Schutzbereich von Übk. Nr. 87 als das Streikrecht umfassend durch die Arbeitgeberseite bestritten wurde. 612 Siehe etwa IAA, IAK, 83rd Session 1996, Record of Proceedings, S. 14/4 und 14/5; IAA, IAK, 86th Session 1998, Record of Proceedings, S. 18/6. 613 Siehe etwa IAA, IAK, 83rd Session 1996, Record of Proceedings, S. 14/4 f.; IAA, IAK, 86th Session 1998, Record of Proceedings, S. 18/7 f. 614 IAA, IAK, 87th Session 1999, Record of Proceedings Vol. 1, S. 23/8 f.; IAA, IAK, 88th Session 2000, Record of Proceedings Vol. 2, S. 23/8. 615 Siehe beispielshaft IAA, IAK, 90th Session 2002, Record of Proceedings Vol. 2, S. 28/ 13. 607

E. Norminterpretation

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wurde Übereinkommen Nr. 87 neben sechs (später sieben) weiteren Übereinkommen in einen höheren Rang in der „ungeschriebenen“ Normenhierarchie der ILO gehoben, was die Auslegung dieser Übereinkommen besonders wichtig werden ließ. Dieser Effekt wurde durch den vermehrten Verweis anderer internationaler Normen616 auf die acht Übereinkommen verstärkt. Zudem fanden die Einschätzungen des Sachverständigenausschusses vermehrt auch außerhalb der ILO Gehör.617 dd) Eskalation des Konflikts auf der IAK 2012 Es war daher zu erwarten, dass einem general survey zu den Kernarbeitsnormen besondere Aufmerksamkeit von inner- und außerhalb der ILO zuteilwerden würde und er hinsichtlich umstrittener Fragen, wie etwa der Gewährleistung des Streikrechts, auf Kritik seitens der Arbeitgeber stoßen würde.618 Dies dürfte auch für den Sachverständigenausschuss vorhersehbar gewesen sein, der an der maßgeblichen Stelle des general surveys – in Ansehung der bestehenden Differenzen – einen Hinweis auf die abweichende Position der Arbeitgeber aufgenommen hatte.619 Der Arbeitgeberseite ging dieser Hinweis jedoch nicht weit genug. Sie forderte die Aufnahme eines Disclaimers, der dem general survey vorangestellt werden sollte. Der Disclaimer sollte folgenden Inhalt haben: „The General Survey is part of a regular supervisory process and is the result of the Committee of Experts’ analysis. It is not an agreed or determinative text of the ILO tripartite constituents.“620 Diese Forderung wurde kurz vor Beginn der im Mai und Juni stattfindenden IAK den anderen Gruppen mitgeteilt, nachdem der Bericht bereits seit März auf der Homepage der ILO allgemein zugänglich gemacht worden und auch den Parteien bekannt war. Da sich die Arbeitnehmervertreter während der Konferenz weiterhin weigerten, der Aufnahme des Disclaimers zuzustimmen,621 verweigerten sich die Arbeitgeber – erstmals in der Geschichte der ILO – einer Einigung über eine Liste der schwer-

616 Hierzu zählen multi- und bilaterale Handels- und Investitionsschutzabkommen, aber auch Unternehmensverhaltenskodizes, der UN Global Compact, die ISO 26000, die OECD Guidelines oder auch die dreigliedrige Grundsatzerklärung über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik der ILO; s. a. Bellace, CLLPJ 2017, 495, 523 ff.; Bellace, AVR 2019, 153, 171. 617 Hierzu unter Teil 1 E. II. 9. 618 Mit Hinweis auf die Besonderheit des general survey von 2012 auch Bellace, AVR 2019, 153, 155. 619 IAA, IAK, 101st Session 2012, Report III (Part 1B), General Survey on the fundamental Conventions concerning rights at work in light of the ILO Declaration on Social Justice for a Fair Globalization, S. 47 f. 620 Im Wortlaut verfügbar etwa in ITUC, The right to strike and the ILO, S. 5; IOE, Do ILO Conventions 87 and 98 recognise a right to strike?, S. 9. 621 IAA, IAK, 101st Session, 2012, Record of Proceedings, S. 27/24; Bellace, CLLPJ 2017, S. 495.

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Teil 1: Die Normen der ILO

wiegendsten Verletzungen von Übereinkommen.622 Im Entwurf des IAA hatten sich auch zwei Fälle befunden, die auf einer Verletzung des Streikrechts als Bestandteil von Übereinkommen Nr. 87 basierten.623 Der britische Arbeitgebervertreter Syder begründete die Verweigerung damit, dass man sich stets gegen die Auffassung gewandt hätte, die Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses zum Streikrecht sei „Rechtsprechung“ oder „soft law“. Der Sachverständigenausschuss habe kein richterliches Mandat. In der ILO könne allein die IAK über die Regelung des Streikrechts entscheiden. Der Sachverständigenausschuss habe kein Mandat zur Auslegung von Übereinkommen Nr. 87. Es sei auch unangebracht, seine Einschätzungen zum Streikrecht an den IGH zu verweisen.624 ee) Wiederannäherungen Die Ereignisse der 101. IAK zeigten Auswirkungen auf den Bericht des Sachverständigenausschusses im folgenden Jahr. Dieser setzte sich erneut ausführlich mit den Fragen auseinander, ob erstens sein Mandat ein Recht zur Auslegung beinhaltet, zweitens seiner Spruchpraxis Verbindlichkeit zukommt und drittens welches Verhältnis zwischen den beiden Ausschüssen besteht.625 Hierbei positioniert sich der Sachverständigenausschuss deutlich gegen die Forderung nach einem Disclaimer. Man sei der Auffassung, dass ein wie von den Arbeitsgebern vorgeschlagener Disclaimer die Unabhängigkeit des Sachverständigenausschusses in bedeutender Weise beeinträchtige.626 Zwar beruhe die moralische Autorität des Sachverständigenausschusses im Wesentlichen auf der Tatsache, dass 622

Insoweit übereinstimmend ITUC, The right to strike and the ILO, S. 5; IOE, Do ILO Conventions 87 and 98 recognise a right to strike?, S. 9; IAA, IAK, 101st Session 2012, Conference Committee on the Application of Standards at the Conference, Extracts from the Record of Proceedings, Rn. 134 ff.; IAA, IAK, 106th Session 2017, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 8; Koroma/van der Heijden, Review of ILO Supervisory Mechanism, GB.326/LILS/3/1, S. 2 f.; Swepston, IJCLLIR) 2013, S. 199, 200; s. a. van der Heijden, IOLR 2018, 203, 212; La Hovary, in: Gött, Labour Standards in International Economic Law, S. 37, 45; Bellace, AVR 2019, 153, 156; Schuster, AuR 2019, 504: „für die Teilnehmer völlig unerwartet“. 623 Maupain, IOLR 2013, 117, 121. 624 IAA, IAK, 101st Session 2012, Record of Proceedings, S. 27/4: „The Employers have always objected to any view that the experts’ interpretations of the right to strike are legal jurisprudence or even soft law. As the experts do not have a judicial mandate within the ILO, referring their interpretations of the right to strike within Convention No. 87 to the International Court of Justice is therefore inappropriate. […] The determinative body to decide any rules for a right to strike recognized by the ILO is the Conference. Otherwise, it is up to national legal systems to do so. The experts do not have a mandate to interpret Convention No. 87. An ILO right to strike standard would need to be politically agreed on a tripartite basis by the Conference“; vgl. auch Bellace, AVR 2019, 153, 158; Schuster, AuR 2019, 504, 505. 625 IAA, IAK, 102nd Session 2013, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, General Report, S. 8 ff. 626 IAA, IAK, 102nd Session 2013, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, Rn. 36.

E. Norminterpretation

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er vom dreigliedrigen Verwaltungsrat ernannt werde. Er sei jedoch seit 85 Jahren ein unabhängiges und unparteiisches Sachverständigengremium.627 Zudem werde die Forderung nach dem Disclaimer gerade nicht durch alle drei Gruppen unterstützt.628 Der Sachverständigenausschuss mache außerdem seit Längerem im general report und an anderen Stellen deutlich, dass seine Ansichten nicht rechtsverbindlich seien.629 Weder zur Frage der Berechtigung der Auslegung der Übereinkommen (bejaht) noch zur Frage der rechtlichen Verbindlichkeit der Spruchpraxis (verneint)630 wählt der Sachverständigenausschuss einen anderen Standpunkt als in seinen seit 1991 veröffentlichten Berichten.631 Hinzukommt lediglich eine Formulierung, dass die Spruchpraxis eine „Bindungswirkung durch Überzeugungskraft“ (persuasive validity) entfalte, die auf die Gleichbehandlung aller Fälle, die Qualität der Argumentation und die Unabhängigkeit und Sachkenntnis des gesamten Ausschusses zurückgehe.632 Zwar wich der Sachverständigenausschuss 2013 somit inhaltlich höchstens in Nuancierungen von seinen bisherigen Ansichten ab. In der ausführlichen Auseinandersetzung mit den Ansichten der Arbeitgeberseite (unter Wiederholung ihrer Argumente) kann aber eine abgeschwächte Form eines Disclaimers gesehen werden, weshalb das Vorgehen der Arbeitgeber in gewissem Umfang als erfolgreich eingestuft werden muss.633 Nach informellen Verhandlungen im September 2012 und Februar 2013 gelang es den Sozialpartnern auf der IAK 2013, eine Wiederholung des Eklats im Vorjahr zu vermeiden.634 Eine Einigung auf eine Liste von diesmal 26 Ländern kam zustande.635 Der Kompromiss basierte allerdings auf der Ausklammerung von Fragen des Streikrechts, dessen Verletzung in diesem Jahr nicht zu einer Aufnahme in die Liste der schwerwiegendsten Verletzungen qualifizieren konnte.636 So enthielten die Sitzungsprotokolle des Normanwendungsausschusses in den (einvernehmlich formulierten) Empfehlungen betreffend sechs der neun im Rahmen von Übereinkommen Nr. 87 behandelten Länder den Hinweis, dass die Arbeitgeber nicht damit einverstanden seien, dass sich ein Streikrecht aus Übereinkommen Nr. 87 ergebe und daher 627

Ibid., Rn. 36. Ibid., Rn. 36. 629 Ibid., Rn. 36. 630 Ibid., Rn. 34. 631 A. A. Hofmann/Schuster, It ain’t over ’til it’s over, GLU Working Paper No. 40, S. 3 f. 632 IAA, IAK, 102nd Session 2013, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, Rn. 35. 633 Hinzu kommt die Schriftauszeichnung des Mandats in fett, hierzu Bellace, AVR 2019, 153, 172 f. 634 Maupain, IOLR 2013, 117, 163: Die Einigung wurde erst im Mai 2013, also kurz vor der IAK im Juni erzielt. 635 IAA, IAK, 102nd Session 2013, Record of Proceedings, S. 16 Part II/7 ff. 636 Hofmann/Schuster, It ain’t over ’til it’s over, GLU Working Paper No. 40, S. 2; Bellace, CLLPJ 2017, S. 495, 497 f. 628

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Teil 1: Die Normen der ILO

das Streikrecht nicht angesprochen werde.637 Die Arbeitnehmerseite machte allerdings klar, dass sie nicht zu einer Wiederholung dieses Kompromisses bereit sei.638 Auf der IAK 2014 bestand der Kompromiss daher in einem „agreement to disagree“: Es wurden 25 besonders schwerwiegende Verletzungen von Übereinkommen durch den Normanwendungsausschuss diskutiert. Die Sozialpartner konnten sich allerdings aufgrund der unterschiedlichen Ansichten zum Streikrecht für drei Länder nicht auf gemeinsame Empfehlungen einigen.639 ff) Weitestgehende Beilegung des Konflikts durch gemeinsame Erklärung der Sozialpartner Zu diesem Zeitpunkt hatten sich im Verwaltungsrat die Gruppen bereits auf die Überarbeitung des Normüberwachungssystems im Rahmen des SRM geeinigt. Nach mehreren informellen tripartistischen Treffen gelang es im Februar 2015 eine Einigung zu erzielen.640 In einer gemeinsamen Erklärung641 (der sogenannten „Waffenstillstandsvereinbarung“642) erkannten die Sozialpartner das Mandat des Sachverständigenausschusses in der Form an, wie es der Sachverständigenausschuss im general report von 2015 selbst beschrieben hatte.643 Die Sozialpartner erkennen somit 637 IAA, IAK, 102nd Session 2013, Record of Proceedings, S. 16/Part II/30 (Bangladesch), 45 (Kanada), 50 (Ägypten), 57 (Fiji), 64 (Guatemala) und 71 (Swasiland); Hofmann/Schuster, It ain’t over ’til it’s over, GLU Working Paper No. 40, S. 2. 638 Vgl. IAA, IAK, 103rd Session 2014, Record of Proceedings, S. 13/Part I/53. 639 Vgl. IAA, IAK, 103rd Session 2014, Record of Proceedings, S. 13/Part I/53 und S. 13/ Part II/48 ff. (Algerien), 59 ff. (Kambodscha), 63 ff. (Swaziland); Hofmann/Schuster, It ain’t over ’til it’s over, GLU Working Paper No. 40, S. 2; Bellace, CLLPJ 2017, S. 495, 498 sieht hierin einen Rückschritt. 640 Diese wurden durch den Beschluss GB.322/INS/5 des Verwaltungsrates eingeleitet, vgl. IAA, Verwaltungsrat, 332nd Session November 2014, Minutes, GB.322/PV, S. 17 ff., 44. Aufgrund der Tagungsorte wurden die Treffen auch als „Swiss-Chalet-Progress“ bekannt, vgl. Maupain, IOLR 2013, 117, 163 f.; Seifert, in: FS Eichenhofer, S. 603, 606. 641 IAA, Dreigliedrige Tagung über das Übereinkommen (Nr. 87) über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechtes, 1948, in Bezug auf das Streikrecht und die Modalitäten und Praktiken von Streikmaßnahmen auf nationaler Ebene, (23. – 25. Februar 2015), Anhang I, abrufbar unter: http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/–ed_norm/–relconf/ documents/meetingdocument/wcms_348446.pdf; hierzu auch Hofmann/Schuster, It ain’t over ’til it’s over, GLU Working Paper No. 40, S. 3. 642 Lörcher, in: HSI-Newsletter 1/2015, abrufbar unter: http://www.hugo-sinzheimer-insti tut.de/hsi-newsletter/europaeisches-arbeitsrecht/2015/newsletter-012015.html; van der Heijden, IOLR 2018, 203, 212: „kind of truce“; Bellace, AVR 2019, 153, 173: „modus operandi“; s. a. Servais, CLLPJ 2017, 375, 382 f.; Seifert, CLLPJ 2017, 487, 491. 643 IAA, IAK, 104th Session, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, General Report, Rn. 29; IAA, Verwaltungsrat, 323rd Session March 2015, Doc GB.323/INS/5/Appendix I. Die Beschreibung ist inhaltlich identisch mit der Beschreibung im Bericht von 2013. In allen seitherigen Berichten wird die Mandatsbeschreibung im selben Wortlaut wiedergegeben, vgl. zuletzt IAA, IAK, 108th Session 2019, Report III (Part A), Report of the CEACR, General Report, Rn. 32.

E. Norminterpretation

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an, dass der Sachverständigenausschuss Übereinkommen auslegen darf, die Spruchpraxis aber rechtlich nicht allgemein verbindlich ist. Die Erklärung enthält auch ein Anerkenntnis des „Rechts von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, zur Unterstützung ihrer legitimen wirtschaftlichen Interessen Arbeitskampfmaßnahmen zu ergreifen“. Ob sich dieses Recht aus Übereinkommen Nr. 87 oder (nur) aus nationalem (Verfassungs-)Recht ergibt, wird in der Erklärung nicht zweifelsfrei beantwortet.644 Die begleitende Regierungserklärung hierzu ist ebenfalls nicht eindeutig. Die Regierungsgruppe erkennt an, dass „ohne den Schutz des Streikrechts die Vereinigungsfreiheit, insbesondere das Recht, Tätigkeiten für die Förderung und den Schutz der Arbeitnehmerinteressen zu organisieren, nicht umfassend verwirklicht werden kann“. Insoweit nimmt die Regierungsgruppe implizit Bezug auf die konkrete Formulierung von Art. 3 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 87.645 Eine eindeutige Zuordnung zu Übereinkommen Nr. 87 wird allerdings nicht vorgenommen. Gegen eine entsprechende Auslegung der Regierungserklärung spricht, dass nach dieser der Geltungsbereich und die Bedingungen des Streikrechts auf nationaler Ebene geregelt seien.646 Die IOE geht daher in der folgenden Sitzung des Verwaltungsrats647 und des Normanwendungsausschusses648 davon aus, die gemeinsame Erklärung der Sozialpartner sei nicht dahingehend zu verstehen, dass sich das Streikrecht aus Überein-

644 So auch Lörcher, in: HSI-Newsletter 1/2015, abrufbar unter: http://www.hugo-sinzheim er-institut.de/hsi-newsletter/europaeisches-arbeitsrecht/2015/newsletter-012015.html; interessant ist auch die Stellungnahme einer Regierungsvertreterin Lettlands, die im Namen der gesamten EU die Ansicht äußert, das Streikrecht ergebe sich aus der Vereinigungsfreiheit, obschon es im Übk. Nr. 87 nicht ausdrücklich erwähnt sei (siehe insoweit auch die weiteren Stellungnahmen u. a. Frankreichs, Deutschlands und Italiens). Auch der EuGH habe erklärt, dass das Recht auf Kollektivmaßnahmen, einschließlich des Streikrechts, ein Grundrecht sei, dessen Ausübung aber Einschränkungen unterliegen könne, vgl. IAA, Verwaltungsrat, 323rd Session March 2015, Doc GB.323/INS/5/Appendix II, Rn. 13. 645 Dies wird insb. bei Gegenüberstellung zur verbindlichen engl. Fassung deutlich („Workers’ and employers’ organisations shall have the right to […] organise their administration and activities […]“). 646 IAA, IAK, 104th Session 2015, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, General Report, Rn. 29; IAA, Verwaltungsrat, 323rd Session March 2015, Doc GB.323/INS/5/Appendix II; s. a. IAA, IAK, 106th Session 2017, Record of Proceedings, S. 15/Part II/61: „The Employers recalled their disagreement with the Committee of Experts’ views concerning Convention No. 87 and the right to strike. They recalled the Government group’s statement of March 2015 according to which ’the scope and conditions of this right are regulated at the national level’. It is in this light that the Employers have addressed the case of Bangladesh“. 647 IAA, Verwaltungsrat, 323rd Session March 2015, Minutes, GB.323/PV, Rn. 51; s. a. Wilton/Suárez Santos, Erklärung v. 26. Februar 2015 „Outcomes and next steps arising from 23 – 25 February ILO Tripartite meeting on the standards supervisory system“, abrufbar unter: http://www.ioe-emp.org/index.php?id=1926. 648 IAA, IAK, 104th Session 2015, Extracts from the Record of Proceedings, Rn. 39; vgl. auch Bellace, CLLPJ 2017, S. 495, 499 f. mit Hinweis auf entsprechende Kritik der Arbeitgebervertreter am General Survey zu Übk. Nr. 11 und Nr. 141.

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kommen Nr. 87 herleiten lasse. ITUC vertritt hierzu die entgegengesetzte Auffassung.649 Die gemeinsame Erklärung sorgte trotzdem für ein gewisses Maß an Entspannung in der Beziehung der Sozialpartner.650 So war die Arbeitgeberseite erneut bereit, einer Liste von 25 Fällen schwerwiegender Verletzungen von Übereinkommen zuzustimmen und im Unterschied zur IAK 2014 war es auch möglich, Empfehlungen zu Fällen der Verletzung des Streikrechts zu verabschieden.651 Der Kompromiss bestand nun darin, Meinungsverschiedenheiten lediglich in die Sitzungsprotokolle des Normanwendungsausschusses aufzunehmen, nicht jedoch in den Empfehlungen abzubilden.652 Keine Probleme ergaben sich aus der Befristung der gemeinsamen Erklärung zur Verwaltungsratstagung im November 2016. Hierzu sah die Erklärung die Weitergeltung vor, „es sei denn, dass sie nach Auffassung der Arbeitnehmer- oder der Arbeitgebergruppe im November 2016 ihre Funktion nicht wie vorgesehen erfüllt“653. Weder auf der im Oktober und November 2016 stattfindenden 328. Sitzung des Verwaltungsrats noch auf einer der darauf folgenden Sitzungen wurde eine Aufkündigung der gemeinsamen Erklärung überhaupt thematisiert.654 Entsprechend ist die gemeinsame Erklärung nach wie vor in Kraft und auch das vom Sachverständigenausschuss seither in seinen Berichten gleichbleibend erläuterte Mandat wird von den Sozialpartnern weiterhin akzeptiert.655 Ebenso wurde beibehalten, dass die Sozialpartner im Normanwendungsausschuss gemeinsam zu den schwerwiegendsten Fällen – auch zu Streikrechtsfällen – Empfehlungen verabschieden, wobei die Arbeitgeberseite weiterhin auf die Wiedergabe ihrer Position zum Streikrecht in den Sitzungsprotokollen besteht.656 Der im Jahr 2015 gefundene Minimalkonsens 649 IAA, Verwaltungsrat, 323rd Session March 2015, Minutes, GB.323/PV, Rn. 52; ITUC, „Right to Strike Reaffirmed at ILO“, Erklärung v. 25. Februar 2015, abrufbar unter: https:// www.ituc-csi.org/right-to-strike-re-affirmed-at-ilo. 650 Siehe auch Bellace, AVR 2019, 153, 154: „The controversy […] has not been resolved, although a modus operandi for moving past deadlock in the CAS has been agreed“; deutlich kritischer La Hovary, in: Gött, Labour Standards in International Economic Law, S. 37, 45 f.; Schuster, AuR 2019, 504, 505. 651 Vgl. etwa IAA, IAK, 104th Session 2015, Record of Proceedings, S. 14/Part II/48 (Bangladesh), 61 (El Salvador) und 68 (Guatemala). 652 IAA, IAK, 104th Session 2015, Record of Proceedings, S. 14/Part II/8; siehe auch Bellace, AVR 2019, 153, 173 f. 653 IAA, Verwaltungsrat, 323rd Session March 2015, Doc GB.323/INS/5/Appendix I, S. 4. 654 Vgl. IAA, Verwaltungsrat, 328rd Session October–November 2016, Minutes, GB.328/ PV; zur Position der Arbeitgeberseite zum Streikrecht auf der IAK 2016: Novitz, CLLPJ 2017, 353, 353 f. 655 Vgl. die positive Resonanz der Arbeitgeber in IAA, IAK, 105th Session 2016, Record of Proceedings, S. 16/Part I/9; IAA, IAK, 106th Session 2017, Record of Proceedings, S. 15/Part I/ 9. 656 Vgl. bspw. IAA, IAK, 105th Session 2016, Record of Proceedings, S. 16(Rev.)/Part II/36: „In its direct request, the Committee of Experts referred to the issue of the right to strike. The

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wurde von den Beteiligten zudem in der auf dem Folgetreffen im März 2017 verabschiedete Erklärung bestätigt.657 Auch auf der 108. IAK 2019 wurde (bei Beharren auf der jeweiligen Position)658 nicht vom eingegangenen Kompromiss abgewichen.659 b) Mandat zur Überwachung umfasst Mandat zur Auslegung der Übereinkommen Trotz der inzwischen erzielten Einigung über das Mandat des Sachverständigenausschusses stellt sich die Frage, ob der politische Konsens rechtlich überzeugen kann. Gegen ein Recht des Sachverständigenausschusses, Übereinkommen auszulegen zu dürfen, spricht einzig der Beschluss des mit der Einsetzung beauftragten Ausschusses der 8. IAK 1926. Art. 37 ILO-Verfassung lässt sich hingegen weder für noch gegen ein entsprechendes Mandat anführen, sondern sieht nur eine Regelung für den Fall von Streitigkeiten über die verbindliche Auslegung der Verfassung oder von Übereinkommen vor. Die Feststellung von Verstößen gegen Übereinkommen bedarf zwangsläufig der Anwendung juristischer Methodik (insbesondere der Art. 31 ff. WVK) und der Auslegung des Textes, zumal die Übereinkommen eine Vielzahl abstrakter Rechtsbegriffe beinhalten.660 Diese Überlegungen sind nicht nur unter Arbeits(völker)rechtlern die vorherrschende Ansicht. Auch unter Völkerrechtlern herrscht dahingehend Konsens, dass ein zum Zweck der Überwachung eines menschenrechtlichen Abkommens eingerichteter Ausschuss dieses notwendigerweise auch auslegen können muss.661 Schermers/Blokker führen mit Blick auf die Vereinten Nationen treffend aus: „Whoever applies a rule must first also interpret it, position of the Employers’ group on this subject was known and reference had been made to it.“ und IAA, IAK, 106th Session 2017, Record of Proceedings, S. 15/Part II/61 f. 657 Hierzu (kritisch) Schuster, AuR 2019, 504, 505 f. 658 Vgl. insoweit die Beiträge der Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter im Normanwendungsausschuss, IAA, IAK 108th Session 2019, Provisional Record of Proceeding, 5 A (Part 1), Rn. 94 (Arbeitnehmervertreter) und Rn. 122 (Antwort der Arbeitgebervertreter). 659 Zur 107. IAK 2019 Bellace, AVR 2019, 153, 177. 660 Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 205; La Hovary, Industrial Law Journal 2013, 338, 358; Seifert, in: FS Eichenhofer, S. 603, 609; Seifert, CLLPJ 2017, 487, 488, 489; Bellace, CLLPJ 2017, 495, 501 f.; ITUC, The Right to strike and the ILO, S. 35, abrufbar unter: https://www.ituc-csi.org/IMG/pdf/ituc_final_brief_on_the_right_to_strike.pdf.; entgegnend auf die Argumentation der Arbeitgeberseite ferner Bellace, AVR 2019, 153, 160; eine Zuständigkeit des Sachverständigenausschusses zur Auslegung von Übereinkommen wird von Nußberger, Sozialstandards im Völkerrecht, S. 256 abgelehnt. 661 Vgl. etwa Nolte, Third Report for the ILC Study Group on Treaties over Time, Treaties and Subsequent Practice, S. 307, 378; International Law Association, Committee on International Human Rights Law and Practice, Rio de Janeiro Conference (2008), Final Report on the Impact of International Human Rights Law on General International Law, S. 7 ff.; International Law Association, Committee on International Human Rights Law and Practice, „Final Report on the Impact of the Findings of United Nations Human Rights Treaty Monitoring Bodies, 71 International Law Association Reports of Conferences 621.

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which of course requires ascertaining its meaning. That person will also execute it in the manner in which he thinks it ought to be understood.“662 c) Bindungswirkung der Spruchpraxis Die Berechtigung zur Auslegung der Übereinkommen ist allerdings nicht gleichbedeutend mit der Verbindlichkeit der Spruchpraxis. Ob der Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses rechtliche Verbindlichkeit zukommt, muss für mehrere Ebenen entschieden werden. Zunächst erscheint es möglich, dass in einer internationalen Organisation die Aussagen eines Überwachungsausschusses schon „als solche“ Verbindlichkeit genießen. Für die Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses muss eine solche Verbindlichkeit der Spruchpraxis „als Ganzes“ im Sinne einer institutionell-rechtlichen Regel abgelehnt werden. Hiervon ist die Frage zu trennen, ob bei der Auslegung einer Bestimmung eines Übereinkommens die Spruchpraxis Berücksichtigung finden muss. Dies ist allerdings für jeden Einzelfall gesondert zu prüfen, da selbst bei einer Berücksichtigung der Spruchpraxis als „spätere Übung“ der Vertragsparteien im Sinne von Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVK diese Auslegungsmethodik mit den anderen, vorrangig zu berücksichtigenden Auslegungsarten663 vereinbar sein muss. Von diesen völkerrechtlichen Fragen ist zudem zu trennen, ob die nationale Rechtsordnung eine stärkere Orientierung bis hin zu einer Verbindlichkeit der Spruchpraxis vorsieht. Diese Frage stellt sich auch im Hinblick auf die Rezeption der Spruchpraxis im Unionsrecht.664 aa) Keine generelle Verbindlichkeit aufgrund einer institutionell-rechtlichen Regel Die Spruchpraxis genießt als solche keine völkerrechtliche Verbindlichkeit.665 (1) Eindeutige Zuweisung des Rechts zur verbindlichen Auslegung an den IGH oder ein internes Gericht Zwar schließt die Verfassung der ILO die Verbindlichkeit der Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses weder ausdrücklich aus noch sieht sie diese explizit vor. Allerdings weist Art. 37 ILO-Verfassung die Zuständigkeit zur verbindlichen

662

Schermers/Blokker, International Institutional Law, Rn. 1344. Insbesondere der grammatikalisch, systematisch und teleologisch Auslegung, vgl. Art. 31 Abs. 1 WVK. 664 Siehe unter Teil 4 C. III. 665 So auch Schubert, in: Franzen/Gallner/Oetker, EMRK, Art. 11, Rn. 23; Däubler, in: Schlachter/Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht, § 3, Rn. 22; Breuer, „Bundesverfassungsgericht versus Behindertenrechtsausschuss: Wer hat das letzte Wort?“, Verfassungsblog v. 25. Februar 2019, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/bundesverfassungsgericht-versusbehindertenrechtsausschuss-wer-hat-das-letzte-wort/; a. A. womöglich Zimmer, in: Schlachter/ Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht, § 5, Rn. 51. 663

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Auslegung der ILO-Verfassung und der Übereinkommen eindeutig dem IGH und dem bisher nicht eingerichteten ILO-internen Gericht zu.666 Hinzu kommt, dass zum Zeitpunkt der Verfassungsreform von 1946, in deren Rahmen der zweite Absatz in Art. 37 ILO-Verfassung eingefügt wurde, der Sachverständigenausschuss bereits regelmäßig eingesetzt wurde: Ohne die Verfassungsänderung hätte argumentiert werden können, dass zum Zeitpunkt der Verabschiedung von Art. 37 ILO-Verfassung (zunächst als Bestandteil des Versailler Vertrages) die Vertragsparteien das Mandat des Sachverständigenausschusses nicht regeln konnten, da dieser zu diesem Zeitpunkt noch nicht existierte, und daher nicht abschließend wäre. Die Verfassungsänderung von 1946 über die Erweiterung der Zuständigkeiten zur verbindlichen Auslegung der Übereinkommen auf ein internes Gericht – nach Etablierung des Sachverständigenausschusses – bringt implizit den Willen der Vertragsparteien zum Ausdruck, dass dessen Spruchpraxis nicht generell verbindlich sein soll.667 (2) Keine weitergehenden Rechte als die des Verwaltungsrats Die Reichweite der Rechte des Sachverständigenausschuss sind beschränkt durch die Kompetenzen des Verwaltungsrats, sofern die Verfassung nichts Anderweitiges bestimmt oder die Vertragsparteien der Erweiterung der Rechte des eingesetzten Ausschusses nicht zugestimmt haben. Auch hier gilt der Grundsatz Nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet.668 (3) „Feststehende Übung“ i. S. v. Art. 5 WVK i. V. m. Art. 2 Abs. 1 lit. j) WVK-IO spricht für Unverbindlichkeit Eine entsprechende „feststehende Übung“ der Vertragsparteien lässt sich allerdings nicht erkennen.669 Ansatzpunkt für die Begründung einer institutionellrechtlichen Regel wäre allenfalls eine Auslegung der Verfassung im Lichte der „einschlägige Vorschriften der Organisation“, die gemäß Art. 5 WVK bei der Auslegung der Verfassung vorrangig zu berücksichtigen sind.670 Der Begriff der 666 So auch Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 208; Seifert, CLLPJ 2017, 487, 489. 667 Ähnlich Maupain, IOLR 2013, S. 117, 145; Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte, S. 210 f. 668 So auch Seifert, in: FS Eichenhofer, S. 603, 609 f. m. w. N. 669 Hierfür ließen sich einzig die Debatten im Rahmen der Ablehnung einer Geschäftsordnung des Sachverständigenausschusses von 1963 anführen. Alle drei Gruppen (mit Ausnahme der Vertreter sozialistischer Länder) begründete ihre Ablehnung mit der Unparteilichkeit, Objektivität und Integrität des Sachverständigenausschusses, dem „quasi-gerichtliche“ Qualität beigemessen werden könne, vgl. IAA, IAK, 47th Session 1963, Record of Proceedings, Appendix V, S. 513 f., Rn. 10; a. A. (anscheinend) Smit, CLLPJ 2017, 395, 411 f. 670 Vgl. Engelen-Kefer, in: BMAS/BDA/DGB, Weltfriede durch soziale Gerechtigkeit, S. 87, 97. Eine Auslegung der – als völkerrechtlichen Vertrag zu qualifizierenden – Verfassung anhand der Art. 31 ff. WVK wäre möglich. Art. 5 WVK erscheint jedoch im Zusammenhang

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„einschlägigen Vorschriften der Organisation“ wird in der WVK nicht näher bestimmt. Es kann jedoch ergänzend auf die Begriffsbestimmung des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge zwischen Staaten und internationalen Organisationen oder zwischen internationalen Organisationen (WVK-IO) in Art. 2 Abs. 1 lit. j) zurückgegriffen werden.671 Hiernach umfassen „Vorschriften der Organisation“ „insbesondere die Gründungsurkunden, die im Einklang damit angenommenen Beschlüsse und Entschließungen sowie die feststehende Übung der Organisation“. Wie erläutert spricht die systematische und historische Auslegung der Gründungsurkunde (Verfassung) gerade gegen eine generelle Verbindlichkeit der Spruchpraxis. Im Rahmen eines formellen Verfahrens (im Einklang mit den Gründungsurkunden) angenommene Beschlüsse und Entschließungen sind zur Frage der generellen Verbindlichkeit der Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses bisher nicht ergangen. Insbesondere die gemeinsame Erklärung der Sozialpartner und die begleitende Regierungserklärung von 2015 können nicht unter diesen Begriff subsumiert werden, da sie weder durch den Verwaltungsrat noch die IAK angenommen wurden. Die gemeinsame Erklärung und ihr Verweis auf die Beschreibung des Mandats des Sachverständigenausschusses in dessen general report von 2015 lassen sich aber in Zusammenschau mit der Regierungserklärung womöglich als „feststehende Übung“ auffassen. Bisher wurde der Inhalt dieser Erklärungen von keiner der drei Gruppen in Frage gestellt. Das für die Annahme einer „feststehenden Übung“ notwendige zeitliche Element könnte inzwischen erfüllt sein.672 Zudem wurde bereits im Vorfeld von keiner der Gruppen eine generelle Verbindlichkeit der Aussagen des Sachverständigenausschusses als Solches vertreten. So wurde etwa im Gutachten des ITUC über die Streikrechtsgarantie in Übereinkommen Nr. 87 angenommen, dass alle Beteiligten akzeptierten, dass keine andere Einrichtung als der IGH befugt sei, eine endgültige, verbindliche Auslegung der Übereinkommen vorzunehmen.673

mit Gründungsverträgen einer internationalen Organisation und Fragen, die ihre Binnenorganisation betreffen, sachnäher. 671 Schmalenbach, in: Dörr/Schmalenbach, WVK, Art. 5, Rn. 15; Schuster/Hofmann, It ain’t over ’til it’s over, GLU Working Paper 40, S. 22; vgl. auch Nolte, Treaties and Subsequent Practice, S. 311; ähnlich Anderson, in: Corten/Klein, WVK, Art. 5, Rn. 11, der eine flexiblere Herangehensweise an die Begriffsbestimmung bevorzugt, aber ebenfalls „established practice“ unter den Begriff der „rules of the organisation“ subsumiert. 672 Möglicherweise ist das Vorliegen eines Momentums im Falle einer ausdrücklich geäußerten Übereinstimmung nicht zu prüfen, unklar insoweit IGH v. 13. Juli 2009, Dispute Regarding Navigational and Related Rights (Costa Rica/Nicaragua, ICJ Reports 2009 (Sondervotum Skotnikow), 285, Rn. 9. 673 ITUC, The Right to strike and the ILO, S. 35, abrufbar unter: https://www.ituc-csi.org/ IMG/pdf/ituc_final_brief_on_the_right_to_strike.pdf, mit Verweis auf Zitat von La Hovary, Showdown at the ILO: A Historical Perspective on the Employers’ Group’s 2012 Challenge to the Right to Strike, Industrial Law Journal 2013, 335, 351.

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(4) Vergleich mit anderen Menschenrechtsausschüssen Auch der Vergleich mit anderen Überwachungsausschüssen spricht gegen die Annahme einer institutionell-rechtlichen Regel der Verbindlichkeit der Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses. In vielen anderen Menschenrechtsverträgen wird dies für den jeweiligen Ausschuss ausdrücklich ausgeschlossen.674 So stellt Art. 9 Abs. 2 UN-Rassendiskriminierungskonvention675 (ICERD) klar, dass es sich bei den Berichten des UN-Ausschusses für die Beseitigung der Rassendiskriminierung um „Vorschläge“ und (bloße) „allgemeine Empfehlungen“ handele. Auch Art. 76 Abs. 8 S. 2, 3 des UN-Seerechtsübereinkommens676 spricht von „Empfehlungen“ der Festlandsockelkommission. Der Wortlaut anderer Abkommen lässt ebenfalls darauf schließen, dass die Spruchpraxis nicht verbindlich ist, so etwa Art. 5 Abs. 4 des 1. Zusatzprotokolls des IPbpR,677 laut welchem der UN-Menschenrechtsausschuss seine „Auffassungen“ (views) dem betroffenen Vertragsstaat und der Einzelperson mitteilt. Auch die Völkerrechtskommission678 spricht sich gegen eine (grundsätzliche) Bindungswirkung der Spruchpraxis von Überwachungsgremien nach Art. 31 Abs. 3 lit. a), b) WVK aus. bb) Berücksichtigung der Spruchpraxis bei der Auslegung einzelner Übereinkommen als „spätere Übung“, Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVK Die Ablehnung einer generellen Verbindlichkeit der Aussagen des Sachverständigenausschusses bedeutet allerdings nicht, dass die Spruchpraxis bei der Auslegung der Übereinkommen vollkommen unbeachtet bleiben müsste. Überein674

Nolte, Third Report for the ILC Study Group on Treaties over Time, Treaties and Subsequent Practice, S. 307, 378; Kretzmer, in: Wolfrum, MPEIL, Human Rights, State Reports (Stand: Oktober 2008), Rn. 28; vgl. auch BVerfG v. 29. Januar 2019 – 2 BvC 62/14, juris, Rn. 65 m. w. N.: „Stellungnahmen von Ausschüssen oder vergleichbaren Vertragsorganen zur Auslegung von Menschenrechtsabkommen sind demgegenüber ungeachtet ihres erheblichen Gewichts weder für internationale noch für nationale Gerichte verbindlich“; krit. hierzu Breuer, „Bundesverfassungsgericht versus Behindertenrechtsausschuss: Wer hat das letzte Wort?“, Verfassungsblog v. 25. Februar 2019, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/bundesverfas sungsgericht-versus-behindertenrechtsausschuss-wer-hat-das-letzte-wort/. 675 Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung v. 7. März 1966, BGBl. 1969 II S. 961. 676 1833 UNTS, 3, unterzeichnet am 10. Dezember 1982, in Kraft getreten am 16. November 1994. 677 Optional Protocol to the International Covenant on Civil and Political Rights (United Nations [UN]) 999 UNTS 171, 999 UNTS 302, UN Doc A/RES/2200(XXI)[A], UN Doc A/ 6316. 678 Die Völkerrechtskommission wurde auf Grundlage von Art. 13 Abs. 1 lit. a) UN-Charta gebildet, um die UN-Generalversammlung bei ihrem Mandat zu unterstützen, „um die internationale Zusammenarbeit auf politischem Gebiet zu fördern und die fortschreitende Entwicklung des Völkerrechts sowie seine Kodifizierung zu begünstigen“. Zur Arbeit und dem Mandat der Völkerrechtskommission siehe: Rao, in: Wolfrum, MPEPIL, International Law Commission (ILC) (Stand: März 2017).

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kommen der ILO sind als völkerrechtliche Verträge nicht nur grammatikalisch, systematisch und teleologisch (Art. 31 Abs. 1 WVK), sondern auch unter Berücksichtigung jeder späteren Übung (Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVK) auszulegen. Spruchpraxis kann hierbei eine spätere Übung nicht nur reflektieren, sondern auch auslösen.679 Hierfür ist eine positive Reaktion der Gruppen notwendig, die etwa in der Äußerung ihres Einvernehmens bestehen kann.680 (1) Berücksichtigung einer späteren Übung im Bereich des Menschenrechtsschutzes anerkannt Bei der Anwendung der Auslegungsmethodik der „späteren Übung“ ist zu beachten, dass diese Regel ursprünglich für horizontale Zwei-Parteien-Vertragsverhältnisse geschaffen wurde: Bei zwischenstaatlichen Streitigkeiten sind Staaten sowohl Urheber als auch Begünstigte bzw. Beschwerte der späteren Übung. Werden in einem völkerrechtlichen Vertrag hingegen Rechte für nichtstaatliche Akteure geschaffen, hat die Handhabung des Vertrages zwischen Staaten Auswirkungen auf die Beziehung der Vertragsparteien etwa zu ihren Staatsangehörigen. Urheber und Begünstigte der späteren Übung fallen also auseinander.681 Dies bedeutet allerdings nicht, dass Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVK in Fällen des Menschenrechtsschutzes unangewendet bleiben müsste. Eine solche Einschränkung lässt sich weder dem Wortlaut der WVK noch den Entscheidungen internationaler Gerichte und Spruchkörper entnehmen. Vielmehr stellt die Bestimmung der Reichweite eines Menschenrechts durch eine spätere Übung – etwa basierend auf der Spruchpraxis internationaler Menschenrechtsausschüsse – im Völkerrecht keine Neuheit dar.682 Neben der differenzierten Rechtsprechungslinie des EGMR zur dynamisch-evolu679 Seifert, CLLPJ 2017, 487, 490; Nolte, Treaties and Subsequent Practice, S. 384: „The pronouncements of treaty monitoring bodies do not, as such, constitute subsequent agreements or practice in the sense of Art. 31(3)(a) and (b) VCLT. They can, however, reflect or trigger such subsequent agreements or subsequent practice and thereby contribute to an authorative interpretation of a treaty within the limits provided by the nature of the treaty“; die Zurückhaltung der International Law Commission wurde von der International Law Association kritisiert, vgl. International Law Association, Rio de Janeiro Conference (2008) on International Human Rights Law and Practice, Final Report, S. 16: „For the International Law Commission the question of the impact of international human rights law on general international law has particularly arisen in recent years in the context of its codification exercises on state responsibility, treaty reservations and diplomatic protection. The ILC has not been fully averse to the process but the actual steps it has taken have been rather modest, for example by acknowledging that human rights treaty monitoring bodies have the authority to assess the validity of treaty reservations“. 680 Nolte, Treaties and Subsequent Practice, S. 382: „in one way or another“; Mechlem, Vanderbilt Journal of Transnational Law, S. 905, 928 f. 681 Roberts, in: Nolte, Treaties and Subsequent Practice, S. 95, 99 f., der hieraus das Erfordernis einer gewissen Zurückhaltung im Umgang mit der späteren Übung im Kontext menschenrechtlicher Verträge folgert (S. 101 f.). 682 D’Aspremont, in: Tams/Tzanakopoulos/Zimmermann, Research Handbook on the Law of Treaties, S. 257, 278; vgl. auch Nolte, Treaties and Subsequent Practice, S. 244 ff. zur späteren Übung auf Grundlage der Spruchpraxis von Menschenrechtsausschüssen.

E. Norminterpretation

139

tionären Auslegung der EMRK existieren auch Entscheidungen des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte (IAGMR) sowie Spruchpraxis des UNMenschenrechtsausschuss zum IPbpR zur späteren Übung.683 Auch der IGH hat im Gutachten über den Mauerbau in Palästina die Spruchpraxis des UN-Menschenrechtsausschusses zur Auslegung des IPbpR herangezogen.684 (2) Tatbestandsvoraussetzungen der ergänzenden Auslegungsregel des Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVK Gem. Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVK685 ist bei der Auslegung eines Vertrags „jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht“ zu berücksichtigen.686 Hieraus ergeben sich vier Tatbestandsmerkmale,687 die in zwei Schritten zu prüfen sind: Auf einer ersten Ebene muss bei der „Anwendung des Vertrags“ (a) eine „spätere Übung“ 683

Nolte, Treaties and Subsequent Practice, S. 244, 281: Im Hinblick auf den UN-Menschenrechtsausschuss fällt es allerdings schwer, eine einheitliche Linie festzustellen. So hat sich der Menschenrechtsausschuss etwa in der Alberta Union v. Canada zur Ablehnung der Gewährleistung des Streikrechts durch Art. 22 Abs. 1 IPbpR ausdrücklich auf die Interpretationsregeln der WVK berufen, Spruchpraxis internationaler Ausschüsse allerdings nicht herangezogen, vgl. UN-Menschenrechtsausschuss, Entscheidung v. 18. Juli 1986 – Mitteilung Nr. 118/1982, Alberta Union v. Canada, Rn. 6.3; Nolte, Treaties and Subsequent Practice, S. 244, 276. Diese Position dürfte inzwischen aufgegeben worden sein. Jedenfalls sieht der Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsausschusses zur Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit Kiai das Streikrecht als von Art. 22 IPbpR umfasst an, vgl. Kiai, Report of the Special Rapporteur on the rights to freedom of peaceful assembly and of association v. 14. September 2016, UN Doc A/71/385, Rn. 56. 684 IGH v. 9. Juli 2004, Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory (Advisory Opinion), ICJ Reports 2004, 136, Rn. 109 u. 112; De Jesus Butler, the European Union and International Human Rights, S. 12. Auf den IPbpR kam es aufgrund der Verdrängung durch spezielleres humanitäres Völkerrecht im Ergebnis allerdings nicht an, vgl. Rn. 106 des Gutachtens; von Arnauld, Völkerrecht, S. 577 f. 685 Sofern es sich um die Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrages handelt, der nicht Gründungsurkunde einer internationalen Organisation, sondern „sekundärer“ Rechtsakt ist, ist eine vorrangige Anwendung der Art. 31 ff. WVK überzeugender, wenngleich teilweise Modifikationen nach Art. 5 WVK notwendig erscheinen. Eine Auslegung anhand von späteren Übereinkünften nach Art. 31 Abs. 3 lit. a) scheint ausgeschlossen; zur Abgrenzung: Nolte, Treaties and Subsequent Practice, S. 173 f. 686 Die Frage der Bindungskraft der Spruchpraxis auf Grundlage der Einordnung als „spätere Übung“ wurde häufig in Bezug auf das Streikrecht als Gewährleistungsgehalt geprüft und etwa durch Engelen-Kefer, in: BMAS/BDA/DGB, Weltfriede durch soziale Gerechtigkeit, S. 87, 98 f.; Weiss/Seifert, in: GS Zachert, S. 130, 137 ff.; Fütterer, Die Reichweite des Solidaritätsstreikrechts, S. 213 f.; (wohl) Sädevirta, EuZA 2017, 505, 509; (da einzige Argumentationslinie wohl) Liukkunen, in: Basedow/Su/Fornasier/Liukkunen, Employee Participation and Collective Bargaining in Europe and China, S. 129, 134; (im Ergebnis wohl) Bogg, in: Freedland/Prassl, Viking, Laval and Beyond, S. 41, 48; Zimmer, in: Schlachter/Heuschmid/ Ulber, Arbeitsvölkerrecht, § 5, Rn. 46 bejaht und etwa durch Gooren, Der Tarifbezug des Arbeitskampfes, S. 170 f. abgelehnt, siehe auch Däubler, in: Schlachter/Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht, § 3, Rn. 5. 687 Gardiner, Treaty Interpretation, S. 254.

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Teil 1: Die Normen der ILO

(b) erkennbar sein.688 Auf einer zweiten Ebene muss sich hieraus die „Übereinstimmung“ (d) der „Vertragsparteien“ (c) ergeben. (a) „Bei der Anwendung des Vertrags“ Gem. Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVK muss die spätere Übung „bei Anwendung des Vertrags“ erfolgen. Dieses Merkmal ist nach Ansicht der Völkerrechtskommission weit auszulegen. So ist der gesamte Kontext maßgeblich.689 Der Sachverständigenausschuss ist ein Gremium, das zur Überwachung der Einhaltung der Übereinkommen eingesetzt wurde. Die „Überwachung der Einhaltung“ stellt eine „Anwendung“ der Verträge dar. (b) „Spätere Übung“ Eine „spätere Übung“ erfordert das Vorliegen einer wiederholten und gleichförmigen Handlung, die typischerweise durch schriftliche Aufzeichnungen oder andere Mittel nachgewiesen werden kann.690 In Bezug auf die Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses ist es für die Annahme einer „späteren Übung“ notwendig, dass sich in den Berichten eine generelle Linie des Umgangs mit einer Auslegungsfrage erkennen lässt. In anderen Worten: Die (wiederholte) Annahme, eine nationale Norm verstoße gegen ein Übereinkommen, genügt noch nicht für die Annahme einer „späteren Übung“. Notwendig ist die länderübergreifende Perpetuierung der Auslegung. Wird beispielsweise gegenüber Mitgliedstaat A kritisiert, dass eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern vom Schutz einer nationalen Regelung ausgenommen ist, obwohl sich der Gewährleistungsgehalt des Übereinkommens auf diese Gruppe erstreckt, genügt dies noch nicht für die Annahme einer späteren Übung. Stattdessen müssen den Berichten auch Fälle zu entnehmen sein, in denen das Übereinkommen gegenüber Mitgliedstaat B in gleicher Weise durch den Sachverständigenausschuss ausgelegt wurde. Ist dies der Fall, liegt eine „spätere Übung“ bei der „Anwendung der Verträge“ vor. (c) Maßgebliche Parteien für die Bestimmung einer „Übereinstimmung“ Für die methodische Notwendigkeit der Berücksichtigung von Spruchpraxis nach Art. 31 Abs. 2 lit. b) WVK genügt nicht ihre bloße Existenz und wiederholte Anwendung durch den Sachverständigenausschuss. Vielmehr muss die Spruchpraxis die „Übereinstimmung“ der „Vertragsparteien“ zeigen. Der Begriff der „Vertragspartei“ wird in Art. 2 Abs. 1 lit. g) WVK als „Staat, der zugestimmt hat, durch den Vertrag gebunden zu sein, und für den der Vertrag in Kraft ist“ definiert.691 Im Fall der ILO stellt sich folgendes Problem: An ein Übereinkommen sind (nach Inkrafttreten) 688 Weder die maßgebliche engl. noch die dt. Sprachfassung fordern hingegen, dass die „spätere Übung“ durch die Vertragsparteien vorgenommen wurde. 689 Gardiner, Treaty Interpretation, S. 261. 690 Ibid., S. 255 f. 691 Die WVK-IO enthält keine abweichende Definition.

E. Norminterpretation

141

die Mitgliedstaaten gebunden, welche das Übereinkommen ratifiziert haben. In der ILO ist ein Staat, der ein Übereinkommen ratifiziert hat, aber nicht nur durch Regierungsvertreter vertreten.692 So nimmt jeder Staat an den Sitzungen der IAK mit Vertretern der Regierungen, der Gewerkschaften und der Arbeitnehmerverbände teil. Ausweislich vieler Vorschriften der Verfassung haben die Mitgliedstaaten der ILO den nationalen Sozialpartnern zudem „Mitbestimmungsrechte“ zugebilligt, die weit über die Rechte von Nichtregierungsorganisationen in anderen internationalen Organisationen hinausgehen. Dies betrifft etwa die Verabschiedung eines Übereinkommens: Entsprechend des Erfordernisses einer Zweidrittelmehrheit ist es den Regierungsvertretern in der IAK nicht möglich, ein Übereinkommen ohne die Stimmen von Arbeitgeber- oder Arbeitnehmervertretern zu verabschieden. Der Wille, im Rahmen der Binnenorganisation der ILO die Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter als gleichberechtigte, ebenbürtige Partner wahrzunehmen, wird auch an anderen Stellen der Verfassung, etwa der Zusammensetzung des Verwaltungsrats, deutlich. Entsprechend stellt sich die Frage, ob das verfassungsimmanente Prinzip des Tripartismus bei der Bestimmung des Willens der Vertragsparteien es notwendig macht, nicht nur auf die Äußerungen und Handlungen der Regierung, sondern auch auf jene der Sozialpartner abzustellen. Dogmatische Grundlage einer solchen Modifikation des Begriffs der „Vertragsparteien“ im Rahmen der Auslegung von Übereinkommen bildet Art. 5 WVK. Dieser stellt die gesamten (dispositiven) Regeln der WVK unter den Vorbehalt einer abweichenden einschlägigen Vorschrift einer internationalen Organisation. Wie bereits erwähnt definiert Art. 2 Abs. 1 lit. j) WVK-IO als „einschlägige Vorschriften“ die Gründungsurkunden (hier die Verfassung der ILO), die im Einklang damit angenommenen Beschlüsse und Entschließungen sowie die feststehende Übung der Organisation. Für die Berücksichtigung der Äußerungen und Handlungen der Sozialpartner bei der Auslegung der Übereinkommen anhand einer „späteren Übung“ spricht auch die Vorgehensweise des StIGH. Dieser hatte im Rahmen der kompetenziell-rechtlichen Verfahren693 nicht nur den verfahrensbeteiligten Staaten, sondern auch den internationalen Zusammenschlüssen der Sozialpartner Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme und Beteiligung am mündlichen Verfahren gegeben.694 Entsprechend ist bei der Bestimmung des Willens eines an ein Übereinkommen gebundenen Mitgliedstaates nicht nur auf die Äußerungen und Handlungen der Regierungsvertreter, sondern auch auf die der Sozialpartner abzustellen. Dies be-

692 Ähnlich Ferri, in: Kaddous, The European Union in International Organisations and Global Governance, S. 77, 78. 693 Hierzu unter Teil 1 E. II. 1. 694 La Rosa/Saint-Pierre Guilbault, in: Wolfrum, MPEIL, Advisory Opinions of the Permanent Court of International Justice on Issues of the International Labour Organization (Stand: Februar 2011), Rn. 5 und Rn. 16 f.

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Teil 1: Die Normen der ILO

deutet, dass etwa ein klar geäußerter Vorbehalt seitens etwa der Arbeitgeber geeignet ist, das Entstehen einer späteren Übung aufzuhalten. (d) Bestehen einer „Übereinstimmung“ Eine spätere Übung kann nur dann zur verbindlichen Auslegung eines Übereinkommens erwachsen, wenn sie Ausdruck einer „Übereinstimmung“ (agreement) der Vertragsparteien hinsichtlich der Beantwortung einer Rechtsfrage ist.695 Wie sich die Übereinstimmung äußert, ist nicht festgelegt. Am deutlichsten wird das Bestehen einer Übereinstimmung im Falle ihrer schriftlichen Fixierung, wie etwa in einem Memorandum of Understanding.696 Häufiger dürfte sich die Übereinstimmung aber in gemeinsamen Handlungen äußern (etwa in der Vornahme der späteren Übung durch die Vertragsparteien). Die gemeinsamen Handlungen müssen jedoch wiederholt vorgenommen werden beziehungsweise im Fall von Dauertatbeständen über einen gewissen Zeitraum hinweg erfolgen.697 Der Begriff des „gemeinsamen“ Handelns ist weit zu verstehen. Es genügt etwa die parallele Vornahme von Handlungen gegenüber Dritten, die auf die identische Rechtsauffassung schließen lässt.698 (aa) Zustimmung als Schweigen in Ausnahmefällen anerkannt Schweigen ist grundsätzlich nicht ausreichend für die Annahme einer Übereinstimmung. Hierfür wird zumeist vorgebracht, dass Staaten keine sogenannte „Abwehrlast“ gegen eine spätere Übung trügen.699 Laut IGH und Völkerrechtskommission bestehen von diesem Grundsatz allerdings Ausnahmen.700 Eine Ausnahme

695

Nolte, Treaties and subsequent Practice, S. 190. IGH v. 13. Juli 2009, Dispute Regarding Navigational and Related Rights (Costa Rica v. Nicaragua, ICJ Reports 2009 (Sondervotum Skotnikow), 285, Rn. 9; hierzu Nolte, Treaties and subsequent Practice, S. 191. 697 Nolte, Treaties and subsequent Practice, S. 191 mit dem Beispiel der Grenzziehung zwischen Siam und Frankreich, IGH v. 15. Juni 1962, Temple of Preah Vihear (Kambodscha/ Thailand) (Merits), ICJ Reports 1962, 33. 698 Nolte, Treaties and subsequent Practice, S. 191 f. mit Verweis auf IGH v. 17. Dezember 2002, Sovereignty over Pulau Ligitan and Pulau Sipadan (Indonesien/Malaysia), ICJ Reports 2002, 625 nach dem das Vorliegen einer Übereinstimmung abgelehnt wurde; siehe aber IGH v. 10. Oktober 2002, Land and Maritime Boundary between Cameroon and Nigeria (Kamerun/ Nigeria, Equatorial Guinea intervening), ICJ Reports 2002, 448, Rn. 304. In diesem Fall genügte dem IGH für die Bestimmung von Land- und Seegrenzen, dass zwei aneinandergrenzende Länder Ölkonzessionen unabhängig voneinander nur so vergaben, dass hierdurch eine Grenzlinie erkennbar wurde. 699 Löwisch/Rieble, TVG, Einl., Rn. 353; Mett, Das Streikrecht im öffentlichen Dienst, S. 67. 700 Nolte, Treaties and Subsequent Practice, S. 192; zu beachten ist, dass die Völkerrechtkommission plant, sich mit der Frage der Begründung einer späteren Übung und der Annahme einer Übereinstimmung der Vertragsparteien allein aufgrund Schweigens in einem weiteren Bericht auseinanderzusetzen, vgl. S. 195, Rn. 189. 696

E. Norminterpretation

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basiert auf den Besonderheiten internationaler Organisationen:701 Durch die Übertragung von Kompetenzen auf die Organisation würden dauerhafte Pflichten der Mitgliedstaaten begründet. Hiermit gehe zwangsläufig die Erwartung an die Mitgliedstaaten einher, ständig zum Funktionieren der Organisation beizutragen.702 Dieser Beitrag besteht laut IGH insbesondere darin, die Aktivitäten der internationalen Organisation zu beobachten.703 Mitgliedstaaten müssen daher akzeptieren, dass eine unterbliebene Reaktion auf Entwicklungen, über die in den Amtsblättern der Organisation berichtet wird, von anderen Vertragsparteien als Zustimmung gedeutet werde.704 (bb) Gegenausnahme: Keine Annahme einer Zustimmung bei Schweigen zu Bemerkungen internationaler Überwachungsausschüsse Diese Erwägungen lassen sich jedoch nicht auf die veröffentlichten Berichte des Sachverständigenausschusses übertragen. So hat auch die Völkerrechtskommission ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich das Schweigen eines Mitgliedstaates zu den Schlussfolgerungen von Überwachungsausschüssen gerade nicht als Akzeptanz der Auslegung des Vertrages deuten lasse.705 Auch wenn die Völkerrechtskommission diese Ausnahme nicht begründet, ist sie dennoch nachvollziehbar. Viele Staaten dürften auf die Kritik von Überwachungsausschüssen allein aus dem Grund nicht reagieren, dass den Berichten anderenfalls größere Aufmerksamkeit zuteil werden würde. Vor diesem Hintergrund kommt dem Schweigen gerade kein Erklärungswert im Sinne einer Zustimmung zu. Vielmehr ist bei der Ermittlung der Übereinstimmung auf sämtliche aktiven Handlungen mit Erklärungswert der Regierungs-, Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter der Mitgliedstaaten der ILO, die ein Übereinkommen ratifiziert habe, abzustellen.

701

Nolte, Treaties and Subsequent Practice, S. 195 unter Verweis auf IGH v. 21. Juni 1971, Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia (South West Africa) notwithstanding Security Council Resolution 276 (1970) (Advisory Opinion), ICJ Reports 1971, 22, Rn. 22. 702 Nolte, Treaties and Subsequent Practice, S. 195. 703 IGH v. 26. November 1984, Case concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua/United States of America) (Jurisdiction and Admissibility), ICJ Reports 1984, S. 392, Rn. 39 f. 704 Ibid.; Nolte, Treaties and Subsequent Practice, S. 195. 705 International Law Commission, Subsequent agreements and subsequent practice in relation to the interpretation of treaties Text of the draft conclusions provisionally adopted by the Drafting Committee on first reading, UN Doc A/CN.4/L.874, S. 4 f.; vgl. auch das Begleitschreiben: International Law Commission, Statement of the Chairman of the Drafting Committee, Pavel Sˇ turma v. 10. Juni 2016, abrufbar unter: http://legal.un.org/docs/?path=../ilc/ documentation/english/statements/2016_dc_chairman_statement_sasp.pdf&lang=E, S. 5.

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Teil 1: Die Normen der ILO

(cc) Folge: Feststellung der Zustimmung allein anhand der Äußerungen der Vertreter der Regierungs-, Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern Die Akzeptanz der Spruchpraxis ist für jede Einzelfrage gesondert festzustellten. Für Schlussfolgerungen des Sachverständigenausschusses, die durch den Normanwendungsausschuss häufig aufgegriffen wurden, lässt sich anhand der Protokolle der Debatten eine Übereinstimmung im Zweifel einfacher nachweisen als für Schlussfolgerungen zu Übereinkommen etwa aus dem Bereich des Arbeitsschutzes, die nur selten Gegenstand der Debatten waren. Mit Blick auf die Frage der Gewährleistung des Streikrechts durch Übereinkommen Nr. 87 sowie andere Aspekte der Vereinigungsfreiheit sind nicht nur die Aussagen der Parteien im Normanwendungsausschuss und Verwaltungsrat, sondern auch im tripartistisch besetzten Ausschuss für Vereinigungsfreiheit maßgeblich.706 Grundsätzlich sind für den Nachweis einer „Übereinstimmung“ auch Aussagen der Parteien zu berücksichtigen, die außerhalb der ILO (etwa in anderen internationalen Organisationen) getroffen wurden. (Rein) innerstaatlich getroffene Aussagen dürften hingegen nicht per se geeignet sein, die Annahme einer „Übereinstimmung“ zu beeinflussen.707 So führt die Völkerrechtskommission unter Verweis auf IGH-Entscheidung Kasikili/Sedudu Island (Botswana v. Namibia)708 aus, dass ein späteres Verhalten einer Partei, das intern und aus diesem Grund einer anderen Partei unbekannt bleibt, nicht die Grundlage für ein gemeinsames Verständnis sein könne, das sich aus dem Schweigen dieser anderen Partei ergibt.709 (dd) Notwendigkeit einer Übereinstimmung über die Beantwortung der konkrete Frage Gerade im Hinblick auf das Streikrecht ist zu beachten, dass die allgemeine Zustimmung eines Mitgliedstaats, dass das Streikrecht durch Übereinkommen Nr. 87 garantiert wird, nicht als Zustimmung zu sämtlichen Details der Spruchpraxis gedeutet werden kann. Stattdessen muss die Übereinstimmung auch zur konkreten Frage ersichtlich sein.710 Dies bedeutet, dass etwa eine Überstimmung zur Frage der 706

Die Arbeitgeber im Ausschuss für Vereinigungsfreiheit bestreiten, einer entspr. Auslegung des Gewährleistungsbereichs von Übk. Nr. 87 zugestimmt zu haben, vgl. IOE, Do ILO Conventions 87 and 98 recognise a right to strike, S. 8; grundlegend zur Frage, ob Übk. Nr. 87 das Streikrecht schützt Bellace, ILR 2014, 29 ff. 707 A. A. wohl Mett, Das Streikrecht im öffentlichen Dienst, S. 67 mit Blick auf die Antwort der Bundesregierung v. 21. Oktober 1992 auf eine Kleine Anfrage einzelner Abgeordneter und der Fraktion der SPD, BT-Drs. 12/3495, S. 19, s. a. BT-WD, Sachstand zu Verfahren der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) bei Verstößen gegen Kernarbeitsnormen und Zusammenarbeit mit der Welthandelsorganisation (WTO) (Stand: 11. Mai 2016), WD 6-3000065/16, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/blob/426728/d434c91b523ab7e604154 ecaecfe3f54/wd-6-065-16-pdf-data.pdf, S. 6. 708 IGH v. 13. Dezember 1999, Kasikili/Sedudu Island (Botswana/Namibia), ICJ Reports 1999, 1077 ff., Rn. 54 ff. 709 Nolte, Treaties and Subsequent Practice, S. 192. 710 Ähnlich Seifert, in: FS Eichenhofer, S. 603, 611.

E. Norminterpretation

145

Zulässigkeit von Streiks in der Daseinsvorsorge oder politischer Streiks festgestellt werden muss, um eine Bindungswirkung der Spruchpraxis nach Art. 31 Abs. 3 lit. b) bei der Auslegung von Art. 3 Übereinkommen Nr. 87 anzunehmen. (3) Kein Verstoß gegen Art. 37 ILO-Verfassung Die Berücksichtigung der Spruchpraxis als „spätere Übung“ bei der Auslegung eines Übereinkommens – sofern sich eine entsprechende Übereinstimmung der Vertragsparteien feststellen lässt – stellt auch keinen Verstoß gegen die alleinige Verbindlichkeit der Entscheidungen des IGH oder des ILO-internen Gerichts dar. Ob die Spruchpraxis auf Grundlage des Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVK bei der Auslegung eines Übereinkommens Berücksichtigung finden muss, ist eine methodische Frage, die nicht gleichbedeutend mit der Verbindlichkeit der Spruchpraxis ist. Art. 37 ILOVerfassung sperrt nur Letzteres. d) Zwischenfazit und Einordnung des Ergebnisses Den normativen Aussagen in den Schlussfolgerungen des Sachverständigenausschusses (Spruchpraxis) kommt keine generelle Verbindlichkeit zu. Sie sind allerdings geeignet, eine spätere Übung zur Auslegung eines bestimmten Übereinkommens zu begründen oder sich auf eine bereits bestehende spätere Übung zu beziehen, sofern sich eine entsprechende Übereinstimmung der Regierungen, Arbeitgeber und Gewerkschaften ermitteln lässt. Für die Feststellung der Übereinstimmung ist auf die Billigung der Spruchpraxis etwa im Normanwendungsausschuss, im Verwaltungsrat, in der IAK oder anderen tripartistisch besetzten Gremien der ILO abzustellen. Das „Schweigen“ der Parteien kann nicht als Zustimmung gewertet werden. Die grundsätzliche rechtliche Unverbindlichkeit der Schlussfolgerungen des Sachverständigenausschusses bedeutet jedoch erstens nicht, dass der Sachverständigenausschuss nicht zur Auslegung der Übereinkommen befugt wäre. Die Befugnis hierzu lässt sich aus seinem Mandat herleiten. Zweitens bedeutet die rechtliche Unverbindlichkeit der Spruchpraxis nicht, dass die Schlussfolgerungen des Sachverständigenausschusses bei der Bewertung der Einhaltung von Übereinkommen ignoriert werden dürften.711 Es sollte nicht vergessen werden, dass die primäre Aufgabe des Ausschusses nicht die Auslegung der Übereinkommen, sondern die Überprüfung ihrer Einhaltung ist. Insoweit ähnelt das Überwachungsverfahren Gerichtsverfahren:712 Ebenso wie die normativen Aussagen in Berichten des Sachverständigenausschusses haben etwa die Entscheidungen des BAG keine allge-

711

Vgl. Trebilcock, EuZA 2013, 178, 181: Keine „license to ignore“. Gegen die Einordnung als „Gericht“ auch Löwisch/Rieble, TVG, Grundl., Rn. 363 u. a. mit dem Argument, dass es keine Verfahrensbeteiligte gebe, denen entsprechend kein rechtliches Gehör gewährt werde. 712

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Teil 1: Die Normen der ILO

meinverbindliche Bindungswirkung, sondern gelten nur inter partes.713 Dies gilt auch in Bereichen, in denen die Gerichte als „Ersatzgesetzgeber“ tätig werden (etwa dem Arbeitskampfrecht oder der Arbeitnehmerhaftung). Auch in diesen Bereichen haben Entscheidungen des BAG für zukünftige Verfahren formal betrachtet keine rechtliche Bindungswirkung. Trotzdem wäre es realitätsfremd, Entscheidungen des BAG als „rechtlich nicht verbindliche Auslegung von Gesetzen“ zu betiteln und ihnen eine Orientierungswirkung bei der Auslegung des Rechts abzusprechen, wie zuweilen für die Schlussfolgerungen des Sachverständigenausschusses vertreten wird. Hiergegen lässt sich auch nicht die Möglichkeiten der Auslegung von Übereinkommen durch den IGH oder ein ILO-internes Gericht anführen. Schlachter fasst treffend zusammen: „Im Zuge dieser Befassung besitzt der Sachverständigenausschuss eine langjährige Expertise, die sich in einer umfangreichen und sehr detaillierten Spruchpraxis niederschlägt. Die daraus erwachsene sachliche Autorität des Ausschusses ist hoch genug, dass die ILO auf die formal in der Satzung ermöglichten Einrichtungen nicht zurückgegriffen hat.“714 Daher überrascht es nicht, dass viele internationale und nationale Gerichte zur Auslegung der Übereinkommen der ILO auf die Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses zurückgegriffen haben. 8. Ausschuss für Vereinigungsfreiheit Obwohl der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit sich regelmäßig mit der Garantie des Streikrechts als Bestandteil der Vereinigungsfreiheit beschäftigt, war die Spruchpraxis des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit bisher nicht Gegenstand der Auseinandersetzungen der Sozialpartner. Auch nach 2012 verabschiedete der Ausschuss Empfehlungen wegen der Verletzung des Streikrechts.715 Wie sich in der compilation of decisions zeigt, besteht zum Gewährleistungsumfang des Streikrechts716 (soweit ersichtlich) Kongruenz mit der Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses. a) Sammlung und Abstrahierung der Entscheidungen zu Spruchpraxis in der compilation of decisions Es mag daher zunächst verwundern, dass die Spruchpraxis des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit durch die Arbeitgeberseite nicht ebenfalls öffentlich als „Überinterpretation“ abgelehnt wird. Die öffentliche Zurückhaltung dürfte sich aber insbesondere mit ihrer Beteiligung an der Entwicklung der Spruchpraxis erklären 713 Abweichungen hiervon – etwa im Rahmen des Statusfeststellungsverfahren des § 97 ArbGG – bilden die absolute Ausnahme. 714 Schlachter, RdA 2011, 341, 345. 715 Servais, SR 2017, 45, 47. Die Tätigkeit des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit wird somit nicht blockiert; a. A. La Hovary, IOLR 2015, 204, 228: „… paralyzing the work of the CAS“. 716 IAA, Compilation of decisions of the CFA, Rn. 751 ff.

E. Norminterpretation

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lassen. Da der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit seine Entscheidungen soweit möglich einstimmig trifft,717 wäre eine Kritik an der Spruchpraxis des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit in sich widersprüchlich, geradezu ein Fall von venire contra factum proprium. Ein weiterer Grund für die bisher ausgebliebene Kritik dürfte in der geringeren Wahrnehmung der Tätigkeit des Ausschusses durch die Öffentlichkeit liegen. Während der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit über Einzelfälle entscheidet, worüber dreimal jährlich in Dokumenten des Verwaltungsrats berichtet wird, erzeugt ein general survey des Sachverständigenausschusses außerhalb der ILO mehr Aufmerksamkeit. Dies dürfte wiederum Unregelmäßigkeiten bei der Veröffentlichung der aktuellen Fassung des digest of decisions (compilation of decisions) erklären. Diesem kommt in der Öffentlichkeit eine mindestens vergleichbare Aufmerksamkeit zu. Er wurde auch durch viele nationale und internationale Gerichte in seiner jeweils aktuellen Fassung rezipiert. Zwei Indizien deuten auf interne Differenzen im – unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagenden – Ausschuss für Vereinigungsfreiheit hin. Erstens verzögerte sich die Veröffentlichung des aktuellen digest of decisions mehrmals.718 Zweitens weist die Umbenennung des Digest of Decisions719 in compilation of decisions darauf hin, dass auch dem Eindruck der Verbindlichkeit der Spruchpraxis des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit entgegengewirkt werden sollte.720 In der englischsprachigen Rechtswissenschaft dürfte die Bezeichnung als „digest of decisions“ eine Assoziation zu jährlich erscheinenden Sammlungen von Gerichtsentscheidungen (etwa des US Supreme Courts und der bundesstaatlichen Supreme Courts) geweckt haben, was durch die Umbenennung in „compilation of decisions“ womöglich vermieden werden sollte.721 b) Bindungswirkung der Spruchpraxis Eine „feststehende Übung“ der Vertragsparteien722 über die Verbindlichkeit der Bemerkungen des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit bei der Auslegung des Grundsatzes der Vereinigungsfreiheit ist nicht erkennbar. Eine solche lässt sich auch weder aus seiner Mandatsbeschreibung723 noch anderweitig folgern. 717

Ibid., Rn. 11. 1. Aufl. 1972; 2. Aufl. 1976; 3. Aufl. 1985; 4. Aufl. 1996; 5. Aufl. 2006, 6. Aufl. 2018. 719 Vgl. IAA, Digest of decisions of the CFA 2006; IAA, Digest of decisions of the CFA 1996. 720 Ähnlich Bellace, AVR 2019, 153, 178 f. mit Hinweisen auf weitere Abweichungen der 6. Auflage von den Vorauflagen. 721 Es existieren Bestrebungen, die Compilation in elektronischer Form ständig oder zumindest häufiger zu aktualisieren, vgl. etwa: IAA, Verwaltungsrat, 326th Session März 2016, Minutes, GB.326/PV, Rn. 192. 722 Unter dem Begriff der Vertragsparteien sind auch hier die Vertreter aller Mitgliedstaaten und der Sozialpartner zu verstehen, hierzu Teil 1 E. II. 6. d) bb) (3). 723 Das Mandat des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit wurde nicht in einem Dokument kodifiziert. Ein unverbindliche Übersicht, welche die Beschlüsse des Verwaltungsrats aufgreift, findet sich in IAA, Compilation of decisions of the CFA, S. 305 ff. (Annex I). 718

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Teil 1: Die Normen der ILO

Die Bemerkungen des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit sind aber rechtlich inter partes gegenüber dem Land verbindlich, gegen welches sich die Beschwerde richtet. Die sich aus den Bemerkungen ergebenden abstrakten Beurteilungslinien, welche sich aus der jahrzehntelangen Spruchpraxis folgern lassen, können im Rahmen der ergänzenden Vertragsauslegung nach Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVK herangezogen werden.724 Die Übereinstimmung der Vertragsparteien dürfte grundsätzlich gegeben sein, da der Ausschuss tripartistisch besetzt ist und seine Entscheidungen in der Regel einstimmig trifft. Die Spruchpraxis des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit ist nicht nur bei der Auslegung des verfassungsimmanenten Grundsatzes der Vereinigungsfreiheit heranzuziehen, sondern auch bei der Auslegung der Übereinkommen Nr. 87, Nr. 98 oder etwa Nr. 135, die den Verfassungsgrundsatz konkretisieren.725 Auch der Spruchpraxis des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit kommt zudem ein hoher Grad an Überzeugungskraft (persuasive authority) zu,726 der sich nicht zuletzt in der häufigen Rezeption durch internationale und nationale Gerichte widerspiegelt.727 9. Praktische Bedeutsamkeit der Spruchpraxis Greifen internationale und nationale Gerichte bei ihrer Entscheidungsfindung auf Übereinkommen der ILO zurück, geschieht dies nicht selten unter Berücksichtigung der maßgeblichen Spruchpraxis der Ausschüsse der ILO,728 wie folgende Beispiele zeigen sollen. In manchen Entscheidungen sind die Verweise auf die Spruchpraxis sogar die einzig maßgeblichen Einschätzungen zur Auslegung der Übereinkommen.729

724

Seifert, in: FS Eichenhofer, S. 603, 612. Der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit greift zur Konkretisierung des Verfassungsgrundsatzes häufig auf Bestimmungen der Übereinkommen zurück, vgl. etwa IAA, Compilation of decisions of the CFA, Rn. 14 und statt vieler etwa Rn. 345. 726 Vgl. Heuschmid/Klebe, in: FS Lörcher, S. 336, 338 m. w. N.; Rödl/Callsen, Kollektive soziale Rechte unter dem Druck der Währungsunion, S. 69; Servais, International Labour Law, S. 80 spricht von „kind of case-law“. 727 Schlachter, EuZA 2020, 143, 150. 728 Zur Berücksichtigung anderer völkerrechtl. Quellen etwa EGMR v. 7. Januar 2010 – 25965/04 (Rantsev), Rn. 274 ff. EGMR v. 9. Juni 2009 – 33401/02 (Opuz), Rn. 164; allgemein zum Grundsatz der Auslegung der EMRK unter Berücksichtigung anderer völkerrechtlicher Abkommen: de Jesus Butler, The European Union and International Human Rights, S. 12 f. 729 Schlachter, RdA 2011, 341, 345. 725

E. Norminterpretation

149

a) Rezeption durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte730 hat in zahlreichen Urteilen die Übereinkommen der ILO sowie die Spruchpraxis der Ausschüsse in seinen Entscheidungsprozess einfließen lassen. Die Entscheidungen des EGMR spielen wiederum in vielen Bereichen der Rechtsprechung des EuGH eine nicht zu unterschätzende Rolle. aa) Vereinzelte Rezeptionen zwischen 1983 und 2005: Van der Mussele, Sidabras, Wilson, Tüm Haber Sen und weitere Bereits 1983 wurde die Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses im Fall Van der Mussele/Belgien rezipiert.731 In diesem Fall zog der EGMR zur Auslegung von Art. 4 Abs. 3 EMRK nicht nur Art. 2 Abs. 1 des ILO-Übereinkommens Nr. 29 heran, sondern verwies auch auf die Auslegung des Übereinkommens durch den Sachverständigenausschuss.732 Eine erneute Bezugnahme auf ILO-Übereinkommen erfolgte erst zwei Jahrzehnte später im Fall Sidabras und Dziautas/Litauen.733 Auch hier setzte sich der EGMR nicht nur mit dem Text des Übereinkommens Nr. 111 auseinander, um den internationalen Rechtsrahmen zur Prüfung eines allgemeines Berufsverbots in Litauen für ehemalige KGB-Mitarbeiter an Art. 8 i. V. m. Art. 14 EMRK darzulegen, sondern griff auch die einschlägige Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses auf.734 Schon im Jahr darauf erfolgte die nächste Bezugnahme im Fall Siliadin/Frankreich, bei dem zur Auslegung von Art. 4 EMRK im Fall einer als Hausmädchens in sklavereiähnlichen Umständen festgehaltenen Togolesin wie bereits im Fall Van der Mussele/Belgien auf Übereinkommen Nr. 29 zurückgegriffen wurde.735 In der Entscheidung Rainys und Gasparavicˇ ius/Litauen bestätigte der EGMR zudem die in

730

Zur Praxis der Europäischen Kommission für Menschenrechte ILO-Übereinkommen und Spruchpraxis zu rezipieren siehe: Novitz, International and European Protection of the Right to Strike, S. 224 f. 731 EGMR v. 23. November 1983 – 8919/80 (Van der Mussele); vgl. auch Sychenko, Individual Labour Rights as Human Rights, S. 24. 732 EGMR v. 23. November 1983 – 8919/80 (Van der Mussele), Rn. 31 ff., 35 mit Verweis auf den zu diesem Zeitpunkt aktuellen General Survey von 1979. Zudem wurde auf weitere (nicht veröffentlichte) Dokumente zur Auslegung des Übereinkommens Nr. 29 zurückgegriffen, vgl. Rn. 37. 733 EGMR v. 27. Juli 2004 – 55480/00 u. 59330/00 (Sidabras u. a.). 734 Ibid., Rn. 32. So wird unter anderem Bezug auf die Auseinandersetzung des Sachverständigenausschusses mit der dt. Rspr. zur Kündigung von ehemaligen MfS/ANS-Mitarbeitern im General Survey von 1996 (dort Rn. 196) und IAA, IAK, 88th Session 2000, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 327 f. zu Übk. Nr. 111 verwiesen. 735 EGMR v. 26. Juli 2005 – 73316/01 (Siliadin), Rn. 115; vgl. auch Sychenko, Individual Labour Rights as Human Rights, S. 23 u. 53.

150

Teil 1: Die Normen der ILO

Sidabras und Dziautas getroffene Entscheidung erneut unter Rezeption der Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses.736 Eine erste Auseinandersetzung mit Übereinkommen Nr. 87 und Nr. 98 und der Spruchpraxis von ILO-Ausschüssen zur Auslegung von Art. 11 EMRK erfolgte 2002 in der Entscheidung Wilson, National Journalists Union/Vereinigtes Königreich.737 In dieser Entscheidung führt der EGMR in seiner Darstellung des entscheidungserheblichen Rechtsrahmens nicht nur mehrere Artikel der Übereinkommen Nr. 87 und Nr. 98 auf, sondern auch zwei Empfehlungen des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit an das Vereinigte Königreich samt eines Ausschnittes aus ihrer Begründung.738 In den Rechtssachen Tüm Haber Sen und Cinar/Türkei,739 Karacay/ Türkei740 sowie Dilek u. a./Türkei741 griff der EGMR zwar keine Spruchpraxis der Ausschüsse der ILO, sondern lediglich Art. 2 Übereinkommen Nr. 87 auf, setzt sich aber in diesen Entscheidungen mit der Auslegungspraxis des Europäischen Ausschusses für soziale Rechte auseinander. bb) Evolutiv-völkerrechtsfreundliche Auslegungsmethodik seit Demir und Baykara (1) „Zusammenführung“ bekannter Auslegungsmethodik Zum Zeitpunkt der Entscheidung Demir und Baykara/Türkei742 war die Rezeption der Übereinkommen und Spruchpraxis der ILO durch den EGMR somit ein etabliertes methodisches Werkzeug. Entsprechend konnte die Rezeption von Übereinkommen Nr. 98, einer observation des Sachverständigenausschusses zur Gewährleistung des Koalitionsrechts im öffentlichen Dienst in der Türkei sowie einer Passage aus dem general survey von 2004 nicht überraschen.743 Daneben wurden auch auf die (durch die Türkei nicht ratifizierten)744 Art. 5 und 6 ESC herangezogen. 736

EGMR v. 7. April 2005 – 70665/01 u. 74345/01 (Rainys u. Gasparavicˇ ius), Rn. 30. Seifert, KritV 2009, 357, 363; nähere Auseinandersetzung bei Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik als Menschenrechte, S. 79 ff. 738 EGMR v. 2. Oktober 2002 – 30668/96 u. a. (Wilson, National Journalists Union u. a.), Rn. 34 ff.; hierzu Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik als Menschenrechte, S. 80 f. In dieser Entscheidung gelangte erstmals zu einer (impliziten) Anerkennung des Rechts auf Tarifverhandlungen. 739 EGMR v. 21. Februar 2006 – 28602/95 (Tüm Haber Sen). 740 EGMR v. 27. März 2007 – 6615/03 (Karacay). 741 EGMR v. 17. Juli 2007 – 74611/01, 26876/02, 27628/02 (Dilek u. a.), hierzu auch Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik als Menschenrechte, S. 83 f., der hier die erstmalige (implizite) Anerkennung des Streikrechts ausmacht. 742 EGMR v. 12. November 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara). 743 EGMR v. 12. November 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara), Rn. 38 u. Rn. 43, auch die Spruchpraxis des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit wurde zur Entscheidungsfindung herangezogen, Rn. 39. 744 Auf für den beklagten Mitgliedstaat der EMRK völkerrechtlich nicht verbindliche (da nicht ratifizierte) Dokumente abzustellen, stellt ebenfalls keine Neuheit dar, vgl. zum 7. Zusatzprotokoll EGMR v. 5. Oktober 2000 – 39652/98 (Maaouia). 737

E. Norminterpretation

151

Die Brisanz der Demir-und-Baykara-Entscheidung lässt sich vielmehr anhand ihrer Auswirkungen erklären. Der EGMR nutzte die bekannte Methodik in Demir und Baykara zu einer ausdrücklichen745 Abkehr von seiner früheren Rechtsprechungslinie.746 Zuvor hatte der EGMR das Recht, Tarifverträge auszuhandeln und abzuschließen, nicht als wesentliches Element von Art. 11 EMRK angesehen.747 In Demir und Baykara sah es die Große Kammer des EGMR hingegen als unvereinbar mit Art. 11 EMRK an, dass ein durch die türkische Gewerkschaft Tüm Bel Sen geschlossener Kollektivvertrag per Gesetz für unverbindlich erklärt wurde.748 Diese Abweichung begründete die Große Kammer mit dem ebenfalls bereits in früheren Fällen749 angewandten Konzept des „dynamischen und evolutiven Ansatzes“ zur Auslegung der EMRK.750 Ohne die Anwendung dieses Ansatzes bestehe die Gefahr, dass künftig jegliche Reform oder Verbesserung der EMRK ausgeschlossen sei.751 Die Entscheidung Demir und Baykara lässt offenbar werden, wie weitgehend – nämlich so weit wie möglich – die EMRK im Einklang mit anderen Grundsätzen des Völkerrechts und anderen internationalen Vereinbarungen auszulegen ist. Dies gilt nach Ansicht des EGMR unabhängig davon, ob der beklagte Staat sie gezeichnet oder ratifiziert hat.752 Die Berücksichtigung von Quellen, die für den betroffenen Staat unverbindlich sind, sei notwendig, „um der […] Entwicklung sowohl im Völkerrecht als auch in den staatlichen Rechtsordnungen Rechnung zu tragen“753. Die Verknüpfung der „völkerrechtsfreundlichen“754 Methodik und der evolutiven Auslegungsmethodik – fortan als evolutiv-völkerrechtsfreundliche Methodik be-

745

EGMR v. 12. November 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara), Rn. 153. EGMR v. 6. Februar 1976 – 5614/72 (Swedish Engine Drivers’ Union/Schweden); EGMR v. 6. Februar 1976 – 5589/72 (Schmidt u. Dahlström/Schweden); hierzu etwa Novitz, International and European Protection of the Right to Strike, S. 226 f.; siehe auch Bryde, AuR 2019, 495, 497. 747 Dorssemont, ELLJ 2010, 185, 219 ff. mit Hinweis auf Unterschiede zwischen den Entscheidungen der schwedischen Fälle von 1976 und dem Fall Demir und Baykara. 748 Vorangegangen war eine Verfassungsänderung 1995 und Einführung eines speziellen Gesetzes 2001 über Gewerkschaften öffentlicher Bediensteter, welches den Gewerkschaften ihre Rechtspersönlichkeit aberkannte und ihnen verwehrte, rechtlich durchsetzbare Kollektivverträge zu schließen, vgl. EGMR v. 12. November 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara), Rn. 15 ff.; Novitz, AuR 2017, S. 324, 326; Lörcher, AuR 2009, 229. 749 Vgl. etwa EGMR v. 4. Februar 2005 – 46827/99 u. 46951/99 (Mamatkulov und Askarov); EGMR v. 19. April 2007 – 63235/00 (Vilho Eskelinen), Rn. 56. 750 EGMR v. 12. November 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara), Rn. 153; siehe auch Buchholtz, in: Schlachter/Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht, § 10, Rn. 5. 751 EGMR v. 12. November 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara), Rn. 153. 752 Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Einl., Rn. 23. 753 EGMR v. 12. November 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara), Rn. 153. 754 Gemeint ist „anderes“ Völkerrecht der regional- und universal-völkerrechtlichen Ebenen. 746

152

Teil 1: Die Normen der ILO

zeichnet755 – stieß im Schrifttum hinsichtlich ihrer Herleitung teils auf Zustimmung,756 teils auf heftige Kritik.757 (2) Bindung der Mehrheit der Mitgliedstaaten der EMRK genügt Für die Berücksichtigung anderer völkerrechtlicher Quellen bei der Auslegung der EMRK – im Rahmen Art. 31 Abs. 3 lit. c) WVK – ist, anders als vom EGMR angenommen, nicht auf eine Bindung lediglich einer Mehrheit der Vertragsparteien, sondern aller Vertragsparteien an die herangezogene Quelle abzustellen.758 Zugegebenermaßen ist der Wortlaut unklar. Art. 31 Abs. 3 lit. c) WVK verweist auf jeden in den Beziehungen „zwischen den Vertragsparteien“ anwendbaren einschlägigen Völkerrechtssatz. Der EGMR lässt in diesem Kontext eine Bindung der Mehrheit der Staaten genügen.759 Eine entsprechend weite Auslegung ließe sich mit der Abweichung des Wortlauts von Art. 31 Abs. 2 lit. a) WVK begründen, in dem ausdrücklich auf Übereinkünfte abgestellt wird, die zwischen allen Vertragsparteien anlässlich des Vertragsabschlusses getroffen wurde, wohingegen eine entsprechende Eingrenzung in Art. 31 Abs. 3 lit. c) nicht vorgenommen wird.760 Ein Vergleich mit Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVK kann dies allerdings entkräften: Es wäre unangebracht, die Auslegung des Vertrages durch Völkerrechtssätze zu beeinflussen, an die nicht alle Vertragsparteien gebunden sind, eine spätere Übung hingegen nur bei Übereinstimmung aller Parteien.761 Zudem könnte durch das Abstellen auf einen Völkerrechtsakt, der nur von einem Teil der Vertragsparteien ratifiziert wurde, die Ratifikation als Akt der Begründung einer Bindung762 an den spezifischen Inhalt eines völkerrechtlichen Vertrags bedeutungslos werden.763 Kein Gegenargument bildet das Erfordernis der Einheitlichkeit der Auslegung der EMRK.764 Hierdurch würden zwei Ebenen mit755 Sagan, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, EMRK, Art. 11, Rn. 8 f. spricht von der „dynamisch-teleologischen“ und „systematischen“ Interpretationsmethodik. 756 Etwa Lörcher, in: Dorssemont/Lörcher/Schömann, The European Convention on Human Rights and the Employment Relation, S. 11 ff. 757 Äußerst ablehnend etwa: Löwisch/Rieble, TVG, Grundl., Rn. 327 ff., insb. 329; kritisch zur Methodik auch Seifert, KritV 2009, 359, 366; Seifert, EuZA 2013, 205, 209; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 277. 758 So auch Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik als Menschenrechte, S. 122 f. De Albuqerque vertritt in seinem teilweise abweichenden Sondervotum in EGMR v. 20. Oktober 2016 – 7334/13 (Mursic), Rn. 18, dass die Heranziehung anderer Abkommen von keinem der beiden Kriterien abhängig zu machen sei. Diese Ansicht ist mit der WVK nur schwer in Einklang zu bringen. 759 EGMR v. 12. November 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara), Rn. 67, vgl. auch Dörr, in: Dörr/Schmalenbach, WVK, Art. 31, Rn. 93. 760 Vgl. Dörr, in: Dörr/Schmalenbach, WVK, Art. 31, Rn. 100. 761 Ibid. 762 Vgl. Art. 14 Abs. 1 WVK. Die sonstigen in Art. 11 WVK genannten Bindungsakte können im vorliegenden Kontext vernachlässigt werden. 763 So etwa Seifert, KritV 2009, 359, 366. 764 Schlachter, RdA 2011, 341, 346.

E. Norminterpretation

153

einander vermischt. Dass grundsätzlich keine nationalen Besonderheiten dem Ergebnis der Auslegung entgegengehalten werden können,765 bedeutet nicht, dass die Umstände in den Mitgliedstaaten des Europarats und im Umgang miteinander nicht bei der Ermittlung des (für alle gleichen) Inhalts der EMRK von Relevanz sind. Nichts anderes folgt aus Art. 31 Abs. 3 WVK, zumal die Beobachtung der Entwicklungen in den Mitgliedstaaten gerade die Grundlage der evolutiv-dynamischen Auslegung der EMRK bilden. Vertritt man richtigerweise das Erfordernis der Bindung aller Vertragsparteien an den herangezogenen Völkerrechtssatz, hat dies auch Auswirkungen auf die Möglichkeiten der Rezeption von Übereinkommen der ILO:766 Zwar haben sämtliche Mitglieder des Europarats, die zugleich Mitglieder der ILO sind, Übereinkommen Nr. 87 und Nr. 98767 ratifiziert. Allerdings sind nicht alle Vertragsparteien der EMRK zugleich auch Mitgliedstaaten der ILO. So sind Andorra, Liechtenstein und Monaco an die EMRK gebunden, aber keine Mitglieder der ILO und somit keine Vertragsparteien der aufgelisteten Übereinkommen.768 Eine völkerrechtliche Bindung der drei Kleinststaaten ergibt sich allerdings wohl auf anderer Grundlage. Die acht aufgezählten Übereinkommen, die von 44 der 47 Mitgliedstaaten des Europarats ratifiziert wurden, bilden zugleich allgemeines Völkerrecht769 und sind daher auch für Andorra, Liechtenstein und Monaco als „zwischen den Vertragsparteien anwendbarer einschlägiger Völkerrechtssatz“770 verbindlich. Für andere Übereinkommen und auch Empfehlungen führt der Ansatz des EGMR, die Heranziehung anderer völkerrechtlicher Quellen mit Art. 31 Abs. 3 lit. c) WVK zu begründen, aber ins Leere. Gerade für die Heranziehung der Spruchpraxis des Europäischen Ausschusses für soziale Rechte als auch der Ausschüsse der ILO wäre eine Begründung der Heranziehung als systematische Auslegung der EMRK (vgl. Art. 35 Abs. 2 lit. b) EMRK) überzeugender gewesen. 765 Dies gilt nur sofern keine entsprechenden Vorbehalte geäußert wurden, vgl. Art. 57 Abs. 1 EMRK. Zudem besteht nach der Rechtsprechung des EGMR etwa bei moralischen Fragen die Möglichkeit, bes. Umstände und die Geschichte eines beklagten Staates zu berücksichtigen, vgl. Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Einl., Rn. 29. Ebenso besteht ein breiterer margin of appreciation im Fall der Kollision der Grundrechte Privater, vgl. auch Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 18, Rn. 20 ff., 22. 766 Auf die Rezeption von Gewährleistungsinhalten der (rev.) ESC soll nicht näher eingegangen werden. Zu deren „a la carte“-Garantien Schlachter, in: Countouris/Freedland, Resocialising Europe in time of crisis, S. 105, 107 ff. 767 Ebenso wurden die Übk. Nr. 29, Nr. 100, Nr. 105, Nr. 111, Nr. 138 und Nr. 182 durch alle Mitglieder des Europarats ratifiziert. 768 Die drei Staaten sind jedoch Mitglieder der UN, Monaco ist auch Mitglied der etwa UN, WHO, UNESCO, IAEA, vgl. Guidi, in: Wolfrum, MPEIL, Monaco (Stand: September 2007), Rn. 15. 769 Hierzu unter Teil 3 B. 770 Zur Berücksichtigung von Völkergewohnheitsrecht i. R. v. Art. 31 Abs. 3 lit. c) WVK Thiele, AVR 2008, 1, 26 f.

154

Teil 1: Die Normen der ILO

(3) Berücksichtigung der Spruchpraxis Vielfach wird angenommen, dass der EGMR in der Entscheidung Demir und Baykara von einer Verbindlichkeit der Spruchpraxis der Ausschüsse der ILO ausgeht.771 Eine solche Aussage lässt sich der Entscheidung allerdings nicht entnehmen. Zwar wird an mehreren Stellen der Entscheidung Bezug auf die Spruchpraxis genommen772 und statuiert, dass diese auch berücksichtigt werden müsse.773 Dies wird allerdings nicht näher begründet. Einerseits könnte die Große Kammer tatsächlich (unausgesprochen) von einer Verbindlichkeit der Auslegungspraxis ausgehen.774 Andererseits könnte der EGMR die Spruchpraxis aufgrund ihres überzeugenden Charakters rezipiert haben: Selbst bei rechtlicher Unverbindlichkeit der Spruchpraxis erscheint es schlicht sinnvoll, sich mit den Einschätzungen des zuständigen Überwachungsausschusses auseinanderzusetzen, um den Inhalt der Übereinkommen zu begreifen. Aus Demir und Baykara lässt sich somit nur erkennen: Der EGMR macht sich die Spruchpraxis der ILO-Ausschüsse zueigen.775 Ob er die Auslegung der Übereinkommen der ILO durch die Ausschüsse für rechtlich verbindlich hält, lässt sich der Entscheidung nicht entnehmen. Er „kann und muss“776 die Spruchpraxis aber berücksichtigen.

771 Seifert, EuZA 2013, 206, 209; zurückhaltender Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik als Menschenrechte, der von einer „unreflektierten“ bzw. „ungefilterten“ Übernahme spricht, S. 119, 121. 772 EGMR v. 12. November 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara), etwa Rn. 43: „The ILO Committee of Experts interpreted this provision as …“ und Rn. 147: „The Court observes that in international law, the right to bargain collectively is protected by ILO Convention No. 98 […]. It states in Article 6 that it does not deal with the position of ,public servants engaged in the administration of the State‘. However, the ILO Committee of Experts interpreted this provision as excluding only those officials whose activities were specific to the administration of the State“. 773 EGMR v. 12. November 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara), Rn. 85: „The Court, in defining the meaning of terms and notions in the text of the Convention, can and must take into account elements of international law other than the Convention, the interpretation of such elements by competent organs“. „Competent organs“ ist hierbei als „zur Auslegung berechtigte“ Organe bzw. Ausschüsse zu verstehen (hierzu Teil 2 E. II. 6. b)) und gerade nicht, dass die Auslegung auch bindend ist (hierzu Teil 2 E. II. 6. c) und d)). In diesem Sinne wohl auch Katerndahl, Tariverhandlung und Streik als Menschenrechte, S. 217 f. 774 Dies wird allerdings zumindest in vielen Anmerkungen der Entscheidung impliziert, etwa bei Seifert, KritV 2009, 359, 363 f. 775 So auch Schlachter, RdA 2011, 341, 347, a. A. Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik als Menschenrechte, S. 119, 121. 776 EGMR v. 12. November 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara), Rn. 85; vgl. auch Sychenko, Individual Labour Rights as Human Rights, S. 21 f.

E. Norminterpretation

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cc) Rezeption der ILO-Normen und Spruchpraxis als ständige Rechtsprechung: Enerji Yapi-Yol Sen, Kiyutin, Palomo Sanchez, Stummer, Graziani-Weiss, Tymoshenko Die in Demir und Baykara angewendete evolutiv-völkerrechtsfreundliche Auslegungsmethode wurde schon kurz darauf777 in der Entscheidung Enerji Yapi-Yol Sen/Türkei von der dritten Kammer des EGMR aufgegriffen. Mit Verweis auf die Demir-und-Baykara-Rechtsprechung nahm der EGMR an, Art. 11 EMRK schütze nicht nur das Recht auf Kollektivverhandlungen, sondern auch das Streikrecht. Ein generelles Streikverbot für öffentliche Bedienstete (oder bestimmte Gruppen) ohne Abstellen auf die ausgeübte Tätigkeit sei nicht zu rechtfertigen (sogenannte funktions- statt statusbezogene Herangehensweise).778 Dies begründet der EGMR unter anderem mit Rückgriff auf Übereinkommen Nr. 87.779 Diese methodische Herangehensweise des EGMR, Gewährleistungsinhalte der EMRK unter Heranziehung von Übereinkommen der ILO und Spruchpraxis der Überwachungsausschüsse auszulegen, wurde auch im Folgenden beibehalten.780 In einer Vielzahl von Entscheidungen wurden Normen der ILO und Spruchpraxis argumentativ aufgegriffen oder zumindest zur Beschreibung des Rechtsrahmens rezipiert: So erfolgte in der Entscheidung Kiyutin/Russland zum Aufenthaltsstatuts 777 Auch in der kurzen Zwischenzeit zwischen den Entscheidungen Demir und Baykara und Enerji Yapi-Yol Sen wurden durch den EGMR ILO-Normen und -Spruchpraxis rezipiert, vgl. EGMR v. 30. Juli 2009 – 67336/01 (Danilenkov u. a.), Rn. 105 sowie Rn. 130. 778 EGMR v. 21. April 2009 – 68959/01 (Enerji Yapi-Yol Sen), Rn. 24, 31; Kohlbacher, Streikrecht und Europarecht, S. 159; Lörcher, AuR 2009, 229. In der Folge wurde häufig eingewendet, es handele sich um „Einzelfallentscheidungen zur Türkei“, vgl. Sagan, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, EMRK, Art. 11, Rn. 14. Die Spruchpraxis der ILO-Ausschüsse und die weitgehende Anerkennung von Arbeitnehmerrechten sei „z. T. noch“ von weltpolitischen Auseinandersetzungen mit dem sowjetischen Kommunismus geprägt gewesen; Löwisch/Rieble, TVG, Grundl., Rn. 329 sprechen (in der Terminologie des BVerfG zur „ultra-vires“Kontrolle) von einem „ausbrechenden Rechtsakt“. Hiergegen spricht, dass nach den Entscheidungen Demir und Baykara sowie Enerji Yapi-Yol Sen und weiteren Entscheidungen zu Art. 11 EMRK gegen die Türkei (EGMR v. 15. Dezember 2009 – 30946/04 (Kaya u. Seyhan) zum nicht-gewerkschaftlich-getragenen Streik; EGMR v. 13. Juli 2010 – 33322/07 (Cerikci) zum politischen Streik) die weite Auslegung von Art. 11 EMRK auch in Entscheidungen zu Beschwerden gegen andere Länder erfolgte (hierzu sogleich). 779 EGMR v. 21. April 2009 – 68959/01 (Enerji Yapi-Yol Sen), Rn. 24 ohne erneuten Rückgriff auf ILO-Spruchpraxis. 780 Siehe neben den im Folgenden beschriebenen Fällen EGMR v. 11. Oktober 2012 – 67724/09 (C.N. und V. v.) mit Rezeption von Übk. Nr. 29 und der Erklärung von 1998; EGMR v. 3. Oktober 2013 – 552/10 (I. B.) zur Auslegung von Art. 14 i. V. m. Art. 8 EMRK mit Bezugnahme von Empfehlung Nr. 200; EGMR v. 24. Juli 2014 – 60908/11 u. a. (Brincat), Rn. 9, 39 f. zu den Gefahren von Asbest, die spätestens seit Verabschiedung von Übk. Nr. 162 bzw. Empfehlung Nr. 172 bekannt gewesen sein mussten, vgl. auch Sychenko, Occupational Health in the Jurisprudence of the European Court of Human Rights: Brincat v. Malta, Strassbourg Observers Blog v. 8. September 2014, abrufbar unter: https://strasbourgobservers.com/2014/09/ 08/occupational-health-in-the-jurisprudence-of-the-european-court-of-human-rights-brincat-vmalta/.

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Teil 1: Die Normen der ILO

eines HIV-Infizierten eine Bezugnahme auf die Empfehlung Nr. 200.781 In der Entscheidung Palomo Sanchez/Spanien griff der EGMR zur Auslegung von Art. 10 i. V. m. Art. 11 EMRK im Fall einer Kündigung wegen der Veröffentlichung von Karikaturen im Mitteilungsblatt einer Gewerkschaft auf die Spruchpraxis des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit zurück.782 Im gleichen Jahr orientierte sich der EGMR zudem in Stummer/Österreich sowie Graziani-Weiss/Österreich in Fällen zur Rentenversicherung von Gefangenenarbeit bei der Auslegung von Art. 4 Abs. 3 EMRK (in Fortführung der Van-der-Mussele- und Siliadin-Rechtsprechung) an der Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses zu Übereinkommen Nr. 29.783 Hervorzuheben ist auch der Fall Tymoshenko/Ukraine aus dem Jahr 2014, in welchem der EGMR ein (mit der Funktionsfähigkeit der Daseinsvorsorge und dem Schutz der Personenfreizügigkeit begründetes) Streikverbot für Flugbegleiter als Verstoß gegen Art. 11 EMRK wertete. In der Entscheidung Tymoshenko findet sich eine mehrseitige Rezeption der Spruchpraxis der ILO-Ausschüsse, untergliedert in „ILOGrundsätze“784 und einschlägige Bemerkungen des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit, welche zur Ukraine und anderen Staaten ergangen waren.785 dd) „Selektive“ Anwendung der evolutiv-völkerrechtsfreundlichen Auslegungsmethodik Wie Servais allerdings zu bedenken gibt: Eine vollständige Übereinstimmung zwischen den beiden Institutionen herrscht nicht.786 (1) Keine Auseinandersetzung mit der Spruchpraxis etwa in HLS, K.M.C., Icelandic Association of Academics und Barbulsecu Zunächst sind trotz der neuen dogmatischen Grundlage der evolutiv-völkerrechtsfreundlichen Auslegung Tendenzen erkennbar, dass nicht in allen Verfahren oder zumindest durch manche Kammern des EGMR die vorhandene Spruchpraxis in die Begründung der Entscheidung oder die Darstellung des entscheidungserheblichen Rechtsrahmens aufgenommen wird. So wird nur einen Monat nach der Ty781 EGMR v. 10. März 2011 – 2700/10 (Kiyutin), Rn. 67. Empfehlung Nr. 200 betreffend HIVund AIDS und die Welt der Arbeit. Zu den Hintergründen der Empfehlungen (anstelle eines Übereinkommens) Tapiola, in: Ahlberg/Bruun, New Foundations of Labour Laws, S. 81, 91. 782 EGMR v. 12. September 2011 – 28955/05 u. a. (Palomo Sanchez u. a./Spanien), Rn. 56. 783 EGMR v. 7. Juli 2011 – 37452/02 (Stummer), Rn. 116 ff.; v. 18. Oktober 2011 – 31950/ 06 (Graziani-Weiss), Rn. 36. 784 Zitiert wird hierzu eine in der International Labour Review (regelmäßig) abgedruckten Zusammenstellung der Spruchpraxis der ILO- Ausschüsse. 785 EGMR v. 2. Oktober 2014 – 48408/12, (Tymoshenko), Rn. 33 ff.; vgl. auch Lörcher, AuR 2015, S. 126, 127. In den Gründen wird die Spruchpraxis sodann allerdings nicht aufgegriffen, da diese im zu entscheidenden Fall nicht entscheidungserheblich gewesen sei, Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik als Menschenrechte, S. 145 f. und S. 160. 786 Servais, SR 2017, 45, 48, wenngleich nur mit Bezug auf die Entscheidung RMT.

E. Norminterpretation

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moshenko-Entscheidung der fünften Kammer in der Hrvatski-lijecˇ nicˇ ki-sindikat (HLS-)Entscheidung der ersten Kammer das Streikverbot einer Berufsgewerkschaft von Ärzten und Zahnmedizinern als Verletzung von Art. 11 EMRK gesehen, in der Entscheidung selbst die einschlägige ILO-Spruchpraxis allerdings nicht rezipiert.787 Lörcher beschreibt dies zurecht als Manko, das allerdings durch das zustimmende Sondervotum des Richters De Albuqerque kompensiert werde.788 Ebenso könnte man in der Entscheidung K.M.C. argumentieren, in welcher sich De Albuqerque mit der Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses (hier zu Übereinkommen Nr. 158) auseinandersetzt,789 während im Mehrheitsvotum die Normen der ILO und zugehörige Spruchpraxis der Ausschüsse unerwähnt bleiben.790 Ob ein Sondervotum tatsächlich die fehlende Darstellung der Spruchpraxis in der Entscheidung ausgleicht, kann bezweifelt werden. Die Existenz eines Sondervotums indiziert vielmehr, dass die Spruchpraxis der Kammer bekannt war und sich die Mehrheit der Richter in ihrem Votum gegen die Aufnahme der Spruchpraxis aussprach. Auch die Icelandic-Association-of-Academics-Entscheidung der zweiten Kammer über Einschränkungen der Dauer eines Streiks und die Einführung eines obligatorischen Schlichtungsverfahrens dürfte nur schwer mit der Spruchpraxis der Ausschüsse der ILO vereinbar sein. Auf vorhandene Spruchpraxis791 wird in der gesamten Entscheidung auch nicht hingewiesen.792 Auf den ersten Blick deutet auch die Barbulescu/Rumänien-Entscheidung der Großen Kammer in diese Richtung.793 In dieser Entscheidung zu einer Kündigung eines Arbeitsnehmers nach Überwachung seines elektronischen Schriftverkehrs hatte sich De Albuqerque in einem teilweise abweichenden Sondervotum mit Normen der ILO auseinandergesetzt, während das Mehrheitsvotum nur auf Instrumente des Europarates, nämlich die Europäische Datenschutzkonvention,794 und 787 EGMR v. 27. November 2014 – 36701/09 (HLS). Begründet wurde der Verstoß mit der Unwirksamkeit einer Ergänzung des Tarifvertrages aufgrund fehlender Unterschriften und einer daher nicht bestehenden Friedenspflicht, vgl. Rn. 11 f. 788 Lörcher, AuR 2015, S. 126, 127; siehe Rn. 6 der Concurring Opinion bei EGMR v. 27. November 2014 – 36701/09 (HLS); mit Hinweis auf das Sondervotum auch Hendy/Novitz, Industrial Law Journal 2018, 315, 329; zu den Entscheidungen HLS und Tymoshenko auch Schlachter, AuR 2015, 217; Jacobs/Schmidt, EuZA 2016, 82, 90 f.; Novitz, AuR 2017, 324, 327; Novitz, CLLPJ 2017, 353, 363. 789 EGMR v. 10. Juli 2012 – 19554/11 (K.M.C.), Sondervotum des Richters De Albuqerque. 790 Vgl. EGMR v. 10. Juli 2012 – 19554/11 (K.M.C.); siehe auch das Sondervotum von De Albuqerque zur Entscheidung des EGMR v. 6. November 2017 – 43494/09 (Garib), in welcher er Art. 1 Abs. 1 Übk. Nr. 111 aufgreift, um aufzuzeigen, dass neben Art. 14 EMRK auch andere internationale Übereinkünfte vor Diskriminierungen aufgrund der sozialen Herkunft schützen. 791 Siehe IAA, Compilation of decisions of the CFA, Rn. 815 zu Beschränkungen der Dauer eines Streiks und Rn. 816 ff. zur Zwangsschlichtung. 792 Vgl. EGMR v. 7. Juni 2018 – 2451/16 (Icelandic Association of Academics). 793 EGMR v. 5. September 2017 – 61496/08 (Ba˘ rbulescu). 794 Übereinkommen des Europarates zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten (Konvention Nr. 108).

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Unionsrecht, unter anderem auf Richtlinie 95/46/EG, einging.795 Bei dem durch De Albuqerque aufgegriffenen „Code of Practice on the protection of workers’ personal data“796 handelt es sich aber lediglich um eine Best-Practice-Anleitung für Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Gerichte, der zudem keine hilfreichen Aussagen für die Beantwortung der Fallfrage beinhaltete. Verbindliche Instrumente der ILO zum Beschäftigtendatenschutz oder zumindest Empfehlungen oder Spruchpraxis existieren bisher nicht und konnten daher auch nicht rezipiert werden. (2) Ausdrückliche Abweichung in RMT Die Entscheidung der vierten Kammer in der Rechtsache National Union of Rail, Maritime and Transport Workers (RMT) über die Zulässigkeit von Sympathiestreiks stellte eine deutliche Abweichung von der bisherigen Linie des EGMR dar.797 Während in allen früheren Entscheidung mit Bezugnahme auf die Spruchpraxis der Ausschüsse der ILO eine solche Bezugnahme ohne eine rechtliche Einordnung der Schlussfolgerungen erfolgte, verwies die 4. Kammer auf die Beschreibung des Mandats durch den Sachverständigenausschuss im general survey 2013.798 Hiernach seien die Einschätzungen rechtlich unverbindlich, aber „gültig und allgemein anerkannt“ (valid and generally recogized). Aufgrund dieser „Klarstellung“ müsse die Kammer die Rolle des Sachverständigenausschusses als Bezugspunkt und Hilfe bei der Auslegung der EMRK nicht neu bewerten.799 Die 4. Kammer nimmt zunächst an, Art. 11 EMRK schütze auch die besonderen Formen des Unterstützungs- beziehungsweise Sympathiestreiks.800 Dies ergebe sich auf Grundlage der Auslegungspraxis der ILO-Ausschüsse „eindeutig“ aus Übereinkommen Nr. 87.801 Ein Sympathiestreik könne aber unter bestimmten Voraussetzungen (gänzlich) gesetzlich verboten werden. Diese Einschränkung stellt eine ausdrückliche802 Abweichung von der Spruchpraxis803 dar, was die 4. Kammer damit begründet, dass die Ausschüsse der ILO804 das Recht des jeweiligen Mitgliedstaats abstrakt prüfen würden, wohingegen der EGMR über einen Einzelfall zu entscheiden 795

EGMR v. 5. September 2017 – 61496/08 (Ba˘ rbulescu), Rn. 17. IAA, Protection of workers’ personal data. 797 EGMR v. 8. April 2014 – 31045/10 (RMT). 798 Ibid., Rn. 96, verwiesen wird auch die Mandatsbeschreibung im Vorwort des General Surveys von 2013 (IAA, IAK, 102nd Session 2013, Report III (Part 1B), General Survey concerning labour relations and collective bargaining in the public service, Rn. 8. 799 EGMR v. 8. April 2014 – 31045/10 (RMT), Rn. 97. 800 Ibid., Rn. 76. 801 „In this regard, it is clear from the passages set out above […] that secondary action is recognised and protected as part of trade-union freedom under ILO Convention No. 87“, vgl. ibid., Rn. 76. 802 Ibid., Rn. 98 f. 803 Vgl. die Darstellung in ibid., Rn. 27 ff. 804 Ebenso der Europäischen Ausschusses für soziale Rechte. 796

E. Norminterpretation

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habe.805 Im konkret vorgelegten Fall seien die negativen Beurteilungen durch die Überwachungsorgane der ILO nicht „überzeugend“ genug, dass die Kammer das Verbot des Sympathiestreiks unter den Umständen des vorliegenden Falls als Verletzung von Art. 11 EMRK auffassen könne.806 Offensichtlich ist der vierten Kammer aber daran gelegen, die Position der ILO-Ausschüsse (wohl auch vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen auf der IAK 2012)807 nicht zusätzlich zu untergraben. So lässt sich zumindest die abschließende Bemerkung deuten, dass „nochmals klargestellt“ werden solle, dass die Bemerkungen der ILO-Ausschüsse und des ECSR nicht „in Frage gestellt“ werden sollen.808 Der Entscheidung RMT lässt sich somit folgendes Verhältnis des EGMR (oder zumindest seiner vierten Kammer) zur Spruchpraxis der ILO-Ausschüsse entnehmen: Auch der EGMR hält die Spruchpraxis der Ausschüsse nicht für rechtlich verbindliche Interpretationen der Übereinkommen der ILO, setzt sich aber bei der Auslegung der EMRK zwingend mit dieser Spruchpraxis auseinander. Er ist grundsätzlich gewillt, die EMRK in gleicher Weise auszulegen, sofern nicht die konkreten Umstände des vorgelegten Sachverhalts ihn zu einer Abweichung bewegen.809 Unabhängig davon, ob man die Argumentation der vierten Kammer zur Begrenzung des Sympathiestreiks teilen mag, ist der Entscheidung zu entnehmen, dass der EGMR im Falle einer Abweichung von der Spruchpraxis auf diese Abweichung ausdrücklich hinweisen möchte und die Abweichung auch erläutert. ee) „Abweichung nach oben“ weiterhin möglich: Matelly und Adefdromil Diese Praxis wird (in Bezug auf die Spruchpraxis des Europäischen Ausschusses für soziale Rechte) durch die fünfte Kammer in ihren Entscheidungen Matelly und Adefdromil über den persönlichen Anwendungsbereich des Art. 11 EMRK dahingehend konkretisiert,810 dass sich der EGMR eine „Abweichung nach oben“ vor805

EGMR v. 8. April 2014 – 31045/10 (RMT), Rn. 98. Ibid.: „are not of such persuasive weight“. 807 In den Urteilsgründen findet sich eine ausführliche Darstellung der gesamten Auseinandersetzung über das Mandat des Sachverständigenausschusses auf der IAK 2012, vgl. EGMR v. 8. April 2014 – 31045/10 (RMT), Rn. 96 f.: Hierauf war die Kammer wohl durch die britische Regierung aufmerksam gemacht worden, die gegen eine Berücksichtigung der ILO-Spruchpraxis anführte, dass der Sachverständigenausschuss formell nicht zuständig sei, die Übereinkommen auszulegen. 808 EGMR v. 8. April 2014 – 31045/10 (RMT), Rn. 102: „Nor should the conclusion reached in this case be understood as calling into question the analysis effected on the basis of those standards and their purposes by the ILO Committee of Experts and by the ECSR“. 809 Deutliche Kritik hieran etwa durch A. Jacobs, Anm. zu EGMR v. 31. November 2014 – 31045/10 (HRS), Int. Labor Rights Case Law 2015, S. 90, 91 f.: „This decision can only be explained as a result of political motives“; Hendy/Novitz, Industrial Law Journal 2018, 315, 329 m. w. N. 810 EGMR v. 2. Oktober 2014 – 10609/10 (Matelly); EGMR v. 2. Oktober 2014 – 32191/09 (Adefdromil); vgl. Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik als Menschenrechte, S. 138. 806

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Teil 1: Die Normen der ILO

behält. So rezipiert die fünfte Kammer in der Matelly-Entscheidung zunächst einschlägige Spruchpraxis des Ausschusses für soziale Rechte zu Art. 5 ESC,811 geht über dessen Ansichten zur Bestimmung der Reichweite von Art. 11 EMRK zugunsten von „Soldaten“ der französischen Gendarmerie aber hinaus.812 Da der Wortlaut und die Systematik des Art. 11 EMRK bereits zu diesem Ergebnis führen, komme es auf die Heranziehung von anderen völkerrechtlichen Dokumenten und begleitender Spruchpraxis nach Art. 31 Abs. 3 lit. c) WVK nicht an.813 ff) Rezeption von Übereinkommen (Béláné Nagy, Chowdury, Acar) und Spruchpraxis (Manole, Ognevenko, S.M.) weiterhin Teil der Auslegungsmethodik des EGMR Jüngere Entscheidungen des EGMR bestätigen, dass die Berücksichtigung von Übereinkommen und Spruchpraxis der ILO weiterhin zum methodischen Repertoire des Gerichtshofs gehört. In der Rechtssache Béláné Nagy/Ungarn wertete der EGMR den Entzug einer beitragsbasierten „Behindertenrente“ nach der Neufestsetzung des Grades der Behinderung auf Grundlage eines nachträglich geänderten Gesetzes814 als Verletzung von Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls der EMRK. Schon in der Darstellung des Rechtsrahmens zeigt sich, welche Bedeutung die Übereinkommen der ILO für die Entscheidung gehabt haben muss: So werden der gesamte Teil IX des Übereinkommens Nr. 102 und der gesamte Teil II des Übereinkommens Nr. 128 wiedergegeben.815 Auch in den eigentlichen Entscheidungsgründen werden die Übereinkommen kurz aufgegriffen.816 Eine Auseinandersetzung mit der Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses erfolgte hingegen nicht, wobei allerdings nicht klar ist, ob (übertragbare) Schlussfolgerungen überhaupt existierten.817 In der ChowduryEntscheidung rezipierte der EGMR bei einer Entscheidung über die Frage, ob die Einbehaltung von Arbeitsentgelt als Tatbestandsmerkmal bei der Annahme von Zwangsarbeit geeignet ist, Übereinkommen Nr. 29 sowie einen Bericht des Generalsekretärs der ILO auf der IAK 2009 (und hierdurch indirekt die Spruchpraxis des 811

EGMR v. 2. Oktober 2014 – 10609/10 (Matelly), Rn. 32 f. Problematisch war, dass die Gendarmerie zwar dem Verteidigungsministerium unterstellen ist aber auch mit Polizeiaufgaben betraut wird. 813 Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik als Menschenrechte, S. 140 spricht von einem „argumentativen Trick“. 814 EGMR v. 13. Dezember 2016 – 53080/13 (Béláné Nagy), Rn. 10 ff.; Lörcher, ZESAR 2015, 265, 266 ff. kritisiert, dass nicht alle einschlägigen völkerrechtlichen Bestimmungen (auch der ILO) erwähnt oder in die Entscheidung einbezogen worden seien. Art. 57 Abs. 2 lit. a) Übk. Nr. 102 wird nochmals hervorgehoben, vgl. Rn. 42 der Entscheidung. 815 EGMR v. 13. Dezember 2016 – 53080/13 (Béláné Nagy), Rn. 42. 816 Ibid., Rn. 103. 817 Bemerkungen zur Gesetzesänderung, die Anstoß der Béláné Nagy-Entscheidung bildet, sind jedenfalls nicht ersichtlich. 812

E. Norminterpretation

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Sachverständigenausschusses).818 Dem (vereinfacht dargestellten) Fall lag die Beschäftigung 42 bangladeschischer Staatangehöriger auf einer griechischen Erdbeerfarm zwischen Ende 2012 und Anfang 2013 ohne griechische Arbeitserlaubnis zugrunde. Den versprochenen Lohn von 22 Euro für eine Sieben-Stunden-Schicht und drei Euro pro Überstunde zahlte der Arbeitgeber nicht aus. Er verpflichtete die Bangladescher dazu, unter schwierigen körperlichen Bedingungen unter der Aufsicht von bewaffneten Wachen zu arbeiten.819 Der EGMR stellte fest, dass die Umstände der Beschäftigung Zwangsarbeit und Menschenhandel waren und dass Griechenland gegen seine positiven Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 2 EMRK verstoßen hatte, Schutzmaßnahmen zu ergreifen und eine wirksame Untersuchung durchzuführen. In der Acar-Entscheidung hielt der EGMR eine türkische Norm des Insolvenzrechts für vereinbar mit der Konvention. Er argumentierte, die nationalrechtliche Einordnung von Arbeitnehmerforderungen vor gewöhnlichen Forderungen, aber nach gesichterten Gläubigerforderungen sowie den Verfahrenskosten entspreche dem Schutzniveau von Übereinkommen Nr. 95. Auch der Zeitraum der erfassten Forderungen der Arbeitnehmer sei konventionskonform, da dieser mit einem Jahr weit über der Mindestfrist von drei Monaten in Übereinkommen Nr. 173 liege.820 In den Béláné Nagy-, Chowdury- und Acar-Entscheidungen zeigt sich somit, dass der EGMR an der evolutiv-völkerrechtsfreundlichen Auslegungsmethodik festhält und Übereinkommen der ILO weiterhin in seine Entscheidungsfindung einfließen lassen möchte.821 Gleiches lässt sich in den Entscheidungen Manole, Ognevenko und S.M./Kroatien für die Spruchpraxis der Ausschüsse der ILO feststellen. In der Entscheidung Manole griff der EGMR bei der Frage, ob selbstständige Landwirte bei der Gründung einer Gewerkschaft von Art. 11 EMRK geschützt werden, auf Übereinkommen Nr. 11 über das Vereinigungs- und Koalitionsrecht der landwirtschaftlichen Arbeitnehmer und Übereinkommen Nr. 141 über die Verbände ländlicher Arbeitskräfte und ihre Rolle in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung zurück.822 Unter Rückgriff auf die Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses sah der Gerichtshof den Anwendungsbereich von Art. 11 EMRK zwar als eröffnet. Er lehnte eine Verletzung 818 EGMR v. 30. März 2017 – 21884/15 (Chowdury u. a.), Rn. 40 mit Verweis auf IAA, IAK, 98th Session 2009, Report I (Part B), Report of the Director-General, Rn. 24 f. 819 EGMR v. 30. März 2017 – 21884/15 (Chowdury u. a.), Rn. 5 ff. 820 EGMR v. 12. Dezember 2017 – 26878/07, 32446/07 (Acer u. a.), Rn. 29. 821 Die Chowdury-Entscheidung wurde wiederum durch den Sachverständigenausschuss rezipiert, vgl. IAA, IAK, 109th Session 2020, Report III (Part A), Report of the CEACR, S. 395. 822 EGMR v. 16. Juni 2015 – 46551/06 (Manole und Romanien Farmers Direct), siehe insb. Rn. 67: „Im Einklang mit seiner Rechtsprechung kann der Gerichtshof diese Frage nicht untersuchen, ohne die in dieser Angelegenheit einschlägigen internationalen Instrumente zu berücksichtigen, insbesondere die Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation“. Rumänien hat Übk. Nr. 141 bislang nicht ratifiziert, weshalb der EGMR erneut auf das Mehrheitsprinzip zurückgriff, vgl. Rn. 28, wobei dem EGMR 19 Mitgliedstaaten des Europarats genügten.

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Teil 1: Die Normen der ILO

aber ab, da aus Sicht des EGMR die einschlägige rumänische Gesetzgebung die Vereinigungsfreiheit der Landwirte bereits anderweitig ausreichnend gewährleiste.823 Auch bei dieser Einschätzung bezog sich der EGMR sich auf die Schlussfolgerungen des Sachverständigenausschusses.824 In der Ognevenko-Entscheidung griff der EGMR neben der Spruchpraxis des Sachverständigenausschuss auch die des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit zum persönlichen Anwendungsbereich der Vereinigungsfreiheit auf. Beide Ausschüsse akzeptieren, dass für bestimmte Berufe (Daseinsvorsorge – den essential services),825 wie zum Beispiel die Streitkräfte oder die Polizei, (funktionsbezogene) Beschränkungen des Streikrechts im nationalen Recht vorgesehen werden können.826 In der Ognevenko-Entscheidung schließt sich EGMR den Ausschüssen dabei an, dass für den Verkehrs- oder Eisenbahnsektor keine entsprechende Ausnahme anzunehmen sei. Der Gerichtshof sehe keinen Grund dafür, von der „internationalen Praxis bei der Definition der essential services abzuweichen und den Schienenverkehr als eine solche Dienstleistung zu betrachten.827 Russland habe daher gegen Art. 11 EMRK verstoßen. In der S.M./Kroatien-Entscheidung griff der EGMR ebenfalls die Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses auf. Dem Verfahren lag ein Fall zu Grunde, in dem S.M. bei der Polizei Anzeige gegen einen Dritten mit der Begründung erhoben hatte, dieser hätte sie mit psychischer und körperlicher Gewalt zur Prostitution gezwungen. In dem im Rahmen des sich daran anschließenden Strafverfahrens erfolgten Freispruch des Dritten erkannte der EGMR eine Verletztung von Art. 4 EMRK. Der EGMR leitete aus Art. 4 Abs. 2 EMRK (ähnlich wie im Chowdury-Fall) eine behördliche Ermittlungspflicht bei Hinweisen auf Zwangsprostitution ab. Hierfür zog die Große Kammer sowohl das Übereinkommen Nr. 29, das Protokoll Nr. 29 als auch Aussagen des Sachverständigenausschusses heran.828 Interessant ist, dass die abweichende Meinung des Richters Pastor Vilanova die Rezeption der ILO-Normen 823

EGMR v. 16. Juni 2015 – 46551/06 (Manole und Romanien Farmers Direct), Rn. 71 ff. EGMR v. 16. Juni 2015 – 46551/06 (Manole und Romanien Farmers Direct), Rn. 71. 825 Zur Frage der Entsprechung der Begriffe der Daseinsvorsorge und der essential services Schlachter, EuZA 2019, 81, 83 und 86 f.; Hofmann, Anm. zu EGMR v. 20. November 2018 – 44873/09 (Ognevenko), HSI-Newsletter 4/2018, III., abrufbar unter: https://www.hugo-sinz heimer-institut.de/hsi-newsletter/europaeisches-arbeitsrecht/2018/newsletter-042018. html#c8061. 826 EGMR v. 20. November 2018 – 44873/09 (Ognevenko), Rn. 20 – 23, 26, 72. 827 Ibid., Rn. 72: „There is no reason for the Court to reject the existing international approach to the definition of an essential service and to consider the railway transport as such.“; zur Rezeption in der Ognevenko-Entscheidung auch Hofmann, Anm. zu EGMR v. 20. November 2018 – 44873/09 (Ognevenko), HSI-Newsletter 4/2018, III., abrufbar unter: https:// www.hugo-sinzheimer-institut.de/hsi-newsletter/europaeisches-arbeitsrecht/2018/newsletter042018.html#c8061; s. a. EGMR v. 20. Juni 2017 – 41282/16 (M.O.), Rn. 417 ff. mit Wiedergabe der Rezeption von ILO-Normen und Spruchpraxis durch das Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber); Rudkowski, EuZA 2020, 256, 258. 828 EGMR v. 25. Juni 2020 – 60561/14 (S.M.), Rn. 139 ff., Rn. 281 ff. 824

E. Norminterpretation

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mit dem Argument kritisiert, die Normen seien für den zu entscheidenden Fall nicht einschlägig gewesen.829 Im Umkehrschluss hielten die anderen 16 Mitglieder der Großen Kammer eine Berücksichtigung von ILO-Normen und Spruchpraxis für geboten. gg) Der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit als internationale Untersuchungsinstanz im Sinne von Art. 35 Abs. 2 lit. b) EMRK Neben der oben dargestellten Berücksichtigung der Spruchpraxis spielen Bemerkungen des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit auch im Prozessrecht der EMRK eine Rolle. Eine Individualbeschwerde ist gemäß Art. 35 Abs. 2 lit. b) EMRK gesperrt, sofern ihr Inhalt bereits „einer anderen internationalen Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz“ unterbreitet wurde. In der OTOE Entscheidung erkannte der EGMR erstmals an, dass es sich bei dem Ausschuss für Vereinigungsfreiheit um eine solche Instanz handelt.830 Diese Einschätzung wurde in weiteren Entscheidungen bestätigt.831 In RMT wertete der EGMR zudem die unwiderrufliche Rücknahme der Beschwerde an den Ausschuss für Vereinigungsfreiheit nicht als rechtsmissbräuchlich im Sinne von Art. 35 Abs. 3 lit. a) EMRK.832 Die Subsumption des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit unter den Begriff der „internationale Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz“ im Sinne von Art. 35 Abs. 2 lit. b) EMRK lässt sich im Rahmen der Auslegung der materiell-rechtlichen Bestimmungen der EMRK heranziehen. Zunächst ist festzustellen, dass die Vertragsparteien der EMRK den internationalen Untersuchungs- und Vergleichsinstanzen einen hohen Stellenwert einräumen, schließlich wird durch Art. 35 Abs. 2 lit. b) EMRK zumindest der Eindruck vermittelt, bei den Beschwerden vor internationalen Spruchkörpern handele es sich um ein Rechtsmittel mit vergleichbarer Wirkung. Zudem impliziert Art. 35 Abs. 2 lit. b) EMRK das Bewusstsein der Vertragsparteien darüber, dass sich die EMRK sowie der zu seiner Auslegung eingesetzte EGMR in einem internationalen System sich überschneidender Menschenrechtsschutzsysteme bewegen.

829 EGMR v. 25. Juni 2020 – 60561/14 (S.M.), Concurring Opinion of Judge Pastor Vilanova, Rn. 2. 830 EGMR v. 6. Dezember 2011 – 72808/10 (OTOE); vgl. auch Sagan, in: Boecken/Düwell/ Diller/Hanau, EMRK, Art. 35, Rn. 2. 831 EGMR v. 21. Mai 2013 – 59253/11 (POA u. a.), die wegen einer bereits erfolgten Entscheidung des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit unzulässig war (Verweis auf frühere Rechtsprechung und Entscheidungen der Menschenrechtskommission in Rn. 28 ff.). 832 EGMR v. 8. April 2014 – 31045/10 (RMT), Rn. 48.

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hh) Zwischenfazit Zusammenfassen lässt sich die Rezeptionspraxis des EGMR wie folgt: Der EGMR verhält sich völkerrechtsfreundlich, aber nicht völkerrechtstreu.833 Er nimmt eine Verpflichtung an, sich mit den Normen und der Spruchpraxis der ILO auseinanderzusetzen,834 behält sich aber vor, sie nicht zu übernehmen, sofern ihn die normative Aussage und ihre Begründung inhaltlich nicht überzeugt. Es ist Katerndahl zuzustimmen, der in Auslegung der Entscheidungen des EGMR zum Recht auf Tarifverhandlung und Streik folgert: „,Berücksichtigen‘ bedeutet jedenfalls mehr als ,ignorieren‘, aber auch deutlich weniger als ,befolgen‘ beziehungsweise ,übernehmen‘“.835 b) Rezeption von ILO-Spruchpraxis durch den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte Der EGMR ist nicht das einzige internationale Gericht, das bei seiner Tätigkeit Schlussfolgerungen der Ausschüsse der ILO zur Entscheidungsfindung heranzieht. Ein weiteres Beispiel bildet der IAGMR, der in einer Reihe seiner Entscheidungen auf die Berichte des Sachverständigenausschusses und die Bemerkungen des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit zurückgriff.836 Der IAGMR überwacht die Einhaltung der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (AMRK),837 welche er unter Verweis auf Art. 31 Abs. 2 und Abs. 3 WVK evolutiv-völkerrechtsfreundlich auslegt.838 Ein wichtiges Beispiel der Berücksichtigung von Spruchpraxis der Überwachungsausschüsse der ILO durch den IAGMR bildet die Entscheidung Baena Ri-

833 So Steinbeis zu BVerfG v. 15. Dezember 2015 – 2 BvL 1/12, auf verfassungsblog.de v. 12. Februar 2016, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/voelkerrechtsfreundlich-heisstnicht-unbedingt-voelkerrechtstreu/. 834 EGMR v. 12. November 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara), Rn. 85. 835 Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik als Menschenrechte, S. 218 und S. 135; ähnlich Buchholtz, in: Schlachter/Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht, § 10, Rn. 33 mit Hinweis auf Schwierigkeiten bei der Umsetzung im Einzelfall bei widerstreitenden Wertungen. 836 Ebert/Oelz, Bridging the gap between labour rights and human rights, S. 6 m. w. N.; Zabalza, Principle of Systemic Integration, S. 104 f. Auch die Spruchpraxis der UN-Ausschüsse wird durch den IAGMR rezipiert, vgl. etwa IAGMR v. 26. September 2006 – Vargas-Areco/ Paraguay, Series C no. 155, Rn. 100 zur Rekrutierung von Kindersoldaten mit Verweisen auf Spruchpraxis des UN-Menschenrechtsausschusses, durch die ein „Trend“ im Völkerrecht gezeigt werden sollte, zufolge dessen die Einziehung von Minderjährigen in die Streitkräfte zu vermeiden sei und Soldaten unter 18 Jahren nicht direktem Feindkontakt ausgesetzt werden dürften. 837 Siehe zu den Verfahren Casal, ZaöRV 2008, 491, 500; Cançado-Trindade, ZaöRV 2010, 629, 655 ff. 838 IAGMR v. 1. Juli 2006 – Ituango Massacres/Kolumbien, Rn. 156. Dies geschieht unter expliziter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR.

E. Norminterpretation

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cardo aus dem Jahr 2001.839 In dieser wertet der IAGMR die Entlassung von 270 Regierungsangestellten wegen der Teilnahme an einer Demonstration für Arbeitnehmerrechte (und damit einhergehenden der Beteiligung an einem „Militärputsch“) als Verletzung der in Art. 16 AMRK garantierten Vereinigungsfreiheit.840 Zur Bestimmung der Reichweite von Art. 16 AMRK zog der IAGMR die ILO-Verfassung, Übereinkommen Nr. 87 und Nr. 98, Schlussfolgerungen des Sachverständigenausschusses zur gesetzlichen Grundlage für Entlassungen (die rückwirkend für diesen Fall erlassen wurden) sowie Empfehlungen des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit heran.841 Weitere Fälle der Berücksichtigung der Spruchpraxis der ILO-Ausschüsse bei der Bestimmung des Gewährleistungsgehalts von Art. 16 AMRK bilden die Fälle Huilca-Tecse und Cantoral-Huamaní and Garcia-Santa Cruz.842 In der Entscheidung Former Employees of the Judiciary v. Guatemala vom 28. September 2019 zieht der IAGMR Spruchpraxis der ILO-Ausschüsse nun auch zur Herleitung des Streikrechts aus Art. 26 AMRK heran.843 Laut der Analyse von Ebert/Oelz zog der IAGMR Normen der ILO und Schlussfolgerungen der Ausschüsse aus unterschiedlichen Beweggründen heran: Teilweise diente die Rezeption der Hervorhebung der Bedeutung und/oder der Universalität einer Bestimmung der AMRK beziehungsweise der Einordnung der eigenen Rechtsprechung in einen breiten internationalen Rahmen. In anderen Fällen wurde auf Bemerkungen des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit verwiesen, um die Korrektheit der behaupteten Tatsachen zu belegen. Eine dritte Gruppe bildet die Rezeption zur Auslegung der Bestimmungen der AMRK.844 Ein aktuelleres Beispiel der dritten Gruppe bildet das Gutachten über die „Stellung juristischer Personen im interamerikanischen Menschenrechtssystem“.845 In diesem legt der IAGMR Art. 1 Abs. 1 AMRK dahingehend aus, dass Gewerkschaften Rechte ihrer Mitglieder

839 IAGMR v. 2. Februar 2001 – Baena Ricardo ua./Panama, engl. Fassung abrufbar unter: http://compendium.itcilo.org/en/compendium-decisions/inter-american-court-of-human-rightsbaena-ricardo-and-others-v.-panama-2-february-2001#2; ebenfalls beachtenswert ist die Entscheidung Vargas Areco/Paraguay v. 26. September 2006, Series C, Case No. 155, in der in Rn. 120 bereits auf Art. 3 von Übk. Nr. 182 Bezug genommen worden. Engl. Fassung abrufbar unter: http://compendium.itcilo.org/en/compendium-decisions/inter-american-court-of-humanrights-vargas-areco-v-paraguay-26-september-2006-series-c-case-no-155. 840 IAGMR v. 2. Februar 2001 – Baena-Ricardo u. a./Panama, Rn. 1, 214. 841 Ibid., Rn. 162 und 163 ff.; vgl. auch Ebert/Oelz, Bridging the gap between labour rights and human rights, S. 5 f. 842 IAGMR v. 3. März 2005 – Huilca-Tecse/Peru; IAGMR v. 10. Juli 2007 – CantoralHuamaní u. Garcia-Santa Cruz/Peru, hierzu Ebert/Oelz, Bridging the gap between labour rights and human rights, S. 6. 843 IAGMR v. 28. September 2019 – Former Employees of the Judiciary/Guatemala, Rn. 79 f.; vgl. auch Rn. 87. 844 Ebert/Oelz, Bridging the gap between labour rights and human rights, S. 7. 845 IAGMR v. 26. Februar 2016 – Gutachten OC-22/16, Int. Labor Rights Case Law 2017, S. 29.

166

Teil 1: Die Normen der ILO

wahrnehmen können,846 während Unternehmen dieser Zugang verwehrt bleibt.847 Hierbei griff der Gerichtshof Art. 3 Abs. 1 und Abs. 2 Übereinkommen Nr. 87 sowie Spruchpraxis des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit auf.848 Ein Beispiel für eine illustrative Rezeption von ILO-Normen bildet die aufsehenerregenden Lagos-delCampo-Entscheidung, in welcher der IAGMR erstmals die direkte Justiziabilität wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte nach Art. 26 AMRK anerkannte.849 Geklagt hatte ein Gewerkschaftsführer auf Verletzung seines Rechts auf Arbeit, freie Meinungsäußerung und ein faires Verfahren. Der IAGMR nahm zudem die Verletzung eines Rechts auf Beschäftigungsstabilität (estabilidad laboral) an.850 Zur Veranschaulichung (a manera ilustrativa) dieses Rechts greift der IAGMR Übereinkommen Nr. 158 sowie Empfehlung Nr. 143 auf.851 Ebert/Fabricius weisen in diesem Kontext darauf hin, dass nur zwei Vertragsparteien der AMRK Übereinkommen Nr. 158 ratifiziert hatten.852 In der vorsichtigen Formulierung des IAGMR kann eine gewisse Orientierung am Mehrheitserfordernis des EGMR853 gesehen werden. Auch die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte griff bei der Auslegung der AMRK bereits auf Normen der ILO zurück. So wurde etwa im Verfahren J.S.C.H. und M.G.S./Mexiko unter Rezeption von Empfehlung Nr. 200854 eine Kündigung wegen einer HIV-Infektion durch das mexikanische Heer als Verstoß gegen Art. 24 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 der AMRK gewertet.855

846

Vgl. Anm. Cornell, Int. Labor Rights Case Law 2017, 39, 44. Vgl. IAGMR – Gutachten OC-22/16 v. 26. Februar 2016, Int. Labor Rights Case Law 2017, S. 29. 848 Vgl. ibid., Rn. 101 ff. 849 Vgl. Ebert/Fabricius, „Die neue WSK-Rechtsprechung des IAGMR: Impulse für Arbeitnehmerrechte in Lateinamerika“, Völkerrechtsblog v. 2. November 2018, abrufbar unter: https://voelkerrechtsblog.org/die-neue-wsk-rechtsprechung-des-iagmr/. 850 Ibid. 851 IAGMR v. 31. August 2017 – 12.795 (Lagos del Campo/Peru), abrufbar unter: https:// www.escr-net.org/sites/default/files/caselaw/full_judgment_caso_lagos_del_campo.pdf, Rn. 158. 852 Ebert/Fabricius, „Die neue WSK-Rechtsprechung des IAGMR: Impulse für Arbeitnehmerrechte in Lateinamerika“, Völkerrechtsblog v. 2. November 2018, abrufbar unter: https://voelkerrechtsblog.org/die-neue-wsk-rechtsprechung-des-iagmr/. 853 Hierzu unter Teil 1 E. II. 9. a) bb) (2). 854 Interamerikanische Kommission für Menschenrechte v. 28. Oktober 2015 – 12.689, Report Nr. 80/15, Int. Labor Rights Case Law 2016, 227, Rn. 112 f. § 10 Empfehlung Nr. 200 sieht vor, dass eine tats. oder angenommene HIV-Infektion kein Grund für Diskriminierung bei der Einstellung oder Weiterbeschäftigung im Sinne von Übk. Nr. 111 darstellen soll. 855 Interamerikanische Kommission für Menschenrechte v. 28. Oktober 2015 – 12.689, Report Nr. 80/15, International Labour Rights Case Law 2016, 227, Rn. 114, vgl. zur Rezeption auch Anm. Aeberhard-Hodges, S. 233, 237. 847

E. Norminterpretation

167

c) Rezeption durch nationale (Verfassungs-)Gerichte Eine Vielzahl nationaler Verfassungsgerichte und Gerichte aller Instanzen haben Übereinkommen und Empfehlungen sowie Schlussfolgerungen der ILO-Überwachungsausschüsse rezipiert.856 Zwei Beispiele sind besonders erwähnenswert: Sowohl der Oberste Gerichtshof Kanadas als auch das südafrikanische Verfassungsgericht räumen in ihren Entscheidungen der Spruchpraxis einen hohen Stellenwert ein. In Entscheidungen deutscher Gerichte ist eine Auseinandersetzung mit der Spruchpraxis der Ausschüsse hingegen nur äußerst selten auszumachen.857 aa) Rezeption der Spruchpraxis durch den kanadischen Obersten Gerichtshof In der Entscheidung Saskatchewan FOL erkannte der kanadische Oberste Gerichtshof 2015 das Streikrecht als ein durch die Vereinigungsfreiheit im Sinne von Art. 2 der kanadischen Charta umfasstes Recht an.858 Diese Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung begründete der Gerichtshof unter anderem mit einem Verweis auf Übereinkommen Nr. 87 und Spruchpraxis des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit.859 Obwohl der Kanadische Oberste Gerichtshof davon ausgeht, dass die Spruchpraxis rechtlich nicht „streng“ bindend sei (not stricly binding),860 habe sie ein hohes Überzeugungspotential (considerable persuasive weight), welches sich auch in der weltweiten Berücksichtigung der Bemerkungen widerspiegele.861

856 Eine (scheinbar nur bis 2014 aktualisierte) Übersicht findet sich auf der Homepage des ILO Training Centers in Turin, siehe: http://compendium.itcilo.org/en/decisions-by-subject. 857 Siehe etwa BVerfG v. 11. Juli 2017 – 1 BvR 1571/15 u. a., NJW 2017, 2523, Rn. 209 (wenig überzeugend wegen der Außerachtlassung „einschlägigerer“ Spruchpraxis); BVerfG v. 12. Juni 2018 – 2 BvR 1738/12, u. a., NJW 2018, 2695, (implizit) in Rn. 165; zur Entwicklung zunehmender Einschränkungen des Streikrechts staatlicher Bediensteter Novitz, CLLPJ 2017, 353, 367 ff. 858 Supreme Court of Canada v. 30. Januar 2015 – 2015 SCC 4, International Labour Rights Case Law 2015, 177 m. Anm. Sack; deutschsprachige Zusammenfassung in AuR 2018, S. 194 ff, S. 160 m. Anm. Coiquad/Coutu; vgl. auch Novitz, AuR 2017, 324, 327; Novitz, CLLPJ 2017, 353, 364 f.; Servais, SR 2017, 45, 48; Servais, CLLPJ 2017, 375, 380; Vogt, CLLPJ 2017, 537, 542; zu früheren Anerkennung der Vereinigungsfreiheit und des Rechts auf Tarifverhandlungen: Bogg/Ewing, CLLPJ 2012, 379; Waas, AVR 2019, 123, 149 f. 859 Supreme Court of Canada v. 30. Januar 2015 – 2015 SCC 4, International Labour Rights Case Law 2015, 177, vgl. Coiquad/Coutu, AuR 2018, S. 160, 161. 860 Ibid., Rn. 67. 861 Ibid., Rn. 67; s. a. Bercusson, in: Müntefering/Becker, 50 Jahre Rechtsprechung des EuGH zum Arbeits- und Sozialrecht, S. 41, 54 ff. Zu der Entscheidung des Obersten Gerichtshof in der Rechtssache Nevsun Resources Ltd v Araya, 2020 SCC 5 siehe Hughes Jennett/ Parcasio, „Corporate civil liability for breaches of customary international law: Supreme Court of Canada opens door to common law claims in Nevsun v Araya“, EJIL Talk! v. 29. März 2020, abrufbar unter: https://www.ejiltalk.org/corporate-civil-liability-for-breaches-of-customary-in ternational-law-supreme-court-of-canada-opens-door-to-common-law-claims-in-nevsun-varaya.

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Teil 1: Die Normen der ILO

bb) Rezeption der Spruchpraxis durch das Südafrikanische Verfassungsgericht am Beispiel der Tarifeinheit Das Südafrikanische Verfassungsgericht berücksichtigt im Rahmen der Verfassungsauslegung sowohl Übereinkommen der ILO auch als auch Schlussfolgerungen der Überwachungsausschüsse.862 Die Rezeption wird dadurch erleichtert, dass sowohl die Verfassung als auch das einfachgesetzliche Recht eine solche Berücksichtigung ermöglichen und nahelegen.863 Ein aktuelles Beispiel der Rezeption der Spruchpraxis der Ausschüsse der ILO findet sich in den Entscheidungen südafrikanischer Gerichte zu Fragen der Tarifeinheit. Zwar setzen die Übereinkommen Nr. 87 und Nr. 98 keine konkreten Vorgaben hinsichtlich nationaler Regelungen zur Tarifeinheit, sie schließen entsprechende Regelungen aber auch nicht aus, wie aus Art. 4 Übereinkommen Nr. 98 hervorgeht und durch § 3 Empfehlung Nr. 163 bestätigt wird. Die Spruchpraxis des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit864 sowie des Sachverständigenausschusses865 ist entsprechend offen gegenüber gesetzlich vorgeschriebener Tarifverdrängung bei Kollision. Es ergeben sich allerdings gewisse Voraussetzungen, die bei der staatlichen Regulierung der Verdrängung (etwa hinsichtlich der Frage der Bestimmung der Repräsentativität und der Gestaltung der Rechte von Minderheitsgewerkschaften) zu beachten sind.866 In mehreren Entscheidungen orientierte sich das Südafrikanische Verfassungsgericht an dieser Spruchpraxis. In der Entscheidung NUMSA/Bader-Pop nahm das Verfassungsgericht an, dass das Mehrheitsprinzip als Grundlage der Berechtigung zum Abschluss von Tarifverträgen keine Verletzung der Rechte von Minderheitengewerkschaften darstelle, sofern diese frei seien, sich zu organisieren, „organisatorische“ Rechte867 geltend zu machen und die Mehrheit im workplace erlangen 862 Hofmann, Internationale Sozialstandards im nationalen Recht, S. 205 f. mit Verweis auf Constitutional Court of South Africa v. 6. Juni 1995 – CCT 3/94 (S v Makwanyane & another), 1995 ZACC 3 Rn. 35 (obiter dictum); siehe auch Waas, AVR 2019, 123, 149. 863 Siehe zum Einfluss internationaler Sozialstandards auf die Verfassung und einfachgesetzliche Regelungen in Südafrika: Hofmann, Internationale Sozialstandards im nationalen Recht, S. 175 ff., 189 ff. 864 IAA, Compilation of decisions of the CFA, Rn. 1350. 865 Die Vorgaben des Sachverständigenausschusses sind insoweit weniger konkret als jene des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit. Sie beschränken sich auf die Feststellung, dass Tarifverhandlungssysteme, die der repräsentativsten Gewerkschaft ausschließliche Rechte gewähren, als auch Systeme, nach denen mehrere Gewerkschaften eines Unternehmens oder einer Verhandlungseinheit unterschiedliche Tarifverträge abschließen können, mit Übk. Nr. 98 vereinbar seien, IAA, IAK, 101st Session 2012, Report III (Part 1B), General Survey on the fundamental Conventions concerning rights at work in light of the ILO Declaration on Social Justice for a Fair Globalization, Rn. 225; s. a. Trebilcock, in: Ales/Bell/Deinert/Robin-Olivier, International and European Labour Law, C87/98/154, Rn. 60. 866 Hierzu IAA, Compilation of decisions of the CFA, Rn. 1359 ff.; Rn. 1387 ff. 867 Diese werden in § 12 – 15 Labour Relations Act näher bestimmt und umfassen etwa Zugangsrechte und Freistellungsansprüche von Gewerkschaftsvertretern.

F. Fazit zu Teil 1

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können.868 Die Durchsetzung der organisatorischen Rechte könne auch durch Streiks erfolgen. Die Rechtfertigung der Notwendigkeit, die Mehrheit der Arbeitnehmer in einem workplace zu vertreten, wurde mit zahlreichen Bezugnahmen auf die Spruchpraxis der ILO-Überwachungsausschüsse untermauert.869 In der Entscheidung AMCU/Chambers of Mines of South Africa870 über die Erstreckung eines Tarifvertrags auf Arbeitsverhältnisse von Arbeitnehmern, die nicht der Mehrheitsgewerkschaft angehören und zu Einschränkungen des Streikrecht einer (Minderheits-)Gewerkschaft stellte das Verfassungsgericht heraus, der Eingriff in die Vereinigungsfreiheit und das Streikrecht sei durch das Mehrheitsprinzip als Grundlage eines funktionierenden Tarifvertragssystems gerechtfertigt. Der Beitrag des Mehrheitsprinzips („angemessene“ (adequate) oder „ausreichende“ (sufficient) Repräsentativität) zur Förderung von Tarifverhandlungen sei international anerkannt. Hierfür rezipiert das Verfassungsgericht Spruchpraxis des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit.871 Auch in jüngeren Entscheidungen über die Tarifeinheit wird die Spruchpraxis der Ausschüsse der ILO regelmäßig berücksichtigt.872

F. Fazit zu Teil 1 Die ILO verabschiedet aus zwei zentralen Motiven Normen: Aus wertepolitischen, altruistischen Erwägungen, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Beschäftigten weltweit zu verbessern, und aus realpolitische Erwägungen, durch die Errichtung internationaler Mindeststandards bei der Verbesserung der Arbeitsbedingungen auf nationaler Ebene Wettbewerbsnachteile gegenüber anderen Staaten abzuschwächen. Die Normen der ILO beinhalten ein breites Regelwerk zu nahezu sämtlichen Aspekten des Arbeitsrechts. Hierbei sollte man sich angesichts der häufig offenen Formulierungen nicht täuschen lassen. Die Zubilligung von Flexibilität bei 868 Constitutional Court of South Africa v. 13. Dezember 2002 – CCT14/02 (NUMSA & others v Bader Bop and another), 2002 ZACC 30, Rn. 31 ff. 869 Ibid., Rn. 29 – 36. 870 Constitutional Court of South Africa v. 21. Februar 2017 – CCT 87/16 ZACC3 (AMCU & others v. Chambers of Mines of SA & others), 2017 ZACC 3; zu den Hintergründen des Verfahrens du Toit, Anm. zu Constitutional Court of South Africa v. 21. Februar 2017 – CCT 87/ 16 ZACC3, Int. Labor Rights Case Law 2017, 297, 297 f.; siehe zur Rezeption von ILOSpruchpraxis durch den Labour Court in der ersten Instanz: Anm. Smit zu Labour Court of South Africa v. 23. Juni 2014 – J99/14 (Chamber of Mines of South Africa v. AMCU & others), Int. Labor Rights Case Law 2015, S. 196, 199. 871 Constitutional Court of South Africa v. 21. Februar 2017 – CCT 87/16 (AMCU & others v. Chambers of Mines of SA & others), 2017 ZACC 3, Rn. 56. 872 Constitutional Court of South Africa v. 23. August 2018 – CCT 152/17 (POPCRU v. SACOSWU & others), abrufbar unter: http://www.saflii.org/za/cases/ZACC/2018/24.pdf, Rn. 88 ff.; vgl. zu Rechten der Minderheitsgewerkschaften auch Labour Court of South Africa v. 10. Mai 2017 – J 949/17 (SOC v. SACCA & others), abrufbar unter: http://www.saflii.org/za/ cases/ZALCJHB/2017/158.pdf.

170

Teil 1: Die Normen der ILO

der Umsetzung der Übereinkommen bedeutet nicht, dass die Übereinkommen keine konkreten Inhalte hätten. Dies wird schon mit Blick auf die zahlreichen Schlussfolgerungen der Überwachungsausschüsse deutlich, die in vielen Fragen zu normkonkretisierender „Spruchpraxis“ geführt haben. Die Spruchpraxis ist rechtlich zwar nicht generell-verbindlich, wird allerdings aufgrund ihres hohen Grads an Überzeugungskraft von vielen internationalen und nationalen Gerichten bei der Auslegung der Übereinkommen berücksichtigt. Zu diesen zählen neben dem EGMR und dem IAGMR etwa das Verfassungsgericht Südafrikas und der Kanadische Oberste Gerichtshof. Die Unverbindlichkeit erga omnes bedeutet auch nicht, dass die Feststellung der Verletzung eines Übereinkommens durch einen Mitgliedstaat unbedeutend wäre. Bemerkungen, etwa eine double footnote des Sachverständigenausschusses, erzeugen für den betroffenen Mitgliedstaat Pflichten, zu seinem übereinkommenswidrigen Verhalten Stellung zu nehmen und das Verhalten einzustellen.

Teil 2

Kollidierende Vorgaben des ILO- und Unionsrechts Legt man zugrunde, dass ein beträchtlicher Teil der arbeitsrechtlichen Vorschriften der EU-Mitgliedstaaten durch Unionsrecht (teil-)harmonisiert wurde, überrascht es nicht, dass sich zwischen den Normen der ILO und den Normen der EU zahlreiche Überschneidungen ergeben.1 Problematisch wird dies dort, wo den Mitgliedstaaten von Seiten der EU Vorgaben gemacht werden, die nicht mit den Vorgaben der ratifizierten Übereinkommen der ILO in Einklang zu bringen sind. Daher sollen im Folgenden zunächst jene Sachverhalte vorgestellt werden, welche vorhandene Inkompabilitäten der völker- und unionsrechtlichen Ebenen besonders eindrucksvoll zeigen. Bevor sich diesen Widersprüchen im Detail zugewandt wird, sei jedoch auf folgende drei Begebenheiten hingewiesen: Erstens ist zu beachten, dass die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU nicht selbst durch die ILO-Ausschüsse2 überwacht werden. Ihr Mandat verpflichtet und ermächtigt die Ausschüsse der ILO allein zur Überwachung der Einhaltung der Übereinkommen durch die Mitgliedstaaten, sodass Konflikte zwischen ILO- und Unionsrecht lediglich dann zu Tage treten können, wenn ein Mitgliedstaat unionsrechtliche Vorgaben umsetzt. Zweitens stellt sich die Frage, ob sich ein Mitgliedstaaten der ILO gegenüber den Ausschüssen durch einen Hinweis „exkulpieren“ kann, dass er lediglich supranationale Vorgaben umsetze und auf der unionsrechtlichen Ebene bereits eine Rechtskontrolle stattfinde, welche (auch) den Maßstäben der Übereinkommen der ILO genüge. Die Ausschüsse der ILO lehnen dies anders als etwa der EGMR ab. Dieser stellte im Urteil Bosphorus die Vermutung auf, dass ein Staat bei der Umsetzung rechtlicher Verpflichtungen, die sich aus seiner Mitgliedschaft in einer internationalen Organisation (wie der EU) ergeben, seine Pflichten aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht verletzt hat.3 1

Zu den Überschneidungen der Politiken der EU und ILO Pastore/Gausˇas/Styczyn´ska, EU and ILO: Shaping the Future of Work, S. 31 ff. 2 Hierzu unter Teil 1 D. 3 Hierfür müssen zwei Voraussetzungen gegeben sein: Erstens dürfe der Staat über kein Ermessen hinsichtlich der Umsetzung dieser Verpflichtung verfügen und die internationale Organisation müsse die Grundrechte in einer der EMRK äquivalenter Weise schützen, wobei unter „äquivalent“ nicht „identisch“, sondern „vergleichbar“ bedeute, vgl. EGMR v. 30. Juni 2005 – 45036/98 (Bosphorus), Rn. 155 ff.; Spielmann, IWRZ 2017, 147, 149; es sei aber darauf hingewiesen, dass zur Widerlegung der Vermutungsregel der EGMR – im Unterschied zum BVerfG in seiner Solange-Formel – nicht den nur schwer zu erbringenden Nachweis eines

172

Teil 2: Kollidierende Vorgaben des ILO- und Unionsrechts

Drittens ist festzustellen, dass sich die Ausschüsse der ILO des Einflusses des Unionsrechts sowie der Entscheidungen des EuGH auf die nationale Rechtslage bewusst sind. Sie erwähnen EU-Rechtsakte und EuGH-Entscheidungen teilweise sogar explizit.4 So kritisiert der Sachverständigenausschuss insbesondere die EuGHEntscheidungen Laval und Viking Line offen.5 Das Vorgehen der ILO-Ausschüsse ist unter allen drei Gesichtspunkten mit der Herangehensweise des Europäischen Ausschusses für soziale Rechte vergleichbar. Auch dieser hatte in der Vergangenheit Fälle zu entscheiden, die einen klaren Bezug zum Unionsrecht aufwiesen.6 Anders als der EGMR lehnt der Ausschuss für soziale Rechte trotz der Verbindlichkeit der Charta der Grundrechte der EU gegenwärtig eine entsprechende Rechtmäßigkeitsvermutung ab.7 In seinen Schlussfolgerungen zur Beschwerde der Confédération générale du travail (CGT) gegen Frankreich 55/2009 führte der Ausschuss für soziale Rechte aus, dass er weder befugt sei, die Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit der supranationalen Richtlinie noch die Vereinbarkeit der Richtlinie mit der Europäischen Sozialcharta zu prüfen, sondern lediglich die Vereinbarkeit der nationalen Rechtslage mit der Europäischen Sozialcharta (ESC) zu bewerten, unabhängig davon, ob diese der Umsetzung der Richtlinie diente.8 Diese Sichtweise des Ausschusses für soziale Rechte ist auch für die ILOAusschüsse in Bezug auf das Verhältnis zwischen ILO-, Unions- und nationalem Recht maßgeblich, wie folgende Beispiele zeigen sollen.

generellen Schutzdefizits, sondern nur den Nachweis fordert, dass der Schutz von Konventionsrechten durch den EuGH in einem bestimmten Einzelfall offensichtlich unzureichend (manifestly deficient) ist; s. a. Ludwigs/Sikora, JuS 2017, 385, 392; Schubert, in: FS Evju, S. 580, 582 ff. Die in Bosphorus gewählte Linie hat inzwischen in der Entscheidung Avontins gegen Lettland eine Nuancierung erfahren, die künftige Überprüfungen von Umsetzungsakten der EU-Mitgliedstaaten wieder wahrscheinlicher hat werden lassen, vgl. EGMR v. 23. Mai 2016 – 17502/07 (Avotins); Spielmann, IWRZ 2017, 147, 149. 4 Anders Rocca, ELLJ 2016, 52, 47 f., der davon spricht, dass die ILO-Ausschüsse den Hintergrund des EU-Rechts ignorieren würden. 5 Zur Rüffert-Entscheidung unter Teil 4 F. II. 5. b). 6 Hierzu Schubert, in: FS Evju, S. 580, 584 ff. 7 Europäischer Ausschuss für soziale Rechte (ECSR), Entscheidung v. 3. Juli 2013 – Kollektivbeschwerde 85/2012 (LO/TCO), Rn. 74, angenommen vom Ministerkommitee des Europarates am 5. Februar 2014; hierzu Busby/Zahn, in: Brodie/Busby/Zahn, The Future Regulation of Work, S. 136 f.; ebenso bereits in der Entscheidung v. 23. Juni 2010 – Kollektivbeschwerde 55/2009 (CGT), Rn. 33 – 38; vgl. auch ECSR, Schlussfolgerungen (conclusions) XX-3, Sweden. 8 ECSR, Entscheidung v. 23. Juni 2010 – Kollektivbeschwerde 55/2009 (CGT), Rn. 33.

A. Laval- und Viking-Line-Entscheidungen

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A. Laval- und Viking-Line-Entscheidungen Trotz der europäischen Einigung besteht unter den EU-Mitgliedstaaten nach wie vor ein großes Gefälle hinsichtlich des durchschnittlichen mittleren Einkommens.9 Für ein Unternehmen in einem Mitgliedstaat mit durchschnittlich hohen Lohnkosten kann dies zur Entscheidung führen, seinen Standort in einen Mitgliedstaat mit niedrigerem Einkommen – und somit auch durchschnittlich niedrigeren Lohnkosten – zu verlagern, während Unternehmen aus Ländern mit Niedriglöhnen diesen Kostenvorteil zum Gewinn von Aufträgen in Ländern mit einem höheren Lohnniveau nutzen möchten.10 Beide Handlungsweisen sind durch die Grundfreiheiten geschützt (Niederlassungsfreiheit, Art. 49 AEUV; Dienstleistungsfreiheit, Art. 56 AEUV). Sowohl die Standortverlagerung als auch die Erbringung von Dienstleistungen durch EU-ausländische Unternehmen mit eigenen Arbeitnehmern haben aber nicht selten Auswirkungen zu Lasten von Arbeitnehmern in Ländern mit hohem Lohnniveau. Ohne gewisse Begrenzungen der Grundfreiheiten hätten Länder mit hohem Lohnniveau nur die Möglichkeit, ihre Standards zu senken, um kompetitiv zu bleiben. Ergebnis wäre ein „race to the bottom“ bei den Arbeitsstandards der Mitgliedstaaten. Um ihre Systeme zu schützen, versuch(t)en diese Länder daher häufig, ihre Arbeitsmärkte mittels anderer „protektionistischer“ Vorgehensweisen vor den negativen Auswirkungen für ihre Arbeitnehmer zu schützen.11

I. Die Entscheidungen Ein Kompromiss zwischen den gewünschten Effekten des Wettbewerbs in einem gemeinsamen Binnenmarkt und dem Schutz der nationalen arbeitsrechtlichen Bestimmungen findet sich in der (jüngst wider Erwarten reformierten) EntsendeRL 96/ 71/EG,12 nach der spezifische Arbeitsbedingungen auf entsendete Arbeitnehmer aus Niedriglohnländern Anwendung finden, während sie Tätigkeiten in anderen Mitgliedstaaten erbringen.13 1. Das Nordische Korporatismus-Modell Die (bis zur jüngsten Anpassung sektoral begrenzte) Richtlinie sieht vor, dass bestimmte durch Rechts- und Verwaltungsvorschriften und „durch für allgemein 9

Siehe Lübker/Schulten, WSI-Mitteilungen 2018, 401. Davies, EU Labour Law, S. 91. 11 Vgl. ibid. 12 Richtlinie 96/71/EG des Europ. Parlaments und des Rates v. 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, (ABl. 1997 L 18, 1), geändert durch Art. 1 ÄndRL (EU) 2018/957 v. 28. Juni 2018 (ABl. 2018 L 173, 16). 13 Vgl. Davies, EU Labour Law, S. 95. 10

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Teil 2: Kollidierende Vorgaben des ILO- und Unionsrechts

verbindlich erklärte Tarifverträge“ Bestimmungen eines Mitgliedstaates auf entsendete Arbeitnehmer Anwendung finden, so etwa die Höchstarbeitszeiten und (bis vor der Reform „nur“) Mindestlohnsätze (nun: „Entlohnung“) einschließlich der Überstundensätze.14 Als „für allgemein verbindlich erklärten Tarifverträge“ definiert die Richtlinie zunächst solche, „die von allen in den jeweiligen geographischen Bereich fallenden und die betreffende Tätigkeit oder das betreffende Gewerbe ausübenden Unternehmen einzuhalten sind“.15 Aus deutscher Perspektive ergibt sich hier kein Umsetzungsproblem, da das deutsche System bereits die Allgemeinverbindlicherklärung vorsieht (§ 5 TVG, § 7 AEntG). Völlig anders verhält es sich hingegen hinsichtlich der Systeme des sogenannten „nordischen Modells“ in Dänemark und Schweden, in denen es praktisch nicht erforderlich ist, dass ein bestimmter Tarifvertrag hoheitlich für allgemeinverbindlich erklärt wird.16 In diesen Ländern findet der normative Teil eines einschlägigen Tarifvertrags in einem Betrieb eines tarifgebundenen Arbeitgebers entsprechende Anwendung gegenüber Außenseitern, wenn auf diese nicht bereits ein anderer Tarifvertrag Anwendung findet.17 Die Gewerkschaften sichern das Lohnniveau, indem sie versuchen, Arbeitgeber, die keiner Arbeitgeberorganisation angehören (und somit nicht als Mitglieder an einen Tarifvertrag gebunden sind), etwa durch Arbeitskampfmaßnahmen wie Boykotte zum Abschluss von Nebenabsprachen zu zwingen, in denen sich der Arbeitgeber verpflichtet, den einschlägigen Tarifvertrag anzuwenden.18 Da dieses System sehr erfolgreich ist und nahezu alle Arbeitgeber tarifgebunden sind, wird in diesen Ländern ein System zur hoheitlichen Allgemeinverbindlicherklärung schlicht nicht benötigt. Für diese Länder sieht die Richtlinie in Art. 3 Abs. 8 UAbs. 2 RL 96/71/EG zwei weitere Möglichkeiten vor, die Inhalte der (auf alle inländischen Arbeitnehmer im Geltungsbereich anwendbaren) Tarifverträge auf entsendete Arbeitnehmer anzuwenden. Beide Möglichkeiten sind an das Kriterium gebunden, dass für Unternehmen eine Gleichbehandlung hinsichtlich der von Art. 3 Abs. 1 RL 96/71/EG erfassten Bedingungen gegenüber inländischen Unternehmen, die sich in einer vergleichbaren Lage befinden, gewährleistet wird.19 Vor der Laval-Entscheidung hatte allerdings keines der beiden Länder von den Optionen des Art. 3 Abs. 8 UAbs. 2 RL 96/71/EG Gebrauch gemacht.20 In Schweden existiert aufgrund des oben beschrie14

Art. 3 Abs. 1 RL 96/71/EG a. F. Art. 3 Abs. 8 UAbs. 1 RL 96/71/EG. 16 Rebhahn/Windisch-Graetz, in: Franzen/Gallner/Oetker, RL 96/71/EG, Art. 3, Rn. 10; Malmberg/Sigeman, CMLR 2008, 1115, 1117. 17 Evju, EuZA 2010, 48, 53; im Detail: Malmberg/Sigeman, CMLR 2008, 1115, 1117; s. a. Rebhahn, EuZA 2010, 62, 81. 18 Malmberg/Sigeman, CMLR 2008, 1115, 1117. 19 Art. 3 Abs. 8 UAbs. 2 RL 96/71/EG. 20 Malmberg/Sigeman, CMLR 2008, 1115, 1135; zu Schweden EuGH v. 18. Dezember 2007 – C-341/05 (Laval), Rn. 67; Kempen, in: GS Zachert, S. 15, 24; vgl. auch Heuschmid/ Schierle, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, Rn. 16.179 ff., die davon ausgehen, dass 15

A. Laval- und Viking-Line-Entscheidungen

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benen Systems etwa schon kein gesetzlicher Mindestlohn. Die Löhne wurden auch nicht auf nationaler oder regionaler Ebene, sondern traditionell durch Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und einzelnen Arbeitgebern auf betrieblicher Ebene festgelegt.21 Im Ergebnis bedeutete dies aber, dass eine Gewerkschaft, die die Interessen der Arbeitnehmer in Schweden oder Dänemark vertritt, mit dem ausländische Unternehmen in Verhandlungen über die Mindestbedingungen tritt, zu denen dessen entsendete Arbeitnehmer eingesetzt werden dürfen. Für ausländische Tarifverträge sah das schwedische System zudem eine weitere Besonderheit vor. Wie erwähnt, findet der normative Teil eines einschlägigen Tarifvertrags in einem Betrieb eines tarifgebundenen Arbeitgebers entsprechende Anwendung gegenüber den Außenseitern, wenn nicht mehrere Tarifverträge einschlägig sind. Das schwedische Recht sah vor, dass das Verbot von Arbeitskampfmaßnahmen, welche die Ersetzung bestehender Tarifverträge zum Ziel haben,22 im Falle bestehender ausländischer Tarifverträge nicht zur Anwendung komme (sogenanntes „Lex Britannia“).23 2. Der Laval-Sachverhalt Mit Inkrafttreten der EU-Osterweiterung am 1. Mai 2004 war es Unternehmen aus dem Baltikum möglich geworden, unter dem Schutz der Dienstleistungsfreiheit ihre Leistungen auf dem gesamten EU-Binnenmarkt anzubieten. Das lettische Bauunternehmen Laval un Partneri Ltd. („Laval“) erhielt den Zuschlag für mehrere (staatliche)24 Bauprojekte in Schweden. Die Arbeiten wurden durch ein in Schweden eingetragenes Tochterunternehmen von Laval, L&P Baltic, ausgeführt. Hierzu überließ Laval dieser ihre Arbeitnehmer.25 Sich anschließende Verhandlungen der schwedische Gewerkschaft Byggnads mit L&P Baltic mit dem Ziel einen Tarifvertrag abzuschließen, welcher das Tochterunternehmen zur Zahlung des Durchschnittslohns im Gebiet der Bauarbeiten ver-

es nicht klar war, dass die vom EuGH zugrunde gelegte Auslegung von Art. 3 Abs. 8 UAbs. 2 RL 96/71/EG vorhersehbar war und für Dänemark eine Überraschung darstellte. 21 Davies, EU Labour Law, S. 96; kritisch zu diesem Modell vor dem Hintergrund des Wettbewerbs zwischen Niedrig- und Hochlohnländern: Temming, ZESAR 2008, 231, 236. 22 Dieses Verbot unterscheidet sich von der deutschen Friedenspflicht dahingehend, dass auch Gewerkschaft, die nicht an den Tarifvertrag gebunden waren, zum Arbeitskampf aufrufen dürfen, vgl. Malmberg/Sigeman, CMLR 2008, 1115, 1124. 23 Malmberg/Sigeman, CMLR 2008, 1115, 1125: „lex britannia“ spielt auf den Boykott eines Schiffes mit dem Namen Britannia unter zypriotischer Falle mit geltendem philippinischem Tarifvertrag an. 24 Zu sozialen Bedingungen bei Ausschreibungen siehe unter Teil 4 F. II. 5. a). Im Laval-Fall wurden soziale Kriterien allerdings wohl nicht von den Bewerbern gefordert. 25 EuGH v. 18. Dezember 2007 – C-341/05 (Laval), Rn. 27.

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pflichtet hätte, verliefen erfolglos.26 Daraufhin initiierte Byggnads eine Blockade der Baustelle, bei welcher den lettischen Arbeitnehmern der Zugang zur Baustelle verwehrt wurde. Zudem kündigten weitere schwedische Gewerkschaften den Boykott sämtlicher Baustellen, auf denen Laval in Schweden tätig war, an. Hierauf war Laval nicht mehr in der Lage, in Schweden Aufträge zu erfüllen. L&P Baltic wurde in der Folge für insolvent erklärt27 und Laval verlangte Schadensersatz von den beteiligten Gewerkschaften.28 Der angerufene schwedische Arbetsdomstol legte dem EuGH die Frage vor, ob es mit Art. 12 und Art. 49 EGV sowie der Richtlinie 96/71/EG vereinbar sei, dass Gewerkschaften mittels kollektiver Maßnahmen versuchen ein ausländisches Unternehmen, das Arbeitnehmer nach Schweden entsendet, zur Anwendung eines schwedischen Tarifvertrags zu zwingen, obwohl die dortigen Rechtsvorschriften keine ausdrücklichen Bestimmungen über die Anwendung von Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen in einem Tarifvertrag enthielten. Zudem wollte das Arbetsdomstol die Vereinbarkeit des Lex Britannia mit Unionsrecht überprüfen lassen.29 3. Der Viking-Line-Sachverhalt Der Viking-Line-Entscheidung lag kein entsenderechtlicher Sachverhalt zugrunde. Das finnische Unternehmen Viking Line betrieb mehrere Fährschiffe unter finnischer Flagge, deren Besatzungen Löhne nach Maßgabe eines finnischen Tarifvertrags erhielten.30 Aufgrund der Konkurrenz estnischer Schiffe, die auf derselben Linie mit geringeren Lohnkosten verkehrten, entschloss sich Viking Line kurz vor der Wirksamkeit des Beitritts Estlands zur EU dazu, das Schiff Rosella umzuflaggen und in Estland registrieren zu lassen, um einen neuen Tarifvertrag mit einer dortigen Gewerkschaft abschließen zu können.31 Die hierüber informierte International Transport Workers‘ Federation (ITF) wies alle Mitgliedsgewerkschaften an, mit Viking Line keine Verhandlungen zu führen.32 Nachdem der anwendbare finnische Tarifvertrag endete, kündigte die finnische Gewerkschaft für Seeleute FSU einen Streik an, wobei sie die Aufgabe des Umflaggungsvorhabens forderte33 und zunächst erreichte, dass Viking Line sich verpflichtete, das Umflaggungsverfahren 26

EuGH v. 18. Dezember 2007 – C-341/05 (Laval), Rn. 28 ff. Im schwedischen Bausektor werden die Löhne normalerweise für die jeweilige Baustelle abschlagsweise festgelegt. Die Sozialpartner können abweichend aber auch einen Stundenlohn festsetzen, vgl. Malmberg/ Sigeman, CMLR 2008, 1115, 1123. 27 Ibid., Rn. 37 f. 28 Ibid., Rn. 39. 29 Ibid., Rn. 40. 30 EuGH v. 11. Dezember 2007 – C-438/05 (Viking-Line), Rn. 6, Rn. 9. 31 Ibid., Rn. 9. 32 EuGH v. 11. Dezember 2007 – C-438/05 (Viking-Line), Rn. 12. 33 Ibid., Rn. 13 – 15.

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nicht vor dem 28. Februar 2005 einzuleiten.34 Nach Estlands Beitritt änderte Viking Line ihre Strategie und strebte erneut an, das Schiff unter estnischer Flagge zu registrieren.35 Um die Umflaggung realisieren zu können, ging Viking Line im August 2004 vor den englischen Gerichten gegen die Anweisung der ITF an ihre Mitgliedsgewerkschaften vor, keine Tarifverträge mit Viking Line abzuschließen zu dürfen.36 Nachdem das Gericht Viking Lines Antrag stattgegeben hatte, legte im Berufungsverfahren dem Court of Appeal (England und Wales) dem EuGH die Frage vor,37 ob Art. 43 EG (nun Art. 49 AEUV) auf den vorliegenden Sachverhalt anwendbar sei und falls dies der Fall sei, wie diese Bestimmung konkret ausgelegt werden solle.38 4. Begründung des EuGH Eine detaillierte Analyse der Urteile haben bereits andere vorgenommen.39 Im Folgenden sollen die Urteilsgründe daher nur wiedergegeben werden, soweit dies zur Einordnung der Kritik der ILO-Ausschüsse notwendig ist. Der EuGH nimmt nicht etwa in Anlehnung an die Albany-Entscheidung40 eine Bereichsausnahme für „echte gewerkschaftliche Aktivitäten“ an.41 Stattdessen geht er davon aus, dass Art. 43 und Art. 49 EGV (nun Art. 49 und Art. 56 AEUV) auch Gewerkschaften binden und kollektive Maßnahmen Beschränkungen der Grundfreiheiten darstellen können.42 Beschränkungen der Grundfreiheiten durch Gewerkschaften könnten allerdings durch das Grundrecht auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme gerechtfertigt sein. Dieses Grundrecht leitet der EuGH als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts unter anderem aus Übereinkommen

34

Ibid., Rn. 19. Ibid., Rn. 20 f. 36 Ibid., Rn. 21 f.; zum zu Grund liegenden englischen Recht: Barnard, NZA-Beil. 2011, 122, 122. 37 EuGH v. 11. Dezember 2007 – C-438/05 (Viking-Line), Rn. 23 f. 38 Ibid., Rn. 27. 39 Siehe etwa Barnard, in: Bogg/Costello/Davies, EU Labour Law, S. 337, 341 ff., die die zu Viking-Line und Laval erschienene englischsprachige Literatur analysiert. Ein Überblick zur deutschen Literatur bis 2014 finde sich bei Waas, in: Freedland/Prassl, Viking, Laval and Beyond, S. 155, 167 ff. 40 EuGH v. 21. September 1999 – C-67/06 (Albany), Rn. 52 – 64. 41 EuGH v. 11. Dezember 2007 – C-438/05 (Viking-Line), Rn. 26. 42 EuGH v. 18. Dezember 2007 – C-341/05 (Laval), Rn. 99; EuGH v. 11. Dezember 2007 – C-438/05 (Viking-Line), Rn. 37. Unklar ist, ob der EuGH eine allgemeine horizontale Anwendbarkeit der Grundfreiheiten annimmt oder die Grundsätze der Bosman-Entscheidung auf Gewerkschaften übertragen hat, vgl. Davies, EU Labour Law, S. 100; in der Interpretation zur ersten Auslegungsalternative tendieren: Ulber/Wiegandt, Die Bindung von Arbeitnehmervereinigungen an die europäischen Grundfreiheiten, S. 51 ff. 35

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Nr. 87 her,43 setzt dessen Grenzen allerdings äußerst eng. So muss eine kollektive Maßnahme zur Rechtfertigung der Beschränkung einer Grundfreiheit erstens ein berechtigtes und mit dem Vertrag zu vereinbarendes Ziel verfolgen, zweitens durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein und drittens muss die Beschränkung geeignet sein, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, darf aber nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziel erforderlich ist.44 In Beantwortung der Vorlagefrage bejahte der EuGH im Vorabentscheidungsverfahren Viking Line das Vorliegen der ersten Voraussetzung.45 Das Vorliegen der zweiten46 und dritten Voraussetzung sei durch das Vorlagegericht zu klären.47 In der Laval-Entscheidung sollte das Vorlagegericht ebenfalls anhand der Subsumption des zweiten und dritten Kriteriums die Zulässigkeit der Blockade- und Boykottmaßnahmen der schwedischen Gewerkschaften bewerten. Bei dieser Bewertung wurde den nationalen Gerichten durch die eng an Art. 3 RL 96/71/EG geknüpfte Auslegung der Grundfreiheiten äußerst wenig eigener Einschätzungsspielraum eingeräumt.48 Im Ergebnis war es den Gewerkschaften nur erlaubt, Mindestbestimmungen im Sinne des Art. 3 Abs. 1 RL 96/71/EG (also insbesondere nur „Mindestlohnsätze“) zu fordern.49 Die Lex-Britannia-Regelung des schwedischen Kollektivarbeitsrecht hielt der EuGH für unvereinbar mit der Dienstleistungsfreiheit.50 5. Auswirkungen der Entscheidungen Im Verfahren Viking Line erfolgte keine Entscheidung des Vorlagegerichts. Der Rechtsstreit wurde durch Vergleich beigelegt, dessen Inhalt einer Vertraulichkeitsklausel unterliegt.51 Im Laval-Fall fällte das Arbetsdomstolen hingegen knapp zwei

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EuGH v. 18. Dezember 2007 – C-341/05 (Laval), Rn. 90; EuGH v. 11. Dezember 2007 – C-438/05 (Viking-Line), Rn. 43; hierzu unter Teil 4 C. IV. 1. a). 44 EuGH v. 18. Dezember 2007 – C-341/05 (Laval), Rn. 101; EuGH v. 11. Dezember 2007 – C-438/05 (Viking-Line), Rn. 75. Zum Verhältnismäßigkeitsprinzp in den Entscheidungen Laval und Viking-Line etwa: Hös, ELLJ 2010, 236, 245. 45 EuGH v. 11. Dezember 2007 – C-438/05 (Viking-Line), Rn. 77. 46 Zu den Bedenken des EuGH, dass die Maßnahme von ITF möglicherweise nicht dem Schutz und der Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Seeleute diene Kocher, in: GS Zachert, S. 37, 47 f. 47 EuGH v. 11. Dezember 2007 – C-438/05 (Viking-Line), Rn. 80 – 85 und Rn. 86 – 89. 48 Skouris, RdA-Beil. 2009, 25, 29 weist darauf hin, dass der EuGH in Viking-Line dem nationalen Gericht aufgrund der Besonderheiten des Ausgangsfalls ein breiteres Ermessen als in der Rechtssache „zuerkannte“. 49 EuGH v. 18. Dezember 2007 – C-341/05 (Laval), Rn. 100 f. zu Art. 3 Abs. 7 siehe Rn. 80; zu Art. 3 Abs. 10 siehe EuGH v. 19. Juni 2008 – C-319/06 (Kommission/Luxemburg), Rn. 50. 50 EuGH v. 18. Dezember 2007 – C-341/05 (Laval), Rn. 120. 51 Malmberg, ELLJ 2012, 5, 6; Rocca, ELLJ 2016, 52, 64.

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Jahre nach der Entscheidung des EuGH ein Urteil.52 Entsprechend den genauen Vorgaben des EuGH konzentrierte man sich hierbei auf eine Übernahme der EuGHBegründung und die Frage des Vorliegens der Voraussetzungen und der Höhe eines Schadensersatzanspruches gegen die Gewerkschaften.53 Insgesamt wurden die Gewerkschaften zur Zahlung von umgerechnet etwa 55.000 Euro verurteilt,54 zu der allerdings noch Zahlungen von Zinsen (ungefähr 52.000 Euro) und Gerichts- und Anwaltskosten (ungefähr 230.000 Euro) hinzukamen.55 Im weiteren Verlauf wurden in die gesetzlichen Bestimmungen des schwedischen Mitbestimmungsgesetzes Lag om medbestämmande i arbetslivet und des Entsendegesetzes Utstationeringslagen Bestimmungen aufgenommen, nach denen Arbeitskampfmaßnahmen gegen ausländische Dienstleister verboten sind, sofern diese ihre Arbeitnehmer unter Einhaltung der entsenderechtlichen Mindestarbeitsbedingungen in Schweden einsetzen.56 Ebenso wurde ein Verfahren zur Bestimmung von Mindestlohnsätzen in – durch die Sozialpartner auf nationaler Ebene abgeschlossenen und allgemein angewandten – Tarifverträgen eingerichtet.57 Außerdem finden die Lex-Britannia-Bestimmungen seither keine Anwendungen mehr gegenüber im EWR-Raum ansässigen Arbeitgebern.58 Die Entscheidungen zeigten auch in anderen Mitgliedstaaten der EU und des EWR Auswirkungen.59 Hierzu zählt insbesondere der sogenannte BALPA-Fall, in dem die British Airways Pilots’ Association (BALPA) das Vorhaben von British Airways verhindern wollte, einen kostengünstigeren Standort in Paris für im Flugbetrieb beschäftigte Arbeitnehmer aufzubauen, ohne die bestehenden Arbeitsbedingungen der in Großbritannien beschäftigten Streckenpiloten zu garantieren.60

52 Arbetsdomstol v. 2. Dezember 2009 – AD 2009 No. 89, abrufbar unter: http://www.arbets domstolen.se/upload/pdf/2009/89-09.pdf. 53 Hierzu Nyström, ELLJ 2010, 278, 279; Rönnmar, Industrial Law Journal 2010, 280, 281 ff.; Malmberg, ELLJ 2012, 5, 7 ff. 54 Nyström, ELLJ 2010, 278, 278 f.; Malmberg, ELLJ 2012, 5, 8. 55 Barnard, in: Bogg/Costello/Davies, EU Labour Law, S. 337, 348. 56 Nyström, ELLJ 2010, 278, 277; Bruun/Jonsson in: Bücker/Warneck, Viking, Laval, Rüffert, Etui report 111, S. 15, 20; Rönnmar, Industrial Law Journal 2010, 280, 285 f.; bei letzter nicht klar, ob das Gesetz nun auch für Tarifverträge von Arbeitgebern außerhalb des EWR gekippt wurde. 57 Nyström, ELLJ 2010, 278, 277; vgl. auch IAA, IAK, 102nd Session 2013, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 176. 58 Nyström, ELLJ 2010, 278, 277 f. 59 Hierzu insb. die neun Länderberichte in Freedland/Prassl, Viking, Laval and Beyond, S. 125 ff.; sowie die sechs Länderberichte in Bücker/Warneck, Viking, Laval, Rüffert, Etuireport 111, S. 13 ff.; siehe ferner: Rebhahn, EuZA 2010, 62, 81; Malmberg, Auswirkungen der Urteile des EuGH in den Rechtssachen Viking, Laval, Rüffert und Luxemburg, S. 10 f.; Barnard, NZA-Beil. 2011, 122, 123 ff. 60 Barnard, in: Bogg/Costello/Davies, EU Labour Law, S. 337, 348 f.; Ewing/Hendy, Industrial Law Journal 2010, 2, 39.

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Obwohl ihre Mitglieder bereits mit großer Mehrheit61 für einen Streik votiert hatten, konnte BALPA diesen nicht durchführen.62 British Airways vertrat in den Verhandlungen gegenüber BALPA die Ansicht, der Streik sei unter anderem in Bezug auf die geschätzten finanziellen Verluste von ungefähr 100 Millionen Pfund pro Streiktag unverhältnismäßig.63 BALPA beantragte beim High Court die bevorstehende Streikmaßnahme für rechtmäßig erklären zu lassen, nahm den Antrag aber zurück,64 da sie wegen der Viking-Line- und Laval-Entscheidungen des EuGH, auf den wohl spätestens die nachfolgenden Instanzen verwiesen hätten,65 keinen negativen Präzedenzfall schaffen wollte.66 BALPA führte den Streik hierauf nicht durch.67

II. Die Unvereinbarkeit mit ILO-Normen: Schlussfolgerungen des Sachverständigenausschusses in den Bericht 2010 – 2013 1. BALPA-Fall Erstmals greift der Sachverständigenausschuss die Entscheidungen Laval und Viking Line in seinem Bericht von 2010 in einer observation über die Einhaltung von Übereinkommen Nr. 87 durch Großbritannien auf. Hierbei stellt der Ausschuss zunächst klar, dass seine Aufgabe nicht darin bestehe, die Korrektheit der Entscheidungen des EuGH zu beurteilen, sondern vielmehr darin zu prüfen, ob die Auswirkungen der Entscheidungen auf nationaler Ebene geeignet seien, die durch Übereinkommen Nr. 87 geschützte Vereinigungsfreiheit zu gefährden.68 Der Ausschuss stellt sodann fest, dass er bezüglich zulässiger Einschränkungen des Streikrechts nie die Notwendigkeit einer Bewertung der Verhältnismäßigkeit der Interessen unter Berücksichtigung der Niederlassungs- oder Dienstleistungsfreiheit angenommen habe. Die einzige durch den Ausschuss in dieser Richtung angenommen Ausnahme betreffe aber Fälle, in denen zur Vermeidung von Schäden, die irrever61 Novitz, in: Bücker/Warneck, Viking, Laval, Rüffert, Etui report 111, S. 99, 103: 86 % Zustimmung bei 93 % Wahlbeteiligung; Rocca, ELLJ 2012, 19, 25. 62 Barnard, in: Bogg/Costello/Davies, EU Labour Law, S. 337, 349; Ewing/Hendy, Industrial Law Journal 2010, 2, 39. 63 Barnard, in: Bogg/Costello/Davies, EU Labour Law, S. 337, 349; Ewing/Hendy, Industrial Law Journal 2010, 2, 39 weisen darauf hin, dass die Gewerkschaft die Forderung wohl nicht hätte begleichen können, selbst wenn nur 10 % der Summe durch British Airways hätte bewiesen werden können. 64 Barnard, in: Bogg/Costello/Davies, EU Labour Law, S. 337, 349; zuvor hatte British Airways für den Fall eines Streiks eine einstweilige Verfügung in Aussicht gestellt, vgl. Ewing/ Hendy, Industrial Law Journal 2010, 2, 39 f. 65 Novitz, in: Bücker/Warneck, Viking, Laval, Rüffert, Etui report 111, S. 99, 103 f. 66 Barnard, in: Bogg/Costello/Davies, EU Labour Law, S. 337, 349; Rocca, ELLJ 2012, 19, 25; Ewing/Hendy, Industrial Law Journal 2010, 2, 40. 67 Barnard, in: Bogg/Costello/Davies, EU Labour Law, S. 337, 349; Novitz, in: Bücker/ Warneck, Viking, Laval, Rüffert, Etui report 111, S. 99, 104. 68 IAA, IAK, 99th Session 2010, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 209.

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sibel oder für Dritte unverhältnismäßig sind, Notdienste einzurichten seien und wenn eine Einigung hierüber nicht möglich ist, die Angelegenheit an ein unabhängiges Organ weiterzuleiten sei.69 Im Ergebnis lehnt der Sachverständigenausschuss somit das Erfordernis der Abwägung des Streikrechts mit der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit ab. Der Sachverständigenausschuss merkte zudem mit großer Besorgnis (observes with serious concern) die praktischen Einschränkungen bei der Ausübung des Streikrechts der BALPA-Arbeitnehmer an. Er sei der Auffassung, dass eine reale Bedrohung für die Existenz der Gewerkschaft bestand und dass der Antrag auf einstweilige Verfügung und die Verzögerungen, die sich zwangsläufig während des Gerichtsverfahrens ergaben, die Maßnahme irrelevant und bedeutungslos werden ließen. Zudem würden im Kontext der Globalisierung solche Fälle immer häufiger auftreten, insbesondere in Sektoren wie dem Luftverkehrssektor.70 Der Sachverständigenausschuss kommt daher zur Ansicht, dass der in den Viking-Line- und Laval-Entscheidungen erstmals formulierte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gegenüber Grundfreiheiten erhebliche einschränkende Auswirkungen auf die praktische Ausübung des Streikrechts haben dürfte. Im folgenden Jahr wiederholte der Sachverständigenausschuss seine Einschätzungen (recall the serious concern) zum BALPA-Fall.71 2. Gesetzesänderungen in Schweden (Lex Laval) und Entscheidung des Arbetsdomstolen Schweden wurde aufgrund der Entscheidung des Arbetsdomstolen im LavalVerfahren sowie der sich anschließenden Gesetzesänderung seitens des Sachverständigenausschusses insbesondere im Bericht von 2013 in den observations sowohl zu Übereinkommen Nr. 87 als auch Nr. 98 gerügt.72 Zu den Gesetzesänderungen wiederholte der Sachverständigenausschuss die zum BALPA-Fall geäußerte Kritik, dass eine Einschränkung des Streikrechts durch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung am Maßstab von Grundfreiheiten nicht von der Spruchpraxis gedeckt sei.73 Nicht von der Kritik umfasst sei zwar die Gesetzesänderung zur Lex-Britannia-Bestimmung, da es sich um ein schwedisches Spezifikum handele, welches nicht der Umsetzung

69

Ibid.; hierzu sowie zur gleichlaufenden Spruchpraxis des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit: Sädevirta, EuZA 2017, 505, 511 ff. 70 IAA, IAK, 99th Session 2010, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 209. 71 IAA, IAK, 103rd Session 2013, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 187. 72 2013 beinhaltete der Bericht zu Übk. Nr. 98 einen Verweis auf Übk. Nr. 87, siehe IAA, IAK, 103rd Session 2013, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 178. 2011 hatte er „angesichts der Bedeutung der Angelegenheit und der Bedeutung der potentiellen Auswirkungen“ einen ausführlichen Bericht durch die schwedische Regierung angefordert, vgl. IAA, IAK, 99th Session 2010, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 168. 73 IAA, IAK, 103rd Session 2013, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 178.

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Teil 2: Kollidierende Vorgaben des ILO- und Unionsrechts

des Übereinkommens diene.74 Hinsichtlich der Änderung des Entsendegesetzes vertritt der Ausschuss hingegen die Auffassung, dass ausländische Arbeitnehmer das Recht haben sollten, sich durch die Gewerkschaft ihrer eigenen Wahl vertreten zu lassen, um ihre beruflichen Interessen zu wahren. Ebenso müsse die Gewerkschaft (der freien Wahl der Arbeitnehmer) in der Lage sein, die Interessen ihrer Mitglieder auch im Wege von Arbeitskämpfen zu vertreten. Die Änderungen des Entsendegesetzes seien daher zu überprüfen.75 Äußerst kritisch positioniert sich der Sachverständigenausschuss (deeply concerned) zudem zu den Schadenersatzforderungen gegen die schwedischen Gewerkschaften, die seiner Ansicht nach Vertrauensschutz hätten genießen müssen. Ihr Vorgehen sei nach bisherigem Stand des nationalen Rechts rechtmäßig gewesen und sie hätten vernünftigerweise nicht davon ausgehen können, dass die Arbeitskampfmaßnahme als europarechtswidrig eingestuft werde.76 Die Berichte des Sachverständigenausschusses zum BALPA-Fall wurden in der Literatur häufig für den Beweis der Unvereinbarkeit der Entscheidungen des EuGH mit dem Arbeitsvölkerrecht aufgegriffen.77 Tatsächlich erscheint es verstörend, dass der EuGH in seinen Entscheidungen eingangs Übereinkommen Nr. 87 aufgreift, die (bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung vorhandene) Spruchpraxis zur Begrenzung des Streikrechts aber völlig unberücksichtigt lässt. 74

IAA, IAK, 103rd Session 2013, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 178 f. IAA, IAK, 103rd Session 2013, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 179: „The Committee requests the Government to review with the social partners the 2010 amendments made to the Foreign Posting of Employees Act so as to ensure that workers’ organizations representing foreign posted workers are not restricted in their rights simply because of the nationality of the enterprise“. Die im Jahr 2017 in Kraft getretenen erneuten Reformen des schwedischen Entsendegesetzes, welche im Ergebnis auf die Stärkung des Systems der heimischen Kollektivverträge zielen und viele Kritikpunkte des Sachverständigenausschusses aufgreifen, wurden durch den Sachverständigenausschuss begrüßt, vgl. IAA, IAK, 108th Session 2018, Report III (Part A), Report of the CEACR, S. 154 f. 76 Ibid.; 2016 machte der Sachverständigenausschuss nach Wiederholung der Kritik aus 2013 auf die Gesetzesintiative zur Reform der „Lex Laval“ Bestimmungen aufmerksam („notes with interest“) und vertraute darauf („trusts“), dass für den Fall der Annahme der Änderungen eine bessere Einhaltung des Übereinkommens für die Entsendung von Arbeitnehmern und Organisationen, die sie vertreten, gewährleistet werde, IAA, IAK, 107th Session 2018, Report III (Part A), Report of the CEACR, S. 139 f. 77 Bogg, in: Freedland/Prassl, Viking, Laval and Beyond, S. 41, 52 ff. insb. 61 f.; Barnard, NZA-Beil. 2011, 122, 124 f.; Hendrickx/Pecinovsky, in: Marx/Wouters/Rayp/Beke, Global Governance of Labour Rights, S. 118, 140 f.; Teklè, ELLJ 2018, 237, 260 ff.; Evju, EuZA 2013, 312, 318 f.; Trebilcock, EuZA 2013, 178, 183 f.; Malmberg, Auswirkungen der Urteile des EuGH in den Rechtssachen Viking, Laval, Rüffert und Luxemburg, S. 14; Bruun, International Union Righs 2013, 8, 9; Fütterer, EuZA 2011, 505, 509; Gooren, der Tarifbezug des Arbeitskampfes, S. 252 f.; Rocca, ELLJ 2012, 19, 25 f.; Barnard, in: Bogg/Costello/Davies, EU Labour Law, S. 337, 349; Liukkunen, in: Basedow/Su/Fornasier/Liukkunen, Employee Participation and Collective Bargaining in Europe and China, S. 129, 142 f.; Servais, CLLPJ 2017, 375, 378 f.; vgl. auch die Analyse von Bercusson, in: Müntefering/Becker, 50 Jahre Rechtsprechung des EuGH zum Arbeits- und Sozialrecht, S. 41, 61 ff. vor Veröffentlichung der Berichte; Zimmer, in: Schlachter/Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht, § 5, Rn. 102. 75

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Neben dem Sachverständigenausschuss verurteilte auch der Europäische Ausschuss für soziale Rechte die Entscheidungen des EuGH in Gestalt des Lex Laval. Das Erfordernis der Abwägung mit der effektiven Ausübung der Grundfreiheiten bei der Ausübung des Streikrechts ist also unvereinbar nicht nur mit den Vorgaben der ILO-Übereinkommen, sondern auch mit der ESC.78 Die Einschätzungen des Sachverständigenausschusses und des Europäische Ausschuss für soziale Rechte bestätigen und ergänzen sich hierbei nicht nur, sondern der Sachverständigenausschuss nimmt auch ausdrücklich auf die Entscheidung des Ausschusses für soziale Rechte Bezug.79

III. Jahrelanges Festhalten der EU an den Laval- und Viking-Line-Entscheidungen 1. Bewusstsein der Unvereinbarkeit: Rezeption der ILO-Spruchpraxis in der Begründung des Monti-II-Verordnungsentwurfs Nach der heftigen Kritik seitens des Sachverständigenausschusses der ILO, des Europäischen Ausschusses für soziale Rechte, der Gewerkschaften sowie in der öffentlichen und arbeits- und europarechtswissenschaftlichen Debatte schlug die Europäische Kommission 2012 eine neue Verordnung vor, welche die allgemeinen Grundsätze und Bestimmungen für die Ausübung des Grundrechts auf Durchführung kollektiver Maßnahmen im Kontext der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit festlegen sollte („Monti-II“-Vorschlag).80 Das Verfahren zur Verabschiedung der Verordnung wurde aufgrund fehlender Unterstützung durch die Mitgliedstaaten und eines potentiellen Subsidiaritätsverstoßes (vergleiche Art. 153 Abs. 5 AEUV)81 nicht weiterverfolgt.82 Trotzdem sind zwei Auffälligkeiten zum Monti-II-Vorschlag erwähnenswert. Erstens erwähnt die Kommission in der Begründung des Vorschlags ausdrücklich die oben dargestellten Schlussfolgerungen des Sachverständigenausschusses. Konkret verweist die Kommission darauf, dass drohende Schadensersatzansprüche aufgrund des Viking-LineUrteils „die Gewerkschaften daran hindern könnten, ihre kollektiven Rechte auszuüben oder ihnen dies de facto sogar untersagt wird“. Allerdings sei laut Kom78

ECSR, Entscheidung v. 3. Juli 2013 – 85/2012 (LO und TCO). IAA, IAK, 105th Session 2016, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 465, S. 139. 80 Europäische Kommission, Vorschlag für Verordnung des Rates über die Ausübung des Rechts auf Durchführung kollektiver Maßnahmen im Kontext der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit v. 21. März 2012, COM(2012) 130 final, S. 16 ff. 81 The Adoptive Parents (Pseudonym), in: Freedland/Prassl, Viking, Laval and Beyond, S. 95, 99 ff.; s. a. Schubert/Jerchel, Der Vorschlag der EU-Kommission für eine Monti-IIVerordnung, S. 21; Kocher, in: Pechstein/Nowak/Häde, Art. 153 AEUV, Rn. 131. 82 Europäische Kommission, Schreiben v. 12. September 2012, Ares(2012)1058907; vgl. Rocca, ELLJ 2016, 52, 68; Franzen, EuZA 2013, 1, 3. 79

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Teil 2: Kollidierende Vorgaben des ILO- und Unionsrechts

mission im Kontext von entsprechenden Schadensersatzansprüchen darauf hinzuweisen, dass in Situationen, in denen das Tatbestandsmerkmal des grenzüberschreitenden Bezugs fehle, die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit nicht anwendbar seien.83 Der Kommission sind die Bemerkungen des Sachverständigenausschusses somit bekannt.84 In der Rezeption der Berichte entsteht jedoch der fälschliche Eindruck, die Kritik des Sachverständigenausschusses erstrecke sich nur auf rein nationale Sachverhalte. Die Kommission hält im Vorschlag für Fälle im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten zudem weiterhin am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für Arbeitskampfmaßnahmen fest, möchte den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aber auch gegenüber den Grundfreiheiten angewendet wissen.85 Die ablehnende Haltung des Sachverständigenausschusses zum Erfordernis des EuGH, Arbeitskampfmaßnahmen im Anwendungsbereich von Grundfreiheiten nur bei verhältnismäßiger Ausübung zu erlauben, findet im Bericht keine Erwähnung.86 Auf das Scheitern des Monti-II-Entwurfs wies auch der Sachverständigenausschuss in seinem Bericht von 2013 hin. In diesem Bericht wiederholt der Sachverständigenausschuss seine Kritik an der in den Urteilen Viking Line und Laval entwickelten Prüfung der Arbeitskampfmaßnahmen am Maßstab der Grundfreiheiten durch den EuGH.87 Eine inhaltliche Auseinandersetzung seitens des Sachverständigenausschusses mit dem Monti-II-Verordnungsentwurf erfolgte hingegen nicht, was vor dem Hintergrund der Rücknahme des Entwurfs aber nicht überraschen sollte. 2. Bestätigung der Laval/Viking Line-Linie in der Fonnship-Entscheidung Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon88 und der damit einhergehenden Inkorporierung der GRCh in das europäische Primärrecht sowie dem in Art. 6 Abs. 2 83 Europäische Kommission, Vorschlag für Verordnung des Rates über die Ausübung des Rechts auf Durchführung kollektiver Maßnahmen im Kontext der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit v. 21. März 2012, COM(2012) 130 final, S. 14. 84 Rocca, ELLJ 2016, 52, 68. 85 Europäische Kommission, Vorschlag für Verordnung des Rates über die Ausübung des Rechts auf Durchführung kollektiver Maßnahmen im Kontext der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit v. 21. März 2012, COM(2012) 130 final, S. 13 f. und S. 18 f. (Erwägungsgrund Nr. 13 und Art. 2) 86 Bruun/Bücker, NZA 2012, 1136, 1140; Rocca, ELLJ 2016, 52, 68; Schubert/Jerchel, Der Vorschlag der EU-Kommission für eine Monti-II-Verordnung, S. 35 ff.; zur Kritik weiter Teile des Schriftums am Monti II-Verordnungsvorschlag: Barnard, in: Bogg/Costello/Davies, EU Labour Law, S. 337, 359, die den Vorschlag selbst weniger negativ auffasst; ebenfalls (wenig überraschend) positiver: The Adoptive Parents, in: Freedland/Prassl, Viking, Laval and Beyond, S. 95, 103 ff. 87 IAA, IAK, 103rd Session 2013, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 196. 88 Malmberg, Auswirkungen der Urteile des EuGH in den Rechtssachen Viking, Laval, Rüffert und Luxemburg, S. 15 weist auf Art. 3 Abs. 3 EUV hin, nach dem die Union auf eine

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EUV vorgesehenen Beitritt der EU zur EMRK89 wurde vielfach die Hoffnung verbunden, der EuGH könne in einem ähnlich gelagerten Fall von der in den Entscheidungen Viking Line und Laval eingeschlagenen Linie abweichen.90 Diese Hoffnungen wurden hinsichtlich des EGMR-Beitritts durch das Gutachten 2/13,91 hinsichtlich einer Abkehr der völkerrechtswidrigen Auslegung des Unionsrechts in den Verfahren Viking Line und Laval in der Fonnship-Entscheidung enttäuscht. In dieser bestätigte der EuGH seine bisherige Linie, nach der Arbeitskampfmaßnahmen Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit darstellen können, deren Vereinbarkeit mit Unionsrecht anhand der in den früheren Entscheidungen aufgestellten Kriterien zu rechtfertigen sei.92 Im konkreten Vorabentscheidungsverfahren war es um die Auslegung des EWR-Abkommens gegangen, das (ebenso wie der AEUV) für den Seeverkehr abweichende Sonderbestimmungen vorsieht und hierfür im Anhang XIII auf die Verordnung Nr. 4055/86 verweist.93 Im Ausgangsrechtsstreit hatte die schwedische Transportarbeitergewerkschaft Svenska Transportarbetareförbundet die Be- und Entladung eines Schiff des norwegischen Unternehmens Fonnship in mehreren schwedischen Häfen als Unterstützungsarbeitskampfmaßnahme behindert,94 bis Fonnship einen Tarifvertrag mit dem (aus dem Fall Viking Line bekannten) internationalen Verband ITF geschlossen hatte und nachdem dessen Inhalt nicht eingehalten wurde.95 Die Besatzung des Schiffes (unter panamaischer Flagge und ebenda auch registriert)96 bestand aus polnischen und russischen Matrosen, die auf Grundlage eines russischen Tarifvertrages vergütet wurden und schriftlich erklärten, die Behinderungen des Schiffes durch die schwedische Gewerkschaft nicht zu billigen.97 Die Entscheidung weist in mehrerlei Hinsicht Abweichungen von Viking Line auf. So war die Vorlagefrage auf die Anwendbarkeit des EWR-Abkommens in Fällen beschränkt, in denen das Schiff in einem Drittland registriert ist und unter „soziale Marktwirtschaft“ hinwirkt; siehe auch Schubert/Jerchel, Vorschlag der EU-Kommission für eine Monti-II-Verordnung, S. 19. 89 Spezifisch zu dieser Frage: Velyvyte, in: Freedland/Prassl, Viking, Laval and Beyond, S. 76 ff. 90 Siehe zu entsprechenden Forderungen des DGB zur Änderung der Charta vor Inkorporierung in das Primärrecht Rebhahn, in: Grabenwarter, Europäischer Grundrechtsschutz, § 16, Rn. 75; Kempen, in: GS Zachert, S. 15, 35; kritisch Zimmer, AuR 2012, 114, 119. 91 Gutachten 2/13 v. 18. Dezember 2014 (EMRK-Beitritt II). 92 EuGH v. 8. Juli 2014 – C-83/13 (Fonnship), Rn. 41; vgl. auch Servais, CLLPJ 2017, 375, 378. 93 Verordnung (EWG) Nr. 4055/86 des Rates v. 22. Dezember 1986 zur Anwendung des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs auf die Seeschiffahrt zwischen Mitgliedstaaten sowie zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern (ABl. 1986 L 378, 1; ABl. L 117, 33), zuletzt geändert durch VO (EWG) Nr. 3573/90 des Rates v. 4. Dezember 1990 (ABl. 1990 L 353, 16). 94 Löwisch/Rieble, TVG, Grundlagen, Rn. 308: „Schutzgelderpressungen schwedischer Gewerkschaften“. 95 EuGH v. 8. Juli 2014 – C-83/13 (Fonnship), Rn. 11 – 18. 96 Zu den Ursprüngen der panamaischen Praxis und den Sympathiestreiks von Dockarbeitern: Sciarra, in: GS Zachert, S. 105, 109 f. 97 EuGH v. 8. Juli 2014 – C-83/13 (Fonnship), Rn. 13 f.

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dessen Flagge fährt.98 Der EuGH sah sich allerdings nicht daran gehindert, vor Bejahung der Anwendbarkeit des EWR-Vertrages99 das Gericht an die in Laval und Viking Line entwickelten Auslegungsgrundsätze hinzuweisen.100 Auch hinsichtlich der Auslegung des Begriffs der „Mindestlohnsätze“ in Art. 3 Abs. 1 der EntsendeRL 96/71/EG blieb der EuGH seinem in den Entscheidungen Laval und Viking Line eingeschlagenen – engen – Pfad treu,101 wodurch der Verhandlungsspielraum der Gewerkschaften in Mitgliedstaaten mit hohem Lohnniveau gegenüber Unternehmen aus Niedriglohnländern weiterhin „überschaubar“ blieb.102 3. Die Mitteilung „Aviation: Open and connected Europe“ der Europäischen Kommission Ebenso wie der EuGH hat auch die Kommission nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ihre im Monti-II-Vorschlag vorgetragene Sicht zum Verhältnis von Kollektivrechten und Grundfreiheiten nicht revidiert. Partiell finden sich sogar Aussagen, die stärker zu Lasten der Grundrechte ausfallen. Einen dieser Fälle stellt die Mitteilung „Aviation: Open and connected Europe“ vom 8. Juni 2017 dar. In der Mittelung identifiziert die Kommission Streiks als eine der Hauptursachen für die Störung des Luftverkehrs. Streiks in der Luftfahrtbranche beinträchtigen laut der Kommission „in erheblichem Umfang den Binnenmarkt“.103 Die Kommission forderte die Mitgliedstaaten und Sozialpartner daher dazu auf, verbesserte Rahmenbedingungen für das Flugverkehrsmanagement zu schaffen. Die Forderungen umfassten etwa die frühzeitige Ankündigung von Streiks durch Gewerkschaften („z. B. mindestens 14 Tage vor Streikbeginn“) und die Meldung der Teilnahme an Arbeitskampfmaßnahmen durch die Mitarbeiter 72 Stunden vor Streikbeginn.104 Diese Aufforderungen sind zwar nicht rechtlich verbindlich. Da die Kommission allerdings in ihrer Mitteilung explizit darauf hinwies, dass das Streikrecht auf unionsrechtlicher Ebene durch Art. 28 GRCh ebenso wie auf völkerrechtlicher Ebene („siehe auch“ Art. 6 der rev. ESC) geschützt werde, wäre die Berücksichtigung der 98

Ibid., Rn. 23; Zimmer, Anm. zu EuGH v. 8. Juli 2014 – C-83/13 (Fonnship), AuR 2015, S. 103. 99 EuGH v. 8. Juli 2014 – C-83/13 (Fonnship), Rn. 43 f. 100 Siehe zur Entscheidung Zimmer, Anm. zu EuGH v. 8. Juli 2014 – C-83/13 (Fonnship), AuR 2015, S. 103 ff. 101 EuGH v. 7. November 2013 – C-522/12 (Tevfik Isbir/DB Services GmbH), Rn. 34 ff.; weiter hingegen in EuGH v. 12. Februar 2015 – C-396/13 (Elektrobudowa). 102 Der Arbetsdomstol stellte in seiner Entscheidung AD 2015 Nr. 70 sodann fest, dass die Lohnforderung nicht auf das Mindestniveau beschränkt und somit die Beschränkungen der Freizügigkeit von Fonnship nicht gerechtfertigt waren, vgl. Nyström, EuZA 2017, 283, 294. 103 Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen „Luftfahrt: Ein offenes und gut angebundenes Europa“ v. 8. Juni 2018, COM(2017) 286 final, S. 6. 104 Ibid., S. 7.

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Spruchpraxis des Europäischen Ausschusses für soziale Rechte und der ILO-Ausschüsse zur Reichweite des Streikrechts angebracht gewesen. 4. Völkerrechtskonformität aufgrund der Reform der EntsendeRL weitesgehend hergestellt Die jahrelangen Versuche der Reform der Entsenderichtlinie fanden mit der Annahme der Richtlinie 2018/957 am 28. Juni 2018 einen vorläufigen Abschluss.105 Deren weitreichende Änderungen können hier nicht wiedergegeben oder besprochen werden.106 Es sollen nur zwei Aspekte herausgegriffen werden: Erstens hat sich der Prüfungsmaßstab der Verhältnismäßigkeitsprüfung deutlich zu Gunsten einer „Völkerrechtkonformität“ verschoben haben. So umfasste der Beschäftigungsmindestsockel, den Zielstaaten auf entsendete Arbeitnehmer anwenden können, bislang nur „Mindestlohnsätze einschließlich der Überstundensätze“. Art. 3 Abs. 1 lit. c) Richtlinie 96/71/EG n. F. erweitert die zulässige Regelungsmaterie für den nationalen Gesetzgeber und die Tarifvertragsparteien107 nun auf „Entlohnung, einschließlich der Überstundensätze“. Das Merkmal der „Entlohnung“ umfasst ein breiteres Regelungsspektrum als das Merkmal der „Mindestlohnsätze“.108 Dieser Entwicklung ging bereits eine deutliche Ausweitung der Auslegung des Begriffs der Mindestlohnsätze durch den EuGH im Jahr 2015 voraus.109 In der Rechtssache Sähköalojenbestimmte der EuGH, dass der Begriff der Mindestlohnsätze nicht nur die niedrigste Stufe einer (im Sinne der Richtlinie verbindlichen) Tarifvertrages, sondern auch „die Vorschriften über die Einteilung der Arbeitnehmer in Lohngruppen“ zu berücksichtigen seien.110 Voraussetzung ist jedoch, dass für ausländische Unternehmen diese Lohngruppen transparent, d. h. zugänglich und klar ermittelbar sein müssen.111 Dieser Rechtsprechung dürfte auch nach der begrifflichen Erweiterung zur „Entlohnung“ Bedeutung zukommen. Denn laut Erwägungsgrund Nr. 17 der Richtlinie 2018/957 ist bei der Anwendung der Richtlinie „besonders

105

Richtlinie (EU) 2018/957 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 28. Juni 2018 zur Änderung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ABl. 2018 L 173, 16; zur DurchsetzungsRL 2014/67/EU: Rebhahn/Windisch-Graetz, in: Franzen/Gallner/Oetker, RL 96/71/EG, Art. 1, Rn. 16 ff. m. w. N. 106 Hierzu etwa Franzen, EuZA 2019, 3; Riesenhuber, NZA 2018, 1433; Klein, EuZW 2019, 673. 107 Siehe Art. 3 Abs. 8 RL 96/71/EG n. F. 108 Siehe hierzu Riesenhuber, NZA 2018, 1433, 1435 f. 109 So auch Klein, EuZW 2019, 673, 678 f. 110 EuGH v. 12. Februar 2015 – C-396/13 (Sähköalojen), insb. Rn. 43. 111 Ibid., Rn. 44.

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Teil 2: Kollidierende Vorgaben des ILO- und Unionsrechts

darauf zu achten, dass die nationalen Systeme für die Festlegung der Löhne und Gehälter und die Freiheit der beteiligten Parteien nicht untergraben werden“.112 Ausgehend von dieser Überlegung kann man folgende Zwischenschlüsse ziehen: Wenn im Viking-Line- und Laval-Fall nach früherem Recht nur Mindestentgeltbedingungen durch die Gewerkschaften gefordert werden konnten, hat sich ihr Verhandlungsspielraum und somit auch der Spielraum für zulässige Arbeitskampfmaßnahmen insoweit verschoben, sodass künftig auch eine höhere Entlohnung, beispielsweise auch der für ein bestimmtes Gebiet errechnete Durchschnittslohn, gefordert werden kann, sofern dieser für den ausländischen Arbeitgeber zuvor zugänglich und klar ermittelbar ist.113 Hierdurch ist die Vereinbarkeit der unionsrechtlichen Vorgaben mit Übereinkommen Nr. 87 und Nr. 98 hergestellt.114 Zweitens beinhaltet die Reform jedoch keine Regelung zum Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten im Rahmen von Entsendungen.115 Entsprechend bleibt es im Grundsatz bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen am Maßstab der Grundfreiheiten, was bedeutet, dass die Vorgaben des Unionsrechts für die Mitgliedstaaten nach wie vor unvereinbar mit den Vorgaben der Übereinkommen Nr. 87 und Nr. 98 sind, die eine solche „Wirtschaftlichkeitsprüfung“ gerade nicht vorsehen. Zwar verfügen seit der SähköalojenEntscheidung Gewerkschaften im nordischen Korporatimus-Modell wieder über eine reelle Verhandlungsmacht, welcher sie auch mittels Arbeitskämpfen Nachdruck verleihen können, weshalb die Prüfung am Maßstab der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit zumeist kein Hindernis darstellen wird (etwa Schweden erfüllt durch erneute Reform der Lex Laval das vom EuGH aufgestellte Transparenzer112

Vgl. auch Heuschmid/Schierle, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, Rn. 16.142. Ähnlich Riesenhuber, NZA 2018, 1433, 1437, der diesen Schritt aber i. E. schon durch EuGH v. 12. Februar 2015 – C-396/13 (Sähköalojen), Rn. 43 (Mindestentgelte als „Lohngitter“) für vollzogen hielt; siehe auch Sädevirta, EuZA 2019, 194, 196 ff. 114 Ebenfalls positiv Zimmer, AuR 2019, 152, 156 f.; deutlich kritischer mit Blick auf den Folgenabschätzungsbericht der Kommission zum Richtlinienentwurfs Heuschmid/Schierle, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, Rn. 16.142 mit Verweis auf SWD (2016) 52 final, S. 27. Insofern trifft zu, dass im Richtliniengebungsverfahren Überlegungen, die Entlohnung entsandter Arbeitnehmer an ein Referenzunternehmen im Aufnahmestaat „anzupassen“, ausdrücklich verworfen wurden (discarded options), da eine solche Praxis nicht mit den Grundfreiheiten vereinbar sei. Ebenso ist zutreffend, dass – ebenso wie vom Begriff der Mindestentgelte – auch vom Begriff der „Entlohnung“ (nur) alle zwingend anwendbaren Gehaltsbestandteile erfasst sein. Durch die Sähköalojen-Rechtsprechung ist der Begriff der zwingend anwendbaren Gehaltsbestandteile aber hinreichend ausgeweitet. 115 Dies wäre angesichts der Prüfung des Inhalts der Richtlinie am Maßstab der Grundfreiheiten sowie der Subsidiaritätsproblematik (Art. 153 Abs. 5 AEUV) auch nicht sonderlich erfolgsversprechend gewesen. Auch ohne diese Regelung wurde die Änderungsrichtlinie wegen möglicher Verstöße gegen Primärrecht von Ungarn und Polen vor dem EuGH erfolglos angegriffen, EuGH v. 8. Dezember 2020 – C-620/18 (Ungarn/Parlament und Rat); EuGH v. 8. Dezember 2020 – C-626/18 (Polen/Parlament und Rat); vgl. bereits Klein, EuZW 2019, 673; Höpner/Seikel, Klage gegen die Entsenderichtlinie vor dem Europäischen Gerichtshofs, WSIblog v. 26. Oktober 2018, abrufbar unter: https://www.boeckler.de/wsi_blog_116638.htm. 113

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fordernis).116 Jedoch zeigt der Holship-Fall, dass es nach wie vor zu Konstellationen kommen kann, in denen die Prüfung von Arbeitskampfmaßnahmen am Maßstab der Grundfreiheiten nicht mit ILO-Recht kompatibel ist.117 Mit der Sähköalojen-Entscheidung des EuGH und der Reform der EntsendeRL wurde die Völkerrechtskonformität der unionsrechtlichen Vorgaben somit noch nicht vollständig wiederhergestellt. Es bleibt auch nach der Reform bei der grundsätzlichen Völkerrechtswidrigkeit der unionsrechtlichen Vorgaben an die Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Entsenderechts. Es steht dem EuGH aber offen (etwa unter Bezugnahme auf die völkerrechtlichen Vorgaben), von seiner bisherigen Linie abzuweichen.118

IV. Bevorstehende Kollission: Die Holship-Entscheidung des EFTA-Gerichtshofs vor dem EGMR Der mit der Auslegung des EWR-Abkommens betraute EFTA-Gerichtshof übernahm in seiner Holship-Entscheidung vom 19. April 2016119 die durch den EuGH in den Entscheidungen Viking Line und Laval entwickelten Grundsätze zur Rechtfertigung von Arbeitskampfmaßnahmen als Eingriff in die Grundfreiheiten.120 Der Fall ist aus mehreren Gründen von Interesse. Erstens könnte es infolge des Verfahrens nun erstmals zu einem direkten Aufeinandertreffen der Viking-Line-/ Laval-Grundsätze des EuGH mit der aus der Demir und Baykara-Entscheidung bekannten evolutiv-völkerrechtsfreundlichen Auslegungsmethodik des EGMR121 und hierüber mit der Spruchpraxis der Ausschüsse der ILO kommen. So ist das Holship-Verfahren inzwischen vor dem EGMR anhängig. Zweitens basiert die Holship-Entscheidung auf einem Sachverhalt, der zu einem großen Maße von den Besonderheiten der Dockarbeit und hierbei insbesondere von den norwegischen 116

Siehe IAA, IAK, 108th Session 2019, Report III (Part A), Report of the CEACR, S. 154 f. Nicht nachvollziehbar daher Hüpers/Reese, in Meyer/Hölscheidt, GRCh, Art. 28, Rn. 57, die auf Art. 1a der RL abstellen, wonach die Richtlinie nun das Streikrecht nicht mehr berühre. 118 Zu erwähnen ist abschließend, dass Schweden aus Sicht des Sachverständigenausschusses durch die erneute Reformen des Lex Laval die Völkerrechtskonformität der nationalen Bestimmungen grundsätzlich wiederhergestellt hat. So begrüßte der Sachverständigenausschuss im Bericht von 2019 die Reform und hofft, dass die im Jahr 2017 in Kraft getretene Reform auch Auswirkungen in der Praxis zeigen wird, vgl. IAA, IAK, 108th Session 2019, Report III (Part A), Report of the CEACR, S. 154 f. Im Bericht von 2020, IAA, IAK, 2020, geplant für die 109th Session, Report III (Part A), Report of the CEACR, findet der Sachverhalt keine Erwähnung mehr. 119 EFTA-Gerichtshof v. 19. April 2016 – E-14/15 (Holship), abrufbar unter: http://www.ef tacourt.int/uploads/tx_nvcases/14_15_Judgment_EN.pdf. 120 Barnard, in: Bogg/Costello/Davies, EU Labour Law, S. 337, 350; Spano, EUConst 2017, 475, 488. 121 Hierzu unter Teil 1 E. II. 9. a). 117

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Teil 2: Kollidierende Vorgaben des ILO- und Unionsrechts

Umsetzungsakten des Übereinkommens Nr. 137 geprägt ist, was auch im unionsrechtlichen Rahmen von Relevanz ist, wie im Folgenden gezeigt werden soll. 1. Einleitender Exkurs: Übereinkommen Nr. 137 und die Rechtsprechung des EuGH zur Hafenarbeit Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Dockarbeit eine besonders prekäre Arbeitsform, in der zumeist Tagelöhner beschäftigt wurden. Aufgrund unterschiedlicher Frachtkapazitäten und -frequenzen variierte die Arbeitsmenge täglich. In dieser Zeit wurden erstmals von den Sozialpartnern sogenannte „Pools“ registrierter Hafenarbeiter geschaffen, die einerseits für die Hafen- und Schiffsbetreiber eine ständige Verfügbarkeit von erfahrenem Personal und andererseits eine elementare Form der Arbeitsplatzsicherheit für registrierte Hafenarbeiter gewährleisten sollten.122 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses System stetig ausgebaut; im Wesentlichen war es den Hafenbetreibern seither nur möglich, im Falle der völligen Auslastung des Pools nichtregistrierte Hafenarbeiter zu beschäftigen.123 Mit dem Aufkommen verbesserter technischer Mittel wie Kränen und später der Containerisierung in den 50er bis 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ging ein drastischer Rückgang im Arbeitsvolumen einher.124 Die ILO erkannte diesen Umbruch und verabschiedete 1973 das Übereinkommen Nr. 137, welches Mitgliedstaaten unter Einbindung der Sozialpartner bei der Gestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen sinnvolle Mechanismen „an die Hand geben“ sollte.125 Übereinkommen Nr. 137 sieht unter anderem die Einrichtung und Führung von Dockarbeiterregistern,126 die Priorisierung127 und

122

van Hiel, in: Ahlberg/Bruun, The New Foundations of Labour Laws, S. 165, 166. Ibid.; zur deutschen Rechtslage siehe das GesamthafenbetriebsG und exemplarisch auch: BAG v. 26. Februar 1992 – 5 AZR 99/91, NZA 1992, 710. 124 van Hiel, in: Ahlberg/Bruun, The New Foundations of Labour Laws, S. 165, 167. Gleichzeitig änderten sich auch die Anforderungen an die Hafenarbeiter. Statt geringqualifizierter wurden nun hochspezialisierte Arbeitskräfte benötigt, die im Schichtbetrieb eingesetzt werden konnten, vgl. IAA, IAK, 90th Session 2002, Report III (Part 1B), General Survey of the reports concerning the Dock Work Convention No. 137 and Recommendation No. 145, Rn. 74 f.; van Hiel, in: Ahlberg/Bruun, The New Foundations of Labour Laws, S. 165, 168. 125 IAA, IAK, 90th Session 2002, Report III (Part 1B), General Survey of the reports concerning the Dock Work Convention No. 137 and Recommendation No. 145, Rn. 76 ff. Speziell zum Schutz von Dockarbeitern verabschiedete die ILO bereits 1929 das arbeitsschutzrechtliche Übk. Nr. 28 (1932 geändert durch Übk. Nr. 32) und ersetzt durch Übk. Nr. 152, ergänzt durch Empfehlung Nr. 160. 126 Art. 3 Abs. 1 Übk. Nr. 137; vgl. auch §§ 11 – 14 Empfehlung Nr. 145; hierzu IAA, IAK, 90th Session 2002, Report III (Part 1B), General Survey of the reports concerning the Dock Work Convention No. 137 and Recommendation No. 145, Rn. 112 ff.; van Hiel, in: Ahlberg/ Bruun, The New Foundations of Labour Laws, S. 165, 167. 127 Art. 3 Abs. 2 Übk. Nr. 137. 123

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Festanstellung registrierter Arbeiter sowie Mindestarbeitspensen oder Mindesteinkommen vor.128 Auch die Europäische Kommission hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Gestaltung der Veränderung der Dockarbeit und des Schutzes von Pools registrierter Dockarbeiter.129 Nachdem zwei Richtlinienvorschläge der Kommission über die Regulierung des System des Dockarbeiterpools am Widerstand der Gewerkschaften und des Europäischen Parlaments scheiterten,130 ist inzwischen die Verordnung (EU) 2017/352 über Hafendienste und finanzielle Transparenz der Häfen in Kraft getreten.131 Sie gilt seit dem 24. März 2019132 und sieht unter anderem in Art. 9 Abs. 1 vor, dass die Anwendung sozial- und arbeitsrechtlicher Vorschriften der Mitgliedstaaten durch die Verordnung nicht berührt werden soll. Es sei von den Leitungsorgane der Häfen oder den zuständigen Behörden von Hafendienstanbietern zu verlangen, den Beschäftigten Arbeitsbedingungen im Einklang mit den geltenden sozial- und arbeitsrechtlichen Verpflichtungen zu gewähren und die im Unionsrecht, im nationalen Recht oder in Tarifverträgen dargelegten sozialen Standards einzuhalten.133 Im verbindlichen Teil der Verordnung wird keine Regelung zum Umgang mit der Priorisierung registrierter Hafenarbeiter getroffen, sondern in Erwägungsgrund Nr. 56 die Regelung dieser Frage ausdrücklich den Sozialpartnern überlassen.134 Bisher ist es allerdings nicht zum Abschluss einer entsprechenden Sozialpartnervereinbarung gekommen. 128 Art. 2 Abs. 2 Übk. Nr. 137; Hendy/Novitz, Industrial Law Journal 2018, 315, 318. Übk. Nr. 137 wurde durch 25 Mitgliedstaaten ratifiziert, hierunter 10 europäische Staaten (Norwegen und neun EU-Mitgliedstaaten). Die Niederlande hat das Übereinkommen allerdings 2006 gekündigt und ist hieran nichtmehr gebunden. Übk. Nr. 137 hat derzeit Interim-Status. 129 van Hiel, in: Ahlberg/Bruun, The New Foundations of Labour Laws, S. 165, 168. 130 Grünbuch über Seehäfen und Seeverkehrsinfrastruktur v. 10. Dezember 1997, COM(97) 678 final; Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den Marktzugang für Hafendienste, COM(2001) 35 final, endgültig zurückgezogen durch COM(2004) 542 final; Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den Zugang zum Markt für Hafendienste, COM(2004) 654 final; zurückgezogen am 17. März 2006; hierzu: van Hiel, in: Ahlberg/Bruun, The New Foundations of Labour Laws, S. 165, 169 f. 131 Verordnung (EU) 2017/352 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15. Februar 2017 zur Schaffung eines Rahmens für die Erbringung von Hafendiensten und zur Festlegung von gemeinsamen Bestimmungen für die finanzielle Transparenz der Häfen (ABl. 2017 L 57, 1). 132 Art. 22 VO (EU) 2017/352. 133 Art. 9 Abs. 2 VO (EU) 2017/352. 134 Der Änderungsantrag Nr. 100 des Europäischen Parlaments sah einen Art. 10a Abs. 3 in der Verordnung vor, in dem die Sozialpartner aufgefordert wurden, „Modelle zu entwickeln, anhand deren ein Gleichgewicht zwischen der schwankenden Nachfrage nach Hafenarbeitern und der für den Hafenbetrieb erforderlichen Flexibilität einerseits und der Kontinuität und dem Schutz der Arbeitnehmer andererseits hergestellt wird“, vgl. Bericht über den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Rahmens für den Zugang zum Markt für Hafendienste und die finanzielle Transparenz der Häfen (COM(2013) 0296 – C7-0144/2013-2013/0157(COD) v. 17. Februar 2016, A8-0023/2016), S. 54.

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Teil 2: Kollidierende Vorgaben des ILO- und Unionsrechts

Zu berücksichtigen wäre ohnehin, dass eine entsprechende Vereinbarung auch im Falle der Übertragung in eine europäische Richtlinie nach Art. 154 f. AEUV an europäischem Primärrecht zu messen wäre. So sei darauf hingewiesen, dass der EuGH in der Vergangenheit mehrere nationale Regelungen über Dockarbeiterpoolsysteme für unvereinbar mit Wettbewerbsrecht oder der Niederlassungsfreiheit erklärt hat.135 Interessanterweise hat in einem Vertragsverletzungsverfahren über die Vereinbarkeit eines Poolsystems136 mit Art. 49 AEUV Spanien zur Rechtfertigung der Beschränkung der Niederlassungsfreiheit als zwingenden Grund des Allgemeininteresses die Regelungen des Übereinkommens Nr. 137 angeführt.137 Die Kommission vertrat im Verfahren die Auffassung, dass die Bestimmungen des Übereinkommens Nr. 137 die Mitgliedstaaten, die das Übereinkommen ratifiziert haben, in keiner Weise verpflichten, Beschränkungen zu erlassen, wie sie in der spanischen Hafenregelung vorgesehen waren. Aus Beispielen für Hafenarbeitsregelungen in anderen Mitgliedstaaten gehe hervor, dass der Schutz der Hafenarbeiter und die Einhaltung des Übereinkommens Nr. 137 durch andere Maßnahmen gewährleistet werden können.138 Der EuGH griff in seinen Urteilsgründen Übereinkommen Nr. 137 nicht auf,139 stellte aber fest, dass ein Poolsystem darauf abziele, die Arbeitnehmer zu schützen und die Kontinuität und Qualität des Güterumschlags zu gewährleisten. Beiden Ziele lägen im öffentlichen Interesse, welches Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit rechtfertigen könne.140 Diese Hürde wurde im konkreten Fall allerdings nicht überwunden, da die spanische Regierung nicht versucht hatte nachzuweisen, dass die Beschränkung notwendig oder verhältnismäßig war und es keine geeigneten Alternativen gab.141 Im Ergebnis ist trotzdem davon auszugehen, dass der EuGH in Kommission/Spanien die Schaffung eines Poolsystems von Hafenarbeitern grundsätzlich für vereinbar mit der Niederlassungsfreiheit 135

EuGH v. 10. Dezember 1991 – C-179/90 (Merci); EuGH v. 12. Februar 1998 – C-163/96 (Raso); EuGH v. 11. Dezember 2014 – C-576/13 (Kommission/Spanien); in der Entscheidung v. 16. September 1999 – C-22/98 (Becu) konnte der EuGH hingegen keinen Verstoß gegen Wettbewerbsrecht feststellen; zu den Entscheidungen van Hiel, in: Ahlberg/Bruun, The New Foundations of Labour Laws, S. 165, 170 ff. Diese Verfahren hatten gemeinsam, dass die Poolsysteme auf Grundlage von Rechts- oder Verwaltungsvorschriften vorgeschrieben wurden, während im norwegischen Ausgangsverfahren das Poolsystem auf der Grundlage eines Kollektivvertrags begründet wurde. 136 EuGH v. 11. Dezember 2014 – C-576/13 (Kommission/Spanien), Rn. 2 ff. 137 EuGH v. 11. Dezember 2014 – C-576/13 (Kommission/Spanien), Rn. 41. Ob sich Spanien hierbei auch auf Art. 351 Abs. 2 AEUV berief, wird in der Entscheidung nicht erwähnt. Dessen Anwendungsbereich hätte offen gestanden, da Spanien, Mitglied der EU seit 1986, das Übk. Nr. 137 vor seinem Beitritt zur EU, nämlich 1975, ratifiziert hatte. Zu Art. 351 AEUV unter Teil 4 B. 138 EuGH v. 11. Dezember 2014 – C-576/13 (Kommission/Spanien), Rn. 44; Spanien bestritt die Vereinbarkeit der anderweitigen Möglichkeiten mit Übk. Nr. 137, vgl. Rn. 45 f. 139 Vgl. EuGH v. 11. Dezember 2014 – C-576/13 (Kommission/Spanien), Rn. 47 ff. 140 EuGH v. 11. Dezember 2014 – C-576/13 (Kommission/Spanien). 141 Sie bestritt die Vereinbarkeit der anderweitigen Möglichkeiten mit Übk. Nr. 137, vgl. Rn. 45 f.

A. Laval- und Viking-Line-Entscheidungen

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hält,142 womit auch für eine Regelung durch die europäischen Sozialpartner ein gewisser Verhandlungsspielraum verbleibt. Anders verhält es sich allerdings bei Anwendung der Viking-Line-/Laval-Grundsätze auf das Hafenarbeitersystem, wie der Holship-Fall des EFTA-Gerichtshofs zeigt. Langfristig hatten die vom EuGH entwickelten Grundsätze daher nicht nur Auswirkungen auf die Umsetzung von Übereinkommen Nr. 87 sondern auch auf die Umsetzung von Übereinkommen Nr. 137. Es zeigt sich jedoch im Bericht des Sachverständigenausschuss von 2019, dass die EuGH-Entscheidung Kommission/Spanien zumindest zum Anlass genommen wurde, Maßnahmen zu ergreifen, welche die Umsetzung des Übereinkommens Nr. 137 gefährden.143 So wird die Spanische Regierung vom Sachverständigenausschuss aufgefordert, detaillierte Auskünfte über ein im Anschluss an die EuGHEntscheidung Kommission/Spanien ergangene Gesetzesänderung zu übermitteln,144 die dem Ausschuss eine eigene Einschätzung der Konformität der nationalen Rechtslage mit Übereinkommen Nr. 137 ermöglichen. Hierbei soll von der spanischen Regierung insbesondere erläutert werden, welche Regelungen zum Schutz der Mindestbeschäftigungsdauer und eines Mindestlohns von Hafenarbeitern bestehen. Der Sachverständigenausschuss begründet die Anfrage mit den durch den Gewerkschaftsverband CCOO und die Spartengewerkschaft mitgeteilten „signifikanten Änderungen“, welche auf die Kommission/Spanien-Entscheidung des EuGH gefolgt seien.145 Er weist bereits darauf hin, dass Unternehmen, welche die Löschung von Schiffen in Spanien betreiben, hierbei nach den neuen Regelungen nicht gebunden sind, Leistungen sogenannter „port employment centres“ (diese fungieren als Entleiher der Hafenarbeiter) in Anspruch zu nehmen. Hierbei weist der Sachverständigenausschuss bereits darauf hin, dass aus Sicht der Gewerkschaften hierin ein Verstoß gegen Übereinkommen Nr. 137 vorliege.146 Eine eigene Bewertung behält sich der Sachverständigenausschuss vor, wenngleich aus der Formulierung der direct request seine Bedenken recht deutlich werden. Eine eigene Einschätzung ist ohne genauere Kenntnis der spanischen Gesetzesänderung jedoch auch nicht möglich. So kann insbesondere nicht bewertet werden, ob die Gesetzesänderung die EuGHEntscheidung lediglich als Anlass nahm deutlich weitgehender Änderungen vorzunehmen oder sich auf eine möglichst konventionskonforme Umsetzung der EuGH142

Hendy/Novitz, Industrial Law Journal 2018, 315, 324; kritischer: van Hiel, in: Ahlberg/ Bruun, The New Foundations of Labour Laws, S. 165, 172. 143 IAA, IAK, 108th Session 2019, Report III (Part A), Report of the CEACR, S. 606 f. zu Portugal, S. 607 f. zu Spanien. Zuvor – aber nach Umsetzung der EuGH-Entscheidungen – wurden im Zusammenhang mit Art. 3 Übk. Nr. 137 weder Italien noch Spanien durch den Sachverständigenausschuss kritisiert, vgl. die Berichte zu Italien: IAA, IAK, 97th Session 2008, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 689 f.; IAA, IAK, 107th Session 2018, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 557; von 1998 bis 2019 gab es keine Anmerkungen zur Einhaltung von Übk. Nr. 137 durch Spanien. 144 IAA, IAK, 108th Session 2019, Report III (Part A), Report of the CEACR, S. 608. 145 IAA, IAK, 108th Session 2019, Report III (Part A), Report of the CEACR, S. 607. 146 IAA, IAK, 108th Session 2019, Report III (Part A), Report of the CEACR, S. 607.

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Teil 2: Kollidierende Vorgaben des ILO- und Unionsrechts

Entscheidung beschränkt wurde. Ebenfalls nicht geklärt ist, inwieweit weitere Vorgaben der Europäischen Kommission an Spanien ergangen sind. Auch wenn diese rechtlich keine Bindungswirkung hätten, konnen Vorschläge der Kommission (auch außerhalb der länderspezifischen Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters)147 Mitgliedstaaten gerade in unionsrechtlich vorgeprägten Materien „leiten“. 2. Der Holship-Sachverhalt Norwegen hatte zum Zeitpunkt der Ratifizierung von Übereinkommen Nr. 137 die wesentlichen Bestimmungen bereits durch eine Sozialpartnervereinbarung umgesetzt, sodass staatliche Maßnahmen zum Schutz der Dockarbeiter im Rahmen der Containerisierung nicht notwendig wurden.148 Wie für das norwegische Umsetzungsmodell üblich, wurde auch für den Hafen von Drammen auf Grundlage des anwendbaren Tarifvertrags ein Verwaltungsbüro für die Hafenarbeiten eingerichtet, dessen Aufgabe in der Verteilung der Arbeit – vorrangig an registrierte Arbeiter – lag.149 Das Verwaltungsbüro wurde durch drei Arbeitgeber- und zwei Arbeitnehmervertreter geleitet. Es diente auch als Vertragspartner der registrierten Dockarbeiter und beschäftigte diese auf Grundlage unbefristeter Arbeitsverträge.150 Die norwegische Tochter Holship Norge AS des dänischen Speditionskonzerns Holship weigerte sich, die Be- und Entladung seiner Schiffe durch die bei dem Verwaltungsbüro angestellten Dockarbeiter durchführen zu lassen und setzte stattdessen eigene Arbeiter ein, die auf Grundlage eines Tarifvertrags der Reinigungsbranche beschäftigt wurden.151 Um Holship Norge AS zum Beitritt zum Tarifvertrag über die Hafenarbeit zu bewegen, organisierte die norwegische Gewerkschaft der Hafenarbeiter Norsk Transportarbeiderforbund (NTF) einen Boykott.152 Entsprechend § 3 des Boykottgesetzes (Lov om boikott)153 beantragte der NTF eine Er147

Zu Auswirkungen der im Rahmen des Europäischen Semesters gemachten länderspezifischen Empfehlungen auf die Einhaltung von ILO-Übereinkommen, konkret Übk. Nr. 181 siehe IAA, IAK, 108th Session 2019, Report III (Part A), Report of the CEACR, S. 532; vgl. auch als „positives“ Beispiel (Senkung der Jugendarbeitslosigkeit) IAA, IAK, 109th Session 2020, Report III (Part A), Report of the CEACR, S. 507. 148 van Hiel, in: Ahlberg/Bruun, The New Foundations of Labour Laws, S. 165, 173. 149 EFTA-Gerichtshof v. 19. April 2016 – E-14/15 (Holship), Rn. 20 f.; zum näheren Inhalt des Tarifvertrages Hendy/Novitz, Industrial Law Journal 2018, 315, 319. 150 EFTA-Gerichtshof v. 19. April 2016 – E-14/15 (Holship), Rn. 21 f. 151 Ibid., Rn. 17 f.: Hintergrund für diesen Tarifvertrag bildete, dass das primäre Tätigkeitsfeld der Holship Norge AS die Reinigung von Obstkisten war und der Transport von Waren nur ein zusätzliches Tätigkeitsfeld. 152 Siehe zu Sympathie-Boykottmaßnahmen von Hafenarbeitern zu Gunsten der Besatzung von Seeschiffen im deutschen Recht: Zimmer, AuR 2018, 508. 153 Nach norwegischem Recht ist ein Boykott in den Grenzen des Boykottgesetzes zulässig, vgl. EFTA-Gerichtshof v. 19. April 2016 – E-14/15 (Holship), Rn. 6; Hendy/Novitz, Industrial Law Journal 2018, 315, 320 zu den konkreten Vorgaben des Boykottgesetzes.

A. Laval- und Viking-Line-Entscheidungen

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klärung über die Rechtmäßigkeit des Boykotts und bekam hierbei in den ersten beiden Instanzen Recht.154 Das durch Holship Norge AS angerufene norwegische Verfassungsgericht legte den Fall dem EFTA-Gerichtshof vor.155 3. Entscheidung des EFTA-Gerichtshofs und des norwegischen Obersten Gerichtshofs Der EFTA-Gerichtshof nahm an, dass ein Boykott nicht mit den Wettbewerbsbestimmungen der Art. 53 f. EWR-Abkommen vereinbar wäre.156 Während er zwar grundsätzlich (in Anlehnung an die Albany-Entscheidung des EuGH)157 eine Bereichsausnahme für tarifvertragliche Bestimmungen und deren Durchsetzung annahm, seien im vorgelegten Fall die Priorisierung der registrierten Arbeiter und die Gründung des Verwaltungsbüros nicht auf die Festlegung oder Verbesserung von Arbeitsbedingungen beschränkt. Sie gingen über den Kernzweck von Tarifverhandlungen hinaus.158 Diese Bewertung basierte auf der (falschen) Einschätzung, dass das Verwaltungsbüro ein eigenes wirtschaftliches Interesse verfolgt, das in der Erhaltung seiner „Marktposition“ bestehe.159 Daneben nahm der EFTA-Gerichtshof eine Verletzung der Niederlassungsfreiheit durch den Boykott an.160 Die Prioritätsklausel und die Gründung des Verwaltungsbüros seien nicht geeignet, die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit zu rechtfertigen, da sie sich nicht auf die Festlegung oder Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer beschränken. Das norwegische Poolsystem schütze nur eine begrenzte Gruppe von Arbeitnehmern zum Nachteil anderer Arbeitnehmer, unabhängig vom Schutzniveau dieser anderen Arbeitnehmer. Boykotte wie der fragliche beeinträchtigten die Situation dieser anderen Arbeitnehmer, die von der Erbringung der Be- und Entladetätigkeiten ausgeschlossen seien.161 In diesem Zusammenhang griff der EFTA-Gerichtshof auch Übereinkommen Nr. 137 auf: Sowohl die NTF als auch die norwegische Regierung hatten geltend gemacht, dass das Poolsystem Teil der Erfüllung der Verpflichtungen Norwegens aus Übereinkommen Nr. 137 sei. Laut EFTA-Gerichtshof gehe aber aus Protokoll Nr. 35 zum EWR-Abkommen hervor, dass die EFTA-Staaten im Falle eines Konflikts 154

EFTA-Gerichtshof v. 19. April 2016 – E-14/15 (Holship), Rn. 27. Ibid., Rn. 29. 156 Kritisch zur Entscheidung des EFTA-Gerichtshofs Hendy/Novitz, Industrial Law Journal 2018, 315, 320 f.; Klein, in: HSI-Newsletter 02/2016, abrufbar unter: https://www.hugo-sinz heimer-institut.de/hsi-newsletter/europaeisches-arbeitsrecht/2016/newsletter-022016.html; zustimmend: Schneider, EuZW 2016, 494. 157 EuGH v. 21. September 1999 – C-67/96 (Albany), Rn. 59 ff. 158 EFTA-Gerichtshof v. 19. April 2016 – E-14/15 (Holship), Rn. 40 und 50. 159 Vgl. ibid., Rn. 49. 160 Ibid., Rn. 120; vgl. auch Art. 31 EWR-Abkommen. 161 Ibid., Rn. 126. 155

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Teil 2: Kollidierende Vorgaben des ILO- und Unionsrechts

zwischen dem nationalen Recht zur Umsetzung des EWR-Rechts und anderen nationalen Bestimmungen die Umsetzungsbestimmung vorgehen müssen.162 Daher könne eine Vertragspartei die nach Art. 31 EWR-Abkommen gewährten Rechte nicht von Übereinkommen Nr. 137 oder anderen internationalen Übereinkommen abhängig machen.163 Dies müsse erst recht für Tarifverträge gelten.164 Anders als im STX-Fall165 folgte der Oberste Gerichtshof im Holship-Fall dem EFTA-Gerichtshof.166 So übernahm der Oberste Gerichtshof die Begründung, dass das Verwaltungsbüro eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübe und die Priorisierung der durch das Verwaltungsbüro beschäftigten Arbeitnehmer diesen einen Vorteil gegenüber anderen Arbeitnehmern geben und das Verwaltungsbüro vor Wettbewerb

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Ibid., Rn. 128. Ibid., Rn. 128. 164 Ibid., Rn. 129. Der EFTA-Gerichtshof verkennt, dass NTF und die norwegische Regierung auf die völkerrechtlichen Verpflichtungen Norwegens aufmerksam machten, deren Verhältnis zu den Verpflichtungen aus dem EWR-Abkommen gerade nicht durch Protokoll Nr. 35 geregelt werden. Dieses betrifft die nationalen Umsetzungsakte, s. o. Allerdings existiert im EWR-Abkommen kein Äquivalent zu Art. 351 Abs. 1 AEUV, auf das sich Norwegen hätte berufen können. In diese Richtung deutet lediglich die gemeinsame Erklärung zu Protokoll Nr. 35, nach der zwischen den Vertragsparteien Einigkeit darüber bestehe, dass die Wirkung bestehender innerstaatlicher Regelungen, „die die unmittelbare Anwendbarkeit und den Vorrang internationaler Abkommen vorsehen, durch das Protokoll 35 nicht eingeschränkt wird“. Nicht einschlägig ist zudem die gemeinsame Erklärung der Vertragsparteien zum Verhältnis zwischen dem EWR-Abkommen und bestehenden Abkommen, da dieses zwar Abkommen betrifft, die Rechte von Einzelpersonen, Wirtschaftsbeteiligten usw. betreffen, aber (unmittelbar) zwischen zwischen einem oder mehreren EG-Mitgliedstaaten auf der einen Seite und einem oder mehreren EFTA-Staaten auf der anderen Seite oder zwischen zwei oder mehr EFTAStaaten geschlossen worden sein. 165 Entscheidungen des EFTA-Gerichtshofs haben nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs von Norwegen für norwegische Gerichte keine Bindungswirkung, sondern nur „instruktiven“ Charakter. So hatte der Oberste Gerichtshof etwa die STX-Entscheidung des EFTA-Gerichtshofs, in welcher dieser die Laval-Rechtsprechung auf einen ähnlich gelagerten Fall im Anwendungsbereich des EWR-Abkommens übertragen hatte, nicht übernommen und sich für eine breitere Auslegung des Begriffs der „Mindestlohnsätze“ entschieden, vgl. Oberster Gerichtshof von Norwegen v. 5. März 2013 – 2012/1447 (STX), HR2013-0496-A, englischsprachige Fassung abrufbar unter: https://www.domstol.no/globalassets/ upload/hret/decisions-in-english-translation/2012-1447-engelsk.pdf; hierzu van Hiel, in: Ahlberg/Bruun, The New Foundations of Labour Laws, S. 165, 175; vgl. auch Barnard, in: Bogg/ Costello/Davies, EU Labour Law, S. 337, 350. Nach dieser in der STX-Entscheidung entwickelten Rechtsprechung ist es Sache des nationalen Gerichts – im Holship-Fall des Obersten Gerichtshofs selbst – zu entscheiden, ob und in welchem Umfang es sich dem EFTA-Gerichtshof anschließt, vgl. van Hiel, in: Ahlberg/Bruun, The New Foundations of Labour Laws, S. 165, 174 f.; zur Berücksichtigung von EGMR-Entscheidungen durch den EFTA-Gerichtshof Spano, EUConst 2017, 475, 476 ff. 166 Siehe zum abweichenden Minderheitsvotum Hendy/Novitz, Industrial Law Journal 2018, 315, 322 ff. 163

A. Laval- und Viking-Line-Entscheidungen

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schützen würde.167 Der Schutz vor Wettbewerb sei nicht zur Rechtfertigung einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit geeignet.168 Auch das grundrechtlich geschützte Recht zum Boykott unterliege (ähnlich der Begründung des EuGH in Viking Line) einer Verhältnismäßigkeitsprüfung gegenüber der Niederlassungsfreiheit.169 4. Bisher neutrale Haltung des Sachverständigenausschusses zu potentiellen Verstößen gegen Übereinkommen Nr. 137 Bisher ist nicht eindeutig geklärt, ob der Sachverständigenausschuss die HolshipEntscheidungen des EFTA-Gerichtshofs und des Obersten Gerichtshofs von Norwegen für vereinbar mit Übereinkommen Nr. 137 hält. In seinen Berichten von 2015, 2016 und 2018 beschränkte er sich auf die Wiedergabe der Auffassungen der norwegischen Beteiligten. So hatte bereits 2014, also vor der Entscheidung des EFTAGerichtshofs, der norwegische Arbeitgeberdachverband Næringslivets Hovedorganisasjon (NHO) gegenüber dem Sachverständigenausschuss die Ansicht geäußert, dass die Priorisierung registrierter Arbeiter in Art. 3 Übereinkommen Nr. 137170 keine Monopolregelung für die Durchführung von Hafenarbeiten durch einen einzelnen Betreiber vorsehe.171 In diesem Zusammenhang verweist die NHO auf eine 167 Oberster Gerichtshof von Norwegen v. 16. Dezember 2016 – 2014/2089 (Holship), HR2016 – 2554-P, englische Fassung abrufbar unter: https://www.domstol.no/globalassets/upload/ hret/decisions-in-english-translation/case-2014-2089.pdf, Rn. 101 ff. 168 Ibid., Rn. 109. Ob ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht vorliegt, konnte das Gericht offenlassen, vgl. Rn. 128. 169 Ibid., Rn. 116 f. Auch das norwegische Verfassungsgericht äußerte sich zu Übk. Nr. 137, vgl. Rn. 121 – 124: Unabhängig von der Auslegung von Art. 3 Abs. 1 und Abs. 2 Übk. Nr. 137, deren Inhalt unklar sei, gingen nach Art. 2 des norwegischen EWR-Gesetzes die Niederlassungsfreiheit vor. 170 Art. 3 Abs. 1 Übk. Nr. 137: „Für alle Berufskategorien von Hafenarbeitern sind in der von der innerstaatlichen Gesetzgebung oder Praxis zu bestimmenden Weise Register anzulegen und laufend fortzuführen.“ Abs. 2: „Registrierten Hafenarbeitern ist bei der Einstellung für Hafenarbeiten der Vorzug zu gewähren“. 171 IAA, IAK, 103rd Session 2014, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, Volltext der direct request nicht im Bericht veröffentlicht, aber abrufbar unter: https://www.ilo.org/dyn/norm lex/en/f?p=1000:13101:0::NO:13101:P13101_COMMENT_ID:3337183. Parallel zur Anfrage der NHO an den Sachverständigenausschuss reichte der Arbeitgeberverband für kleine und mittelständische Unternehmen Bedriftsforbundet eine Kollektivbeschwerde vor dem Europäischen Ausschuss für soziale Rechte ein, indem er geltend machte, dass die Priorisierung registrierter Dockarbeiter gegen die durch Art. 5 der ESC garantierte negative Vereinigungsfreiheit verstoße, vgl. ECSR v. 17. Mai 2016 – Kollektivbeschwerde Nr. 103/2013 (Bedriftsforbundet), Decision on the Merits, Rn. 14. Zwar sahen die Statuten des Verwaltungsbüros eine Mitgliedschaft in der NTF nicht vor. Es ist aber zu beachten, dass Fälle, in denen für die Berücksichtigung im Poolsystem die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft de facto notwendig ist, nach der Spruchpraxis des Ausschusses für soziale Rechte einen Verstoß gegen die negative Vereinigungsfreiheit darstellen. Zu früheren Schlussfolgerungen zur Dockarbeit in Bezug auf Frankreich und Belgien van Hiel, in: Ahlberg/Bruun, The New Foundations of Labour Laws, S. 165, 176. Im vorgelegten Fall konnte der Ausschuss für soziale Rechte eine solche Praxis allerdings nicht feststellen, s. ECSR v. 17. Mai 2016 – Kollektivbeschwerde Nr. 103/2013

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Teil 2: Kollidierende Vorgaben des ILO- und Unionsrechts

direct request des Sachverständigenausschusses von 1997 an Schweden, die diese Auffassung stütze.172 Weder aus dem Bericht von 2015 noch von aus dem von 2016 geht allerdings hervor, ob der Sachverständigenausschuss die Ansicht der NHO teilt. Auch im Bericht von 2018, in welchem der Sachverständigenausschuss den HolshipFall und die Rezeption von Übereinkommen Nr. 137 durch den Obersten Gerichtshofs von Norwegen aufgreift, findet sich keine ausdrückliche Erläuterung, ob und, falls ja, warum diese Entscheidungen mit Übereinkommen Nr. 137 unvereinbar sind.173 Auch mit der durch NHO zitierten direct request an Schweden lässt sich die Rechtsauffassung des Sachverständigenausschusses nicht zweifelsfrei feststellen. Im Bericht von 1998 wird erwähnt, dass die Regierungs- und Arbeitgebervertreter in einem auf Grundlage von Übereinkommen Nr. 144 in Schweden eingesetzten Ausschuss der Ansicht seien, dass das Übereinkommen Nr. 137 keine Einführung oder Aufrechterhaltung eines Monopols impliziere.174 Hierauf weist der Sachverständigenausschuss hin, übernimmt die Einschätzung aber nicht beziehungsweise nicht ausdrücklich. Stattdessen erinnert er daran, dass der Zweck der Register in der Regularisierung und Stabilisierung der Beschäftigung und des Einkommens von Hafenarbeitern bestehe.175 Ob allerdings eine Monopolisierung zur Einhaltung von Art. 3 Übereinkommen Nr. 137 notwendig ist oder nicht, wird nicht entschieden.176 Womöglich möchte der Sachverständigenausschuss (anders als in vielen ähnlich gelagerten Fällen, in denen er die Auffassungen der nationalen Sozialpartner kommentierte) im Fall Norwegens seine Auffassung nicht vor Abschluss der Verhandlungen zwischen den norwegischen Sozialpartnern äußern, um den anhaltenden Verhandlungen nicht vorzugreifen. Sollte dies der Fall sein, ist frühestens nach (Bedriftsforbundet), Decision on the Merits, Rn. 88 f. Dies begründete der Ausschuss u. a. damit, dass bisher keine entsprechenden Beschwerden bei dem norwegischen Ombudsman oder den Gerichten eingegangen waren. In dieser Entscheidung rezipierte der Ausschuss auch Übk. Nr. 137, vgl. Rn. 27, 30. 172 IAA, IAK, 104th Session 2015, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, Volltext der direct request nicht im Bericht veröffentlicht, aber abrufbar unter: https://www.ilo.org/dyn/norm lex/en/f?p=1000:13101:0::NO:13101:P13101_COMMENT_ID:3337183. 173 Vgl. IAA, IAK, 105th Session 2016, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 557 f. Dies folgt höchstens aus der Einordnung als observation und der Erwähnung des Falles im Bericht, vgl. S. 558. Allerdings verweist der Sachverständigenausschuss auf laufende Beratungen zwischen den Sozialpartnern und bittet die Regierung zu deren Ergebnissen Bericht zu erstatten, vgl. ibid. Eine verbindliche Entscheidung über einen Verstoß gegen das Übereinkommen soll gerade nicht getroffen werden. 174 IAA, IAK, 86th Session 1998, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR,direct request nicht im Bericht veröffentlicht, aber online abrufbar unter: https://www.ilo.org/dyn/normlex/en/ f?p=1000:13101:0::NO:13101:P13101_COMMENT_ID:2161844. 175 Ibid. 176 Siehe aber im Zusammenhang mit der Hafenarbeit auch die Schlussfolgerungen des Sachverständigenausschusses zu den Arbeitskämpfen der Hafenarbeiter in Göteburg und die geplanten Gesetzesänderungen zur Stärkung des Rechts auf Kollektivmaßnahmen, IAA, IAK, 108th Session 2019, Report of the CEACR, S. 154.

A. Laval- und Viking-Line-Entscheidungen

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Abschluss der Verhandlungen eine Ex-post-Bewertung der Entscheidungen und des Ergebnisses durch den Ausschuss zu erwarten. Hierdurch könnte sich auch erklären lassen, dass sich in den aktuellen Berichten des Sachverständigenausschusses keinerlei Referenz zum Holship-Fall in den Berichten zu Übereinkommen Nr. 87 und Nr. 98 findet,177 obwohl der EFTA-Gerichtshof und im Anschluss der Oberste Gerichtshof von Norwegen die Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen am Maßstab der Niederlassungsfreiheit durch den EuGH in der VikingLine-Entscheidung übernommen hatten und daher die derzeitige norwegische Rechtslage ebenfalls konventionswidrig sein dürfte.178 5. Verfahren vor dem EGMR und Aufeinandertreffen der Viking-Line- und Laval-Rechtsprechung mit den Demir und Baykara-Grundsätzen Die durch die Entscheidung des norwegischen Obersten Gerichtshofs betroffenen Gewerkschaften haben inzwischen eine Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK wegen Verletzung von Art. 11 EMRK eingelegt,179 welche der Norwegischen Regierung am 15. Juni 2019 zugestellt wurde.180 Dies bedeutet, dass nun erstmals die Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen181 am Maßstab der Grundfreiheiten auf die evolutiv-völkerrechtsfreundliche Auslegungspraxis des EGMR treffen könnte. Es bleibt abzuwarten, ob der EGMR die Schlussfolgerungen des Sachverständigenausschusses ohne nähere inhaltliche Auseinandersetzung übernimmt, wie es die große Kammer etwa im Verfahren Demir und Baykara getan hatte,182 oder ob er die Übernahme der Aussagen des Sachverständigenausschusses, wie die 4. Sektion im RMT-Verfahren, davon abhängig macht, ob sie ihn überzeugen.183 Im letzteren Fall dürfte die von der 4. Sektion gewählte Begründung der Abweichung von der Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses an ihre Grenzen stoßen. So hatte die 4. Sektion in der RMT-Entscheidung die Abweichung damit begründet, dass der Sachverständigenausschuss generell die Vereinbarkeit der gesamten nationalen Rechtslage überprüfe, während der EGMR aufgrund von Besonderheiten des Einzelfalls zu abweichenden Einschätzungen gelangen könne.184 177 Norwegen erhielt letztmals 2011 eine Observation im Zusammenhang mit Übk. Nr. 87 und 2005 wegen Übk. Nr. 98. 178 Wie bereits dargestellt, steht auch im Fall der Einhaltung von Übk. Nr. 137 durch Spanien noch eine Einschätzung durch den Sachverständigenausschuss aus. 179 Beschwerde Nr. 45487/17 (LO und NTF/Norwegen) v. 15. Juni 2017, zugestellt am 30. April 2019, vgl. auch Hendy/Novitz, Industrial Law Journal 2018, 315, 327. 180 Beschwerde Nr. 45487/17 (LO und NTF/Norwegen) v. 15. Juni 2017, zugestellt am 30. April 2019, siehe unter https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001-19344 8%22]}. 181 Auch Boykott-Maßnahmen unterfallen dem Schutzbereich von Art. 11 EMRK, hierzu unter Teil 1 E. II. 9. a) dd); siehe auch Spano, EUConst 2017, 475, 491. 182 Vgl. hierzu unter Teil 1 E. II. 9. a) bb). 183 Hierzu unter Teil 1 E. II. 9. a) dd) (2): „are not of such persuasive weight“. 184 Siehe zu dieser Begründung in der RMT-Entscheidung unter Teil 1 E. II. 9. a) dd) (2).

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Teil 2: Kollidierende Vorgaben des ILO- und Unionsrechts

Die Entscheidungen des EFTA-Gerichtshofs und des Obersten Gerichtshofs von Norwegen sind argumentatorisch eng an den Viking-Line- und Laval-Entscheidungen orientiert,185 die der Sachverständigenausschuss (teils im Gewand des BALPA-Falles) direkt kritisiert hatte. Die Erfolgsaussichten der Klage sind zudem davon abhängig, ob der EGMR die eingangs dargestellte Bosphorus-Linie auch im Holship-Verfahren anwenden wird. Da der Norwegischen Obersten Gerichtshofs in weiten Teilen das Urteils des EFTAGerichtshofs umsetzt, könnte der EGMR seinen eigenen Prüfungsmaßstab für eingeschränkt halten. Hiergegen spricht, dass der EFTA-Gerichtshof ausdrücklich keine Prüfung seines Ergebnisses am Maßstab von Art. 11 EMRK vorgenommen hat, sondern dies – ebenfalls ausdrücklich – dem Norwegischen Obersten Gerichtshof überlies.186 Den insoweit verbliebenen Ermessenspielraum hat der Norwegische Oberste Gerichtshof komplett „ungenutzt“ gelassen. So blieb Art. 11 EMRK und die zugehörige Rechtsprechung des EGMR völlig unerwähnt.187 Dies wiederum dürfte durch den EGMR voll überprüfbar sein. Sollte der EGMR zu dem Ergebnis gelangen, dass Art. 11 EMRK im HolshipVerfahren verletzt wurde, könnte dies weitreichende Folgen haben. Würde der EuGH dann einen geeigneten Sachverhalt vorgelegt bekommen, könnte dieser die sich ihm sodann erneut188 bietende Gelegenheit dazu nutzen, aufbauen auf der jüngeren EGMR-Rechtsprechung und den Bemerkungen der ILO-Ausschüsse seine bisherigen Linie zumindest zu modifizieren. Konkret könnte er den Maßstab der Verhältnismäßigkeitsprüfung absenken (beispielsweise in Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerfG und des BAG zur Verhältnismäßigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen)189. Ebenso erscheint nach wie vor die Annahme einer Bereichsausnahme für kollektive Maßnahmen von Arbeitnehmern von der Grundfreiheiten möglich.190

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Siehe auch Spano, EUConst 2017, 475, 488. EFTA-Gerichtshof v. 19. April 2016 – E-14/15 (Holship), Rn. 123; Spano, EUConst 2017, 475, 490. 187 Oberster Gerichtshof von Norwegen v. 16. Dezember 2016 – 2014/2089 (Holship), HR2016 – 2554-P, engl. Fassung abrufbar unter: https://www.domstol.no/globalassets/upload/hret/ decisions-in-english-translation/case-2014-2089.pdf. 188 Siehe zur ungenutzten naheliegensten Gelegenheit, dem Inkrafttreten der GRCh, unter Teil 2 A. IV. 189 Grundlegend BAG v. 21. April 1971 – GS 1/68, NJW 1971, 1668; bestätigt in BVerfG v. 26. März 2014 – 1 BvR 3185/09, NZA 2014, 493, Rn. 25; zu den hohen Hürden eines Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Klein, in: Gagel, SGB II/SGB III, Vorbm. vor § 130 SGB III, Rn. 35 ff. 190 Eine Orientierung böte EuGH v. 21. September 1999 – C-67/96 (Albany), Rn. 59 ff. 186

B. Bewältigung der griechischen Staatsschuldenkrisen

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B. Bewältigung der griechischen Staatsschuldenkrisen Viele Maßnahmen zur Krisenbewältigung in Mitgliedstaaten der Europäischen Union, wie Griechenland, Irland, Italien, Lettland, Portugal, Rumänien, Spanien, Ungarn und Zypern, wurden durch die internationalen Überwachungsausschüsse kritisiert.191 Entsprechend stellt sich die Frage, warum viele dieser Maßnahmen gegen völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz verstoßen, nicht jedoch gegen Unionsrecht (insbesondere in Gestalt der GRCh). Auch die Überwachungsausschüsse der ILO haben viele nationale Umsetzungsmaßnahmen der Bedingungen, die an die Vergabe von Hilfskrediten geknüpft wurden, beanstandet.192 Der im Folgenden dargestellten Kritik der Ausschüsse der ILO am Fall von Griechenland kommt exemplarischer Charakter zu. Bei Begutachtung der Krisenhilfsmaßnahmen der europäischen Institutionen unterscheidet sich der regulatorische Rahmen von typischen Maßnahmen der EU: Anfangs wurde die finanzielle Unterstützung der EG für Mitgliedstaaten in finanziellen Schwierigkeiten zunächst über eine (durch eine Verordnung eingerichtete) Fazilität gewährt.193 Die Vergabe von Darlehen wurde durch einen Beschluss des Rates genehmigt, der die mit dem Darlehen verbundenen Bedingungen in allgemeiner Form festlegte.194 Es folgte die Unterzeichnung eines Memorandum of Understanding zwischen der EG und dem betreffenden Mitgliedstaat, in dem die vom Mitgliedstaat durchzuführenden Reformen näher erläutert wurden.195 Später übernahm der durch eine Verordnung des Rates neu geschaffene Europäische Finanz191

Hierzu statt vieler: Ginsborg, Global Campus Human Rights Journal 2017, 97. Zu beachten ist, dass der EGMR allerdings in fast allen Verfahren im Zusammenhang mit der Finanz- und Wirtschaftskrise – und hierunter auch vielen im Zusammenhang mit der Erfüllung von Sparauflagen der Memoranda of Understanding – Klagen als unzulässig verwarf oder keine Verletzung der EMRK annahm, vgl. EGMR v. 25. Oktober 2010 – 2033/04 u. a. (Valkov u. a.); EGMR v. 7. Mai 2013 – 57665/12 (Koufaki u ADEDY); EGMR v. 14. Mai 2013 – 66529/11 (N.K.M.); EGMR v. 8. Oktober 2013 – 62235/12 u. a. (Da Conceição Mateus u. a.); EGMR v. 15. Oktober 2013 – 66365/09 u. a. (Savickas u. a.); EGMR v. 1. September 2015 – 13341/14 (da Silva Caralho Rico); EGMR v. 21. Juli 2016 – 63066/14 u. a. (Mamatas u. a.); EGMR v. 4. Juli 2017 – 75916/13 (Mockiene˙ ); EGMR v. 14. November 2017 – 46184/16 (P. Plaisier); EGMR v. 10. Juli 2018 – 27166/18 (Aielli u. a.); einzig in der Entscheidung des EGMR v. 14. Mai 2013 – 66529/11 (N.K.M.) wurde eine Verletzung von Art. 1 des 1. Protokolls der EMRK angenommen. 193 Siehe zuletzt Verordnung Nr. 332/2002 zur Einführung einer Fazilität des mittelfristigen finanziellen Beistands zur Stützung der Zahlungsbilanzen der Mitgliedstaaten v. 18. Februar 2002, ABl. 2002 L 53, 1; vgl. Kornezov, in: Vandenbrouke/Barnard/De Baere, A European Social Union after the Crisis, S. 407, 409. 194 Kornezov, in: Vandenbrouke/Barnard/De Baere, A European Social Union after the Crisis, S. 407, 409. 195 Ibid.; Ginsborg, Global Campus Human Rights Journal 2017, 97, 109 m. w. N. weist darauf hin, dass weitere Auflagen in nicht öffentlich zugänglicher Form, sondern im Rahmen persönlicher Treffen, per E-Mail oder mittels „geheimer Briefe“ mitgeteilt wurden; zur Rechtsnatur der Memoranda of Understanding Bourazeri, Tarifautonomie und Wirtschaftskrise, S. 423 ff. 192

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Teil 2: Kollidierende Vorgaben des ILO- und Unionsrechts

stabilisierungsmechanismus (EFSM) diese Aufgabe und begann mit der Verteilung der erforderlichen Mittel über die Europäische Finanzstabilitätsfazilität (EFSF).196 Dieser Mechanismus wurde 2012 durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) ersetzt, eine neue ständige (völkerrechtliche) Struktur.197

I. Die arbeitsrechtlichen Reformen in Griechenland auf Basis der Memoranda of Understanding Im Rahmen mehrerer im EFSM- und ESM-Vertragssystem geschlossenen Memoranda of Understanding198 verpflichtete sich Griechenland gegenüber den europäischen und internationalen Gläubigern, welche durch die Europäischen Kommission, die EZB und den Internationalen Währungsfonds (die „Troika“) vertreten wurden, bestimmte Reformen unter anderem auf dem Gebiet des Arbeitsrechts vorzunehmen.199 Die Reformen beinhalteten die Absenkung des Niveaus von Mindestlöhnen, die Kürzung von Zahlungs- und Pensionsansprüchen und Urlaubszeiten im Öffentlichen Dienst, die Absenkung von Kündigungsschutzstandards und die Einführung zeitlicher, räumlicher und personeller Beschränkungen der Geltung von Tarifverträgen.200 Die Umsetzung der in dieser Vereinbarung bestimmten Gesetzesänderungen stellten nach Ansicht des Griechischen Gewerkschaftsbund GSEE Verletzungen mehrerer Übereinkommen der ILO dar, die Griechenland ratifiziert 196

Verordnung (EU) Nr. 407/2010 v. 11. Mai 2010 zur Einführung eines europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus; ABl. 2010 L 118, 1, Kornezov, in: Vandenbrouke/Barnard/ De Baere, A European Social Union after the Crisis, S. 407, 409. 197 Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus v. 2. Februar 2012, ABl. 2012 L 91, 1, Art. 13 Abs. 3 und 4; Kornezov, in: Vandenbrouke/Barnard/De Baere, A European Social Union after the Crisis, S. 407, 409. 198 Das erste Memorandum of Understanding on Specific Economic Policy Conditionality, welches im Mai 2010 abgeschlossen wurde und das zweite Memorandum of Economic and Financial Policies, Juni 2011, im Folgenden gemeinsam Memoranda of Understanding, vgl. auch Yannakourou/Tsimpoukis, CLLPJ 2014, 331, 331 f.; Däubler, in: Schlachter/Heuschmid/ Ulber, Arbeitsvölkerrecht, § 2, Rn. 34 ff. 199 Auf die konkreten Inhalte und rechtlichen Folgen der Empfehlungen des Rates nach Art. 6 und Art. 7 ff. VO Nr. 1176/2011, ABl. 2011 L 306, 25); Art. 3 VO Nr. 1174/2011, ABl. 2011 L 306, 8; und die unter Mitwirkung der Kommission, der EZB und des Internationalen Währungsfonds verfassten Memoranda of Understanding kann hier nicht eingegangen werden. Hierzu: Yannakourou/Tsimpoukis, CLLPJ 2014, 331, 333 ff.; IAA, IAK, 100th Session 2011, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 83, Rn. 9 ff.; Deakin, in: Vandebrouke/ Barnard/De Baere, A European Social Union after the Crisis, S. 192, 199; Bark/Gilles, EuZW 2013, 367, 370; Rödl/Callsen, Kollektive soziale Rechte unter dem Druck der Währungsunion, S. 18 ff.; zu den Folgen auch Waas, in: FS Kempen, S. 38 ff. 200 IAA, Report on the High-Level-Mission to Greece, abrufbar unter: http://www.ilo.org/ wcmsp5/groups/public/@ed_norm/@normes/documents/missionreport/wcms_170433.pdf; Fischer-Lescano, Austeritätspolitik und Menschenrechte, abrufbar unter: http://www.akeuropa. eu/_includes/mods/akeu/docs/main_report_de_328.pdf, S. 23 f.; zu den Auswirkungen der Auflagen der Hilfszahlungen in Portugal: Seifert, SR 2014, 14, 19 ff.

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hatte.201 Daher übermittelte er im Juli 2010 dem Sachverhaltsausschuss Anmerkungen über die Maßnahmen der griechischen Regierung.202

II. Schlussfolgerungen der Ausschüsse, Ergebnisse der High-Level-Mission Der Sachverständigenausschuss griff den in der Beschwerde der GSEE mitgeteilten Sachverhalt bereits in seinem im Februar 2011 veröffentlichten Bericht auf. Vor dem Hintergrund des Umfangs und der Komplexität der Änderungen wollte er sich in diesem Bericht jedoch noch nicht festlegen, ob und gegebenenfalls welche Übereinkommen tatsächlich verletzt wurden.203 Die griechische Regierung wurde vom Sachverständigenausschuss aufgefordert, technische Unterstützung durch das IAA sowie eine High-Level-Mission zu akzeptieren. Ihr Bericht sollte für den Sachverständigenausschuss die Grundlage für den kommenden Bericht bilden, in dem über die Vereinbarkeit der Maßnahmen mit den Übereinkommen entschieden werden sollte.204 1. 2011: Aufnahme in die Liste der gravierendsten Verletzungen durch den Normanwendungsausschuss Dessen ungeachtet wurde im Normanwendungsausschuss der 100. IAK 2011 Griechenland bereits auf die Liste der 25 gravierendsten Fälle von Übereinkommensverletzungen (im Fall Griechenlands Übereinkommen Nr. 98) aufgenommen. In der Besprechung des Falls im Normanwendungsausschuss wurden die EU-/IWFAuflagen als Grundlage für die Maßnahmen der griechischen Regierung benannt.205 In seinem Bericht ersucht der Normanwendungsausschuss die Regierung von 201 Eine Auflistung der geltend gemachten Verletzungen von Übereinkommen findet sich im IAA, Report on the High-Level-Mission to Greece, abrufbar unter: http://www.ilo.org/wcmsp5/ groups/public/@ed_norm/@normes/documents/missionreport/wcms_170433.pdf, Rn. 1; zum Inhalt der Vorwürfe siehe: IAA, IAK, 100th Session 2011, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 82 f. 202 IAA, Report on the High-Level-Mission to Greece, abrufbar unter: http://www.ilo.org/wcm sp5/groups/public/@ed_norm/@normes/documents/missionreport/wcms_170433.pdf, Rn. 1. Parallel zu den im ILO-Normüberwachungsmechanismus geltend gemachten Verletzungen legten die griechischen Gewerkschaften auch Beschwerden wgen der Verletzung der ESC ein, siehe Complaint 65/2011 sowie Complaint 66/2011. Hierzu Clauwaert/Schömann, in: FS Lörcher, S. 239, 243 ff.; Servais, International Labour Law, Rn. 138. 203 IAA, IAK, 100th Session 2011, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 83. 204 Ibid. Die völker- und europarechtlichen Hintergründe der Maßnahmen der griechischen Regierung hatte der Sachverständigenausschuss in seinem Bericht nicht erwähnt. Für andere Krisenstaaten wurden bislang keine vergleichbare High-Level-Missions entsandt, vgl. Seifert, SR 2014, 14, 30. 205 IAA, IAK, 100th Session 2011, Record of Proceedings, S. 18/II/ 68.

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Teil 2: Kollidierende Vorgaben des ILO- und Unionsrechts

Griechenland, einen umfassenden und offenen Dialog mit den Sozialpartnern zu führen, um die Auswirkungen der Sparmaßnahmen zu überprüfen und sicherzustellen, dass die Bestimmungen von Übereinkommen Nr. 98 bei künftigen Maßnahmen vollständig berücksichtigt werden.206 2. 2011: Bericht der High-Level-Mission Bereits aus der Formulierung des Mandats der High-Level-Mission wird offenbar, dass der Sachverständigenausschuss (wie auch der Normanwendungsausschuss) die Vorgaben der Kommission, EZB und IWF als den wesentlichen Impuls der Gesetzesänderungen in Griechenland wahrnahm.207 So umfasste das durch den Sachverständigenausschuss definierte Mandat der High-Level-Mission ausdrücklich die Erfassung der Hintergründe der Maßnahmen und des Einflusses der Vorgaben durch „internationale Organisationen“, da man davon ausging, nur durch ein komplementäres Verständnis dieser Aspekte konstruktive Vorschläge zur Verbesserung der Lage machen zu können.208 Aus diesem Grund trafen sich die Vertreter der High-Level-Mission nach ihrem Aufenthalt in Griechenland im September 2011 in Brüssel mit Vertretern der Kommission.209 Dem Bericht der High-Level-Mission zufolge erläuterten die Mitglieder der Kommission im Rahmen dieses Treffens die wirtschaftlichen Notwendigkeiten für die in Griechenland eingeleiteten Maßnahmen.210 Hierbei beantworteten die Vertreter der Kommission (die sogenannte „Task Force for Greece“)211 die Frage der High-Level-Mission, warum die ILO – anders als andere internationale Organisationen – nicht an Treffen und Projekten der Task Force beteiligt würde, wie 206

Ibid., S. 18/II/72; vgl. auch: IAA, Report on the High-Level-Mission to Greece, abrufbar unter: http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/@ed_norm/@normes/documents/missionre port/wcms_170433.pdf, Rn. 3. 207 Vgl. auch Bryde, AuR 2019, 494, 497. 208 IAA, Report on the High-Level-Mission to Greece, abrufbar unter: http://www.ilo.org/ wcmsp5/groups/public/@ed_norm/@normes/documents/missionreport/wcms_170433.pdf, Rn. 5. 209 Ibid., Rn. 273: Vertreter der Generaldirektoren für Beschäftigung, Soziales und Integration, für Wirtschaft sowie Finanzen, für Justiz und Verbraucher sowie mit Vertretern der EU Task Force for Greece. 210 Hierzu etwa Ewing, in: FS Lörcher, S. 360, 361. 211 Die Task Force for Greece (TFGR) wurde inzwischen durch den Structural Reform Support Service (SRSS) abgelöst. TFGR und SRSS dienen der technischen Unterstützung Griechenlands bei der Umsetzung der MoU (der Troika gehör(t)en sie nicht an), vgl. zu den Hintergründen Mussler, in: FAZ v. 8. September 2015, S. 17 und Maurice, in: euobserver v. 16. Februar 2016, abrufbar unter: https://euobserver.com/economic/132292; vgl. auch Art. 14 der zwischenzeitlich außer Kraft getretenen VO Nr. 2017/825 v. 17. Mai 2017, ABl. 2017 L 129, 1: „Die Kommission unternimmt alle Anstrengungen, um Komplementarität und Synergien mit der von einschlägigen internationalen Einrichtungen geleisteten Unterstützung sicherzustellen“. Die ILO dürfte von der Begriffsdefinition der „internationalen Einrichtungen“ in Art. 2 Abs. 4 der VO erfasst sein.

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folgt: „Die ILO habe eine wichtige Rolle bei den Arbeitsmarktreformen und der Überarbeitung des Rentensystems gespielt“ und „die ILO würde zu zukünftigen Sitzungen der Task Force zu einschlägigen Themen eingeladen werden“.212 Der Bericht der High-Level-Mission enthielt bereits zahlreiche Bemerkungen über die Verletzungen von Übereinkommen der ILO, so etwa zum Vorrang von Tarifverträgen auf Unternehmensebene („must express its deep concern at the further developments“).213 Die High-Level-Mission hege die Besorgnis, dass die Änderungen langfristige und irreparable Auswirkungen auf das Tarifvertragssystem, den sozialen Frieden und für die griechische Gesellschaft haben könnten.214 3. 2012: Schlussfolgerungen des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit im Verfahren Nr. 2820 In seiner Empfehlung im Fall Nr. 2820 stellte der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit 2012 zur Vereinbarkeit der Gesetzesänderungen in Griechenland ausdrücklich den Bezug zu den einschlägigen Memoranda of Understanding her.215 Nach Ansicht des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit sei es von großer Bedeutung, dass die Regierung gemeinsam mit den Sozialpartnern diese Maßnahmen überprüfe. Der Ausschuss erwarte, dass die Sozialpartner künftig uneingeschränkt in die Beratungen mit der Kommission, der EZB und dem IWF zu allen Fragen einbezogen werden, die Menschenrechte, die Vereinigungsfreiheit und des Rechts auf Kollektivverhandlungen betreffen. Nur so könnten effektiv weitere Verletzungen verhindert werden.216

212 IAA, Report on the High-Level-Mission to Greece, abrufbar unter: http://www.ilo.org/ wcmsp5/groups/public/@ed_norm/@normes/documents/missionreport/wcms_170433.pdf, Rn. 284. Eine Zusammenarbeit zwischen der SRSS und ILO-Organen, wie etwa dem IAA, lässt sich den Veröffentlichungen des SRSS nicht entnehmen. Zu den Gesprächen mit Vertretern des IWF siehe Rn. 286 ff. des Berichts. 213 IAA, Report on the High-Level-Mission to Greece, abrufbar unter: http://www.ilo.org/ wcmsp5/groups/public/@ed_norm/@normes/documents/missionreport/wcms_170433.pdf, Rn. 306. 214 Ibid., Rn. 307. 215 IAA, Verwaltungsrat, 316th Session November 2012, 365th Report of the CFA, Rn. 784 ff., insb. Rn. 950: Beschwerde mehrerer griechischer Gewerkschaften, des griechische Gewerkschaftsbunds und des internationalen Gewerkschaftsbunds im Fall Nr. 2820. 216 Ibid., Rn. 1002; hierzu auch Seifert, SR 2014, 14, 30; siehe zudem: ECSR v. 7. Dezember 2012 – Beschwerde Nr. 79/2012 (POS-DEI/Griechenland), Decision on the merits, Rdn. 32; ECSR v. 23. März 2017 – Beschwerde 111/2014 (GSEE), Decision on the merits, und hierbei insbesondere die unter Rn. 47 ff. zusammengefasste schriftl. Stellungnahme der Kommission.

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Teil 2: Kollidierende Vorgaben des ILO- und Unionsrechts

4. 2012 – 2014: Bericht des Sachverständigenausschusses Auch der Sachverständigenausschuss kritisierte in seinem 2012 veröffentlichten Bericht Griechenland für zahlreiche Reformen, welches dieses zur Erfüllung der Auflagen der Memoranda of Understanding vorgenommen hatte.217 Der Ausschuss stellte (in einer für ihn sehr deutlichen Art und Weise) fest, dass die Maßnahmen für die Grundlagen eines funktionierenden Tarifsystems in Griechenland die Gefahr eines „Zusammenbruchs“ bergen.218 Auch der Sachverständigenausschuss äußert hinsichtlich einer Verletzung von Übereinkommen Nr. 98 wiederholt „die Hoffnung“, dass die Sozialpartner an der Aushandlung zukünftiger Memoranda of Understanding beteiligt werden.219 Während diese Bedenken zunächst im Bericht des Jahres 2013 wiederholt wurden,220 lässt sich in den darauffolgenden Jahren im Hinblick auf den Aspekt der Beteiligung der Sozialpartner an den Verhandlungen der griechischen Regierung mit den Vertretern der Troika ein Fortschritt erkennen.Im Bericht des Jahres 2014 stellte der Sachverständigenausschuss fest („notes with interest“), dass unter anderem ein Treffen der ILO und der Europäischen Kommission unter Beteiligung der griechischen Sozialpartner und der Regierung zur Förderung solider Arbeitsbeziehungen und des sozialen Dialogs in Krisenzeiten stattgefunden habe.221

217 Observations wurden in diesem Jahr zu Griechenland zu folgenden Übereinkommen getätigt: Nrn. 81, 87, 88, 95, 98, 100, 102, 105, 111, 122, 150, 154, 156; vgl. auch Yannakourou/ Tsimpoukis, CLLPJ 2014, 331, 357 f.; Rönnmar, in: Barnard/Peers, European Union Law, S. 616. Ewing, in: FS Lörcher, S. 361, 363 kritisiert, dass auch Direct Requests an die griechische Regierung gestellt wurden, obwohl der Sachverhalt durch den Bericht der High-LevelMission bereits hinreichend aufgeklärt worden war. 218 IAA, IAK, 101st Session 2012, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 162; hierzu Ewing, in: FS Lörcher, S. 361, 363 f. 219 IAA, IAK, 101st Session 2012, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 161: „The Committee expresses the firm hope that the Government and the social partners will be in a position to come together in the very near future to review these measures and elaborate a system that will be relevant to Greece and its traditions. In this regard, the Committee also trusts that the social partners will be fully involved in the determination of any further alterations within the framework of the agreements with the EC, the IMF and the European Central Bank (ECB) that touch upon such aspects which go to the heart of labour relations, social dialogue and social peace, and that their views will be taken fully into account“. 220 IAA, IAK, 103rd Session 2013, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 107: „The Committee once again urges the creation of a space for the social partners that will enable them to be fully involved in the determination of any further alterations within the framework of the agreements with the EC, the International Monetary Fund (IMF) and the European Central Bank (ECB) that touch upon aspects which go to the heart of labour relations, social dialogue and social peace, and trusts that the views of the social partners will be fully taken into account.“ 221 IAA, IAK, 103rd Session 2014, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 111; zu Recht kritisch zu den Auswirkungen der Schlussfolgerungen bis 2014: Seifert, SR 2014, 14, 30.

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5. 2015 – 2020: Kein Verweis auf Auflagen der Troika trotz neuem Memorandum of Understanding Anders als frühere Verordnungen enhält die aktuelle die Verordnung 472/2013 (Teil des „two-pack“)222 spezifische Regelungen zur Berücksichtigung von Art. 28 GRCh. Ebenso ist die Beteiligung der Sozialpartner bei der Bestimmung der Anforderungen an den hilfeersuchenden Mitgliedstaat vorgesehen.223 Dies dürfte (auch)224 auf die Bemerkungen der Ausschüsse der ILO zurückzuführen sein Zumindest zeigt sich eine inhaltliche Überschneidung zwischen den Forderungen der Ausschüsse und dem Inhalt der Verordnung: Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 Verordnung 472/ 2013 bestimmt, dass ein Mitgliedstaats im Falle des Ersuchens um Finanzhilfen in Übereinstimmung mit der Kommission, die im Benehmen mit der EZB und gegebenenfalls dem IWF handelt, einen Entwurf eines makroökonomischen Anpassungsprogramms erarbeitet. Art. 7 Abs. 1 UAbs. 5 Verordnung 472/2013 bestimmt weiter, dass der Entwurf eines makroökonomischen Anpassungsprogramms Art. 152 AEUV und Art. 28 der GRCh225 „uneingeschränkt“ einhalten müsse. Diese (recht vage) Regelung zeigte inzwischen auch in der Realität Auswirkungen. So enthielt ein am 19. August 2015 (kurz vor Ende des Kabinetts Tsipras I) durch die griechische Regierung und die Kommission unterzeichnetes drittes Memorandum of Understanding nicht nur weitere Sparauflagen, sondern auch eine Bestimmung, welche die Regierung dazu verpflichtete, bis Oktober 2015 einen von einer Gruppe unabhängiger Sachverständiger geleiteten Konsultationsprozess einzuleiten. In dessen Rahmen sollen arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen, etwa zu Massenentlassung, Arbeitskämpfen und Tarifverhandlungen, unter Berücksichtigung der best practices auf internationaler und europäischer Ebene überprüft werden.226Bei diesem Konsultationsprozess sei auch die ILO zu beteiligen. Nach Abschluss des Prozesses seien die Rahmenbedingungen für Massenentlassungen, Arbeitskämpfe und Tarifverhandlungen mit den best practices der EU in Einklang zu bringen.227 222 Verordnung 472/2013, ABl. 2013 L 140, 1; s. a. Verordnung 473/2013, ABl. 2013 L 140, 11; siehe auch Bourazeri, Tarifautonomie und Wirtschaftskrise, S. 431 ff. 223 Vgl. auch die grds. positive Einordnung der Verordnung durch Lenaerts/Gutiérrez-Fons, in: Vandenbrouke/Barnard/De Baere, A European Social Union after the Crisis, S. 433, 439 f. 224 Neben den Bemerkungen des Sachverständigenausschusses dürften ebenso die Anstrengungen der Gewerkschaften und vieler weiterer europäischer Interessengruppen zu berücksichtigen sein. 225 Zur Bindung der Kommission an die GRCh im Rahmen der Aushandlung eines Memorandum of Understanding unter Teil 4 C. I. 2. a). 226 Zu dessen Umsetzung Sideris/Triadafillidis, ZIAS 2017, 66, 73 ff. 227 Memorandum of Understanding between the European Commission acting on behalf of the European Stability Mechamism and the Hellenic Republic and the Bank fo Greece v. S. 21 f., abrufbar unter: https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/01_mou_20150811_en1.pdf; zu den wesentlichen Empfehlungen der Expertenkommission und die Chancen auf Umsetzung siehe Däubler, Wiederaufbau statt Deregulierung in Griechenland, S. 3, abrufbar unter: http:// www.hugo-sinzheimer-institut.de/fileadmin/user_data_hsi/Veroeffentlichungen/Working_Pa per/09_2016/HSI-Working-Paper_Nr._09.pdf.

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Teil 2: Kollidierende Vorgaben des ILO- und Unionsrechts

Im Bericht des Sachverständigenausschusses von 2015 findet sich kein ausdrücklicher Verweis auf die Beteiligung an den Verhandlungen mit Kommission, EZB und IWF.228 Es wird aber indirekt auf das dritte Memorandum of Understanding Bezug genommen. Der Ausschuss nimmt mit Interesse Griechenlands Unterzeichnung des Kooperationsabkommens mit der ILO und aktuellen Reformbestrebungen im Zusammenhang mit den Umsetzungsakten des Übereinkommens Nr. 98 zur Kenntnis („notes with interest“).229 2016 und 2017 wurde Griechenland durch den Sachverständigenausschuss nicht mehr im Zusammenhang mit Verletzungen von Übereinkommen Nr. 87 oder Nr. 98 erwähnt.230 Auch der 2018 veröffentlichte Bericht enthielt keine Schlussfolgerungen zu Übereinkommen Nr. 87 im Zusammenhang mit den Umsetzungsakten des Memorandum of Understanding.231 Hinsichtlich Übereinkommen Nr. 98 nimmt der Sachverständigenausschuss (weiterhin) mit Interesse die laufenden Arbeiten an der Überarbeitung des Kollektivsystems zur Kenntnis, weist aber auch auf mehrere neue und bereits in früheren Berichten erwähnte (potentielle) Verletzungen des Übereinkommens hin und fordert die Regierung zur Aufklärung auf.232 Auch in den Berichten für die Jahre 2019 und 2020 immt der Sachverständigenausschuss nicht ausdrücklich233 Bezug auf die Vorgaben der internationalen Kreditgeber. Entsprechend waren die Bemühungen der ILO-Überwachungsausschüsse vergleichsweise erfolgreich. Diese Einschätzung ist allerdings mit dreifacher Vorsicht zu versehen. Erstens ist zunächst abzuwarten, inwiefern die Empfehlungen der auf Grundlage des dritten Memorandum of Understanding eingesetzten Kommission inhaltliche Verbesserungen beinhalten und ob diese auch angenommen und später umgesetzt werden. Zweitens ist eine Konditionalität zwischen den Schlussfolgerungen und den Änderungen des Unionsrechts sowie des „völkerrechtsfreundlicheren“ Inhalts des dritten Memorandums nicht zu beweisen. Der von den Ausschüssen der ILO ausgeübte Druck kann eine der Ursachen der Veränderungen sein. Gesichert ist dies aber nicht. Drittens ist zu bedenken, dass die nun ersichtlichen Ansätze einer Veränderung erst nach fast einem Jahrzehnt der Krise in Griechenland 228 IAA, IAK, 104th Session 2015, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 85 ff. Die sog. „Troika“ wurde ab Februar 2015 um den Europäischen Stabilititätsmechanismus als viertes Mitglied erweitert. 229 IAA, IAK, 104th Session 2015, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 86. 230 Vgl. IAA, IAK, 105th Session 2016, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR; IAA, IAK, 106th Session 2017, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass Griechenland in diesen Jahren dafür gerügt wurde, überhaupt keine Berichte zur Einhaltung dieser Übereinkommen erstattet zu haben. 231 IAA, IAK, 107th Session 2018, Report III (Part A), Report of the CEACR, S. 90. 232 Ibid., S. 90 f. 233 Im Zusammenhang mit den Vorgaben standen jedoch die nun vom Sachverständigenausschuss erneut kritisierten Gesetzesänderungen, welche – vereinfacht dargestellt – den Vorrang von durch Arbeitnehmer ohne die Mitwirkung von Gewerkschaften geschlossenen Firmentarifverträgen vor Flächentarifverträgen erlauben, siehe IAA, IAK, 108th Session 2019, Report III (Part A), Report of the CEACR, S. 81.

B. Bewältigung der griechischen Staatsschuldenkrisen

209

zu beobachten sind, die Schlussfolgerungen der ILO-Ausschüsse also, wenn überhaupt, erst sehr spät Wirkung auf die Beteiligten wie etwa die Kommission zeigen. Wie von Beginn an von den ILO-Ausschüssen bemerkt wurde, können durch tiefgreifende Verletzungen des Rechts auf Kollektivverträge irreparable Schäden an einem nationalen System entstehen, die (insbesondere in Zeiten auch im internationalen Vergleich sinkender Tarifbindung und zunehmender Individualisierung) nicht leicht zu revidieren sind. Möglicherweise kommt das Einschwenken somit zu spät.

III. Erkenntnisse Für das Verhältnis der ILO-Überwachungsgremien zur Überprüfbarkeit von Unionsrecht lassen sich zudem folgende Erkenntnisse gewinnen: Eine direkte Ansprache der Unionsorgane findet in den Berichten nicht statt. Die EU ist aber auch nicht auf Grundlage einer Mitgliedschaft und Ratifizierung der Übereinkommen an diese gebunden.234 Entsprechend richten sich sämtliche Bemerkungen an den Mitgliedstaat, in diesem Fall Griechenland. Der Sachverständigenausschuss ignoriert die Existenz der EU und die völker- und europarechtlichen Zusammenhänge der nationalen Maßnahmen aber nicht. Interessant ist insbesondere, dass der Sachverständigenausschuss und der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit den Mitgliedstaat auffordern, die Sozialpartner nicht nur hinsichtlich der auf nationaler Ebene getroffenen (Ausführungs-)Maßnahmen zu beteiligen. Beide sehen es als notwendig an, dass die Sozialpartner bereits in die Verhandlungsprozesse der Memoranda of Understanding eingebunden werden. Da ein Abweichen von den Memoranda of Understanding im Rahmen der Durchführung kaum mehr möglich erscheint, ohne Gefahr zu laufen, die Auszahlung der bewilligten Kredite zu gefährden, ist dies der einzig maßgebliche Zeitpunkt für die Sicherstellung der effektiven Beteiligung der Sozialpartner. Eine entsprechende Forderung der Einbindung in Verhandlungen auf internationaler Ebene lässt sich weder dem Wortlaut der Übereinkommen Nr. 87 oder Nr. 144 noch der Verfassung entnehmen. Sie zeugt allerdings von einer überlegten Herangehensweise der Ausschüsse, mit der unter Beachtung der Besonderheiten des europäischen Mehrebenensystems versucht wird, eine echte Beteiligung der Sozialpartner sicherzustellen.

234

Zu anderweitigen Überlegungen siehe unter Teil 3 C. und D.

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Teil 2: Kollidierende Vorgaben des ILO- und Unionsrechts

C. Vereinbarkeit der FNV-Kunsten-Entscheidung mit völkerrechtlichen Vorgaben? Laut der seit Jahrzehnten bestehenden Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses sowie des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit umfasst der persönliche Schutzbereich des Rechts zum Abschluss von Tarifverträgen zur Regelung der Lohnund Arbeitsbedingungen (Art. 4 Übereinkommen Nr. 98) neben Arbeitnehmern grundsätzlich auch Solo-Selbstständige (self-employed).235 Auf unionsrechtlicher Ebene ist dieses Recht durch die Wettbewerbsregeln der Art. 101 f. AEUV wohl eingeschränkt. Im Vorabentscheidungsverfahren FNV Kunsten hatte der EuGH über die Vorlagefrage des Gerichtshofs von Den Haag zu entscheiden, ob tarifvertragliche Bestimmungen, die Mindesttarife für selbstständige Dienstleistungserbringer vorsehen, vom Anwendungsbereich des Art. 101 Abs. 1 AEUV ausgenommen sind.236 Ein der Entscheidung zugrunde liegender Tarifvertrag legte Mindesttarife fest, die sowohl für Aushilfsmusiker, die im Rahmen eines Arbeitsvertrags in einem Orchester beschäftigt sind, gelten, als auch für Aushilfsmusiker, die im Rahmen eines Dienstleistungsvertrags tätig wurden – „und nicht als ,Arbeitnehmer‘ im Sinne des Tarifvertrags anzusehen sind“.237 Die FNV-Kunsten-Entscheidung baut im Wesentlichen auf der früheren Albany-Entscheidung auf, in welcher der EuGH eine ungeschriebene Bereichsausnahme des Art. 101 Abs. 1 AEUV angenommen hatte, nach der Tarifverträge zwischen Organisationen, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer vertreten, vom Kartellverbot ausgenommen sind.238

I. Die FNV-Kunsten-Entscheidung Wie der EuGH die Vorlagefrage beantwortete, wird in der Literatur unterschiedlich aufgefasst: Der EuGH entschied, dass Dienstleistungserbringer wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aushilfsmusiker, auch wenn sie die gleiche Tätigkeit wie Arbeitnehmer ausüben, grundsätzlich als „Unternehmen“ im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV gelten.239 Eine Gewerkschaft, die selbstständige Dienst235 IAA, IAK, 101st Session 2012, Report III (Part 1B), General Survey on the fundamental Conventions concerning rights at work in light of the ILO Declaration on Social Justice for a Fair Globalization, Rn. 209 und zum entsprechenden Geltungsbereich von Übk. Nr. 87 Rn. 53 und Rn. 71; IAA, Compilation of decisions of the CFA, Rn. 387 f. und Rn. 1285. 236 EuGH v. 4. Dezember 2014 – C-413/13 (FNV Kunsten), Rn. 16. 237 Ibid., Rn. 8. Die Möglichkeit der Erstreckung von Tarifverträgen auf Dienstnehmer oder der Regelung der Arbeitsbedingungen in eigenen Kollektivverträgen sehen mehrere europäische Länder vor, vgl. Fuchs, ZESAR 2016, 297, 299 f. zu Deutschland, Österreich, Italien und Spanien. 238 EuGH v. 21. September 1999 – C-67/06 (Albany). 239 EuGH v. 4. Dezember 2014 – C-413/13 (FNV Kunsten), Rn. 27.

C. Vereinbarkeit der FNV-Kunsten-Entscheidung mit völkerrechtlichen Vorgaben? 211

leistungserbringer vertrete, handle nicht als Gewerkschaft, sondern als Unternehmervereinigung. In diesem Fall greife die Bereichsausnahme nicht.240 Dies schließe allerdings nicht aus, dass es sich bei den durch die Gewerkschaft vertretenen Dienstleistungserbringern in Wirklichkeit um „Scheinselbstständige“ handele, „das heißt Leistungserbringer, die sich in einer vergleichbaren Situation wie die Arbeitnehmer befinden“.241 Ein Dienstleistungserbringer verliere seine Eigenschaft als unabhängiger Wirtschaftsteilnehmer und damit als Unternehmer, wenn er sein Verhalten auf dem Markt nicht selbstständig bestimmen könne, sondern vollkommen abhängig von seinem Auftraggeber sei, weil er kein finanzielles und wirtschaftliches Risiko trage und als Hilfsorgan in das Unternehmen eingegliedert sei.242 Bis hier scheint die Entscheidung des EuGH die Ansicht zu stützen, dass auch Selbstständige unter die Bereichsausnahme fallen könnten. Im Folgenden führt der EuGH allerdings aus, dass die Einstufung als „selbstständiger Leistungserbringer“ nach nationalem Recht die Einstufung als Arbeitnehmer nach dem Unionsrecht nicht ausschließe, wenn die Selbstständigkeit nur fiktiv sei und damit ein tatsächliches Arbeitsverhältnis verschleiert wird. Im Anschluss nennt der EuGH die Kriterien des autonomunionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriffs.243 Das vorlegende Gericht solle daher prüfen, ob es sich nicht bei den selbstständigen Aushilfsmusikern in Wirklichkeit um „Scheinselbstständige“ handele.244 Zum Teil wird daher vertreten, dass die FNV-Kunsten-Entscheidung dahingehend zu verstehen sei, dass „echte“ Selbstständige nicht von der Bereichsausnahme erfasst seien, sondern nur sofern ihre vertragliche Beziehung unter den autonom-unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff subsumiert werden muss.245 Andere interpretieren den Begriff der „Scheinselbstständigen“ als eine Gruppe „echter“ Selbstständiger, die sich in einer vergleichbar schutzbedürftigen Situation befinden.246

240

Ibid., Rn. 28, Rn. 30. Ibid., Rn. 31. 242 Ibid., Rn. 33. 243 Ibid., Rn. 35 f. 244 Ibid., Rn. 37 f. 245 Fuchs, ZESAR 2016, 297, 303 f. mit weiterem Verweis auf niederl. Literatur; Schubert, in: Franzen/Gallner/Oetker, Art. 28 GRCh, Rn. 18 und Rn. 90; wohl Steinle/Haußmann, Anm. zu EuGH v. 4. Dezember 2014 – C-413/13 (FNV Kunsten), EuZW 2015, 313, 317; Löwisch/ Rieble, § 12a TVG, Rn. 25. 246 Heuschmid/Hlava, Anm. zu EuGH v. 4. Dezember 2014 – C-413/13 (FNV Kunsten), AuR 2015, 193, 194; (wohl) Waas, in: BeckOK Arbeitsrecht, § 1 TVG, Rn. 11. 241

212

Teil 2: Kollidierende Vorgaben des ILO- und Unionsrechts

II. Die Schlussfolgerungen der Überwachungsausschüsse der ILO Diese bisher bestehende Unklarheit247 über die Auslegung des Unionsrechts durch den EuGH kommt auch in den Berichten des Sachverständigenausschusses und des Normanwendungsausschusses zum Vorschein. 1. Keine Annahme eines Verstoßes durch den Sachverständigenausschuss Durch den Irischen Gewerkschaftsbund ICTU war der Sachverständigenausschuss darauf aufmerksam gemacht worden, dass die Irischen Wettbewerbsbehörden einen Tarifvertrag für ungültig erklärt hatten, der Arbeitsbedingungen für workers im Medienbereich regelte.248 Sich anschließende Bestrebungen der irischen Regierung, das Recht von workers auf Vertretung durch Gewerkschaften beim Abschluss von Tarifverträgen in den Competition Act 2002 aufzunehmen, scheiterten an Auflagen der EU/IWF-Finanzhilfen.249 Nach der FNV-Kunsten-Entscheidung hatte ICTU die irischen Wettbewerbsbehörden gebeten, ihre Entscheidung zu überdenken, was diese jedoch ablehnten.250 Hierbei lässt sich in den Berichten des Sachverständigenausschusses erkennen, dass auch ICTU und die Wettbewerbsbehörden die Entscheidung des EuGH unterschiedlich auslegten. Der Sachverständigenausschuss selbst legt die Entscheidung des EuGH dahingehend aus, dass die Bezeichnung der „Scheinselbstständigen“ Dienstleistungserbringer meine, die sich in einer vergleichbaren Situation wie Arbeitnehmer befänden.251 Entsprechend kann sich für den Sachverständigenausschuss keine Kollision zwischen Unionsrecht und Übereinkommen Nr. 98 ergeben, sondern nur zwischen dem Übereinkommen und nationalem Recht.252

247

Ebenso Schubert, in: Franzen/Gallner/Oetker, Art. 28 GRCh, Rn. 18. IAA, IAK, 102nd Session 2013, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, direct request zu Übk. Nr. 98 an Irland, Volltext nicht im Bericht veröffentlicht, aber abrufbar unter: https://www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=1000:13101:0::NO:13101:P13101_COMMENT_ ID:3082151. 249 Ibid.; zum Memorandum of Understanding: Doherty, ELLJ 2014, 81, 86 ff. 250 IAA, IAK, 105th Session 2016, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 80. 251 Ibid., S. 149; ohne Festlegung zu dieser Frage der Überblick im General Survey von 2020, IAA, IAK, 109th Session 2020, Report III (Part B), General Survey, Promoting employment and decent work in a changing landscape, Rn. 267 ff. 252 So im Fall von Irland IAA, IAK, 105th Session 2016, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 80 und IAA, IAK, 106th Session 2017, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 135 und im Fall der Niederlande IAA, IAK, 107th Session 2018, Report III (Part A), Report of the CEACR, S. 149. 248

C. Vereinbarkeit der FNV-Kunsten-Entscheidung mit völkerrechtlichen Vorgaben? 213

2. Geteilte Meinungen im Normanwendungsausschuss über das Vorliegen eines Verstoßes Im Jahr 2016 wurde Irland wegen der dargestellten Entscheidung seiner Wettbewerbsbehörden durch den Normanwendungsausschuss auf die Liste der 24 besonders schwerwiegenenden Fälle aufgenommen.253 Die Debatte im Normanwendungsausschuss der 105. IAK 2016 zeigt abermals, wie unterschiedlich das FNV Kunsten-Urteil des EuGH verstanden wird. So nahmen die Vertreter der Arbeitgeberorganisationen an, mit dem vom EuGH verwendete Begriff der „Scheinselbstständigkeit“ seien allein Konstellationen gemeint, in denen zwar nach der Bezeichnung des Vertrags ein freies Mitarbeiterverhältnis, tatsächlich aber ein Arbeitsverhältnis besteht. Anders als der Sachverständigenausschuss ging die Arbeitgeberseite insofern davon aus, dass der EuGH die wettbewerbsrechtliche Bereichsausnahme gerade nicht auf schutzwürdige Gruppen echter Selbstständiger ausweiten wollte.254 Die Arbeitnehmerseite hingegen ging davon aus, der EuGH habe die im AlbanyUrteil entwickelte Bereichsausnahme in der FNV Kunsten-Entscheidung auf schutzwürdige Selbstständige erstreckt.255 Wie auch der Sachverständigenausschuss nahmen sie an, dass das EU-Wettbewerbsrecht in seiner Auslegung durch den EuGH nicht mit dem Inhalt des Übereinkommens Nr. 98 kollidiere. Insoweit kritisieren sie allein die irischen Behörden, die (auf Grund eines abweichenden Verständnisses der FNV Kunsten-Entscheidung) gegen Übereinkommen Nr. 98 verstoßen hätten, was eine Aufnahme in die Liste der 24 schwerwiegensten Fälle gerechtfertigt habe.256

III. Erkenntnisse Der Vortrag der beiden Gruppen zeigt, dass die Beantwortung der Frage, ob die unionsrechtlichen Vorgaben auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts mit den völkerrechtlichen Vorgaben von Übereinkommen Nr. 98 vereinbar sind, letztlich allein 253

IAA, IAK, 105th Session 2016, Provisional Record of Proceedings, S. 16 Part II/99. So etwa ein Arbeitgebervertreter aus Dänemark in IAA, IAK, 105th Session 2016, Provisional Record of Proceedings, S. 16 Part II/106: „The comment of the Committee of Experts suggested that the judgment of the CJEU provided a basis for collective bargaining by all selfemployed persons. However, the reading of the decision did not support this position.“, ähnlich Vertreter der irischen Arbeitgeber (S. 16 Part II/103). Zudem begrüßte die Arbeitgeberseite das Urteil des EuGH (in ihrer Lesart) und verwies ansonsten auf ausstehende Berichte Irlands, deren Prüfung einer Feststellung einer Verletzung von Übk. Nr. 98 vorausgehen müsse, vgl. S. 16 Part II/102 f. 255 IAA, IAK, 105th Session 2016, Provisional Record of Proceedings, S. 16 Part II/103: „Despite the CJEU judgment (Dutch Musicians) which mitigated the rule that every selfemployed worker was an undertaking so that a collective agreement in respect of them was contrary to EU competition law, the Competition Authority had upheld its position“. 256 Ibid. 254

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Teil 2: Kollidierende Vorgaben des ILO- und Unionsrechts

von der Auslegung der FNV Kunsten-Entscheidung abhängig ist. Sofern man annimmt, dass der EuGH in der FNV Kunsten-Entscheidung die Bereichsausnahme auf schutzwürdige Selbstständige erstreckt hat, ist das unionsrechtliche Wettbewerbsrecht in dieser Hinsicht völkerrechtskonform. Es ist davon auszugehen, dass der Sachverständigenausschuss an dieser Einschätzung festhält, solange eine Entscheidung des EuGH aussteht, die je nach Sichtweise von der bisherigen Linie abweicht oder diese lediglich klarstellt.

D. Zwischenfazit und daraus resultierende Fragestellung Während die FNV-Kunsten-Entscheidung wohl keinen Fall eines durch Unionsrecht hervorgerufenen Verstoßes gegen völkerrechtliche Vorgaben darstellt, zeigt sowohl die Entscheidungslinie Viking Line, Laval, Fonnship und Holship des EuGH und EFTA-Gerichtshofs als auch das Vorgehen der Kommission im Zusammenhang mit der Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise, dass unionsrechtliche Vorgaben Auslöser der Verletzung von Normen der ILO durch EU-Mitgliedstaaten darstellen können. Wie können solche Wiedersprüche aufgelöst werden? Eine unionsrechtliche Bindung der EU an Normen der ILO (hierzu Teil 4) hätte zur Folge, dass die Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der EU die Vorgaben der jeweiligen Norm beachten müssten. Allerdings ist im Falle der unionsrechtlichen Bindung eine externe Kontrolle, etwa durch die Ausschüsse der ILO, von vornherein ausgeschlossen. In Betracht kommt insoweit auch eine völkerrechtliche Bindung der EU (hierzu Teil 3). So hätte etwa eine Ratifizierung eines Übereinkommens der ILO durch die EU zur Folge, dass letztere nicht nur die Vorgaben des Übereinkommens beachten müsste, sondern hierbei auch durch die Ausschüsse der ILO überwacht werden würde.

Teil 3

Völkerrechtliche Bindung der EU an ILO-Normen Gemäß Art. 220 AEUV betreibt die EU „jede zweckdienliche Zusammenarbeit mit den Organen der Vereinten Nationen und ihren Sonderorganisationen“.1 Der Zusammenarbeit mit der ILO kommt hierbei eine besondere Stellung zu,2 wie sich bereits im Rahmen der Ausarbeitung der Römischen Verträge zeigte. Im Zentrum dieses Kapitels stehen Überlegungen über die Begründung einer völkerrechtlichen Bindung der EU. Die diskutieren Ansätze, wie etwa ein Beitritt zur ILO, sind bisher allerdings nur Teil eines akademischen Diskurses und dürften sich in absehbarer Zukunft nicht umsetzen lassen. Zum derzeitigen Stand besteht eine Bindung der EU allein an die Gewährleistungsgehalte der vier Kernarbeitsnormen auf Grundlage ihrer Einordnung als „allgemeines Völkerrecht“. Übereinkommen, die diese vier Normen nicht konkretisieren, sind völkerrechtlich für die EU nicht verbindlich. Das bedeutet aber nicht, dass Unionsrecht nicht unter Berücksichtigung entsprechender Normen ausgelegt werden muss.3

A. Grundlagen: Institutionelle Beziehungen zwischen ILO und EU Die diplomatischen Beziehungen zwischen ILO und den Rechtsvorgängerinnen der EU reichen weit zurück.4 Bereits 1953 unterzeichnete die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl ein Kooperationsabkommen mit der ILO,5 in dem 1 Art. 220 AEUV beinhaltet eine begrenzter Außenkompetenz zur Pflege ihrer internationalen Kontakte, vgl. Nawparwar, Die Außenbeziehungen der Europäischen Union zu internationalen Organisationen nach dem Vertrag von Lissabon, S. 31. 2 Hartlapp, in: Senghaas-Knobloch, Weltweit geltende Arbeitsstandards trotz Globalisierung, S. 157, 158. 3 Hierzu in Teil 4. 4 Die Beziehungen zur ILO sind sogar die am längsten bestehenden Beziehungen zu einer UN-Sonderorganisation der Gemeinschaften, vgl. Nawparwar, Die Außenbeziehungen der Europäischen Union zu internationalen Organisationen nach dem Vertrag von Lissabon, S. 35. 5 Vereinbarung über die Zusammenarbeit zwischen der Internationalen Arbeitsorganisation und der EGKS v. 4. Juli 1953, ABl. EGKS 11/167 v. 14. August 1953; Delarue, in: de Waele/ Kuipers, The European Union’s Emerging International Identity, S. 131, 137; Nawparwar, Die Außenbeziehungen der Europäischen Union zu internationalen Organisationen nach dem Vertrag von Lissabon, S. 35; Brinkmann, in: Arbeitsvölkerrecht, S. 331; Pons-Deladrière, in:

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Teil 3: Völkerrechtliche Bindung der EU an ILO-Normen

gemeinsame Beratungen sowie der Austausch von Informationen beschlossen wurden, insbesondere zu Fragen der Arbeitsbedingungen und der Ausbildung von Kohle- und Stahlarbeitern.6 Zudem wurde die Hohe Behörde eingeladen, als Beobachterin an den Sitzungen des ILO-Ausschusses für Kohle und Stahl teilzunehmen.7 Kurz nach Inkrafttreten der Römischen Verträge wurde zwischen der ILO und der EWG ein inhaltlich vergleichbares Abkommen geschlossen,8 das noch keinen (organschaftlichen) Beobachterstatus begründete.9

I. Beobachterstatus der EU und Beziehungen der Kommission zur ILO Hierzu kam es erst 1989.10 Im Gegenzug stimmte die Kommission zu, Vertreter der ILO zu Sitzungen nachgeordneter sozial- und beschäftigungspolitischer KomKaddous, The European Union in International Organisations and Global Governance, S. 93, 94; Ferri, in: Kaddous, The European Union in International Organisations and Global Governance, S. 77, 79 unter Angabe von 1958 (also dem Jahr der Gründung der EWG) statt 1953; Pastore/Gausˇas/Styczyn´ska, EU and ILO: Shaping the Future of Work verweisen darauf, dass die Zusammenarbeit „effektiv“ 1958 begann. 6 Scheffler, Die Europäische Union als rechtlich-institutioneller Akteur im System der Vereinten Nationen, S. 534; auch zwischen dem Europarat und der ILO bestehen Abkommen über ein Übereinkommen zur Koordinierung der Zusammenarbeit, Agreement approved by the Committee of Ministers of the Council of Europe and the Governing Body of the ILO of 23 November 1951, ILO Official Bulletin, Vol XXXV No. 4 (1952), S. 380 ff.; vgl. Schmahl, in: Schmahl/Breuer, The Council of Europe, Rn. 37.19; Hendrickx/Pecinovsky, in: Marx/Wouters/ Rayp/Beke, Global Governance of Labour Rights, S. 148; Johnson, in: Orbie/Tortell, The European Union and the Social Dimension of Globalization, S. 81, 82. 7 Scheffler, Die Europäische als rechtlich-institutioneller Akteur im System der Vereinten Nationen, S. 534. 8 Zu den weiteren Änderungen: Delarue, in: de Waele/Kuipers, The European Union’s Emerging International Identity, S. 131, 137. 9 Scheffler, Die Europäische als rechtlich-institutioneller Akteur im System der Vereinten Nationen, S. 535; Johnson, in: Orbie/Tortell, The European Union and the Social Dimension of Globalization, S. 81, 83; Hartlapp, in: Senghaas-Knobloch, Weltweit geltende Arbeitsstandards trotz Globalisierung, S. 157, 159; zum Inhalt der Vereinbarung und den ergänzenden Vereinbarungen von 1960 und 1961 Pastore/Gausˇas/Styczyn´ska, EU and ILO: Shaping the Future of Work, S. 17. 10 Briefwechsel zwischen den Europäischen Gemeinschaften und der Internationalen Arbeitsorganisation v. 21. u. 22. Dezember (ABl. 1990 C 24, 8); Delarue, in: de Waele/Kuipers, The European Union’s Emerging International Identity, S. 131, 137; Scheffler, Die Europäische als rechtlich-institutioneller Akteur im System der Vereinten Nationen, S. 535; Johnson, in: Orbie/Tortell, The European Union and the Social Dimension of Globalization, S. 81, 82; Odendahl, in: von Arnauld, Europäische Außenbeziehungen, § 5, Rn. 106; de Vries, in: Wolfrum, MPEPIL, European Community, Membership in International Organizations or Institutions (Stand: Februar 2013), Rn. 20; Hintergrund der erweiterten gegenseitigen Beteiligungsrechte bildet insbesondere die zunehmende geographische (EG-Erweiterung von1973) und sachliche (neue Verordnungen und Richtlinien auf dem Gebiet des Sozial- und Arbeitsrechts) Relevanz des Gemeinschaftsrechts, vgl. Pastore/Gausˇas/Styczyn´ska, EU and ILO: Shaping the Future of Work, S. 17.

A. Grundlagen: Institutionelle Beziehungen zwischen ILO und EU

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missionsgremien einzuladen.11 1999 wurde die Grundlage für eine engere Zusammenarbeit gelegt: Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam wurden die Möglichkeit der Beteiligung der Sozialpartner bei der europäischen Rechtsetzung festgeschrieben12 und die Kompetenzen der Gemeinschaft sowohl im Bereich des Arbeits- und Sozialrecht13 als bei den Außenbeziehungen ausgebaut.14 Vor diesem Hintergrund erfolgte 2001 ein neuer Briefwechsel15, in dem neben der Bestätigung des Beobachterstatus der EG16 der Rahmen für die künftige Zusammenarbeit zwischen den Organisationen in Bezug auf die internen und externen Tätigkeitsfelder der EU bestimmt wurde.17 Im Zentrum der Zusammenarbeit steht seither die Erarbeitung von Strategieren, wie die EU Drittstaaten zur Ratifizierung von Übereinkommen und hierbei insbesondere der Kernarbeitsnorm-Übereinkommen animieren kann.18 Zudem wurden jährliche Treffen zwischen Kommission und IAA beschlossen, die seitdem auch regelmäßig stattfinden.19 Außerdem konnten fortan Vertreter der Kommission an den Sitzungen des Verwaltungsrats teilnehmen.20 2004 kam ein weiterer Aspekt der formalisierten Zusammenarbeit zwischen ILO und Kommission hinzu. So sieht das Memorandum of Understanding über die „strategische Partner11 Delarue, in: de Waele/Kuipers, The European Union’s Emerging International Identity, S. 131, 137 f.; Scheffler, Die Europäische als rechtlich-institutioneller Akteur im System der Vereinten Nationen, S. 535. 12 Steinmeyer, RdA 2001, 10, 19 ff. 13 Zuvor Art. 4 des Abkommens über die Sozialpolitik von Maastricht, vgl. Franzen, in: Franzen/Gallner/Oetker, AEUV, Art. 155, Rn. 2; Steinmeyer, RdA 2001, 10, 12 ff. 14 Delarue, in: de Waele/Kuipers, The European Union’s Emerging International Identity, S. 131, 138; Scheffler, Die Europäische als rechtlich-institutioneller Akteur im System der Vereinten Nationen, S. 535; Pastore/Gausˇas/Styczyn´ska, EU and ILO: Shaping the Future of Work, S. 16 mit Hinweis auf Jacques Delors Weißbuch sowie die Europäische Beschäftigungsstrategie. 15 Briefwechsel zwischen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften und der Internationalen Arbeitsorganisation (ABl 2001 C 156/5). 16 Scheffler, Die Europäische als rechtlich-institutioneller Akteur im System der Vereinten Nationen, S. 535; Johnson, in: Orbie/Tortell, The European Union and the Social Dimension of Globalization, S. 81, 85; Odendahl, in: von Arnauld, Europäische Außenbeziehungen, § 5, Rn. 106. 17 Delarue, in: de Waele/Kuipers, The European Union’s Emerging International Identity, S. 131, 138; Johnson, in: Orbie/Tortell, The European Union and the Social Dimension of Globalization, S. 81, 85; Ferri, in: Kaddous, The European Union in International Organisations and Global Governance, S. 77, 79. 18 Olsson, in: Rönnmar, Labour Law, Fundamental Rights and Social Europe, S. 32. 19 Zuletzt fand am 29. September bis zum 2. Oktober 2020 in Brüssel das 15. Treffen zwischen Vertretern der ILO und der Kommission statt; zu den Inhalten: Europäische Kommission/IAA, Conclusions of the 15th High Level Meeting between the International Labour Office and the European Commission, abrufbar unter: https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/pu blic/–europe/–ro-geneva/–ilo-brussels/documents/meetingdocument/wcms_757939.pdf, vgl. zu früheren Treffen auch Hartlapp, in: Senghaas-Knobloch, Weltweit geltende Arbeitsstandards trotz Globalisierung, S. 157, 169. 20 Pastore/Gausˇas/Styczyn´ska, EU and ILO: Shaping the Future of Work, S. 22.

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Teil 3: Völkerrechtliche Bindung der EU an ILO-Normen

schaft bezüglich der Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern“21 vor, die Anstrengungen der Organisationen bei der Bekämpfung von Armut und zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in Entwicklungsländern zu bündeln.22 Eine besondere Rolle soll (erneut) die Verbreitung der Kernarbeitsnormen einnehmen. Zudem sollen die Corporate Social Responsibility-Strategien der beiden Organisationen besser aufeinander abgestimmt werden.23 Auch in der Zeit nach 2004 wurde die Zusammenarbeit zwischen den Organisationen weiter ausgebaut, ohne dass dies jedoch einer weiteren Änderungn der vertraglichen Grundlagen bedurft hätte. Die Zusammenarbeit in diesem Zeitraum betrifft insbesondere die Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2009.24 So wurde die ILO unter anderem von Mitgliedstaaten der EU gebeten, im Rahmen der europäischen und internationalen Rettungsmaßnahmen ihre Expertise zu Themen wie der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und der Förderung des sozialen Dialogs einzubringen.25 Zudem konnte die ILO ihr Fachwissen auch im Rahmen der Bewertung herangezogen, ob EU-Beitrittskandidaten Kriterien auf dem Gebiet der Arbeitsbeziehungen erfüllt hatten.26 Einen wichtigen Aspekt der Beziehungen stellt die finanzielle Unterstützung der ILO durch die EU dar, welche jedoch über die Jahrzehnte stark variierte.27 So finanzierte die EU in den 1980er Jahren deutlich mehr Projekte der ILO als in den 1990er Jahren. Zu Beginn des neuen Jahrtausends wurde die finanzielle Unterstützung vollständig eingestellt28 und erst im Zusammenhang mit der neubegründeten 21 Europäische Kommission/ILO, Memorandum of Understanding v. 15./16. Juli 2004, abrufbar unter: http://www.ilo.org/brussels/key-documents/WCMS_169299/lang-en/index.htm; zur Geschichte des Abkommens Hartlapp, in: Senghaas-Knobloch, Weltweit geltende Arbeitsstandards trotz Globalisierung, S. 157, 169 ff. 22 Zu den Hintergründen, insbesondere dem Erstarken des „soft approaches“ sowohl in der EU als auch der ILO Pastore/Gausˇas/Styczyn´ska, EU and ILO: Shaping the Future of Work, S. 21 f. 23 Europäische Kommission/ILO, Memorandum of Understanding v. 15./16. Juli 2004, abrufbar unter: http://www.ilo.org/brussels/key-documents/WCMS_169299/lang-en/index.htm, Ziffer C, ein Überblick über die gemeinsam bearbeiteten Themenfelder findet sich unter IAA, The ILO and the EU, partners for decent work and social justice – Impact of ten years of cooperation, S. 27, abrufbar unter: http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/@europe/@ro-ge neva/@ilo-brussels/documents/publication/wcms_195135.pdf. Zur CSR-Strategie der EU unter Teil 4 F. II. 6. 24 Siehe zur High-Level-Mission bereits unter Teil 1 B. II. 2; Pastore/Gausˇas/Styczyn´ska, EU and ILO: Shaping the Future of Work, S. 26 ff. 25 Pastore/Gausˇas/Styczyn´ska, EU and ILO: Shaping the Future of Work, S. 27; siehe auch Teil 2 B. 26 Pastore/Gausˇas/Styczyn´ska, EU and ILO: Shaping the Future of Work, S. 27. 27 Die EU unterstützt nur Projekte; die reguläre Finanzierung der ILO erfolgt durch die Mitgliedstaaten, vgl. Art. 13 Abs. 3 ILO-Verfassung; Pons-Deladrière, in: Kaddous, The European Union in International Organisations and Global Governance, S. 93, 96 f. 28 Hartlapp, in: Senghaas-Knobloch, Weltweit geltende Arbeitsstandards trotz Globalisierung, S. 157, 164 sieht als Ursache die Spannungen zwischen der Kommission und dem

A. Grundlagen: Institutionelle Beziehungen zwischen ILO und EU

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strategischen Partnerschaft Ende 2003 neu aufgenommen.29 Vorausgegangen war der Abschluss des Rahmenabkommens über die Zusammenarbeit im Finanz- und Verwaltungsbereich zwischen der Europäischen Kommission und den Vereinten Nationen,30 welches die finanziellen und vertraglichen Aspekte der Beziehungen zwischen der EU und der UN beziehungsweise ihren Sonderorganisationen festzulegte und der Kommission Auditrechte sichert.31 In den vergangenen 15 Jahren hat sich diese Zurückhaltung ins Gegenteil gewandelt. Aus Sicht der EU handelt es sich bei der ILO inzwischen um eine der zehn am stärksten finanziell unterstützten internationalen Organisationen.32 Aus Sicht der ILO ist die EU im Zeitraum von 2011 – 2015 mit Zahlungen in Höhe von rund 110 Millionen US-Dollar sogar zum zweitgrößten Unterstützer der wichtigen extra-budgetary technial cooperation programmes (XBTC) aufgestiegen.33

II. Beziehungen zu anderen Organen, Institutionen und Stellen der EU Die ILO pflegt nicht nur zur Kommission Beziehungen. So hat die ILO ihre Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament deutlich ausgeweitet, wenn auch bislang keine formalisierten Beziehungen bestehen.34 Mitglieder des Europäischen Parlaments und Vertreter der ILO trafen sich in der Vergangenheit etwa, um sich zu Themen wie den EU-Maßnahmen zur Finanz- und Wirtschaftskrise35 oder den ar-

Europäischen Rechnungshof sowie Differenzen hinsichtlich des Anteils der Administrativ- und Personalkosten; siehe auch Delarue, in: de Waele/Kuipers, The European Union’s Emerging International Identity, S. 131, 138 f. 29 Hartlapp, in: Senghaas-Knobloch, Weltweit geltende Arbeitsstandards trotz Globalisierung, S. 157, 164 und 171. 30 Abrufbar unter: https://ec.europa.eu/europeaid/node/45445. 31 Pastore/Gausˇas/Styczyn´ska, EU and ILO: Shaping the Future of Work, S. 23. 32 Vgl. http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/–dgreports/–exrel/documents/generic document/wcms_350516.pdf. 33 Vgl. https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/–dgreports/–exrel/documents/generic document/wcms_174809.pdf. XBTC-Mittel werden für spezifische (thematisch, geografisch und zeitlich begrenzte) Projekte zur Verfügung gestellt. Diese besonderen Mittel spielen in der technischen Unterstützung eine wesentliche Rolle und stellen neben dem von den Mitgliedstaaten finanzierten regulären Budget (regular budget – RB) sowie nicht zweckgebundenen Mitteln (regular budget supplementary account (RBSA)) die dritte Säule des ILO-Budgets dar. Die EU könnte sogar zum größten Unterstützer der technischen Zusammenarbeit (XBTC) werden, sofern der zwischen 2011 und 2015 zu verzeichnende Rückgang der Zahlungen des bisher größten Unterstützers, der USA, weiter anhält. 34 Delarue, in: de Waele/Kuipers, The European Union’s Emerging International Identity, S. 131, 140 f. 35 Siehe etwa Pressemittelung zum Treffen am 12. November 2012: http://www.europarl.eu ropa.eu/document/activities/cont/201211/20121115ATT55604/20121115ATT55604EN.pdf.

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Teil 3: Völkerrechtliche Bindung der EU an ILO-Normen

beitsmarktpolitischen Problemen der Flüchtlingskrise auszutauschen.36 Auch der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss tauscht sich regelmäßig mit der ILO aus. Grundlage bildet ein 2005 unterzeichnetes Memorandum of Understanding.37 Zu beachten ist hierbei, dass der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss die EU nicht nach außen vertreten kann.38 Die Beziehung ist daher rein informeller Natur. Für die zahlreichen formalisierten und informellen Beziehungen wurden Vertretungsbüros (sowohl vonseiten der ILO in Brüssel als auch der EU in Genf) eingerichtet, welche die Beziehungen koordinieren.39 Der Vertretung der EU in Genf (geleitet durch die Kommission) obliegt zudem die Abstimmung unter den Mitgliedstaaten der EU bei der Normsetzung der ILO.40

III. Rolle der ILO bei der Entstehung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Die ILO hatte weit mehr Einfluss auf die Ausgestaltung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als das die bisher dargestellten institutionellen Beziehungen zwischen EU und ILO erahnen lassen. 1. Französische Forderungen nach Harmonisierung des Arbeits- und Sozialrechts Bei den Beratungen über den Inhalt der am 25. März 1957 unterzeichneten Römischen Verträge stand zur Debatte, ob das Funktionieren des geplanten Binnenmarkts einer Harmonisierung der Arbeits- und Sozialrechtsordnungen der Mitgliedstaaten bedürfe.41 So sahen die französischen Verhandlungsführer eine entsprechende Harmonisierung als eine entscheidende Voraussetzung für die Errichtung 36

Delarue, in: de Waele/Kuipers, The European Union’s Emerging International Identity, S. 131, 140; Johnson, in: Orbie/Tortell, The European Union and the Social Dimension of Globalization, S. 81, 85 geht zu Recht davon aus, dass die Zusammenarbeit zwischen ILO und Europäischen Parlament ausbaufähig ist. 37 Abrufbar unter: http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/–europe/–ro-geneva/–ilo-brus sels/documents/genericdocument/wcms_216951.pdf; s. a. Delarue, in: de Waele/Kuipers, The European Union’s Emerging International Identity, S. 131, 139. 38 Delarue, in: de Waele/Kuipers, The European Union’s Emerging International Identity, S. 131, 139. 39 Hartlapp, in: Senghaas-Knobloch, Weltweit geltende Arbeitsstandards trotz Globalisierung, S. 157, 160; vgl. auch http://www.ilo.org/brussels/about/lang-en/index.htm. 40 Hartlapp, in: Senghaas-Knobloch, Weltweit geltende Arbeitsstandards trotz Globalisierung, S. 157, 160. 41 Fuchs, in: Gagel, SGB II/SGB III, Anhang zur Kommentierung des SGB III, EU-Koordinationsrecht der Leistungen bei Arbeitslosigkeit, Vorbemerkungen, Rn. 5; Fuchs, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Einführung, Rn. 7.

A. Grundlagen: Institutionelle Beziehungen zwischen ILO und EU

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des gemeinsamen Markts.42 Man befürchtete, dass französische Unternehmen wegen relativ hoher Lohnkosten einen Wettbewerbsnachteil insbesondere gegenüber deutschen Unternehmen erleiden könnten.43 Rechtlich argumentierte man, niedrigere soziale Kosten eines Unternehmens in einem Mitgliedstaat hätten die gleiche Wirkung wie eine staatliche Beihilfe.44 Deutschland hingegen sah das Arbeits- und Sozialrecht als natürliche standortbedingte Kostenfaktoren. Diese seien nicht wettbewerbsverfälschend.45

2. Die erste europäische Regionalkonferenz der ILO Kurz vor der Konferenz von Messina im Juni 195546 beschäftigte sich auch die ILO mit der bevorstehenden europäischen Integration. Im März 1955 trafen zur ersten europäischen Regionalkonferenz der ILO47 nicht nur die sechs künftigen Gründungsstaaten der EWG, sondern alle (damals 25) europäischen ILO-Mitgliedstaaten unter Beteiligung der nationalen Sozialpartner zusammen.48 Auch Vertreter der EGKS waren als Beobachter anwesend.49 Diese Konferenz befasste sich mit einer Reihe an Themen, die auch bei den bevorstehenden Verhandlungen der Römischen Verträge eine Rolle spielen sollten (etwa „Rolle der Sozialpartner in Programmen zur Produktivitätssteigerung in Europa“, Renteneintrittsalter, „Bedingungen betreffend den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts in Europa“, „Problem unterschiedlicher Schutzstandards in Europa“ und allgemein der „ILO und Europa“).50 Hinsichtlich der Frage, ob die Aktivierung der Grundfreiheiten eine 42 Blanpain, in: Blanpain ELL, European Labour Law, Rn. 329; Fuchs, in: Gagel, SGB II/ SGB III, Anhang zur Kommentierung des SGB III, EU-Koordinationsrecht der Leistungen bei Arbeitslosigkeit, Vorbemerkungen, Rn. 5; Fuchs, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Einführung, Rn. 7; Fuchs, IJCLLIR 2004, 155, 157; Seifert, AuR 2015, G9, G12. 43 Fuchs, in: Gagel, SGB II/SGB III, Anhang zur Kommentierung des SGB III, EU-Koordinationsrecht der Leistungen bei Arbeitslosigkeit, Vorbemerkungen, Rn. 5; Fuchs, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Einführung, Rn. 7; Rose Langner, in: von der Groeben/ Schwarze/Hatje, AEUV, Art. 151, Rn. 17; Fuchs, IJCLLIR 2004, 155, 157; Franzen, in: Franzen/Gallner/Oetker, AEUV, Art. 151, Rn. 7. 44 Rose Langner, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, AEUV, Art. 151, Rn. 17. 45 Fuchs, in: Gagel, SGB II/SGB III, Anhang zur Kommentierung des SGB III, EU-Koordinationsrecht der Leistungen bei Arbeitslosigkeit, Vorbemerkungen, Rn. 5; Fuchs, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Einführung, Rn. 7; Borchardt, in: Dauses/Ludwigs, EUWirtschaftsrecht, D. II., Rn. 4; Franzen, in: Franzen/Gallner/Oetker, AEUV, Art. 151, Rn. 7. 46 Diese bildete mit der gemeinsamen Resolution der sechs Gründungsmitglieder und der Einsetzung des Regierungsausschusses unter Vorsitz von Paul-Henri Spaak den Startpunkt der Verhandlungen der Römischen Verträge. 47 Vgl. Art. 38 Abs. 1 ILO-Verfassung; zum Stand der Reform der Regeln für Regionaltagungen: IAA, Verwaltungsrat, 334th Session 2018, Doc GB.334/WP/GBC/3, Rn. 3 ff. 48 IAA, Verwaltungsrat, 128th Session March 1955, Minutes, S. 72, dies waren alle ILOMitgliedstaaten im Jahr 1955 mit Ausnahme von Albanien und Island. 49 Ibid. 50 Ibid.

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Teil 3: Völkerrechtliche Bindung der EU an ILO-Normen

Harmonisierung der Arbeits- und Sozialstandards voraussetze, waren sich die Vertreter der unterschiedlichen Länder und Gruppen uneins.51 Regulierungs- beziehungsweise Harmonisierungsmaßnahmen der geplanten neuen regionalen internationalen Organisation auf dem Gebiet des Arbeits- und Sozialrechts – gemeint war die künftige EWG – stand man skeptisch gegenüber. Ein Großteil der Teilnehmer vertrat die Ansicht, dass die diskutierten Fragen in der ILO zu lösen seien.52 Hierzu wurden auf der Konferenz drei potentielle Lösungswege eruiert: eine umfassendere Anwendung der bestehenden ILO-Normen, neue (regionale) ILO-Normen oder andere „praktische Maßnahmen“.53 Die weitere Auseinandersetzung mit der Problematik setzte allerdings eine objektive wissenschaftliche Analyse voraus. Sobald diese vorliege, könne man beraten, wie die wirtschaftlichen Vorteile des Binnenmarkts unter Vermeidung sozialer Härten erzielt werden könnten. 3. Der Ohlin-Bericht Zur Klärung der beschriebenen Frage wurde durch den Verwaltungsrat der ILO eine Expertenkommission unter Vorsitz des schwedischen Volkswirts Bertil Ohlin eingesetzt.54 Diese befand, dass für eine Liberalisierung des zwischenstaatlichen Handels das allgemeine Kostenniveau pro Arbeitszeiteinheit55 nicht harmonisiert werden müsse.56 Wettbewerb in einem gemeinsamen Markt hindere Länder nicht daran, den Lebensstandard „ihrer“ Arbeitnehmer anzuheben, da durch höhere Löhne, Sozialleistungen und Arbeitsbedingungen auch die Produktivität steige.57

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Ibid., S. 73 f. Begründet wurde dies insb. mit dem Universalitätsprinzip der tripart. Organisationsform der ILO, welche die Interessen der Sozialpartner besser sichere, IAA, Verwaltungsrat, 128th Session March 1955, Minutes, S. 76, Rn. 43. Bereits zu diesem Zeitpunkt war Konferenzteilnehmern klar, dass sich überschneidende Verpflichtungen ggü. der ILO und einer regionalen internationalen Organisation zu Kollissionen der Verpflichtungen führen könnten, siehe Rn. 41. 53 IAA, Verwaltungsrat, 128th Session March 1955, Minutes, S. 74 f. 54 Ibid., S. 19 IAA, Social Aspects of European Economic Co-operation – Report by a Group of Experts, ILR 1956, 99, Preface; zu Bertil Ohlin’s Analysen auch auch Armbruster, Das Problem mit der Globalisierung, Beitrag v. 10. Juni 2017, abrufbar unter: http://www.faz.net/ak tuell/wirtschaft/ttip-und-freihandel/handelstheorie-das-problem-mit-der-globalisierung-1 5050988.html. 55 Gemeint waren insb. arbeitsrechtliche Bestimmungen, aber auch Sozialversicherungsabgaben. 56 So Fuchs, in: Gagel, SGB II/SGB III, Anhang zur Kommentierung des SGB III, EUKoordinationsrecht der Leistungen bei Arbeitslosigkeit, Vorbemerkungen, Rn. 5; Fuchs, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Einführung, Rn. 7; Rocca, ELLJ 2016, S. 52, 55; Zapka, EuZA 2015, 221, 231. 57 IAA, Social Aspects of European Economic Co-operation – Report by a Group of Experts, ILR 1956, 99, Rn. 213, 216, 273; vgl. auch Seifert, AuR 2015, G9, G10. 52

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Laut Ohlin-Kommission sei es aber ratsam, eine Harmonisierung der Sozialpolitik in Fällen in Betracht zu ziehen, in denen der Handel andernfalls „ernsthaft verzerrt“ würde. Zur Vermeidung solcher „Verzerrungen“ seien insbesondere internationale Konsultationen der Sozialpartner in Betracht zu ziehen.58 Zudem solle überprüft werden, ob eine Verzerrung durch die Ratifizierung und Einhaltung von ILO-Übereinkommen gestoppt werden könne. Der Ohlin-Bericht trifft aber weder zur Frage der Konsultation der Sozialpartner noch der Einhaltung der ILO-Übereinkommen eine abschließende eigene Einschätzung.59 Als Beispiel einer möglichen Verzerrung des Wettbewerbs wird nur die Entgeltdifferenz zwischen den Geschlechtern benannt: Sollte die Höhe des Arbeitsentgelts (unter Berücksichtigung von Unterschieden bei den Qualifikationen, den Lebenshaltungskosten usw.) in einem Wirtschaftszweig (oder einer Region) wesentlich niedriger sein als in anderen Wirtschaftszweigen desselben Landes, genieße die betreffende Industrie im Ausland einen unnatürlichen Wettbewerbsvorteil, vor dem die ausländischen Produzenten zu schützen seien.60 Solche Unterschiede seien allgemein zwar nicht anzutreffen.61 In Industriezweigen mit überwiegend weiblichen Arbeitskräften sei dies aber der Fall. Sofern diese Lohnunterschiede nicht anders erklärbar seien,62 müssten sie für die Erreichung eines gemeinsamen Binnenmarkts ohne soziale Verwerfungen beseitigt werden. Hierbei könne man sich an Übereinkommens Nr. 100 orientieren.63 4. Auswirkungen des Ohlin-Berichts auf den Inhalt des EWG-Vertrags Der Bericht der Ohlin-Kommission stützte somit grundsätzlich die deutsche Position.64 Der französischen Seite blieb nichts anderes übrig, als sich auf die Forderungen nach gleichem Entgelt für Männer und Frauen, bezahlter Freizeit und einer Regulierung der Arbeitszeit zurückzuziehen.65 Der Kompromiss fiel noch deutlicher zu Gunsten Deutschlands aus.So wurde im EWG-Vertrag zwar äußerlich dem

58 IAA, Social Aspects of European Economic Co-operation – Report by a Group of Experts, ILR 1956, 99, Rn. 182, 273. 59 Ibid., Rn. 127, 181, 162 u. a. zu Übk. Nr. 1 über die Begrenzung der Arbeitszeit in gewerblichen Betrieben auf acht Stunden täglich und achtundvierzig Stunden wöchentlich. 60 Ibid., Rn. 269 m. w. N. 61 Ibid., Rn. 269 m. w. N. Zu beachten ist, dass lediglich die im westlichen Europa zu diesem Zeitpunkt bestehenden Freihandelsabkommen überprüft worden waren, vgl. Rn. 6 (also wohl der Benelux-Vertrag sowie der EGKS-Vertrag). 62 Genannt werden Umstände wie eine „Tradition“ oder das Fehlen gewerkschaftlicher Strukturen zur Unterstützung der Arbeitnehmerinnen. 63 IAA, Social Aspects of European Economic Co-operation – Report by a Group of Experts, ILR 1956, 99, Rn. 269 und 162; siehe auch Fuchs, IJCLLIR 2004, 155, 157. 64 Wenngleich sich deutliche Abweichungen in der Begründung ergeben. 65 Wolfrath/Everling/Glaeser/Sprung, EWG-Vertrag, Art. 117 EWG-Vertrag, Vorbm., Rn. 1.

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Teil 3: Völkerrechtliche Bindung der EU an ILO-Normen

französischen Ansatz Rechnung getragen,66 das Arbeits- und Sozialrecht verblieb jedoch in der ausschließlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten.67 Eine punktuelle Ausnahme bildete das Gebot gleichen Entgelts für gleiche Arbeit in Art. 119 EWGVertrag.68 Eine Regulierung der Arbeitszeit war hingegen nicht vorgesehen. Hinsichtlich der bezahlten Freizeit verpflichteten sich die Mitgliedstaaten lediglich, die bestehenden Regelungen beizubehalten.69 Es liegt daher nahe, den durch die ILO in Auftrag gegebenen Ohlin-Bericht als Ursache der zunächst äußerst restriktiven Kompetenzen der EWG auf dem Gebiet des Arbeits- und Sozialrechts zu sehen.70 Rödl formuliert treffend: „Als Dokument, das von einer tripartistischen […] Organisation verantwortet und unter Vorsitz eines Mannes der (seinerzeit) politischen Mitte erarbeitet worden war und das darüber hinaus noch höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügte, musste der OhlinBericht eine hohe gesellschaftliche Glaubwürdigkeit und Akzeptanz haben.“71 Ebenso dürfte geholfen haben, dass die Ohlin-Kommission den gemeinsamen europäischen Markt nach eigenem Bekunden unterstütze, um den sozialen Rahmen Europas und die Stabilität seiner sozialen und politischen Institutionen durch wirtschaftliche Zusammenarbeit zu stärken.72 So verweist der Bericht etwa darauf, die Idee des gemeinsamen Marktes stehe im Einklang mit der Philosophie der Verfassung der ILO und der Erklärung von Philadelphia.73 Da allerdings sowohl die Ohlin-Kommission als auch die Vertragsparteien der Römischen Verträge – die laut der Präambel des EWG-Vertrages ebenfalls entschlossen waren „durch gemeinsames Handeln den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt ihrer Länder zu sichern“ – davon ausgingen, dass dieser soziale Fortschritt von „unsichtbarer Hand“ erfolgen solle,74 blieb es bis zur Initiative der Kommission

66 So enthielt der EWG-Vertrag im Dritten Teil als Titel III ein eigenständiges Kapitel „Sozialvorschriften“ und ein Kapitel über den Sozialfonds, vgl. Borchardt, in: Dauses/Ludwigs, EU-Wirtschaftsrecht, D. II., Rn. 5. 67 Borchardt, in: Dauses/Ludwigs, EU-Wirtschaftsrecht, D. II., Rn. 5. 68 Hierzu unter Teil 4 F. I. 1. c), die Fassung von 1957 wurde erst 1975 um die Entgeltgleichheit für „gleichwertige Arbeit“ erweitert, siehe Langenfeld, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 157 AEUV, Rn. 2. 69 Art. 120 EWG-Vertrag. 70 Rocca, ELLJ 2016, S. 52, 55; Fuchs, in: Gagel, SGB II/SGB III, Anhang zur Kommentierung des SGB III, EU-Koordinationsrecht der Leistungen bei Arbeitslosigkeit, Vorbemerkungen, Rn. 5; Fuchs, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Einführung, Rn. 7; Johnson, in: Orbie/Tortell, The European Union and the Social Dimension of Globalization, S. 81, 82; deutlich positiver über die Rolle der ILO: Teklè, ELLJ 2018, 236, 239. 71 Rödl, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 866. 72 IAA, Social Aspects of European Economic Co-operation – Report by a Group of Experts, ILR 1956, 99, Rn. 4. 73 Ibid. 74 Ähnlich Sagan, in: Oetker/Preis, EAS, B1100, Rn. 4.

B. Kraft Bindung an Völkergewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze

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unter Führung von Delors auf der Pariser Konferenz 197275 bei der sozialpolitischen Abstinenz der Gemeinschaft. Zu bedenken ist ferner, dass der Ohlin-Bericht nicht nur eine Regelung durch die Gründungsstaaten, sondern auch Überlegungen zu regionalen Übereinkommen der ILO zunichtemachte. Obwohl der Ohlin-Bericht diesen Weg selbst erwähnt,76 machten seine Grundannahmen entsprechende Regulierungsvorhaben überflüssig.

B. Kraft Bindung an Völkergewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze des Völkerrechts Sowohl das Völkergewohnheitsrecht als auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Völkerrechts77 (zusammen: „allgemeines Völkerrecht“) binden alle internationalen Organisationen, soweit sich die Regeln auf internationale Organisationen übertragen lassen.78 Entsprechend ist auch die EU an das allgemeine Völkerrecht gebunden.79 Zum allgemeinen Völkerrecht zählt insbesondere das ius cogens (pre75 Sagan, in: Oetker/Preis, EAS, B1100, Rn. 6 spricht ab hier unter Verweis auf Blanpain vom einsetzenden „goldenes Zeitalter der Harmonisierung“. 76 Vgl. Seifert, AuR 2015, G9, G10. 77 Gem. Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut sind als Rechtsquellen des Völkerrechts sowohl das ein internationales Gewohnheitsrecht als Ausdruck einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung („Völkergewohnheitsrecht“, lit. b)) als auch die von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze („allgemeine Rechtsgrundsätze des Völkerrechts“, lit. c)) anerkannt. 78 IGH v. 20. Dezember 1980, Interpretation of the Agreement of 25 March 1951 between the WHO and Egypt (Advisory Opinion), ICJ Reports 1980, 73 ff., vgl. hierzu Janik, Bindung internationaler Organisationen an internationale Menschenrechtsstandards, S. 424 f.; Cameron, NJIL 2003, 159, 178; Ahmed/de Jesus Butler, EJIL 2006, 771, 776; Verdirame, HRLR 2002, 265, 286; Feyter, in: Isa/Feyter, International Protection of Human Rights, S. 561, 562; Meng, in: von der Groben/Schwarze/Hatje, Art. 47 EUV, Rn. 14; zur derivativen Völkerrechtssubjektivität der EU auch Erklärung (Nr. 24) zur Rechtspersönlichkeit der Europäischen Union, ABl. 2007 C 306, 256; Dörr, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV, Art. 47, Rn. 29; Kokott, in: Streinz, EUV, Art. 47, Rn. 1 ff. Gerade bei einem Blick auf die zeitlich frühere gelegene Zusammenarbeit zwischen ILO und den Europäischen Gemeinschaften sollte beachtet werden, dass die Frage der Völkerrechtsfähigkeit durchaus zur Diskussion stand. Die primärrechtlichen Verträge selbst hatten diese aber von Beginn an vorgesehen, vgl. Art. 6 EGKSV, 210 f. EWGV (zuletzt: Art. 281 f. EGV), Art. 188 f. EAGV; Müller-Graff, in: Dauses/Ludwigs, EU-Wirtschaftsrecht, A. I., Rn. 17; zur Auslegung von Völkergewohnheitsrecht durch den EuGH Amman, in: Besson/Levrat, The European Union and International Law, S. 153, 170 ff. 79 So der EuGH in st. Rspr. auf Grundlage seiner wohl gemäßigt monistischen Sichtweise (Dörr, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 47 EUV, Rn. 79), vgl. EuGH v. 27. September 1988 – 89/85 u. a. (Zellstoff), Rn. 15 ff.; EuGH v. 24. November 1992 – C-286/90 (Poulsen), Rn. 9 – 11; EuGH v. 16. Juni 1998 – C-162/96 (Racke), Rn. 45 f.; EuG v. 22. Januar 1997 – T-115/94 (Opel Austria), Rn. 90 ff., von Arnauld, in: von Arnauld, Europäische Außenbeziehungen, § 1, Rn. 107; Dörr, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 47 EUV, Rn. 101; Meng, in: von der Groben/ Schwarze/Hatje, Art. 47 EUV, Rn. 14; im Grundsatz auch von Bodgandi/Smrkolj, in: Wolfrum, MPEPIL, European Community and Union Law and International Law (Stand: Februar 2011),

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Teil 3: Völkerrechtliche Bindung der EU an ILO-Normen

remptory norms of international law),80 als welches der IGH bisher unter anderem das Verbot von Völkermord,81 das Diskriminierungsverbot aufgrund von Rassenzuschreibung,82 das Verbot von Sklaverei,83 den Schutz vor willkürlicher Inhaftierung, das Recht auf körperliche Unversehrtheit,84 Gewährung effektiven Rechtsschutzes85 sowie „elementare Erwägungen der Menschlichkeit“86 anerkannt hat.87 Angesichts der inhaltlichen Überschneidungen des in der Rechtsprechung des IGH anerkannten ius cogens mit zwei der Kernarbeitsnormen88 liegt es nahe, dass alle vier Kernar-

Rn. 23 f.; siehe zu den unterschiedlichen Einordnungen der Rechtsprechung Aust, EuR 2017, 106, 107 ff. 80 Wichtigster Referenzpunkt bildet Art. 53 WVK, vgl. auch von Arnauld, Völkerrecht, Rn. 287 ff.; de Wet, in: Shelton, International Human Rights Law, S. 541, 542. 81 IGH v. 28. Mai 1951, Reservation to the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Advisory Opinion), ICJ Reports 1951, 15, 23. 82 IGH v. 5. Februar 1970, Barcelona Traction Light and Power Co. Ltd., ICJ Reports 1970, 3, 32; IGH v. 21. Juni 1971, Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia (South West Africa) Notwithstanding Security Council Resolution 276, Advisory Opinion, ICJ Reports 1971, 16, 57. 83 IGH v. 24. Mai 1980, United States Diplomatic and Consular Staff in Tehran, ICJ Reports 1980, 3, 42. 84 IGH v. 5. Februar 1970, Barcelona Traction Light and Power Co. Ltd., ICJ Reports 1970, 3, 47. 85 Ahmed/de Jesus Butler, EJIL 2006, 771, 779. 86 IGH v. 9. April 1949, Corfu Channel II (Merits), ICJ Reports 1949, 4, 22. 87 Vgl. auch de Wet, in: Shelton, International Human Rights Law, S. 541, 543. Auch der Sachverständigenausschuss scheint in seinem General Survey von 1999 (IAA, IAK, 87th Session 1999, Report III (Part 1B), general survey regarding migrant workers) unter dem Begriff der „grundlegenden Menschenrechte“, die allen legalen wie illegalen Wanderarbeitern gemäß Art. 1 Übk. Nr. 143 garantiert werden müssen, nicht sämtliche Gewährleistungsgehalte aller UNMenschenrechtsabkommen, sondern nur grundlegende Rechte wie etwa das Recht auf Leben und das Recht auf Freiheit und Sicherheit der Person, zu verstehen, vgl. Nußberger, Sozialstandards im Völkerrecht, S. 258 f.; Böhmert, Das Recht der ILO, S. 159 m. w. N. Sämtliche Inhalte aller Menschenrechtsabkommen dürften nicht erfasst sein – so werden aber teilweise auch die Entscheidung des EuG v. 21. September 2005 – T-315/01 (Kadi), Rn. 226 ff. und EuG v. 21. September 2005 – T-306/01 (Yusuf), Rn. 277 verstanden; vgl. etwa Ahmed/De Jesus Butler, EJIL 2006, 771, 780; vgl. auch Schubert, Arbeitsvölkerrecht, S. 55; zum menschenrechtlichen ius cogens auch Meron, American Journal of International Law 1986, S. 1, 13 ff. 88 Verbot der Zwangsarbeit (§ 2 lit. b)) der Erklärung über Grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit) mit dem Verbot der Sklaverei, IGH v. 24. Mai 1980, United States Diplomatic and Consular Staff in Tehran, ICJ Reports 1980, 3, 42. Verbot der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf (§ 2 lit. d)) der Erklärung über Grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit) mit dem Diskriminierungsverbot wegen der Rasse, IGH v. 5. Februar 1970, Barcelona Traction Light and Power Co. Ltd., ICJ Reports 1970, 3, 32; IGH v. 21. Juni 1971, Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia (South West Africa) Notwithstanding Security Council Resolution 276 (Advisory Opinion), ICJ Reports 1971, 16, 57.

B. Kraft Bindung an Völkergewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze

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beitsnormen (zumindest) zum Völkergewohnheitsrecht, womöglich sogar zum ius cogens zu zählen sind.89 Zum Teil wird angenommen, dass menschenrechtliche Übereinkommen nicht Völkergewohnheitsrecht, sondern allgemeine Rechtsgrundsätze des Völkerrechts bilden.90 Der Unterschied zwischen diesen Rechtsquellen besteht darin, dass für die Einordnung eines Menschenrechts als Völkergewohnheitsrecht eine ständige Übung der Völkerrechtssubjekte und eine entsprechende Übereinstimmung notwendig ist, während für die Annahme eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes allein das (eindeutige) Vorliegen einer übereinstimmenden opinio iuris geprüft wird.91 Für diese Ansicht wird angeführt, dass eine ständige Übung (etwa hinsichtlich eines Diskriminierungsverbots wegen des Geschlechts) nicht zwischen Staaten angewendet werden könne, sondern nur gegenüber Menschen.92 Die Grenzen zwischen Völkergewohnheitsrecht und allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Völkerrechts dürften aber fließend sein. Beide haben gemeinsam, dass ihr wichtigstes Element die Annahme einer übereinstimmenden opinio iuris ist. Sobald so viele Staaten die Existenz des Rechtssatzes anerkennen und sich hieran gebunden fühlen, dass von einer Übereinstimmung der „internationalen Staatengemeinschaft als Ganzes“ ausgegangen werden kann, handelt es sich um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Völkerrechts.93 Dem für die Annahme einer völkergewohnheitsrechtlichen Einordnung zusätzliche ausschlaggebende Element der ständigen Übung kommt im Bereich von Menschenrechten die Funktion der Manifestation des übereinstimmenden Willens zu. Eine Übereinstimmung, die sich auch in zwischenstaatlichen Handlungen manifestiert, kann für alle der vier Kernarbeitsnormen angenommen werden. So erfolgte 89 So i. E. Lörcher, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 10, Rn. 16; Lörcher, in: Däubler/ Kittner/Lörcher, Internationale Arbeits- und Sozialordnung, S. 114; Lörcher, AuR 1991, 97, 103; Engelen-Kefer, in: BMAS/BDA/DGB, Weltfriede durch soziale Gerechtigkeit, S. 87, 98, die offen lässt, ob es sich um Völkergewohnheitsrecht oder allgemeine Rechtsgrundsätze handelt; J. Schubert, Arbeitsvölkerrecht, S. 55 f.; Zimmer, Soziale Mindeststandards, S. 82 f.; Zimmer, in: Schlachter/Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht, § 5, Rn. 67 u. 90; Diepgen, Verpflichtungen wirtschaftlicher Akteure zur Beachtung der Kernarbeitsrechte, S. 127 ff.; für das Streikrecht: Sonderberichterstatter Kiai zur Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit zur Unterstützung des UN-Menschenrechtsausschusses, Report of the Special Rapporteur on the rights to freedom of peaceful assembly and of association v. 14. September 2016, UN Doc A/71/ 385, Rn. 56; zu Übk. Nr. 100: Kocher, in: Pechstein/Nowak/Häde, Art. 157 AEUV, Rn. 3; a. A. Wisskirchen, in: BMAS/BDA/DGB, Weltfriede durch soziale Gerechtigkeit, S. 65, 73; Thym, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 79 AEUV, Rn. 8 f.; offengelassen durch: Böhmert, Das Recht der ILO, S. 160; Heuschmid/Klebe, in: FS Lörcher, S. 336, 340; Heuschmid, SR 2014, 1, 3; kritisch angesichts der fehlenden Ratifizierung durch die USA, China und Brasilien auch Däubler, in: Schlachter/Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht, § 3, Rn. 26. 90 Simma/Alston, Australian Yearbook of International Law 82/12 (1992), S. 82, 102 ff. 91 Ibid.; kritisch Kleinlein, Research Paper of the Faculty of Law of the Goethe University No 19/2016, Rn. 46 ff. 92 Simma/Alston, Australian Yearbook of International Law 82/12 (1992), S. 82, 104. 93 Ibid.

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Teil 3: Völkerrechtliche Bindung der EU an ILO-Normen

die Annahme der Erklärung über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit mit 273 Ja-Stimmen, 43 Enthaltungen und keiner Gegenstimme.94 Zudem lässt sich der hohe Ratifikationsstand der acht Übereinkommen anführen,95 welche die vier Prinzipien konkretisieren, anführen. Auch die Erklärung des Kopenhagener UNWeltsozialgipfels von 1995 ist in diesem Zusammenhang von Relevanz.96 Daher handelt es sich bei den (derzeit)97 vier Prinzipien um Völkergewohnheitsrecht.

C. Kraft Beitritt zur ILO und anschließender Ratifizierung der Übereinkommen Traditionell bindet sich ein Völkerrechtssubjekt an ein Abkommen einer internationalen Organisation durch Beitritt zur Organisation, gegebenenfalls durch Unterzeichnung und anschließende Ratifizierung des Abkommens. Dieser Weg bleibt der EU für Übereinkommen der ILO bisher versperrt, da sie nicht Mitglied dieser Organisation ist.98 Europarechtlich dürften einem Beitritt der EU zur ILO keine Bedenken entgegenstehen. Die völkerrechtlichen Hürden sind aber kaum überwindbar, zumal für einen Beitritt derzeit inner- und außerhalb der EU der politische Wille fehlt.99

I. Erfordernisse einer komplementären Mitgliedschaft auf völkerrechtlicher Ebene Der EU ist es nach Art. 47 EUV möglich, völkerrechtliche Verträge mit Drittparteien abzuschließen. Diese Kompetenz umfasst grundsätzlich auch den Beitritt zu

94

IAA, IAK, 86th Session 1998, Record of Proceedings, Vol. I, S. 22/47. Übk. Nr. 29 mit derzeit 178 Ratifizierungen, Übk. Nr. 87: 155 Ratifizierungen, Übk. Nr. 98: 165 Ratifizierungen, Übk. Nr. 100: 173 Ratifizierungen, Übk. Nr. 105: 175 Ratifizierungen, Übk. Nr. 111: 175 Ratifizierungen, Übk. Nr. 138: 171 Ratifizierungen, Übk. Nr. 182: 182 Ratifizierungen. 138 Staaten haben alle acht Übk. ratifiziert. 96 Hierzu unter Teil 1 A. V. 97 Ob der Grundsatz gesunder und sicherer Arbeitsbedingungen sodann ebenfalls zum Völkergewohnheitsrecht zu zählen sein wird, ist davon abhängig, ob für diesen ebenfalls eine breite internationale Übung feststellbar sein wird. Sofern es zu einer Aufnahme des Arbeitsschutzes in den Kreis der Kernarbeitsnormen kommen sollte (hierzu unter Teil 1 B. II. 3.), liegt – abhängig von einer vergleichbar hohen Zustimmungsrate durch die ILO-Mitgliedstaaten – die Annahme von Völkergewohnheitsrecht nahe. Zum derzeitigen Zeitpunkt liegen die Voraussetzungen jedenfalls nicht vor. 98 Krebber, in: Calliess/Ruffert, AEUV, Art. 151, Rn. 28; Muhr, in: BMAS/BDA/DGB, Weltfriede durch soziale Gerechtigkeit, S. 204, 206. 99 Heuschmid, SR 2014, 1, 2. 95

C. Kraft Beitritt zur ILO und anschließender Ratifizierung der Übereinkommen

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einer internationalen Organisation.100 Art. 1 Abs. 2 – 4 ILO-Verfassung sieht zwei Möglichkeiten des Beitritts vor. Ein Mitgliedstaat der UN kann durch Mitteilung an den Generaldirektor Mitglied der ILO werden.101 Zudem kann ein „Mitglied“ durch Beschluss einer Zweidrittelmehrheit der anwesenden und an der Abstimmung teilnehmenden Regierungsvertreter der IAK aufgenommen werden.102 In Art. 1 Abs. 2 ILO-Verfassung ist für beide Varianten allerdings festgelegt, dass nur „Staaten“ Mitglieder der ILO werden können.103 Dies stellt im Vergleich mit anderen internationalen Organisationen keine Besonderheit dar.104 So steht beispielweise auch eine Mitgliedschaft in der UN nur Staaten offen.105 Es existieren aber auch andere Fälle. So wurde die EU bereits 1991 (neben ihren Mitgliedstaaten) Mitglied der FAO.106 Dies konnte durch eine Verfassungsänderung in der FAO erreicht werden.107 Seitdem übt die EU in ihren Zuständigkeitsbereichen bei Entscheidungen innerhalb der FAO ein Stimmrecht aus, das hinsichtlich der Anzahl der abgegebenen Stimmen der Anzahl ihrer Mitgliedstaaten entspricht.108 Der wahrscheinlich bedeutsamste Fall eines Beitritts der EU zu einer internationalen Organisation ist der Beitritt zur WTO,109 nachdem die EG/EU im Rahmen des GATT-1947-Regelwerk bereits als

100 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV, Art. 47, Rn. 9 f.; Meng, in: von der Groeben/ Schwarze/Hatje, EUV, Art. 47, Rn. 11 f.; vgl. auch Art. 6 WVK-IO. 101 Art. 1 Abs. 3 ILO-Verfassung. Dies stellt den typischen Weg eines Beitritts dar, vgl. Casale, in: FS Evju, S. 109, 112. 102 Art. 1 Abs. 4 ILO-Verfassung. 103 Ebenso müssten die Verfahrensordnungen der IAK und des Verwaltungsrats geändert werden, vgl. Böhmert, Das Recht der ILO, S. 217; die EU unterfällt stattdessen der in Art. 12 ILO-Verfassung genannten internationalen Organisationen, vgl. Ferri, in: Kaddous, The European Union in International Organisations and Global Governance, S. 77, 78; Pons-Deladrière, in: Kaddous, The European Union in International Organisations and Global Governance, S. 93, 95. 104 De Jesus Butler, The EU and International Human Rights Law, S. 22. 105 Art. 4 Abs. 1 UN-Charta; de Vries, in: Wolfrum, MPEPIL, European Community, Membership in International Organizations or Institutions (Stand: Februar 2014), Rn. 29; zu Schwierigkeiten des Beitritts der EU zur IMO, IWF, Weltbank und der IAEO ebd., Rn. 20 ff. 106 Am 26. November 1991 wurde der Beitritt der EG zur FAO durch die 26. FAO-Konferenz gebilligt, vgl. FAO, Conference of the FAO, 26th Session 1991, Report of the Conference of FAO Rn. 376 und Beschluss des Rates v. 25. November 1991, ABl. 1991 C, 238; Lavranos, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, AEUV, Art. 351, Rn. 14; Schmalenbach, in: Calliess/ Ruffert, AEUV, Art. 220, Rn. 16; Scheffler, Die Europäische Union als rechtlich-institutioneller Akteur im System der Vereinten Nationen, S. 511; zur Mitgliedschaft der EU in der FAO siehe: de Vries, in: Wolfrum, MPEPIL, European Community, Membership in International Organizations or Institutions (Stand: Februar 2013), Rn. 38 ff. 107 Neu eingefügt wurde Art. II Abs. 4 in der FAO-Verfassung, abrufbar in der aktuellen Fassung unter http://www.fao.org/3/a-mp046e.pdf#P8_10, vgl. auch Böhmert, Das Recht der ILO, S. 214. 108 Regel Nr. XLI Abs. 2 und 3 der allgemeinen Verfahrensregeln der FAO, vgl. EuGH v. 19. März 1996 – C-25/94 (Kommission/Rat), Rn. 4; Böhmert, Das Recht der ILO, S. 214. 109 Art. XI:1 des WTO-Übereinkommens.

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Teil 3: Völkerrechtliche Bindung der EU an ILO-Normen

faktisches Mitglied agiert hatte.110 Auch hier verfügt die EU über die Anzahl der Stimmen ihrer Mitgliedstaaten.111 Ein vergleichbarer Status dürfte sich in Bezug auf die ILO in absehbarer Zeit nicht erreichen lassen. Dies liegt insbesondere an den hohen Hürden einer Verfassungsänderung.112 Eine solche bedarf der Zustimmung einer Zweidrittelmehrheit auf der IAK als auch der Ratifikation durch zwei Drittel der Mitgliedstaaten der ILO, unter denen sich mindestens fünf der zehn ständigen Mitglieder des Verwaltungsrats113 befinden müssen.114 Diese Mehrheiten dürften aufgrund der (geäußerten oder zumindest zu vermutenden) ablehnenden Haltung der Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter115 und vieler Mitgliedstaaten der ILO derzeit nicht zu erreichen sein. 1. Problematische Steigerung des Einflusses der EU? Brinkmann verweist darauf, dass die Ausübung der ILO-Mitgliedschaftsrechte der 27 EU-Mitgliedstaaten durch die Europäische Kommission die Funktionsfähigkeit der ILO beeinträchtigen könnte, da die 27 Mitgliedstaaten mit vier der zehn ständigen Sitze im Verwaltungsrat eine starke Stellung einnehmen würden und die Union dazu geneigt sei, Standards vorzuschlagen, die mit denen der EU und/oder der 27 Mitgliedstaaten übereinstimmen.116 Gegen diese Annahme spricht, dass entsprechende Kooperationen der EU-Mitgliedstaaten über die einheitliche Ausübung ihrer Stimmrechte und des gemeinsamen Auftretens nach außen bereits existieren. Bisher hat die Kooperation der EU-Mitgliedstaaten der Funktionsfähigkeit der ILO nicht geschadet. 2. Gefahr der Bindung der EU-Mitgliedstaaten gegen ihren Willen Laut Hartlapp ist die ablehnende Haltung mancher EU-Mitgliedstaaten hinsichtlich eines Beitritts der EU zur ILO damit zu erklären, dass diese Mitgliedstaaten selbst nur wenige ILO-Übereinkommen ratifiziert haben. So haben manche EU110

Weiß, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, AEUV, Art. 207, Rn. 210. Art. IX:1 S. 4 WTO-Übereinkommen; Weiß, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, AEUV, Art. 207, Rn. 210. 112 Hierbei sollte eine Regelung zur Frage getroffen werden, ob im Falle gemischter Zuständigkeiten sich die EU gleichzeitig für sich selbst und ihre Mitgliedstaaten oder nur alternativ für sich selbst oder die Mitgliedstaaten äußern und abstimmen kann, vgl. zur identischen Problematik im Rahmen des FAO-Beitritts der EG Vorschlag der Kommission v. 18. Oktober 1991, KOM(91) 387 endg., Rn. 7. 113 Es handelt sich um solche mit der größten wirtschaftlichen Bedeutung, siehe Art. 7 Abs. 3 ILO-Verfassung. 114 Art. 36 ILO-Verfassung; Böhmert, Das Recht der ILO, S. 217. 115 Böhmert, Das Recht der ILO, S. 217; Ruchti, Das ILO-Übereinkommen Nr. 94, S. 64; Muhr, in: BMAS/BDA/DGB, Weltfriede durch soziale Gerechtigkeit, S. 204. 116 Brinkmann, in: FS Lörcher, S. 325, 327. 111

C. Kraft Beitritt zur ILO und anschließender Ratifizierung der Übereinkommen

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Mitglieder lediglich 1/5 der ILO-Übereinkommen ratifiziert. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass diese Mitgliedstaaten kein Interesse daran haben, der EU die Möglichkeit einzuräumen, gegen ihren Willen ein Übereinkommen zu ratifizieren.117 Da die ILO-Verfassung die Möglichkeit der Äußerung von Vorbehalten bei der Ratifizierung eines Übereinkommens nicht vorsieht,118 ist keine Begrenzung der Außenbindung der EU auf ihre im „Innenverhältnis“ bestehenden Kompetenzen möglich, was zu Problemen im Verhältnis mit den Mitgliedstaaten führen könnte. Eine entsprechende Ausnahme für die Bindung von regionalen internationalen Organisationen könnte jedoch im Rahmen der Verfassungsänderung vorgesehen werden.119 3. Notwendigkeit gesteigerter Beteilgung europäischer Sozialpartner Böhmert verweist auf mögliche negative Auswirkungen der Ausübung der Rechte der Mitgliedstaaten durch die EU auf die tripartistische Struktur der ILO.120 Zwar wäre es trotz Ausübung der Beteiligungsrechte der EU-Mitgliedstaaten in der ILO durch die Kommission für die Sozialpartner der einzelnen EU-Mitgliedstaaten weiterhin möglich, als solche aufzutreten und sich gerade nicht durch einen europäischen Zusammenschluss vertreten zu lassen. Allerdings würde in einem solchen Fall die Unmittelbarkeit der Beziehungen entfallen, welche die Vertrauensbildung zwischen Regierung und Sozialpartnern fördert.121 Möglich erscheint es aber, dass auch nach einem Beitritt zur ILO die Kommission Beteiligungsrechte nur dann wahrnimmt, wenn der Regelungsbereich in den ausgeübten122 Kompetenzbereich der EU fällt – und die Sozialpartner in diesem Fall ihre europäischen Zusammenschlüsse in der ILO agieren lassen. Sofern der Regelungsbereich nicht auf europäischer Ebene harmonisiert ist, könnten weiterhin die Mitgliedstaaten (unter Koordinierung durch die Kommission) ihre Beteiligungsrechte selbst ausüben, während die Kommission die ihrigen ruhen lässt. Hierdurch wäre die Unmittelbarkeit der Beziehungen gesichert.

117 Hartlapp, in: Senghaas-Knobloch, Weltweit geltende Arbeitsstandards trotz Globalisierung, S. 157, 161. 118 Servais, International Labour Law, Rn. 121; La Hovary, IOLR 2015, 204, 209, 217 m. w. N.; vgl. auch Ferri, in: Kaddous, The European Union in International Organisations and Global Governance, S. 77, 80. 119 Vgl. auch die Erklärung der EG zu ihren ausschließlichen und geteilten Kompetenzen im Rahmen des Beitritts zur FAO, abgedruckt, in: Kommission v. 18. Oktober 1991, KOM(91) 387 endg., S. 13 ff. 120 Böhmert, Das Recht der ILO, S. 217 f. 121 Ibid.; hierzu bereits unter Teil 1 B. III. 122 Da Art. 153 AEUV grundsätzlich eine deutlich weitergehende Harmonisierung ermöglicht als es bisher der Fall ist, sollte auf die tatsächlich erfolgte Harmonisierung abgestellt werden.

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Teil 3: Völkerrechtliche Bindung der EU an ILO-Normen

Ein Blick in die vorhandenen Bestimmungen des Europäischen Arbeitsrechts offenbart allerdings Probleme bei der Umsetzung dieser Verteilung: Nimmt man das Befristungsrecht als Beispiel, wäre zunächst zu berücksichtigen, dass die BefristungsRL 1999/70/EG keine Regelungen für die erstmalige Befristung trifft und auch für Kettenbefristungen Wahlmöglichkeiten und Umsetzungsspielräume beinhaltet.123 Zudem erlaubt die Richtlinie eine Abweichung des Schutzstandards zu Gunsten des Arbeitnehmers. Im Rahmen (bisher nicht geplanter) Verhandlungen über ein befristungsrechtliches Übereinkommen hätte dies zur Folge, dass häufig zur Debatte stünde, ob die Kompetenz zur Entscheidung über die Position der EUGruppe bei den Vertretern der Kommission oder der Mitgliedstaaten liegt. Die langwierige Klärung der Kompetenzverteilung (möglicherweise sogar mittels der Anrufung des EuGHs im Wege eine vorverlagtern Gutachtenverfahren nach Art. 218 Abs. 11 AEUV) wäre weder praktikabel noch Mitgliedstaaten der ILO außerhalb der EU zuzumuten. 4. Zwischenfazit Den Vorteilen einer Mitgliedschaft der EU in der ILO (Bindung an normative Verfassungsinhalte wie etwa die Vereinigungsfreiheit124 und Möglichkeit der Ratifikation von Übereinkommen) stehen konkrete Probleme bei der Ausgestaltung der Mitgliedschaftsrechte der ILO entgegen, die neben politischen Hindernissen einen Beitritt der EU zur ILO unter den gegeben Umständen unmöglich machen.

II. Erfordernisse einer komplementären Mitgliedschaft auf EU-Ebene Ein hypothetischer Beitritt der EU zur ILO müsste zudem die unionsrechtlichen Vorgaben erfüllen. Aus Art. 216 Abs. 1 AEUV ergibt sich zwar die grundsätzliche Zulässigkeit eines Beitritts;125 allerdings stellt er keine Ermächtigungsgrundlage dar.126 Die Ermächtigungsgrundlage für einen Beitritt der Union zur ILO muss sich aus anderen Bestimmungen des Unionsrechts ergeben.

123

Zur Unterstützung der ILO bei der Erarbeitung von Flexicurity-Politiken der EU auf dem Bereich der Außenbeziehungen, aber auch im Bezug auf Mitgliedstaaten der EU Pastore/ Gausˇas/Styczyn´ska, EU and ILO: Shaping the Future of Work, S. 62. 124 Hierdurch wäre bereits die Zuständigkeit des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit begründet. 125 Lachmayer/von Förster, in: Von der Groeben/Schwarze/Hatje, AEUV, Art. 216, Rn. 4; insoweit die Norm nicht zwischen dem „ob“ und „wie“ der Kompetenz unterscheidet, kann man sie als missglückt ansehen, so: Nettesheim, in: Oppermann/Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 38, Rn. 14. 126 Vgl. Lachmayer/von Förster, in: Von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, AEUV, Art. 216, Rn. 2; Mögele, in: Streinz, AEUV, Art. 216, Rn. 13.

C. Kraft Beitritt zur ILO und anschließender Ratifizierung der Übereinkommen

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1. Implizite geteilte auswärtige Kompetenz für das Gebiet des Arbeits- und Sozialrechts Auswärtige Kompetenzen der EU sind zum Teil ausdrücklich in den Verträgen127 (Art. 216 Abs. 1. Hs. 2 erster Fall AEUV) vorgesehen.128 Eine auswärtige Kompetenz kann sich aber auch implizit ergeben, falls es die sinnvolle Ausübung einer Binnenkompetenz nahelegt, dass die Union anstelle der einzelnen Mitgliedsstaaten nach außen auftritt129 oder dies zur Verwirklichung einer intern zugewiesenen Aufgabe erforderlich ist.130 Eine allgemeine implizite Kompetenz der EU zum Abschluss menschenrechtlicher Übereinkommen hat der EuGH abgelehnt.131 Eine Außenkompetenz der Union für einen Beitritt zu einer internationalen Organisation, die auf dem Gebiet des Arbeits- und Sozialrechts tätig ist, lässt sich auf Art. 216 Abs. 1 Var. 2 AEUV in Verbindung mit den geteilten internen Zuständigkeiten der Art. 151 ff. AEUV132 stützen.133 Hiergegen wird eingewendet, dass für die Mitgliedschaft der EU in der ILO keine Erforderlichkeit bestehe, da die EU ihre Sozialpolitik auch ohne ILONormen verwirklichen kann.134 Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der EuGH auch zur aktuellen Fassung des Art. 216 Abs. 1 Var. 2 AEUV, etwa im Gutachten 1/ 13 zum Beitritt von Drittstaaten zum Haager Übereinkommen (ohne Bezugnahme auf den Wortlaut des Art. 216 AEUV), eine Außenbefugnis für die Fälle angenommen hat, in denen das Unionsrecht den Organen der EU eine interne Zustän-

127 Erwähnenswert insb. die Zuständigkeiten im Bereich der GASP, Art. 37 AEUV; der gemeinsamen Handelspolitik, Art. 207 Abs. 3 AEUV; der Entwicklungszusammenarbeit, Art. 209 Abs. 2 AEUV, aber auch, wie in diesem Kontext von gewisser Bedeutung, die Möglichkeit Verträge über die Arbeitsbeziehungen zu internationalen Organisationen zu schließen (Art. 220 f. AEUV); vgl. Mögele, in: Streinz, AEUV, Art. 216, Rn. 15; Nettesheim, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 38, Rn. 15. 128 Nettesheim, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 38, Rn. 15 u. 17. 129 EuGH v. 31. März 1972 – 22/70 (AETR), Rn. 16; hierzu Kadelbach, in: Wolfrum, MPEPIL, ERTA Case (Stand: Juni 2013). 130 EuGH v. 14. Juli 1976 – 3/76 u. a. (Kramer). Auf die Darstellung der konkreten Anforderungen an implizite Zuständigkeiten wird an dieser Stelle verzichtet. Im Überblick bspw. Haag, in: Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union, § 33, Rn. 16 ff.; Nettesheim, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, S. 637 f.; Müller, Rechtsprechungsmonopol des EuGH im Kontext völkerrechtlicher Verträge, S. 85 ff. 131 EuGH v. 28. März 1996 – Gutachten 2/94 (EMRK-Beitritt I), Rn. 27 ff. 132 Zu den Abweichungen dieser Kompetenzbegründungsvariante des Art. 216 Abs. 1 AEUV von der früheren Rechtsprechung des EuGH in den Rs. Kramer v. 14. Juli 1976 – 3/76 u. a. (Kramer), Rn. 30, 33 und dem Gutachten 1/76 v. 26. April 1977, Rn. 4 zur StillegungsfondEntscheidung: Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, AEUV, Art. 216, Rn. 12. 133 Z. B. bzgl. Arbeitssicherheitsvorschriften EuGH v. 19. März 1993 – Gutachten 2/91; bejahend: Ruchti, ILO-Übereinkommen Nr. 94, S. 57 f. 134 So in Ablehnung einer entsprechenden Außenkompetenz als Grundlage zur Einräumung weiterer Beteiligungsrechte der EU in der ILO: Brinkmann, in: FS Lörcher, S. 325, 329 f.

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Teil 3: Völkerrechtliche Bindung der EU an ILO-Normen

digkeit verleiht.135 Ein Vergleich mit der Begründung des Ratsbeschlusses über den Beitritt zur BRK, in der auf die Regelungsbefugnis des Rats für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die allgemeine Kompetenz der Rechtsvereinheitlichung zur Erreichung eines funktionsfähigen Binnenmarktes abgestellt wurde,136 stützt diese Thesen. Zudem könnte eine Mitgliedschaft der EU in der ILO auch zur Umsetzung von Zielen anderer in den Verträgen festgelegter Politikbereiche zumindest beitragen. Zu denken ist etwa an die Anknüpfung des allgemeinen Zollpräferenzsystems der EU an die Übereinkommen der ILO.137 Ein Kompetenztitel für einen Beitritt der Union lässt sich daher (ergänzend zu den Unionskompetenzen auf dem Gebiet des Arbeits- und Sozialrechts) auch aus den (ausschließlichen) zollrechtlichen Kompetenzen der Union138 gewinnen. Sollten sich die völkerrechtlichen Hürden für einen Beitritt der EU zur ILO (je) überwinden lassen, dürfte ein Beitritt wohl ohnehin kaum an einer fehlenden unionsrechtlichen Kompetenz der EU scheitern. So kann die Kompetenz für einen Beitritt gemäß Art. 216 Abs. 1 Var. 3 AEUV auch durch einen Sekundärrechtsakt geschaffen werden.139 Da sowohl die EU als auch die Mitgliedstaaten (teils geteilte, teils alleinige) Zuständigkeiten auf dem Gebiet der von der Verfassung der ILO erfassten Sachgebiete haben,140 wäre der Abschluss eines gemischten Abkommens141 erforderlich.142 135

EuGH, Gutachten 1/13 v. 14. Oktober 2014, Rn. 67; hierzu Schmalenbach, in: Calliess/ Ruffert, AEUV, Art. 216, Rn. 12. 136 Beschluss des Rates v. 26. November 2009 (ABl. L 23 2010, 35): Art. 13, 95 EGV i. V. m. Art. 300 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 EGV (nun Art. 22 EUV, Art. 114 AEUV i. V. m. 217 Abs. 8 S. 2 AEUV). 137 Denkbar wäre auch das Ziel einer verbesserten Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Corporate Social Responsibility. 138 Art. 3 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 lit. a), 207 AEUV. Art. 211 AEUV, der allein ein „Zusammenarbeit“ mit internationalen Organisationen auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit regelt, kommt als Kompetenzgrundlage eines Beitritts nicht in Betracht. 139 Zu beachten wäre, dass gemäß Art. 3 Abs. 2 1. Alt. AEUV diese Kompetenz immer ausschließlich ist, allerdings parallele Vertragsschlusskompetenzen denkbar sind (Art. 4 Abs. 3, Abs. 4 AEUV), vgl. Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, AEUV, Art. 216, Rn. 15. 140 Insbesondere Art. 151 ff. AEUV; die verfassungsimmanenten Vorgaben der ILO-Verfassung für das Koalitionsrecht fallen in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, vgl. Art. 153 Abs. 5 AEUV; vgl. auch Ferri, in: Kaddous, The European Union in International Organisations and Global Governance, S. 77, 81. 141 Die Existenz dieser Art von Übereinkünften entspringt allein der Rechtsprechung des EuGH, während EUV/AEUV zu dieser rechtlichen Konstruktion schweigen, vgl. Herrmann/ Guilliard, in: Krenzler/Herrmann/Niestedt, § 130, Rn. 25. Eine Regelung findet sich nur für die Europäische Atomgemeinschaft in Art. 102 EAGV. Im Falle der ILO ergibt sich eine Besonderheit: Alle 27 Mitgliedstaaten der EU sind bereits Mitglieder der ILO, woraus gefolgert wird, der Abschluss eines gemischten Abkommen sei weder obligatorisch noch angebracht, da eine Bindung der Mitgliedstaaten an den Vertragsinhalt bereits bestehe, vgl. Schwichtenberg, Die Kooperationsverpflichtung der Mitgliedstaaten, S. 54 f. In der Tat werden durch den Beitritt der Union Rechte (und Pflichten) der Mitgliedstaaten aus ihrer Mitgliedschaft in der ILO zwar nicht geschmälert. Allerdings ist das Verfahren für gemischte Abkommen deshalb notwendig, da ein

C. Kraft Beitritt zur ILO und anschließender Ratifizierung der Übereinkommen

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2. Kein Entgegenstehen des Streitbeilegungs- und Auslegungsmonopols des EuGH Art. 344 AEUV verbietet den Mitgliedstaaten, Streitigkeiten über die Auslegung und Anwendung des Unionsrechts über eine andere als in den Verträgen vorgesehene gerichtliche (oder schiedsgerichtliche) Lösung anzustreben.143 Dies zeigte im Falle des in Art. 6 Abs. 2 S. 1 EUV vorgesehenen Beitritts der Union zur EMRK bekanntlich weitreichende Konsequenzen. Ähnlich wie Art. 344 AEUV für das Unionsrecht sieht Art. 55 EMRK für die Konvention vor, dass über ihre Auslegung und Anwendung allein der EGMR entscheidet. Zur Auflösung dieses Konflikts sah Art. 5 des Entwurfs über das Beitrittsabkommen der EU zur EMRK vor, dass Art. 55 EMRK keine Anwendung auf Verfahren vor dem EuGH finden solle.144 Im Gutachten 2/13 kam der EuGH allerdings zum Ergebnis, dass diese Regelung nicht ausreiche, um seine ausschließliche Kompetenz zu gewährleisten.145 Hieraus folgte für den EuGH die Unvereinbarkeit des unionsrechtlichen Rechtschutzsystems mit einer externen Kontrolle durch den EGMR.146 In Bezug auf einen potentiellen Beitritt der EU zur ILO ergibt sich hieraus aber kein Hindernis. Das regelmäßige Überwachungsverfahren, das BeschwerdeverfahBeitritt der Union zur ILO – abhängig von der Ausgestaltung der Beteiligungsrechte der EU in der Verfassung der ILO – durchaus Auswirkungen auf die Ausübung der Rechte der Mitgliedstaaten haben würde. Nichts anderes folgt aus der internen Beteiligung der EU-Mitgliedstaaten an einer Verfassungsänderung – die hierfür erforderlichen Hürden (vgl. insb. Art. 36 ILO-Verfassung) ließen sich zumindest theoretisch auch gegen den Willen einzelner oder aller EU-Mitgliedstaaten durchsetzen – und der Abstimmung über den Beitritt der EU zur ILO durch die Regierungsvertreter auf der IAK (Erwägungsgrund Nr. 7 des Beschlusses des Rates v. 26. November 2009 (ABl. 2010 L 23, 35) für die parallele Problematik der UN-Behindertenrechtskonventionen, vgl. auch Lorenzmeier, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, AEUV, Art. 218, Rn. 51) da die Beteiligungsrechte der Mitgliedstaaten in der EU und der ILO nicht zu vermischen sind und (zumindest theoretisch) die erforderlichen Hürden in der ILO auch gegen den Willen einzelner oder aller EU-Mitgliedstaaten überwunden werden könnten, siehe Art. 1 Abs. 4 2. Alt. ILO-Verfassung. Auch die Zustimmung des Europäischen Parlaments ist gemäß Art. 218 Abs. 6 lit. a) Nr. iii) AEUV; zu dessen restriktiver Handhabung: Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, AEUV, Art. 218, Rn. 23. 142 Erwägungsgrund Nr. 7 des Beschlusses des Rates v. 26. November 2009 (ABl. 2010 L 23, 35) für die parallele Problematik der UN-Behindertenrechtskonventionen, vgl. auch Lorenzmeier, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, AEUV, Art. 218, Rn. 51. 143 Herrmann, in: Streinz, AEUV, Art. 344, Rn. 1; Müller, Rechtsprechungsmonopol des EuGH im Kontext völkerrechtlicher Verträge, S. 67 f. 144 Draft revised agreement on the accession of the European Union to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms im Final report to the CDDH v. 10. Juni 2013, 47+1(2013)008 rev2, abrufbar unter: https://www.coe.int/t/dlapil/cahdi/Source/ Docs2013/47_1_2013_008rev2_EN.pdf; Herrmann, in: Streinz, AEUV, Art. 344, Rn. 3. 145 Herrmann, in: Streinz, AEUV, Art. 344, Rn. 3; siehe zu den verschiedenen Mechanismen der gerichtlichen Überprüfung, Art. 3 des Entwurfs des Beitrittsabkommens aus Sicht der Kommission: Ladenburger, FIDE 2012 – Institutional Report, 5.2. und 5.3.; zu den konkreten Einwänden des EuGH: Spaventa, in: Barnard/Peers, European Union Law, S. 254 ff. 146 EuGH, Gutachten C-2/13 v. 18. Dezember 2014 (EGMR-Beitritt II), insb. Rn. 208 f.

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Teil 3: Völkerrechtliche Bindung der EU an ILO-Normen

ren und das Verfahren bei Verstößen gegen die Vereinigungsfreiheit können nicht durch Mitgliedstaaten der EU initiiert werden. Ebenso stellt das Klageverfahren kein Hindernis dar, da die Art. 36 ff. ILO-Verfassung – anders als Art. 55 EMRK – keine ausschließliche Zuständigkeit der Ausschüsse vorsehen. Demzufolge wäre im Rahmen der Änderung der ILO-Verfassung für den EU-Beitritt lediglich das Klageverfahren für Mitgliedstaaten der EU gegen die Union oder der Union gegen Mitgliedstaaten147 zu sperren, da die Austragung derartiger innereuropäischer Streitigkeiten vor internationalen Gremien dem Rechtsgedanken des Art. 344 AEUV widerspricht.148 Ebenso versperrendie in Art. 37 ILO-Verfassung vorgesehenen Verfahren vor dem IGH oder dem (bisher nicht existenten) ILO-Gericht über die verbindliche Auslegung von ILO-Normen einen Beitritt nicht.149 So hat der EuGH wiederholt darauf hingewiesen, dass er eine internationale Übereinkunft, welche die „Schaffung eines mit der Auslegung ihrer Bestimmungen betrauten Gerichts vorsieht, dessen Entscheidungen für die Organe, einschließlich des EuGH, bindend sind“, nicht für unvereinbar mit Unionsrecht halte.150 Die Fähigkeit der Union zum Abschluss internationaler Übereinkünfte umfasse notwendigerweise die Möglichkeit, sich den Entscheidungen eines durch solche Übereinkünfte geschaffenen oder bestimmten Gerichts in Bezug auf die Auslegung und Anwendung ihrer Bestimmungen zu unterwerfen, sofern die Autonomie der Union und ihrer Rechtsordnung gewahrt bleibe.151 Eine Entscheidung des IGH über den Inhalt eines ILO-Übereinkommens würde auch nicht den materielle Gehalt eines Unionsgrundrechts beeinflussen152 – außer der EuGH übernähme die Entscheidung des IGH aus freien Stücken in das Unionsrecht.

147 Müller, Rechtsprechungsmonopol des EuGH im Kontext völkerrechtlicher Verträge, S. 68 ff. folgert aus der Entscheidung des EuGH v. 12. September 2006 – C-131/03 P (Reynolds), dass nach Ansicht des EuGH Art. 344 AEUV nicht nur die Mitgliedstaaten sondern auch die Organe der EU bindet. 148 Vgl. zur ähnlich gelagerten Problematik des DSB der WTO: Herrmann/Guilliard, in: Krenzler/Herrmann/Niestedt, EU-Außenwirtschafts- und Zollrecht, § 130, Rn. 31. 149 Vgl. auch Tomuschat, EuGRZ 2015, 133, 135 f. mit deutlicher Kritik an der Argumentation des EuGH im EMRK-Beitrittsgutachen, S. 137 f. 150 EuGH v. 6. März 2018 – C-284/16 (Achmea), Rn. 57. 151 Ibid.; Gutachten C-1/91 v. 14. Dezember 1991 (EWR-Abkommen I), Rn. 40 und Rn. 70; EuGH, Gutachten 1/09 v. 8. März 2011 (Übereinkommen zur Schaffung eines einheitlichen Patentgerichtssystems), Rn. 74 ff., hierzu Müller, Rechtsprechungsmonopol des EuGH im Kontext völkerrechtlicher Verträge, S. 57; EuGH, Gutachten C-2/13 v. 18. Dezember 2014 (EGMR-Beitritt II), Rn. 182 f.; EuGH, Gutachten 2/15 v. 16. Mai 2017 (Singapur), Rn. 299. In letzterem wurde der EuGH lediglich zur Bestimmung der Zuständigkeiten der EU angerufen, allerdings nicht zur Zulässigkeit des EUSFTA; vgl. auch Aust, EuR 2017, 106, 114 ff. 152 Schadendorf, EuR 2015, 28, 32; vgl. insoweit EuGH, Gutachten 1/17 v. 30. April 2019 (CETA), Rn. 121 ff., hierzu Krajewski, „Ist CETA der ,Golden Standard‘? EuGH hält CETAGericht für unionsrechtskonform“, verfassungsblog.de am 30. April 2019, https://verfassungsb log.de/ist-ceta-der-golden-standard-eugh-haelt-ceta-gericht-fuer-unionsrechtskonform/.

D. Kraft Ratifizierung einzelner Übereinkommen ohne Beitritt zur ILO

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Die ausschließliche Zuständigkeit des EuGH in Fragen der Auslegung des Unionsrechts würde im Falle eines Beitritts der EU zur ILO somit nicht gefährdet. Mithin steht sie einem Beitritt der EU zur ILO nicht entgegen.

D. Kraft Ratifizierung einzelner Übereinkommen ohne Beitritt zur ILO Anstelle einer Verfassungsänderung wäre es aus Sicht der ILO auch möglich, neue Übereinkommen mit (neuen standardisierten) Schlussklauseln zu versehen, die eine Ratifikation durch regionale internationale Organisationen erlauben, ohne dass diese Organisation Mitglied der ILO ist.153 Durch die anschließende Ratifikation des Übereinkommens wäre die EU an dieses gebunden.154 Ebenso könnte eine entsprechende Bestimmung in die Schlussklauseln der vorhandenen Übereinkommen aufgenommen werden.155 Hierfür müssten nicht sämtliche Übereinkommen geändert werden, wie ein Blick auf frühere Änderungen der Schlussbestimmungen zeigt. Sowohl durch Übereinkommen Nr. 80 also auch durch Übereinkommen Nr. 116 wurden Änderungen an den Schlussbestimmungen früherer Übereinkommen vorgenommen.156 Die Änderung der Schlussklauseln stellt daher eine geringere Hürde dar als die Änderung der Verfassung.157 Zudem hätte die Ermöglichung der Ratifikation einzelner Übereinkommen gegenüber der Mitgliedschaft der EU in der ILO den Vorteil, dass die EU bei der Verabschiedung neuer Normen keine eigenen Beteiligungsrechte hätte, sondern diese wie bisher nur im Namen der Mitgliedstaaten ausüben könnte (was bisher gut funktionierte).158 Böhmert weist zurecht darauf hin, dass aufgrund der vorgeschriebenen Beteiligung der Sozialpartner bei der Umsetzung der Übereinkommen die Ratifikation von Über153 Böhmert, Das Recht der ILO, S. 219; ohne eine Anpassung der Schlussklauseln ist eine Ratifikation nicht möglich, vgl. Art. 19 Abs. 5 ILO-Verfassung. So auch Odendahl, in: von Arnauld, Europäische Außenbeziehungen, § 5, Rn. 106. 154 Für die Begründung von Berichtspflichten, die die Grundlage des regelmäßigen Normüberwachungssystems bilden, wäre ein ausdrücklicher Verweis in der Bestimmung des Übereinkommens notwendig, welche die Ratifikation durch die internationale Organisation regelt. Hierdurch könnte die Umsetzung und Einhaltung des Übereinkommens auch durch den Sachverständigenausschuss und den Normanwendungsausschuss überwacht werden. 155 Böhmert, Das Recht der ILO, S. 219. Insbesondere wäre eine Zweidrittelmehrheit der Delegierten der IAK notwendig; a. A. Sauer, in: MPEPIL, International Labour Organization (Stand: August 2014), Rn. 27, der für die Ratifizierung einzelner Übereinkommen ebenfalls eine Verfassungsänderung für notwendig hält. 156 Durch Übk. Nr. 80 wurden die Schlussbestimmungen aller Übereinkommen, die auf den ersten 28 Tagungen angenommen wurden, geändert. Im Fall von Übk. Nr. 116 betraf die Änderung die Schlussbestimmungen aller Übereinkommen, die auf den ersten 32 Tagungen der IAK angenommen wurden. 157 So auch Böhmert, Das Recht der ILO, S. 219. 158 Hierzu unter Teil 1 B. II.

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Teil 3: Völkerrechtliche Bindung der EU an ILO-Normen

einkommen auch einen wichtigen Impuls für den Dialog der Europäischen Sozialpartner bedeuten könnte.159 Durch die Änderung der Schlussbestimmungen könne auch dem Problem entgegengewirkt werden, dass die Übereinkommen der ILO nicht unter Vorbehalt ratifiziert werden können.160 So wie viele Übereinkommen Bestimmungen beinhalten, die eine Begrenzung oder Auswahl der Verpflichtungen vorsehen, könnten die Schlussbestimmungen der Übereinkommen vorsehen, dass regionale internationale Organisationen nur im Rahmen der ihnen übertragenen Kompetenzen zur Umsetzung eines Übereinkommens verpflichtet sind. Hierbei wäre die regionale internationale Organisation verpflichtet, ihre Kompetenzen der ILO mitzuteilen, wie es etwa auch in der FAO der Fall ist.161 Die Notwendigkeit einer Bestimmung im Abkommen und einer entsprechenden Erklärung über die Kompetenzen der Union wird auch im Vergleich mit den Behindertenrechtskonventionen162 der UN deutlich. So ist in Art. 42, 44 BRK und Art. 12 des Fakultativprotokolls erstmals in einem Menschenrechtsabkommen mit weltweitem Geltungsbereich die Möglichkeit vorgesehen, dass auch regionale internationale Organisationen dem Abkommen beitreten können. Die EU ist die erste internationale Organisation, die von der Möglichkeit des Beitritts Gebrauch gemacht und diese ratifiziert hat.163 Die BRK enthält Bestimmungen, die zum Teil in den (ausschließlichen) Kompetenzbereich der Union,164 teilweise aber auch in den alleinigen Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten fallen.165 Entsprechend erfolgte eine gemeinsame Verhandlungsführung zum Abschluss des Abkommens durch die EU.166 Zur Vermeidung der Bindung der Union zu Fragen, die außerhalb ihrer Kompetenzen liegen, gab die EU bei Abschluss des Abkommens eine Erklärung zu ihren Kom159

Böhmert, Das Recht der ILO, S. 219. Vgl. IAA, ILO Official Bulletin v. 15. August 1951, Bd. XXXIV 1951, S. 274, 282 ff. 161 Kaddous, in: Kaddous, The European Union in International Organisations and Global Governance, S. 1, 15. 162 2515 UNTS, 3, in Kraft seit dem 3. Mai 2008. 163 Beschluss des Rates 7404/07 v. 20. März 2007, ABl. 2007 L 23, 35, formelle Bestätigung durch die EU am 23. Dezember 2010, Ratifikation am 22. Januar 2011, vgl. https://trea ties.un.org/pages/showDetails.aspx?objid=080000028017bf87. Jedoch erfolgte keine Unterzeichnung des Fakultativprogramms über individuelle Mitteilungen und Untersuchungsverfahren (U.N. Doc. A/61/611 v. 6. Dezember 2006), wie es von der Kommission vorgeschlagen wurde (Europäische Kommission, Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Unterzeichnung – im Namen der Europäischen Gemeinschaft – des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und des dazugehörigen Fakultativprotokoll, COM(2007) 77 final), vgl. Dörschner, Rechtwirkung der UN-Behindertenrechtskonvention, S. 30. 164 Vom Europäischen Rat wurden Art. 13 EGV (nun Art. 19 AEUV) sowie Art. 95 EGV (nun Art. 114 Abs. 1 AEUV) angeführt, siehe Beschluss 2010/48/EG des Rates vom 26. November 2009, Präambel, ABl. 2010 L 23, 35. 165 Beschluss 2010/48/EG des Rates vom 26. November 2009, Erwägungsgrund Nr. 7; Dörschner, Rechtswirkung der UN-Behindertenrechtskonvention, S. 30. 166 De Burca, ELR 2010, 174, 181; Dörschner, Rechtswirkung der UN-Behindertenrechtskonvention, S. 31. 160

E. Kraft völkerrechtlicher einseitiger Bindungserklärung

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petenzen ab, nach welcher sie nur im Rahmen ihrer Zuständigkeiten gebunden sei.167 Inzwischen hat der EuGH mehrfach auf die Behindertenrechtskonventionen zur Auslegung des Unionsrechts zurückgegriffen.168 Die Öffnung der Schlussbestimmungen der Übereinkommen für eine Ratifizierung durch regionale internationale Organisationen erscheint im Vergleich zum Beitritt der EU zur ILO als einfachere Lösung zur Herstellung einer völkerrechtlichen Bindung der Union.169

E. Kraft völkerrechtlicher einseitiger Bindungserklärung Daneben besteht die Möglichkeit, dass sich die Union durch eine einseitige Bindungserklärung zur Einhaltung von ILO-Abkommen verpflichtet.170 Die Möglichkeit einer einseitigen Bindungserklärung ist völkerrechtlich grundsätzlich anerkannt.171 Allerdings sind hierbei die in Art. 218 AEUV kodifizierten unionsrechtlichen Regeln zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge anzuwenden.172 Aufgrund des damit einhergehenden komplexen Verfahrens ist die Begehung dieses Weges unwahrscheinlich. Denn das Durchlaufen eines solchen Verfahrens allein zum Zwecke der Selbstbindung erscheint unverhältnismäßig, da sich die EU stattdessen auch unionsrechtlich einseitig binden kann.173 Zudem würde sich aus einer einseitigen Bindungserklärung keine externe Kontrolle durch die Ausschüsse der ILO ergeben, da eine Kontrolle von Dritten in der ILO-Verfassung gerade nicht vorgesehen ist. 167

Vgl. Treaties Office Database der Kommission, S. 43 (abrufbar unter: http://ec.europa. eu/world/agreements/viewCollection.do?fileID=76198). Aufgrund der schwierigen Kompetenzabgrenzungen im Regelungsbereich der BRK wird diese zugunsten der Rechtssicherheit der anderen Vertragsstaaten zum Teil für unbeachtlich gehalten, vgl. Dörschner, Rechtswirkung der UN-Behindertenrechtskonvention, S. 33. Im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten ist die EU ohnehin nur im Rahmen ihrer bestehenden Zuständigkeiten an das Abkommen gebunden bzw. ermächtigt. Dies ist vor dem Hintergrund relevant, dass nicht alle Mitgliedstaaten der EU der BRK beigetreten sind, vgl. Schadendorf, EuR 2015, 28, 29. 168 EuGH v. 1. Dezember 2016 – C-395/15 (Daouidi), Rn. 41; EuGH v. 9. März 2017 – C406/15 (Milkova), Rn. 48 f. 169 Zu klären wäre lediglich, ob etwa im Falle der Ratifizierung von Übk. Nr. 87 und Nr. 98 eine Beschwerde gegen die EU vor dem Ausschuss für Vereinigungsfreiheit zulässig wäre. 170 Zu einer Bindungserklärung bezüglich CEDAW: Schadendorf, ZaöRV 2014, 245, 280; allgemein zu den UN-Menschenrechtsabkommen: De Jesus Butler, The EU and International Human Rights Law, S. 22; Schadendorf, EuR 2015, 25, 46; in Bezug auf die EMRK vor deren Vertragsänderung diese Möglichkeit verneinend: Weiß, Verteidigungsrechte, S. 102 ff. 171 IGH v. 20. Dezember 1974, Nuclear Tests Case (Australien/Frankreich), ICJ Reports 1974, 253, 267 f. 172 In seinem ersten Gutachten zum Beitritt der EG zur EMRK lehnte der EuGH das Vorliegen der Voraussetzungen einer einseitige Bindungserklärung in Bezug auf die EMRK ab, vgl. Hentschel-Bednorz, EuGH im Mehrebenensystem des Grundrechtschutzes, S. 368. 173 Hierzu unter Teil 4 A.

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Teil 3: Völkerrechtliche Bindung der EU an ILO-Normen

F. Kraft Funktionsnachfolge Die Rechtsfolge der Fortgeltung von Rechten und Pflichten nach Übertragung von „Gegenständen“ ist nicht nur im Europäischen Arbeitsrecht – man denke an Art. 3 der BetriebsübergangsRL 2001/23/EG – sondern auch im Völkerrecht bekannt, wird dort allerdings als „Funktionsnachfolge“ bezeichnet: Die Mitgliedstaaten haben auch in solchen Bereichen Kompetenzen auf die EU übertragen, in denen sie an Menschenrechtsabkommen gebunden sind. In diesen Bereichen würde der Schutz der Menschenrechtsabkommen ins Leere laufen, da die Mitgliedstaaten in ihnen keine eigenen Rechtsetzungskompetenzen mehr hätten und nur noch Unionsrecht anwenden würden, die EU aber nicht an das Abkommen gebunden ist. Dem wirkt die Funktionsnachfolge entgegen. Die Bindung der EU an internationale Menschenrechtsübereinkommen wird dogmatisch teils auf die analoge Anwendung der Regeln zur Staatensukzession, teils auf den Grundsatz von Treu und Glauben gestützt174 und teils als eigener Rechtssatz speziell für die Bindung internationaler Organisationen gesehen. Unabhängig von den abstrakt-völkerrechtlichen Überlegungen ist zu beachten, dass der EuGH für die Bindung der EU an völkerrechtliche Verträge der Mitgliedstaaten bereits eigene Voraussetzungen entwickelt hat. Diese liegen in Bezug auf die Übereinkommen der ILO nicht vor.

I. Voraussetzungen einer Funktionsnachfolge nach der Rechtsprechung des EuGH In seiner International-Fruit-Company-Entscheidung175 bestätigte der EuGH die Bindung der EG an das GATT-1947-Regelwerk sowie die Ausübung der Rechte der EG-Mitgliedstaaten durch die EG.176 Dies wurde durch eine konkludente Vertragsänderung seitens der Mitgliedstaaten des GATT 1947 möglich.177 Die seither bestehende ständige Rechtsprechung des EuGH macht die Annahme einer Funktionsnachfolge von folgenden Voraussetzungen abhängig:178 174 Kortländer, Verbindlichkeit der völkerrechtlichen Altverträge der Mitgliedstaaten der EU, S. 220; Schadendorf, EuR 2015, 28, 33. 175 EuGH v. 12. Dezember 1972 – 21-24/72 (International Fruit Company). 176 Weiß, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, AEUV, Art. 207, Rn. 209: Die EG wurde neben den übrigen Vertragsparteien des GATT 1947 gem. Art. XI Abs. 1 des WTO-Übereinkommens (ABl. 1994 L 336, 1 = UNTS 1867, 154) ursprüngliches Mitglied der WTO und ist somit seitdem über diesen Weg an das GATT 1994-Abkommen gebunden. 177 Vgl. Lorenzmeier, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, AEUV, Art. 351, Rn. 76. 178 Vgl. auch Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, AEUV, Art. 351, Rn. 25; Lorenzmeier, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, AEUV, Art. 351, Rn. 50; Schadendorf, EuR 2015, 28, 33; Kokott, in: Streinz, AEUV, Art. 351, Rn. 23.

F. Kraft Funktionsnachfolge

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- Alle Mitgliedstaaten müssen Vertragspartei des Übereinkommens sein.179 - Die Befugnisse der Mitgliedstaaten müssen später vollständig auf die Union übergegangen sein; somit muss auf dem betroffenen Gebiet eine ausschließliche Kompetenz der Union bestehen.180 - Die Union muss den Willen geäußert haben, sich an die völkerrechtlichen Verpflichtungen zu binden (was sich zumindest in der faktischen Aufnahme entsprechender Tätigkeiten zeigen muss).181 - Die Bindung muss von den Mitgliedstaaten erwünscht sein.182 - Auch die anderen Vertragsparteien müssen die Kompetenzverlagerung anerkennen.183 Sofern alle Voraussetzungen vorliegen – was der EuGH in Bezug auf das GATT1947-Regelwerk bejahte – entsteht eine völkerrechtliche Bindung der Union an die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten.184 Hinsichtlich anderer internationaler Übereinkommen lehnte er dies aber nicht selten ab, da trotz der Ratifizierung durch alle EU-Mitgliedstaaten eines oder mehrere der aufgestellten Kriterien nicht vorlagen. Entsprechend scheiterte eine Bindung der Union etwa 2009 für das Warschauer Abkommen,185 2010 für das Übereinkommen über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr 186 und zuletzt 2011 für das Chicagoer Abkommen.187 In seinem Gutachten zum Beitritt der EU zur EMRK hat der EuGH seine Kriterien nicht auf die EMRK angewandt.188 Angesichts der weiterhin bestehenden Kompetenzen der Mitgliedstaaten im Bereich des Grundrechtsschutzes lagen die Voraussetzungen auch nicht vor, sodass dem EuGH diese Überlegung zu fernliegend erschien. Ebenso kann für Übereinkommen der ILO keine Funktionsnachfolge angenommen werden, sofern die vom EuGH verwendeten Kriterien zugrunde gelegt werden. Erstens besteht für den Bereich des Arbeits- und Sozialrechts keine ausschließliche 179

EuGH v. 12. Dezember 1972 – 21-24/72 (International Fruit Company), Rn. 10 – 13. Ibid., Rn. 14 – 18; so auch in EuGH v. 3. Juni 2008 – C-308/06 (Intertanko), Rn. 48 f.; EuGH v. 22. Oktober 2009 – C-301/08 (Bogiatzi), Rn. 25. 181 Ibid., Rn. 10 – 13; zur UN-Charta wohl EuG v. 21. September 2005 – T-306/01 (Yusuf), Rn 246; EuGH v. 21. September 2005 – T-315/01 (Kadi), Rn. 196. 182 EuGH v. 12. Dezember 1972 – 21-24/72 (International Fruit Company), Rn. 14 – 18. 183 EuGH v. 12. Dezember 1972 – 21-24/72 (International Fruit Company), Rn. 14 ff.; EuGH v. 21. Dezember 2011 – C-366/10 (Air Transport Association of America), Rn. 62 ff. 184 Lorenzmeier, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 315 AEUV, Rn. 50; Pache/Bielitz, EuR 2006, 324 f. 185 EuGH v. 22. Oktober 2009 – C-301/08 (Bogiatzi), Rn. 33 f. 186 EuGH v. 4. Mai 2010 – C-533/08 (TNT Express Nederland), Rn. 62. 187 EuGH v. 21. Dezember 2011 – C-366/10 (Air Transport Association of America), Rn. 62 ff. 188 Schadendorf, EuR 2015, 28, 34. 180

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Teil 3: Völkerrechtliche Bindung der EU an ILO-Normen

Zuständigkeit der EU. Zweitens haben die Mitgliedstaaten bisher nicht den Willen geäußert, ihre Mitgliedschaftsrechte durch die EU ausüben zu lassen. Drittens tritt die EU nicht als Nachfolgerin ihrer Mitgliedstaaten auf, was entsprechend auch nicht durch die anderen Vertragsparteien bestätigt werden konnte: Bislang hat die EU lediglich einen Beobachterstatus inne; die Kommission koordiniert im Vorfeld von Sitzungen des Verwaltungsrats und der IAK die Standpunkte der EU-Mitgliedstaaten. Sie tritt in diesen Gremien nicht anstelle der Mitgliedstaaten auf, sondern weist auf ihre Rolle als Vertreterin der Mitgliedstaaten hin.189 Für eine Anerkennung durch die anderen Mitglieder der ILO fehlt somit schon die Grundlage. Nichts anderes lässt sich aus Gutachten 2/91 ableiten. In diesem hatte der EuGH zu Übereinkommen Nr. 170 entschieden, dass die EG über eine geteilte Außenkompetenz für den Regelungsbereich der Arbeitsschutzbestimmungen bei der Verwendung chemischer Stoffe verfügt.190 Die auswärtige Zuständigkeit der EG müsse gegebenfalls durch die Mitgliedstaaten ausgeübt werden, wobei die Mitgliedstaaten im Interesse der Gemeinschaft gemeinsam zu handeln hätten.191 Kokott hält für möglich („Der EuGH scheint […] in diese Richtung zu tendieren“), dass das Anerkenntnis einer auswärtigen – durch die Mitgliedstaaten ausgeübten – Kompetenz der Union auch die Anerkennung einer Bindung der Union an die Übereinkommen der ILO durch den EuGH beinhaltet.192 Allein aus der Bejahung einer Außenkompetenz und der Unmöglichkeit, selbst ein Übereinkommen der ILO ratifizieren zu können, folgt aber nicht zwingend eine völkerrechtliche Bindung der EG/EU an das Übereinkommen. Diese Überlegungen sind daher abzulehnen.

II. Völkerrechtliche Erwägungen In der International-Fruit-Company-Entscheidung hat der EuGH für das GATT 1947-Regelwerk eine völkerrechtliche Funktionsnachfolge der EG für ihre Mitgliedstaaten zwar bejaht und abstrakte Kriterien für die Funktionsnachfolge formuliert. Der EuGH verfügt allerdings für andere Völkerrechtssubjekte als die EU und ihre Mitgliedstaaten nicht über die Autorität, eine verbindliche Entscheidung über die völkerrechtlichen Bindungen der EU zu treffen.

189

So für das Chicagoer Abkommen: GA Kokott, SA v. 6. Oktober 2011 – C-366/10 (Air Transport Association of America), Rn. 64. 190 EuGH, Gutachten 2/91 v. 19. März 1993, Rn. 39; hierzu bereits unter Teil 1 B. II. 191 EuGH, Gutachten 2/91 v. 19. März 1993, Rn. 37. 192 Kokott, in: Streinz, AEUV, Art. 351, Rn. 26 mit Verweis auf Rn. 5 des Gutachtens; kritisch Lorenzmeier, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, AEUV, Art. 351, Rn. 71.

F. Kraft Funktionsnachfolge

243

1. Übertragung der Regeln zur Staatensukzession Eine mögliche Grundlage der völkerrechtlichen Funktionsnachfolge bildet die Wiener Konvention zur Staatennachfolge in Verträgen (WKStV) von 1978.193 Sie sieht einen Übergang völkerrechtlicher Rechte und Pflichten beispielsweise auf der Grundlage von Gebietsübertragungen,194 Vereinigung von Staaten durch Inkorporation oder Fusion, Sezessionen und Separationen oder vollständigen Dismembrationen vor.195 Die WKStV wurde zum derzeitigen Zeitpunkt nur von 22 Staaten ratifiziert.196 Es ist somit bisher nicht davon auszugehen, dass sie (insgesamt) Völkergewohnheitsrecht kodifiziert.197 Lediglich die Kernaussage der WkStV, nach welcher ein (anerkannter) Nachfolger automatisch den Vorgänger in dessen Vertragsposition beerbt,198 dürfte völkergewohnheitsrechtlich anerkannt sein.199 Eine Bindung der EU an Übereinkommen der ILO lässt sich aus der WKStV allerdings ohnehin nicht ableiten.200 Die WKStV findet nur auf Staaten Anwendung.201 Zudem liegen auch die Voraussetzungen der am ehesten in Betracht kommenden Bestimmungen, Art. 31 WKStV, nicht vor. Dieser sieht im Falle der Fusion mehrerer Staaten zu einem Nachfolgestaat die Fortgeltung sämtlicher Verträge der Ausgangsstaaten für den Nachfolgestaat vor, falls nicht eine der Ausnahmen (beispielsweise anderweitige Vereinbarungen) vorliegt.202 Hiervon sind auch Verpflichtungen aus menschenrechtlichen Abkommen erfasst.203 Selbst wenn man außer 193

UNTS 1946, 3; in Kraft getreten am 6. November 1996. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Art. 29 WVK. 195 Kortländer, Verbindlichkeit der völkerrechtlichen Altverträge der Mitgliedstaaten der EU, S. 213 f. 196 Vgl. https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=XXIII-2 &chapter=23&lang=en (darunter keine der ehemaligen Kolonialmächte; zu den Hintergründen: von Arnauld, Völkerrecht, Rn. 104) und nur fünf EU-Mitgliedstaaten (Estland, Kroatien, Polen, Tschechien, Zypern). Es ist somit nicht bisher davon auszugehen, dass sie größtenteils Völkergewohnheitsrecht kodifiziert. 197 Janik, Bindung internationaler Organisationen an internationale Menschenrechtsstandards, S. 405, insb. Fn. 71 m. w. N. 198 Vgl. zu den Begriffen des Nachfolgers und Vorgängers Art. 2 Abs. 1 lit. c) und d) WKStV; Kortländer, Verbindlichkeit der völkerrechtlichen Altverträge der Mitgliedstaaten der EU, S. 213 f. In der WKStV ist als gegenläufiger Pol jedoch auch der „unbelastete“ Neustart von ehemaligen Kolonialstaaten angelegt. 199 Janik, Bindung internationaler Organisationen an internationale Menschenrechtsstandards, S. 408, Fn. 90 m. w. N. 200 So auch Schadendorf, EuR 2015, 28, 35; Osteneck, Umsetzung von UN-Wirtschaftssanktionen durch die EG, S. 219; Weiß, Verteidigungsrechte, S. 85 f.; weiteren Argumente bei Janik, Bindung internationaler Organisationen an internationale Menschenrechtsstandards, S. 407. 201 Im diesem Zusammenhang von vorrangiger Relevanz beim Betriff des Nachfolgestaates, vgl. Art. 2 Abs. 1 lit. d) WKStV. 202 Zu beachten jedoch auch die territoriale Eingrenzung in Art. 31 Abs. 2, 3 WKStV. 203 von Arnauld, Völkerrecht, Rn. 106. 194

244

Teil 3: Völkerrechtliche Bindung der EU an ILO-Normen

Acht lässt, dass nur manche Zuständigkeiten übertragen werden, wäre zu berücksichtigen, dass nach der Übertragung der Kompetenzen nicht nur ausschließliche Kompetenzen der EU und ausschließliche Kompetenzen der Mitgliedstaaten existieren, sondern auch gemischte Zuständigkeiten, wie etwa auf dem Gebiet des Arbeits- und Sozialrechts. Zudem hätte die Sukzession zur Folge, dass die Mitgliedstaaten von ihren menschenrechtlichen Pflichten entbunden würden.204 Entsprechend kann eine Übertragung von Art. 31 WKStV weder auf Tatbestands- noch auf Rechtsfolgenseite überzeugen. 2. Treu und Glauben (Hypothekentheorie) Abgesehen von einer Anknüpfung an die Regeln zur Staatensukzession wird eine völkerrechtliche Bindung auch auf Grundlage von Treu und Glauben (sogenannte „Hypothekentheorie“) diskutiert. Nach dieser Theorie ist jeder Sachbereich mit der „Hypothek“ der Bindung an das Menschenrechtsabkommen „belastet“.205 Diese Belastung könne nicht durch den Akt der Übertragung beseitigt werden.206 Dieser Rechtsgedanke wird teilweise mit einem Verweis auf den Grundsatz nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet,207 zum Teil mit dem zivilrechtlichen Rechtsatz res transit cum onere suo begründet, der ebenfalls im Recht der Staatensukzession Anerkennung gefunden hat.208 Gegen die Hypothekentheorie wird angeführt, die Übertragung der privatrechtlichen Rechtsprinzipien verstoße gegen den Holismus als Grundprinzip der allgemeinen Staatsrechtslehre, nach dem Staatsgewalt nur als einheitliches Ganzes aus204

Zu den anerkannten Ausnahmen Treviranus, ZaöRV 1979, 259, 272. Es ist unklar, ob das EuG im Zusammenhang mit den Terrorlisten-Resolutionen des UNSicherheitsrats die Bindung der EU an die UN-Charta auf der Grundlage der Hypothekentheorie angenommen hat, siehe EuG v. 21. September 2005 – T-315/01 (Kadi), Rn. 192 ff., insb. Rn. 195; EuG v. 21. September 2005 – T-306/01 (Yusuf), Rn. 245. Hiervon gehen Tomuschat, CMLR 2006, 537, 543 und Sauer, NJW 2008, 3685, 3686 aus; zurückhaltender Janik, Bindung internationaler Organisationen an internationale Menschenrechtsstandards, S. 188 f. u. 408 f.; kritisch ebenfalls Rosas, in: Peers, GRCh, Rn. 60.13; laut Ahmed/de Jesus Butler, EJIL 2006, 771, 780 erklärt der EuG „perhaps over-generously“ die gesamten Menschenrechtsabkommen zu ius cogens, was so wohl keine vertretbare Interpretation darstellt. Der EuGH wählte jedenfalls eine andere Herangehensweise zur Überprüfung des Inhalts der Sicherheitsratsresolutionen. So habe er nur eine Prüfungskompetenz hinsichtlich des unionsrechtlichen Umsetzungsakts, weswegen der Vorrang des Völkerrechts einer inhaltlichen Überprüfung nicht entgegenstehe, siehe EuGH v. 3. September 2008 – C-402/05 u. C-415/05 P (Kadi), Rn. 286 ff.; Janik, Bindung internationaler Organisationen an internationale Menschenrechtsstandards, S. 191. Für den EuGH stellte sich die Frage nach der Bindung der Union daher nicht. 206 Osteneck, Umsetzung von UN-Wirtschaftssanktionen durch die EG, S. 218; ähnlich von Arnauld, Völkerrecht, Rn. 629 m. w. N. 207 Weiß, Verteidigungsrechte, S. 79; Janik, Bindung internationaler Organisationen an internationale Menschenrechtsstandards, S. 408. 208 Osteneck, Umsetzung von UN-Wirtschaftssanktionen durch die EG, S. 224; Janik, Bindung internationaler Organisationen an internationale Menschenrechtsstandards, S. 408. 205

F. Kraft Funktionsnachfolge

245

geübt werden könne.209 Durch die Gründung einer internationalen Organisation könne die Staatsgewalt nicht „aufgeteilt“ werden.210 Hiergegen spricht aber schon das Anerkenntnis der EG als Vertragspartei des GATT-1947-Regelwerks. In der Tat spricht gegen die Anwendung der Hypothekentheorie auf eine Bindung der EU an Übereinkommen der ILO aber jedenfalls, dass die Mitgliedstaaten nicht an die identischen Verträge gebunden sind. Es droht ein hohes Maß an Rechtsunsicherheit hinsichtlich des für die EU geltenden Maßstabs.211 Gegen eine Bindung der EU an Übereinkommen der ILO auf Basis der Hypothekentheorie spricht zudem, dass im Bereich des Arbeits- und Sozialrechts gerade kein abschließender „Gegenstand“ übertragen wird.212 3. Funktionsnachfolge als eigener Rechtssatz Teilweise wird auf die Zugrundelegung der Sukzessionsregeln beziehungsweise die Hypothekentheorie verzichtet und die Funktionsnachfolge als eigener Rechtssatz speziell für die Gründung einer internationalen Organisation verstanden.213 Gegen dessen Anwendung lässt sich anführen, dass ein solcher Rechtsgrundsatz in der völkerrechtlichen Praxis bisher keine allgemeine Anerkennung gefunden hat.214 Dies wäre aber für eine Einordnung als allgemeines Völkerrecht notwendig. Gegen die Funktionsnachfolge als eigener Rechtsatz lassen sich außerdem sämtliche Argumente gegen die Hypothekentheorie gleichermaßen anführen.215

III. Keine Bindung der Union an die Übereinkommen der ILO kraft Funktionsnachfolge Es existiert folglich keine völkerrechtliche Regel, welche eine Bindung der EU an Übereinkommen der ILO allein auf Grundlage der Übertragung von Kompetenzen 209

Weiß, Verteidigungsrechte, S. 80. Janik, Bindung internationaler Organisationen an internationale Menschenrechtsstandards, S. 409. 211 Vgl. allgemeiner Hörmann, AVR 2006, 267, 273; Weiß, Verteidigungsrechte, S. 83; Janik, Bindung internationaler Organisationen an internationale Menschenrechtsstandards, S. 409; weitere Argumente gegen die Hypothekentheorie bei Kortländer, Verbindlichkeit der völkerrechtlichen Altverträge der Mitgliedstaaten der EU, S. 220 ff., bspw. die Problematik der Rückübertragung im Falle der Auflösung der EU. 212 Vgl. hierzu unter Teil 3 F. II. 1. 213 Janik, Bindung internationaler Organisationen an internationale Menschenrechtsstandards, S. 410 m. w. N. 214 Vgl. Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht, S. 581 f.; Janik, Bindung internationaler Organisationen an internationale Menschenrechtsstandards, S. 410. 215 So im Ergebnis Janik, Bindung internationaler Organisationen an internationale Menschenrechtsstandards, S. 411; ähnlich Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht, S. 583. 210

246

Teil 3: Völkerrechtliche Bindung der EU an ILO-Normen

und der daraufhin erfolgten unionsrechtlichen Teilharmonisierung des Arbeitsrechts begründen könnte.216

G. Fazit zu Teil 3 Einem Beitritt der Union zur ILO stehen (in näherer Zukunft unüberwindbare) politische und rechtliche Probleme im Wege. Sinnvoller erscheint anstelle eines Beitritts der EU zur ILO ohnehin die Öffnung der standardisierten Schlussbestimmungen der Übereinkommen, um die Ratifikation ausgewählter Übereinkommen durch regionale völkerrechtliche Organisationen zu ermöglichen. Entsprechende Vorhaben sind allerdings nicht bekannt. Derzeit ist die EU daher völkerrechtlich nicht an die Übereinkommen und die der Verfassung der ILO inhärenten Prinzipien gebunden. Eine Ausnahme stellen die vier Prinzipien der Erklärung über grundlegende Rechte und Prinzipien bei der Arbeit dar. Die vier Kernarbeitsnormen sind Teil des Völkergewohnheitsrechts geworden und binden alle Völkerrechtssubjekte. Hierfür spricht insbesondere die inhaltliche Überschneidung der Prinzipien mit anerkanntem ius cogens wie etwa dem Verbot der Sklaverei mit dem Prinzip des Verbots der Zwangsarbeit oder der Diskriminierung aus Gründen der Rasse mit dem Prinzip des Verbots der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf. Die völkerrechtliche Bindung der EU an die Kernarbeitsnormen hat zur Folge, dass das Unionsrecht im Lichte der vier Prinzipien auszulegen ist.217 Angesichts des vorhandenen Grundrechtsschutzes der Union – der (wie noch aufzuzeigen ist) bereits in Art. 53 GRCh ein ausdrückliches Berücksichtigungsgebot vorsieht –, bezogen auf die innerunionale Wirkung keinen wesentlichen Unterschied zu einer Situation ohne die völkerrechtliche Bindung ausmacht. Die vorhandenen und möglichen innerunionsrechtlichen Mechanismen zur (weitergehenden) Berücksichtigung von ILONormen sollen im Folgenden analysiert werden.

216 Heer-Reißmann, Letztentscheidungskompetenz des EGMR, S. 109; Weiß, Verteidigungsrechte im EG-Kartellverfahren, S. 84 ff.; Bernhardt, EuR 1983, 199, 204 f. 217 Zur Auslegungsmethodik: von Arnauld, in: von Arnauld, Europäische Außenbeziehungen, § 1, Rn. 104; Kokott, in: Streinz, EUV, Art. 47, Rn. 15; so erfolgt in EuGH v. 11. Oktober 2007 – C-117/06 (Möllendorf), Rn. 54; EuGH v. 30. Juli 1996 C-84/95 (Bosphorus), Rn. 13 f.; EuGH v. 9. März 2006 – C-371/03 (Aulinger), Rn. 30; GA Kokott, SA v. 20. November 2007 – C-308/06 (Intertanko), Rn. 108.

Teil 4

Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen A. Transformation der Gewährleistungsinhalte von Übereinkommen Von der völkerrechtlichen einseitigen Bindungserklärung ist die rein europarechtliche, das heißt nur im Innenverhältnis beachtliche, Selbstbindung zu unterscheiden. Im europäischen Primärrecht findet sich eine solche Bindungserklärung für die Genfer Flüchtlingskonvention1 in der Form des New Yorker Protokolls2 (GFK) in Art. 78 Abs. 1 S. 2 AEUV. Dieser bewirkt, dass die EU trotz fehlender völkerrechtlicher Bindung beim Erlass interner Maßnahmen die Vorgaben der GFK beachten muss.3 Sie ist auch bei der Auslegung von anderem Sekundärrecht beachtlich.4 Ein weiteres Beispiel der Selbstbindung an ein völkerrechtliches Übereinkommen findet sich in Verordnung (EWG) Nr. 3626/82.5 Gemäß Art. 1 der Verordnung sind die aus dem Washingtoner Artenschutzabkommen resultierenden Verpflichtungen der Mitgliedstaaten durch die EU anzuwenden, als sei sie selbst Vertragspartei des Übereinkommens.6 Eine interne primär- oder sekundärrechtliche Selbstbindung an bestimmte Übereinkommen der ILO kann jederzeit durch die EU-Legislative mittels eines entsprechenden Rechtsakts vorgenommen werden, sofern hierfür eine unionsrechtliche Kompetenz besteht. Dies dürfte für den Inhalt der meisten Übereinkommen der Fall sein. Im Hinblick auf Übereinkommen Nr. 87 und Nr. 98 könnte 1

UNTS 189, 137. UNTS 606, 267. 3 Weiß, in: Streinz, AEUV, Art. 78, Rn. 5; Thym, in: BeckOK-AuslR, AEUV, Art. 78 Rn. 4; Thym, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, AEUV, Art. 78 Rn. 16. 4 Vgl. EuGH v. 2. März 2010 – C-175/08 u. a. (Abdulla), Rn. 53. 5 Verordnung (EWG) Nr. 3626/82 des Rates vom 3. Dezember 1982 zur Anwendung des Übereinkommens über den internationalen Handel mit gefährdeten Arten freilebender Tiere und Pflanzen in der Gemeinschaft, ABl. 1982 L 384, 1. 6 Vgl. GA Kokott, SA v. 23. April 2009 – C-370/07 (CITES), Rn. 9; Lorenzmeier, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 351 AEUV, Rn. 51. Da die Europäische Union nach der Änderung des Abkommens am 9. April 2015 dem Washingtoner Abkommen selbst beigetreten ist, ist diese (rein) interne Bindung nicht mehr notwendig, vgl. Art. 21 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 338/97. 2

248

Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

sich allerdings Art. 153 Abs. 5 AEUV als problematisch erweisen. Die Verabschiedung einer solchen (sekundärrechtlichen) Bindungserklärung ist aber für Übereinkommen der ILO weder erfolgt noch geplant. Es existieren jedoch bereits zwei Richtlinien, die durch die (wortgleiche) Übernahme eines Großteils der Gewährleistungsinhalte eines Übereinkommens zu einem nahezu identischen Ergebnis wie eine unionsrechtliche Bindungserklärung führen. Beide betreffen Fragen des Seearbeitsrechts.

I. SeearbeitsübereinkommensdurchführungsRL 2009/13/EG So wurde die Richtlinie 2009/13/EG7 zur Durchführung einer Vereinbarung zwischen dem Reedereiverband in der EG, ECSA, und der Europäischen Transportarbeiter-Föderation ETF verabschiedet, die das Seearbeitsübereinkommen der ILO von 2006 in weiten Teilen übernimmt.8 Die Richtlinie dient somit im Ergebnis der Inkorporation weiter Teile des Seearbeitsübereinkommens in das Unionsrecht.9 1. Übertragung des Inhalts des Seearbeitsübereinkommens Das Seearbeitsübereinkommen fasst mehr als 60 Übereinkommen und Empfehlungen nicht nur in einem Dokument zusammen, sondern passt ihren Gewährleistungsgehalt auch den aktuellen Bedingungen der Handelsschifffahrt an.10 Bereits an der Ausarbeitung des Seearbeitsübereinkommens waren Vertreter der EU aktiv beteiligt.11 Nach Verabschiedung des Übereinkommens durch die IAK ermächtigte sodann der Rat der EU die Mitgliedstaaten, das Seearbeitsübereinkommen zu ratifizieren. Diese Ermächtigung war im Innenverhältnis notwendig, da Regelungsbe-

7 Richtlinie 2009/13/EG des Rates v. 16. Februar 2009 zur Durchführung der Vereinbarung zwischen dem Verband der Reeder in der Europäischen Gemeinschaft (ECSA) und der Europäischen Transportarbeiter-Föderation (ETF) über das Seearbeitsübereinkommen 2006 und zur Änderung der Richtlinie 1999/63/EG, ABl. 2009 L 124, 30; zur Anknüpfung der Voraussetzungen des Inkrafttretens der Richtlinie an das Inkrafttreten des Seearbeitsübereinkommens siehe Schubert, Arbeitsvölkerrecht, S. 203 f. 8 Bereits in der Absichtserklärung der Kommission „Strategische Ziele und Empfehlungen für die Seeverkehrspolitik der EU bis 2018“ wird als ein Schwerpunkt festgelegt, dass sich die EU für die Schaffung besserer Arbeitsbedingungen auf Schiffen einsetzen müsse, indem sie die Einhaltung des Seearbeitsübereinkommens der ILO, vgl. Europäische Kommission, Strategische Ziele und Empfehlungen für die Seeverkehrspolitik der EU bis 2018, KOM(2009) 008 endg. 9 Zur Entstehungsgeschichte und dem Inhalt des Seearbeitsübereinkommens: Zimmer, EuZA 2015, 297, 298 ff. 10 Art. X Seearbeitsübereinkommen; Schäffer/Kaplijc, ZESAR 2009, 170, 170 f.; Tapiola, in: Ahlberg/Bruun, New Foundations of Labour Laws, S. 81, 92. 11 Schäffer/Kaplijc, ZESAR 2009, 170, 171.

A. Transformation der Gewährleistungsinhalte von Übereinkommen

249

reiche des Übereinkommens in die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fielen, woraus die alleinige Außenkompetenz der EU folgt.12 Die RL 2009/13/EG übernimmt einen Großteil der Vorgaben des Seearbeitsübereinkommens unverändert. Zum Teil wurden Inhalte des Übereinkommens aber ausgelassen. Schon die Struktur des Seearbeitsübereinkommens (Aufteilung in Artikel,13 gefolgt von den fünf Titeln der sogenannten „Codes“, die jeweils in Teil A verbindliche Regeln und Bestimmungen und in Teil B unverbindliche Bestimmungen, die sogenannten „Leitlinien“, beinhalten)14 übernimmt die Richtlinie nur teilweise.15 So werden neben Begriffsbestimmungen die Regeln sowie die Bestimmungen des jeweiligen Teils A der fünf Codes übernommen.16 Die unverbindlichen Bestimmungen der jeweiligen Teile B werden hingegen nicht in das Sekundärrecht der EU übertragen. Der Grund hierfür wird in der Literaturteils darin gesehen, dass durch die Übernahme des jeweiligen Teils B in einen europäischen Rechtsakt höhere Standards verpflichtend würden als im Seearbeitsübereinkommens vorgesehen. Dies hätte wiederum zu einem erheblichen wirtschaftlichen Nachteil für Schiffe unter der Flagge von EU-Mitgliedstaaten führen können.17 Entsprechende Bedenken überzeugen allerdings nicht. Anstelle des Verzichts auf die Übernahme der unverbindlichen Bestimmungen wäre schlicht notwendig gewesen, ebenfalls den Hinweis in Art. VI Abs. 1 Seearbeitsübereinkommen zu übernehmen. Dieser bestimmt ausdrücklich, dass Teil B des Seearbeitsübereinkommens unverbindlich ist. Die Übernahme eines entsprechenden Hinweises hätte auch auf unionsrechtlicher Ebene die Unverbindlichkeit dieser Bestimmungen zur Folge gehabt. Entsprechend dürfte die unvollständige Übernahme des Seearbeitsübereinkommens in die unionsrechtliche Richtlinie eine andere Ursache haben: So ist zu bedenken, dass in Teil B 2.2 die Regelungen des Teils IX Abs. 9 – 11 der Empfehlung 12 Art. 42 EGV i. V. m. Art. 300 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 und Abs. 3 UAbs. 1 EGV; vgl. die Erwägungsgründe der Entscheidung des Rates v. 7. Juni 2007, 2007/431/EG, ABl. 2007 L 161, 63; nun Art. 3 Abs. 2 AEUV und Art. 216 Abs. 1 AEUV; vgl. auch Schäffer/Kaplijc, ZESAR 2009, 170, 171. 13 Diese beinhalten auch einige Gewährleistungen, siehe etwa Art. 3 Seearbeitsübereinkommen. 14 Art. VI Abs. 1 Seearbeitsübereinkommen, siehe zur Struktur des Übereinkommens auch Zimmer, in: Schlachter/Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht, § 5, Rn. 222. 15 Siehe zur Struktur des Seearbeitsübereinkommens auch Servais, International Labour Law, Rn. 1134. 16 Zum Teil erfolgt dies durch einen Verweis auf die ebenfalls angepasste Seeleute-Arbeitszeitschutz-RL 1999/63/EG des Rates v. 21. Juni 1999 zu der von ECSA und ETS getroffenen Vereinbarung über die Regelung der Arbeitszeit von Seeleuten (ABl. 1999 L 167, 33), geändert durch Art. 2 RL 2009/13/EG v. 16. Februar 2009; vgl. auch Erwägungsgründe 3 – 5 RL 1999/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13. Dezember 1999 zur Durchsetzung der Arbeitszeitregelung für Seeleute an Bord von Schiffen, die Gemeinschaftshäfen anlaufen (ABl. 2000 L 14, 29). 17 Schäffer/Kaplijc, ZESAR 2009, 170, 172.

250

Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

Nr. 187 zum monatlichen Mindestlohn für bestimmte Seeleute (Mindestheuer) übernommen wurden.18 Selbst die Festlegung eines Arbeitsentgelts in einem unverbindlichen Teil des Codes dürfte gegen die negative Kompetenzbestimmung des Art. 153 Abs. 5 AEUV verstoßen, weshalb entsprechende Bestimmungen richtigerweise nicht in die Richtlinie zu übernehmen waren. Zu beachten ist, dass die Richtlinie 2009/13/EG nicht die erste ist, die ein Übereinkommen der ILO mittels einer Sozialpartnervereinbarung in das Recht der Union übertrug. So hatte bereits SeearbeitszeitRL 1999/63/EG zum Teil der Übertragung von Übereinkommen Nr. 180 in das Unionsrecht gedient.19 Anstelle einer Übertragung dieser bestehenden Regelungen in die RL 2009/13/EG entschied man sich, die Entwicklungen des Seearbeitsübereinkommens im Bereich des Arbeitszeitrechts in die bestehende RL 1999/63/EG zu übernehmen, die durch Art. 2 RL 2009/13/EG geändert wurde.20 Zudem wurden anfangs nicht alle verbindlichen Regelungen des Seearbeitsübereinkommens durch die RL 2009/13/EG beziehungsweise durch Änderungen der RL 1999/63/EG in das Unionsrecht übernommen.21 Ausgespart wurden etwa Be18 Vgl. IAA, Subcommittee on Wages of Seafarers of the Joint Maritime Commission, Updating of the minimum monthly basic pay or wage figure for able seafarers, SWJMC/2018, Rn. 3. Dieser stieg zum 1. Juli 2019 von 614 US-Dollar auf 618 US-Dollar. Weitere Erhöhungen traten zum 1. Januar 2020 (625 US-Dollar) und zum 1. Januar 2021 (641 US-Dollar) in Kraft, vgl. Pressemitteilung der Joint Maritime Commission v. 21. November 2018, abrufbar unter: https://www.ilo.org/global/about-the-ilo/newsroom/news/WCMS_650599/lang-en/index. htm; zu den jüngsten Überlegungen der Einführung eines europäischen (Koordinierungs-) Mindestlohns Franzen, EuZA 2019, 281, 282. 19 Richtlinie 1999/63/EG des Rates v. 21. Juni 1999 zu der von ECSA und FST getroffenen Vereinbarung über die Regelung der Arbeitszeit von Seeleuten, ABl. 1999 L 167, 33. 20 Vgl. Erwägungsgründe 3 – 5 RL 1999/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13. Dezember 1999 zur Durchsetzung der Arbeitszeitregelung für Seeleute an Bord von Schiffen, die Gemeinschaftshäfen anlaufen (ABl. 2000 L 14, 29). 21 Bisher wurde der EuGH nicht zur Auslegung der SeearbeitsübereinkommensdurchführungsRL angerufen. Zur Auslegung der SeearbeitszeitRL 1999/95/EG, die zum Teil der Übertragung der Vorgaben von Übk. Nr. 180 in das Unionsrecht diente, hatte der EuGH hingegen in einem Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen Italien auf die Bezüge dieser Richtlinie zum Recht der ILO hingewiesen, EuGH v. 28. April 2005 – C-410/03 (Kommission/Italien), Rn. 3. Da Italien aber (recht deutlich, vgl. nur die Wahl der Größe des Spruchkörpers mit drei Richtern, EuGH v. 28. April 2005 – C-410/03 (Kommission/Italien)) mehrere Bestimmungen der Richtlinie nicht umgesetzt hatte, war eine nähere Auseinandersetzung mit dem Inhalt von Übk. Nr. 180 nicht notwendig. Es ist daher noch unklar, welchen Stellenwert der EuGH bei der Auslegung der Richtlinie der Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses einräumen wird. Aus den Berichten der Jahre 2015 bis 2018 geht hervor, dass der Sachverständigenausschuss in Bezug auf das Seearbeitsübereinkommen bereits 63 direct requests an die Mitgliedstaaten gerichtet hat (zudem eine General Observation zum Ratifizierungsstand von 2010, IAA, IAK, 99th Session, 2010, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 729). Bemerkungen über die Verletzung des Übereinkommens sind bisher nicht veröffentlicht worden. Aufgrund des völkerrechtlichen „Ursprungs“ der Richtlinie liegt es nahe, dass Generalanwälte und EuGH der Spruchpraxis des zuständigen Überwachungsaus-

A. Transformation der Gewährleistungsinhalte von Übereinkommen

251

stimmungen zu den Verantwortlichkeiten der Flaggen- und Hafenstaaten,22 welche wichtige Neuerungen zum Überwachungsverfahren des Seearbeitsübereinkommens beinhalten. Vorgaben für ein staatliches Überwachungs- beziehungsweise Aufsichtssystem in einer Sozialpartnervereinbarung wären aber wohl auch nicht überzeugend (wenn auch rechtlich zulässig)23 gewesen.24 Diese Regeln wurden später durch RL 2013/54/EU25 und RL 2013/38/EU26 in das Unionsrecht übernommen.27 Diese sehen konkrete Vorgaben für die nationalen Kontrollsysteme vor.28 2. Übernahme der Änderungen der Codes des Seearbeitsübereinkommens Eine Besonderheit des Seearbeitsübereinkommens ist, dass sein Inhalt leichter als bei anderen Übereinkommen geändert werden kann. Die Auslagerung eines Großteils des materiellen Gewährleistungsgehalts des Übereinkommens in die Codes ermöglichte die einfache und zugleich verbindliche Änderung ihrer Inhalte: Eine Ratifizierung von Änderungen der Codes durch die an das Seearbeitsübereinkommen gebundenen Mitgliedstaaten ist gerade nicht notwendig. Stattdessen gilt ein sogenanntes Verfahren der stillschweigenden Annahme (tacit acceptance procedure).29 Nach Abstimmung über die Änderung in einem speziell für das Seearbeitsübereinkommen eingesetzten sektoral-tripartistischen Ausschuss30 wird die Änderung der IAK vorgelegt, die diese mit einer Zweidrittelmehrheit der anwesenden Delegierten annehmen muss. Hierauf notifiziert der Generaldirektor jedes Mitglied, welches das Übereinkommen ratifiziert hat, innerhalb einer (grundsätzlich zweijährigen) Frist sein potentielles Nichteinverständnis mit der Änderung mitzuteilen. Sollten bis zum Ablauf der Frist nicht mehr als 40 Prozent der Mitglieder, die das Übereinkommen ratifiziert haben und auf die nicht weniger als 40 Prozent der Bruttoraumzahl entfallen, ihr Nichteinverständnis geäußert haben, tritt die Änderung sechs Monate später in Kraft. Mitglieder, die eine frühere Fassung des Seearbeitsschusses einen hohen Stellenwert bei der Auslegung der Durchführungsrichtlinie einräumen werden. 22 Regeln 5.1.1 – 5.1.4, 5.1.6, 5.2.1, 5.2.2 und 5.3; Maul-Sartori, NZA 2013, 821, 822. 23 Vgl. Franzen, in: Franzen/Gallner/Oetker, AEUV, Art. 155, Rn. 8 m. w. N. 24 Eine Ausnahme bildet Regel 5.1.5 (Beschwerdeverfahren an Bord), welche übernommen wurde. 25 Richtlinie 2013/54/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20. November 2013 über bestimmte Verantwortlichkeiten der Flaggenstaaten für die Einhaltung und Durchsetzung des Seearbeitsübereinkommens 2006 (ABl. 2013 L 329, 1). 26 Richtlinie 2013/38/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 12. August 2013 zur Änderung der Richtlinie 2009/16/EG über die Hafenstaatkontrolle (ABl. 2013 L 218, 1). 27 Zimmer, EuZA 2015, 297, 300. 28 Zur Umsetzung des 5. Titels des Seearbeitsübereinkommens in Deutschland: Zimmer, EuZA 2015, 297, 309 ff.; Maul-Sartori, NZA 2013, 821, 825 f. 29 Art. XI Seearbeitsübereinkommen; Noltin, RdTW 2017, 1, 4. 30 Art. XIII Abs. 2 Seearbeitsübereinkommen; vgl. auch Zimmer, in: Schlachter/Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht, § 5, Rn. 225.

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

übereinkommens ratifiziert haben, sind an den geänderten Text nur dann nicht gebunden, wenn sie ihr Nichteinverständnis formell geäußert und zwischenzeitlich nicht zurückgenommen haben. Die IAK beschloss erstmals 2014 eine Änderung der Codes.31 Diese ist am 18. Januar 2017 in Kraft getreten. Die sektoral zuständigen Sozialpartner der europäischen Ebene haben diese Änderung auch zeitnah übernommen. So verabschiedete am 23. Januar 2018 der Rat mit RL 2018/131/EU die Durchführungsrichtlinie zur Änderung der Sozialpartnervereinbarung.32 Auch auf der zweiten und dritten Sitzung im Februar 2016 und April 2018 hat der auf Grundlage von Art. XIII Seearbeitsübereinkommen gebildete Ausschuss Änderungsvorschlägen zugestimmt.33 Die Änderungen der zweiten Sitzung des Ausschusses wurden auf der 105. Tagung 2016 durch die IAK angenommen und sind am 8. Januar 2019 in Kraft getreten.34 Ebenso wurden die Änderungen der dritten Sitzung auf der IAK im Jahr 2018 angenommen.35

II. FischereiarbeitsbedingungenRL 2017/159/EU Nahezu identisch zur Übernahme des Seearbeitsübereinkommens in RL 2009/13/ EG stellt sich die Übernahme wichtiger Bestimmungen des Übereinkommens Nr. 188 über die Arbeit im Fischereisektor in die Richtlinie 2017/159/EU dar.36 Übereinkommen Nr. 188 wurde von der IAK auf ihrer 96. Tagung 2007 angenom31 IAA, First meeting of the Special Tripartite Committee established under Article XIII of the MLC, 2006, final report, STCMLC/2014/6; zum Inhalt der Änderung: Noltin, RdTW 2017, 1, 4. 32 Richtlinie 2018/131 des Rates v. 23. Januar 2018 zur Durchführung der Vereinbarung zwischen ECSA und ETF zur Änderung der Richtlinie 2009/13/EG im Einklang mit den Änderungen von 2014 des Seearbeitsübereinkommens 2006 in ihrer von der IAK am 11. Juni 2014 gebilligten Form (ABl. 2018 L 22, 28); zur zwischenzeitlichen Erstreckung einer Reihe von Richtlinien wie etwa der Betriebsübergangs-RL und die Massenentlassungs-RL durch die Richtlinie 2015/1794/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Oktober 2015 (ABl. 2015 L 263, 1) Noltin, RdTW 2017, 1, 7. 33 IAA, Second meeting of the Special Tripartite Committee established under Article XIII of the MLC, 2006, final report, STCMLC/2016/7, Rn. 28 ff.; zu dessen Inhalt: Noltin, RdTW 2017, 1, 8; IAA, Third meeting of the Special Tripartite Committee of the MLC, 2006, final report, STCMLC/2018/4, Rn. 18 ff. 34 IAA, IAK, 105th Session 2016, Provisional Record of Proceedings, 3-1/3-1 A. 35 IAA, IAK, 105th Session 2016, Provisional Record of Proceedings 1C. 36 Richtlinie (EU) 2017/159 des Rates v. 19. Dezember 2016 zur Durchführung der Vereinbarung über die Durchführung des Übereinkommens über die Arbeit im Fischereisektor von 2007 der Internationalen Arbeitsorganisation, die am 21. Mai 2012 zwischen dem Allgemeinen Verband der landwirtschaftlichen Genossenschaften der Europäischen Union (COGECA), der Europäischen Transportarbeiter-Föderation (ETF) und der Vereinigung der nationalen Verbände von Fischereiunternehmen in der Europäischen Union (Europêche) geschlossen wurde (ABl. 2017 L 25, 12).

B. Keine Bindung, aber befristeter Vorrang von Übk. nach Art. 351 AEUV

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men und trat ein Jahr nach Ratifizierung durch zehn Mitgliedstaat (von denen mindestens acht Küstenstaaten sein mussten)37 am 16. November 2017 in Kraft. Trotz des geringen Ratifizierungsgrads unter EU-Mitgliedstaaten38 einigten sich am 21. Mai 2012 der Allgemeine Verband der landwirtschaftlichen Genossenschaften der EU (COGECA), die Vereinigung der nationalen Verbände von Fischereiunternehmen in der EU (Europêche) und ETF auf eine Vereinbarung zur Übertragung des Übereinkommens Nr. 188 in das Unionsrecht. Die Vereinbarung ist im Wortlaut in weiten Teilen identisch mit dem Übereinkommen39 und wurde mit Beschluss des Rats vom 19. Dezember 2016 in die Richtlinie 2017/159/EU übernommen. In Kraft getreten ist die Richtlinie zeitgleich mit Übereinkommen Nr. 188 am 16. November 2017.40 Spruchpraxis ist bislang nicht existent.41 Sobald sich dies ändert, ist sie im Falle einer Rezeption durch den EuGH und die Generalanwälte bei der Auslegung der Richtlinie zu berücksichtigen, welche die Einhaltung der Richtlinie seit dem 15. November 2019 überprüfen können. Zu diesem Datum ist die Frist zur Umsetzung durch die Mitgliedstaaten abgelaufen.

B. Keine Bindung, aber befristeter Vorrang von Übereinkommen nach Art. 351 AEUV Gemäß Art. 351 Abs. 1 AEUV bleiben durch die europäischen Verträge solche Rechte und Pflichten aus Übereinkünften unberührt, die vor dem 1. Januar 1958, also dem Inkrafttreten des Vertrags von Rom, oder im Fall später beigetretener Staaten vor dem Zeitpunkt ihres Beitritts zwischen Mitgliedstaaten der EU einerseits und dritten Ländern andererseits geschlossen wurden.42 Sofern ein Mitgliedstaat an einen „Alt37

Art. 48 Abs. 2 Übk. Nr. 188. Trotz des Beschlusses des Rates 2010/321/EU v. 7. Juni 2010 zur Ermächtigung der EUMitgliedstaaten zur Ratifizierung des Übereinkommens (ABl. 2010 L 145, 12) finden sich unter den 18 ILO-Mitgliedstaaten, die das Übereinkommen ratifiziert haben, nur sieben EU-Mitgliedstaaten. 39 Beispielsweise Art. 8 Übk. Nr. 188 – Art. 5 Abs. 2 – 5 RL 2017/159/EU; Art. 9 des Übereinkommens – Art. 6 Abs. 2 – 8 der RL. Teilweise wurden andere Formulierungen und ein geänderter Aufbau der Artikel gewählt, siehe etwa Art. 2 f. RL 2017/159/EU und Art. 2 f. Übk. Nr. 188 oder Art. 10 der RL mit Art. 13 und 14 des Übereinkommens. 40 Art. 6 RL 2017/159/EU. 41 Siehe lediglich IAA, IAK, 109th Session 2020, Report III (Part A), Report of the CEACR, S. 575 f. 42 Zur analogen Anwendung von Art. 351 Abs. 1 AEUV auf nach 1958 bzw. dem Beitritt, jedoch vor Entstehung einer Unionszuständigkeit geschlossene internationale Verträge GA Kokott, SA v. 13. März 2008 – C-188/07 (Commune de Mesquer), Rn. 95 f.; Kokott, in: Streinz, AEUV, Art. 351, Rn. 6; Lorenzmeier, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, AEUV, Art. 351, Rn. 24 ff. m. w. N.; ablehnend: Ruchti, Das ILO-Übereinkommen Nr. 94, S. 76, der auf Art. 4 EUV verweist. Zu den völkerrechtlichen Kollisionsregeln von Altverträgen und Unionsrecht: Kortländer, Die Verbindlichkeit der völkerrechtlichen Altverträge der Mitgliedsaaten für die EU, S. 188 ff. 38

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

Vertrag“ gebunden ist, gilt der Vorrang nicht allgemein, sondern nur relativ in Bezug auf den jeweiligen Mitgliedstaat. Die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 351 Abs. 1 AEUV liegen im Hinblick auf Übereinkommen der ILO allerdings für viele Mitgliedstaaten der EU vor. Als Beispiel soll hier Übereinkommen Nr. 87 dienen: Unter den Gründungsmitgliedern ratifizierten die Niederlande (1950), Belgien (1951), Frankreich (1951) und Deutschland (1957) Übereinkommen Nr. 87 vor Inkrafttreten der Römischen Verträge. Art. 351 AEUV findet im Hinblick auf Übereinkommen Nr. 87 ebenfalls Anwendung auf die 1973 beigetretenen Staaten Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich,43 das 1981 beigetretene Griechenland, 44 die 1986 beigetretenen Staaten Portugal und Spanien,45 die 1995 beigetretenen Staaten Finnland, Österreich und Schweden,46 die 2004 beigetretenen Staaten Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, die Tschechische Republik, Ungarn, Zypern,47 die 2007 beigetretenen Staaten Bulgarien und Rumänien48 sowie das 2013 beigetretene Kroatien.49 Nur im Verhältnis der EU zu Italien und Luxemburg findet Art. 351 Abs. 1 AEUV in Bezug auf Übereinkommen Nr. 87 somit keine Anwendung.50 Sofern Pflichten des Mitgliedsstaat nach Unionsrecht – etwa in seiner Auslegung durch den EuGH – begründet werden, deren Einhaltung die in Übereinkommen Nr. 87 begründeten Pflichten verletzten würde, kann sich somit die große Mehrheit der Mitgliedstaaten auf Art. 351 Abs. 1 AEUV berufen.51 Dies ist allerdings nur eine Seite der Medaille in Bezug auf Art. 351 AEUV: Gemäß Art. 351 Abs. 2 S. 1 AEUV hat im Falle des Vorliegens einer Kollision nach Abs. 1 der Mitgliedstaat alle geeigneten Mittel anzuwenden, um die festgestellte Unvereinbarkeit zu beheben. Sowohl Abs. 1 als auch Abs. 2 des Art. 351 AEUV wurden in Entscheidungen des EuGH bereits in Bezug auf mehrere Übereinkommen der ILO relevant.

43

Ratifizierung durch Dänemark 1951, durch Irland 1955, das Vereinigte Königreich 1949. Ratifizierung 1962. 45 Ratifizierung durch beide Staaten 1977. 46 Ratifizierung durch Finnland und Österreich 1950, durch Schweden 1949. 47 Ratifizierung durch Estland und Litauen 1994, durch Lettland 1992, durch Malta 1965, durch Polen 1957, durch die Slowakei 1993, durch Slowenien 1992, durch die Tschechische Republik 1993, durch Ungarn 1957 und durch Zypern 1966. 48 Ratifizierung durch Bulgarien 1959, durch Rumänien 1957. 49 Ratifizierung 1991. 50 Gründungsmitglieder, Ratifizierung durch Italien am 13. Mai 1958, durch Luxemburg am 3. März 1958; vgl. auch Rocca, ELLJ 2016, 52, 71. 51 Rocca, ELLJ 2016, 52, 71. 44

B. Keine Bindung, aber befristeter Vorrang von Übk. nach Art. 351 AEUV

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I. Kein Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 351 Abs. 1 AEUV in den Van-Wesemael- und Höpfner-und-Elser-Entscheidungen In einer frühen Entscheidung von 1979 lehnte der EuGH zurecht das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 234 EGV (nun Art. 351 Abs. 1 AEUV) für einen belgischen Fall mit Bezügen zu Übereinkommen Nr. 96 ab. Ausgangspunkt des Vorabentscheidungsverfahrens Van Wesemael war ein Verbot des Betriebs gewerblicher Stellenvermittlungsbüros in Belgien.52 Dieses Verbot sah eine mit einem Genehmigungsvorbehalt versehene Ausnahme für gewerbliche Stellenvermittlungsbüros für Bühnenkünstler vor. Herrn Van Wesemael, der sich wegen der Einstellung eines Künstlers an einen Vermittler gewandt hatte, wurde in einem Strafverfahren vorgeworfen, gegen die belgischen Rechtsvorschriften verstoßen zu haben. Der EuGH griff bei seiner Entscheidung über die Vereinbarkeit des Verbots mit der Dienstleistungsfreiheit Art. 5 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 96 auf, nachdem sich Belgien darauf berufen hatte, das Verbot zur Umsetzung des Übereinkommens erlassen zu haben.53 Der EuGH wies darauf hin, dass gemäß Art. 3 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 96 die zuständigen Behörden zwar durchaus innerhalb eines begrenzten, von der Behörde festgesetzten Zeitraums Vermittlungsbüros auzuheben habe.54 Art. 5 Abs. 1 des Übereinkommens sehe aber Befreiungen vom generellen Verbot des Art. 3 Abs. 1 vor: So seien Ausnahmen „in Bezug auf die von der innerstaatlichen Gesetzgebung genau bezeichneten Kategorien von Personen zu gewähren“,55 für deren angemessene Vermittlung im Rahmen der öffentlichen Arbeitsmarktverwaltung nicht vorgesorgt werden kann.56 Entsprechend nahm der EuGH zurecht an, dass Übereinkommen Nr. 96 einer Anwendung des Gemeinschaftsrechts nicht entgegenstehe.57 Zum identischen Ergebnis gelangte Generalanwalt Jacobs im Verfahren Höpfner und Elser.58 Der EuGH griff das Übereinkommen hier nicht mehr auf.59 52

Vgl. EuGH v. 18. Januar 1979 – 110 u. 111/78 (van Wesemael), Rn. 2 ff. Ibid., Rn. 31. 54 Ibid., Rn. 33. 55 Hierzu zählen zumeist auch Artisten, vgl. Adamy, in: Däubler/Kittner/Lörcher, Internationale Arbeits- und Sozialordnung, S. 352. 56 EuGH v. 18. Januar 1979 – 110 u. 111/78 (van Wesemael), Rn. 34. 57 Ibid., Rn. 35 f.; vgl. auch Böhmert, Das Recht der ILO, S. 206. Das BSG und das BVerfG hatten Übk. Nr. 96 zur Rechtfertigung eines staatlichen Arbeitsvermittlungsmonopols aufgegriffen, vgl. BSG v. 26. März 1992 – 11 RAr 25/90, NZA 1992, 1050, Rn. 9; BVerfG v. 4. April 1967 – 1 BvR 126/65, NJW 1967, 971, C. III. 3. d., bevor die BRD am 10. Juli 1992 die Kündigung des Übereinkommens erklärte. 58 GA Jacobs, SA v. 15. Januar 1991 – C-41/90 (Höfner und Elser), Rn. 51; hierzu auch Böhmert, Das Recht der ILO, S. 206. 59 EuGH v. 23. April 1991 – C-41/90 (Höfner und Elser). Übk. Nr. 96 zielt auf eine Monopolisierung der staatlichen Arbeitsvermittlung und wird inzwischen mit Interim-Status behandelt. Durch die Ratifizierung des „moderneren“ aber im Hinblick auf private Arbeitsvermittlungen deutlich liberaleren Übereinkommens Nr. 181 (up-to-date) wird Übk. Nr. 96 au53

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

II. „Relative Unwirksamkeit der Übertragung“: Stoeckel-, Levy- und Minne-Entscheidungen Erstmals zeigten sich für Pflichten der Mitgliedstaaten aus Übereinkommen der ILO die Auswirkungen von Art. 351 Abs. 1 AEUV in den Entscheidungen Levy und Minne,60 nachdem Generalanwalt Tesauro sich hierzu bereits in seinen Schlussanträgen im Verfahren Stoeckel auseinandergesetzt hatte.61 Im (hier pars pro toto dargestellten) Vorlageverfahren Levy hatte das Tribunal de police Metz über einen Verstoß gegen das in der damaligen Fassung des Code du travail vorgesehenen Nachtarbeitsverbot für Frauen zu entscheiden. Es legte dem EuGH die Frage vor, ob ein solches Verbot mit Art. 1 – 5 der RL 76/207/EWG62 vereinbar sei. Hierbei sei durch den EuGH laut dem Vorlagegericht zu berücksichtigen, dass das Verbot der Nachtarbeit für Frauen der Umsetzung von Art. 3 des Übereinkommens Nr. 89 diene.63 1. Auseinandersetzung mit Übereinkommen Nr. 89 durch den Generalanwalt und den EuGH GA Tesauro begriff die Vorlagefrage im Oktober 1992 im Ergebnis als Frage der Auslegung von Art. 234 EGV (nun Art. 351 AEUV).64 Dessen Voraussetzungen lägen in einem Fall wie dem vorgelegten Nachtarbeitsverbot für Frauen grundsätzlich vor.65 Zwar sei Übereinkommen Nr. 89 bereits durch Frankreich gekündigt

tomatisch mit sofortiger Wirkung gekündigt. Zum Hintergrund der veränderten Haltung der Beteiligten zwischen der Verabschiedung von Übk. Nr. 96 und Übk. Nr. 181 s. IAA, IAK, 99th Session 2010, Report III (Part 1B), General Survey concerning employment instruments in light of the 2008 Declaration on Social Justice for a Fair Globalization, Rn. 196 ff.; Tapiola, in: Ahlberg/Bruun, New Foundations of Labour Laws, S. 81, 89; siehe auch Kocher, in: Pechstein/ Nowak/Häde, GRCh, Art. 29, Rn. 3; zu Vorgaben im Rahmen des Europäischen Semesters an Spanien, die zu einer Unvereinbarkeit des spanischen Rechts mit Übk. Nr. 181 geführt haben könnten, siehe IAA, IAK, 108th Session 2019, Report III (Part A), Report of the CEACR, S. 532. Aus den genannten Gründen soll Übk. Nr. 96 auf der 119. IAK 2030 außer Kraft gesetzt werden, vgl. IAA, Verwaltungsrat, 337th Session 2019, Doc GB.337/INS/2(Add.1); IAA, Verwaltungsrat, 337th Session 2019, Doc GB.337/Decisions, Rn. 2. 60 EuGH v. 2. August 1993 – C-158/91 (Levy); EuGH v. 3. Februar 1994 – C-13/93 (Minne). 61 GA Tesauro, SA v. 24. Januar 1991 – C-345/89 (Stoeckel). Zur Entscheidung EuGH v. 25. Juli 1991 – C-345/89 (Stoeckel) im Kontext von Art. 351 AEUV S. Seifert, IJCLLIR 2013, 39, 57; Adamy, in: BMAS/BDA/DGB, Weltfriede durch soziale Gerechtigkeit, 179, 198 f. 62 Aufgegangen in der Gleichbehandlungs-RL 2006/54/EG. 63 Vgl. EuGH v. 2. August 1993 – C-158/91 (Levy), Rn. 3 f., 6; Übk. Nr. 89 wurde bereits in den 1990er Jahren durch internationale Frauenverbände kritisiert, vgl. Charnovitz, Max Planck Yearbook of United Nations Law 2000, 147, 173. 64 GA Tesauro, SA v. 27. Oktober 1992 – C-158/91 (Levy), Rn. 3. 65 Ibid., insb. Rn. 5.

B. Keine Bindung, aber befristeter Vorrang von Übk. nach Art. 351 AEUV

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worden.66 Bis diese Kündigung Wirkung entfalte, sei aber allein auf Art. 234 Abs. 1 EWGV abzustellen.67 Eine entsprechende Einschätzung ergebe sich aus dem Sinn von Art. 234 EGV, der in der Sicherung der Rechte der Drittstaaten bestehe.68 Nichts anderes folge aus der sich im Völkerrecht – und auch im Rahmen der ILO69 – abzeichnenden Tendenz, dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung eine höhere Relevanz einzuräumen als früheren Bestrebungen, Arbeitnehmer besonders zu schützen.70 Gemäß Art. 234 Abs. 1 EWG-Vertrag könne das nationale Gericht daher Art. 5 RL 76/207/EWG unangewendet lassen, soweit durch seine Anwendung die Rechte dritter Staaten aus dem vor Inkrafttreten des EWG-Vertrags ratifizierten Übereinkommen Nr. 89 beeinträchtigt würden. Der Generalanwalt wies das nationale Gericht aber auch darauf hin, dass die völkerrechtliche Verpflichtung auch unionsrechtskonform ausgestaltet werden könne, da ein Widerspruch zwischen den Rechtsordnungen nicht zwangsläufig sei. So könne ein Mitgliedstaat die Möglichkeit, Nachtarbeit im Gewerbe, vorbehaltlich erforderlicher Ausnahmen, für beide Geschlechter verbieten, wodurch eine Ungleichbehandlung ausgeschlossen sei.71 Der EuGH stimmte dem Generalanwalt im Wesentlichen zu. Sofern die nationale Vorschrift zur Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen erforderlich sei, sei das nationale Gericht nicht verpflichtet, die Richtlinie anzuwenden.72 Ob die völkerrechtliche Verpflichtung tatsächlich (noch) bestehe, sei nicht durch den EuGH, sondern durch das nationale Gericht festzustellen.73 Diese Linie fand im ähnlich gelagerten belgischen Vorlageverfahren Minne ein Jahr später Bestätigung.74 66 Ibid., Rn. 6. Hierbei handele es sich um eine der möglichen Maßnahmen zur Erfüllung der Verpflichtung aus Art. 234 Abs. 2 EGV (nun Art. 351 Abs. 2 AEUV). 67 GA Tesauro, SA v. 27. Oktober 1992 – C-158/91 (Levy), Rn. 9. 68 Ibid., Rn. 8. 69 Das 1990 verabschiedete Übk. Nr. 171, welches ebenfalls Normen zum Schutz von Frauen enthält – die sich allerdings nur auf den Zeitraum von Schwangerschaft und Geburt beziehen – wird somit zwar nicht ausdrücklich aber doch implizit aufgegriffen, weshalb die Kritik von Teklè, ELLJ 2018, 236, 253 unzutreffend ist. Da Übk. Nr. 171 von Belgien erst 1997 und von Frankreich weiterhin nicht ratifiziert wurde, hätte eine ausdrückliche Rezeption des Übereinkommens weder im Fall Levy noch Minne zu einem anderen Ergebnis geführt, a. A. wohl Teklè, ELLJ 2018, 236, 253. 70 GA Tesauro, SA v. 27. Oktober 1992 – C-158/91 (Levy), Rn. 9. 71 Ibid., Rn. 6; siehe auch GA Tesauro, SA v. 24. Januar 1991 – C-345/89 (Stoeckel), Rn. 7 f.; zu Art. 234 EWGV noch mit einem anderen Ergebnis, vgl. Rn. 11. 72 EuGH v. 2. August 1993 – C-158/91 (Levy), Rn. 22. 73 Ibid., Rn. 21; in der Folge unterließ es Frankreich allerdings nach Ende der Bindung an Übk. Nr. 89 das nationale Recht an die Vorgaben der Richtlinien anzupassen, wie in einem durch die Kommission eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren festgestellt wurde, vgl. EuGH v. 13. März 1997 – C-197/96 (Kommission/Frankreich); siehe zum parallel gelagerten Verstoß Italiens EuGH v. 4. Dezember 1997 – C-207/96 (Kommission/Italien). 74 EuGH v. 3. Februar 1994 – C-13/93 (Minne). Die Cour du travail Lüttich (Belgien) hatte mit Urteil v. 8. Januar 1993 das Vorabentscheidungsverfahren bereits vor der Entscheidung in der Rs. Levy eingeleitet. Im Ausgangsverfahren ging es um die Versagung von Arbeitslosengeld

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

2. Konsistenz der Schlussanträge mit der Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses Der Sachverständigenausschuss teilt im Ergebnis die Herangehensweise von GA Tesauro.75 Die Aufhebung von Nachtarbeitsverboten76 stelle nicht die einzige Möglichkeit zur Förderung der Chancengleichheit und Gleichbehandlung dar. So erschienen auch andere Maßnahmen, etwa ein allgemeines Verbot der Nachtarbeit, möglich. Nachtarbeit sei für die Gesundheit aller Arbeitnehmer schädlich, gleich ob Männer oder Frauen. Auch für Bereiche wie etwa der Daseinsvorsorge, in der Nachtarbeit zwingend erforderlich sei, müssten unter Beteiligung der Sozialpartner strenge Auflagen für diese Form der Arbeit entwickelt werden. Der Ausschuss sei der Auffassung, dass die Förderung der Chancengleichheit und der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf „nicht auf Kosten einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und schon gar nicht auf der Grundlage einer solchen Verschlechterung angestrebt werden sollte“.77 Die Herangehensweise des Sachverständigenausschusses ähnelt somit der Argumentation des Generalanwalts, ohne dass der Generalanwalt hierauf Bezug genommen hätte. Ein entsprechender Hinweis auf die Spruchpraxis blieb aus, hätte seinen Vortrag aber noch überzeugender gestaltet. 3. Rechtsfolge: Vorläufiger Vorrang der ILO-Übereinkommen Die Entscheidungen des EuGH sicherten den (vorübergehenden) Vorrang eines ILO-Übereinkommens vor Unionsrecht, sofern dieses vor Beitritt zur EU ratifiziert wurde.78 Zwar folgt hieraus keine Bindung der EU an ILO-Übereinkommen im engeren Sinne. Sie führen im konkreten Fall aber zum gleichen Ergebnis: Sofern die Vorgaben der Richtlinie, aber auch des Primärrechts mit denen des Völkerrechts kollidieren, ist den Vorgaben des Völkerrechts Vorrang zu gewähren. Dieser Effekt ist allerdings zweifach begrenzt: Erstens gilt der Vorrang der Altverträge nur (relativ) gegenüber den jeweiligen Mitgliedstaaten und nicht (allgemein) für alle Konsteldurch das belgische Arbeitsamt, da diese nicht mehr dazu bereit war, Nachtarbeit zu leisten und sich hierbei auf das Nachtarbeitverbot für Frauen berief. 75 Die Kollision des unionsrechtlichen Diskriminierungsverbots mit dem „Schutzansatz“ von Übk. Nr. 89 ist auch insoweit interessant, als dass ein solcher Konflikt ebenfalls zwischen Übk. Nr. 89 und Übk. Nr. 111 auftreten könnte. Dieser Konflikt wird durch Art. 5 Abs. 1 Übk. Nr. 111 allerdings von vornherein ausgeschlossen, vgl. IAA, IAK, 75th Session 1988, Report III (Part 4B), General Survey of the Reports on the Discrimination (Employment and Occupation) Convention (No. 111) and Recommendation (No. 111), Rn. 142. Gemäß diesem gelten besondere Schutz- oder Hilfsmaßnahmen, die in anderen Übereinkommen oder Empfehlungen vorgesehen sind, nicht als Diskriminierung. 76 Hierfür hatten einige Mitgliedstaaten Übk. Nr. 41 und Nr. 89 gekündigt. 77 IAA, IAK, 75th Session 1988, Report III (Part 4B), General Survey of the Reports on the Discrimination (Employment and Occupation) Convention (No. 111) and Recommendation (No. 111), Rn. 142. 78 Vgl. auch Landau/Beigsberger, From ILO Standrads to EU Law, S. 54.

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lationen des Unionsrechts. Zudem ist der Effekt nur von kurzer Dauer, wie sich am deutlichsten in der Rechtssache Kommission/Österreich zeigt.

III. Vanitas-Absatz 2: Die Kommission/Österreich-Entscheidung Nach Ansicht des EuGH ist nicht nur Übereinkommen Nr. 89, sondern auch Übereinkommen Nr. 45 unvereinbar mit europäischem Antidiskriminierungsrecht. Dies folgt aus dem Vertragsverletzungsverfahren C-203/03 der Kommission gegen Österreich. Nachdem Art. 351 Abs. 2 AEUV aus unterschiedlichen Gründen in den Entscheidungen Van-Wesemael, Höpfner und Elser, Stoeckel, Levy und Minne nicht einschlägig war, nahm der EuGH nun erstmals die Pflicht eines Mitgliedstaats zur Kündigung eines Übereinkommens der ILO an. 1. Rechtsfolge: Pflicht zur Kündigung eines Übereinkommens bei Unvereinbarkeit mit Unionsrecht Im Verfahren warf die Kommission Österreich vor, durch ein (mit nur wenigen Ausnahmen versehenes) generelles Verbot der Beschäftigung von Frauen im untertägigen Bergbau und einem generellen Verbot der Beschäftigung von Frauen bei Druckluft- und Taucherarbeiten gegen Art. 2 und 3 RL 76/207/EWG verstoßen zu haben.79 Österreich verteidigte die im nationalen Recht vorgesehenen Verbote mit „Erkenntnissen“ zu im Vergleich zu Männern höheren Gefahren für die Gesundheit von Frauen in diesen Bereichen. Der EuGH zeigte sich unbeeindruckt. Abgesehen von schwanger- und mutterschaftsspezifischen Ausnahmen sei die Beschäftigung von Frauen nicht etwa nur deshalb auszuschließen, weil sie im Durchschnitt kleiner und weniger stark seien als Männer, solange Männer mit ähnlichen körperlichen Merkmalen beschäftigt werden dürften.80 Die österreichischen Vorschriften zum Untertagebau dienten der Umsetzung von Übereinkommen Nr. 45, welches Österreich vor seinem Beitritt zur heutigen EU ratifiziert hatte. Daher berief sich Österreich auf Art. 307 Abs. 1 EGV (heute Art. 351 Abs. 1 AEUV). Der EuGH äußerte sich hierzu wie folgt: Wegen Art. 307 Abs. 1 EGV gehe die völkerrechtliche Verpflichtung den gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen Österreichs vor. Da sich die Verpflichtungen Österreichs aus Übereinkommen Nr. 45 aber nicht mit Art. 2 und 3 RL 76/207/EWG vereinbaren ließen, müsse der Staat geeignete Mittel im Sinne von Art. 307 Abs. 2 EGV (nun

79 Zu den konkreten Normen s. EuGH v. 1. Februar 2005 – C-203/03 (Kommission/ Österreich), Rn. 18 ff. 80 EuGH v. 1. Februar 2005 – C-203/03 (Kommission/Österreich), Rn. 46 und Rn. 74.

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

Art. 351 Abs. 2 AEUV) ergreifen, um die Unvereinbarkeit zu beheben. Dies schließe insbesondere die Kündigung des Übereinkommens mit ein.81 Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die Pflicht zur Kündigung von Übereinkommen im Rahmen von Art. 351 Abs. 2 S. 1 AEUV lediglich das letzte Mittel darstellt. Vorrangig ist das Unionsrecht (etwa anhand von Art. 53 GRCh) soweit wie möglich menschenrechtsfreundlich auszulegen.82 Dies sollte insbesondere in Bezug auf Völkergewohnheitsrecht beachtet werden. Hierdurch ist es möglich, entsprechende Konflikte schon „im Keim zu ersticken“.83 2. Auflösung der Problematik in der ILO In der Folge der Kommission/Österreich-Entscheidung machte der Sachverständigenausschuss die Mitgliedstaaten der EG, die das Übereinkommen ratifiziert hatten, auf einen „Ausweg“ aus dem Zustand der Normenkollision aufmerksam. Dieser führte allerdings nicht an einer Kündigung von Übereinkommen Nr. 45 vorbei: In direct requests (u. a. Österreich, Belgien, Frankreich, Deutschland) nahm der Sachverständigenausschuss die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C203/03 „zur Kenntnis“. Er wies die EU-Mitgliedstaaten sodann auf einen Beschluss des Verwaltungsrats von 2002 hin, nach welchem die Vertragsstaaten die Kündigung des Übereinkommens Nr. 45 bei gleichzeitiger Ratifizierung des Übereinkommens Nr. 176 in Erwägung ziehen sollten.84 Zu beachten ist hierbei, dass viele EG-Mitgliedstaaten85 Übereinkommen Nr. 176 zum Zeitpunkt der Entscheidung Kommission/Österreich bereits ratifiziert hatten. Die Kündigung von Übereinkommen Nr. 45 durch andere Mitgliedsaaten dürfte angesichts des Inhalts des Übereinkommens „verkraftbar“ gewesen sein. In wenigen Jahren dürfte die Problematik der Verein81

Ibid., Rn. 60 f.; vgl. auch EuGH v. 4. Juli 2000 – C-84/98 (Kommission/Portugal), Rn. 58; Rocca, ELLJ 2016, 52, 54 und S. 75; Kortländer, Die Verbindlichkeit der völkerrechtlichen Altverträgen der Mitgliedstaaten für die EU, S. 205; Ruchti, Das ILO-Übereinkommen Nr. 94, S. 79 zu den zumeist begrenzten anderweitigen Möglichkeiten des Mitgliedstaates. 82 Hierzu Teil 4 C. II. Dies folgt insb. aus der Rücksichtnahmepflicht in Art. 3 Abs. 5, 4 Abs. 3 EUV. Ähnlich Heuschmid, SR 2014, 1, 1012; Ruchti, Das ILO-Übereinkommen Nr. 94, S. 77; vgl. auch Kortländer, Die Verbindlichkeit der völkerrechtlichen Altverträge, S. 206 ff. 83 Ebenso Nassibi, Schutz vor Lohndumping in Deutschland, S. 227. 84 Übk. Nr. 176 sehe ausreichend Präventiv- und Schutzmaßnahmen für Bergleute unabhängig vom Geschlecht vor, weshalb bei einer Ratifizierung des neueren Übk. der Ansatz des Übk. Nr. 45 (vollständigen Verbots der Beschäftigung von Frauen im Untertagebergbau) nicht mehr verfolgt werden müsse, vgl. IAA, IAK, 95th Session 2006, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 398, Volltext der direct request nicht abgedruckt aber abrufbar unter: https:// www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=1000:13101:0::NO:13101:P13101_COMMENT_ID:22 60088, mit Verweis auf IAA, Verwaltungsrat, 283rd Session 2002, Follow-up to the recommendations of the Working Party, Doc GB.283/LILS/WP/PRS/1/2, Rn. 13; vgl. auch Teklè, ELLJ 2018, 236, 254. 85 Deutschland, Finnland, Irland, Österreich, Polen, Portugal, Schweden, die Slowakei, Spanien und Tschechien.

B. Keine Bindung, aber befristeter Vorrang von Übk. nach Art. 351 AEUV

261

barkeit der Vorgaben des Unionsrechts mit Übereinkommen Nr. 45 ohnehin überholt sein: Im September 2018 empfahl die SRM-TWG eine Einstufung von Übereinkommen Nr. 45 als „outdated“.86 Sofern sich die Delegierten der 113. IAK 2024 hierzu entschließen, ist damit zu rechnen, dass das Übereinkommen in diesem Jahr außer Kraft gesetzt werden wird.87 3. Befristung des Vorrangs auf höchstens 10 Jahre und 364 Tage Aus der Entscheidung Kommission/Österreich folgt, dass der Vorrang der Übereinkommen der ILO nach Art. 351 Abs. 1 AEUV aufgrund der standardisierten Schlussbestimmungen der Übereinkommen nur bis zu 10 Jahre und 364 Tage88 ab Feststellung der Unvereinbarkeit durch den EuGH anhalten kann, sofern die Feststellung der Unvereinbarkeit genau einen Tag nach dem Ende eines Kündigungszeitraums erfolgt.89 Die beschriebene „mittelbare Bindung“ der EU an ILO-Übereinkommen ist bei Inkompatibilität von Unions- und Arbeitsvölkerrecht somit „befristet“.

IV. Regelungslücke für Übereinkommen, die Völkergewohnheitsrecht kodifizieren Schwierigkeiten bereitet, dass Art. 351 Abs. 1 AEUV seinem Wortlaut nach nur das Völkervertragsrecht berücksichtigt. Vor Verletzungen des allgemeinen Völkerrechts durch EU-Mitgliedstaaten aufgrund der Umsetzung von Unionsrecht werden andere Staaten und Völkerrechtssubjekte hingegen nicht geschützt. Sollte also ein Übereinkommen Völkergewohnheitsrecht kodifizieren, beendet dessen Kündigung zwar die vertragliche Bindung des Mitgliedstaats; die völkergewohnheitsrechtliche Bindung besteht aber fort. Den EU-Mitgliedstaaten kann nicht zugemutet werden, zur Durchführung des Unionsrechts allgemeines Völkerrecht zu verletzen. Hiervor müssen die anderen Völkerrechtssubjekte ebenso wie im Rahmen des Völkervertragsrechts geschützt werden. Entsprechend ist der Anwendungsbereich des Art. 351 Abs. 1 AEUV auf allgemeines Völkerrecht zu erweitern. Art. 351 Abs. 2 AEUV bleibt in diesem Fall wirkungslos, da die Bindung des Mitgliedstaats an das allgemeine Völkerrecht permanent besteht. Die Bindung des Mitgliedstaats an allgemeines Völkerrecht kann gerade nicht „gekündigt“ werden.

86

Vgl. IAA, Verwaltungsrat, 334th Session 2018, Doc GB.334/LILS/3, Rn. 3 und Appendix, Rn. 13 f. 87 Vgl. IAA, Verwaltungsrat, 334th Session 2018, Doc GB.334/LILS/3, Rn. 5. 88 Die Kündigung wird erst ein Jahr nach ihrer Eintragung durch den Generalsekretär wirksam. 89 Ähnlich Landau/Beigsbender, From ILO Standards to EU Law, S. 54.

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

V. Zwischenfazit Die Entscheidungen des EuGH hatten gravierende Auswirkungen auf die Ratifizierungszahlen des Übereinkommens Nr. 8990 und Nr. 45.91 Für Übereinkommen Nr. 45 lässt sich feststellen, dass neben Österreich 13 weitere EU-Mitgliedstaaten nach 2007 Übereinkommen Nr. 45 gekündigt haben.92 Dies wäre zu begrüßen, hätten nicht sechs der 14 Staaten Übereinkommen Nr. 176 nach wie vor nicht ratifiziert.93 Die Verpflichtung zur Kündigung von Übereinkommen nach Art. 351 Abs. 2 S. 1 AEUV wirkt angesichts der grundsätzlich menschenrechtsfreundlichen Ausgestaltung des Unionsrechts zunächst eigentümlich. Im konkreten Fall waren die Entscheidungen des EuGH zwar zu befürworten, da das Unionsrecht modernere Ansätze als die paternalistischen Übereinkommen Nr. 45 und Nr. 89 der ILO verfolgt,94 die inzwischen auch innerhalb der ILO als überholt angesehen werden. Allerdings ist zu bedenken, dass ein Konflikt zwischen Unionsrecht und Übereinkommen der ILO grundsätzlich in jedem Regelungsfeld des Unionsrechts und nicht nur in Bereichen, in denen das ILO-Recht überholt ist, auftreten kann. Die Bedeutung des Art. 351 Abs. 2 S. 1 AEUV sollte in diesem Zusammenhang aber nicht überschätzt werden. Die Pflicht zur Kündigung von Übereinkommen stellt im Rahmen von Art. 351 Abs. 2 S. 1 AEUV das letzte Mittel dar. Vorrangig ist das Unionsrecht, soweit möglich, völkerrechtskonform auszulegen.

90 Vgl. Seifert, IJCLLIR 2013, 39, 58 f. Bereits nach der Entscheidung Stoeckel kündigten neben Frankreich und Belgien auch Griechenland, Italien, Portugal und Spanien das Übereinkommen. Inzwischen haben auch Zypern, Tschechien, die Slowakei und Slowenien das Übereinkommen gekündigt. Unter den EU-Mitgliedstaaten ist einzig Rumänien noch an Übk. Nr. 89 gebunden. 91 Vgl. auch Ferri, in: Kaddous, The European Union in International Organisations and Global Governance, S. 77, 83. 92 Kündigung durch Österreich am 3. April 2009; Kündigung durch Belgien, Tschechien, Estland, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Italien, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien und Spanien im Zeitraum vom 30. Mai 2007 – 30. Mai 2008; Kündigung durch Zypern im Zeitraum vom 30. Mai 2017 – 30. Mai 2018. Die Alternative wäre wohl einzig ein (unrealistisches) generelles Beschäftigungsverbot für den Untertagebau für alle Beschäftigten gewesen. 93 Von den EU-Mitgliedstaaten haben nach der Entscheidung Kommission/Österreich allein Belgien und Luxemburg Übk. Nr. 176 ratifiziert. Eine „Schutzlücke“ durch eine Kündigung von Übk. Nr. 45 ohne dass Übk. Nr. 176 bereits ratifiziert war oder in zeitlicher Nähe zur Kündigung von Übk. Nr. 45 ratifiziert wurde, lässt sich für Estland, Frankreich, Ungarn, Italien, Malta und Slowenien feststellen. 94 Heuschmid, SR 2014, 1, 12: „Der EuGH agierte hier als Motor des Fortschritts“.

C. Berücksichtigung der ILO-Normen im Rahmen der Auslegung der GRCh

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C. Gebot der Berücksichtigung der ILO-Normen im Rahmen der Auslegung der GRCh Seit dem Lissabonner Vertrag ergibt sich der Grundrechtsschutz im Unionsrecht vorrangig aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Eine Berücksichtigung der ILO-Normen bei der Auslegung des Unionsrechts ergibt sich über die GRCh allerdings nur, falls drei Voraussetzungen vorliegen: Erstens muss die GRCh anwendbar sein. Zweitens muss die GRCh die Berücksichtigung von ILO-Normen als Rechtserkenntnisquellen vorsehen oder zumindest erlauben. Drittens müssen sich sachliche Parallelen zwischen den Gewährleistungsinhalten der GRCh und den Übereinkommen, Empfehlungen und der Spruchpraxis der ILO ergeben.

I. Anwendungsbereich der Charta 1. „Keine Erweiterung der Kompetenzen“ Bereits in Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 EUV stellen die Vertragsparteien klar, dass „durch die Bestimmungen der Charta […] die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union in keiner Weise erweitert“ werden. Hintergrund dieser Klarstellung95 bildeten Befürchtungen mancher Mitgliedstaaten, Unionsorgane könnten mittels der GRCh neue Kompetenzen der EU festsetzen.96 Entsprechend ergibt sich etwa aus Art. 28 GRCh kein Kompetenztitel, auf den ein Sekundärrechtsakt zur Ausgestaltung der Reichweite des Streikrechts gestützt werden könnte.97 2. Verpflichtete Dies bedeutet aber nicht, dass Art. 28 GRCh bei der Auslegung des Unionsrechts im Rahmen der bestehenden Kompetenzen (etwa der Niederlassungsfreiheit) keine Berücksichtigung finden kann. Die Charta ist anwendbar, sobald ein Verpflichteter im Sinne des Art. 51 GRCh unter den dort statuierten Maßgaben tätig wird.98 95 So sah die Charta bereits selbst in Art. 51 Abs. 2 eine (präzisere) Norm, nach der die GRCh keine Kompetenzverlagerung oder -veränderung beinhalten sollte. Letztlich handelt es sich sowohl bei Art. 51 Abs. 2 GRCh und Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 EUV um deklaratorische Klauseln, da sich der Schutz vor Eigenermächtigungen der EU bereits aus Art. 5 Abs. 2 EUV ergibt, vgl. Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 51, Rn. 2. 96 Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 51, Rn. 2. 97 Siehe zum Monti II-Vorschlag und Art. 153 Abs. 5 AEUV unter Teil 1 A. III. 98 Ausgeklammert bleiben soll die Frage, welche genauen Folgen die Einordnung einer Bestimmung als Recht oder Grundsatz i. S. v. Art. 52 Abs. 5 GRCh nach sich zieht. Die rechtliche Wirkung der Grundsätze ist nur unzureichend bestimmt und bislang auch nicht durch die Rechtsprechung des EuGH konkretisiert worden. Grundsätze können durch Akte der Gesetzgebung und der Ausführung der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

a) Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Union An die Charta sind insbesondere die Organe der Union gebunden.99 Die GRCh schützt daher im Rahmen der unionsrechtlichen Normsetzung,100 der Normanwendung101 und der Norminterpretation.102 Auch im Verhältnis zu ihren Bediensteten sind die Organe an die GRCh gebunden.103 Sofern sich dies aus dem Gewährleistungsgehalt eines Artikels der GRCh zusammen mit Artikel 52 f. GRCh ergibt, ist der Inhalt der ILO-Normen daher sowohl bei Verabschiedung neuen arbeitsrechtlichen Sekundärrechts als auch der Auslegung des Primär- und Sekundärrechts durch den EuGH zu berücksichtigen. Gleiches gilt für das Personalrecht der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU.104 Die Einschränkung des Art. 51 Abs. 1 S. 1 a. E. GRCh („ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“) bezieht sich nur auf die Mitgliedstaaten. Sofern Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Union handeln, sind sie auch sowie durch Akte der Mitgliedstaaten zur Durchführung des Rechts der Union in Ausübung ihrer jeweiligen Zuständigkeiten umgesetzt werden. Nichtsdestotrotz enthalten die (in diesem Punkt eingehend überarbeiteten) GRCh-Erläuterungen einige Aussagen über die Einordnung mancher Bestimmungen. Als Grundsätze werden in den Erläuterungen zu Art. 52 GRCh und teilweise zu den Artikeln selbst unter anderem Art. 25, 26, 37 und zu Teilen Art. 23, 33 und 34 GRCh eingeordnet, siehe Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (2007/C 303/02), Abl. 2007 C 303, 17, 35. Die Einordnung der einzelnen Bestimmungen ist bisher nur vereinzelt durch den EuGH vorgenommen worden. So lehnte er etwa in der Rechtssache AMS ab, dass es sich bei Art. 27 GRCh um ein subjektives Recht handele, EuGH v. 15. Januar 2014 – C-176/12, Rn. 46 – 48. Zu beachten ist, dass der EuGH in seiner Entscheidung Art. 27 GRCh nie (zumindest) explizit als Grundsatz einordnet, obwohl zuvor GA GA Cruz-Villalon, SA v. 18. Juli 2013 – C-176/12 (AMS) Art. 27 entsprechend einordnete; vgl. hierzu Jarass, GRCh, Art. 27, Rn. 3; a. A. Heuschmid/Lörcher, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Art. 27 GRCh, Rn. 4. Für andere Bestimmungen der GRCh ist die Einordnung nach wie vor umstritten, vgl. etwa Jarass, GRCh; Meyer, GRCh; Heuschmid/Lörcher, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, GRCh; Krebber, EuZA 2016, 3, 8; siehe zur Frage der Auswirkungen der Einordnung als Recht oder Grundsatz sowie der horizontalen Anwendbarkeit der Charta-Grundrechte insb. Biltgen, in: Schlachter/Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht, Rn. 48; Kornezov, in: Vandenbrouke/Barnard/De Baere, A European Social Union after the Crisis, S. 407, 422 f.; vgl. auch Lenaerts/ Gutiérrez-Fons, in: Vandenbrouke/Barnard/De Baere, A European Social Union after the Crisis, S. 433, 446 ff.; Seifert, EuZA 2013, 299 mit gewissen Einschränkungen; äußerst zurückhaltend etwa Herresthal, ZEuP 2014, 238, 254 f., der die Übertragung der deutschen Herangehensweise (praktische Konkordanz) auf die europäische Ebene übertragen sehen möchte (S. 261 ff.). 99 Hierzu Art. 18 EUV; Terhechte, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, GRCh, Art. 51, Rn. 4. 100 Europäisches Parlament, Art. 14 EUV, Art. 223 ff. AEUV; Rat, Art. 16 EUV, Art. 237 ff. AEUV; Europäische Kommission, Art. 17 EUV, Art. 244 ff. AEUV und zu gewissem „leitenden“ Umfang auch der Europäische Rat, Art. 15 EUV, Art. 235 AEUV. 101 Die Europäische Kommission, Art. 17 EUV, Art. 244 ff. AEUV. 102 EuGH, Art. 19 EUV, Art. 251 ff. AEUV. 103 Vgl. EuG v. 29. Januar 2020 – T-402/18 (Aquino), Rn. 57 m. w. N. 104 Vgl. zum diesbezüglichen Anwendungsbereich der GRCh: EuGH v. 19. September 2013 – C-579/12 RX II (Strack), Rn. 39; B. Eggers/Linder, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, AEUV, Art. 336, Rn. 32 f.; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 336 AEUV, Rn. 6 m. w. N.

C. Berücksichtigung der ILO-Normen im Rahmen der Auslegung der GRCh

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an die GRCh verpflichtet, wenn sie kein Unionsrecht durchführen. Dies war etwa im Fall der Krisenrettungsmechanismen von Relevanz. Die Kommission und die EZB waren als Organe der EU bei der Durchführung des ESM bereits an die GRCh gebunden, bevor der Stabilitätsmechanismus mit Wirkung zum 1. Mai 2013 in das Unionsrecht integriert wurde.105 In mehreren Entscheidungen hatten EuGH und EuG ihre Zuständigkeit für die Überprüfung von Rettungsmaßnahmen am Maßstab der GRCh zunächst unabhängig davon abgelehnt,106 ob es sich um ein EU-basiertes107 oder euroraum-basiertes (EFSM/EFSF)108 Hilfsprogramm handelte. In der Pringle-Entscheidung nahm der EuGH im Kontext der ESM-Auflagen an, dass Mitgliedstaaten bei der „Umsetzung“ der Auflagen kein Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 GRCh „durchführen“.109 Die Pringle-Entscheidung ist allerdings auch im Hinblick auf die Bindung der Unionsorgane an die Charta von Relevanz. So folge laut EuGH aus Art. 13 Abs. 3 zweiter Gedankenstrich des ESM-Vertrags, nach dem die Memoranda of Understanding „in voller Übereinstimmung mit den im AEUV vorgesehenen Maßnahmen der wirtschaftspolitischen Koordinierung“ stehen müssen, dass die Memoranda „in voller Übereinstimmung mit dem Unionsrecht“ stehen müssen.110 Die Kommission habe aber keine autonomen Entscheidungsbefugnisse innerhalb des ESM und könne

105

Siehe zur Integration: Art. 136 Abs. 3 AEUV; zur Bindung: GA Kokott, Schlussantrag vom 26. Oktober 2012 – C-370/12 (Pringle), Rn. 176; Krebber, in: Schlachter/Heinig, Europäisches Arbeits- und Sozialrecht, § 2, Rn. 59; Krebber, EuZA 2010, 3, 20; Schubert, in: Franzen/Gallner/Oetker, GRCh, Art. 51, Rn. 10. Entsprechend ist auch die Reichweite der Kompetenzen der Union (insbesondere Art. 153 Abs. 5 AEUV) zu beachten, vgl. Kocher, in: Pechstein/Nowak/Häde, AEUV, Art. 153, Rn. 112 und Rn. 135. 106 Kornezov, in: Vandenbrouke/Barnard/De Baere, A European Social Union after the Crisis, S. 407, 410 ff.; vgl. auch Lenaerts/Gutiérrez-Fons, in: Vandenbrouke/Barnard/De Baere, A European Social Union after the Crisis, S. 433, 443 f.; Rönnmar, in: Barnard/Peers, European Union Law, S. 616 (ohne entsprechende Unterscheidung). 107 Es handelt sich um portugisische und rumänische Fälle: EuGH v. 14. Dezember 2011 – C-434/11 (Corpul Nat¸ional al Polit¸is¸tilor), Rn. 11; EuGH v. 10. Mai 2012 – C-134/12 (MAI), Rn. 10; EuGH v. 14. Dezember 2012 – C-462/11 (Cozman); EuGH v. 26. Juni 2012 – C-264/12 (Sindicato Nacional dos Profissionais de Seguros e Afins); EuGH v. 7. März 2013 – C-128/12 (Sindicato dos Bancarios do Norte), Rn. 7; EuGH v. 21. Oktober 2014 – C-665/13 (Sindicato Nacional dos Profissionais de Seguros e Afins), Rn. 16; EuGH v. 21. Mai 2015 – C-262/14 (SMCD); EuGH v. 13. Juni 2017 – C-258/14 (Florescu), hierzu Heuschmid/Hlava, HSI Newsletter 2/2017, abrufbar unter: https://www.hugo-sinzheimer-institut.de/hsi-newsletter/euro paeisches-arbeitsrecht/2017/newsletter-022017.html#c6433; EuGH v. 27. Februar 2018 – C-64/ 16 (Associacao Sindical dos Juizes Portugueses). 108 EuG v. 27. November 2012 – T-541/10 u. T-215/11 (ADEDY u. a.), Rn. 70 ff.; siehe später auch EuGH v. 20. September 2016 – C-105/15P (Mallis); EuG v. 3. Mai 2017 – T-531/14 (Sotiropoulou). 109 EuGH v. 27. November 2012 – C-370/12 (Pringle), Rn. 180; hierzu Kornezov, in: Vandenbrouke/Barnard/De Baere, A European Social Union after the Crisis, S. 407, 412 f. 110 EuGH v. 27. November 2012 – C-370/12 (Pringle), Rn. 180.

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

rechtlich nicht für Handlungen der ESM verantwortlich gemacht werden.111 Trotzdem lässt sich der Pringle-Entscheidung die wichtige Aussage entnehmen, dass im Rahmen des ESM Memoranda of Understanding auch mit den Gewährleistungsinhalten der GRCh vereinbar sein müssen.112 Diese Linie wurde in der Ledra-Entscheidung bestätigt. Erstinstanzlich hatte hier das EuG eine direkte Bindung des ESM an die GRCh – unter Verweis auf die PringleEntscheidung – abgelehnt, da es sich nicht um ein Organ, eine Einrichtung oder sonstige Stelle der Union handele.113 Der EuGH nahm hingegen einen weiten Anwendungsbereich der GRCh bezüglich der ESM-Auflagen (hier gegenüber Zypern) an.114 Die Kommission müsse davon absehen, eine Vereinbarung zu unterzeichnen, deren Übereinstimmung mit dem Unionsrecht sie bezweifelt.115 Ansonsten mache sich die Union – im konkreten Fall wegen Verletzung von Art. 17 Abs. 1 GRCh – schadensersatzpflichtig.116 Der EuGH begründet dies mit der Rolle der Kommission, die im Rahmen der Annahme eines Memorandum of Understanding nach Art. 17 Abs. 1 EUV und Art. 13 Abs. 3 und Abs. 4 des ESM-Vertrags sicherzustellen habe, dass dieses mit den in der Charta verbürgten Grundrechten vereinbar sei.117 Entsprechend besteht nach Ansicht des EuGH auch in Fällen, in denen die Kommission im Rahmen des ESM-Vertrags keine Unionsrechtsakte durchführt, eine Bindung an die GRCh.118 b) Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ Nicht nur die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, sondern auch die Mitgliedstaaten sind an die GRCh gebunden; allerdings nur, soweit sie Unionsrecht „durchführen“. Die Frage der Reichweite der Bindung der Mitgliedstaaten an die GRCh ist für die Frage der Reichweite des Berücksichtigungsgebots der Normen der ILO von mittelbarer Bedeutung: So ist von der Auslegung des Begriffs der „Durchführung“ des Unionsrechts abhängig, wie weit sich der Anwendungsvorrang des Unionsrechts 111 Ibid., Rn. 161; vgl. auch Lenaerts/Gutiérrez-Fons, in: Vandenbrouke/Barnard/De Baere, A European Social Union after the Crisis, S. 433, 438. 112 Kornezov, in: Vandenbrouke/Barnard/De Baere, A European Social Union after the Crisis, S. 407, 413. 113 EuG v. 10. November 2014 – T-289/13, T-291/1, T-292/13 (Ledra u. a.). 114 Rönnmar, in: Barnard/Peers, European Union Law, S. 616; kritisch zur Dogmatik Bourazeri, Tarifautonomie und Wirtschaftskrise, S. 440 f. 115 EuGH v. 20. September 2016 – C-8/15 P, C-9/15 P, C-10/15 P (Ledra u. a.), Rn. 67. 116 Ibid., Rn. 68 ff. 117 Ibid., Rn. 67. 118 Kornezov, in: Vandenbrouke/Barnard/De Baere, A European Social Union after the Crisis, S. 407, 413 f., der hinsichtlich der konkreten Auswirkungen allerdings skeptisch ist, vgl. S. 416; Rönnmar, in: Barnard/Peers, European Union Law, S. 616; Seifert, SR 2014, 14, 26; Fischer-Lescano, Austeritätspolitik und Menschenrechte, S. 10.

C. Berücksichtigung der ILO-Normen im Rahmen der Auslegung der GRCh

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erstreckt. Soweit ein Mitgliedstaat Unionsrecht „durchführt“, kommt eine Berücksichtigung des Rechts der ILO nur nach Art. 53 GRCh in Betracht.119 Führt der Mitgliedstaat hingegen kein Unionsrecht, sondern nur nationales Recht durch, richtet sich auch die Berücksichtigung der Normen der ILO allein nach nationalem Recht. Die Erläuterungen zur Charta120 greifen zur Bestimmung des Begriffs der „Durchführung“ des Unionsrechts die Rechtsprechung des EuGH zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts121 auf. Hiernach seien die Mitgliedstaaten zur Einhaltung der Grundrechte verpflichtet, wenn sie „im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln“. Diese Erläuterung ist vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen über die Beschränkung des Anwendungsbereichs der Charta wenig erhellend. So orientiert sich bereits der Begriff der „Durchführung“ an der alten Rechtsprechung.122 Es handelt sich somit nur um eine andere Umschreibung. Aufgrund divergierender Entscheidungen des EuGH ist bisher nicht abschließend geklärt, wie die „Durchführung“ von Unionsrecht durch Mitgliedstaaten und unionsrechtlich nicht-determiniertes Handeln voneinander abgegrenzt werden können. Die folgenden Entscheidungen zeigen vielmehr, dass der EuGH bislang zwei unterschiedliche Herangehensweise an die Auslegung des Begriffs der „Durchführung“ des Unionsrechts gewählt hat und sich die Entscheidungen zum Teil widersprechen.123 aa) Weite Auslegung des Begriffs der Durchführung in Åkerberg Fransson, Alemo-Herron und Asklepios Die Åkerberg-Fransson-Entscheidung lässt den Eindruck entstehen, dem EuGH genüge für die Anwendbarkeit der GRCh bei der Überprüfung der Handlungen von Mitgliedstaaten ein mittelbarer Zusammenhang mit Unionsrecht im Sinne eines rein

119 Außerdem kann sich das Berücksichtigungsgebot etwa aus den Erwägungsgründen einer Richtlinie ergeben. 120 Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, 2007/C 303/02, ABl. 2007 C 303, 17, 32. Diese sind gem. Art. 52 Abs. 7 GRCh bei der Auslegung der Charta zu berücksichtigen. 121 Nun Art. 6 Abs. 3 EUV. 122 Ähnlich Schubert, in: Franzen/Gallner/Oetker, GRCh, Art. 51, Rn. 13. 123 Nicht weiter eingegangen werden soll auf den Sonderstatus mancher Mitgliedstaaten. So bestehen etwa Sonderregelungen für Großbritannien und Polen, die Vorbehalte gegen die GRCh in Gestalt von Protokollen oder Erklärungen abgegeben haben (s. ABl. 2007 C 306, 156). Siehe zu den Vorbehalten: Arnull, in: Peers, GRCh, Rn. 56.17; Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14, Rn. 16; Borowsky, in: Meyer, Vor Titel VII, Rn. 18. Gegen eine Entbindung der beiden Mitgliedstaaten an die Charta-Grundrechte etwa GA Kokott, SA v. 15. Dezember 2011 – C-489/10 (Bonda), Rn 23; Jarass, GRCh, Art. 51, Rn. 33; Heuschmid, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 11, Rn. 20; kritisch zur „Aufladung“ von Art. 6 Abs. 3 EUV mit den Gewährleistungsgehalten der GRCh: Ludwig, EuR 2011, 715, 729; offen: Spaventa, in: Barnard/Peers, European Union Law, S. 250 f.

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

thematischen Sachbezugs.124 Der EuGH hatte in diesem Zusammenhang explizit eingeräumt, dass eine nationale Regelung (zugrunde lag der Sachverhalt einer potentiellen Doppelbestrafung im Sinne von Art. 50 GRCh durch steuerliche Sanktion und gleichzeitige strafrechtliche Sanktion wegen Steuerhinterziehung) nicht in Umsetzung der Richtlinie 2006/112/EG erlassen worden war.125 Trotzdem wandte er die GRCh an, „da durch ihre Anwendung ein Verstoß gegen die Bestimmungen dieser Richtlinie geahndet und damit die den Mitgliedstaaten durch den Vertrag auferlegte Verpflichtung zur wirksamen Ahndung von die finanziellen Interessen der Union gefährdenden Verhaltensweisen erfüllt werden soll“.126 Ähnlich agierte der EuGH im Verfahren Alemo-Herron, ohne sich jedoch ausdrücklich mit dem Anwendungsbereich der GRCh auseinanderzusetzen.127 In dieser Entscheidung hatte der EuGH die dynamische Tarifbindung des Erwerbers i. S. v. Art. 2 Abs. 1 lit. b) der BetriebsübergangsRL 2001/23/EG128 als Verstoß gegen Art. 16 GRCh, also zu Lasten der unternehmerischen Freiheit des neuen Arbeitgebers gewertet.129 Eine Abweichung von der Richtlinie zulasten der Arbeitnehmer würde hiernach eine „Durchführung“ von Unionsrecht darstellen, sofern hierfür mehr als ein loser Zusammenhang erforderlich ist.130 Diese Interpretation der EuGHEntscheidung Alemo-Herron und die Ablehnung seiner vermeintlichen Haltung zum Anwendungsbereich der GRCh teilte auch das BAG im Asklepios-Vorlagebeschluss.131 Der EuGH habe in anderen Entscheidungen selbst festgestellt, dass die Charta im Verhältnis zu einer nationalen Regelung unanwendbar sei, wenn die unionsrechtlichen Vorschriften keine Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf den fraglichen Sachverhalt schaffen.132 Im Hinblick auf die Bestimmung 124

Dieses Kriterium aus den Entscheidungen folgernd Heuschmid/Lörcher, in: Böcken/ Düwell/Diller/Hanau, GRCh, Art. 51, Rn. 13; s. a. EuGH v. 16. September 2010 – C-149/10 (Zoi Chatzi/Ypourgos Oikonomikon); an der nationalen Regelung als Ganzes anknüpfend EuGH v. 29. April 2015 – C-528/13 (Léger), Rn. 46 f. 125 EuGH v. 26. Februar 2013 – C-617/10 (Åkerberg Fransson), Rn. 28. 126 Ibid. 127 EuGH v. 18. Juli 2013 – C-426/11 (Alemo-Herron u. a.), Rn. 20 ff. 128 Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- und Betriebsteilen (ABl. 2001 L 82, 16), geändert durch Art. 5 ÄndRL (EU) 2015/1794 vom 6. 10. 2015 (ABl. 2015 L 263, 1). 129 Hierfür wurde der EuGH zurecht vielfach kritisiert, da die RL 2001/23/EG selbst keine näheren Vorgaben zur Art der Bindung von Tarifverträgen nach Betriebsveräußerung macht. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die rein statische Weitergeltung des Tarifvertrages in der Richtlinie vorgesehen ist, bleibt es den Mitgliedstaaten unbenommen, zugunsten der Arbeitnehmer hiervon abzuweichen und eine dynamische Fortgeltung vorzusehen, vgl. Art. 8 RL 2001/23/EG; Krebber, EuZA 2016, 3, 6 f.; Wißmann, in: ErfK, AEUV, Vorbm., Rn. 5; Sagan, ZESAR 2016, 116, 121. 130 Krebber, EuZA 2016, 3, 7. 131 BAG v. 17. Juni 2015 – 4 AZR 95/14, juris. 132 Ibid., Rn. 54 unter Verweis auf viele der unter Teil 4 C. I. 2. b) cc) dargestellten Entscheidungen.

C. Berücksichtigung der ILO-Normen im Rahmen der Auslegung der GRCh

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der Reichweite des Anwendungsbereichs der GRCh wich der EuGH aber in der Asklepios-Entscheidung nicht von der Alemo-Herron-Entscheidung ab.133 bb) Engere Auslegung des Begriffs in Iida, Siragusa, Hernández und weiteren Entscheidungen Eine Vielzahl von Entscheidungen des EuGH erzeugen das entgegengesetzte Bild. Nach diesem lässt der EuGH eine mittelbare Beziehung zum Unionsrecht gerade nicht ausreichen.134 Vielmehr kann danach eine Bindung eines Mitgliedstaats 133 Vgl. EuGH v. 27. April 2017 – C-680/15 u. a. (Asklepios), Rn. 23 ff. Zur Reichweite der BetriebsübergangsRL 2001/23/EG ist zu berücksichtigen, dass diese anders als die meisten (jüngeren) arbeitsrechtlichen Richtlinien nicht auf Art. 153 AEUV als Kompetenztitel basiert, der gemäß Art. 153 Abs. 2 lit. b) AEUV die Union nur zur Harmonisierung von Mindestbedingungen ermächtigt. Kompetenzgrundlage der BetriebsübergangsRL bilden die Art. 114 f. AEUV (h. F.), die anders als Art. 153 AEUV nicht nur eine Mindestharmonisierung, sondern auch eine Vollharmonisierung erlauben. Teilweise wird hieraus gefolgert, dass grundsätzlich eine auf Art. 114 f. AEUV gestützte Richtlinie immer vollharmonisierend wirke und die Richtlinie dem Mitgliedstaat hinsichtlich weitergehender Regelungen einen „Ermessensspielraum“ einräume, vgl. Schubert, in: Franzen/Gallner/Oetker, GRCh, Art. 51, Rn. 25. Hieraus folge das Tätigwerden der Mitgliedstaaten zur „Durchführung“ von Unionsrecht, auch beim „Ausfüllen“ dieser Ermessensspielräume, ibid. Dem ist entgegenzuhalten, dass auch auf Grundlage von Art. 114 f. AEUV gestützte Richtlinien nur insoweit (voll-)harmonisierend wirken, als sie einen Bereich inhaltlich tatsächlich abdecken, vgl. Krebber, EuZA 2016, 3, 6 f., der von Mindestbedingungen spricht; s. a. Wißmann, RdA 2015, 301, 303, der die Wahl der Kompetenzgrundlage „historisch“ gewachsen auffasst, aber inhaltlich Art. 153 AEUV als eigentliche Grundlage ansieht. Dies folgt aus Wortlaut von Art. 115 AEUV, nach dem sich eine „unmittelbare Auswirkung“ auf die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarkts ergeben muss. (Durchführbares) Unionsrecht nach Art. 115 AEUV ergibt sich, wenn und soweit vom Kompetenztitel Gebrauch gemacht wird. Gegen die Annahme, die BetriebsübergangsRL wirke vollharmonisierend, spricht zudem folgende Erwägung: Eine Abgrenzung zwischen den Bereichen, die auf Grundlage der Kompetenz aus Art. 115 AEUV vollharmonisiert wurden und zugunsten eines Ermessensspielraums der Mitgliedstaaten keine Regelung getroffen haben und jenen, die nicht harmonisiert werden sollten, erscheint unmöglich. Konkret in Bezug auf die BetriebsübergangsRL ließe sich bei entsprechender Argumentation wohl ein Bezug nahezu aller arbeitsrechtlichen Fragen zu einer Umstrukturierung herstellen, sodass man von einer „endlosen“ Harmonisierung (und Einräumung eines Ermessensspielraums) ausgehen könnte und im Ergebnis das gesamte nationale Arbeitsrecht an der GRCh zu messen wäre. Dies widerspricht aber sowohl dem Telos des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh als auch dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, Art. 5 EUV und wird auch in Protokoll Nr. 25 bestätigt, vgl. Protokoll (Nr. 25) über die Ausübung der geteilten Zuständigkeit, ABl. 2008 C 115, 307: Ist die Union in einem bestimmten Bereich i. S. d. Art. 2 Abs. 2 AEUV betreffend die geteilte Zuständigkeit tätig geworden, so erstreckt sich die Ausübung der Zuständigkeit nur auf die durch den entsprechenden Rechtsakt der Union geregelten Elemente und nicht auf den gesamten Bereich. 134 Vgl. EuGH v. 6. März 2014 – C-206/13 (Siragusa), Rn. 25 f.; EuGH v. 10. Juli 2014 – C198/13 (Hernández), Rn. 35; EuGH v. 11. November 2014 – C-333/13 (Dano), Rn. 89 ff.; vgl. auch Teetzmann EuR 2016, 90, 102; EuGH v. 27. März 2014 – C-265/13 (Torralbo Marcos); EuGH v. 16. Mai 2017 – C-682/15 (Berlioz), Rn. 33 ff.; EuGH v. 8. November 2012 – C-40/11 (lida), Rn. 72 ff.; s. a. EuGH v. 20. September 2016 – C-8/15 P, C-9/15 P, C-10/15 P (Ledra u. a.).

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

an die GRCh nur dann angenommen werden, wenn dieser Richtlinien umsetzt (1),135 Unionsrecht durch Verwaltung und Gerichte vollzieht (2) oder Maßnahmen ergreift beziehungsweise nicht ergreift,136 um die Verletzung von Grundfreiheiten zu verhindern (3).137 Ein bloßer Sachzusammenhang lässt sich weder unter den Begriff der „Durchführung“ noch den des „Anwendungsbereichs“ subsumieren. So statuiert der EuGH etwa in der Rechtssache Iida, dass für eine Anwendbarkeit der GRCh zu prüfen sei, „ob mit der in Rede stehenden nationalen Regelung die Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt wird, welchen Charakter diese Regelung hat und ob mit ihr andere als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele verfolgt werden, selbst wenn sie das Unionsrecht mittelbar beeinflussen kann, sowie ob es eine Regelung des Unionsrechts gibt, die für diesen Bereich spezifisch ist oder ihn beeinflussen kann“138, was in diesem Fall verneint wurde. Hieraus geht hervor, dass eine bloß mittelbare Beziehung der fraglichen Sachbereiche nicht ausreichend ist. Zu einer vergleichbaren Auslegung gelangte der EuGH unter anderem in den Verfahren Siragusa, Hernández, Dano und Berlioz.139 Auch die McB-Entscheidung

135 Bei der Anwendung der ersten Fallgruppe (Umsetzung einer Richtlinie) ist jedoch eine Besonderheit zu beachten. So hat der EuGH eine Bindung der Mitgliedstaaten an die GRCh in Fällen abgelehnt hat, in denen zwar eine Kompetenz der EU besteht, von der aber noch kein Gebrauch gemacht wurde. Es ist aber unklar, ob dies bedeutet, dass eine Harmonisierung auch tatsächlich erfolgt sein muss, vgl. EuGH v. 5. Februar 2015 – C-117/14 (Poclava); EuGH v. 16. Januar 2014 – C-614/12 u. C-10/13 (Dutka); EuGH v. 16. Januar 2014 – C-332/13 (Weigl), Rn. 34; Schubert, in: Franzen/Gallner/Oetker, GRCh, Art. 51, Rn. 25; Wißmann, in: ErfK, AEUV, Vorbm., Rn. 5b. So hatte der EuGH im Fall Poclava einerseits eine Anwendbarkeit von Art. 30 GRCh abgelehnt, da die Dauer einer Probezeit bei unbefristeten Arbeitsverhältnissen, wie sie in einem spanischen Gesetz vorgesehen war, nicht durch die RL 1999/70/EG geregelt sei, siehe EuGH v. 5. Februar 2015 – C-117/14 (Poclava), Rn. 37 f. Wenn der EuGH allerdings andererseits ausführt, dass ein Vertrag wie „der ,unbefristete Arbeitsvertrag zur Unterstützung der Unternehmer‘ im spanischen Recht kein befristeter Vertrag ist, der in den Anwendungsbereich der RL 1999/70 fällt“, wird nicht klar, ob ein Mitgliedstaat bei allen mit befristeten Arbeitsverhältnissen in Verbindung stehenden Fragen an die GRCh gebunden ist oder nur dann, wenn die nationale Regelung den konkreten Gewährleistungsgehalt der Sozialpartnervereinbarung der RL 1999/70/EG umsetzt (etwa Schutz vor Missbrauch aufeinanderfolgender Befristungen, § 5; Grundsatz der Nichtdiskriminierung befristet Beschäftigter, § 4). 136 Hierzu zählen auch die Gewährleistungen ungeschriebener Rechte wie etwa des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs, vgl. Wißmann, in: ErfK, AEUV, Vorbm., Rn. 5a. 137 Zum Fall der Durchsetzung von Grundfreiheiten auch: EuGH v. 21. Dezember 2016 – C201/15 (AGET Iraklis), Rn. 62 ff.; Schubert, in: Franzen/Gallner/Oetker, GRCh, Art. 51, Rn. 12; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 369; Heuschmid/Lörcher, in: Böcken/Düwell/Diller/Hanau, GRCh, Art. 51, Rn. 18; vgl. auch die Fallgruppenbildung bei Herresthal, ZEuP 2014, 238, 247 ff.; Pache, in: Pechstein/Nowak/Häde, GRCh, Art. 53, Rn. 19 ff.; a. A. Krebber, EuZA 2016, 3, 5, der in diesen Fällen aber eine Bindung der Union an die GRCh annimmt. 138 EuGH v. 8. November 2012 – C-40/11 (lida), Rn. 79. 139 EuGH v. 6. März 2014 – C-206/13 (Siragusa), Rn. 25 f.; EuGH v. 10. Juli 2014 – C-198/ 13 (Hernández), Rn. 35; EuGH v. 11. November 2014 C-333/13 (Dano), Rn. 89 ff.; EuGH v. 16. Mai 2017 – C-682/15 (Berlioz), Rn. 33 ff.

C. Berücksichtigung der ILO-Normen im Rahmen der Auslegung der GRCh

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lässt sich im Sinne eines „kompetenzsensibleren“ Umgangs des EuGH mit der GRCh deuten.140

II. Berücksichtigung der Normen der ILO Die Berücksichtigung der Normen der ILO bei der Auslegung der GRCh kann zu unterschiedlichem Grade erfolgen. Es erscheinen vier Optionen denkbar: 1. Die Normen der ILO bilden verbindliche Mindeststandards, also eine Rechtsquelle, bei der inhaltlichen Bestimmung der GRCh (Befolgungsgebot). 2. Die Normen der ILO müssen berücksichtigt werden, es besteht aber keine Pflicht, sie zu befolgen, sofern der Rechtsanwender hiervon nicht überzeugt ist (Optimierungs- beziehungsweise Berücksichtigungsgebot). 3. Die Normen der ILO müssen zwar nicht, dürfen aber berücksichtigt werden und bilden eine Rechtserkenntnisquelle (Berücksichtigungsfreiheit). 4. Die Normen der ILO dürfen nicht berücksichtigt werden (Berücksichtigungsverbot). Die erste Option der Transformation der Garantien der ILO-Übereinkommen in eine Rechtsquelle des Unionsrechts ist in der Charta weder ausdrücklich vorgesehen noch lässt sie sich sonst aus ihr folgern. Allerdings ergibt sich eine „Befolgungspflicht“ der EMRK in der Lesart des EGMR aus Art. 52 Abs. 3 GRCh, was auch hinsichtlich der Berücksichtigung der Normen der ILO von Bedeutung sein kann.141 Ob Normen der ILO bei der Auslegung des Unionsrechts zu berücksichtigen sind (Option 2), oder nur berücksichtigt werden können (Option 3), hängt von der 140 Ausgangspunkt der McB-Entscheidung aus dem Oktober 2010 waren irische Vorschriften über das Sorgerecht, nach denen der unverheiratete Vater grundsätzlich gerichtlich sein Sorgerecht anerkennen lassen muss, während die Mutter das Sorgerecht für ihre Kinder automatisch erhält. Als sich ein unverheiratetes Paar trennte, entzog die britische Mutter die Kinder der Zuständigkeit der irischen Gerichte, bevor dem Vater das Sorgerecht erteilt werden konnte, siehe EuGH v. 5. Oktober 2010 – C-300/10 PPU (McB), Rn. 17 ff. Nach der Brüssel-IIaVerordnung blieb die Zuständigkeit des vormals zuständigen Gerichts erhalten, sofern Kinder zu Unrecht aus ihrem Wohnsitzland verbracht wurden, Art. 2 Nr. 11, Art. 11 Brüssel IIa-Verordnung (die Brüssel IIa-Verordnung koordiniert die nationalen Vorschriften lediglich und dient gerade keiner Harmonisierung). Der irische Supreme Court legte dem EuGH die Frage vor, ob es einem Mitgliedstaat wegen einer Auslegung der Brüssel-IIa-Verordnung im Licht von Art. 7 GRCh untersagt sei, in seinem Recht vorzusehen, dass der Vater eines Kindes, der nicht mit der Mutter verheiratet ist, das Sorgerecht nur dann erhalte, wenn er eine Anordnung des zuständigen Gerichts erwirkt hat. Laut EuGH v. 5. Oktober 2010 – C-300/10 PPU (McB), Rn. 52 ist im vorgelegten Fall die GRCh allein zur Auslegung der Verordnung heranzuziehen und gerade nicht zur Auslegung des nationalen Rechts. Spaventa, in: Barnard/Peers, European Union Law, S. 244, 246 folgert hieraus, dass der EuGH die GRCh bei solchen Rechtsakten nach engen Maßgaben anwendet, die nicht der Harmonisierung, sondern nur der Koordinierung der mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften dienen. 141 Hierzu unter Teil 4 C. II. 2.

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

Reichweite des Art. 53 GRCh ab. Die vierte Option scheidet aus, da kein Rechtssatz existiert, der die Berücksichtigung ausländischer Gesetze und Entscheidungen oder völkerrechtlicher Normen bei der Auslegung des Unionsrechts verbietet.142 1. Gebot der Berücksichtigung, Art. 53 GRCh Gemäß Art. 53 GRCh ist keine Bestimmung der Charta „als eine Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen, die in dem jeweiligen Anwendungsbereich durch das Recht der Union und das Völkerrecht sowie durch die internationalen Übereinkünfte, bei denen die Union oder alle Mitgliedstaaten Vertragsparteien sind, darunter insbesondere die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, sowie durch die Verfassungen der Mitgliedstaaten anerkannt werden“. a) Berücksichtigungsgebot als wichtigste Rechtsfolge Art. 53 GRCh steht im Zentrum der wissenschaftlichen Auseinandersetzung über das Verhältnis der Charta zum nationalen Grundrechtsschutz. Bereits mehrere Vorlageverfahren nationaler (Verfassungs-)Gerichte waren auf die Auslegung von Art. 53 GRCh gerichtet. Hierzu zählen insbesondere die Verfahren Melloni143 und Taricco II,144 in welcher der EuGH eine Auseinandersetzung mit Art. 53 GRCh in Beantwortung der Vorlagefrage vermied. Ebenso wie für das Verhältnis der GRCh zu den Gewährleistungsinhalten der nationalen „niedrigeren“145 Ebene stellt sich die Frage nach der rechtlichen Einordnung von Art. 53 GRCh für die „höhere“ völkerrechtliche Ebene.

142

Zur entsprechenden Kontroverse unter Richtern des US-amerikanischen Supreme Courts: Barnes, „Breyer says understanding foreign law is critical to Supreme Court’s work“, Washington Post Online-Ausgabe vom 12. September 2015, abrufbar unter: https://www.wa shingtonpost.com/politics/courts_law/breyer-says-understanding-foreign-law-is-critical-to-su preme-courts-work/2015/09/12/36a38212-57e9-11e5-8bb1-b488d231bba2_story.html?noredi rect=on&utm_term=.34f263207a5a. 143 EuGH v. 26. Februar 2013 – C-399/11(Melloni). 144 EuGH v. 5. Dezember 2017 – C-42/17 (M. A. S. und M. B. – „Taricco II“). 145 Vgl. zu den Auswirkungen der Taricco II-Entscheidung auf die „Verfassungsidentitätskontrolle“ durch den italienischen Corte constituzionale und das BVerfG etwa: Klein, DÖV 2018, 605, 608 ff.; Burchardt, „Belittling the Primacy of EU Law in Taricco II, Verfassungsblog v. 7. Dezember 2017“, https://verfassungsblog.de/belittling-the-primacy-of-eu-law-in-tariccoii/; Burchardt, EuR 2018, 248, insb. 251 – 253; Bassini/Pollicino, „Defusing the Taricco Bomb through Fostering Constitutional Tolerance: All Roads Lead to Rome“, Verfassungsblog v. 5. Dezember 2017, http://verfassungsblog.de/defusing-the-taricco-bomb-through-fostering-con stitutional-tolerance-all-roads-lead-to-rome/. Die Konstellation der Kollision von Europarecht mit obersten Grundsätzen der Verfassungsordnung eines Mitgliedstaates lässt sich nicht ohne weiteres auf die völkerrechtliche Ebene übertragen, weshalb die Entscheidung für den hier behandelten Kontext keiner weiteren Aufmerksamkeit bedarf.

C. Berücksichtigung der ILO-Normen im Rahmen der Auslegung der GRCh

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Sowohl der Wortlaut als auch die Entstehungsgeschichte146 der Norm lassen erkennen, dass es sich bei Art. 53 GRCh nicht um eine Transferklausel handelt, mittels derer die Inhalte der internationalen Übereinkünften in die Gewährleistungsinhalte der GRCh „gezogen“ werden sollen, soweit alle Mitgliedstaaten der EU oder diese selbst Vertragsparteien sind.147 Deutlich wird dies bei einem Vergleich mit Art. 52 Abs. 3 GRCh, nach dem die entsprechenden Inhalte der EMRK „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ haben.148 Stattdessen stellt Art. 53 GRCh im vertikalen Verhältnis zwischen Staat und Grundrechtsberechtigtem eine Meistbegünstigungsklausel dar, soweit der Anwendungsbereich der nationalen Regelung nicht aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts eingeschränkt ist.149 Hierauf deuten die Charta-Erläuterungen hin, nach denen der Zweck von Art. 53 GRCh in der „Aufrechterhaltung des durch das Recht der Union, das Recht der Mitgliedstaaten und das Völkerrecht in seinem jeweiligen Anwendungsbereich gegenwärtig gewährleisteten Schutzniveaus“ besteht. Eine der Kernaussagen des Art. 53 GRCh ist somit, dass sich die Charta de jure nicht auf existierende oder künftige höhere Standards auswirkt.150 Deren Anwendungsbereich ist aber bereits geschmälert: Der Vorrang des Unionsrechts erstreckt sich auch auf nationale Grundrechte151 sowie die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten. Letzteres folgt bereits im Umkehrschluss aus Art. 351 Abs. 1 AEUV, der den Vorrang völkerrechtlicher Verpflichtungen auf AltVerpflichtungen der Mitgliedstaaten begrenzt.152 Art. 53 GRCh beinhaltet aber auch ein Gebot zur völkerrechts- und nationalverfassungsfreundlichen Auslegung der Charta. Zwar werden wie erwähnt die Schutzstandards der nationalen und internationalen Ebene nicht automatisch auf die supranationale Ebene transferiert. Art. 53 GRCh gebietet aber eine „Optimierung“

146

Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 53, Rn. 2 ff. Ibid., Rn. 6 f.; Jarass, GRCh, Art. 53, Rn. 4; i. E. auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert, GRCh, Art. 53, Rn. 7; Streinz/Michl, in: Streinz, GRCh, Art. 53, Rn. 3 f.; Schubert, in: Franzen/ Gallner/Oetker, GRCh, Art. 52, Rn. 29; von Danwitz, in: Tettinger/Stern, GRCh, Art. 53, Rn. 12; Rebhahn, in: Grabenwarter, Europäischer Grundrechtsschutz, § 16, Rn. 41; neutral: Heuschmid/Lörcher, in: Böcken/Düwell/Diller/Hanau, GRCh, Art. 53, Rn. 3. 148 Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 53, Rn. 9; vgl. auch Jarass, GRCh, Art. 53, Rn. 19. 149 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 53 GRCh, Rn. 7; Jarass, GRCh, Art. 53, Rn. 4; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonventionen, § 4, Rn. 10; Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 53, Rn. 14 f.; a. A. wohl von Danwitz, in: Tettinger/Stern, GRCh, Art. 53, Rn. 12; es ist unklar, ob der EuGH in Taricco II eine konträre Auslegung von Art. 53 GRCh vornimmt, vgl. Burchhardt, EuR 2018, 248, 255. 150 Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 53, Rn. 12. 151 Sofern die in Taricco II entwickelte Doktrin der vorrangigen nationalen Verfassungsgrundsätze nicht zum Tragen kommt, vgl. EuGH v. 5. Dezember 2017 – C-42/17 (M. A. S. und M. B. – „Taricco II“). 152 Hierzu unter Teil 4 B. 147

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

der Gewährleistungsinhalte der Charta anhand der genannten Rechtserkenntnisquellen.153 b) Inhalt des Berücksichtigungsgebots Die konkreten Inhalte dieses allgemein anerkannten Optimierungs- beziehungsweise Berücksichtigungsgebots wurden bislang nicht näher bestimmt. Es ist am Gebot der Berücksichtigung internationaler Normen, wie es sich aus der Rechtsprechung des EGMR ergibt, zu orientieren. Art. 53 GRCh verpflichtet hiernach alle Verpflichteten der GRCh in Auslegungsund Abwägungsprozessen im Anwendungsbereich der Charta dazu, die einschlägigen völkerrechtlichen Garantien einzubeziehen. Erneut sei darauf hingewiesen, dass das Berücksichtigungsgebot gerade nicht eine Befolgungsgebot umfasst.154 Das Berücksichtigungsgebot beinhaltet zwei Handlungsaufträge an die Adressaten der GRCh. Zunächst fordert das Berücksichtigungsgebot eine Auseinandersetzung des Adressaten mit den völkerrechtlichen Normen, sofern diese entscheidungserheblich sind. Es handelt sich das „materielle“ Berücksichtigungsgebot. Daneben beinhaltet Art. 53 GRCh ein „formelles“ Berücksichtigungsgebot. Dieses verpflichtet die Adressaten der GRCh zur Dokumentation dieser Auseinandersetzung mit den internationalen Normen. Im Fall des EuGH (der im Rahmen seiner Tätigkeit ebenfalls an die GRCh gebunden ist) bedeutet dies etwa, dass dieser den Prozess der Berücksichtigung der einschlägigen internationalen Normen in den Urteilsgründen darzustellen hat. Die Anwendung des Berücksichtigungsgebots kann sich wie folgt darstellen: Sollte der EuGH zum Ergebnis kommen, dass aufgrund der Gegebenheiten des konkreten Einzelfalls eine Übernahme der völkerrechtlichen Vorgaben nicht überzeugen kann, ist er zur Übernahme nicht verpflichtet. Durch die Auseinandersetzung mit den Normen der ILO ist er dem materiellen Berücksichtigungsgebot nachgekommen. In einem solchen Fall erfordert das formelle Berücksichtigungsgebot jedoch die Darstellung der Gründe, warum das Unionsrecht nicht in Übereinstimmung mit den völkerrechtlichen Vorgaben ausgelegt werden kann.155 Beispielsweise kann es vorkommen, dass Normen der ILO nicht berücksichtigt werden können, da eine entsprechende Auslegung nicht mit dem Wortlaut der unionalen Vorschrift vereinbar wäre. Ebenso ist es denkbar, dass die Normen der ILO zu anderen völkerrechtliche 153 Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 53, Rn. 14b; von Danwitz, in: Tettinger/Stern, GRCh, Art. 53, Rn. 19 ff.; Heuschmid, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 11, Rn. 11; Schubert, in: Franzen/Gallner/Oetker, GRCh, Art. 52, Rn. 29; Schadendorf, EuR 2015, 28, 42; Biltgen, in: Schlachter/Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht, § 12, Rn. 25; Bourazeri, NZA-Beilage 2019, 25, 26. 154 Vgl. auch Becker, EuR 2019, 469, 485. 155 Ähnlich im Hinblick auf Abweichungen von den Charta-Erläuterungen: Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 52, Rn. 47b.

C. Berücksichtigung der ILO-Normen im Rahmen der Auslegung der GRCh

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Normen in unauflöslichem Widerspruch stehen. Dies hätte zur Folge, dass sich der Verpflichtete der GRCh an keiner der beiden internationalen Normen orientieren kann. In einer solchen Konstellation folgt aus dem formellen Berücksichtigungsgebot das Erfordernis, die Inkonsistenz der internationalen Vorgaben aufzuzeigen, welche den EuGH an der Berücksichtigung einer der Normen gehindert haben. Insoweit sei aber auch mit Blick auf die Kernarbeitsnormen darauf hingewiesen, dass auch internationalen Normen in einem Rangverhältnis zueinanderstehen. So geht etwa der ius cogens als zwingendes Völkerrecht anderen völkerrechtlichen Normen vor.156 c) Berücksichtigungsgebot aus Art. 53 GRCh nur für ILO-Verfassungsprinzipien und gewisse Übereinkommen Zu beachten ist allerdings, dass Art. 53 GRCh die zu berücksichtigenden Rechterkenntnisquellen auf das (allgemeine) Völkerrecht157 und auf internationale Übereinkünfte, „bei denen die Union oder alle Mitgliedstaaten Vertragsparteien sind“, eingrenzt. Unter Letztere fällt zunächst die Verfassung der ILO und mithin die Erklärung von Philadelphia, die durch alle Mitgliedstaaten ratifiziert wurde. Übereinkommen der ILO müssen im Rahmen des Optimierungsgebots des Art. 53 GRCh nur berücksichtigt werden, sofern alle158 27 Mitgliedstaaten „Vertragsparteien“ geworden sind.159 Nicht entschieden ist, ob der Begriff der „Vertragspartei“ eine Ratifizierung des Übereinkommens durch alle Mitgliedstaaten voraussetzt.160 Zum Teil wird die Beteiligung aller Mitgliedstaaten am Abschluss des Übereinkommens als ausreichend erachtet.161 Andere lassen die Ratifizierung durch einen überwiegenden Teil der Mitgliedstaaten genügen.

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Siehe unter Teil 3 B. Hierunter sind Völkergewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze i. S. v. Art. 38 Abs. 1 lit. b) und lit. c) IGH-Statuts zu verstehen, vgl. Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 53, Rn. 17; Pache, in: Pechstein/Nowak/Häde, GRCh, Art. 53, Rn. 28. 158 Nicht ausreichend ist somit die Mehrheit der Mitgliedstaaten. 159 Die rechtlich unverbindlichen Empfehlungen müssen hingegen nicht berücksichtigt werden. Diese können allerdings berücksichtigt werden. 160 Jarass, GRCh, Art. 53, Rn. 21; Jarass, EuR 2013, 29, 42; (wohl) Lenaerts, EuR 2012, 3, 14 (Art. 52 Abs. 3 und Art. 53 GRCh); ebenso wohl Schadendorf, EuR 2015, 28, 42. 161 von Danwitz, in: Tettinger/Stern, GRCh, Art. 53, Rn. 17; Heuschmid, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 11, Rn. 18; widersprüchlich: Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 53, Rn. 18 (Ratifizierung nicht notwendig) aber in Rn. 19 Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten für Berücksichtigung der (rev.) ESC gefordert. Offen Schlachter, EuR 2016, 478, 481, die sich von Danwitz und Borowsky anschließt, aber einen „Beitritt“ für notwendig erachtet, wobei offenbleibt, ob ein Beitritt i. S. v. Art. 15 WVK gemeint ist; ablehnend ggü. dem Erfordernis der Ratifizierung mit Blick auf die Besonderheiten des „à la carte-Systems“ der ESC dies., SR 2019, 165, 167. 157

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

aa) Anlehnung an das Mehrheitsprinzip des EGMR nicht überzeugend In Anlehnung an das vom EGMR angewandte „Mehrheitsprinzip“162 wird in der Literatur teils angenommen, dass es entgegen dem Wortlaut von Art. 53 GRCH genügt, dass das in Bezug genommene Übereinkommen nicht von allen, sondern lediglich von einem überwiegenden Teil der Mitgliedstaaten ratifiziert worden sein muss.163 Hierfür wird etwa angeführt, dass „resistente“ Mitgliedstaaten der Union ansonsten die Charta in ihrer Wirkung modifizieren und somit die Fortentwicklung des Grundrechtsschutzes behindern und verzögern könnten.164 Eine solche Herangehensweise ist allerdings nicht von der eindeutigen Entscheidung der Vertragsparteien – den „Herren der Verträge“ – gedeckt, die wohl nicht ohne Grund auf „alle“ Mitgliedstaaten abstellen wollten. bb) Abstellen auf Ratifizierung der Übereinkommen Für die Notwendigkeit der Ratifizierung spricht der Wortlaut unter Beachtung seines völkerrechtlichen Ursprungs. Gemäß Art. 2 Abs. 1 lit. g) WVK ist eine Vertragspartei ein Staat, der zugestimmt hat, durch den Vertrag gebunden zu sein, und für den der Vertrag in Kraft ist. Gebunden ist ein Staat im vorliegenden Kontext hiernach mit der Ratifizierung.165. Ebenso stellte der Entwurf H.4 von Art. 53 GRCh auf die Ratifizierung ab.166 Die Debatten zu H.4 im Grundrechtekonvent sind zu diesem Punkt allerdings nicht ergiebig.167 Dem Erfordernis der Ratifizierung durch alle 28 EU-Mitgliedstaaten genügen alle acht Übereinkommen, die Kernarbeitsnormen konkretisieren.168 Ebenso wurde Übereinkommen Nr. 81 über die Arbeitsaufsicht durch alle Mitgliedstaaten der EU ratifiziert.169 Die sonstigen Übereinkommen der ILO wurden nicht durch alle EUMitgliedstaaten ratifiziert.170 Einen sehr hohen Ratifizierungsstand, der bald die

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Hierzu unter Teil 1 E. II. 9. a) bb) (2). Vgl. Streinz/Michl, in: Streinz, GRCh, Art. 53, Rn. 10; de Witte, in: Peers, EU Charter of Fundamental Rights, Rn. 53.10; Heuschmid, SR 2014, 1, 10. 164 So etwa Pache, in: Pechstein/Nowak/Häde, GRCh, Art. 53, Rn. 29. 165 Vgl. Art. 11, 14 Abs. 1 lit. a) WVK und die standardisierten Schlussbestimmungen der ILO-Übereinkommen, siehe etwa Art. 5 f. Übk. Nr. 100. 166 CHARTE 4235/00 CONVENT 27 vom 18. April 2000, Art. H.4 „Schutzniveau“. 167 Vgl. Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 236 ff., s. a. S. 303 f. 168 Protokoll Nr. 29 zu Übk. Nr. 29 wurde hingegen lediglich durch 20 Mitgliedstaaten der EU ratifiziert, zuletzt durch Litauen im Dezember 2020. 169 Dies könnte auch im Zusammenhang mit der neuen Europäischen Arbeitsaufsicht und der Auslegung von Art. 41 GRCh von Relevanz werden könnte. 170 Siehe zur Berücksichtigung der Gewährleistungsinhalte der ESC in ihrer ursprünglichen und revidierten Fassung Schlachter, EuR 2016, 478, 481. 163

C. Berücksichtigung der ILO-Normen im Rahmen der Auslegung der GRCh

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Anforderung der Ratifizierung durch alle EU-Mitgliedstaaten erfüllen könnte, weisen Übereinkommen Nr. 122 und Nr. 144 auf.171 cc) Abstellen auf Beteiligung der Mitgliedstaaten am Abschluss der Übereinkommen und Empfehlungen Zu berücksichtigen ist allerdings, dass mehrere Bestimmungen der Charta auf Abkommen gestützt werden, die zum Zeitpunkt der Verabschiedung nicht von allen Mitgliedstaaten ratifiziert worden waren (etwa Art. 4 des Zusatzprotokolls Nr. 4 zur EMRK zur Bestimmung des Inhalts von Art. 19 GRCh).172 Hieraus wird gefolgert, dass die Beteiligung am Abschluss genüge. Etwa von Danwitz und Besselink führen zudem die Rechtsprechung des EuGH zur Herleitung allgemeiner Rechtsgrundsätze an.173 Dies hätte unter anderem zur Folge, dass auch rechtlich per se unverbindliche Akte wie Empfehlungen und Erklärungen im Rahmen der Auslegung der Charta zu berücksichtigen wären, sofern die Voraussetzung der Beteiligung aller Mitgliedstaaten am Abschluss der Norm vorliegt. Im Kontext der ILO wäre auf den Zeitpunkt der Annahme der Übereinkommen, Empfehlung oder Erklärung abzustellen, zu dem sämtliche Mitgliedstaaten der EU zumindest Mitgliedstaaten der ILO gewesen sein müssten. Allerdings waren einige Mitgliedstaaten der EU zum Zeitpunkt der Annahme wichtiger Übereinkommen nicht Mitglieder der ILO. Dies ist etwa für Deutschland und Spanien im Hinblick auf Übereinkommen Nr. 87 und Nr. 98 der Fall.174 dd) Kombination der Ansätze maßgeblich Ausgehend von der Rechtsprechung des EuGH zur Herleitung der allgemeinen Rechtsgrundsätze, die vor Inkrafttreten der GRCh den Grundrechtsschutz in der EU und ihren Rechtsvorgängerinnen sicherte, sind Übereinkommen der ILO zu berücksichtigen, die entweder von allen Mitgliedstaaten ratifiziert worden oder an deren Abschluss alle Mitgliedstaaten beteiligt waren. Wenn völkerrechtliche Abkommen der Mitgliedstaaten (auch ohne Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten) geeignet waren, als Grundlage eines unionsrechtlichen Grundrechts zu dienen, 171 Ratifizierung von Übk. Nr. 122 durch alle Mitgliedstaaten außer Luxemburg und Malta; Ratifizierung von Übk. Nr. 144 durch alle Mitgliedstaaten außer Luxemburg; vgl. auch die teilweise überholte Studie der Europäischen Kommission Analysis – in the light of the European Union acquis – of ILO up-to-date Conventions (Stand Juni 2013), S. 122 ff. 172 von Danwitz, in: Tettinger/Stern, GRCh, Art. 53, Rn. 17 m. w. N.; Schlachter, EuR 2016, 478, 481. 173 von Danwitz, in: Tettinger/Stern, GRCh, Art. 53, Rn. 17; Besselink, CMLR 1998, S. 629, 650 f. u. a. mit Verweis auf EuGH v. 18. Oktober 1989 – 374/87 (Orkem), Rn. 31. 174 Deutschland war von 1919 bis 1935 und erneut seit dem 12. Juni 1951 Mitglied der ILO; Spanien von 1919 bis 1941 und erneut seit dem 28. Mai 1956.

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würde es eigentümlich erscheinen, sie nicht im Rahmen des Optimierungsgebots des Art. 53 GRCh zu berücksichtigen. Mehrere Entscheidungen des EuGH sprechen für eine Kombination der Ansätze: In der 1974 entschiedenen Rechtssache Nold berief sich die Klägerin explizit darauf, dass sich ihr Eigentumsrecht und das Recht auf freie Berufsausübung aus den Verfassungen der Mitgliedstaten und verschiedenen internationale Verträge, namentlich der EMRK, herleiten lasse.175 Der EuGH verwies in seiner Entscheidung auf „internationale Verträge über den Schutz der Menschenrechte, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind“.176 Gemeint war die EMRK, die Frankreich erst kurz vor der Entscheidung – allerdings nach dem für die Entscheidung relevanten Zeitpunkt des zugrunde liegenden Sachverhalts – als letzter EWG-Mitgliedstaat ratifiziert hatte.177 In der späteren Entscheidung Rutili nahm der EuGH nicht nur auf Art. 8, 9, 10 und 11 der EMRK sondern auch auf Art. 2 des Protokolls Nr. 4 Bezug.178 Protokoll Nr. 4 war zum Zeitpunkt der Entscheidung ebenfalls nicht von allen Mitgliedstaaten ratifiziert worden.179 Ebenso legt der EuGH in den Entscheidungen Laval und Viking-Line bei der Herleitung eines unionsrechtlichen Rechts auf kollektive Maßnahmen internationale Rechtsakte zugrunde, „bei denen die Mitgliedstaaten mitgewirkt haben oder denen sie beigetreten sind“.180 Eine entsprechende Auslegung lässt sich auch auf die Erklärung der europäischen Säule sozialer Rechte stützen. Die Erklärung der europäischen Säule der sozialen Rechte geht auf eine Initiative der Kommission zurück und wurde am 17. November 2017 institutionsübergreifend vom Europäischen Parlament, der Kommission und dem Rat im Rahmen des Göteborger Sozialgipfels proklamiert. Sie umschreibt bestehendes Recht und beinhaltet politische Absichten zu gewissen Reformen auf dem Gebiet des Arbeits- und Sozialstandards (unter anderem faire Löhne, Hilfe bei Arbeitslosigkeit und Kündigungsschutz).181 Die Erklärung sieht vor, dass „kein Bestandteil der europäischen Säule sozialer Rechte derart ausgelegt werden [soll], dass Rechte und Grundsätze eingeschränkt oder beeinträchtigt werden, die im jeweiligen Anwendungsbereich durch Unionsrecht oder internationales Recht oder 175 EuGH v. 14. Mai 1974 – 4/73 (Nold), Rn. 12; s. a. Biltgen, in: Schlachter/Heuschmid/ Ulber, Arbeitsvölkerrecht, § 12, Rn. 35. 176 EuGH v. 14. Mai 1974 – 4/73 (Nold), Rn. 13. 177 Classen/Nettesheim, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 17, Rn. 3. 178 EuGH v. 28. Oktober 1975 – 36/75 (Rutili), Rn. 26, 28. 179 Hierzu Schweitzer, Anm. zu EuGH v. 28. Oktober 1975 – 36/75 (Rutili), NJW 1976, 467, 470. 180 EuGH v. 18. Dezember 2007 – C-341/05 (Laval), Rn. 90; EuGH v. 11. Dezember 2008 – C-438/05 (Viking-Line), Rn. 43. Zum Zeitpunkt der Entscheidungen hatten bereits alle EUMitgliedstaaten die Übereinkommen ratifiziert. 181 Siehe zum Inhalt der Erklärung: Eichenhofer, ZESAR 2018, 401, 403 ff.; Mülder, ZESAR 2019, 212, 215; mit Hinweis auf die völkerrechtlichen Bezüge auch Schubert/Jerchel, EuZW 2017, 551, 553.

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durch internationale Übereinkünfte, bei denen die Union oder alle Mitgliedstaaten Vertragspartei sind, anerkannt sind“.182 Diese Formulierung übernimmt hinsichtlich der völkerrechtlichen Bestimmungen den Wortlaut des Art. 53 GRCh. Interessant ist allerdings die sich anschließende Konkretisierung: „Dies schließt die am 18. Oktober 1961 in Turin unterzeichnete Europäische Sozialcharta und die einschlägigen Übereinkommen und Empfehlungen der Internationalen Arbeitsorganisation ein.“ Indem die Erklärung für „internationale Übereinkünfte, bei denen die Union oder alle Mitgliedstaaten Vertragspartei sind“, auch auf die ESC (als Ganzes) und Empfehlungen verweist, scheint das Erfordernis der Ratifizierung gerade nicht notwendig zu sein.183 Es sind somit sowohl Übereinkommen Nr. 29, Nr. 81, Nr. 87, Nr. 98,184 Nr. 100, Nr. 105, Nr. 111, Nr. 138, Nr. 182185 als auch sämtliche Übereinkommen, Empfehlungen und Erklärungen zu berücksichtigen, die zu einem Zeitpunkt durch die IAK angenommen wurden, zu dem alle Mitgliedstaaten der EU Mitglieder der ILO waren. Dies trifft unter anderem auf alle Übereinkommen zu, die nach dem 30. Juni 1992 verabschiedet wurden.186 Zu diesen zählen etwa das Seearbeitsübereinkommen, Übereinkommen Nr. 176 über die Teilzeitarbeit, Übereinkommen Nr. 177 über Heimarbeit, Übereinkommen Nr. 181 über private Arbeitsvermittler, Übereinkommen Nr. 183 über den Mutterschutz, Übereinkommen Nr. 189 über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte und das jüngst verabschiedete Übereinkommen Nr. 190 zur Beendigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt. 2. Gebot der Berücksichtigung im Rahmen des Befolgungsgebots nach Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh Im Gegensatz zu Art. 53 handelt es sich bei Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh um eine Transferklausel („Untergrenze“), die zur inhaltlichen Identität der einander ent182 Mitteilung der Kommission v. 26. April 2017, COM(2017) 251 final; kritisch mit Verweis auf den vergleichsweise niedrigen Schutzstandard des Rechts der ILO etwa im Hinblick auf die Rechtsfolgen unwirksamer Kündigungen: Deakin, in: Vandenbrouke/Barnard/De Bare, A European Social Union after the Crisis, S. 192, 206. ebenfalls kritisch Bogg/Ewing, Comparativ Labor Law & Policy Journal 2017, 211, 220: „Language aside, the Social Pillar is self-evidently a de facto deregulatory initative“. 183 Angesichts der weitreichenden Beteiligung der ILO an den Vorarbeiten zur Säule der sozialen Rechte IAA, Building a Social Pillar for European Convergence; hierzu Teklè, ELLJ 2018, 236, 241) erscheint dieser Verweis äußerst kurz. Weitere Verweise auf ILO-Standards enthält die Erklärung nicht. 184 Bejahend zu Übk. Nr. 87 und Nr. 98: Bruun, International Union Rights 2013, 8, 9. 185 Sollte künftig der Grundsatz gesunder und sicherer Arbeitsbedingungen in den Kreis der Kernarbeitsnormen aufgenommen werden, wären ebenfalls die einschlägigen Übereinkommen zum Arbeitsschutz zu berücksichtigen. 186 Seit diesem Datum ist Kroatien Mitglied der ILO; Slowenien wurde am 29. Mai 1992 Mitglied. Tschechien und die Slowakei wurden 1993 Mitglieder der ILO, waren zuvor aber als Tschechoslowakei seit 1919 Mitglied.

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

sprechenden Rechte der Charta und der EMRK führt.187 Der Schutzgehalt der Bestimmungen der GRCh kann nur nach oben abweichen.188 Dies gilt unabhängig vom jeweiligen Wortlaut.189 Eine entsprechende Sichtweise bestätigen auch die ChartaErläuterungen, nach denen „der durch die Charta gewährleistete Schutz niemals geringer als der durch die EMRK gewährte Schutz sein“ darf.190 Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh bindet die Verpflichteten der GRCh im Ergebnis unmittelbar an entsprechende Rechte der EMRK.191 Diese Transferklausel wäre gehaltlos, sofern sie nicht die Rechtsprechung des EGMR umfassen würde, welche die Vorgaben der EMRK konkretisiert. Auch die Präambel der GRCh geht davon aus, dass die Charta die Rechte „bekräftigt“, die sich aus der EMRK in Lesart des EGMR ergeben. Im Rahmen der Ausarbeitung der Charta war aber umstritten, ob die Transferklausel lediglich die zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Charta vorhandene Rechtsprechung des EGMR oder auch zukünftige Rechtsprechung umfasst.192 Die Charta-Erläuterungen treffen in dieser Hinsicht keine Entscheidung. Richtigerweise ist auch aktuellere Rechtsprechung des EGMR zu beachten.193 Dies ergibt sich schon aus der Notwendigkeit der Sicherung einer weitestgehenden Kohärenz zwischen den Garantien.194 Entsprechend überrascht es nicht, dass auch der EuGH zur Auslegung der Charta neuere Entscheidungen des EGMR berücksichtigt hat.195 Die Orientierung des EuGH an der Rechtsprechung des EGMR resultierte in seltenen Fällen sogar in einer Aufgabe früherer, eigener Rechtsprechung. So hatte der EuGH zunächst im Fall Hoechst196 entschieden, dass der allgemeine Grundsatz auf Achtung der Wohnung sich nicht auf die Geschäftsräume beziehe.197 Wenige Jahre später legte der EGMR Art. 8 EMRK dahingehend aus, dass dieser Schutz auch

187

Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 52, Rn. 30; Heuschmid, SR 2014, 1, 7; Biltgen, in: Schlachter/Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht, § 12, Rn. 23; Schlachter, SR 2019, 165, 165 f. 188 Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRCh; Jarass, GRCh, Art. 52, Rn. 62; von Danwitz, in: Tettinger/ Stern, GRCh, Art. 52, Rn. 52; Schlachter, EuR 2016, 478, 480; Däubler, AuR 2001, 380, 382. 189 Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 52, Rn. 30. 190 Charta-Erläuterungen zu Artikel 52. 191 von Danwitz, in: Tettinger/Stern, GRCh, Art. 52, Rn. 51. 192 Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 236 ff., S. 304. 193 von Danwitz, in: Tettinger/Stern, GRCh, Art. 52, Rn. 57; Jarass, GRCh, Art. 52, Rn. 65; Jarass, EuR 2013, 29, 43; Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 52, Rn. 37. 194 von Danwitz, in: Tettinger/Stern, GRCh, Art. 52, Rn. 57. 195 Etwa EuGH v. 22. Dezember 2010 – C-279/09 (DEB Deutsche Energiehandels- und Beratungsgesellschaft), Rn. 50 f. 196 EuGH v. 21. September 1989 – 46/87 u. 227/88 (Hoechst), Rn. 17. 197 Buergenthal/Thürer, Menschenrechte, S. 264.

C. Berücksichtigung der ILO-Normen im Rahmen der Auslegung der GRCh

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Geschäftsräume umfasse.198 In der Entscheidung Roquette Freres SA199 passte der EuGH die Reichweite des allgemeinen Grundsatzes ausdrücklich an die Rechtsprechung des EGMR zur EMRK an und stellte hierdurch eine Konkordanz zwischen den beiden Grundrechtsauslegungen her.200 Die Transferklausel des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh und die zugehörige Pflicht zur Berücksichtigung der normativen Aussagen in EGMR-Entscheidungen kann auch Auswirkungen auf das Berücksichtigungsgebot der Normen der ILO bei der Auslegung der Charta entfalten. Zwar umfasst die Transferklausel des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh nicht den methodischen Ansatz des Berücksichtigungsgebots anderer völkerrechtlicher Quellen, sondern beschränkt sich auf normative Aussagen.201 Da der EGMR aber bereits zahlreiche Wertungen der Übereinkommen der ILO in seine Auslegung der EMRK übernommen hat, dürfte ein „Transfer“ der Methodik auch nicht nötig sein. Die Überführung der Inhalte von Normen der ILO in die GRCh erfolgt in diesen Fällen über Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh also nur mittelbar, sofern der EGMR die Gewährleistungsgehalte der ILO-Normen ausdrücklich oder implizit übernimmt.202 Eine unmittelbare Bindung an Übereinkommen der ILO als „Mindestsockel“ besteht hingegen nicht. 3. Allgemeiner Rechtsgrundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung Die Möglichkeit beziehungsweise Freiheit der Berücksichtigung völkerrechtlicher Normen bei der Auslegung der GRCh besteht auch außerhalb der Maßgaben des Art. 52 Abs. 3, Abs. 7, 53 GRCh. So ist von der Existenz eines allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts auszugehen, dieses völkerrechtsfreundlich auszulegen.203 Zwar ist zu beachten, dass, anders als für die Auslegung des Sekundärrechts, eine völkerrechtsfreundliche Auslegung des Primärrechts bisher nicht ausdrücklich Eingang in die Rechtsprechung des EuGH gefunden hat (eine Ausnahme bildet hier die Herleitung allgemeiner Rechtsgrundsätze aus völkerrechtlichen Übereinkommen).204 Der EuGH ist aber frei, sämtliche völkerrechtliche Quellen zur Auslegung der GRCh heranzuziehen. Dieser methodische Ansatz kann aus der Vielzahl völ198 EGMR v. 16. Dezember 1992 – 13710/88 (Niemietz), Rn. 27 ff.; so auch EGMR v. 16. April 2002 – 37971 (Colas Est). 199 EuGH v. 22. Oktober 2002 – C-94/00 (Roquette Freres SA), Rn. 29. 200 Buergenthal/Thürer, Menschenrechte, S. 264 f. 201 A. A. wohl Heuschmid, SR 2014, 1, 8. 202 Ähnlich etwa Kocher, in: Pechstein/Nowak/Häde, Art. 28 GRCh, Rn. 4. 203 Andere als allgemeine Rechtsgrundsätze anerkannte Rechtsprinzipien sind etwa das Gebot der Verhältnismäßigkeit (EuGH v. 6. März 2014 – C-206/13 (Siragusa), Rn. 34); der Vertrauensschutz (EuGH v. 12. Dezember 1996 – C-241/95 (Intervention Board for Agricultural Produce), Rn. 27 ff.; die Rechtssicherheit (EuGH v. 21. März 2013 – C-92/11 (RWG), Rn. 11) und das das Verbot des Rechtsmissbrauchs (EuGH v. 28. Januar 2015 – C-417/13 (Starjakob), Rn. 55); vgl. Wißmann, in: Erfurter Kommentar, AEUV, Vorbm., Rn. 10. 204 Dörr, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV, Art. 47, Rn. 101 f.

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

kerrechtlicher Bezüge der GRCh gewonnen werden, wie etwa der Hervorhebung der EMRK in der Präambel und Art. 52 Abs. 3, 53 GRCh und den Verweisen auf völkerrechtliche Bestimmungen wie der ESC in den Erläuterungen der Charta, die gemäß Art. 52 Abs. 7 GRCh bei der Auslegung der Charta zu berücksichtigen sind. Ebenso stärkt Art. 52 Abs. 4 GRCh, nach dem Charta-Grundrechte im Einklang mit den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen auszulegen sind, die Annahme eines entsprechenden Ansatzes. Eine Vielzahl europäischer Verfassungen wird durch die mit deren Auslegung betrauten (Verfassungs-)Gerichte völkerrechtsfreundlich ausgelegt.205 Für die gebührende Berücksichtigung gerade der arbeitsvölkerrechtlichen Bestimmungen lassen sich zudem die völkerrechtsfreundlichen (insbesondere Art. 21 Abs. 2 lit. a), lit. b) EUV) und sozialen (Art. 3 Abs. 3 UAbs. 2, UAbs. 3 EUV und Art. 9,206 151207 AEUV) Zielbestimmungen des europäischen Primärrechts anführen. Diese Verfassungsziele haben mehr als bloßen Programmcharakter – ihnen kommt eine „rechtsverbindlich steuernde Wirkung“ zu.208 Bei bestehenden Entscheidungsspielräumen lenken die Zielbestimmungen das Ermessen der Unionsorgane sowie der mitgliedstaatlichen Organe bei der Durchführung des Unionsrechts.209 Ebenso werden die Ziele bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe herangezogen.210 4. Auslegung der Grundrechtecharta im Lichte der Sekundärrechtsakte und deren Erwägungsgründe Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang, dass die GRCh auch im Lichte des vorhandenen Sekundärrechts auszulegen ist, sofern auf dieses in den Erläuterungen zu GRCh verwiesen wird. Auch die Erwägungsgründe von Richtlinien und darin genannte Rechtserkenntnisquellen werden von Art. 52 Abs. 7 GRCh erfasst. 205 Ausdrücklich für das allgemeine Völkerrecht Art. 26 GG; Präambel der französischen Verfassung; Art. 10 der italienischen Verfassung; Art. 8 Abs. 1 der portugiesischen Verfassung; § 3 der estnischen Verfassung; Art. 29 der irischen Verfassung; Art. 135 der litauischen Verfassung. 206 Zu den völkerrechtlichen Bezügen von Art. 9 AEUV: Schorkopf, in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim, AEUV, Art. 9, Rn. 13 ff. 207 Gem. der Präambel der in Art. 151 AEUV in Bezug genommene Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1998 ist es „geboten“, sich von den Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation und der Europäischen Sozialcharta leiten zu lassen. 208 Müller-Graf, in: Dauses/Ludwigs, EU-Wirtschaftsrecht, A. I., Rn. 177. 209 Für Art. 3 EUV Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV, Art. 3, Rn. 8; EuGH v. 9. Juli 1969 – 1/69 (Italien/Kommission), Rn. 4/5. 210 Müller-Graf, in: Dauses/Ludwigs, EU-Wirtschaftsrecht, A. I., Rn. 181; für Art. 3 EUV Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV, Art. 3, Rn. 9. Einschränkend muss jedoch beachtet werden, dass bei Zielkonflikten der gerichtlich nur beschränkt überprüfbaren Prioritätensetzungskompetenz der zuständigen Unionsorgane maßgeblich ist, vgl. Müller-Graf, in: Dauses/Ludwigs, EU-Wirtschaftsrecht, A. I., Rn. 177.

C. Berücksichtigung der ILO-Normen im Rahmen der Auslegung der GRCh

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Über den „Umweg“ von Erwägungsgrund Nr. 6 der ArbeitszeitRL 2003/88/EG, welche die in den Charta-Erläuterungen erwähnte Richtlinie 93/104/EG ersetzte,211 i. V. m. Art. 52 Abs. 7 GRCh und der Charta-Erläuterung kann daher beispielsweise auch Übereinkommen Nr. 132 bei der Auslegung der GRCh berücksichtigt werden.212 5. Zwischenfazit Völkerrechtliche Quellen können daher auch außerhalb der Vorgaben der Art. 52 Abs. 3, Abs. 7, 53 GRCh zur Auslegung der GRCh herangezogen werden. Zwingend ist eine Berücksichtigung bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 53 GRCh. Eine Übernahme der Garantien muss nur im Rahmen von Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh erfolgen.

III. Berücksichtigung der Spruchpraxis der zuständigen Ausschüsse Sollte der EuGH bei der Auslegung der Charta ILO-Normen berücksichtigen, sind für eine authentische Bestimmung ihrer Gewährleistungsinhalte auf die Berichte und Schlussfolgerungen - des Sachverständigenausschusses, - des Normanwendungsausschusses, - des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit und - der im Rahmen des Klage- und Beschwerdeverfahrens gebildeten Ausschüsse zurückzugreifen. Hierfür spricht, dass die Unionslegislative in Sekundärrechtsakten, etwa in APS-Verordnung Nr. 978/2012 und ihren Vorgängerverordnungen, auf die Schlussfolgerungen der ILO-Ausschüsse verweisen.213 Dies kann auch im Rahmen der Bestimmung der Reichweite des Gebots der Berücksichtigung von ILOÜbereinkommen bei der Auslegung der GRCh nicht unberücksichtigt bleiben.214

211

Diese enthielt in Erwägungsgrund Nr. 9 den gleichlautenden Verweis auf die Grundsätze der ILO. 212 A. A. (wohl) Mülder, ZESAR 2019, 212, 215, die hierin einen Verstoß gegen die Normenhierarchie siet und davon ausgeht, dass Art. 31 Abs. 2 GRCh nicht im Lichte von Übk. Nr. 132, sondern nur in den in Art. 151 Abs. 1 AEUV sowie den in den Erläuterungen der GRCh genannten ESC und Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte ausgelegt werden darf. 213 Implizit trifft dies auch auf Erwägungsgrund Nr. 11 der Menschenhandelverhütungsund bekämpfungsRL 2011/36/EU zu, vgl. unter Teil 4 F. II. 3. 214 Hierzu näher unter Teil 4 E. I. 2.

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

1. Die Grant-Entscheidung zur Berücksichtigung von Spruchkörpern internationaler Organisationen Es existiert bisher keine Entscheidung des EuGH, in welcher ausdrücklich auf Schlussfolgerungen auch nur eines dieser Ausschüsse Bezug genommen wurde. In seinen vor Inkrafttreten der GRCh ergangenen Entscheidungen Laval und Viking-Line leitete der EuGH ein unionsrechtliches Recht auf Durchführung kollektiver Maßnahmen aus unterschiedlichen internationalen Rechtsakten her.215 Neben der ESC verwies er hierbei auf Übereinkommen Nr. 87.216 Hieraus könnte man folgern, dass der EuGH sich auf die Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses und des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit stützt.217 Schließlich enthält Übereinkommen Nr. 87 keine explizite Garantie des Streikrechts. Wie beschrieben vertreten jedoch sowohl der Sachverständigenausschuss als auch der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit seit Jahrzehnten die Auffassung, dass das Streikrecht von der Garantie gewerkschaftlicher Betätigung in Art. 3 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 87 umfasst ist. Allerdings beinhalten beide Entscheidungen des EuGH keinen ausdrücklichen Verweis auf die Spruchpraxis der ILO-Ausschüsse. Ohne diesen ausdrücklichen Verweis kann auch nicht zwingend davon ausgegangen werden, dass sich der EuGH bei seiner Entscheidungsfindung von der Spruchpraxis der Ausschüsse leiten ließ. Die Praxis des EuGH, Schlussfolgerungen und Berichte der ILO-Ausschüsse zumindest nicht in den Urteilsgründen aufzuführen, ist allerdings nicht untypisch im Vergleich zu seinem Umgang mit den Berichten anderer Menschenrechtsausschüsse. So hat der EuGH Schlussfolgerungen von Ausschüssen, die mit der Überwachung menschenrechtlicher Abkommen betraut sind, bislang nur äußerst selten rezipiert. Auch die Generalanwälte haben die Berichte von Menschenrechtsausschüssen nur selten in ihren Schlussanträgen aufgegriffen. Zwar ist zuletzt in den Schlussanträgen eine Tendenz zur häufigeren Rezeption erkennbar. Zumeist diente der Verweis aber 215 GA Jacobs lehnte in seinen SA v. 28. Januar 1999 – C-67/96 u. a. (Albany), Rn. 133 ff., Rn. 160 einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Rechts auf Kollektivverhandlungen wegen fehlender nationaler und völkerrechtlicher Normen ab, wobei er auch Übk. Nr. 87 und Nr. 98 rezipierte (Rn. 141). 216 EuGH v. 18. Dezember 2007 – C-341/05 (Laval), Rn. 90; EuGH v. 11. Dezember 2008 – C-438/05 (Viking-Line), Rn. 43; Skouris, RdA-Beil. 2009, 25, 28 geht davon aus, dass „die Anerkennung der Koalitionsfreiheit einschließlich des Streikrechts als gemeinschaftliches Grundrecht angesichts der unterschiedlichen Rechtstraditionen und Rechtsauffassungen in den Mitgliedstaaten keine Selbstverständlichkeit“ gewesen sei. Hiermit dürfte Skouris wohl die konkrete Form der Arbeitskampfmaßnahme im Vorlageverfahren, nämlich einen Boykott, gemeint haben. Kritisch zur Herleitungsmethodik des EuGH: Engels, ZESAR 2008, 475, 476 f.; Rebhahn, ZESAR 2008, 109, 110 f.; Temming, ZESAR 2008, 231, 239, der einen weiteren Verweis auf Art. 8 Abs. 1 lit. d) IPwskR gewünscht hätte; ebenso Joussen, ZESAR 2008, 333, 335 ff. und Maeßen, Auswirkungen der EuGH-Rechtsprechung auf das deutsche Arbeitskampfrecht, S. 84. Zu früheren Entscheidung über die gewerkschaftlichen Rechte von EUBediensteten: Novitz, International and European Protection of the Right to Strike, S. 249 f. 217 Hiervon geht etwa Heuschmid, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 11, Rn. 151 aus.

C. Berücksichtigung der ILO-Normen im Rahmen der Auslegung der GRCh

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nicht der Untermauerung von Rechtsansichten, sondern (nur) als Beleg für Tatsachenbehauptungen.218 Eine Auseinandersetzung mit der Frage, unter welchen Voraussetzungen Berichte von Menschenrechtsausschüssen in die Entscheidungsfindung des EuGH einfließen können, erfolgte einzig in der Rechtssache Grant zur Auslegung des Art. 119 EGV (nun Art. 157 AEUV). In dieser Entscheidung wies der EuGH auf Schlussfolgerungen des UN-Ausschusses für Menschenrechte hin, übernahm dessen Position allerdings nicht (hierzu unter Teil 4 C. III. 1.). Der Grant-Entscheidung219 lag ein englisches Vorabentscheidungsverfahren des Industrial Tribunal Southhampton zugrunde, in dem Frau Grant von ihrer Arbeitgeberin, der South West Trains Ltd., die Gewährung einer Fahrtvergünstigung an ihre Lebenspartnerin verlangte. Diese Fahrtvergünstigung wurde durch South West Trains nicht nur an Beschäftigte vergeben, sondern auch u. a. unverheirateten Partnern gewährt, die seit mindestens zwei Jahren mit dem Arbeitnehmer/der Arbeitnehmerin in häuslicher Gemeinschaft zusammenlebten. Jedoch musste es sich um eine heterosexuelle Beziehung (common law opposite sex spouses) handeln.220 Aus diesem Grund gewährte South West Trains der Lebenspartnerin von Frau Grant keine Vergünstigung. a) Ablehnung der Spruchpraxis des UN-Ausschusses für Menschenrechte zur Auslegung von Art. 28 IPbpR Der EuGH entschied, dass die Nichtgewährung der Fahrtbegünstigung an die Partnerin von Frau Grant keine Diskriminierung wegen des Geschlechts im Sinne von Art. 119 EGV (nun Art. 157 AEUV) darstelle. Er folgte somit nicht der Ansicht des GA Elmer221 und Frau Grant, die eine unmittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts angenommen hatten. Frau Grant hatte ihre Ansicht unter anderem auf eine entsprechende Entwicklung im internationalen Menschenrechtsschutz gestützt. Konkret führte sie die Auslegung des Merkmals „Geschlechts“ in Art. 28 IPbpR durch den Ausschuss für Menschenrechte an. Dieser ging davon aus, dass Art. 28 IPbpR auch den Schutz vor Diskriminierungen wegen der sexuellen Orientierung der Person umfasst.222 218 Häufiger wurden durch den EuGH Entscheidungen des IGH (EuGH v. 27. Februar 2002 – C-37/00 (Weber); EuGH v. 17. Januar 2012 – C-347/10 (Salemink); EuGH v. 21. November 2012 – C-366/10 (Air Transport Association)) und des WTO Dispute Settlement Body (EuGH v. 16. November 2004 – C-245/02 (Anheuser Busch); EuGH v. 9. September 2008 – C-120/06 (FIAMM); EuGH v. 30. September 2003 – C-94/02 P (BIRB); EuGH v. 27. September 2007 – C-351/04 (Ikea Wholesale); EuGH v. 18. Juli 2007 – C-310/06 (FTS International)) aufgegriffen, vgl. de Burca, Virginia Journal of International Law 2015, S. 685, 707. 219 EuGH v. 17. Februar 1998 – C-249/96 (Grant). 220 Ibid., Rn. 9 und 25. 221 GA Elmer, SA v. 30. September 1997 – C-249/96 (Grant), Rn. 19 ff. 222 EuGH v. 17. Februar 1998 – C-249/96 (Grant), Rn. 43 unter Verweis auf UN-Menschenrechtsausschuss, Mitteilung Nr. 488/1992 (Tonnen/Australien), CCPR/C/50/D/488/1992, Rn. 8.7.

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

Der EuGH stellte zunächst fest, dass er dem IPbpR in ständiger Rechtsprechung Rechnung trage.223 Die Schlussfolgerungen des Ausschusses für Menschenrechte seien allerdings rechtlich nicht verbindlich. Es handele sich nicht um eine „gerichtliche Instanz“.224 Zudem sei die Ausdehnung des Schutzbereichs von Art. 28 IPbpR auf die Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung „ohne besondere Begründung“ erfolgt. Sie gebe nach Ansicht des EuGH auch nicht die zum Zeitpunkt seiner Entscheidung allgemein anerkannte Auslegung des in verschiedenen völkerrechtlichen Übereinkünften enthaltenen Begriffs der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts wieder.225 Aus diesen Gründen könne der EuGH die Bedeutung von Art. 119 EGV nur unter Berücksichtigung der klassischen Auslegungsmethoden226 bestimmen.227 b) Folgerung abstrakter Kriterien für Berücksichtigung von Spruchpraxis Es ist zu beachten, dass der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen die Spruchpraxis der Ausschüsse unerwähnt lässt.228 Die Auseinandersetzung des EuGH mit der Spruchpraxis des Ausschusses für Menschenrechte ist daher wohl vorrangig auf den entsprechenden Vortrag der Klägerin zurückzuführen. Dies allein erklärt allerdings nicht, warum die Auseinandersetzung in einem – für Entscheidungen des EuGH untypischen – Umfang (von fünf Randnummern) erfolgt. Der EuGH pflegt keine Tradition weit ausholender „Grundsatzurteile“,229 sondern begrenzt die Urteilsgründe penibel auf die Beantwortung der konkreten Vorlagefrage. Er erläutert in der Regel auch nicht die angewendete Dogmatik, um sich nicht vorschnell bestimmten nationalen Rechtstraditionen anzuschließen oder Rechtsentwicklungen vorzugreifen.230 Es ist daher davon auszugehen, dass der EuGH die ausführliche Ablehnung der Spruchpraxis des Ausschusses für Menschenrechte für notwendig hielt. Zunächst lassen die Aussagen des EuGH, der Ausschuss sei keine gerichtliche Instanz und seine Feststellungen hätten keinen rechtsverbindlichen Charakter, nicht den Schluss zu, dass sie grundsätzlich keine Berücksichtigung finden könnten. Diese Aussagen dürften stattdessen dazu gedient haben, den unterschiedlichen Stellenwert von Aussagen des Ausschusses für Menschenrechte und des EGMR in der Rechtsfindung des EuGH deutlich zu machen. Letztere behandelt der EuGH im Ergebnis wie frühere eigene Entscheidungen. Im Hinblick auf die Spruchpraxis des 223 224 225 226 227 228 229 230

EuGH v. 17. Februar 1998 – C-249/96 (Grant), Rn. 44. Ibid., Rn. 46. Ibid., Rn. 46 f. Hierzu Levits, SR 2015, 121. EuGH v. 17. Februar 1998 – C-249/96 (Grant), Rn. 47. GA Elmer, SA v. 30. September 1997 – C-249/96 (Grant), Rn. 19 ff. von Danwitz, EuZA 2010, 6, 14. Ibid., 10.

C. Berücksichtigung der ILO-Normen im Rahmen der Auslegung der GRCh

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Ausschusses für Menschenrechte möchte der EuGH somit deutlich machen, dass kein Befolgungsgebot oder gar eine Befolgungspflicht besteht. Die Ablehnung der Spruchpraxis lässt sich im Erfordernis des Vorliegens dreier Kriterien verstehen, die an die Berücksichtigung und Übernahme einer Spruchpraxis gestellt werden: Erstens fehlte dem EuGH eine nachvollziehbare Begründung des Ergebnisses des Ausschusses.231 Ohne eine solche Begründung ist der EuGH nicht gewillt, Schlussfolgerungen eines Ausschusses blindlings Folge zu leisten. Zweitens legt der EuGH Wert auf Konsistenz der herangezogenen Spruchpraxis mit der Spruchpraxis anderer völkerrechtlicher Gerichte und Spruchkörper.232 Ein Gegenbeispiel für die nicht übernommene breite Auslegung von Art. 26 IPbpR durch den Ausschuss für Menschenrechte wurde vom EuGH ausdrücklich aufgegriffen. So rezipiert der EuGH, neben einer Entscheidung des EGMR zu Art. 12 EMRK233 die Spruchpraxis der Europäischen Kommission für Menschenrechte, die den Schluss zulasse, dass Art. 14 EMRK nicht vor Diskriminierungen aufgrund homosexueller Lebenspartnerschaften schütze.234 Das Erfordernis, dass sich die Spruchpraxis nicht mit anderer Spruchpraxis widersprechen darf, ist schon vor dem Hintergrund nachvollziehbar, dass zwischen den menschenrechtlichen Abkommen keine Hierarchie besteht und der EuGH sich durch die Rezeption einer Quelle nicht in Konfrontation mit einer anderen Quelle begeben möchte.235 Sollte der EuGH etwa je über Burka-Verbote zu entscheiden haben, wären die von der Rechtsprechung des EGMR abweichenden Einschätzungen des Menschenrechtsausschusses daher wohl ebenfalls nicht zu berücksichtigen.236 Im Hinblick auf die Ausschüsse der ILO dürfte das Erfordernis der Konsistenz der herangezogenen Spruchpraxis keine wesentliche Hürde darstellen, da die Ausschüsse selbst bemüht sind, untereinander Konsistenz zu wahren und hierbei durch das IAA unterstützt werden. Zudem dürfte, soweit ersichtlich, die Spruchpraxis in der Regel auch mit den Bemerkungen des Europäischen Ausschusses für soziale Rechte vereinbar sein. Außerdem greift etwa der 231

EuGH v. 17. Februar 1998 – C-249/96 (Grant), Rn. 46. Ibid., Rn. 47. 233 Ibid., Rn. 34. 234 Ibid., Rn. 33: Für die Europäische Kommission für Menschenrechte hatte der EuGH nicht darauf hingewiesen, dass es sich nicht um eine „gerichtliche Instanz“ handele. 235 Walter, ZaöRV 2015, 753, 765 ff. sieht eine Gefahr der Zunahme der Fragmentierung der Spruchpraxis der Ausschüsse, die er am Beispiel der Sarrazin-Berichte des UN-Rassendiskriminierungsausschusses erläutert. 236 Vgl. EGMR v. 1. Juli 2014 – 43835/11 (SAS); UN-Menschenrechtsausschuss v. 17. Oktober 2018 – Vorlage 2807/2016, CCPR/C/123/D/2807/2016; UN-Menschenrechtsausschuss v. 7. Dezember 2018 – Vorlage 2747/2016, CCPR/C/123/D/2747/2016, hierzu: Berry, The UN Human Rights Committee Disagrees with the European Court of Human Rights Again: The Right to Manifest Religion by Wearing a Burqa, Beitrag auf Ejil-talk v. 3. Januar 2018, abrufbar unter: https://www.ejiltalk.org/the-un-human-rights-committee-disagrees-withthe-european-court-of-human-rights-again-the-right-to-manifest-religion-by-wearing-a-burqa/. 232

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

Sachverständigenausschuss in general surveys auch die Spruchpraxis der UNMenschenrechtsausschüsse auf.237 Die Orientierung des EGMR an der Spruchpraxis der ILO-Ausschüsse sichert ebenfalls Konsistenz. Drittens können Schlussfolgerungen des Menschenrechtsausschusses den EuGH jedenfalls nicht dazu veranlassen, die Bedeutung einer Bestimmung des Unionsrechts zu „erweitern“.238 Dies erscheint angesichts des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung239 als angebracht.240 Da der EuGH aber im vorliegenden Fall selbst die Reichweite des Unionsrechts durch Auslegung bestimmte, lässt sich dieses Kriterium als Hinweis auf die anerkannte Auslegungsmethodik des Unionsrechts begreifen (keine Rechtsfortbildung contra legem), welche die Grenze einer Übernahme externer Schlussfolgerungen bildet. Da im vorgelegten Fall keines der drei kumulativen Kriterien (nachvollziehbare Begründung, Konsistenz mit anderer Spruchpraxis und keine Ausweitung des Unionsrechts contra legem) gegeben war, konnte sich der EuGH dem Ausschuss für Menschenrechte im konkreten Fall nicht anschließen. c) Weitere Entscheidungen mit Bezügen zu Schlussfolgerungen internationaler Menschenrechtsausschüsse Während die Schlussfolgerungen der Ausschüsse der ILO nach wie vor nicht (ausdrücklich) in Entscheidungen des EuGH berücksichtigt werden, finden sich in wenigen Entscheidungen nach Grant Bezugnahmen auf Berichte internationaler Ausschüsse. Nur etwas häufiger rezipieren Generalanwälte die Berichte. Die Bezugnahmen des EuGH und der Generalanwälte lassen sich in zwei Kategorien unterteilen: Erstens sind Verweise auf Berichte des UN-Menschenrechtsrats und von Sonderberichterstattern zumeist auf den Beleg von Behauptungen gerichtet. So dienten die Berichte etwa als Nachweis für Tendenzen autoritärer Regime zur Beschränkung des Zugangs zum Internet beziehungsweise der Zensur von Inhalten,241 fehlender Erforderlichkeit der Vorratsdatenspeicherungen zur Abwehr schwerer Straftaten242 oder der Opferzahlen militärischer Operationen.243

237

Ob zwischen der Spruchpraxis des Menschenrechtausschusses und den Ausschüssen der ILO eine vollständige Konsistenz besteht, kann hier allerdings nicht bestimmt werden. 238 EuGH v. 17. Februar 1998 – C-249/96 (Grant), Rn. 47. 239 Nun Art. 5 EUV. 240 Im konkreten Fall war dieser Hinweis wohl auch der politischen Dimension des Falls geschuldet. 241 GA Jääskinen, SA v. 25. Juni 2013 – C-131/12 (Google Spain), Fn. 85. 242 GA Saugmandsgaard Øe, SAv. 19. Juli 2016 – C-203/15, C-698/15 (Tele2 Sverige u. a.), Fn. 28, 84 – 87. 243 GA Mengozzi, SA v. 17. Mai 2018 – C-585/16 (Alheto), Fn. 36.

C. Berücksichtigung der ILO-Normen im Rahmen der Auslegung der GRCh

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Zweitens greifen – trotz der deutlichen Absage des EuGH an eine Übernahme der Spruchpraxis des Menschenrechtsausschusses in der Grant-Entscheidung – mehrere Generalanwälte in ihren Schlussanträgen244 – nicht hingegen der EuGH selbst – Übereinkommen und Spruchpraxis des Menschenrechtsausschusses zur Auslegung des Unionsrechts auf.245 Ebenso wird wiederholt durch Generalanwälte auf Spruchpraxis des UN-Rassendiskriminierungsausschusses verwiesen, wie etwa im Verfahren Egenberger.246 Auch die Berichte und Schlussfolgerungen anderer internationaler Menschenrechtsausschüsse finden vereinzelt Berücksichtigung in Schlussanträgen.247 2. Zwischenfazit Basierend auf den Ausführungen des EuGH in der Rechtssache Grant ist davon auszugehen, dass folgende Kriterien für die Rezeption der Schlussfolgerungen von Menschenrechtsausschüssen bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts erfüllt sein müssen.248 Erstens muss die Spruchpraxis durch den Ausschuss begründet werden, sodass sich der EuGH mit dieser Begründung auseinandersetzen kann und hiernach zum Ergebnis gelangt, ob ihn die Spruchpraxis überzeugt oder nicht überzeugt. Zweitens muss die Spruchpraxis unter den Menschenrechtsausschüssen 244 GA Wathelet, SA v. 21. Juni 2018 – C-391/16, C-77/17, C-78/17 (M.), Fn. 19; GA CruzVillalón, SA v. 6. Oktober 2015 – C-443/14, C-444/14 (Alo u. a.), Fn. 41; GA Bot, SA v. 27. September 2012 – C-356/11, C-357/11 (O und S), Fn. 31; GA Bot, SA v. 19. April 2012 – C71/11 (Y.), Fn. 16; GA Mazák, Stellungnahme v. 10. November 2009 – C-357/09 PPU, Fn. 33; GA Colomer, SA v. 6. September 2007 – C-267/06 (Maruko), Fn. 87 (u. a. auf dieselbe Spruchpraxis wie im Fall Grant); GA Stix-Hackl, SA v. 18. März 2004 – C-36/02 (Omega). Rn. 94; GA Bobek, SA v. 21. März 2017 – C-190/16 (Fries), Fn. 32. In letzterem Verfahren zur Altergrenze von Piloten verwieß GA Bobek auf die Entscheidung in der Individualbeschwerde des UN-Menschenrechtsausschuss v. 25. März 2003, Communication Nr. 983/2001 (John K. Love et al. v. Australia), CCPR/C/77/D/983/2001, in welcher der Menschenrechtsausschuss darauf hinwies, dass kein Übereinkommen der ILO zwingende Altersgrenzen bei Erreichen des Rentenalters verbiete (vgl. Rn. 8.2). Tatsächlich lässt sich keine Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses für vom allgemeinen Renteneintrittsalter abweichenden Altersgrenzen für Piloten finden, sodass GA Bobek hier überhaupt keine Spruchpraxis der ILO rezipieren konnte. 245 Auf die Rezeption von Bedenken des Menschenrechtsausschusses in einem Begründeten Vorschlags der Europäischen Kommission zur Rechtsstaatlichkeit in Polen (Begründeten Vorschlag der Kommission vom 20. Dezember 2017 nach Art. 7 Abs. 1 des Vertrags über die Europäische Union zur Rechtsstaatlichkeit in Polen (COM(2017) 835 final) wird in der Entscheidung im Eilvorabentscheidungsverfahren EuGH v. 25. Juli 2018 – C-216/18 PPU (L.M.) zwar hingewiesen. Diese wird aber in den Gründen nicht aufgegriffen. 246 GA Tanchev, SA v. 9. November 2017 – C-414/16 (Egenberger), Rn. 125; s. a. GA Kokott, SA vom 12. März 2015 – C-83/14 (CHEZ Razpredelenie Bulgaria), Fn. 23. 247 Etwa Verweis auf Beschlüsse des Exekutiv-Komitees des UNHCR durch GA Mengozzi, SA v. 1. Juni 2010 – C-57, C-101/09 (B und D), Rn. 42 f., die dieser als nicht verbindlich aber zu berücksichtigen einstuft. 248 Kritischer: Schadendorf, EuR 2015, 28, 38.

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

der gleichen oder anderer internationaler Organisationen unumstritten sein. Drittens darf die Auslegung des Unionsrechts unter Übertragung der Bemerkung des Ausschusses nicht zu einer Ausweitung des Unionsrechts contra legem führen. Dies gilt auch im Fall der Bestimmung des Gewährleistungsinhalts der GRCh, weshalb die konkrete Gegenüberstellung der Rechte und Grundsätze der GRCh mit den Normen der ILO umso wichtiger ist.

IV. Parallele Normen: GRCh – ILO-Normen Die GRCh ermöglicht nicht die Rezeption sämtlicher ILO-Normen. Übereinkommen, Empfehlungen und Spruchpraxis können als Rechtserkenntnisquelle nur herangezogen werden beziehungsweise müssen im Rahmen von Art. 53 GRCh herangezogen werden, sofern sachlich einschlägige Gewährleistungsinhalte der GRCh existieren. Zur Bestimmung des Gewährleistungsgehalts von Art. 12 und Art. 28 GRCh können insbesondere Übereinkommen Nr. 87 und Nr. 98 herangezogen werden.249 Daneben ergeben sich weitere inhaltliche Überschneidungen zwischen Art. 12 und Art. 28 GRCh und den „up-to-date“ Übereinkommen250 Nr. 135, Nr. 141, Nr. 151, Nr. 154251 und den „up-to-date“ Empfehlungen Nr. 91, Nr. 113, Nr. 143, Nr. 149, Nr. 159, Nr. 163. Übereinkommen Nr. 11, Nr. 84 (Interimstatus) sowie die Empfehlungen Nr. 92, Nr. 94, Nr. 129 und Nr. 130 (Status in Überprüfung) können ebenfalls von Relevanz sein. Bei Rezeption dieser Übereinkommen und Empfehlungen ist allerdings zu beachten, dass manche ihrer Bestimmungen in der ILO als teilweise veraltet angesehen werden. Die Konsistenz des europäischen Antidiskriminierungsrechts mit den arbeitsvölkerrechtlichen Normen und der begleitenden Spruchpraxis kann durch eine entsprechende Auslegung von Art. 21 und Art. 23 GRCh sichergestellt werden.252 Zu beachten ist bei der Anwendung von Art. 23 Abs. 1 GRCh, dass die allgemeinen Auslegungsregeln aufgrund der Sonderregelung in Art. 52 Abs. 2 GRCh nicht zur 249

Die Erläuterungen zu Art. 28 GRCh greifen Übereinkommen im Gegensatz zu Art. 6 ESC und Nr. 12 – 14 der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer und der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 11 EMRK nicht auf. Hierbei ist jedoch die Entstehungsgeschichte der gesamten Charta gebührend zu berücksichtigen. So stellt es wohl den Normalfall dar, dass sich die Grundrechte der Charta zunächst an der EMRK und den anderen regionalen, d. h. europäischen Verträgen orientieren sollte, da man hoffte auf diesem Wege schneller zu einem Konsens der an der Ausarbeitung der Charta Beteiligten zu gelangen. Aufgrund der Verweise der Rechtsprechung des EGMR auf die Übereinkommen der ILO zur Auslegung von Art. 11 EMRK kann aber zumindest eine mittelbare Referenz bejaht werden. 250 Zum Teil handelt es sich um sektorale Übereinkommen. 251 Vgl. Kocher, in: Pechstein/Nowak/Häde, GRCh, Art. 28, Rn. 3. 252 Zum weitestgehend gleichlaufenden Anwendungsbereich von Art. 21 GRCh und den Übereinkommen der ILO Seifert, IJCLLIR 2013, 39, 61, s. a. die Darstellung der einschlägigen Übk. unter Teil 4 F. I. 1. a).

C. Berücksichtigung der ILO-Normen im Rahmen der Auslegung der GRCh

291

Anwendung kommen.253 Gemäß Art. 52 Abs. 2 GRCh erfolgt die Ausübung der durch die GRCh anerkannten Rechte, „die in den Verträgen geregelt sind“, im Rahmen der „in den Verträgen festgelegten Bedingungen und Grenzen“. Art. 52 Abs. 2 GRCh sperrt somit die Anwendung der Auslegungsregeln der Artt. 52 ff. GRCh im Hinblick auf Art. 23 Abs. 1 GRCh.254 Da aber auf die Auslegungsmethodik von Art. 157 AEUV zurückzugreifen ist und der EuGH zur Auslegung von Art. 157 AEUV bereits auf Übereinkommen Nr. 100 zurückgegriffen hat,255 ergeben sich keine Unterschiede im Vergleich zum Berücksichtigungsgebot des Art. 53 GRCh. Weitere Überschneidungen seien an dieser Stelle (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) nur kurz konturiert:256 - Art. 10, 11 GRCh und Übereinkommen Nr. 111 (Kernarbeitsnorm); Übereinkommen Nr. 158 (keine Entscheidung über Status getroffen); - Art. 15 Abs. 1 GRCh und Übereinkommen Nr. 122, Nr. 142, Nr. 181, Empfehlung Nr. 122, Nr. 169, Nr. 189, Nr. 189, Nr. 193, Nr. 198;257 Übereinkommen Nr. 2, Nr. 88, Empfehlung Nr. 83;258 - Art. 27 GRCh und Übereinkommen Nr. 135, Nr. 154;259 - Art. 29 GRCh und Übereinkommen Nr. 169260 sowie Übereinkommen Nr. 96;261 - Art. 30 GRCh und Übereinkommen Nr. 158, Empfehlung Nr. 166;262 - Art. 31 Abs. 1 GRCh und Übereinkommen Nr. 155,263 Protokoll Nr. 155, Übereinkommen Nr. 161, Nr. 187, Empfehlung Nr. 31, Nr. 97, Nr. 102, Nr. 164, Nr. 171, Nr. 194, Nr. 197264 sowie weitere gefahrenspezifische Übereinkommen;265 - Art. 33 Abs. 2 GRCh und Übereinkommen Nr. 183, Empfehlung Nr. 191;266 Übereinkommen Nr. 2 und Nr. 3;267 253 254 255 256

Rn. 2. 257

Vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, GRCh, Art. 52, Rn. 12. So i. E. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, GRCh, Art. 52, Rn. 12. Siehe unter Teil 4 F. I. 1. c). Siehe auch Krebber, in: Schlachter/Heinig, Europäisches Arbeits- und Sozialrecht, § 2,

Diese sind up-to-date. Diese haben Interimstatus. 259 Beide up-to-date. 260 Up-to-date. 261 Interim-status, vgl. auch Kocher, in: Pechstein/Nowak/Häde, GRCh, Art. 29, Rn. 3. 262 Bislang keine Entscheidung über Status getroffen. 263 Vgl. Kocher, in: Pechstein/Nowak/Häde, GRCh, Art. 30, Rn. 3. 264 Diese sind up-to-date. 265 Siehe etwa Lörcher, in: Kohte/Faber/Feldhoff, Ges. ArbeitsschutzR, Grundrecht, Anhang, Rn. 2. 266 Up-to-date. 258

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

- Art. 34 Abs. 3 GRCh und Übereinkommen Nr. 102.268 - Es existieren bisher keine Übereinkommen oder Empfehlungen, die primär zum Schutz der Daten der Arbeitnehmer verabschiedet wurden und daher zur Bestimmung des Gewährleistungsinhalts von Art. 8 GRCh herangezogen werden könnten. Als Rechtserkenntnisquelle kann allerdings der (wenig konkrete) „code of practice“269 herangezogen werden.270 In spezifischen Konstellationen sind Art. 6 Übereinkommen Nr. 181 (private Arbeitsvermittlung) sowie Art. 4 Übereinkommen Nr. 171 (Nachtarbeit) einschlägig.271 – Zu Art. 31 Abs. 2 GRCh siehe unter Teil 4 F. I. 2. a); zu Art. 32 GRCh: siehe unter Teil 4 F. II. 1.

D. Gebot der Berücksichtigung der ILO-Normen bei der Bestimmung allgemeiner Rechtsgrundsätze Eine weitere Schnittstelle über den Grundrechtsschutz der EU bilden die allgemeinen Rechtsgrundsätze i. S. v. Art. 6 Abs. 3 EUV. In der Vergangenheit hatte der EuGH mehrfach bei der Statuierung allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts auf die Übereinkommen der ILO zurückgegriffen.272

I. Allgemeine Rechtsgrundsätze als eigene Rechtsquelle des Grundrechtsschutzes neben der GRCh Mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon lag es eigentlich nahe, auf die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts als Bestandteil des Primärrechts zu verzichten.273 Mit der Inkorporierung der GRCh existierte nun ein Katalog geschriebener Grundrechte. Zudem wurde ausdrücklich bestimmt, dass die bisherige Rechtsprechung des EuGHs zu den allgemeinen Grundsätzen bei der Auslegung der

267

Rn. 2. 268

Beide mit Interimstatus; vgl. auch Kocher, in: Pechstein/Nowak/Häde, GRCh, Art. 33,

Up-to-date; vgl. auch Kocher, in: Pechstein/Nowak/Häde, GRCh, Art. 33, Rn. 3. IAA, Protection of workers’ personal data. 270 Vgl. Heuschmid/Lörcher, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, GRCh, Art. 8, Rn. 3 m. w. N. 271 Vgl. Böhmert, Das Recht der ILO, S. 137. 272 Siehe zum Recht auf kollektive Maßnahmen unter Teil 1 D. II. 1. a) dd); zum Grundsatz der Gleichbehandlung der Geschlechter unter Teil 4 F. I. 1. c) aa), zum Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub unter Teil 4 F. I. 2. c) bb) – gg). 273 Vgl. Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 3 Rn. 3. 269

D. Berücksichtigung bei der Bestimmung allgemeiner Rechtsgrundsätze

293

Charta beachtlich ist.274 Soweit sich die Gewährleistungsgehalte der allgemeinen Rechtsgrundsätze mit denen der GRCh überschneiden, verlieren aufgrund des Vorrangs des geschriebenen Rechts erstere ihre (eigenständige) Bedeutung.275 Dies bedeutet jedoch nicht, dass Art. 6 Abs. 3 EUV nur noch als „Residualkategorie“ zu verstehen ist.276 Die Struktur von Art. 6 EUV deutet darauf hin, dass sich der Grundrechtsschutz der EU nicht nur auf die GRCh stützt, sondern ein Nebeneinander der verschiedenen Quellen besteht. Art. 6 Abs. 3 EUV ermöglicht somit weiterhin, aus den aufgeführten Rechtserkenntnisquellen (bisher unbekannte) Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze herzuleiten („Öffnungsklausel zur Optimierung des Grundrechtsschutzes“277).278

274 Dies folgt auch im Ergebnis aus Art. 52 Abs. 3, 4 GRCh. Zu den übereinstimmenden Artikeln von GRCh und EMRK: Terhechte, in: Von der Groeben/Schwarze/Hatje, GRCh, Art. 52, Rn. 15 ff. Der EuGH hat in einer Vielzahl von Entscheidungen nach dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages Sachverhalte an Charta-Grundrechten geprüft, in seiner Begründung aber Rechtsprechung zu allgemeinen Grundsätzen angeführt, vgl. (statt vieler) EuGH v. 19. Januar 2010 – C-555/07 (Kücükdeveci), Rn. 22 und Rn. 56. 275 Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14, Rn. 11; Herresthal, ZEuP 2014, 238, 245 f. 276 So aus Gründen der Rechtsklarheit: von Danwitz, in: Grabenwarter, Europäischer Grundrechteschutz, § 6, Rn. 19. 277 Borowsky, in: Meyer, GRCh, Vorb., Rn. 15; ähnlich Ludwig, EuR 2011, 715, 733. 278 Terhechte, in: Von der Groeben/Schwarze/Hatje, GRCh, Vorb. zur GRCh, Rn. 21; Jarass, GRCh, Einl., Rn. 35; Peers, HRLR 2012, 375, 384 f.; Streinz, in: Streinz, EUV, Art. 6, Rn. 35; Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14, Rn. 11; Dougan, CMLR 2008, S. 617, 665; kritisch: Schorkopf, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, EUV, Art. 6, Rn. 52 f. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass die „Ankopplung“ eines neuen Grundrechts an Bestimmungen der GRCh vorzugswürdig erscheint. Diesen Weg wählte der EuGH etwa im Rahmen der Rechtssache Google Spain. Hier gelangte der EuGH über die Auslegung der RL 95/46/EG im Lichte von Art. 7 GRCh (Achtung des Privatlebens) und Art. 8 GRCh (Schutz der personenbezogenen Daten) zu einem allgemeinen „Recht auf Vergessenwerden“, siehe EuGH v. 13. Mai 2014 – C-131/12 (Google Spain), Rn. 74 u. 81. Dieses ist nun in Art. 17 Abs. 1 Verordnung (EU) 2016/679 (DSGVO) sekundärrechtlich konkretisiert worden, vgl. Stotz, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, § 22, Rn. 28. Zu beachten ist, dass bereits Generalanwalt Jääskinen in seinen Schlussanträgen dargestellt hatte, dass nur in „einigen Mitgliedstaaten“ „Verfahren zur Meldung und Entfernung“ vorgesehen waren, siehe GA Jääskinen, SA v. 25. Juni 2013 – C-131/12 (Google Spain), Fn. 67. Daher kann man annehmen, dass es für den EuGH zu fernliegend war, sich zur Herleitung des Rechts auf Vergessenwerden auf Verfassungsüberlieferungen und Menschenrechtsabkommen zu stützen, die wohl beide keinen derartigen Anknüpfungspunkt bieten. Die Schöpfung eines neuen Grundrechts als allgemeiner Rechtgrundsatz ist somit nur möglich, wenn sich kein offensichtlicher Bezug zu einer Charta-Bestimmung zeigt. Zudem dürfte die Rechtfertigungslast für die Entwicklung neuer allgemeiner Rechtsgrundsätze nach Einführung der Charta deutlich gestiegen sein, vgl. Classen/Nettesheim, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 17, Rn. 21.

294

Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

II. ILO-Normen als Rechtserkenntnisquelle für allgemeine Grundsätze des Unionsrechts Obwohl nach dem Wortlaut des Art. 6 Abs. 3 EUV nur „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen“ und die EMRK Rechtserkenntnisquellen für allgemeiner Grundsätze bilden, können auch die Normen der ILO Berücksichtigung bei der Herleitung eines allgemeinen Grundsatzes bilden, da dies dem Sinn und Zweck von Art. 6 Abs. 3 EUV entspricht. Mit dem Vertrag von Maastricht wurden die allgemeinen Rechtsgrundsätze im geschriebenen Primärrecht verankert.279 Anstatt die einzelnen vom EuGH ausgearbeiteten allgemeinen Grundsätze in das geschriebene Primärrecht zu überführen, entschieden sich die Vertragsparteien dazu, lediglich das Institut der allgemeinen Rechtsgrundsätze in das Primärrecht aufzunehmen. Der Charakter des Richterrechts änderte sich hierdurch nicht. Die Herleitung der Unionsgrundrechte blieb nach wie vor eine Aufgabe des EuGH.280 In Art. F Abs. 2 EUV wurde neben den „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen“ die EMRK als Rechtserkenntnisquelle anerkannt. Es wurde nicht auf die „internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind“, verwiesen, wie es der EuGH 1974 erstmals in der Entscheidung Nold getan hatte.281 Obwohl der Wortlaut des Art. F Abs. 2 EUV in der Fassung des Vertrags von Maastricht282 sowie des heutigen Art. 6 Abs. 3 EUV abschließend formuliert ist,283 können zur Herleitung allgemeiner Rechtsgrundsätze des Unionsrechts auch völkerrechtliche Übereinkommen herangezogen werden, die durch die Mitgliedstaaten ratifiziert wurden oder an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren. Zweck des Art. 6 Abs. 3 EUV ist es nach wie vor, der vom EuGH entwickelten Methodik eine Legitimation im Primärrecht zu geben. Insofern stellt der gewählte Text schlicht eine unvollständige Kodifikation284 beziehungsweise verkürzte Wiedergabe der vom EuGH entwickelten Prinzipien dar. Für eine entsprechende Auf279 Art. F Abs. 2 des Vertrags von Maastricht, ABl. 1992 C 191, 1, Inkrafttreten am 1. November 1993; Classen/Nettesheim, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 17, Rn. 4. Insofern war der damalige Vertragstext, welcher auch wortgleich im Vertrag von Amsterdam vom 2. Oktober 1997 (ABl. 1997 C 340, 1; Inkrafttreten am 1. Mai 1999) und dem Vertrag von Nizza vom 26. Februar 2001 (ABl. 2002 C 325, 1; Inkrafttreten am 1. Februar 2003) übernommen wurde, nicht mit dem heutigen Wortlaut von Art. 6 Abs. 3 EUV identisch. 280 Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14, Rn. 7; Ehlers, in: Erichsen/Ehlers, Allg. Verwaltungsrecht, § 2, Rn. 29. 281 EuGH v. 14. Mai 1974 – 4/73 (Nold), Rn. 13. Er dürfte allerdings die EMRK im Sinn gehabt haben, auf die explizit von der Klägerin verwiesen wurde, vgl. EuGH v. 14. Mai 1974 – 4/73 (Nold), Rn. 12. 282 In den Verträgen von Amsterdam und Nizza wurden keine inhaltlichen Änderungen an der Rechtsgrundlage der allgemeinen Rechtsgrundsätze vorgenommen. 283 Schorkopf, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, EUV, Art. 6, Fn. 1 zu Rn. 51. 284 Vedder, in: Merten/Papier, Hdb. GR, Band VI/2, § 174, Rn. 164.

E. Gebot der Berücksichtigung aufgrund von Bezugnahmen in Verordnungen

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fassung spricht, dass der EuGH auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht andere völkerrechtliche Verpflichtungen der Mitgliedstaaten als die EMRK zur Begründung oder Präzisierung allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts heranzog.285 Es erscheint nicht völlig ausgeschlossen, dass auf Grundlage bestehender286 oder künftiger Übereinkommen der ILO neue allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts entwickelt werden.287 Die Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze aus Übereinkommen der ILO ist zum derzeitigen Stand aber von rein theoretischen Interesse. So betreffen die Übereinkommen der ILO, die unter den Mitgliedstaaten der EU einen hohen Ratifizierungsstand aufweisen, allesamt Bereiche, in denen die GRCh auf unionsrechtlicher Ebene bereits (entsprechenden)288 Schutz bietet. Gleiches trifft auf viele Übereinkommen der ILO mit niedrigerem Ratifizierungsstand in der EU zu.289

E. Gebot der Berücksichtigung von ILO-Normen aufgrund von Bezugnahmen in Verordnungen Da das arbeitsrechtliche aquis communitaire fast vollständig in Richtlinien geregelt wird, überrascht es nicht, dass nur wenige Verordnungen auf Übereinkommen der ILO verweisen. Es handelt sich um die Verordnung Nr. 978/2012 (und ihre Vorgängerverordnungen) zur Regelung des Allgemeinen Präferenzsystems („APS“) der EU sowie die AntidumpingVO 2016/1036 und die AntisubventionsVO 2016/ 1037. Im Fall der beiden letztgenannten Verordnungen wurde ein Verweis auf ILONormen erst durch die Änderungsverordnung 2018/825 aufgenommen. 285 So etwa EuGH v. 18. Oktober 1989 – 374/87 (Orkem), Rn. 18, 31 zum Grundsatz, dass niemand gegen sich selbst als Zeuge aussagen muss; zur Bezugnahme Haratsch/Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 671; EuGH v. 17. Februar 1998 – C-249/96 (Grant), Rn. 44; EuGH v. 27. Juni 2006 – C-540/03 (EP/Rat), Rn. 35; EuGH v. 27. Juni 2006 – C-540/03 (Parl/Rat), Rn. 37; vgl. auch Jarass, GRCh, Einleitung, Rn. 27; Skouris, in: Merten/Papier, Hdb GR, § 157, Rn. 34; Schadendorf, EuR 2015, 28, 37 f. Ein Überblick über die durch den EuGH im Zeitraum 1998 – 2005 herangezogenen Rechtserkenntnisquellen findet sich bei Scheek, Competition, Conflict and Cooperation between European Courts and the Diplomacy of Supranational Judicial Networks: http://www2.warwick.ac.uk/fac/soc/garnet/workingpapers/2307.pdf, S. 13. 286 Zu Übk. Nr. 94 als Grundlage für einen allgemeinen Rechtsgrundsatz der Berücksichtigung regional einschlägiger und durch einen wesentlichen Teil der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer des betreffenden Berufes oder der betreffenden Industrie anzuwendenden Tarifverträge bei der Vergabe der öffentlichen Aufträge unter Teil 4 F. II. 5. b). 287 Heuschmid, SR 2014, 1, 3. Hierbei ist auf die Fälle Viking-Line, Laval (hierzu unter Teil 2 A. I. 4.) und Defrenne III (hierzu unter Teil 4 F. I. 1. c) dd) hinzuweisen, in denen vor Inkorporation der GRCh in das europäische Primärrecht ein breiterer Anwendungsbereich der allgemeinen Rechtsgrundsätze bestand. 288 Siehe unter Teil 4 C. II. 1. 289 Siehe unter Teil 4 C. IV.

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

Insbesondere die Bezugnahmen der APS-VO 978/2012 zählen allerdings zu den interessantesten Bezugnahmen auf ILO-Normen überhaupt im Unionsrecht: Sie sind die einzigen Rechtsakte der EU, die ausdrücklich nicht nur auf Übereinkommen, sondern auch auf Schlussfolgerungen der ILO-Ausschüsse verweisen.

I. Allgemeines-Präferenzsystem-VO 978/2012 Das Allgemeine Präferenzsystem der Europäischen Union regelt die Gewährung besonderer Zollvorteile für Entwicklungsländer. Das Schema besteht aus einer allgemeinen Regelung und zwei Sonderregelungen.290 Förderfähige Länder291 erhalten von der EU einen vereinfachten Zugang zum europäischen Markt (sogenannte „APSbegünstigte Länder“), während für die am wenigsten entwickelten Länder eine vollkommene Einfuhrfreiheit in die EU besteht (mit Ausnahme von Waffen und Munition – everything but Arms – sogenannte „EBA-begünstigte Länder“).292 Ländern der APS-Kategorie können zusätzliche Handelsvorteile gewährt werden, sofern sie bestimmte Sonderregelung für nachhaltige Entwicklung und verantwortungsvolle Staatsführung einhalten (sogenannte „APS+-begünstigte Länder).293 1. Bezugnahmen der APS-Verordnung auf die acht Kernarbeitsübereinkommen Die Gewährung des APS-, EBA- und APS+-Status sind an die Einhaltung der acht Übereinkommen, welche die ILO-Kernarbeitsnormen konkretisieren, geknüpft. So muss ein Land, das zusätzliche Zollpräfenzen unter dem APS+-System erhalten möchte, die acht Übereinkommen ratifizieren und einhalten.294 Im Fall von „schwerwiegenden Verstößen bei der tatsächlichen Anwendung“ der Übereinkommen kann die Kommission den APS+-Status vorübergehend entziehen.295 Für die Förderung mit APS- und EBA-Status müssen die Übereinkommen nicht ratifizieren werden. Sollten sich jedoch „schwerwiegende und systematische Verstöße gegen Grundsätze“ der Übereinkommen feststellen lassen, können auch diese Präferenzen zeitweise ausgesetzt werden.296 Die Einhaltung der Übereinkommen überprüft die Kommission. Sie hat hierbei die Schlussfolgerungen der Ausschüsse der ILO zu 290

Erwägungsgrund Nr. 8 VO 978/2012; s. a. European Parliamentary Research Service/ Inama, The Generalised Scheme of Preferences Regulation (No 978/2012), abrufbar unter: http://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2018/627134/EPRS_STU(2018)62 7134_EN.pdf. 291 Siehe Art. 4 VO 978/2012: im Ergebnis Entwicklungsländer. 292 Art. 17 f. VO 978/2012. 293 Art. 9 ff. VO 978/2012. 294 Art. 9 Abs. 1 lit. b) VO 978/2012. 295 Art. 15 VO 978/2012. 296 Art. 19 Abs. 1 lit. a) VO 978/2012.

E. Gebot der Berücksichtigung aufgrund von Bezugnahmen in Verordnungen

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berücksichtigen und dem Europäischen Parlament und dem Rat zu berichten.297 Wie der Verweis auf die Schlussfolgerungen der ILO, die keine entsprechende originäre Systematik von „schwerwiegenden“ und „schwerwiegenden und systematischen“ Verstößen vorsehen, auszulegen ist, wurde bereits an anderer Stelle untersucht.298 2. Auswirkungen auf die Auslegung der Bezugnahmen in arbeitsrechtlichen Richtlinien und anderen Rechtsakten Im vorliegenden Kontext sind die Verweise auf Schlussfolgerungen der Ausschüsse von hohem Stellenwert. Aus den Verweisen kann zunächst gefolgert werden, dass dem Unionsgesetzgeber die Existenz des Aufsichtssystems sowie der Spruchpraxis bekannt ist. Zudem folgt aus dem erkennbaren Wille der Unionslegislative, den Schlussfolgerungen der ILO-Ausschüsse in den Außenbeziehungen justiziablen299 Stellenwert einzuräumen, dass das Gebot der Berücksichtigung der Normen der ILO auch eine Auseinandersetzung mit der einschlägigen Spruchpraxis beinhaltet. Legt man nämlich einen einheitlichen Willen des Unionsgesetzgebers zugrunde, erscheint es nicht begründbar, dass einerseits der Unionsgesetzgeber den Schlussfolgerungen bei der Gestaltung der Beziehung der Union zu Drittstaaten zentrale Bedeutung bei der Auslegung der Übereinkommen beimisst, Schlussfolgerungen andererseits aber bei der Auslegung der Rechtsakte zur Regelung der internen Verhältnisse keine Bedeutung zukommt. Hiergegen spricht nicht, dass die Verweise auf Schlussfolgerungen der ILOAusschüsse wohl primär dem Zweck dienten, die APS-Verordnung mit den Vorgaben des WTO-Rechts vereinbar zu machen.300 Die Konformität mit WTO-Recht dürfte nämlich nicht den einzigen Beweggrund für den Verweis auf die Schlussfolgerungen dargestellt haben. So wird durch den Verweis auch die Überwachung der Verordnung vereinfacht, denn die Kommission kann hierbei auf die Berichte der Ausschüsse 297 Art. 9 Abs. 1 lit. b), Art. 13, Art. 14 f., Art. 19 Abs. 6, Abs. 7 VO 978/2012; s. a. Europäische Kommission, Bericht zum Schema allgemeiner Zollpräferenzen im Zeitraum 2018 – 2019, Join (2020) 3 final. 298 Siehe Stolzenberg, AVR 2019, 207, 218 ff. zum APS ferner Beke/D’Hollander/Hachez/ Pérez de las Heras, The integration of human rights in EU development and trade policies, S. 31 ff., abrufbar unter: http://www.fp7-frame.eu/wp-content/uploads/2016/08/07-Deliverable9.1.pdf; Vogt, IJCLLIR 2015, 285, Orbie/Tortell, European Foreign Affairs Review 2009, 663; Novitz, in: Alston, Labour Rights as Human Rights, S. 214, 230 ff.; s. a. die Verweise des Sachverständigenausschusses auf das APS+-System IAA, IAK, 108th Session 2019, Report III (Part A), Report of the CEACR, etwa S. 120 und S. 462; IAA, IAK, veröffentlicht für die für 2020 geplante 109th Session, Report III (Part A), Report of the CEACR, S. 297, S. 455. 299 Hierzu Stolzenberg, AVR 2019, 207, 216 f.; nach Abgabe des Beitrags wurde ein Verfahren gegen Kambodscha eröffnet, durch welches viel der geäußerten Kritik am Vorgehen der Kommission entfällt, vgl. Europäische Kommission, Pressemitteilung v. 11. Februar 2019, https://trade.ec.europa.eu/doclib/press/index.cfm?id=1981&title=Cambodia-EU-launches-pro cedure-to-temporarily-suspend-trade-preferences sowie Europäische Kommission, Pressemitteilung v. 11. Juni 2019, http://trade.ec.europa.eu/doclib/press/index.cfm?id=2028. 300 Hierzu Stolzenberg, AVR 2019, 207, 209 f.

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

zurückgreifen, statt selbst aufwendige Nachforschungen über die Einhaltung der in Bezug genommenen Übereinkommens durch jedes begünstigte Land zu betreiben. Der Verweis auf die Schlussfolgerungen in der ZollpräferenzVO (EU) 978/2012 bestätigt daher, dass die Berücksichtigung von Übereinkommen der ILO auch eine Berücksichtigung der Spruchpraxis der Überwachungsausschüsse umfassen muss.

II. AntidumpingVO 2016/1036 und AntisubventionsVO 2016/1037 Die komplexe Materie des Antidumping- und Antisubventionszollrechts stellt seit Jahren eine rechtliche und diplomatische Herausforderung des Umgangs der EU insbesondere mit ihrem zweitwichtigsten Handelspartner, der Volksrepublik China, dar.301 Die EU wirft China unter anderem vor, zugunsten heimischer Hersteller in den Markt einzugreifen und hierdurch gedumpte/subventionierte Exporte von Produkten wie Stahl, Keramik oder Photovoltaikmodulen zu ermöglichen.302 Durch Verordnung 2018/825303 wurden weitreichende Änderungen an den bestehenden Regelungen zum Schutz des europäischen Marktes vor gedumpten oder subventionierten Einfuhren vorgenommen.304 Vor der Änderung der Verordnung wurden Praktiken des Sozial- beziehungsweise Lohndumpings nicht vom Regelungsbereich der AntidumpingVO erfasst, da sie nicht an den Waren selbst, sondern an andere Kostenvorteile anknüpfen.305 Eine der (WTO-rechtlich nicht vorgegeben) Grundlagen des europäischen Dumping- beziehungsweise Subventionsschutzes stellte die lesser duty rule dar, nach der Schutzzölle zum einen eine Dumping- bzw. Subventionspanne nicht überschreiten dürfen und zum anderen nicht höher sein dürfen, als zum Ausgleich der Schädigung erforderlich ist.306 Für die Berechnung der Schutzzölle ist es notwendig, die Verzerrung der Preise und hierfür den Normalwert einer Ware zu bestimmen.307 301

Loets, EuZW 2018, 309. Loets, EuZW 2018, 309; vgl. auch Herrmann/Müller-Ibold, EuZW 2018, 749, 754 f. 303 Verordnung (EU) 2018/825 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2018 zur Änderung der Verordnung (EU) 2016/1036 über den Schutz gegen gedumpte Einfuhren aus nicht zur Europäischen Union gehörenden Ländern und der Verordnung (EU) 2016/ 1037 über den Schutz gegen subventionierte Einfuhren aus nicht zur Europäischen Union gehörenden Ländern, ABl. 2018 L 143, 1. Der Verweis auf ILO-Normen geht auf das Europäische Parlament zurück, das deutlich weitreichender Bezugnahmen aufnehmen wollte, vgl. Abänderungen des Europäischen Parlaments v. 5. Februar 2014, P7 TA(2014)0082, ABl. 2017 C 93, 261, Abänderungen 7, 16, 30, 33, 70 und 86. 304 Im Folgenden werden nur Änderungen hinsichtlich der Regelungen für Marktwirtschaften analysiert. 305 Weiß, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 207 AEUV, Rn. 160. 306 Herrmann/Müller-Ibold, EuZW 2018, 749, 755; Loets, EuZW 2018, 309, 309 f.; Scharf, in: Krenzler/Herrmann/Niestedt, Art. 7 VO 2016/1036, Rn. 9. 307 Art. 2 Abs. 6a lit. b) VO 2016/1036. 302

E. Gebot der Berücksichtigung aufgrund von Bezugnahmen in Verordnungen

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Bestehen neben Verzerrungen der Auslandspreise auch Verzerrungen der Inlandspreise, können diese nicht als Vergleichsgrundlage zur Feststellung „fairer“ Exportpreise verwendet werden. Entsprechend müssen für die Bestimmung der Abweichungen auch die unverzerrten Herstellungs- und Verkaufskosten bestimmt werden. Die Verordnung sieht hierfür „unter anderem“ einen Rückgriff auf Herstellungs- und Verkaufskosten in geeigneten Vergleichsländern vor.308 Sofern mehrere Länder für einen Vergleich in Frage kommen, soll das Land bevorzugt werden, in dem ein angemessener Sozial- und Umweltschutz besteht.309 Nahe liegt für die Bestimmung dieser Kosten ein Rückgriff auf die acht Kernarbeitsübereinkommen der ILO, die im Anhang Ia der Verordnung aufgelistet werden.310 Dies geschah jüngst in der Durchführungsverordnung 2020/1336 der Kommission vom 25. September 2020 zur Einführung endgültiger Antidumpingzölle auf die Einfuhren bestimmter Polyvinylalkohole mit Ursprung in der Volksrepublik China, in der erstmals die ILOÜbereinkommen in Bezug genommen wurden.311 Bei der Festlegung vorläufiger Zölle bestimmt die Verordnung ausdrücklich, dass bei der Festlegung des Zielpreises die tatsächlichen Herstellungskosten des Wirtschaftszweigs der Union, wie sie sich aus der Einhaltung der acht in Anhang Ia der Verordnung aufgeführten Übereinkommen ergeben, gebührend zu berücksichtigt sind.312 Darüber hinaus sind auch künftig anfallende Kosten,313 die sich aus den Übereinkommen ergeben und die dem Wirtschaftszweig der Union während des Zeitraums der Anwendung der Maßnahme entstehen, zu berücksichtigen. Ebenso wie die APS-Verordnung sehen die Antidumping- und Antisubventionsverordnungen Berichtspflichten der Kommission über die Einhaltung der Verordnung gegenüber dem Europäischen Parlament und dem Rat vor. Gemäß Art. 23 Abs. 2 VO 2016/1036 n. F.314 beinhaltet die Berichtspflicht die Darlegung der Berücksichtigung von Sozial- und Umweltstandards bei dumpingrechtlichen Untersuchungen auf Grundlage der Verordnung. Hierzu zählen sowohl die acht Kern308

Loets, EuZW 2018, 309, 312. Art. 2 Abs. 6a lit. a) VO 2016/1036; Loets, EuZW 2018, 309, 313. 310 Vgl. Anhang Ia der VO 2016/1037. Zwar könnten ein Indiz für den Einsatz von „Sozialdumping“ entsprechende Feststellungen der Ausschüsse sein (denkbar wäre etwa die Schaffung besonderer Exportzonen, in denen Gewerkschaften verboten oder behindert werden), ein entsprechender Hinweis auf Schlussfolgerungen der ILO-Ausschüsse findet sich in den Verordnungen aber zumindest nicht explizit. Durch entsprechende Bezugnahmen in Entscheidungen über die Erhebung von Anti-Dumping bzw. Anti-Subventionszöllen könnte jedenfalls die Konformität mit WTO erhöht werden. 311 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 180 der Durchführungsverordnung (EU) 2020/1336 der Kommission vom 25. September 2020 zur Einführung endgültiger Antidumpingzölle auf die Einfuhren bestimmter Polyvinylalkohole mit Ursprung in der Volksrepublik China, ABl. 2020 L 315, S. 1. 312 Art. 7 Abs. 2d VO 2016/1036; Art. 12 Abs. 1b VO 2016/1037; Herrmann/Müller-Ibold, EuZW 2018, 749, 755. 313 Nur sofern diese nicht unter Art. 7 Abs. 2c VO 2016/1036 fallen. 314 Ebenso Art. 32a Abs. 1 UAbs. 3 VO 2016/1037. 309

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

arbeitsübereinkommen als auch die entsprechenden nationalen Rechtsvorschriften des Ausfuhrlandes.315 Die Änderungsverordnung 2018/825 ermöglicht somit erstmals (in Ansätzen) die Möglichkeit, arbeits- und umweltrechtliche Erwägungsgründe in die Berechnungen von Schutzzöllen einfließen zu lassen.

III. Europäische ArbeitsbehördenVO 2019/1149 Es ist zu begrüßen, dass die jüngst in Kraft getretene Verordnung über eine europäischen Arbeitsbehörde316 in Erwägungsgrund Nr. 46 einen Verweis auf Übereinkommen Nr. 81 enthält.317 Führt man sich vor Augen, dass die bestehenden nationalen Arbeitsaufsichtsbehörden in den Mitgliedstaaten unterschiedliche Traditionen, Organisationsweisen, Rechte und Stellenwerte aufweisen, dürfte ein Rückgriff auf die Spruchpraxis der ILO, die seit fast 70 Jahren nationale Systeme überprüft, einordnet und vergleicht, äußert hilfreich sein. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Organisation der europäischen Arbeitsaufsicht selbst als auch bei ihrer (Haupt-)Aufgabe, der Koordinierung von Maßnahmen nationaler Arbeitsaufsichtsbehörden. Allerdings wäre ein Verweis auf alle einschlägigen Normen anstelle eines Verweises nur auf Übereinkommen Nr. 81 besser gewesen, um etwa auch Empfehlung Nr. 20 sowie das Übereinkommen Nr. 81 begleitende Protokoll Nr. 81 abzudecken.318

315

Ebenfalls von Relevanz ist Erwägungsgrund Nr. 12 VO 2018/825, nach dem die Kommission u. a. in solchen Fällen Interimsüberprüfungen einleiten soll, „in denen sich in den Ausfuhrländern im Zusammenhang mit Sozial- und Umweltstandards die Umstände ändern“. Ziehe sich bspw. ein Land, gegen das Maßnahmen ergriffen wurden, aus Umweltabkommen, deren Vertragspartei die Union ist, oder den acht Übereinkommen der ILO zurück, „so könnte die Interimsüberprüfung zur Folge haben, dass die Annahme der geltenden Verpflichtungen zurückgenommen wird“. 316 Verordnung (EU) 2019/1149 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20. Juni 2019 zur Errichtung einer Europäischen Arbeitsbehörde und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 883/2004, (EU) Nr. 492/2011 und (EU) 2016/589 sowie zur Aufhebung des Beschlusses (EU) 2016/344, ABl. 2019 L 186/21. 317 Zu Recht wurde nicht auf Übk. Nr. 85 verwiesen, das von der SRM-TWG als nicht mehr zeitgemäß eingeschätzt wird, vgl. IAA, Verwaltungsrat, 334th Session 2018, Doc GB.334/LILS/ 3, Rn. 18 ff.; zur Bedeutung von Übk. Nr. 81 Waas, AVR 2019, 123, 128. 318 Zum Aufbau der Arbeitsaufsicht und Fragen der Koordinierung verschiedener Ebenen in einem Mitgliedstaat IAA, IAK, 95th Session 2006, Report III (Part 1B), General Survey concerning Labour Inspection, Rn. 138 ff., vgl. insb. Rn. 150: „Establishing inter-institutional cooperation and multilateral collaboration is an inherent part of the very concept of an administration system“.

E. Gebot der Berücksichtigung aufgrund von Bezugnahmen in Verordnungen

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IV. Nachhaltige Investitions-Rahmen-VO 2020/852 Auch im Bereich der Governance-Kontrolle von Unternehmen spielen ILONormen eine zunehmende Rolle, wie sich am Beispiel der jüngst verabschiedeten Verordnung 2020/852 über die Einrichtung eines Rahmens zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen319 erkennen lässt. Die Nachhaltige Investitions-Rahmen-VO 2020/852 ergänzt die OffenlegungsVO 2019/2088320 um neue Offenlegungspflichten für Finanzmarktteilnehmer. Sie soll die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitskriterien durch die Teilnehmer des europäischen Finanzmarktes sicherstellen. Gemeint sind hiermit die Auswirkungen von Investitionen auf Treibhausgasemissionen, Ressourcenverknappung und Arbeitsbedingungen. Die Nachhaltige Investitions-Rahmen-VO 2020/852 (auch „Taxonomie-Verordnung“ genannt)321 definiert hierbei Vorgaben, wann eine Wirtschaftstätigkeit als ökologisch nachhaltig einzustufen ist.322 Bei dem – in Artikel 3 lit. c) VO 2020/852 festgelegten – Mindestschutz handelt es sich gemäß Art. 18 VO 2020/852 „um Verfahren, die von einem eine Wirtschaftstätigkeit ausübenden Unternehmen durchgeführt werden, um sicherzustellen, dass die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen und die Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte, einschließlich der Grundprinzipien und Rechte aus den acht Kernübereinkommen, die in der Erklärung der Internationalen Arbeitsorganisation über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit festgelegt sind, und aus der Internationalen Charta der Menschenrechte, befolgt werden“. Erwägungssgrund Nr. 35 der Verordnung erläutert hierzu, dass „in Anerkennung der Bedeutung internationaler Mindeststandards für Menschenrechte und Arbeitsrechte“ Wirtschaftstätigkeiten nur dann als „ökologisch nachhaltig eingestuft werden, wenn sie gemäß den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen und den Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte einschließlich der Erklärung über die grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit durch die Internationale Arbeitsorganisation (IAO), der acht Kernarbeitsnormen der IAO und der Internationalen Charta der Menschenrechte durchgeführt werden“. 319

Verordnung (EU) 2020/852 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2020 über die Einrichtung eines Rahmens zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen und zur Änderung der Verordnung (EU) 2019/2088, ABL. 2020 L 198, S. 13. 320 Verordnung (EU) 2019/2088 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. November 2019 über nachhaltigkeitsbezogene Offenlegungspflichten im Finanzdienstleistungssektor, ABl. 2019 L 317, S. 1. 321 Glander/Lühmann/Jesch, BKR 2020, 485; siehe zu früheren Stadien auch Gurlit, WM 2020, 57, 74. 322 Vgl. Erwägungsgründe Nr. 14 – 17 der VO 2020/852. Gemäß Art. 4 VO 2020/852 bestimmen hierbei Mitgliedstaaten und die Union anhand der Kriterien des Art. 3 VO 2020/852, ob eine Wirtschaftstätigkeit als eine ökologisch nachhaltige Wirtschaftstätigkeit für die Zwecke aller Maßnahmen einzustufen ist, mit denen für Finanzmarktteilnehmer oder Emittenten Anforderungen an Finanzprodukte oder Unternehmensanleihen festgelegt werden, die als „ökologisch nachhaltig“ bereitgestellt werden.

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

Zwar sieht die OffenlegungsVO 2019/2088 in der Fassung der Nachhaltige Investitions-Rahmen-VO 2020/852 nicht vor, dass die Kernarbeitsnormen bei Investitionen inner- und außerhalb der EU zwingend eingehalten werden müssen. Den Finanzmarktteilnehmer werden jedoch sogenannte „Comply-or-Explain“-Offenlegungspflichten auferlegt, welche eine verstärkte Transparenz hinsichtlich ihres Umgangs mit Nachhaltigkeitskriterien zur Folge haben sollen.323 Sie sind zudem gem. Art. 12 Abs. 1 Satz 1 OffenlegungsVO 2019/2088 verpflichtet, die veröffentlichten Informationen ständig auf dem aktuellen Stand zu halten,324 d. h. sich auch fortwährend über die Berichte der ILO-Ausschüsse hinsichtlich der Einhaltung der Kernarbeitsnormen zu informieren. Die Nachhaltige Investitions-Rahmen-VO 2020/852 dürfte daher zur Folge haben, dass die Berichte der Ausschüsse der ILO künftig in Europa noch stärker zur Kenntnis genommen werden. Die Übereinkommen und Spruchpraxis der ILO werden durch die Bezugnahme der neuen Verordnung auch für die europäischen und nationalen Bankenaufsichtsbehörden relevant. All dies könnte durchaus geeignet sein, auch das Verhalten jener Arbeitgeber und Mitgliedstaaten der ILO zu verändern, die befürchten durch die Verletzung von ILO-Kernarbeitsnormen Investoren abzuschrecken. Ob sich dieser Gedanke bewahrheiten wird, bleibt jedoch vorerst abzuwarten.

F. Berücksichtigung wegen Bezugnahmen auf ILO-Normen in Richtlinien Einerseits existiert nicht zu allen arbeitsrechtlichen Sekundärrechtsakten der EU ein inhaltliches Pendant unter den Übereinkommen und Empfehlungen der ILO.325 Andererseits existieren auch ILO-Standards zu Regelungsbereichen, die bisher nicht vom Unionsrecht erfasst sind. Es ergibt sich aber eine breite Schnittfläche zwischen den Normen der ILO und den Gegenständen der Richtlinien der EU. Auf bestehende Bezüge wird nicht in jeder einschlägigen Richtlinie ausdrücklich hingewiesen. Sofern Richtlinien aber einen solchen Hinweis beinhalten, findet sich dieser zumeist in den Erwägungsgründen.326 Aufgrund der Verortung der Verweise in den Erwägungsgründen der Richtlinien unterliegt die Möglichkeit der Berücksich323

Glander/Lühmann/Jesch, BKR 2020, 485, 489. Glander/Lühmann/Jesch, BKR 2020, 485, 489. 325 So ergibt sich (abgesehen von Einzelfragen) beispielsweise keine Überschneidung zwischen den Übereinkommen und Empfehlungen der ILO einerseits und der Betriebsübergangs-RL 2001/23/EG, der Befristungs-RL 1999/70/EG oder gar der SE-BeteiligungsRL 2001/ 86/EG sowie der EBR-RL 2009/38/EG andererseits. 326 So etwa im Fall der GleichbehandlungsrahmenRL 2000/78/EG, der ArbeitszeitRL 2003/ 88/EG, der JugendarbeitschutzRL 94/33/EG, der Erneuerbare-Energien-RL 2009/28/EG, der RL 2011/36/EG, der MenschenhandelsRL 2013/30/EG und der CSR-RL 2014/95/EU. 324

F. Berücksichtigung wegen Bezugnahmen auf ILO-Normen in Richtlinien

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tigung der Verweise gewissen Grenzen. Die Erwägungsgründe helfen dem Normanwender, die Hintergründe und den Zweck des auszulegenden Rechtsaktes zu ermitteln. Der EuGH hat zur Berücksichtigung von Erwägungsgründen aber entschieden, dass diese rechtlich nicht verbindlich sind und weder herangezogen werden können, um von den Bestimmungen des betreffenden Rechtsakts abzuweichen, noch, um diese Bestimmungen in einem Sinne auszulegen, der ihrem Wortlaut offensichtlich widerspricht.327 Die Berücksichtigung von Normen der ILO über das „Nadelöhr“ der Erwägungsgründe ist daher durch die herkömmlichen Auslegungsmethoden entsprechend begrenzt.

I. Durch EuGH und Generalanwälte berücksichtigte Bezugnahmen Es wurden bereits jene Entscheidungen analysiert, in denen der EuGH auf Normen der ILO im Rahmen der Bestimmung unionaler Außenkompetenzen und zur Bestimmung des Vorrangs der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus Altverträgen nach Art. 351 AEUV zurückgegriffen hatte.328 Ebenfalls analysiert wurden bereits jene Entscheidungen, in denen der EuGH bei der Bestimmung von Rechtfertigungselementen der Beschränkung von Grundfreiheiten auf ILO-Normen zurückgriff.329 Zur Untersuchung des Potentials der Bezugnahmen auf ILO-Normen in Richtlinien ist nun eine vorrangige Untersuchung der bereits durch den EuGH und die Generalanwälte aufgegriffenen Bezugnahmen geboten. In einem zweiten Schritt erfolgt die Darstellung der „inaktiven“ Bezugnahmen unter Teil 4 F. II., die bislang weder durch den EuGH noch durch Generalanwälte in ihren Schlussanträgen aufgegriffen wurden. Keine Berücksichtigung finden können im Folgenden all jene Entscheidungen, in denen der EuGH ILO-Normen hätte heranziehen können, dies aber nicht tat. Warum eine Rezeption in solchen Fällen nicht erfolgte, ist im Nachhinein nicht immer zu bestimmen. So erscheint es sowohl möglich, dass sich der EuGH in einem Fall, in dem einschlägige Normen der ILO vorhanden waren, entweder bewusst gegen die Rezeption entschied oder aber, dass ihm die bestehende Parallele nicht bekannt war. Schon aus praktischen Gesichtspunkten kann nicht für alle dieser unklaren Fälle untersucht werden, ob der EuGH auf Parallelen im Recht der Union und der ILO etwa durch die Parteien eines Vorabentscheidungsverfahrens oder andere Verfahrensbeteiligte wie einen Mitgliedstaat oder die Kommission hingewiesen wurde. Es ergibt sich aber eine Ausnahme: Es können solche Entscheidungen, die keine Verweise 327 EuGH v. 19. November 1998 – C-162/97 (Nilsson u. a.), Rn. 54; EuGH v. 25. November 1998 – C-308/97 (Manfredi), Rn. 30; EuGH v. 24. November 2005 – C-136/04 (Deutsches Milch-Kontor GmbH), Rn. 32, EuGH v. 2. April 2009 – C-134/08 (Hauptzollamt Bremen), Rn. 16. 328 Hierzu unter Teil 2 B. III. und Teil 4 B. II. 329 Hierzu unter Teil 2 A. I.

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

beinhalten, analysiert werden, in denen die Bezüge des Unionsrechts zum Recht der ILO nachweisbar bekannt waren, was für all jene Entscheidungen der Fall ist, in denen der EuGH in Schlussanträgen eines Generalanwalts auf die Normen der ILO hingewiesen wurde. Für jede Entscheidung, in denen Normen der ILO durch den EuGH oder den Generalanwalt rezipiert wurden, sind zwei Fragen zu klären: 1. Welchem Zweck diente die Rezeption der ILO-Norm? 2. War die Entscheidung (auch ohne einen ausdrücklichen Verweis) konsistent mit der zum Zeitpunkt der Entscheidung verfügbaren Spruchpraxis? Bei der Beantwortung der zweiten Frage wurden nur die zum Zeitpunkt der jeweiligen Entscheidung bereits veröffentlichten Berichte der ILO-Ausschüsse als Maßstab herangezogen. Dieser Eingrenzung liegt folgende Überlegung zu Grunde: Die zu beantwortende Frage war nicht, ob die Entscheidungen des EuGH aus heutiger Sicht konsistent mit der Spruchpraxis der Ausschüsse der ILO waren. Gegenstand dieser Untersuchung ist vielmehr die Frage, ob der EuGH neben dem Text der Übereinkommen auch Spruchpraxis berücksichtigt. Es wurde bereits an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass der EuGH Berichte der ILO-Ausschüsse bislang nicht ausdrücklich rezipiert hat,330 was grundsätzlich gegen diese Annahme spricht. 1. Gleichbehandlungs-Rahmen-RL 2000/78/EG und weiterer primär- und sekundärrechtlicher Diskriminierungsschutz Unter den einschlägigen Primär- und Sekundärrechtsakten zum Schutz vor Diskriminierungen wegen persönlicher Merkmale enthält allein331 die Gleichbehandlungs-Rahmen-RL 2000/78/EG332 einen Verweis auf ILO-Normen. So wird im 4. Erwägungsgrund darauf verwiesen, dass Übereinkommen Nr. 111 Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf untersage.333

330

Siehe unter Teil 4 C. IV. Ohne (explizite) Bezugnahme hingegen Art. 21 GRCh, Art. 157 AEUV, Richtlinie 2006/ 54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (ABl. 2006 L 204, 23); Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (ABl. 2000 L 180, 22), vgl. auch Landau/Beigbeder, From ILO Standards to EU Law, S. 61. 332 Richtlinie 2000/78/EG des Rates v. 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000 L 303, S. 16). 333 Zur Zusammenarbeit der EU und ILO auf dem Gebiet der Bekämpfung von Geschlechterdiskriminierung Pastore/Gausˇas/Styczyn´ska, EU and ILO: Shaping the Future of Work, S. 51 ff. 331

F. Berücksichtigung wegen Bezugnahmen auf ILO-Normen in Richtlinien

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ILO-Normen und Spruchpraxis der Ausschüsse sind aber auch für die Auslegung der anderen Rechtsakte des europäischen Diskriminierungsschutzes von Relevanz und wurden durch den EuGH bereits mehrfach herangezogen. Erwägungsgrund Nr. 4 RL 2000/78/EG bildet daher nur den Ausgangspunkt für die folgende Analyse der gesamten Rezeptionspraxis des EuGH von ILO-Normen im Bereich des Diskriminierungsschutzes. a) Die einschlägigen Übereinkommen und Empfehlungen der ILO Die Überschneidungen zwischen den Normen der ILO mit den diskriminierungsschutzrechtlichen Normen der EU sind weitaus weitreichender, als es die kurze Bezugnahme in Erwägungsgrund Nr. 4 RL 2000/78/EG auf Übereinkommen Nr. 111 erscheinen lässt. aa) Diskriminierung wegen des Geschlechts Die Übereinkommen Nr. 100 und Nr. 111, welche eine Konkretisierung der Kernarbeitsnorm „Verbot der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf“ bilden, stellen die zentralen Bezugspunkte und Gewährleistungsinhalte der Normen der ILO auf dem Gebiet der Bekämpfung der Geschlechterdiskriminierung dar. Der in Übereinkommen Nr. 100 verbindlich statuierte Grundsatz der Entgeltgleichheit zählte bereits in Art. 427 Abs. 2, 3 Nr. 7 des Versailler Vertrages zu den Grundsätzen von besonderer und Beschleunigung erheischender Wichtigkeit“, den „alle industriellen Gemeinschaften zu befolgen sich bemühen sollen, soweit ihre besonderen Verhältnisse dies gestatten“.334 In der Erklärung von Philadelphia wird zudem in Teil II lit. a) bestätigt, dass alle Menschen, ungeachtet ihrer Rasse, ihres Glaubens und ihres Geschlechts, das Recht haben, materiellen Wohlstand und geistige Entwicklung in Freiheit und Würde, in wirtschaftlicher Sicherheit und unter gleich günstigen Bedingungen zu erstreben. Das jüngst verabschiedete Übereinkommen Nr. 190 zur Beendigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt und die das Übereinkommen begleitende Empfehlung Nr. 206 könnten für die Auslegung der einschlägigen unionsrechtlichen Richtlinien künftig ebenfalls von Relevanz sein. Für die Auslegung der europäischen Antidiskriminierungsrechtsakte sind außerdem Übereinkommen Nr. 103, Nr. 183 sowie Empfehlung Nr. 95 (Mutterschaftsschutz), Übereinkommen Nr. 156 und Empfehlung Nr. 165 (Schutz von Arbeitnehmern mit familiären Pflichten), Art. 6 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 97 (Wanderarbeiterinnen), Übereinkommen Nr. 171 (in der Nachtarbeit beschäftigte Frauen), Abschnitt I Abs. 2 Empfehlung Nr. 30 (Festsetzung von Mindestlöhnen) und mit Blick auf den öffentlichen Sektor Empfehlung

334 Zu den Hintergründen und der ursprünglich wettbewerbspolitischen Motivation Seifert, in: FS Pfarr, S. 459, 460 ff.

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

Nr. 90335 von Relevanz. Übereinkommen Nr. 45 über die Beschäftigung von Frauen bei Untertagearbeiten in Bergwerken und Nr. 89 über Nachtarbeit von Frauen im Gewerbe haben Interim-Status und sind (nur) noch unter Vorbehalt zu berücksichtigen. Protokoll Nr. 89 zu Übereinkommen Nr. 89 ist durch die Cartier-Arbeitsgruppe hingegen als vollumfänglich zeitgemäß eingestuft worden. Die Aktualität von Empfehlung Nr. 13 über Nachtarbeit von Frauen in der Landwirtschaft wird derzeit überprüft.336 bb) Diskriminierungen wegen anderer Merkmale Das Prinzip der Nichtdiskriminierung wegen der Rasse, des Glaubens und des Geschlechts wurde zuerst 1944 in Art. II lit. a) der Erklärung von Philadelphia verankert, die einen Bestandteil der Verfassung bildet. Daneben schützt das bereits erwähnte Übereinkommen Nr. 111 vor Diskriminierungen wegen der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, des Glaubensbekenntnisses, der politischen Meinung, der nationalen Abstammung oder der sozialen Herkunft.337 Ebenfalls von Relevanz sind: - Im Kontext zum diskriminierungsfreien Zugang zur Arbeit Art. 1 Abs. 2 lit. c) Übereinkommen Nr. 122, § 29 Abs. 2 lit. g) Empfehlung Nr. 83, Nr. 122; - im Kontext der Berufsausbildung Art. 1 Abs. 5 Übereinkommen Nr. 142 und § 11 Abs. 2 Empfehlung Nr. 195;338 - im Kontext des Zugangs zur Beschäftigung beziehungsweise beruflicher Rehabilitation von Behinderten Übereinkommen Nr. 159 und Empfehlungen Nr. 99 und Nr. 168; - im Kontext von Diskriminierungen wegen des Alters Empfehlung Nr. 162; - im Kontext des Schutzes von Wanderarbeitern vor Diskriminierung wegen Staatsangehörigkeit, Rasse, Religion und Geschlecht Art. 6 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 143 sowie § 7 Empfehlung Nr. 169; - Im Kontext vom Schutz vor Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz Übereinkommen Nr. 190 und Empfehlung Nr. 206.339

335

Empfehlung Nr. 90 kann auch zur Auslegung von Übk. Nr. 100 herangezogen werden, Seifert, in: FS Pfarr, S. 459, 462 und 464. 336 Vgl. auch Landau/Beigbeder, From ILO Standards to EU Law, S. 16 ff., allerdings auch mit Verweisen auf Übereinkommen und Empfehlungen, die nicht mehr als zeitgemäß, durch aktuellere Übereinkommen abgelöst oder, etwa im Fall von Empfehlung Nr. 4, aufgehoben wurden. 337 Art. 1 Abs. 1 lit. a) Übk. Nr. 111. 338 Demir, in: Pärli u. a. Arbeitsrecht im internationalen Kontext, Rn. 195 nennt hier noch die durch Empfehlung 195 abgelöste Empfehlung Nr. 150. 339 Vgl. auch die Präambel des Übereinkommens.

F. Berücksichtigung wegen Bezugnahmen auf ILO-Normen in Richtlinien

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Übereinkommen Nr. 87, Nr. 94, Nr. 135 enthalten zudem Garantien zum Schutz vor Diskriminierung wegen der Mitgliedschaft oder Teilnahme an Gewerkschaften und anderen Arbeitnehmervertretungen. b) Entscheidungen zur Auslegung von RL 2000/78/EG mit ausdrücklicher Rezeption von ILO-Normen Trotz der Vielzahl an Vorabentscheidungsverfahren zur Auslegung der Richtlinie 2000/78/EG sind bisher nur ein Schlussantrag eines Generalanwalts und eine Entscheidung des EuGH bekannt, in denen Übereinkommen Nr. 111 überhaupt erwähnt wurde. aa) Marschall-Entscheidung In der Rechtssache Marschall hatte das VG Gelsenkirchen dem EuGH die Frage der Vereinbarkeit einer bei gleicher Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung bevorzugten Beförderung von Frauen im Beamtendienst des Landes NordrheinWestfalen mit Art. 2 Abs. 1 und 4 RL 76/207/EWG340 vorgelegt.341 (1) Rezeption in den Schlussanträgen Sowohl das Land Nordrhein-Westfalen als auch die Kommission hatten zur Rechtfertigung der Schlechterbehandlung von Männern auf Art. 5 des Übereinkommens Nr. 111 verwiesen, mit dem sich ebenfalls GA Jacobs in seinen Schlussanträgen auseinandersetzt.342 Die herangezogene Bestimmung sei „unbestreitbar vage“ und es sei unklar, ob mit ihr Bevorzugungsmaßnahmen wie die des nordrhein-westfälischen Landesbeamtengesetzes gemeint seien. Entsprechend sei sie bei der Auslegung von Art. 2 Abs. 4 RL 76/207/EWG nicht von Nutzen.343 Das Übereinkommen sei zudem fakultativ formuliert und nicht zwingend, weshalb sich die Frage nach dem Vorrang nach Art. 234 EGV in der Fassung des Vertrags von Amsterdam (nun Art. 351 AEUV) nicht stelle.344 (2) Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses Legt man die Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses zugrunde, ist Art. 5 Übereinkommen Nr. 111, wie durch GA Jacobs zurecht angenommen, nicht einschlägig, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Allerdings hätte durch eine Auseinandersetzung mit der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Schlussanträge 340 RL 76/207/EWG ist eine der Vorgängerrichtlinien der RL 2000/78/EG, die allerdings keinen Verweis auf Übk. Nr. 111 beinhaltete. 341 VG Gelsenkirchen v. 21. Dezember 1995 – 1 K 6303/94, NVwZ 1996, 511. 342 GA Jacobs, SA v. 15. Mai 1997 – C-409/95 (Marschall), Rn. 51 ff. 343 Ibid., Rn. 55, gleiches nahm er für Art. 4 Abs. 2 CEDAW an. 344 Ibid., Rn. 56.

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

bestehenden Spruchpraxis erkannt werden können, dass der durch das VG Gelsenkirchen vorgelegte Sachverhalt auch ohne eine Rechtfertigung nach Art. 5 Abs. 2 Übereinkommen Nr. 111 mit den arbeitsvölkerrechtlichen Vorgaben vereinbar gewesen sein dürfte. In Art. 5 des Übereinkommens sind zwei Arten besonderer Schutz- und Unterstützungsmaßnahmen vorgesehen. So können Schutz- und Hilfsmaßnahmen, die in anderen Übereinkommen und Empfehlungen vorgesehen sind (Abs. 1),345 und Maßnahmen, die der jeweilige Mitgliedstaat nach Konsultation der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen festlegen kann und die auf Bedürfnisse besonders schutzwürdiger Personengruppen ausgerichtet sind (Absatz 2)346, eine Ungleichbehandlung rechtfertigen. Der 1996, also ein Jahr vor den Schlussanträgen, veröffentlichte general survey des Sachverständigenausschusses zu Übereinkommen Nr. 111 konkretisiert diese Vorgaben347 und setzt sich intensiv mit Förderprogrammen für benachteiligte Gruppen auseinander.348 In diesem Zusammenhang greift er auch Art. 2 RL 76/207/ EWG und die Kalanke-Entscheidung des EuGH auf,349 die einen ähnlich gelagerten Fall wie das Vorabentscheidungsverfahren Marschall betraf. In dieser hatte der EuGH eine automatische Bevorzugung weiblicher Bewerberinnen von der Stadt Bremen als unvereinbar mit der Richtlinie Art. 2 Abs. 1 und Abs. 4 RL 76/207/EWG erklärt.350 Der Sachverständigenausschuss scheint die Ablehnung automatischer und starrer Quoten durch den EuGH beziehungsweise dessen Übertragung in das nationale Recht durch das BAG nicht als Verstoß gegen Übereinkommen Nr. 111 zu werten, sondern geht davon aus, dass auch nach Unionsrecht aufgrund der Unter-

345 Als Beispiele führt IAA, IAK, 75th Session 1988, Report III (Part 4B), General Survey of the Reports on the Discrimination (Employment and Occupation) Convention (No. 111) and Recommendation (No. 111), Rn. 140 positive Maßnahmen nach Art. 3 Übk. Nr. 107 für indigene Völker, Art. 4 Übk. Nr. 159 wegen Behinderung und § 10 Empfehlung Nr. 162 wegen des Alters an. 346 Hierzu zählen u. a. Gründe des Geschlechts, des Alters und Behinderungen. 347 IAA, IAK, 83rd Session 1996, Report III (Part 4B), Special Survey on Equality in Employment and Occupation in respect of Convention No. 111, Rn. 130 ff.; eine deutlich breitere Analyse von Art. 5 Übk. Nr. 111 findet sich im früheren IAA, IAK, 75th Session 1988, Report III (Part 4B), General Survey of the Reports on the Discrimination (Employment and Occupation Convention (No. 111) and Recommendation (No. 111), Rn. 139 ff. So führte der Sachverständigenausschuss bereits 1988 zu Maßnahmen nach Art. 5 Abs. 2 Übk. Nr. 111 aus: „These measures must be proportional to the nature and scope of the protection needed or of the pre-existent discrimination“. 348 IAA, IAK, 83rd Session 1996, Report III (Part 4B), Special Survey on Equality in Employment and Occupation in respect of Convention No. 111, Rn. 278 ff. 349 EuGH v. 17. November 1995 – C-450/93 (Kalanke); IAA, IAK, 83rd Session 1996, Report III (Part 4B), Special Survey on Equality in Employment and Occupation in respect of Convention No. 111, Rn. 288 f. 350 EuGH v. 17. November 1995 – C-450/93 (Kalanke), Rn. 24.

F. Berücksichtigung wegen Bezugnahmen auf ILO-Normen in Richtlinien

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stützung des Gerichtshofs in anderen Entscheidungen positive Maßnahmen auch nach der Entscheidung Kalanke noch möglich sind.351 Die Annahme der Notwendigkeit positiver Maßnahmen beruhe auf der Erkenntnis, dass ein Diskriminierungsverbot allein nicht ausreiche, um Diskriminierungen in der Praxis zu beseitigen. Anders als die besonderen Schutz- oder Hilfsmaßnahmen, die auf Grundlage von Art. 5 Abs. 2 Übereinkommen Nr. 111 dauerhaft als Nicht-Diskriminierung festgelegt würden, sei das Konzept der „positiven Maßnahmen“ als Mittel zur Förderung der Chancengleichheit bestimmter benachteiligter Gruppen nur solange einzusetzen, als die jeweils nicht in der Lage dazu sind, ihre Rechte auf Gleichstellung praktisch auszuüben.352 Die Rechtfertigungsmöglichkeit der „positiven Maßnahme“ verortet der Sachverständigenausschuss wohl unmittelbar in Art. 2 Übereinkommen Nr. 111.353 (3) Keine Rezeption in der Entscheidung des EuGH Der EuGH hielt eine Regelung wie die des nordrhein-westfälischen Landesbeamtengesetz für unionsrechtskonform, sofern sichergestellt werde, dass für männliche Bewerber, die die gleichen Qualifikationen besitzen, in jedem Einzelfall eine Prüfung der Kriterien erfolge und der Vorrang der Bewerberinnen entfalle, wenn eines oder mehrere dieser Kriterien zugunsten des männlichen Bewerbers überwiege. Die zugrunde gelegten Kriterien dürfen aber wiederum keine diskriminierende Wirkung gegenüber weiblichen Bewerbern haben.354 In seinem Urteil geht der EuGH nicht auf die einschlägigen Übereinkommen und Spruchpraxis der ILO ein. Diese Entscheidung ist aber konsistent mit den dargestellten Einschätzungen des Sachverständigenausschusses im general survey von 1996. bb) Egenberger- und I.R.-Entscheidungen Im Verfahren Egenberger hatte Generalanwalt Tanchev keine Übereinkommen der ILO rezipiert.355 In der Entscheidung des EuGH wird hingegen der 4. Erwägungsgrund der Richtlinie vollständig wiedergegeben, der auch auf Übereinkommen Nr. 111 verweist. Das Verfahren Egenberger hatte die Reichweite der gerichtlichen Kontrolle des Erfordernisses der Religionszugehörigkeit einer Bewerberin für eine 351 IAA, IAK, 83rd Session 1996, Report III (Part 4B), Special Survey on Equality in Employment and Occupation in respect of Convention No. 111, Rn. 288. 352 IAA, IAK, 83rd Session 1996, Report III (Part 4B), Special Survey on Equality in Employment and Occupation in respect of Convention No. 111, Rn. 289; deutlicher in IAA, IAK, 75th Session 1988, Report III (Part 4B), General Survey of the Reports on the Discrimination (Employment and Occupation) Convention (No. 111) and Recommendation (No. 111), Rn. 166. 353 Vgl. IAA, IAK, 83rd Session 1996, Report III (Part 4B), Special Survey on Equality in Employment and Occupation in respect of Convention No. 111, Rn. 289. 354 EuGH v. 11. November 1997 – C-409/95 (Marschall), Rn. 33. 355 GA Tanchev, SA v. 9. November 2017 – C-414/16 (Egenberger).

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

Stelle beim Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung zum Gegenstand. Es handelte sich um eine befristete Referentenstelle für ein Projekt, das die Erstellung des Parallelberichts zur Anti-Rassismus-Konvention der EU zum Gegenstand hatte. Im Ergebnis ging es bei der Auslegung des streitgegenständlichen Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG um eine Abwägung des Antidiskriminierungsschutzes als Ziel der Richtlinie gegen die Rechte der Kirche. Ob die Wiedergabe des 4. Erwägungsgrund auf die Relevanz des Übereinkommens aufmerksam machen sollte, kann bezweifelt werden. Vielmehr dürfte der Verweis auf den 4. Erwägungsgrund weniger Übereinkommen Nr. 111 sondern dem dort ebenfalls erwähnten IPwskR betreffen. Hierauf lassen zumindest die Schlussanträge356 schließen. In diesen hatte der Generalanwalt auf die an Deutschland gerichtete Empfehlung des Rassendiskriminierungsausschusses hingewiesen, nach welcher Deutschland angehalten wurde, § 9 Abs. 1 AGG aufzuheben oder zu ändern.357 Es ist davon auszugehen, dass der EuGH mit dem Verweis auf den 4. Empfehlungsgrund darauf hinweisen wollte, dass die vom Generalanwalt in Bezug genommene Spruchpraxis des Rassendiskriminierungsausschusses bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt wurde.Diesem Zweck dürfte auch der Verweis auf Empfehlungsgrund Nr. 4 in der I.R.-Entscheidung geschuldet sein.358 Trotzdem hätte auch Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses der ILO berücksichtigt werden können, sofern beachtet wird, dass Übereinkommen Nr. 111 kein direktes Pendant zu Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG kennt, sondern Fragen der Abwägung für „Tendenzunternehmen“ anhand der allgemeineren Ausnahme des Art. 1 Abs. 2 Übereinkommen Nr. 111 gelöst werden. Dieser sieht vor, dass eine Unterscheidung, Ausschließung oder Bevorzugung hinsichtlich einer bestimmten Beschäftigung, die in den Erfordernissen dieser Beschäftigung begründet ist, nicht als Diskriminierung gilt. Im general survey von 2012 führt der Sachverständigenausschuss in diesem Kontext aus, dass Einschränkungen des Diskriminierungsschutzes für ein enges Spektrum von Arbeitsplätzen im Zusammenhang mit bestimmten religiösen oder politischen Institutionen oder gemeinnützigen Organisationen und Organisationen, die speziell das Wohlergehen einer ethnischen Gruppe fördern, akzeptabel sein können. Kriterien wie politische Meinung, nationale Zugehörigkeit und Religion können als inhärente Anforderungen bestimmter Stellen mit besonderen Verantwortlichkeiten berücksichtigt werden.359 Die den jeweiligen Aufgaben innewohnenden Anforderungen müssten jedoch im Hinblick auf die tat356

Ibid., Rn. 125. Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung, Schlussbemerkungen zu den 19. bis 22. Staatenberichten der BRD v. 30. Juni 2015, 86. Sitzung, CERD/C/DEU/C0/19 – 22, Nr. 15. 358 EuGH v. 11. September 2018 – C-68/17 (I.R.), Rn. 3, wenngleich die Schlussanträge des GA Wathelet v. 31. Mai 2018 – C-68/17 (I.R.) keinen Verweis auf Spruchpraxis des Rassendiskriminierungsausschusses enthalten. 359 IAA, IAK, 101st Session 2012, Report III (Part 1B), General Survey on the fundamental Conventions concerning rights at work in light of the ILO Declaration on Social Justice for a Fair Globalization, Rn. 831. 357

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sächliche Ausgestaltung der Tätigkeiten, die für das Ziel der Einrichtung oder Organisation ausgeübt werden, bewertet werden. Es sei wichtig, dass etwa Beschränkungen der politischen Meinung für bestimmte Tätigkeiten in der Regierung nicht über bestimmte Grenzen hinausgehen, was ausgehend vom Einzelfall zu bewerten sei. Um in den Anwendungsbereich der in Art. 1 Abs. 2 Übereinkommen Nr. 111 vorgesehenen Ausnahme zu gelangen, müssten die verwendeten Kriterien konkret und objektiv den inhärenten Anforderungen einer bestimmten Stelle entsprechen.360 Diese Auslegung entspricht nahezu dem Ergebnis des EuGH, der ebenfalls – im konkreten Fall – eine Prüfung der in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie genannten Kriterien durch das nationale Gericht fordert, sich ansonsten aber verständlicherweise an den Wortlaut des Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG hielt.361 cc) Rezeption von EuGH-Entscheidungen zur Auslegung der RL 2000/78/EG durch den Sachverständigenausschuss Dass der EuGH die Übereinkommen der ILO zumindest nicht ausdrücklich bei der Auslegung des Übereinkommens heranzieht, hält den Sachverständigenausschuss nicht davon ab, seinerseits die Verpflichtungen der EU-Mitgliedstaaten sowohl aus der Richtlinie 2000/78/EG als auch der Rechtsprechung des EuGH regelmäßig in seinen Berichten zu rezipieren.362 c) Rezeption von ILO-Normen trotz fehlendem Verweises in Art. 157 AEUV, der Arbeitnehmer-Gleichbehandlungs-RL 2006/54/EG und der TeilzeitRL 97/81/EG Art. 157 AEUV enthält keine Bezugnahme auf Übereinkommen Nr. 100.363 Allerdings wurde bei der Verfassung des Wortlauts von Art. 157 AEUV beziehungsweise Art. 119 EWGV (in der Fassung der Römischen Verträge) Übereinkommen 360

Ibid. EuGH v. 17. April 2018 – C-414/16 (Egenberger), Rn. 55. 362 Siehe etwa im General Survey von 2012 ein Verweis auf EuGH v. 10. Mai 2011 – C-147/ 08 (Römer), IAA, IAK, 101st Session 2012, Report III (Part 1B), General Survey on the fundamental Conventions concerning rights at work in light of the ILO Declaration on Social Justice for a Fair Globalization, Rn. 824; die Observation zu Deutschland von 2000 mit Verweis auf EuGH v. 22. April 1997 – C-180-95 (Draempaehl) in IAA, IAK, 88th Session 2000, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 328; Observation zu Deutschland von 1996 mit Verweis auf EuGH v. 17. November 1995 – C-450/93 (Kalanke): IAA, IAK, 83rd Session 1996, Report III (Part 4 A), Report of the CEACR, S. 285; Direct request zu Finnland mit Verweis auf EuGH v. 24. Februar 2005 – C-327/04 (Kommission/Finnland): IAA, IAK, 96th Session 2007, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, Volltext der direct request veröffentlicht unter https:// www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=1000:13101:0::NO:13101:P13101_COMMENT_ID:2264 788. 363 Dies wäre angesichts der primärrechtlichen Verortung allerdings auch eher ungewöhnlich gewesen. 361

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

Nr. 100 zugrunde gelegt.364 Die RL 2006/54/EG ist (wie ihre Vorgängerinnen)365 auf den Schutz vor Diskriminierungen wegen des Geschlechts hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen gerichtet und enthält ebenfalls keine ausdrücklichen Verweise auf Übereinkommen der ILO.366 aa) Defrenne-I-Entscheidung Ausgangspunkt der „Defrenne-Trilogie“ bildete ein Vorabentscheidungsverfahren aus Belgien, dem die Klage einer Flugbegleiterin gegen den Staat Belgien zugrunde lag. Frau Defrenne, deren Arbeitsvertag auf das Erreichen des 40. Lebensjahres befristet war, beantragte die Nichtigkeitserklärung einer gesetzlichen Altersversorgungsregelung über den Erwerb der Rentenansprüche des Bordpersonals der staatlichen belgischen Fluglinie Sabena. Frau Defrenne stützte ihre Klage unter anderem direkt auf Art. 119 EWGV (nun Art. 157 AEUV). Der belgische Conseil d’État legte dem EuGH die Frage vor, ob die durch Beiträge und staatliche Zuschüsse finanzierte Altersrente eine Vergütung im Sinne von Art. 119 EWGV darstelle und ob eine unterschiedliche Altersgrenze für männliches und weibliches Bordpersonal zulässig sei. In der mündlichen Verhandlung wurde zunächst durch die Kommission auf Übereinkommen Nr. 100 zur Auslegung des Begriffs der Vergütung hingewiesen, die der Arbeitgeber nach dem Übereinkommen aufgrund des Dienstverhältnisses dem Arbeitnehmer zumindest mittelbar zahlen muss. Aus Übereinkommen Nr. 100 gehe somit hervor, dass Sozialversicherungsleistungen nicht vom dortigen Entgeltbegriff erfasst seien.367 (1) Rezeption in den Schlussanträgen In seinen Schlussanträgen wies GA Dutheillet de Lamothe zunächst auf die Entstehungsgeschichte von Art. 119 EWGV und die enge Verbindung zu Übereinkommen Nr. 100 hin. Alle Vertragsstaaten hätten sich auf die Aufnahme der Entgeltgleichheit in die Römischen Verträge einigen können. Art. 119 EWGV verfolge 364 Siehe auch Landau/Beigsbender, From ILO Standards to EU Law, S. 69; vgl. auch mit Blick auf Art. 8 AEUV Schorkopf, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 8 AEUV, Rn. 18. 365 RL 2006/54/EG basiert auf der RL 76/207/EWG, die durch die RL 97/80/EG ergänzt wurde. Beide Richtlinien wurden zwischenzeitlich durch die RL 2002/73/EG geändert und schließlich in die heutige Form in einer Richtlinie zusammengeführt, vgl. Grünberger/Husemann, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, Rn. 5.26. 366 Ihre primärrechtliche Grundlage findet RL 2000/78/EG in Art. 13 EGV (nun Art. 19 AEUV), während die RL 2006/54/EG auf Art. 141 Abs. 3 EGV (nun. Art. 157 Abs. 3 AEUV) gestützt wurde. Zu Art. 19 AEUV bzw. ihrer (erst) mit dem Vertrag von Amsterdam geschaffenen Vorgängervorschrift Art. 13 EGV existieren auch in den Materialien über die Vertragsverhandlungen keine Bezüge zu Übk. Nr. 111, vgl. Seifert, IJCLLIR 2013, 39, 61. 367 Vgl. EuGH v. 25. Mai 1971 – 80/70 (Defrenne I).

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sowohl das wirtschaftliche Ziel der Verhinderung von „sozialem Dumping“ durch den Einsatz unterbezahlter weiblicher Arbeitskräfte als auch ein soziales Ziel, da er alle Länder der Gemeinschaft veranlasse, sich den wesentlich sozialen Grundsatz zu eigen zu machen, den das Übereinkommen der IAO aufstellt.368 Zudem machte der Generalanwalt den Gerichtshof darauf aufmerksam, dass die Begriffsbestimmungen des Art. 119 EWGV aus Übereinkommen Nr. 100 übernommen wurden. Eine weitere inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Übereinkommen oder Spruchpraxis erfolgte hingegen nicht. Insbesondere ging der GA nicht wie die Kommission auf die historisch-rechtsvergleichende Berücksichtigung von Übereinkommen Nr. 100 ein, kam allerdings zum gleichen Ergebnis: Altersrenten, die unmittelbar oder mittelbar vom Arbeitgeber zusätzlich zur Altersrente aus dem allgemeinen Sozialversicherungssystem gezahlt werden, seien daher Vergütung i. S. v. Art. 119 EWGV.369 Da es im vorliegenden Fall um eine staatliche Sozialversicherungsleistung gehe, hielt der Generalanwalt Art. 119 EWGV nicht für einschlägig und ließ die weiteren Vorlagefragen unbeantwortet. (2) Keine Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses Ob der Begriff des Entgelts in Art. 1 lit. a) Übereinkommen Nr. 100,370 wie durch die Kommission vorgetragen, keine Sozialversicherungsleistungen und somit auch keine Rentenleistungen, umfasse, kann zumindest nicht mit Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses, die vor der Entscheidung Defrenne I ergangen ist, belegt werden. Weder der general survey von 1986 noch von 2012 enthalten Erkenntnisse zum Anwendungsbereich von Übereinkommen Nr. 100 hinsichtlich staatlicher und betrieblicher Altersleistungen.371 Der Übereinkommenstext spricht ebenso wie spätere Spruchpraxis für eine entsprechende Lesart der Kommission. 368 GA Dutheillet de Lamothe, SA v. 29. April 1971 – 80/70 (Defrenne I); in EuGH v. 10. Februar 2000 – C-270/97 u. a. (Sievers u. Schrage), Rn. 57 geht der EuGH später davon aus, dass der wirtschaftlichen Zielsetzung nur nachgeordnete Bedeutung zukomme. 369 GA Dutheillet de Lamothe, SA v. 29. April 1971 – 80/70 (Defrenne I), wobei der GA im Folgenden weitaus stärker differenziert, was hier allerdings nicht wiedergegeben werden soll. 370 Der Verweis auf Übk. Nr. 100 zur Begründung einer sozialen neben der wettbewerbs-/ arbeitsmarktpolitischen Zielsetzung von Art. 119 EWGV ist insoweit interessant, als auch in der ILO zunächst wettbewerbs-/arbeitsmarktpolitische Erwägungsgründe bei der Entgeltgleichheit im Vordergrund standen, was insb. für Art. 427 Abs. 2, 3 Nr. 7 des Versailler Vertrages gilt, siehe Seifert, in: FS Pfarr, 459, 461 f. Dem GA ist aber zuzustimmen, dass Übk. Nr. 100 von Anfang an (auch) eine sozial-grundrechtliche Zielsetzung zu Grund lag, ibid., 461, 469, 463 m. w. N. Hierbei ist zu beachten, dass die Initiative zur Verabschiedung des Übereinkommens nicht auf Initiatoren in der ILO selbst, sondern einen Beschluss des Wirtschaftsund Sozialrats der UN zurückging. 371 Vgl. IAA, IAK, 72nd Session 1986, Report III (Part 4B), General Survey on the Equal Remuneration Convention (No. 100) and Recommendation (No. 90); IAA, IAK, 101st Session 2012, Report III (Part 1B), General Survey on the fundamental Conventions concerning rights at work in light of the ILO Declaration on Social Justice for a Fair Globalization.

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

(3) Entscheidung des EuGH Der EuGH schloss sich im Ergebnis dem Generalanwalt an.372 Verweise auf Normen der ILO sind in der Entscheidung keine vorhanden. bb) Sabbatini-Bertoni-Entscheidung Vor Einrichtung des zum 1. September 2016 wieder aufgelösten373 Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union im Jahr 2005374 war ab 1989 das EuG für dienstrechtliche Streitigkeiten der Beamten und sonstiger Beschäftigter der europäischen Institutionen zuständig.375 Vor 1989 war es der EuGH selbst, der erstund letztinstanzlich über entsprechende Streitigkeiten zu entscheiden hatte. Aus dieser Zeit stammt die Klage einer italienischen Beamtin des Europäischen Parlaments, welcher nach ihrer Heirat keine Auslandszulage mehr gewährt wurde, da diese laut Beamtenstatut nur durch den „Familienvorstand“ gefordert werden konnte.376 Als „Familienvorstand“ sah das damalige Statut grundsätzlich den verheirateten männlichen Beamten vor. Eine verheiratete Beamtin war nur in Ausnahmefällen der „Familienvorstand“, wie etwa im Fall der Erwerbsunfähigkeit des Mannes.377 Frau Sabbatini-Bertoni machte geltend, dass diese Bestimmung einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, der jede auf dem Geschlecht beruhende Diskriminierung ausschließe, verletze. Dieser Grundsatz sei in Übereinkommen Nr. 100 der ILO ausdrücklich anerkannt. (1) Rezeption in den Schlussanträgen Der Umgang von Generalanwalt Roemer mit den Übereinkommen der ILO in dessen Schlussanträgen erscheint ambivalent.378 Dieser erkennt zu Recht, dass 372

EuGH v. 25. Mai 1971 – 80/70 (Defrenne I); zu Leistungen aus betriebl. Sozialversicherungssystemen EuGH v. 13. Mai 1986 – 170/84 (Bilka); EuGH v. 17. Mai 1990 – C-262/88 (Barber); zu Leistungen aus betriebl. Sozialversicherungssystemen, die an Stelle staatlichen Sozialversicherungsleistungen gewährt werden siehe EuGH v. 10. Mai 2011 – C-147/08 (Römer), vgl. weiter Franzen, in: Franzen/Gallner/Oetker, AEUV, Art. 157, Rn. 19; Langenfeld, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, AEUV, Art. 157, Rn. 52. 373 Vgl. VO 2015/2422/EU v. 16. Dezember 2015 zur Änderung des Protokolls Nr. 3 über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, ABl. 2015 L 341, 14. 374 Beschluss des Rates vom 2. November 2004 zur Errichtung des Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union, ABl. 2004 L 333, 7. 375 Vgl. Hakenberg, EuZW 2006, 391. 376 Art. 4 Absatz 3 des Anhangs VII des Beamtenstatuts a. F., vgl. EuGH v. 7. Juni 1972 – 20/71 (Sabbatini-Bertoni). 377 Art. 1 Abs. 2 des Anhangs VII des Beamtenstatuts a. F., vgl. EuGH v. 7. Juni 1972 – 20/ 71 (Sabbatini-Bertoni). 378 GA Roemer, Gemeinsame SA v. 24. Februar 1972 – 20/71 (Sabbatini-Bertoni) u. 32/71 (Bauduin).

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Übereinkommen Nr. 100 ebenso wie Art. 119 EWGV nur das Prinzip der Entgeltgleichheit zum Inhalt habe, was enger sei als ein allgemeiner Schutz vor Diskriminierungen wegen des Geschlechts.379 Richtigerweise kommt der Generalanwalt sodann zum Ergebnis, dass die Auslandszulage aufgrund ihres engen sachlichen Zusammenhangs mit der Arbeitsleistung unter den Entgeltbegriff des Art. 119 EWGV fallen dürfte, was er im Ergebnis allerdings offen lässt.380 Dass nach internationalem Recht Arbeitnehmer nach Übereinkommen Nr. 111 auch vor Diskriminierungen wegen des Geschlechts hinsichtlich anderer Beschäftigungsbedingungen geschützt werden, bleibt allerdings unerwähnt. (2) Keine Rezeption in der Entscheidung Der EuGH gab Frau Sabbatini-Bertoni Recht. Indem es die Weiterzahlung der Zulage vom Erwerb der Eigenschaft als „Familienvorstand“ abhängig mache, sehe das Statut eine „willkürliche Ungleichbehandlung“ vor. Infolgedessen entbehrten die an die Klägerin gerichteten Verfügungen der Rechtsgrundlage und waren daher aufzuheben.381 Hierbei benennt der EuGH allerdings nicht den Rechtssatz, der zur Unwirksamkeit der Bestimmung des Statuts führte. Aufgrund der Zitierung der Entscheidung in den Gründen zu Defrenne III382 lässt sich annehmen, dass das Statut gegen einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Verbots der Geschlechterdiskriminierung verstieß.383 cc) Defrenne-II-Entscheidung Der Fall Defrenne erreichte den EuGH erneut auf Grundlage einer eingelegten Klage384 auf Schadensersatz wegen Ungleichbehandlung hinsichtlich ihres Entgelts (1.), der beim Ausscheiden gezahlten Abfindung (2.) und der Rente (3.), da sie im Vergleich mit dem männlichen Bordpersonal die gleiche Arbeit verrichtet habe. Lediglich zum ersten Klageanspruch (Entgelt) legte der Cour du travail Brüssel unter 379

Ibid. Ibid., im Folgenden lehnte er eine Diskriminierung ab und gelangt zum Ergebnis, dass die Klagen als unbegründet abzuweisen seien. Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses zu Übk. Nr. 100 war zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht vorhanden bzw. zumindest schwer auffindbar. Im späteren General Survey zur Entgeltgleichheit von 1986 findet sich unter Verweis auf einen früheren direct request an Dänemark eine Einordnung von „cost-of living allowances“ als Entgelt, die zumindest den gleichen Zweck wie eine Auslandszulage verfolgen dürften, vgl. IAA, IAK, 72nd Session 1986, Report III (Part 4B), General Survey on the Equal Remuneration Convention (No. 100) and Recommendation (No. 90), Rn. 15. 381 EuGH v. 7. Juni 1972 – 20/71 (Sabbatini-Bertoni). 382 EuGH v. 15. Juni 1978 – 149/77 (Defrenne III), Rn. 30/32. 383 Denkbar gewesen wäre auch ein engerer, d. h. näher an Art. 119 EWGV (der lediglich an die Mitgliedstaaten gerichtet war) angelehnter allgemeiner Rechtsgrundsatz der Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen. 384 Diese wurde parallel zum oben dargestellten Ausgangsverfahren in Defrenne I eingeleitet. 380

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anderem die Frage vor, ob Art. 119 EWGV unmittelbare Wirkung im innerstaatlichen Recht entfalte. (1) Rezeption in den Schlussanträgen Laut GA Trabucchi stelle Art. 119 EWGV die „Fortsetzung, die ,europäische Übersetzung‘„ von Übereinkommen Nr. 100 dar. Das Übereinkommen sei zum Zeitpunkt der Schlussanträge von allen Mitgliedstaaten der EWG ratifiziert worden, wenngleich durch manche Mitgliedstaaten die Ratifizierung erst nach Inkrafttreten des Vertrags von Rom vorgenommen worden war.385 Ob Übereinkommen Nr. 100 „self-executing“ ist, sei unerheblich für die Frage, welche Tragweite der ihm im Wesentlichen entsprechenden Vorschrift des Artikels 119 EWG-Vertrag zukomme.386 (2) Keine Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses möglich Die konkret durch den EuGH zu entscheidende Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit einer primärrechtlichen Vorschrift stellt eine originär europarechtliche Frage dar, die nicht mittels einer Rezeption von ILO-Vorschriften gelöst werden kann. Schließlich liegt in der unmittelbaren Anwendbarkeit des Europarechts387 gerade einer der Unterschiede zum Völkerrecht. Es ist weder Aufgabe des Sachverständigenausschusses noch fällt es in seine Kompetenz, über den Self-executingCharakter der Normen der ILO zu entscheiden. Diese Aufgabe obliegt den nationalen Gerichten. (3) Rezeption in der Entscheidung des EuGH Der EuGH, der die unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 119 EWGV (nun Art. 157 AEUV) sowohl im vertikalen als auch horizontalen Verhältnis bejahte,388 griff Übereinkommen Nr. 100 in einem Obiter Dictum auf, das zur Grundlage zukünftiger Rechtsprechung werden und eine Änderung des Art. 119 EWGV ursprünglicher Fassung zur Folge haben sollte. In bestimmten Fällen seien gemeinschaftsrechtliche und innerstaatliche Maßnahmen notwendig, um das Ziel des Art. 119 EWGV, die Beseitigung aller unmittelbaren und mittelbaren Diskriminierungen zwischen weiblichen und männlichen Arbeitnehmern, nicht nur auf der Ebene einzelner Unternehmen, sondern in der gesamten Wirtschaft zu erreichen. Diese Betrachtungsweise dränge sich auf, da die auf Grundlage von Art. 119 EWGV 1975 erlassene Richtlinie 75/117/EWG nicht nur das Vergleichskriterium der 385

GA Trabucchi, SA v. 10. März 1976 – 43/75 (Defrenne II). Ibid. 387 Hierzu EuGH v. 5. Februar 1963 – 26/62 (Van Gend & Loos); sodann zum Anwendungsvorrang EuGH v. 15. Juli 1964 – 6/64 (Costa v. ENEL). 388 Insoweit kann die Entscheidung Defrenne II durchaus als Antwort auf den Solange IBeschluss des BVerfG v. 29. Mai 1974 – 2 BvL 52/71, NJW 1974, 1697 verstanden werden, vgl. Sagan, NZA 2016, 1252, 1253. 386

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„gleichen Arbeit“, sondern auch das der „gleichwertigen Arbeit“ beinhalte.389 Sie entspreche damit den Bestimmungen von Übereinkommen Nr. 100, die in Art. 2 ebenfalls die Gleichheit des Entgelts für „gleichwertige Arbeit“ vorsehe.390 Art. 2 Übereinkommen Nr. 100 diente dem EuGH in der Entscheidung Defrenne II somit als Rechtserkenntnisquelle für eine breite Auslegung des Art. 119 EWGV, was methodisch zunächst überrascht. Eigentlich hätte der EuGH aus Übereinkommen Nr. 100 auch den entgegengesetzten Schluss ziehen könnten, dass nämlich die Vertragsparteien bei der Ausarbeitung des Art. 119 EWGV Übereinkommen Nr. 100 zugrunde legten und daher das Kriterium der „gleichwertigen Arbeit“ bewusst nicht übernommen hatten, woraus man den Willen gegen eine entsprechend weite Auslegung folgern könnte. Augenscheinlich berücksichtigte der EuGH bei seiner Entscheidung den weiten Wortlaut von Übereinkommen Nr. 100 aber dazu, einen entsprechenden Willen der Vertragsparteien des EWGV anzunehmen. So entsteht für den Leser der Entscheidungsgründe der Eindruck, dass sich die Erstreckung des Grundsatzes auf „gleichwertige Arbeit“ sowohl aus dem früheren als auch dem späteren Willen ableiten lässt. Diese Auffassung wurde in der Macarthys-Entscheidung und später durch die Vertragsparteien bestätigt, indem sie den Vergleichsmaßstab der „gleichwertigen Arbeit“ in den Wortlaut des Vertrags von Amsterdam (Art. 141 Abs. 1 EGV) aufnahmen.391 dd) Defrenne-III-Entscheidung Infolge des Defrenne-II-Urteils entschied der Cour du Travail Brüssel zu Gunsten von Frau Defrenne auf Zahlung des rückständigen Entgelts. Ihr zweiter und dritter geltend gemachter Anspruch (Abfindung/Rente) wegen einer Ungleichbehandlung im Vergleich zu männlichen Flugbegleitern wurde hingegen abgewiesen. Hiergegen ging sie vor dem belgischen Cour de Cassation vor, der dem EuGH die Frage vorlegte, ob Art. 119 EWGV nicht nur die Gleichheit des Arbeitsentgelts, sondern auch die Gleichheit der Arbeitsbedingungen von männlichen und weiblichen Arbeitnehmern gebiete. Zudem wollte er wissen, ob Art. 119 EWGV oder ein allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts arbeitsvertragliche Klauseln verbiete, nach denen der Arbeitsvertrag im Falle von Arbeitnehmerinnen die Beendigung mit Erreichen des Alters von 40 Jahren vorsehe. Eine solche Klausel wirke sich im Vergleich zu männlichen Arbeitnehmern, in deren Verträgen keine derartige Beendigung

389 Der Passus „gleichwertige Arbeit“ wurde mit dem Vertrag von Amsterdam auch in den Wortlaut des Art. 119 EWGV (sodann Art. 141 EGV, heute Art. 157 AEUV) übernommen, vgl. etwa Landau/Beigsbender, From ILO Standards to EU Law, S. 70. 390 EuGH v. 8. April 1976 – 43/75 (Defrenne II), vgl. auch Art. 1 Abs. 1 Richtlinie 75/117/ EWG, vgl. auch Seifert, in: FS Pfarr, 459, 469 f. 391 Franzen, in: Franzen/Gallner/Oetker, AEUV, Art. 157, Rn. 2.

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vorgesehen war, sowohl hinsichtlich der Höhe der Abfindung als auch der Rente negativ aus. Während GA Capotorti zur Begründung seiner Schlussanträge keine ILO-Normen heranzog, ging der EuGH mit Verweis auf die EU-beamtenrechtlichen Fälle Sabbatini-Bertoni392 und Airola393 davon aus, dass ein Grundrecht auf Beseitigung der auf dem Geschlecht beruhenden Diskriminierungen als allgemeiner Grundsatz einen Bestandteil des Unionsrecht bilde. Ein solches Grundrecht ergebe sich auch aus der ESC und Übereinkommen Nr. 111.394 Die Rezeption von Übereinkommen Nr. 111 stellt einen Fortschritt im Vergleich zu den Schlussanträgen des GA Roemer im Fall Sabbatini-Bertoni dar. Angesichts des Gegenstands des Vorlageverfahrens hätten aber sowohl Übereinkommen Nr. 111 als auch Nr. 100 aufgegriffen werden müssen. So lehnte der EuGH eine Erstreckung von Art. 119 EWGV auf „sonstige Arbeitsbedingungen“ ab und stellte fest, dass es zur Zeit der dem Ausgangsrechtsstreit zugrunde liegenden Vorgänge keine gemeinschaftsrechtliche Norm gegeben hatte, die Diskriminierungen zwischen männlichen und weiblichen Arbeitnehmern hinsichtlich der anderen Arbeitsbedingungen verboten hätte.395 Da zum relevanten Zeitpunkt kein Primär- und Sekundärrechtsakt bestanden hätte, der den Sachverhalt regelte, sei auch der Anwendungsbereich des zuvor betonten allgemeinen Grundsatzes nicht eröffnet gewesen. Zwar ist dem EuGH zuzustimmen, dass der zeitliche Anwendungsbereich des allgemeinen Rechtsgrundsatz im vorgelegten Fall nicht eröffnet war, allerdings fühlte sich der EuGH nicht gehindert, mittels einer extensiven Auslegung der Vorlagefrage Normen des Europarechts auszulegen, die das vorlegende Gericht nicht angeführt hatte. So bleibt offen, warum der EuGH nicht – wie in seiner späteren Rechtsprechung –396 Abfindungsleistungen unter den Entgeltbegriff des Art. 119 EWGV, nun Art. 157 AEUV subsumierte397 und hierbei erneut Übereinkommen Nr. 100 aufgriff.

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EuGH v. 7. Juni 1972 – 20/71 (Sabbatini-Bertoni), hierzu oben unter Teil 4 F. I. 1. c) bb). EuGH v. 20. Februar 1974 – 21/74 (Airola). 394 EuGH v. 15. Juni 1978 – 149/77 (Defrenne III), Rn. 26/29. 395 EuGH v. 15. Juni 1978 – 149/77 (Defrenne III). 396 Vgl. etwa EuGH v. 17. Mai 1990 – C-262/88 (Barber), Rn. 14; EuGH v. 27. Juni 1990 – C-33/89 (Kowalska), Rn. 11; s. auch Franzen, in: Franzen/Gallner/Oetker, AEUV, Art. 157, Rn. 19 m. w. N. 397 Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses zur Einordnung von Abfindungszahlungen bzw. deren rechtlichen Grundlagen war zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht vorhanden bzw. zumindest schwer auffindbar. Auch der einschlägige General Survey von 1986 enthält keine Aussagen zur Einordnung von Abfindungen und Entschädigungen bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses, vgl. IAA, IAK, 72nd Session 1986, Report III (Part 4B), General Survey on the Equal Remuneration Convention (No. 100) and Recommendation (No. 90), Rn. 14 – 16. Die Einordnung der staatlichen Rente war zutreffend – wie schon in Defrenne I geklärt worden war. 393

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Interessanterweise scheint es so, als wollte der EuGH den belgischen Cour de Cassation aber zumindest auf einen Ausweg hinweisen. So lässt sich wohl der Hinweis verstehen, dass der von den belgischen Gerichten zu beurteilende Sachverhalt nur unter die in Belgien geltenden Bestimmungen und Grundsätze des innerstaatlichen – und des Völkerrechts – falle,398 worunter der EuGH nur Übereinkommen Nr. 111 und die ESC verstehen konnte, an die Belgien bereits gebunden war. Mit den Entscheidungen Defrenne II und III ergänzte der EuGH das wirtschaftsliberale Projekt der Marktintegration um eine eigenständige soziale Dimension.399 Diese Neuausrichtung von Art. 119 EWGV (nun Art. 157 AEUV) wurde im Folgenden auch durch den Sachverständigenausschuss mehrfach aufgegriffen.400 ee) Macarthys-Entscheidung In der Macarthys-Entscheidung bestätigte der EuGH die weite Auslegung des Begriffs der „gleichen Arbeit“ als „gleichwertige Arbeit“ in der Defrenne II-Entscheidung. Erneut griff er hierbei Übereinkommen Nr. 100 auf, jedoch nur zur Wiedergabe der Position der Klägerin, Frau Smith.401 In den eigentlichen Urteilsgründen greift der EuGH das Übereinkommen nicht mehr auf.402 Generalanwalt Capotorti hatte zuvor hingegen auf die enge Verknüpfung des Wortlauts von Art. 1 RL 75/117/EWG, Art. 119 des Vertrags von Rom und Art. 2 Übereinkommen Nr. 100 hingewiesen.403 ff) Voß-Entscheidung Im Verfahren Voß hatte das BVerwG den EuGH zur Auslegung des Art. 141 EG (heute Art. 157 AEUV) angerufen, welcher für die Entscheidung über die Klage einer in Berlin verbeamteten Lehrerin (Frau Voß) notwendig war. Frau Voß war an einer staatlichen Schule auf Teilzeitbasis beschäftigt und leistete Überstunden. Nach den einschlägigen Besoldungsvorschriften wurden über die reguläre Arbeitszeit hinausgehenden Arbeitsstunden für vollzeit- als auch teilzeitbeschäftigte Beamte 398

EuGH v. 15. Juni 1978 —149/77 (Defrenne III), Rn. 30/32. Statt vieler Sagan, NZA 2016, 1252, 1253. 400 Etwa in IAA, IAK, 72nd Session 1986, Report III (Part 4B), General Survey on the Equal Remuneration Convention (No. 100) and Recommendation (No. 90), Rn. 126 die Entscheidung des EuGH v. 9. Juni 1982 – 58/81 (Kommission/Luxemburg); s. a. IAA, IAK, 101st Session 2012, Report III (Part 1B), General Survey on the fundamental Conventions concerning rights at work in light of the ILO Declaration on Social Justice for a Fair Globalization, Rn. 688. Ebenso wurde etwa zur Entgeltgleichheit bei gleichwertiger Arbeit die Entscheidung EuGH v. 27. Oktober 1993 – C-127/09 (Enderby) aufgegriffen, vgl. IAA, IAK, 101st Session 2012, Report III (Part 1B), General Survey on the fundamental Conventions concerning rights at work in light of the ILO Declaration on Social Justice for a Fair Globalization, Rn. 678. 401 Vgl. EuGH v. 27. März 1980 – 129/79 (Macarthys). 402 Ein anderer Eindruck entsteht bei Teklè, ELLJ 2018, 236, 244. 403 GA Capotorti, SA v. 28. Februar 1980 – 129/79 (Macarthys), Rn. 4. 399

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gleichermaßen schlechter vergütet als die reguläre Arbeitszeit. Bei Frau Voß realisierte sich nun der Fall, dass ein Lehrer, der in Vollzeit beschäftigt war, eine höhere Vergütung bekam als eine auf Teilzeitbasis beschäftigte Lehrkraft erhielt, die mit Überstunden auf die gleiche Arbeitszeit kam. In seinem Schlussantrag wies Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer auf den Inhalt von Übereinkommen Nr. 175 und Empfehlung Nr. 182 hin.404 Diese Verweise beziehen sich aber nur auf grundlegende Fragen des Diskriminierungsschutzes. So greift der Generalanwalt etwa die ähnlichen Definitionen der Teilzeitarbeit in Art. 1 lit. a) Übereinkommen Nr. 175 und § 3 Abs. 1 der Rahmenvereinbarung über Teilzeit im Anhang der RL 97/81/EG heraus405 und verweist darauf, dass auch in Art. 5 Übereinkommen Nr. 175 unterschiedliche Entgeltbestandteile zur Definition des Entgelts zugrunde gelegt werden.406 Auch der Verweis auf § 10 der Empfehlung Nr. 182, nach dem Teilzeitarbeitnehmer auf gleichberechtigter Grundlage die zusätzlich zum Grundentgelt gewährten finanziellen Leistungen zugutekommen sollen, die vergleichbare Vollzeitarbeitnehmer erhalten, findet sich nur in den Fußnoten der allgemein gehaltenen Einführung zum Fall.407 Zur konkreten Beantwortung der Vorlagefrage greift der Generalanwalt nicht auf ILO-Normen zurück, was aber auch nicht zu beanstanden ist. Ohne konkretisierende Spruchpraxis, die auch hinsichtlich nur ähnlich gelagerter Sachverhalte nicht existiert, sind die Übereinkommen Nr. 100 als auch Nr. 175 zu allgemein gefasst und geben keine eindeutige Auskunft zur Beantwortung der Vorlagefrage, sodass sie zur Auslegung des ebenfalls allgemein gehaltenen Art. 141 EG (Art. 157 AEUV) nicht hilfreich sind. Zwar ist es erfreulich, dass der Generalanwalt wohl die Übereinkommen der ILO hinsichtlich möglicher einschlägiger Bestimmungen geprüft hat, so dem Berücksichtigungsgebot nachgekommen ist und aufgrund fehlender Erkenntnisse die Normen nur zur Erläuterung der allgemeinen Zusammenhänge aufgreift. Nicht erklärlich ist aber, warum der Generalanwalt ausgerechnet im Verfahren Voß die ILONormen heranzieht. Die Definition der Teilzeitarbeit war, ebenso wie die Frage, ob der Entgeltbegriff des Art. 141 EG Überstundenvergütung umfasst,408 bereits geklärt, sodass ein Rückgriff auf (weitgehend gleichlautende) internationale Normen nicht zwingend notwendig war. Zu beachten ist allerdings, dass die Schlussanträge in früheren ähnlich gelagerten Fällen von anderen Generalanwälten stammten.409 404

33). 405

GA Ruiz-Jarabo Colomer, SAv. 10. Juli 2007 – C-300/06 (Voß), Rn. 28 u. 33 (Fn. 24, 32,

Ibid., Fn. 24. Ibid., Fn. 32. 407 Ibid., Fn. 33. 408 Siehe EuGH v. 15. Dezember 1994 – C-399/92 u. a. (Helmig), Rn. 26 ff.; EuGH v. 27. Mai 2004 – C-285/02 (Elsner-Lakeberg), auf die der EuGH in seiner Entscheidung v. 6. Dezember 2007 – C-300/06 (Voß), Rn. 30 ff. 409 GA Darmon, SA v. 19. April 1994 – C-399/92 u. a. (Helmig); GA Jacobs, SA v. 16. Oktober 2003 – C-285/02 (Elsner-Lakeberg). 406

F. Berücksichtigung wegen Bezugnahmen auf ILO-Normen in Richtlinien

321

Der EuGH sah in der Berliner Vergütungspraxis einen möglichen Verstoß gegen Art. 141 EG, sofern das Vorlagegericht feststellen könne, dass der Anteil von Frauen, die in Teilzeit beschäftigt sind, erheblich höher ist als der Anteil von Frauen an der Gesamtzahl der Beschäftigten.410 Auf ILO-Normen wird hierbei nicht verwiesen. 2. ArbeitszeitRL 2003/88/EG Bereits die Entstehungsgeschichte der Vorgängerin der Richtlinie 2003/88/EG, die Arbeitszeit-Gestaltungsrichtlinie 93/104/EWG, war eng mit der Rezeption von Völkerrecht verknüpft. Nachdem im Rat mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs alle Mitgliedstaaten für die Verabschiedung der Richtlinie 93/104/EWG gestimmt hatten,411 griff das Vereinigte Königreich den Erlass der Richtlinie auf der Kompetenzgrundlage von Art. 118a EWGV412 vor dem EuGH an. Nach Ansicht des Vereinigten Königreichs hätten Art. 100 oder Art. 235 EGV die Ermächtigungsgrundlage mit der Folge sein müssen, dass der Rat sie nur einstimmig hätte erlassen können.413 Der Begriff „der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer“ in Art. 118a EGV sei eng auszulegen,414 womit nur der technische Arbeitsschutz umfasst wäre. Bei der Begründung der gegenteiligen Auffassung, die Art. 118a EWGV als Kompetenzgrundlage für die Richtlinie 03/104/EWG bestätigte,415 bezog sich der EuGH auf Völkerrecht, konkret auf die Präambel der Satzung der Weltgesundheitsorganisation.416 Diese definiert die Gesundheit als den Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur als das Freisein von Krankheiten und Gebrechen. Interessanterweise erwähnt der EuGH bei der Rezeption der Präambel, dass alle Mitgliedstaaten der EU auch Mitgliedstaaten der WHO seien.417 Die Bezugnahme auf die Präambel der WHO wiederholte sich später im Verfahren Jaeger.418 Auch die Normen der ILO spielten in der Rechtsprechung des EuGH im Folgenden wiederholt eine Rolle. 410 EuGH v. 6. Dezember 2007 – C-300/06 (Voß), Rn. 42; siehe in diesem Zshg. auch BAG v. 19. Dezember 2018 – 10 AZR 231/18, NZA 2019, 790, Rn. 62. 411 Zu den Hintergründen Davies, EU Labour Law, S. 199 ff. 412 Nun i. E. Art. 153 Abs. 1 lit. a) und lit. b) EUV. 413 EuGH v. 12. November 1996 – C-84/94 (Vereinigtes Königsreich/Rat), Rn. 10 f. 414 Ibid., Rn. 13. 415 Lediglich die Regelung zum arbeitsfreien Sonntag in Art. 5 Abs. 2 RL 93/104/EG konnte nicht auf Art. 118a EWGV gestützt werden und wurde daher für nichtig erklärt, vgl. EuGH v. 12. November 1996 – C-84/94 (Vereinigtes Königsreich/Rat), Rn. 37: Der Rat hatte nicht dargelegt, warum der Sonntag als wöchentlich Ruhetag in engerem Zsgh. mit der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer steht als ein anderer Wochentag. 416 EuGH v. 12. November 1996 – C-84/94 (Vereinigtes Königsreich/Rat), Rn. 15. 417 Ibid., Rn. 15. Dies stellt eine allg. und frühere Form des in Art. 53 GRCh für die Gewährleistungsinhalt der GRCh niedergelegten Berücksichtigungsgebot dar. 418 EuGH v. 9. September 2003 – C-151/02 (Jaeger), Rn. 93, vgl. auch Ulber, in: Preis/ Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, Rn. 7.36, 7.46.

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a) Die einschlägigen Übereinkommen und Empfehlungen der ILO Die Notwendigkeit, Arbeitszeiten zu begrenzen, ist sowohl eine soziale Frage, die mit dem Schutz der Gesundheit und des Wohlergehens der Arbeitnehmer zusammenhängt, als auch eine wirtschaftliche Frage,419 deren Regulierung in Europa bereits zu Beginn des Industrialisierungsprozesses Anfang des 19. Jahrhunderts – als Arbeitstage von 14 oder 16 Stunden keine Seltenheit waren –420 mit Wettbewerbsnachteilen gegenüber Produzenten in einzelnen Ländern verbunden sein konnte. Die Verabschiedung gemeinsamer internationaler Standards ermöglichte die Einführung oder Erweiterung nationaler Standards, ohne Wettbewerbsfähigkeit einbüßen zu müssen. Die Regulierung der Arbeitszeiten war nach dem Ersten Weltkrieg entsprechend eines der zentralen Tätigkeitsfelder der ILO. Dies zeigt sich schon in der Hervorhebung der Thematik im Versailler Vertrag. Laut Art. 427 Abs. 3 Nr. 4, 5 des Versailler Vertrags „erscheinen den Hohen vertragschließenden Teilen die folgenden von besonderer und Beschleunigung erheischender Wichtigkeit: […] 4. Annahme des Achtstundentags oder der 48-Stunden-Woche als zu erstrebendes Ziel überall da, wo es noch nicht erreicht ist; 5. die Annahme einer wöchentlichen Arbeitsruhe von mindestens 24 Stunden, die nach Möglichkeit jedes Mal den Sonntag einschließen soll“. Auch die Präambel der ILO sieht vor, dass die Verbesserung der Arbeitsbedingungen „durch Regelung der Arbeitszeit, einschließlich der Festsetzung einer Höchstdauer des Arbeitstages und der Arbeitswoche“ dringend erforderlich sei.421 Inzwischen hat die ILO insgesamt 32 Übereinkommen und Empfehlungen zur Arbeitszeit verabschiedet. Thematisch betreffen diese die täglichen Höchstarbeitszeiten, die wöchentlichen Ruhezeiten, den bezahlten Jahresurlaub sowie Nachtarbeit und Teilzeitarbeit. Zu beachten ist allerdings, dass nicht alle Übereinkommen und Empfehlungen zu den Up-to-date-Standards gehören beziehungsweise sogar teilweise bereits aufgehoben wurden. Als up-to-date werden die Übereinkommen Nr. 14, 106, 171, 175, Protokoll Nr. 89 und die Empfehlungen 103, 116, 178, 182 angesehen. Zu einer Reihe von Normen wurde bisher nicht entschieden, ob sie noch zeitgemäß sind (Interim-Status). Zu diesen zählen die Übereinkommen Nr. 1, 30, 47, 89, 132 und die Empfehlung 98. Nur im Falle der Vornahme wesentlicher Änderungen können hingegen das Übereinkommen Nr. 153 und die Empfehlung Nr. 161 noch als zeitgemäß erachtet werden. Die Übereinkommen werden aber nach wie vor durch den Sachverständigenausschuss überprüft, weshalb auf sie bei der Auslegung der Richtlinie 2003/88/EG zurückgegriffen werden kann, sofern beachtet wird, dass die ILO selbst von der Notwendigkeit einer Erneuerung ausgeht.422 419 IAA, IAK, 107th Session 2018, Report III (Part B), General Survey concerning workingtime instruments, Rn. 12. 420 Ibid. 421 Vgl. auch Buschmann, AuR 2019, 498, 499. 422 Als „outdated“ wurden durch die Cartier-Arbeitsgruppe die Übk. Nr. 52, 101 und die Empfehlungen Nr. 47 und 93 eingeschätzt. Diese Normen sollten daher nicht mehr berücksichtigt werden. „Shelved“ (also nicht mehr ratifizierbar und überwacht) sind die Übk. Nr. 20,

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Schon die bloße Anzahl an Übereinkommen auf dem Gebiet des Arbeitszeitrechts macht eine Berücksichtigung durch nationale wie durch supranationale Gerichte schwierig. Aufgrund der Unübersichtlichkeit und teilweise Überholungsbedürftigkeit der Übereinkommen werden daher zurecht Reformen gefordert.423 Ein einheitliches Übereinkommen zu allen Fragen des Arbeitszeitrechts (ähnlich der Strukturierung der Normen des Seearbeitsrechts im Seearbeitsübereinkommen) würde für mehr Transparenz sorgen424 und hierdurch auch häufiger durch nationale und supranationale Gerichte aufgegriffen werden. b) Die Bezugnahme auf die ILO-Normen in Erwägungsgrund Nr. 6 der Richtlinie Anders als im Fall der Beeinflussung des Wortlauts des Art. 119 EWGV durch Übereinkommen Nr. 100 wurden bei der Arbeitszeitrichtlinie keine Übereinkommen der ILO zugrunde gelegt.425 Trotzdem ist gemäß Erwägungsgrund Nr. 6 „[h]insichtlich der Arbeitszeitgestaltung […] den Grundsätzen der Internationalen Arbeitsorganisation Rechnung zu tragen; dies betrifft auch die für Nachtarbeit geltenden Grundsätze“. Seifert sieht hierin zurecht die Absicht des Unionsgesetzgebers, das Recht der Mitgliedstaaten so zu harmonisieren, dass es mit den einschlägigen Normen der ILO in Einklang steht.426 aa) Reichweite des Verweises Diese Bezugnahme ist weit auszulegen und betrifft neben den Up-to-dateÜbereinkommen und Empfehlungen auch die Übereinkommen und Empfehlungen mit Interimstatus, sofern bei der Rezeption beachtet wird, dass manche Normen dieser Übereinkommen und Empfehlungen als überarbeitungsbedürftig angesehen werden.427 Der Verweis auf die Grundsätze der Nachtarbeit im zweiten Halbsatz des Erwägungsgrunds Nr. 6 stellt keine Hervorhebung dar, sondern dient der Klarstellung. Es ist zu beachten, dass im Recht der ILO die Instrumente des Arbeitszeitrechts (im weiteren Sinne) grob unterteilt werden einerseits in Instrumente zu den Höchstar43 und 49. Entspr. sollte auch auf diese nicht mehr Bezug genommen werden. Nicht in Kraft getreten und zurückgezogen sind die Übk. Nr. 31, 43, 46, 51, 61, 49. Zurückgezogen wurden auch die Empfehlungen Nr. 18, 21, 37, 38, 39, 63, 64, 65, 66. Aufgehoben i. S. v. Art. 19 Abs. 9 ILO-Verfassung wurden aus dem Bereich des Arbeitszeitrechts bisher (auf der 106. IAK 2017) Übk. Nr. 4, 41 und 67. Sie entfalten keine rechtliche Wirkung mehr und sollten daher ebenfalls nicht mehr in Bezug genommen werden. 423 Seifert, SR 2018, 169, 175. 424 Ibid. 425 Ibid., 178. 426 Ibid., 178. 427 Leider ist nicht veröffentlicht, welche konkreten Bestimmungen der Übk. und Empfehlung die Cartier-Arbeitsgruppe veranlassten, diese mit Interimstatus einzustufen.

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beitszeiten, wöchentlichen Ruhezeiten und bezahltem Jahresurlaub (Arbeitszeitrecht im engeren Sinne) und der Nachtarbeit andererseits.428 Entsprechend kann auch die vereinzelte Ansicht, das Urlaubsrecht (Übereinkommen Nr. 132) sei nicht vom Verweis in Erwägungsgrund Nr. 6 umfasst,429 nicht überzeugen. bb) Auslegung des Verweises Erwägungsgrund Nr. 6 enthält einen Hinweis zur Interpretation der Arbeitszeitrichtlinie. Verbindlich im Sinne einer „Mindestschutzklausel“ ist der Verweis auf die Grundsätze der ILO allerdings aus drei Gründen nicht. Erstens sind Erwägungsgründe schon als solche nicht verbindlich, sondern haben lediglich eine (gewichtige) Rolle bei der historischen Auslegung von Richtlinien. Rechte können aus ihnen nicht hergeleitet werden.430 Zudem ist bei der Umsetzung der Richtlinie den Grundsätzen der ILO lediglich „Rechnung zu tragen“, was semantisch die Einräumung eines Umsetzungsspielraums andeutet,431 der durch den Verweis auf die „Grundsätze“ noch weiter ausfällt. Eine Schranke bildet die Autonomie der Unionsrechtsordnung. Die fehlende völkerrechtliche Bindung der Union an die Übereinkommen führt dazu, dass Unionsrechtsakte im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit dem ILO-Recht nur 428

Vgl. www.ilo.org/normlex. Im Hinblick auf die „Grundsätze der Nachtarbeit“ ist insb. Übk. Nr. 171 zu berücksichtigen, vgl. Ulber, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, Rn. 7.34 u. Rn. 7.185. Zudem ist Empfehlung Nr. 178 einschlägig. Die Definitionen der „Nachtarbeit“ in Art. 2 Nr. 3 RL 2003/88/EG und Art. 1 lit. a) Übk. Nr. 171 entsprechen sich i. E. Der Begriff des „Nachtarbeiters“ ist in Art. 2 Nr. 4 RL 2003/88/EG konkreter gefasst als in Art. 1 lit. b) Übk. Nr. 171. Hinsichtlich ihres Gewährleistungsgehalts zum Schutz von Nachtarbeitern und anderen Arbeitnehmern, die zur Nachtzeit tätig sind, weisen RL und Übk. sowohl Übereinstimmungen als auch Unterschiede auf, vgl. etwa Art. 4 Übk. Nr. 171, Art. 9 Abs. 1 RL 2003/88/EG; Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 Übk. Nr. 171, Art. 9 Abs. 1 lit. b) RL 2003/88/EG. Bisher rezipierte der Sachverständigenausschusses die RL nur zur Erläuterung einer Reform in Portugal, siehe IAA, IAK, 86th Session 1998, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 457, Volltext der direct request nicht im Bericht veröffentlicht, aber abrufbar unter: https:// www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=1000:13101:0::NO:13101:P13101_COMMENT_ID:21 59882; IAA, IAK, 90th Session 2002, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 628 (es handelt sich um eine observation). Zu den Fällen der Rezeption des Nachtarbeitsverbots von Frauen unter Teil 4 B. II. 429 Fenski, NZA 2014, 1381, 1382 f., der den Begriff des „Arbeitszeitrechts“ im Recht der ILO am deutschen Verständnis des Arbeitszeitrechts (ArbZG/JArbSchG) orientiert. Der EuGH vertritt hingegen ein weites Verständnis des „Arbeitszeitrechts“, vgl. EuGH v. 3. Oktober 2000 – C-303/98 (SIMAP), Rn. 48, 52; EuGH v. 9. September 2003 – C-151/02 (Jaeger), Rn. 63 f., 68, 71; EuGH v. 20. Januar 2009 – C-350/06 und C-520/06 (Schultz-Hoff), Rn. 37 f.; s. a. Schubert, RdA 2014, 9. 430 GA Stix-Hackl, SA v. 25. November 2003 – C-222/02 (Paul), Rn. 132: „Um Rechte Einzelner zu begründen, bedarf es einer Bestimmung im verfügenden Teil der Richtlinie, die noch dazu die Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung erfüllen muss“; Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, § 11, Rn. 25. 431 GA Trstenjak, SA v. 7. Juli 2011 – C-214/10 (KHS), Rn. 84; lt. Buschmann, in: FS Etzel, S. 103, 108 gilt „Rechnung tragen“ im europ. Sprachgebrauch als „relativ harte Formulierung“; s. a. Buschmann, in: FS Düwell, 34, 40.

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nach dem Maßstab der Selbstbindung der Union zu beurteilen sind.432 Diese Selbstbindung der Union besteht, wie im Rahmen der Auslegung der GRCh, nicht in einer zwingenden Übernahme der völkerrechtlichen Schutzstandards. Die völkerrechtlichen Normen müssen aber im Rahmen der Auslegung der Richtlinie berücksichtigt werden. Zudem ist die Richtlinie im Lichte von Art. 31 Abs. 2 GRCh auszulegen. Aus Art. 31 Abs. 2 GRCh folgt allerdings kein Berücksichtigungsgebot, da die Anforderungen des Art. 53 GRCh für die einschlägigen Übereinkommen und Empfehlungen nicht erfüllt sind. Erwägungsgrund Nr. 6 schließt diese auslegungsmethodische Lücke. Er lässt den Willen des Richtliniengebers erkennen, die gesamte Richtlinie unter Berücksichtigung der Grundsätze auszulegen. Entsprechend verstärkt Erwägungsgrund Nr. 6 die Möglichkeit der Berücksichtigung zu einem Berücksichtigungsgebot.433 c) Bezahlter Jahresurlaubsanspruch Der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub bot bereits mehrfach Anlass für eine Auseinandersetzung des EuGH mit den Normen der ILO. Spätestens seit den Entscheidungen Schultz-Hoff und KHS bildet das Übereinkommen Nr. 132 eine zentrale Rechtserkenntnisquelle zur Auslegung von Art. 7 der Richtlinie.434 Umso mehr überrascht es, dass 2001 GA Tizziano noch in seinen Schlussanträgen im Verfahren BECTU zur Einordnung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zwar Art. 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, Art. 2 Abs. 3 ESC und Art. 7 lit. d) IPwskR rezipierte, die einschlägigen ILO-Übereinkommen hingegen nicht nennt.435 aa) FNV-Entscheidung (1) Rezeption in den Schlussanträgen Erstmals findet Übereinkommen Nr. 132 im Zusammenhang mit dem Anspruch aus Art. 7 RL 2003/88/EG in den Schlussanträgen von GA Kokott im Verfahren FNV Erwähnung.436 In diesem Verfahren stritt die Vereinigung niederländischer Gewerkschaften FNV mit dem niederländischen Staat darüber, ob die finanzielle Abgeltung des Mindestjahresurlaubs mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG vereinbar ist, wenn dieser nicht genommen, sondern ins nachfolgende Jahr übertragen worden ist. Die Kommission vertrat hierbei die Auffassung, dass zur Beantwortung der Frage, ob die Abgeltung von Teilen des Mindestjahresurlaubs zulässig ist, nachdem diese in 432 433 434 435 436

GA Trstenjak, SA v. 7. Juli 2011 – C-214/10 (KHS), Rn. 84. Zu dessen Inhalt unter Teil 4 C. II. 1. b). Ford, International Labor Rights Case Law 2019, 242, 242 f. GA Tizziano, SA v. 8. Februar 2001 – C-173/99 (BECTU), Rn. 23. GA Kokott, SA v. 12. Januar 2006 – C-124/05 (FNV), Rn. 25, Fn. 8.

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das nachfolgende Jahr übertragen wurden, geklärt werden müsse, inwieweit eine Übertragung von Teilen des Mindestjahresurlaubs überhaupt mit der Arbeitszeitrichtlinie vereinbar sei.437 Laut Generalanwältin Kokott könne diese „weit reichende Frage“ im vorliegenden Verfahren offen bleiben, da sie nicht zwingend für die Beantwortung der Vorlagefrage notwendig sei. Die Kommission vertrete nämlich auch die Auffassung, dass übertragene Urlaubsansprüche wirksam bleiben, selbst wenn die Übertragung mit der Arbeitszeitrichtlinie unvereinbar wäre.438 Dem sei insoweit zuzustimmen, als die Arbeitszeitrichtlinie offensichtlich nicht so ausgelegt werden kann, dass sie der wirksamen Übertragung des Mindestjahresurlaubs auf das nachfolgende Jahr in jedem denkbaren Fall entgegenstünde.439 In einer Fußnote greift Kokott das Übereinkommen Nr. 132 wie folgt auf: „Sollte der Gerichtshof trotzdem zur Übertragbarkeit Stellung nehmen, läge entsprechend dem sechsten Erwägungsgrund der Arbeitszeitrichtlinie eine Orientierung an dem Übereinkommen Nr. 132 […] nahe. [….] Nach Artikel 9 ist eine Übertragung grundsätzlich möglich, doch soll zumindest ein Teil des Mindesturlaubs zeitnah nach Abschluss des anspruchsbegründenden Jahres genommen werden“.440

(2) Einschlägige Spruchpraxis Ergänzend hätte die Generalanwältin auf vorhandene einschlägige Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses hinweisen können, nach der eine Ersetzung von Urlaubsansprüchen durch Abgeltungsansprüche – außer im Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses – unvereinbar mit den Vorgaben des Übereinkommens ist.441 (3) Keine Rezeption in der Entscheidung des EuGH Der EuGH ging im Zusammenhang mit dem Vortrag der Kommission, eine Übertragung von Mindesturlaubstagen sei rechtswidrig, darauf hin, dass diese Frage nicht mehr erörtert werden müsse, da sie bereits insoweit geklärt sei, dass durch Gemeinschaftsrecht gewährleisteter Urlaub anderen gemeinschaftsrechtlich ge437

Vgl. ibid., Rn. 25. GA Kokott, SA v. 12. Januar 2006 – C-124/05 (FNV), Rn. 25. 439 Ibid., Rn. 25. 440 Ibid., Rn. 25, Fn. 8. Ergänzend hätte GA Kokott auf Art. 12 des Übk. hinweisen können, nach dem u. a. der Verzicht auf den Mindestjahresurlaubanspruch gegen Entschädigung – je nach Systematik des nationalen Systems – als nichtig zu gelten hat oder zu verbieten ist. Art. 11 des Übk. sieht zudem vor, dass nur bei „Beendigung“ des Arbeitsverhältnisses etwa eine Urlaubsabgeltung vorgeschrieben werden kann. Erst aus dem Zusammenspiel von Art. 9, 11 und 12 Übk. Nr. 132 lässt sich erkennen, dass auch bei Übertragung des Urlaubsanspruchs in das Folgejahr eine Abgeltung im Recht der ILO verboten ist. 441 Vgl. etwa IAA, IAK, 91st Session 2003, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 611, direct request zu Tschechien, Volltext nicht im Bericht, aber abrufbar unter: https:// www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=1000:13101:0::NO:13101:P13101_COMMENT_ID:2212 763; nun auch IAA, IAK, 107th Session 2018, Report III (Part B), General Survey concerning working-time instruments, Rn. 373 f. 438

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währleisteten Urlaub nicht beeinträchtigen könne.442 Entsprechend könne bei Kumulierung mehrerer Urlaubsansprüche die Übertragung des Jahresurlaubs oder eines Teils davon auf das folgende Jahr unvermeidbar sein.443 Zur Beantwortung der Fallfrage führte der EuGH aus, dass die positive Wirkung des Urlaubs für die Gesundheit des Arbeitnehmers sich zwar nur vollständig entfalte, wenn er im laufenden Jahr genommen werde. Die Ruhezeit verliere ihre Bedeutung aber nicht, wenn sie zu einer späteren Zeit genommen werde.444 Da auch bei übertragenem Urlaub eine finanzielle Entschädigung für nichtgenommenen Urlaub einen Anreiz schaffe, auf den Erholungsurlaub zu verzichten, stehe Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie der Ersetzung des bezahlte Mindestjahresurlaub durch eine finanzielle Vergütung auch im Fall seiner Übertragung auf ein späteres Jahr entgegen.445 Auf Normen der ILO oder Spruchpraxis der Überwachungsausschüsse wird hierbei nicht eingegangen. bb) Schultz-Hoff-Entscheidung (1) Die deutschen Gerichte und das Übereinkommen Nr. 132 Hintergrund der Rechtsprechung des EuGH zum Verfall von Urlaubsansprüchen bei Krankheit des Arbeitnehmers bildet die Rechtsprechung des BAG, nach der die Urlaubsansprüche (spätestens) nach dem dreimonatigen Übertragungszeitraum des § 7 Abs. 3 BUrlG erloschen. Dies galt nach früherer Rechtsprechung auch dann, wenn es dem Arbeitnehmer krankheitsbedingt weder im Bezugszeitraum noch im Übertragungszeitraum möglich gewesen war, diesen Urlaub zu nehmen. In diesen Fällen hatte das BAG zudem nach der sogenannten Surrogationstheorie angenommen, dass auch ein an die Stelle des Urlaubsanspruchs tretender Abgeltungsanspruch im Sinne von § 7 Abs. 4 BurlG nach gleicher Maßgabe verfällt wie der ursprüngliche Urlaubsanspruch.446 Ob eine entsprechende Auslegung mit den Vorgaben der Richtlinie 2003/88/EG vereinbar ist, wollte das LAG Düsseldorf in einem Vorabentscheidungsverfahren klären lassen.447 Beachtenswert ist hierbei, dass bereits das LAG im Vorlagebeschluss auf Übereinkommen Nr. 132 Bezug nimmt.448 Das 442

EuGH v. 6. April 2006 – C-124/05 (FNV), Rn. 24 mit Verweis auf EuGH v. 14. April 2005 – C-519/03 (Kommission/Luxemburg), Rn. 33). 443 EuGH v. 6. April 2006 – C-124/05 (FNV), Rn. 24. 444 Ibid., Rn. 30. 445 Ibid., Rn. 32 f. 446 Etwa BAG v. 23. Juni 1983 – 6 AZR 180/80, BB 1984, 674; BAG v. 28. Juni 1984 – 6 AZR 521/81, NZA 1985, 156; BAG v. 7. Dezember 1993 – 9 AZR 683/92, NZA 1994, 802; BAG v. 5. Dezember 1995 – 9 AZR 871/94, NZA 1996, 594; BAG v. 27. Mai 1997 – 9 AZR 337/ 95, NZA 1998, 106; vgl. auch Schubert, RdA 2014, 9. 447 LAG Düsseldorf v. 2. August 2006 – 12 Sa 486/06, juris. 448 Ibid., Rn. 100, zu Erwägungen, durch entspr. Ausgestaltung der Vorlagefragen eine Rezeptionspraxis zu stärken unter Teil 4 B. II.

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

Vorlageverfahren kann in gewisser Weise als „Antwort“449 auf die Absage des BAG an das LAG Düsseldorf verstanden werden, die Surrogationstheorie unter Zuhilfenahme von Übereinkommen Nr. 132 aufzugeben.450 So hatte das BAG zuvor in einer anderen Entscheidung ausdrücklich entgegen die Annahmen des LAG die Bestimmungen von Übereinkommen Nr. 132 als nicht unmittelbar anwendbare völkerrechtliche Normen eingeordnet und konnte dem Übereinkommen auch sonst keine Regelung zum Verfall entnehmen.451 Es dürfte wohl dem Vorlagebeschluss des LAG Düsseldorf geschuldet gewesen sein, dass sich hiernach viele Verfahrensbeteiligten des Vorabentscheidungsverfahrens mit dem Inhalt der Übereinkommen der ILO auseinandersetzten. So verwies die italienische Regierung nicht nur auf Übereinkommen Nr. 132, sondern auch auf Übereinkommen Nr. 52.452 Dieser Verweis ist allerdings nicht allzu sinnvoll, da es sich bei Übereinkommen Nr. 52 (auch schon 2007) um ein nicht mehr zeitgemäßes (outdated) Übereinkommen handelte, das durch Übereinkommen Nr. 132 abgelöst wurde und auf das nicht mehr Bezug genommen werden sollte. (2) Rezeption in den Schlussanträgen Beide Übereinkommen wurden (unter zutreffender Wiedergabe ihres Verhältnisses zueinander) durch Generalanwältin Trstenjak neben anderen internationalen Instrumenten rezipiert. Trstenjak verwies auf die Übereinkommen und andere Instrumente, um aufzuzeigen, dass ein Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub, unabhängig von dessen konkreter Dauer, völkerrechtlich bereits lange gewährleistet sei. Dies sei bei der Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG zu berücksichtigen453 und bestätige Art. 31 Abs. 2 GRCh als Jedermann-Grundrecht.454 Zudem zog Generalanwältin Trstenjak das Übereinkommen auch zur „materiellen“ Beantwortung der Vorlagefragen heran. So sei bei einem Rückgriff auf ILO-Normen zu beachten, dass die Richtlinie 2003/88/EG ein höheres Mindestschutzniveau vorsehe als ILO-Übereinkommen Nr. 132. Letzteres beinhalte in Art. 9 für die Gewährung und Inanspruchnahme des Jahresurlaubs eine zeitliche Grenze von einem Jahr beziehungsweise 18 Monaten nach Ablauf des Jahres, für das der Urlaubsanspruch erworben wurde, während in Art. 7 Abs. 7 RL 2003/88/EG eine entsprechende Regelung fehle.455 Außerdem wurde „gegen eine Anknüpfung des Urlaubsanspruchs an 449

Krieger/Arnold, NZA 2009, 530: „urlaubsrechtliche Fehde“. BAG v. 7. Dezember 1993 – 9 AZR 683/92, NZA 1994, 802 sowie die Vorinstanz LAG Düsseldorf v. 29. September 1992 – 6 (12) Sa 811/92, juris (nur LS veröffentlicht), vgl. auch BAG v. 21. März 1995 – 9 AZR 959/93, juris; vgl. auch Böhmert, Das Recht der ILO, S. 259. 451 BAG v. 7. Dezember 1993 – 9 AZR 683/92, NZA 1994, 802, I. 5. b) bb) und I. 5. d). 452 GA Trstenjak, SA v. 24. Januar 2008 – C-350/06 und C-520/06, Rn. 26. 453 Ibid., Rn. 35 f. 454 Ibid., Rn. 37 f. 455 Ibid., Rn. 54 – was später in der Rs. KHS allerdings eine Rolle spielte, vgl. hierzu unter Teil 4 F. I. 2. c) cc). 450

F. Berücksichtigung wegen Bezugnahmen auf ILO-Normen in Richtlinien

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die Arbeitsfähigkeit“ angeführt, dass „nach dem eindeutigen Wortlaut des Art. 5 Abs. 4 des IAO-Abkommens Nr. 132 ,Arbeitsversäumnisse aus Gründen, die unabhängig vom Willen des beteiligten Arbeitnehmers bestehen, wie zum Beispiel Krankheit, Unfall oder Mutterschaft, als Dienstzeit anzurechnen‘“ seien. Art. 6 Abs. 2 ILO-Übereinkommen Nr. 132 schreibe vor, dass „Zeiten der Arbeitsunfähigkeit infolge von Krankheit oder Unfall in den vorgeschriebenen Mindestjahresurlaub nicht eingerechnet werden“ dürfen.456 Aus dem Telos dieser Bestimmungen ergebe sich, dass ein zuvor in Anspruch genommener Urlaub wegen Krankheit den Anspruch auf bezahlten Mindestjahresurlaub nicht beeinträchtigen dürfe.457 Bei dieser Berufung auf die Bestimmungen des Übereinkommens Nr. 132 und dessen Zielrichtung nahm Generalanwältin Trstenjak (ebenso wenig wie später die mit der Entscheidung befasste große Kammer) nicht Bezug auf die Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses zu ebendiesen Fragen. (3) Einschlägige Spruchpraxis zum Zeitpunkt der Entscheidung Bereits 1991 wurde vom Sachverständigenausschuss in einer direct request an die Bundesregierung gefordert, eine Entscheidung des BAG von 1983 zu § 7 Abs. 4 BUrlG vorzulegen, welche vom DGB als Verletzung von Übereinkommen Nr. 132 angesehen wurde.458 Nachdem Erhalt und Durchsicht der Entscheidung wandte sich der Sachverständigenausschuss erneut mit einer direct request an die Bundesregierung. Der Ausschuss merkte an, dass Schwierigkeiten hinsichtlich der Vereinbarkeit der Entscheidung des BAG mit Übereinkommen Nr. 132 bestünden. Art. 11 Übereinkommen Nr. 132 räume bei seiner Umsetzung zwar einen gewissen Spielraum hinsichtlich der Form der bei Beendigung zu beziehenden Leistung ein. Bei Leistung nach Art. 11 handele es sich aber um ein Recht eines jeden Arbeitnehmers, der eine Mindestdienstzeit geleistet habe.459 Nach Ablauf dieses Zeitraums (der gemäß Art. 5 Abs. 2 sechs Monate nicht überschreiten darf) bestehe der Anspruch ohne weitere Einschränkungen.460 Im Hinblick auf den Urlaubsabgeltungsanspruch macht der Ausschuss darauf aufmerksam, dass Art. 11 festlege, dass die Leistung in Form einer Abgeltung geltend gemacht werden kann.461 Man 456

GA Trstenjak, SA v. 24. Januar 2008 – C-350/06 und C-520/06, Rn. 66. Ibid., Rn. 67. 458 IAA, IAK, 78th Session 1991, Report III (Part 1, 2 and 3), Report of the CEACR, S. 447, Volltext der direct request nicht im Bericht veröffentlicht, aber abrufbar unter: https://www.ilo. org/dyn/normlex/en/f?p=1000:13101:0::NO:13101:P13101_COMMENT_ID:2091155. Nicht klar wird aus dem Bericht des Sachverständigenausschuss, um welche konkreten Entscheidung es sich handeln soll. 1983 wurden zwei hierzu einschlägige Urteile getroffen, BAG v. 26. Mai 1983 – 6 AZR 273/82, juris und BAG v. 23. Juni 1983 – 6 AZR 180/80, juris. 459 Hierbei verweist der Ausschuss auf Art. 5 Abs. 1 des Übk. 460 IAA, IAK, 79th Session 1992, Report III (Part 1, 2 and 3), Report of the CEACR, S. 478, Volltext der direct request nicht im Bericht veröffentlicht, aber abrufbar unter: https://www.ilo. org/dyn/normlex/en/f?p=1000:13101:0::NO:13101:P13101_COMMENT_ID:2091155. 461 Ibid. Hierbei verweist er auch auf Art. 7 des Übk. 457

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

freue sich über weitere Angaben der Bundesregierung, welche Maßnahmen zu diesen Aspekten des Übereinkommens ergriffen oder erwogen werden würden.462 Die damalige Bundesregierung ging inhaltlich allem Anschein nach nicht auf die direct request ein. Stattdessen ließ man den Sachverständigenausschuss wissen, dass die Anfrage nach den Bundestagswahlen im Oktober 1994 behandelt werde, was zu einer erneuten direct request an die Bundesregierung führte.463 1998 nahm der Ausschuss zur Kenntnis, dass die Prüfung der Frage im Rahmen des Vorhabens der Kodifizierung des Arbeitsrechts in einem Gesetz erneut verschoben worden sei.464 Einen erneuten Aufschub musste der Sachverständigenausschuss auch 2002 („with regret“)465 und 2003 („the Committee hopes that the Government will not fail to provide in its next report detailed information on measures taken or envisaged to give effect to this provision of the Convention“)466 feststellen. Es lässt sich somit festhalten, dass zum Zeitpunkt des Verfahrens Schultz-Hoff Spruchpraxis zur Vereinbarkeit der deutschen Rechtslage mit Übereinkommen Nr. 132 vorhanden war.467 Hierauf wird leider weder in den Schlussanträgen, dem Vorlagebeschluss, noch in früherer Rechtsprechung des LAG Düsseldorf468 oder der Literatur469 verwiesen. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass insbesondere in den 1990er Jahren die direct requests des Sachverständigenausschusses nicht öffentlich auffindbar waren, da diese nicht im Volltext in den Berichten veröffentlicht wurden und das Normlex System der ILO (www.ilo.org/normlex) zur Einsicht in die direct requests (wohl)470 noch nicht bestand. 462

Ibid. IAA, IAK, 82nd Session 1995, Report III (Part 1, 2 and 3), Report of the CEACR, S. 370, Volltext der direct request nicht im Bericht veröffentlicht, aber abrufbar unter: https://www.ilo. org/dyn/normlex/en/f?p=1000:13101:0::NO:13101:P13101_COMMENT_ID:2091155. 464 IAA, IAK, 85th Session 1999, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 520, Volltext der direct request nicht im Bericht veröffentlicht, aber abrufbar unter: https://www.ilo. org/dyn/normlex/en/f?p=1000:13101:0::NO:13101:P13101_COMMENT_ID:2091155. 465 IAA, IAK, 91st Session 2003, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 611, Volltext der direct request nicht im Bericht veröffentlicht, aber abrufbar unter: https://www.ilo. org/dyn/normlex/en/f?p=1000:13101:0::NO:13101:P13101_COMMENT_ID:2091155. 466 IAA, IAK, 92nd Session 2004, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, Volltext der direct request nicht im Bericht veröffentlicht, aber abrufbar unter: https://www.ilo.org/dyn/norm lex/en/f?p=1000:13101:0::NO:13101:P13101_COMMENT_ID:2091155. 467 Zum Vereinigten Königreich, aus dem das mit der Rechtssache Schultz-Hoff (C-350/06) verbundene Vorlageverfahren Stringer u. a. (C-520/06) stammte, liegen keine Schlussfolgerungen oder Anfragen zu Übk. Nr. 132 vor. 468 Zu denken ist an LAG Düsseldorf v. 5. September 1991 – 12 Sa 672/91, nach welcher die Befristung des Urlaubsanspruchs auf das Kalenderjahr bzw. auf den Übertragungszeitraum (wie durch das BAG angenommen) gegen Art. 9 Abs. 1 Übk. Nr. 132 verstoße. 469 Etwa in der Auseinandersetzung mit dem Übk. Nr. 132 bei Ostrop, NZA 1993, 208, 211, der auf das Berichtssystem hinweist. 470 Die Homepage der ILO existiert ausweislich der Angaben unter www.ilo.org/normlex seit 1996. Es ist aber nicht klar, seit welchem Zeitpunkt die einzelnen Anmerkungen des Sachverständigenausschusses hier abgerufen werden können. 463

F. Berücksichtigung wegen Bezugnahmen auf ILO-Normen in Richtlinien

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(4) Rezeption in der Entscheidung des EuGH Der EuGH entschied, dass eine nationale Regelung für die Ausübung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub Modalitäten vorsehen könne, die sogar den Verlust dieses Anspruchs am Ende eines Bezugszeitraums oder eines Übertragungszeitraums beinhalten. Dies sei aber mit Art. 7 Abs. 1 Richtlinie 2003/88/EG nur vereinbar, wenn der Arbeitnehmer, dessen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erloschen ist, tatsächlich die Möglichkeit hatte, den ihm mit der Richtlinie verliehenen Anspruch auszuüben.471 Im Fall einer Krankschreibung bis zum Ende des Bezugszeitraums sei dies nicht der Fall.472 Bei dieser Einschätzung hatte der EuGH ausgehend vom 6. Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88/EG auch Übereinkommen Nr. 132 rezipiert: Es sei festzustellen, dass nach Art. 5 Abs. 4 Übereinkommen Nr. 132 „Arbeitsversäumnisse aus Gründen, die unabhängig vom Willen des beteiligten Arbeitnehmers bestehen, wie z. B. Krankheit, als Dienstzeit anzurechnen [sind].“473 Ähnlich wie der Sachverständigenausschuss474 (allerdings ohne Verweis auf die Spruchpraxis) argumentiert der EuGH, die Richtlinie beziehe sich auf „jeden Arbeitnehmer“, wobei nicht zwischen krankgeschriebenen und ihre Arbeitsleistung erbringenden Arbeitnehmern unterschieden würde.475 Hieraus folge, dass ein Mitgliedstaat ordnungsgemäß krankgeschriebenen Arbeitnehmern den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht verwehren könne.476 (5) Exkurs: Rezeption der EuGH-Entscheidung durch den Sachverständigenausschuss Die Entscheidung Schultz-Hoff wurde wiederum durch den Sachverständigenausschuss aufgegriffen. Bereits in seinem Bericht von 2010 hebt der Sachverständigenausschuss hervor („notes with interest“), dass sowohl die Generalanwältin als auch der EuGH zur Auslegung der RL 2003/88/EG ausdrücklich auf Übereinkommen Nr. 132 zurückgegriffen hätten.477 Die Entscheidung Schultz-Hoff wird nicht nur gegenüber Deutschland, sondern auch anderen EU-/EWR-Mitgliedstaaten wegen (möglichen) Verletzungen von Übereinkommen Nr. 132 angeführt. So finden sich in direct requests gegenüber Belgien,478 Finnland,479 Kroatien,480 Norwegen,481 471

EuGH v. 20. Januar 2009 – C-340/06 und C-520/06 (Schultz-Hoff), Rn. 43. Ibid., Rn. 44, 48. 473 Ibid., Rn. 38. 474 Trebilcock, EuZA 2013, 178, 183. 475 EuGH v. 20. Januar 2009 – C-340/06 und C-520/06 (Schultz-Hoff), Rn. 39 f. 476 Ibid., Rn. 41. 477 IAA, IAK, 99th Session 2010, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 651, Volltext der direct request nicht im Bericht veröffentlicht, aber abrufbar unter: https://www.ilo. org/dyn/normlex/en/f?p=1000:13101:0::NO:13101:P13101_COMMENT_ID:2091155. 478 IAA, IAK, 99th Session 2010, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 651; IAA, IAK, 103rd Session 2014, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 479; IAA, IAK, 104th Session 2015, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 410, Volltext der direct requests 472

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

Tschechien482 und Ungarn483 Verweise auf Schultz-Hoff – auch zu teils abweichenden Fallgestaltungen. So wird die Entscheidung Schultz-Hoff etwa gegenüber Ungarn bezüglich der abweichenden Berücksichtigung von Krankheitstagen bei der Entstehung des Urlaubsanspruches (vgl. Art. 5 Abs. 4 Übereinkommen Nr. 132) angeführt.484 Warum der Sachverständigenausschuss Schultz-Hoff auch in andersgelagerten Fallkonstellationen anführt, kann nur gemutmaßt werden. Möglicherweise möchte der Ausschuss auf die Entscheidung des EuGH hinweisen, da dessen Orientierung an den Vorgaben des Übereinkommens Nr. 132 die Einhaltung des Übereinkommens „relevanter“ für die Mitgliedstaaten werden lässt. Ein weiteres Beispiel, das diese Ansicht untermauert, ist eine direct request an Lettland im Zusammenhang mit Art. 4 Übereinkommen Nr. 132. Nach lettischem Recht war bei unterjährigen Beschäftigungsverhältnissen wohl kein anteiliger Jahresurlaubsanspruch vorgesehen, weshalb der Sachverständigenausschuss hierzu nähere Informationen anforderte.485 In diesem Zusammenhang wies er darauf hin, dass in diesem Kontext auch die EuGH-Entscheidung BECTU486 zu einer entsprechenden Auslegung von Art. 7 Abs. 1 RL 93/104/EG ergangen sei. cc) KHS-Entscheidung In der Rechtssache KHS/Schulte wurde dem EuGH durch das LAG Hamm die Frage vorgelegt, ob eine zeitliche Begrenzung der Ansammlung von Urlaubsanjeweils nicht im Bericht veröffentlicht, aber abrufbar unter: https://www.ilo.org/dyn/normlex/ en/f?p=1000:13101:0::NO:13101:P13101_COMMENT_ID:2315274. 479 IAA, IAK, 103rd Session 2014, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 479, Volltext der direct request nicht im Bericht veröffentlicht, aber abrufbar unter: https://www.ilo. org/dyn/normlex/en/f?p=1000:13101:0::NO:13101:P13101_COMMENT_ID:3137075: neben dem Verweis auf die Entscheidung Schultz-Hoff findet sich auch ein Verweis auf EuGH v. 21. Juni 2012 @ C-78/11 (Anged). 480 IAA, IAK, 99th Session 2010, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 651; IAA, IAK, 103rd Session 2014, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 479; IAA, IAK, 104th Session 2015, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 410; IAA, IAK, 105th Session 2016, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 465, Volltext der direct requests jeweils nicht im Bericht veröffentlicht, aber abrufbar unter: https://www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=1 000:13101:0::NO:13101:P13101_COMMENT_ID:3294731. 481 IAA, IAK, 100th Session 2011, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 666, Volltext der direct request nicht im Bericht veröffentlicht, aber abrufbar unter: https://www.ilo. org/dyn/normlex/en/f?p=1000:13101:0::NO:13101:P13101_COMMENT_ID:2336116. 482 IAA, IAK, 99th Session 2010, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 651, Volltext der direct request nicht im Bericht veröffentlicht, aber abrufbar unter: https://www.ilo. org/dyn/normlex/en/f?p=1000:13101:0::NO:13101:P13101_COMMENT_ID:3146423. 483 IAA, IAK, 103rd Session 2014, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, Volltext der direct request veröffentlicht unter https://www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=1000:13101 :0::NO:13101:P13101_COMMENT_ID:3147321. 484 Ibid. 485 Ibid. 486 EuGH v. 26. Juni 2001 – C-173/99 (BECTU).

F. Berücksichtigung wegen Bezugnahmen auf ILO-Normen in Richtlinien

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sprüchen im Falle von Arbeitsunfähigkeit mit der Richtlinie 2003/88/EG vereinbar sei. Konkret wurde die Vereinbarkeit mit einer zeitlichen Begrenzung auf 18 Monate genannt.487 Hintergrund bildete ein Rechtsstreit zwischen der KHS-AG und ihrem ehemaligen Beschäftigten, Herrn Schulte, über die Abgeltung des wegen der Folgen eines Infarkts nicht genommenen Urlaubs für die Jahre 2006 bis 2008.488 Im durch das LAG Hamm zu entscheidenden Fall ergab sich eine Übertragungsperiode von insgesamt 15 Monaten, sofern der Urlaub wegen Krankheit nicht genommen werden konnte, aus einem Manteltarifvertrag für die Metall- und Elektroindustrie in Nordrhein-Westfalen. Entsprechend überrascht auf den ersten Blick die zeitliche Konkretisierung auf 18 Monate, da sich diese weder aus dem konkreten Fall noch dem deutschen Recht noch aus der Richtlinie unmittelbar ergibt. Das LAG Hamm zog die achtzehnmonatige Begrenzung wegen Erwägungsgrund Nr. 6 der Richtlinie in Betracht. Art. 9 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 132 sehe für den bezahlten Jahresurlaub Fristen für die Verwirklichung vor. Diese betrügen für den ununterbrochenen Teil des bezahlten Jahresurlaubs ein Jahr, für den übrigen Teil 18 Monate.489 (1) Rezeption in den Schlussanträgen Generalanwältin Trstenjak ging in ihren Schlussanträgen davon aus, dass Sinn und Zweck von Art. 7 RL 2003/88/EG eine grenzenlose Ansammlung von Urlaubsund Abgeltungsansprüchen nicht notwendigerweise voraussetze. Eine entsprechende Begrenzung durch die Mitgliedstaaten sei daher grundsätzlich zulässig.490 Fraglich sei aber, ob die Begrenzung bereits aus der Richtlinie selbst folge. Eine explizite Regelung hierzu fehle. Die Begrenzung lasse sich aber womöglich aus Art. 9 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 132 gewinnen.491 Im Ergebnis lehnte Trstenjak dies ab. Die zeitliche Begrenzung sei zwar möglich, aber nicht durch das Unionsrecht vorgesehen, da dies einer Teilharmonisierung in einem Bereich gleichkommen würde, in dem sich gemäß Art. 7 RL 2003/88/EG die Bedingungen aus einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten ergeben. Es lasse sich nicht erkennen, dass der Unionsgesetzgeber die in Art. 9 Abs. 1 des Übereinkommens Nr. 132 vorgesehene maximale Übertragungsfrist von achtzehn Monaten nach Ablauf des Bezugsjahrs heranziehen wolle.492 Der von Trstenjak vorgeschlagene Mittelweg besteht darin, dass unionsrechtlich lediglich überprüfbar sei, ob die nationale Regelung es dem Arbeitnehmer gestatte, die ihm von der Richtlinie verliehenen Ansprüche geltend zu machen.493 Auch hier greift die Generalanwältin Art. 9 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 132 auf: Wegen des Verweises im 6. Erwägungsgrund sei bei 487 488 489 490 491 492 493

LAG Hamm v. 15. April 2010 – 16 Sa 1176/09, juris, Leitsatz. Ibid., Rn. 3 ff. Ibid., Rn. 71. GA Trstenjak, SA v. 7. Juli 2011 – C-214/10 (KHS), Rn. 46 ff. Ibid., Rn. 83 ff. Ibid., Rn. 86. Ibid., Rn. 87.

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einer Begrenzung nach 18 Monaten von einer Richtlinienkonformität auszugehen.494 Nicht klar wird aus den Schlussanträgen, ob auch nationale Regelungen, die kürzere Übertragungszeiträume vorsehen, unionsrechtskonform sein können, oder ob die Richtlinie in ihrer Auslegung durch Art. 9 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 132 eine Mindestdauer von 18 Monaten enthalte.495 (2) Keine ergiebige Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses zur achtzehnmonatigen Begrenzung bei Krankheit Soweit ersichtlich, existierte zum Zeitpunkt der Entscheidung KHS keine Spruchpraxis zum Inhalt und der Reichweite von Art. 9 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 132 im Zusammenhang mit der Unmöglichkeit des Urlaubsantritts bei Arbeitsunfähigkeit. Allerdings geht aus den Anmerkungen des Sachverständigenausschusses zur deutschen Rechtslage hervor, dass zumindest ein Übertragungszeitraum von drei Monaten zu kurz ist.496 Dass die achtzehnmonatige Begrenzung des Zeitraums für die Geltendmachung des Urlaubsanspruchs nach ILO-Recht auch im Falle von dauerhafter Arbeitsunfähigkeit gilt, war naheliegend, konnte aber zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht mit Spruchpraxis untermauert werden. (3) Rezeption in der Entscheidung des EuGH Der EuGH folgte im Wesentlichen den Schlussanträgen der Generalanwältin. Der Anspruch eines während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähigen Arbeitnehmers könne gewisse zeitliche Grenzen nicht überschreiten, da er danach seine positive Wirkung als Erholungszeit verliere.497 Nach dem Hinweis, dass der im anwendbaren Manteltarifvertrag vorgesehene Übertragungszeitraum von 15 Monaten länger als der Bezugszeitraum sei, rezipierte auch der EuGH Art. 9 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 132, der „dahin aufgefasst werden [könne], dass [er] auf der Erwägung beruht, dass der Zweck der Urlaubsansprüche bei Ablauf der dort vorgesehenen Fristen nicht mehr vollständig erreicht werden kann“498. Bei der Berechnung des Übertragungszeitraums muss laut EuGH „der Zweck des Anspruchs auf Jahresurlaub, wie er sich aus Art. 9 I des Übereinkommens ergibt“ berücksichtigt werden.499 „Vernünftigerweise“ könne aber davon ausgegangen werden, dass ein Zeitraum von 15 Monaten diesem Zweck nicht zuwiderlaufe.500

494

Ibid. In den SA v. 7. Juli 2011 – C-214/10 (KHS), Rn. 89 geht GA Trstenjak zwar davon aus, dass „ein mitgliedstaatliches Abweichen von dieser Frist rechtlich möglich“ sei; führt sodann aber nur Beispiele einer Abweichung zu Gunsten des Arbeitnehmers auf. 496 Hierzu unter Teil 4 F. I. 2. c) bb) (3). 497 EuGH v. 22. November 2011 – C-214/10 (KHS), Rn. 33. 498 Ibid., Rn. 41. 499 Ibid., Rn. 42. 500 Ibid., Rn. 43. 495

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(4) Exkurs: Rezeption der EuGH-Entscheidung durch den Sachverständigenausschuss Da bisher nicht durch den Sachverständigenausschuss entschieden worden war, ob eine Begrenzung auf einen fünfzehnmonatigen Übertragungszeitraum mit den Vorgaben des Übereinkommens vereinbar ist, hätten sich die Rechtsprechung des EuGH und die des Sachverständigenausschusses über die Auslegung von Übereinkommen Nr. 132 theoretisch widersprechen können.501 So wäre es möglich gewesen, dass der Sachverständigenausschuss die letztinstanzliche Entscheidung im deutschen Ausgangsverfahren502 hätte rügen können. In seinen Berichten trifft er allerdings keine Aussage darüber, ob die Begrenzung auf einen fünfzehnmonatigen Übertragungszeitraum eine Verletzung des Übereinkommens darstellt. In seinem 2014 veröffentlichten Bericht503 hebt der Ausschuss hervor, dass das BAG im Lichte der EuGH-Entscheidung KHS seine Position überprüfen musste und in einem Urteil aus dem August 2012 504 die fünfzehnmonatige Frist nach Ablauf des Jahres, in dem der Urlaub entstanden ist, für rechtmäßig befand.505 Ob diese – im Vergleich zur Rechtslage nach Schultz-Hoff für den Arbeitnehmer nachteiligere Lage – mit den Vorgaben von Übereinkommen Nr. 132 kompatibel sind, wird durch den Ausschuss zunächst nicht beantwortet. Stattdessen ersucht er die Regierung, das Internationale Arbeitsamt über mögliche Gesetzesänderungen zu unterrichten.506 In den Folgejahren wurden keine weiteren direct requests in diesem Zusammenhang gestellt,507 noch sind andere direct requests oder observations mit dem Kontext eines kürzeren Übertragungszeitraums auffindbar. Es kann somit davon ausgegangen werden, dass die unionsrechtlichen Vorgaben im Fall der KHS-Entscheidung mit Übereinkommen Nr. 132 vereinbar sind. Ebenfalls findet sich im general survey von 2018 keine ausdrückliche Bestätigung der Begrenzung der 501

Diese Auslegung des Übereinkommens überzeugt Heuschmid, SR 2014, 1, 6 nicht. BAG v. 10. Dezember 2013 – 9 AZR 494/12, juris; vgl. zuvor auch BAG v. 7. August 2012 – 9 AZR 353/10, juris; die teilweise LAG Baden-Württemberg v. 29. April 2010 – 11 Sa 64/09, juris, verwarf und ebenfalls die KHS-Entscheidung des EuGH berücksichtigte. 503 Dieser wurde Ende 2013 verfasst, weshalb die Entscheidung des BAG v. 10. Dezember 2013 – 9 AZR 494/12, juris, nicht berücksichtigt werden konnte. 504 BAG v. 7. August 2012 – 9 AZR 353/10, juris. 505 IAA, IAK, 103rd Session 2014, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 479, Volltext der direct request nicht im Bericht veröffentlicht, aber abrufbar unter: https://www.ilo. org/dyn/normlex/en/f?p=1000:13100:0::NO:13100:P13100_COMMENT_ID,P11110_COUN TRY_ID,P11110_COUNTRY_NAME,P11110_COMMENT_YEAR:3147318,102643,Germa ny,2013. 506 Ibid. Durchaus existierten zu diesem Zeitpunkt Forderungen, § 7 BUrlG den Vorgaben der neuen Rspr. anzupassen, siehe Bauer/von Medem, NZA 2012, 113, 116; Pötters/Stiebert, ZESAR 2012, 23, 29 f.; Bayreuther, DB 2011, 2848; Abele, RdA 2009, 312, 318; Franzen, NZA 2011, 1403, 1404, 1405 (mit Formulierungsvorschlag). Ob die BReg entspr. Bestrebungen teilte und den Ausschuss hierüber unterrichtete, ist nicht bekannt. 507 Vgl. etwa IAA, IAK, 104th Session 2015, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 479. 502

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Ansammlung von Urlaubsansprüchen im Falle von Krankheit. Zwar betont der Ausschuss, wie wichtig es sei sicherzustellen, dass die Übertragung des Urlaubs einen angemessenen Zeitraum, den das Übereinkommen auf 18 Monate festlegt, nicht überschreiten darf.508 Im Zusammenhang mit der Rezeption der Schultz-HoffEntscheidung bleibt die KHS-Entscheidung allerdings unerwähnt509 und auch sonst offen, ob die Begrenzung des erlaubten Übertragungszeitraums auch im Falle der Unmöglichkeit des Urlaubs wegen Krankheit greift. Dies liegt allerdings nahe, wie mit den Berichten zu Deutschland aufgezeigt werden konnte. dd) Williams-Entscheidung In der Rechtssache Williams hatte der EuGH in einem Fall einer Pilotin darüber zu entscheiden, ob Regelungen zum Urlaubsentgelt in einem zwischen British Airways und der Gewerkschaft BALPA vereinbarten „memorandum of agreement“ mit Unionsrecht vereinbar sind. Das Memorandum sah vor, dass variable Entgeltbestandteile der Piloten, wie etwa Zulagen für Flugstunden und Zeiten der Abwesenheit vom Stützpunkt, bei der Berechnung des Urlaubsentgelts keine Berücksichtigung fanden.510 (1) Rezeption in den Schlussanträgen Generalanwältin Trstenjak setzte sich in ihren Schlussanträgen mehrfach mit Übereinkommen Nr. 132 auseinander. Zunächst rezipiert GA Trstenjak zur Auslegung des Begriffs des „bezahlten“ Jahresurlaubs511 Art. 7 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 132. Dieser sehe vor, dass jede Person, die den im Übereinkommen vorgesehenen Urlaub nimmt, für die ganze Urlaubsdauer „mindestens ihr normales oder durchschnittliches Entgelt“ zu erhalten habe.512 Dieser Verweis auf Art. 7 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 132 wird später nochmals konkretisiert. So verweise Art. 7 RL 2003/ 88/EG hinsichtlich der Berechnung des durchschnittlichen Entgelts und des dabei zugrunde gelegten Referenzzeitraums auf „die nationalen Rechtsvorschriften und/ oder Gepflogenheiten“. Dies bedeute, dass der nationalen Gesetzgeber oder die Sozialpartner Bedingungen zu schaffen hätten, nach denen das durchschnittliche

508 IAA, IAK, 107th Session 2018, Report III (Part B), General Survey concerning workingtime instruments, Rn. 359. 509 Vgl. ibid., Rn. 372: „the [ECJ] has reaffirmed the inalienable character of the right of workers to annual holidays with pay and has clearly established that the leave entitlement of an employee who has not had the opportunity to take the leave cannot be extinguished, even if any [!] carry-over period has expired“. 510 EuGH v. 15. September 2011 @ C-155/10 (Williams), Rn. 8. 511 Neben der Entscheidung des EuGH v. 16. März 2006 – C-131/04 und C-257/04 (Robinson-Steele), Rn. 58; sowie EuGH v. 21. Januar 2009 – C-350/06 u. C-520/06 (Schultz-Hoff), Rn. 58. 512 GA Trstenjak, SA v. 16. Juni 2011 – C-155/10 (Williams), Rn. 50.

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Entgelt gezahlt werde.513 Entsprechendes gelte im internationalen Arbeitsrecht, „aus dem wichtige Grundsätze hätten abgeleitet werden können“.514 Der Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 Übereinkommens Nr. 132 lege als Grundsatz die Ermittlung eines Durchschnittsverdiensts nahe. Hinsichtlich der Berechnungsmethode und des Referenzzeitraums verweise er aber ebenfalls auf die nationalen Stellen („dieses Entgelt [ist] in jedem Land auf eine von der zuständigen Stelle oder durch geeignete Verfahren zu bestimmende Weise zu berechnen“).515 Zur Bestimmung der Reichweite des Verweises auf die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten zieht GA Trstenjak zudem Art. 1 Übereinkommen Nr. 132 heran. Laut diesem sind „die Bestimmungen dieses Übereinkommens durch die innerstaatliche Gesetzgebung durchzuführen, soweit ihre Durchführung nicht durch Gesamtarbeitsverträge, Schiedssprüche, gerichtliche Entscheidungen, amtliche Verfahren zur Lohnfestsetzung oder auf irgendeine andere, den innerstaatlichen Gepflogenheiten entsprechende Art und Weise erfolgt, die unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse jedes Landes geeignet erscheint“.516 (2) Keine ergiebige Spruchpraxis zur Berechnung des Urlaubsentgeltanspruches Wie von GA Trstenjak berücksichtigt, sieht Art. 7 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 132 zwei Möglichkeiten vor, nach denen das Urlaubsentgelt bestimmt werden kann. So kann das Urlaubsentgelt durch Rückgriff auf das „normale“ oder das „durchschnittliche“ Entgelt bestimmt werden. Zu berücksichtigen sind jeweils der Gegenwert in bar für jeden Teil dieses Entgelts, der aus Sachleistungen besteht, sofern es sich nicht um Dauerleistungen handelt, die ohne Rücksicht darauf weitergewährt werden, ob sich die betreffende Person im Urlaub befindet oder nicht. Ebenso ist zutreffend, dass das Verfahren zur Berechnung dieses Entgelts gemäß Art. 7 Abs. 1 2. Hs. Übereinkommen Nr. 132 von der zuständigen Stelle oder durch geeignete Verfahren zu bestimmen ist. Zusätzlich hätte auch § 11 Empfehlung Nr. 98 berücksichtigt werden können.517 Dieser sieht vor, dass jede Person, die bezahlten Jahresurlaub nimmt, für die ganze Urlaubsdauer mindestens das Entgelt, das durch Gesamtarbeitsverträge, Schiedssprüche oder die innerstaatliche Gesetzgebung für eine solche Urlaubsdauer festgelegt ist (lit. a)), erhalten soll, oder aber ihr gewöhnliches Entgelt, wie es durch die innerstaatliche Gesetzgebung oder nach einer anderen, den Gepflogenheiten des betreffenden Staates entsprechenden Regelung festgesetzt ist, einschließlich des Gegenwertes in bar für ein gegebenenfalls aus Sachleistungen bestehendes Entgelt (lit. b)). 513 514 515 516 517

Ibid., Rn. 84. Ibid., Rn. 85. Ibid. Ibid., Rn. 64. Interimstatus.

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Zwar existierte zum Zeitpunkt der Schlussanträge und der Entscheidung bereits ein general survey zur Arbeitszeit, der auch Aussagen zum Urlaubsentgelt trifft.518 Allerdings findet sich dort keine Aussage, die unmittelbar Antwort auf die Vorlagefrage gibt, ob die Sozialpartner bei der Bestimmung des Urlaubsentgelts auch zu Lasten des Arbeitnehmers bestimmte Entgeltbestandteile nicht berücksichtigen dürfen.519 (3) Keine Rezeption in der Entscheidung des EuGH Nach der Entscheidung des EuGH mussten auch diese besonderen Entgeltformen bei der Berechnung des Urlaubsentgelts zugrunde gelegt werden, sofern diese entweder untrennbar mit der Erfüllung der Aufgaben des Arbeitnehmers verbunden sind und durch einen in die Berechnung seines Gesamtentgelts eingehenden Geldbetrag abgegolten werden oder an seine persönliche und berufliche Stellung anknüpfen.520 Anders als die Generalanwältin rezipiert der EuGH bei der Begründung521 seiner Antwort auf die Vorlagefrage keine Normen der ILO.522 ee) King-Entscheidung Bei dem Vorabentscheidungsverfahren King aus Großbritannien war wie im Verfahren Schultz-Hoff und KHS über Nichtgewährung und der Verfall von Urlaubsansprüchen zu entscheiden. Im Unterschied zu den vorangegangenen Fällen wurde hier der Urlaub der vergangenen Jahre nicht aus Krankheitsgründen nicht genommen. Es handelte sich vielmehr um einen Fall von Scheinselbstständigkeit, die 13 Jahre lang bis zum Eintritt des Klägers in den Ruhestand bestanden hatte.523 Der Arbeitnehmer war in dieser Zeit nicht davon ausgegangen, dass er einen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub hatte. Der Court of Appeal England & Wales wollte durch den EuGH klären lassen, ob im Fall einer Streitigkeit über die Frage, ob der Arbeitnehmer Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub habe, dieser den Urlaub zunächst 518

IAA, IAK, 70th Session 1984, Report III (Part 4B), General survey on working time – reduction of hours of work, weekly rest and holidays with pay, S. 113 – 118 zum Urlaubsentgeltanspruch vgl. insb. den Hinweis in Rn. 273 auf eine Reihe von observations und direct requests bzgl. der Anwendung der Übk. Nr. 52 und Nr. 101 zum Urlaubsentgelt hinsichtlich Sachleistungen und der Zahlung ihres Barwertes; nun IAA, IAK, 107th Session 2018, Report III (Part B), General Survey concerning working-time instruments, S. 122 ff. 519 Nichts anderes ergibts sich zudem aus dem von GA Trstenjak zitierten Aufsatz von Blanpain, IJCLIR 2000, 364. 520 EuGH v. 15. September 2011 @ C-155/10 (Williams), Rn. 32. 521 Auch in der Entscheidung Williams war Richter Levits Berichterstatter; zu der besonderen Bedeutung der Person des Berichterstatters für den Ausgang von Verfahren Gruber, ZESAR 2019, 457, 458. 522 Vgl. zur Entscheidung Williams auch Rudkowski, in: Schlachter/Heinig, Europäisches Arbeits- und Sozialrecht, § 12, Rn. 62 ff. 523 EuGH v. 29. November 2017 – C-214/16 (King), Rn. 14 ff.: teilweise hatte der Kläger auch Urlaub genommen, dieser war allerdings nicht vergütet worden.

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nehmen müsse, ehe festgestellt werden könne, ob dieser bezahlt oder unbezahlt sei. Daneben war entscheidungserheblich, ob der Urlaubsanspruch in Fällen, in denen der Arbeitnehmer seinen Urlaub nur deshalb nicht genommen hat, weil er keine Vergütung erhalten hätte, so lange übertragen werden kann, bis der Arbeitnehmer die Möglichkeit zur Ausübung des Anspruchs hat.524 (1) Rezeption in den Schlussanträgen In den Schlussanträgen bezieht sich Generalanwalt Tanchev zweimal auf ILONormen. Zunächst rezipiert er zur rechtlichen Einordnung des Urlaubsanspruches als Grundrecht nach Art. 31 Abs. 2 GRCh, den er als besondere Ausformung der Menschenwürde analysiert, Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens Nr. 132. Dieser sei zwingend gefasst und richte sich auch nicht ausschließlich an Staaten.525 Zudem greift Tanchev Art. 9 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 132 auf. Aus diesem könne sich eine Begrenzung ergeben, die auf Grundlage des 6. Erwägungsgrundes auch für die Auslegung der Richtlinie von Relevanz sei. Da Art. 9 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 132 aber die Möglichkeit zur Ausübung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub voraussetze, sei die Begrenzung von 18 Monaten nicht im vorliegenden Kontext anzuwenden.526 Auf die Bedenken bezüglich einer „überschießenden TeilHarmonisierung“ der Generalanwältin Trstenjak bei einer Übernahme der achtzehnmonatigen Frist in den Inhalt der Richtlinie (statt einer Prüfung der Vereinbarkeit von Begrenzungen auf nationaler Ebene) ging Generalanwalt Tanchev daher nicht ein.527 (2) Keine ergiebige Spruchpraxis zur achtzehnmonatigen Befristung bei fehlender Regelung und Möglichkeit den Urlaub zuvor zu nehmen Soweit ersichtlich, ist ebenso wie zur Frage des Verfalls von Urlaubsansprüchen bei Unmöglichkeit der Geltendmachung wegen Arbeitsunfähigkeit keine Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses vorhanden, die den Verfall des Urlaubsanspruches bei Scheinselbstständigkeit zum Gegenstand hat. (3) Rezeption in der Entscheidung des EuGH Ausgehend von der Berücksichtigung der ILO-Übereinkommen in den Entscheidungen KHS und Schultz-Hoff fällt die Rezeption von Übereinkommen Nr. 132 in der Entscheidung King für den EuGH eher untypisch aus. So führt der EuGH bei der Darstellung des rechtlichen Rahmens der Entscheidung zunächst Art. 9 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 132 an. Dieses sei von 37 Staaten ratifiziert worden, „zu denen 524

Ibid., Rn. 24. GA Tanchev, SAv. 8. Juni 2017 – C-214/16 (King), Rn. 40. Tanchev geht somit bei Art. 3 Abs. 1 Übk. Nr. 132 (anders als das BAG) von einer self-executing Norm aus. 526 Ibid., Rn. 83. 527 Vgl. ibid., Rn. 86. 525

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das Vereinigte Königreich nicht gehört“.528 Da Art. 9 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 132 in der weiteren Entscheidung nicht weiter aufgegriffen wird, stellt sich zunächst die Frage, warum der EuGH nur Art. 9 Abs. 1, nicht hingegen Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens rezipiert. Die Rezeption von Art. 9 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 132 ist wohl als Hinweis auf die Höchstübertragungsdauer von 18 Monaten zu verstehen, die, wie im Fall KHS entschieden wurde, im nationalen Recht vorgesehen werden könne. Auf den Fall von Scheinselbstständigkeit seien die Erwägungen zum Schutz der Interessen des Arbeitgebers vor einer unbegrenzten Ansammlung von Urlaubsansprüchen nicht übertragbar.529 Im Ergebnis schließt sich der EuGH somit Generalanwalt Tanchev an, der Art. 9 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 132 als „irrelevant“ für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens einstufte.530 Warum die von Generalanwalt Tanchev als Selfexecuting-Norm eingestufte Bestimmung des Art. 3 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 132 zumindest im Rahmen der Darstellung des rechtlichen Rahmens Berücksichtigung fand, bleibt rätselhaft. Schließlich ist diese bei der Einordnung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub als „wesentlichem“531 Grundsatz des Sozialrechts der Union von Relevanz.532 Da aber bereits Generalanwalt Tanchev die Herleitung des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub ausführlich erläutert hatte,533 wurde die Erwähnung von Art. 3 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 132 möglicherweise als nicht notwendig angesehen.534 Wie ist allerdings der Hinweis auf den weltweiten Ratifizierungsstand statt etwa eines Hinweises auf den Ratifizierungsstand unter den EU-Mitgliedstaaten535 zu verstehen? Der Hinweis auf den Ratifizierungsstand unter allen ILO-Mitgliedern sollte nicht überbewertet werden. Möglicherweise diente er allein der Einkleidung des Hinweises auf die fehlende Ratifizierung des Übereinkommens Nr. 132 durch das Vereinigte Königreich. Diese dürfte wohl keine Auswirkungen auf die Auslegung der Richtlinie gehabt haben, wenngleich dieser Eindruck zunächst entsteht, da das Übereinkommen schließlich im weiteren Verlauf nicht aufgegriffen wird. Ohne eine ausdrückliche Aussage des EuGH darüber, dass die fehlende Ratifikation eines 528

EuGH v. 29. November 2017 – C-214/16 (King), Rn. 3 f. Ibid., Rn. 59 f. 530 Vgl. GA Tanchev, SA v. 8. Juni 2017 – C-214/16 (King), Rn. 83. 531 Hierin erkennt Mülder, ZESAR 2019, 212, 213 f. eine zusätzliche Betonung ggü. früheren Formulierungen wie „besonders bedeutsamen Grundsatz des Sozialrechts“ etwa in EuGH v. 26. Juni 2001 – C-173/99 (Bectu), Rn. 43 und EuGH v. 13. Juni 2013 – C-415/12 (Brandes), Rn. 27. 532 EuGH v. 29. November 2017 – C-214/16 (King), Rn. 32; siehe aber zur Bauer-Entscheidung unter Teil 4 F. I. 2. c) gg). 533 GA Tanchev, SA v. 8. Juni 2017 – C-214/16 (King), Rn. 37 zudem mit Verweis auf Art. 24 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und Art. 7 lit. d) IPwskR. 534 Sodann aber wieder ausdrücklich in der Bauer-Entscheidung, hierzu unter Teil 4 F. I. 2. c) gg). 535 Derzeit haben 15 EU-Mitgliedstaaten das Übereinkommen ratifiziert. 529

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Übereinkommens durch den Staat des Ausgangsverfahrens künftig einer Berücksichtigung entgegensteht, ist hiervon auch nicht auszugehen. Ansonsten hätte in der jüngeren Dicu-Entscheidung Übereinkommen Nr. 132 ebenfalls nicht angeführt werden können, da Rumänien dieses ebenfalls nicht ratifiziert hat. Der Inhalt dieser Entscheidung soll sogleich behandelt werden. ff) Dicu-Entscheidung Das Vorabentscheidungsverfahren Dicu betraf ebenfalls die Frage des Verfalls von Urlaubsansprüchen. Der Berufungsgerichtshof Cluj hatte dem EuGH die Frage vorgelegt, ob – ebenso wie im Falle von Krankheit (Schultz-Hoff-Entscheidung) oder Mutterschutz (Merino-Gomez-Entscheidung) –536 der Urlaubsanspruch während der Elternzeit nicht verfalle. (1) Schlussanträge des Generalanwalts Ebenso wie später der EuGH nimmt Generalanwalt Mengozzi an, dass Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88/EG nationalen Rechtsvorschriften, nach denen Elternzeit bei der Berechnung der Dauer des bezahlten Jahresurlaubs außer Acht bleibt, nicht entgegenstehe, da dieser Zeitraum einem Zeitraum tatsächlicher Arbeitsleitung nicht gleichgestellt sei.537 Hierbei greift der Generalanwalt in einer Fußnote auch Übereinkommen Nr. 132 auf. Dieses sehe ausdrücklich vor, dass Arbeitsversäumnisse wegen Krankheit als Dienstzeit anzureichen seien. Es treffe aber keine Aussage für den Fall des Elternurlaubs.538 (2) Keine ergiebige Spruchpraxis zum Verfall des Urlaubs bei Elternzeit Es ist keine Spruchpraxis zur Frage des Verfalls von Urlaubsansprüchen während der Elternzeit vorhanden, die für die Beantwortung der Vorlagefrage hätte rezipiert werden können. Insbesondere verweist der (im Februar 2018 veröffentlichte) general survey zu den Arbeitszeitinstrumenten nur auf die Fälle von Krankheit, Verletzung und Mutterschutz.539 Andere Normen waren ebenfalls wenig hilfreich. Zwar hätte noch auf § 7 Abs. 1 Abs. 3 Empfehlung Nr. 98 verwiesen werden können, in dem verschiedene Ereignisse und Tätigkeiten aufgezählt werden, die den Urlaubsanspruch unberührt lassen, wozu unter anderem Krankheit, Unfall, Mutterschutzzeiten, die Abwesenheit infolge 536 Hierzu (ohne Rezeption von ILO-Übereinkommen) EuGH v. 18. März 2004 – C-342/01 (Merino Gómez), Rn. 34, 35 und 38. 537 GA Mengozzi, SA v. 20. März 2018 – C-12/17 (Dicu), Rn. 31. 538 Ibid., Rn. 27, Fn. 45. 539 IAA, IAK, 107th Session 2018, Report III (Part B), General Survey concerning workingtime instruments, Rn. 372; vgl. auch Daum, RdA 2019, 49, 51, der ebenfalls zum Ergebnis gelangt, dass das Übk. keine Aussage über den Verfall des Urlaubs bei Elternzeit trifft.

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von Familienereignissen540 und Militärdienst oder die Erfüllung von Pflichten, die sich aus gewerkschaftlich Aufgaben ergeben, zählen.541 Allerdings ist nicht klar, ob der Katalog der (zwar unverbindlichen, aber bei der Auslegung von Übereinkommen Nr. 132 heranzuziehenden) Empfehlung insoweit abschließend ist. (3) Rezeption in der Entscheidung des EuGH Der Verweis auf Übereinkommen Nr. 132 in der EuGH-Entscheidung beschränkt sich auf die Wiederholung von dessen Rezeption in der Schultz-Hoff-Entscheidung.542 Es werden weder ausdrücklich die Einschätzungen von Generalanwalt Mengozzi aufgegriffen noch anderweitige Einschätzungen zu Übereinkommen Nr. 132 oder anderen Normen der ILO getroffen. gg) Bauer- und Shimizu-Entscheidungen Auch in der Bauer-Entscheidung greift der EuGH Übereinkommen Nr. 132 auf, während der Generalanwalt die Normen der ILO unberücksichtigt lässt.543 Die Vorlage des BAG betraf erstens die Frage, ob Art. 7 RL 2003/88/EG oder Art. 31 Abs. 2 GRCh dem Erben eines während des Arbeitsverhältnisses verstorbenen Arbeitnehmers einen Anspruch auf einen finanziellen Ausgleich für den dem Arbeitnehmer vor seinem Tod zustehenden Mindestjahresurlaub einräumt. Dies war nach Ansicht des BAG nach deutschem Recht (§ 7 Abs. 4 BUrlG i. V. m. § 1922 Abs. 1 BGB) ausgeschlossen.544 Übereinkommen Nr. 132 wird (je nach Lesart) zur Frage der Entstehung des Urlaubsabgeltungsanspruchs bei den Erben trotz fehlendem Anspruch auf Geldleistung zum Zeitpunkt des Todes (so die frühere Sichtweise des BAG) beziehungsweise der Frage des Übergang des pekuniären Bestandteils des Urlaubsanspruchs auf die Erben (so der EuGH)545 nicht herangezogen. Das Übereinkommen wird aber bei der Beantwortung der zweiten Vorlagefrage rezipiert. So wollte das BAG wissen, ob im Falle des Übergangs des Anspruchs auf die Erben etwas anderes gelte, falls es sich bei dem Arbeitgeber und dem toten Arbeitnehmer um zwei Privatpersonen handelt. Der EuGH verneinte dies und entschied nach Wiederholung der Grundsätze der Nichtanwendung des Inhalts einer

540 Mit der „Abwesenheit infolge von Familienereignissen“ dürften wohl die in manchen Ländern vorgesehenen Bestimmungen über unbezahlte oder bezahlte (vgl. etwa § 616 BGB) Freistellungen oder zusätzliche Urlaubstage bei Geburt von Kindern, Hochzeit oder dem Tod von Angehörigen, nicht jedoch eine längere Phase wie die Elternzeit gemeint sein. 541 Hieraus folgt allerdings auch, dass für die Entscheidung des EuGH v. 18. März 2004 – C342/01 (Merino Gómez) eine Rezeption der ILO-Normen hilfreich gewesen wäre. 542 EuGH v. 4. Oktober 2018 – C-12/17 (Dicu), Rn. 32. 543 Vgl. GA Bot, SA v. 29. Mai 2018 – C-569/16 u. a. (Bauer u. a.). 544 BAG v. 18. Oktober 2016 – 9 AZR 196/16 (A), juris. 545 EuGH v. 6. November 2018 – C-569/16 u. a. (Bauer u. a.), Rn. 61 f.

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Richtlinie im horizontalen Verhältnis,546 dass der Anspruch auf Zahlung des Urlaubsentgelts von Art. 31 Abs. 2 GRCh umfasst sei und daher zwischen Privaten anwendbar sei.547 Der EuGH rezipiert hierbei das Übereinkommen Nr. 132 sowie die ESC und die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer, um den „Ursprung“ des Grundsatzes des Sozialrechts der Union zu erläutern.548 Dieser Grundsatz umfasse den Anspruch auf „bezahlten“ Jahresurlaub als solchen und den mit diesem eng verbundenen Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen Jahresurlaub.549 Aus der Bauer-Entscheidung folgt daher, dass die Herleitung allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts aus Übereinkommen der ILO, an denen die Mitgliedstaaten der EU beteiligt sind oder die von diesen ratifiziert wurden, sowie jenen, die in Erwähnungsgründen von Richtlinien aufgeführt werden, auch im Zusammenhang mit der Einordung der Bestimmungen der GRCh als Rechte oder Grundsätze von Relevanz ist und nicht nur im Hinblick auf das Berücksichtigungsgebot des Inhalts einer Bestimmung nach Art. 53 GRCh.550 Die Shimizu-Entscheidung bestätigt diese Ansicht. In diesem Verfahren über die (hier vereinfacht wiedergegebene) Frage, ob ein Verfall des Urlaubsanspruchs mangels Antragstellung des Arbeitnehmers zulässig sei,551 führte der EuGH im Rahmen der Herleitung des allgemeinen Grundsatzes erneut Übereinkommen Nr. 132 an. Zu den „völkerrechtlichern Verträgen, bei dem die Mitgliedstaaten mitgewirkt haben oder denen sie beigetreten sind“ zähle die ESC, der alle Mitgliedstaaten der EU angehören, „da sie ihr entweder in ihrer ursprünglichen Fassung, in ihrer revidierten Fassung oder ihren beiden Fassungen beigetreten sind“. „Zu erwähnen“ sei auch Übereinkommen Nr. 132, das bereits in der Rechtssache SchultzHoff aufgrund des 6. Erwägungsgrunds rezipiert worden sei.552 Generalanwalt Bot hatte in seinen vorangegangen Schlussanträgen keine Auseinandersetzung mit Normen der ILO vorgenommen.553 Ob den Arbeitgeber auch nach den Vorgaben des Übereinkommens Nr. 132 eine Obliegenheit trifft, den Arbeitnehmer auf den bevorstehenden Verfall des Urlaubs aufmerksam zu machen,554 damit dieser tatsächlich eintreten kann, ist durch den Sachverständigenausschuss – ausgehend von den Berichten zur Einhaltung von

546

Ibid., Rn. 76. Ibid., Rn. 79. 548 Ibid., Rn. 81. 549 Ibid., Rn. 58 u. Rn. 83. 550 Hierzu unter Teil 4 C. II. 1. b). 551 EuGH v. 6. November 2018 – C-684/16 (Shimizu), Rn. 17. 552 Ibid., Rn. 70; keine Rezeption hingegen in der „Parallelentscheidung“ EuGH v. 6. November 2018 – C-619/16 (Kreuziger). 553 GA Bot, SA v. 29. Mai 2018 – C-684/16 (Shimizu). 554 EuGH v. 6. November 2018 – C-684/16 (Shimizu), Rn. 45. 547

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Übereinkommen Nr. 132 durch Deutschland und im general survey von 2018555 – allem Anschein nach nicht entschieden. d) Mindestruhezeiten und wöchentliche Höchstarbeitszeiten – Simap-Entscheidung Bisher findet sich in Entscheidungen des EuGH zur Auslegung von Art. 3 – 6 RL 2003/88/EG keine Bezugnahme auf Übereinkommen, Empfehlungen oder Spruchpraxis der ILO. In seinen Schlussanträgen im Simap-Verfahren verweist allerdings Generalanwalt Saggio auf Übereinkommen Nr. 30.556 Diese Zurückhaltung überrascht zunächst, da viele Parallelen vorhanden sind: Regelungen zur Höchstarbeitszeit finden sich sowohl in Art. 6 RL 2003/88/EG (wöchentlich 48 Stunden) als auch in Übereinkommen Nr. 1, 30 und 47 (alle mit Interimstatus). Ebenso überschneiden sich die Gewährleistungsgehalte von Art. 3 (tägliche Ruhezeit), Art. 4 (Ruhepausen) und Art. 5 (wöchentliche Ruhezeit) mit denen der Übereinkommen Nr. 14 und Nr. 106 (beide up-to-date).557 Zu beachten ist, dass die Übereinkommen der ILO teilweise deutlich strengere Vorgaben treffen als die RL 2003/88/EG. Als Beispiel seien Art. 2 lit. b) und lit. c) Übereinkommen Nr. 1 angeführt, aus denen sich ergibt, dass für die Berechnung der 48-stündigen Höchstarbeitszeit pro Woche grundsätzlich ein Zeitraum von drei Wochen zugrunde gelegt wird.558 Ausgangspunkt der Simap-Entscheidung war die Frage, ob die Definition von „Arbeitszeit“ in Art. 2 RL 2003/88/EG auch Bereitschaftszeiten umfasst. Die Richtlinie definiert Arbeitszeit als jede Zeitspanne, „während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt“. Das spanische Gericht hatte dem EuGH unter anderem die Frage vorgelegt, ob im Fall von Ärzten, die Bereitschaftsdienst in einer Weise leisten, dass sie ständig erreichbar sind, nicht aber in der Einrichtung persönlich anwesend sein müssen, die gesamte Zeit als Arbeitszeit anzusehen ist. Alternativ könne laut Vorlagegericht auch nur die Zeit, die sie (aktiv) mit der Tätigkeit, zu der sie tatsächlich gerufen werden, als Arbeitszeit anzusehen sein.559 Sowohl Spanien, Finnland als auch die Kommission vertraten letztere Ansicht, da die in Art. 2 RL 2003/88/EG genannten Kriterien kumulativ zu verstehen seien.560

555 Vgl. IAA, IAK, 107th Session 2018, Report III (Part B), General Survey concerning working-time instruments. 556 Mit Hinweis hierauf auch Zimmer, in: Schlachter/Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht, § 5, Rn. 184. 557 Vgl. auch Lörcher, in: Kohte/Faber/Feldhoff, HKArbSchR, § 1, Anhang, Rn. 1. 558 Vgl. Buschmann, in: FS Düwell, S. 40 mit weiterem Beispiel. 559 EuGH v. 3. Oktober 2000 – C-303/98 (SIMAP), Rn. 128. 560 Vgl. GA Saggio, SA v. 16. Dezember 1999 – C-303/98 (SIMAP), Rn. 22 ff., Rn. 34; s. a. Buschmann, AuR 2019, 499, 501.

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aa) Rezeption in den Schlussanträgen Generalanwalt Saggio vertrat hingegen den Standpunkt, dass die in Art. 2 aufgeführten Kriterien als eigenständige Sachverhalte von Arbeitsleistungen zu verstehen sind.561 Unter anderem griff Saggio hierbei Art. 2 Übereinkommen Nr. 30 über die Arbeitszeit im Handel auf. Art. 2 Übereinkommen Nr. 30 definiert Arbeitszeit im Sinne des Übereinkommens als „die Zeit, während der die Arbeitnehmer zur Verfügung des Arbeitgebers stehen; sie umfasst nicht die Ruhepausen, während der die Arbeitnehmer nicht zur Verfügung des Arbeitgebers stehen“. Laut Saggio befinde sich der Arbeitnehmer folglich, wenn er dem Arbeitgeber vollständig zur Verfügung steht, nicht in einer Ruhezeit, weshalb im Umkehrschluss die Zeit, in der er dem Arbeitgeber zur Verfügung steht, zur Arbeitszeit gerechnet werden müsse.562 Weitergehende Quellen, die diese Auslegung des Übereinkommens Nr. 30 stützen, beziehungsweise andere Normen der ILO führte der Generalanwalt nicht an. bb) Zum Zeitpunkt der Entscheidung keine ergiebige Spruchpraxis zur Einordnung von Bereitschaftszeiten Tatsächlich enthält Übereinkommen Nr. 1 im Gegensatz zu Übereinkommen Nr. 30 keine Definition von „Arbeitszeit“. Allerdings kann die Definition des Art. 2 Übereinkommen Nr. 30 aufgrund seiner Entstehungsgeschichte auch für Übereinkommen Nr. 1 zugrunde gelegt werden.563 Zum Zeitpunkt der Schlussanträge und der Entscheidung des EuGH im Jahr 1999 beziehungsweise 2000 existierte kein general survey zu den Übereinkommen der Arbeitszeit.564. Ebenso lassen sich keine Anmerkungen des Sachverständigenausschusses zur Einordnung von „On-Call-“ bzw. „Standby“-Zeiten, zur Auslegung der Formulierung „at the disposal of the employer“ oder überhaupt zur Konkretisierung von Art. 2 Übereinkommen Nr. 30 aus der Zeit vor der Simap-Entscheidung finden. Entsprechend konnte der Generalanwalt zur Auslegung von Übereinkommen Nr. 1 und Nr. 30 nicht auf Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses zurückgreifen. Vor dem Hintergrund des Vorlageverfahrens im Krankenhausbereich wäre es zwar naheliegend gewesen, auf die speziell für die Arbeits- und Lebensbedingungen des Krankenpflegepersonals verabschiedeten Normen der ILO zurückzugreifen.565 Diese 561

Ibid., Rn. 34 ff. Ibid., Rn. 34. 563 IAA, IAK, 93rd Session 2005, Report III (Part 1B), General Survey regarding hours of work – from fixed to flexible?, Rn. 45 f. Seifert, SR 2018, 169, 176 kritisiert zu Recht, dass die Übk. keinen allg. Arbeitszeitbegriff beinhalten. 564 Erst nach der Entscheidung in der Rechtssache Simap wurden zwei General Surveys (2005 und 2018) veröffentlicht, hierzu sogleich unter (d). 565 Eine Rezeption des Art. 5 Abs. 4 Übk. Nr. 180 wäre wohl nicht in Betracht gekommen. Dieser war zwar zum Zeitpunkt der Simap-Entscheidung noch nicht durch das Seearbeitsübereinkommen abgelöst worden; ebenso sah Art. 5 Abs. 5 vor, dass in Fällen, „in denen ein Seemann Bereitschaftsdienst hat, wenn beispielsweise ein Maschinenraum unbesetzt ist“, dem 562

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liefern zur Frage der Einordnung von Bereitschaftszeiten aber ebenfalls keine hilfreichen Erkenntnisse. Art. 6 lit. a) des Übereinkommens Nr. 149 bestimmt, dass dem Krankenpflegepersonal hinsichtlich der Arbeitszeit mindestens gleichwertige Bedingungen zu gewähren sind wie anderen Arbeitnehmern. In § 30 lit. c) der Empfehlung Nr. 157 findet sich zudem eine Definition von „Bereitschaftszeiten“566 (on-call duty). Hiernach sind im Rahmen der Empfehlung Nr. 157 unter „Bereitschaftsdienst“ Zeiten zu verstehen, „in denen sich das Krankenpflegepersonal am Arbeitsplatz oder anderswo zur Verfügung des Arbeitgebers hält, um einer eventuellen Arbeitsaufforderung nachzukommen“. Dies spricht zunächst für eine sehr weite Auslegung des Arbeitszeitbegriffs. Allerdings sieht § 43 lit. b) der Empfehlung vor, dass die Entscheidung über die „Voraussetzungen, unter denen Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit angerechnet wird“ im Einvernehmen oder in Beratung mit den Vertretern beziehungsweise Verbänden des Krankenpflegepersonals getroffen wird. Hieraus folgt, dass nicht sämtliche Zeiten von Bereitschaftsdiensten im Sinne von § 30 lit. c) Empfehlung Nr. 157 automatisch als Arbeitszeit anzusehen sind, sondern die konkreten Umstände (nach der Rechtsprechung des EuGH und schon zuvor nach der deutschen Unterteilung in Arbeitsbereitschaft, Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft) zu berücksichtigen sind. Entsprechend wäre auch ein Rückgriff auf die spezifischen Normen der ILO für den Krankenhausbereich nicht hilfreich gewesen. cc) Keine Rezeption in der Entscheidung des EuGH Der EuGH folgte GA Saggios Antrag im Ergebnis567 und in weiten Teilen seiner Begründung.568 Die Rezeption von Art. 2 Übereinkommen Nr. 30 wurde nicht übernommen, allerdings auch nicht abgelehnt. Gleiches gilt für die Rechtssache Jaeger, in welcher der EuGH letztlich die in der Rechtssache Simap gewonnenen Erkenntnisse nur konsequent auf die deutsche Rechtslage übertragen musste.569

Seemann eine angemessene Ruhezeit als Ausgleich zu gewähren, „wenn die normale Ruhezeit durch Aufrufe zur Arbeit gestört wird“ – ein Ausgleich scheint also nur für aktive Phasen des Bereitschaftsdienstes zu gewähren. Aufgrund der besonderen Umstände der Hochseeschifffahrt, die sich arbeitsrechtlich gerade im Bereich der Arbeitszeit zeigen, scheiden Rückschlüsse für die Auslegung der allgemeineren arbeitsrechtlichen Bestimmungen aber wohl aus. Ohnehin hat der Sachverständigenausschuss später in seinem General Survey von 2005 eine breitere Auslegung des Arbeitszeitbegriffs für Art. 5 Abs. 4 Übk. Nr. 180 vorgenommen, vgl. IAA, IAK, 93rd Session 2005, Report III (Part 1B), General Survey regarding hours of work – from fixed to flexible?, Rn. 49. 566 Dies sollte aber nicht im Sinne des dt. Arbeitszeitrechts verstanden werden. 567 Vgl. Buschmann, in: FS Düwell, S. 24, 41. 568 EuGH v. 3. Oktober 2000 – C-303/98 (Simap). 569 EuGH v. 9. September 2003 – C-151/02 (Jaeger), vgl. auch Davies, EU Labour Law, S. 212 f.

F. Berücksichtigung wegen Bezugnahmen auf ILO-Normen in Richtlinien

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dd) Exkurs: Rezeption der EuGH-Entscheidung durch den Sachverständigenausschuss Interessanterweise haben die Entscheidungen Simap und Jaeger aber ihrerseits wohl570 zur Entwicklung einer Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses beigetragen. 2005 finden sich sowohl in den länderspezifischen Anmerkungen als auch im general survey erstmals Schlussfolgerungen zu Bereitschaftszeiten. Der Sachverständigenausschuss orientierte sich bei der Bestimmung des Begriffs der Arbeitszeit an der EuGH-Rechtsprechung: So betont er ebenfalls, dass für die Einordnung eines Zeitraums als Arbeitszeit ein Arbeitnehmer entweder eine Arbeit ausführen oder dem Arbeitgeber zur Verfügung steht muss.571 Dem Arbeitgeber „zur Verfügung zu stehen“ bedeute nicht, dass der Arbeitnehmer zu diesem Zeitpunkt „ausschließlich“ zur Verfügung stehe. Zur Abgrenzung zwischen Arbeitszeit und Ruhezeit sei darauf abzustellen, ob der Arbeitnehmer in der Bereitschaftszeit an persönlichen Aktivitäten gehindert werde, um dem Arbeitgeber effektiv zur Verfügung zu stehen.572 Zu diesem Ergebnis gelangt der Sachverständigenausschuss nach ausführlicher Rezeption der EuGH-Entscheidung Jaeger, die auch sich inhaltlich mit der Spruchpraxis deckt.573 Basierend auf dem general survey von 2005 stellte der Sachverständigenausschuss auch mehrere direct requests an Tschechien zur Frage der Abgrenzung von Bereitschaftszeiten.574 In einer direct request von 2013 griff er hierbei auch explizit

570 Zu beachten ist, dass im Zeitraum der EuGH-Entscheidungen Simap und Jaeger auch außerhalb der EU On-call-Modelle häufiger zum Einsatz kamen. Dies bewegte den Sachverständigenausschuss möglicherweise dazu, sich intensiver mit diesem neuen Organisationsmodell auseinanderzusetzen. Zu beachten ist, dass das Mandat des Sachverständigenausschusses entspr. dem Inhalt der Übereinkommen auch Fragen zur Vergütung von Bereitschaftszeiten umfasst. 571 Vgl. IAA, IAK, 93rd Session 2005, Report III (Part 1B), General Survey regarding hours of work – from fixed to flexible?, Rn. 46: „The definition of ,hours of work‘ in both Conventions is based on the criteria of ,being at the disposal of the employer‘. However, the Conventions are silent on whether a period of time should be considered as ,hours of work‘ in cases where workers are merely present at the workplace without performing work. It would therefore appear that what is required under both Conventions is that workers either have a duty to perform the work assigned by the employer or be at the disposal of the employer until work is assigned“. 572 Ibid., Rn. 51. 573 Ibid., Rn. 49, wobei die Darstellung der Entscheidung allerdings wenig erhellend wirkt und die wesentlichen (auf der deutschen Systematik basierenden) Details zur Abgrenzung nicht wiedergegeben werden. Für Leser, die nicht mit der Rspr. des EuGH ohnehin vertraut waren, dürfen die Ausführungen im General Survey jedenfalls nicht erhellend sein. Deutlich besser gelingt dies in IAA, IAK, 107th Session 2018, Report III (Part B), General Survey concerning working-time instruments, Rn. 704, vgl. auch 36 ff., Rn. 702 ff. 574 IAA, IAK, 93rd Session 2005, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, Volltext abrufbar unter: https://www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=1000:13101:0::NO:13101:P13101_ COMMENT_ID:2246676.

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

die Entscheidungen Simap und Jaeger auf.575 Dies bestätigt den bereits gewonnenen Eindruck, dass der Sachverständigenausschuss Entscheidungen des EuGH rezipiert, um den Regierungen des Mitgliedstaat aufzuzeigen, dass ein konventionskonformens Verhalten auch positive Auswirkungen auf die Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit Unionsrecht hat. Auch zu anderen Fragen der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeiten hat der Sachverständigenausschuss häufig die Arbeitszeitrichtlinie und Entscheidungen des EuGH in seinen Berichten aufgegriffen. So werden in mehreren observations und direct requests zu Übereinkommen Nr. 1 Bezüge zur unionsrechtlichen Ebene sichtbar. Es handelt sich zumeist um Randnotizen oder Erläuterung der Hintergründe einer Gesetzesänderung oder anderer Entwicklungen. Interessanterweise finden sich auch Hinweise zu möglichen Anpassungen der RL 2003/88/EG, konkret dem opt-out.576 Es ist aber zu betonen, dass allein durch die Einräumung der Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen von den Vorgaben der Richtlinie abzuweichen,577 der Richtliniengeber noch nicht gegen Völkerrecht verstößt. Es sind vielmehr die Mitgliedstaaten, die einschlägige Übereinkommen der ILO ratifiziert haben und trotzdem vom opt-out Gebrauch machen, die gegen ILORecht verstoßen.

575 IAA, IAK, 103rd Session 2013, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, Volltext abrufbar unter: https://www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=1000:13101:0::NO:13101:P13101_ COMMENT_ID:2246676. 576 Vgl. etwa Observation zu Art. 6 Abs. 2 Übk. Nr. 1 gerichtet an Rumänien, IAA, IAK, 98th Session 2009, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 588; Observation zu Art. 2 Übk. Nr. 1 gerichtet an Spanien, IAA, IAK, 98th Session 2009, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 588; direct requests an Malta zu Art. 2 Übk. Nr. 1: IAA, IAK, 95th Session 2006, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR; IAA, IAK, 98th Session 2009, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR; IAA, IAK, 99th Session 2010, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, Volltext der direct requests veröffentlicht unter: https://www.ilo.org/dyn/normlex/en/ f?p=1000:13101:0::NO:13101:P13101_COMMENT_ID:2249004: „While noting that the opting-out clause has been the main obstacle to the efforts to revise European Working Time Directive 2003/88/EC, the Committee requests the Government to indicate the measures it intends to take in order to bring the national legislation into full conformity with the requirements of the Convention.“ Dieser Hinweis findet sich ebenfalls im direct request an Bulgarien in IAA, IAK, 99th Session 2010, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, Volltext der direct request veröffentlicht unter https://www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=1000:13101:0::NO:13101 :P13101_COMMENT_ID:2321066; vgl. auch Buschmann, Anm. zu EuGH v. 6. November 2018 – C-569/16 (Bauer), C-570/16 (Willmeroth), C-619/16 (Kreuziger) und C-684/16 (Shimizu), HSI-Newsletter 4/2018, abrufbar unter: https://www.hugo-sinzheimer-institut.de/hsinewsletter/europaeisches-arbeitsrecht/2018/newsletter-042018.html#c8061; vgl. auch Hanau, EuZA 2019, 423, 439 f. 577 Zum Opt-out statt vieler Davies, EU Labour Law, S. 204 ff.; Ulber, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, Rn. 7.225 ff., 338; Buschmann, in: FS Düwell, S. 24, 50 ff.

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3. Bewertung der bisherigen Rezeptionspraxis des EuGH und der Generalanwälte a) Einordnung der bisherigen Rezeptionspraxis Die Liste der Entscheidungen, in denen Normen der ILO zur Auslegung von Unionsrecht herangezogen wurden, erscheint angesichts der hohen Fallzahlen des EuGH allein auf dem Gebiet des Antidiskriminierungsrechts und des Arbeitszeitrechts als äußerst kurz. Eine Nuance häufiger finden sich Verweise auf Übereinkommen der ILO in den Schlussanträgen der Generalanwälte. Bei vielen Urteilen, in denen der EuGH Normen der ILO berücksichtigte, handelte es sich aber um wichtige „Pfadentscheidungen“, was das Gewicht der Rezeption erhöhte. So waren etwa die Entscheidungen Defrenne II und III von großer Bedeutung für die Entwicklung des Europäischen Arbeitsrechts und des Europarechts als solchem. Gleiches gilt für die Statuierung des Rechts auf kollektive Maßnahmen in den eingangs auf ihre Vereinbarkeit mit dem Recht der ILO analysierten Entscheidungen Viking-Line und Laval. Die bisherigen Fälle einer Auseinandersetzung mit ILO-Normen lassen sich in drei Fallkonstellationen gliedern.578 Anderweitige Gründe für eine Rezeption lassen sich auch nicht in den Schlussanträgen der Generalanwälte finden. - Erstens war eine Auseinandersetzung in Fällen notwendig geworden, in denen sich Mitgliedstaaten auf ihre Verpflichtungen aus Übereinkommen der ILO berufen hatten. - Zweitens verwies der EuGH bei der Begründung allgemeiner Rechtsgrundsätze auf Übereinkommen, die von Mitgliedstaaten der Union ratifiziert worden waren. - Drittens griff der EuGH zur Auslegung unionsrechtlichen Primär- und Sekundärrechts Übereinkommen der ILO auf.579 Die zweite Fallgruppe lässt sich in Entscheidungen im Zusammenhang mit der Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten und solche im Zusammenhang mit der Auslegung von Sekundärrecht untergliedern. Entsprechend weist sie Überschneidungen mit der dritten Fallgruppe auf. So hat der EuGH die ILOÜbereinkommen in jüngeren Entscheidungen auch zur Auslegung der GRCh herangezogen. 578 Teklè, ELLJ 2018, 236, 243 gelangt zum gleichen Ergebnis. Neben den drei dargestellten Fallgruppen ist zu berücksichtigen, dass der EuGH im Gutachten 2/91 v. 19. März 1993 das Problem der unterschiedlichen Kompetenzen von Mitgliedstaaten und Kommission im völkerrechtlichen Außen- und gemeinschaftsrechtlichen Innenverhältnis auflösen und hierzu auch eine Analyse der ILO-Verfassung vornehmen musste. 579 In diesem Zusammenhang sei nochmals auf die Auseinandersetzung mit Übk. Nr. 137 als Rechtfertigungsgrund bei Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit durch Spanien und die Kommission hingewiesen, hierzu unter Teil 2 A. VI. 1. Der EuGH griff das Übereinkommen im Rahmen der Rechtfertigung aber ebenso wenig wie im Fall der Viking-Line, Laval oder Rüffert-Entscheidungen auf.

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Sonstige Muster innerhalb der zweiten und dritten Gruppe sind nicht erkennbar. Selten waren die Verweise auf die Übereinkommen ausschlaggebend für die Beantwortung der Vorlagefrage. Dies kann etwa im Fall der Schultz-Hoff-Entscheidungen und der zugehörigen Schlussanträge angenommen werden. In vielen Fällen, wie etwa der King-Entscheidung, den Simap-Schlussanträgen oder im Verfahren Kommission/Italien über die Umsetzung der SeearbeitszeitRL 1999/95/EG in das italienische Recht erscheint die Rezeption eher als „schmückendes Beiwerk“. Die Rezeption der Übereinkommen deutet aber darauf hin, dass der EuGH wie auch die Generalanwälte eine Berücksichtigung der Grundsätze der ILO wegen des 6. Erwägungsgrunds der Richtlinie vielfach für „geboten“ hielten.580 So geht der EuGH etwa in der KHS-Entscheidung davon aus, dass bei der Berechnung des Übertragungszeitraums „der Zweck des Anspruchs auf Jahresurlaub, wie er sich aus Art. 9 I des Übereinkommens ergibt“, „berücksichtigt“ werden „muss“.581 Dies ist schon insoweit von Relevanz, da für viele arbeitszeitrechtliche Übereinkommen der ILO anders als für Art. 21 GRCh und Übereinkommen Nr. 100 und Nr. 111 die Voraussetzungen des Art. 53 GRCh nicht vorliegen, weshalb das Berücksichtigungsgebot nicht bereits aus Art. 31 Abs. 2 i. V. m. 53 GRCh folgt. Erwägungsgrund Nr. 6 RL 2003/88/EG öffnet die Auslegung der Richtlinie unter Berücksichtigung der arbeitsvölkerrechtlichen Vorgaben in gleicher Weise. Eine Berücksichtigung der Übereinkommen, auf die in den Erwägungsgründen Bezug genommen wird, folgt aber aus Art. 52 Abs. 7 GRCh, sofern die betreffende Richtlinie mit dem Verweis auf das Übereinkommen in den Charta-Erläuterungen Erwähnung findet.582 b) Konsistenz der Rezeptionspraxis des EuGH mit der Spruchpraxis der ILO-Ausschüsse Ernüchternd fällt das Fazit zur Konsistenz der Entscheidungen des EuGH und der Schlussanträge der Generalanwälte mit der Spruchpraxis der ILO-Ausschüsse aus. Die häufige Übereinstimmung mit der Spruchpraxis (etwa in den Entscheidungen Marschall, Egenberger, Sabbatini-Bertoni, FNV, Schultz-Hoff) erscheint eher zufällig als geplant. Es ist somit nicht erkennbar, dass eine Auseinandersetzung mit der Spruchpraxis unter Verzicht auf deren Wiedergabe in den Entscheidungsgründen tatsächlich erfolgte. Umso wichtiger erscheint es, Maßnahmen zur Verbesserung dieser Lage zu treffen.583 Allerdings ist auch festzustellen, dass für viele der Vorlagefragen, die der EuGH zu beantworten hatte, die Spruchpraxis der ILO-Ausschüsse keine Antworten bereithielt, auf die hätte zurückgegriffen werden können. Hierzu zählen etwa die Entscheidungen Voß, KHS, Williams, King, Shimizu und Simap. 580 581 582 583

So i. E. wohl auch Biltgen, in: Schlachter/Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht, Rn. 37. Ibid., Rn. 42. Hierzu unter Teil 4 C. II. 4. Hierzu Teil 5.

F. Berücksichtigung wegen Bezugnahmen auf ILO-Normen in Richtlinien

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Beachtenswert ist die Rezeptionspraxis in der umgekehrten Richtung. So hat sich der Sachverständigenausschuss in seinen Berichten zur Umsetzung von Übereinkommen durch EU-Mitgliedstaaten häufig auch mit den Entwicklungen des Unionsrechts und den Urteilen des EuGH befasst.584 Dies war aufgrund der Wirkungen des Unionsrechts im nationalen Arbeitsrecht oftmals zur Darstellung der Hintergründe nationaler Gesetzesänderungen und Entscheidungen nationaler Arbeitsgerichte notwendig. In vielen Fällen scheint der Sachverständigenausschuss die Rezeption von Unionsstandards zudem nutzen zu wollen, um Mitgliedstaaten zur Einhaltung der ILO-Standards zu bewegen. Dies war etwa infolge der Schultz-Hoff-, KHS-, Simap- und Matzak585-Entscheidungen der Fall. Gleiches gilt für viele Urteile des EuGH im Antidiskriminierungsrecht, die selbst nicht unbedingt Verweise auf Übereinkommen der ILO beinhalteten. Zuletzt wurde etwa Slowenien im Bericht von 2020 dafür gelobt, Fortschritte bei der Einhaltung von Übereinkommen Nr. 156 „durch die Umsetzung der Richtlinie 2010/18/EU“ gemacht zu haben.586 Sodann bat der Ausschuss die slowenische Regierung um Informationen über die Schritte, die zu ihrer Umsetzung der kürzlich verabschiedete Richtlinie 2019/1158/EU über die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben unternommen wurden.587 Die Rechtsprechung des EuGH bildete zudem vereinzelt selbst den Auslöser von Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses. Dies kann etwa für die Entscheidung Simap angenommen werden. Jüngst wurden zudem auch erstmals Informationen aus Berichten der Kommission über die Lage in EU-Mitgliedstaaten zur Grundlage von Anfragen des Sachverständigenausschusses gemacht.588

II. Bislang nicht berücksichtigte Bezugnahmen in Richtlinien Nicht wenige bislang unerwähnte Richtlinien beinhalten ebenfalls Verweise auf Normen der ILO, ohne dass sie bisher in Entscheidungen des EuGH oder Schlussanträgen der Generalanwälte aufgegriffen wurden. In vielen Fällen dürfte dies allerdings weniger an einer ablehnenden Haltung des Gerichtshofs und der Generalanwälte liegen, als daran, dass zu vielen der im Folgenden erwähnten Richtlinien keine oder nur sehr wenige Entscheidungen des EuGH getroffen wurden und in diesen wenigen Verfahren keine Normen einschlägig waren, die eine Rezeption als sinnvoll hätten erscheinen lassen.

584

Vgl. auch Teklè, ELLJ 2018, 236, 258. IAA, IAK, veröffentlicht für die für 2020 geplante 109th Session, Report III (Part B), General Survey, Promoting employment and decent work in a changing landscape, Fn. 396. 586 IAA, IAK, veröffentlicht für die für 2020 geplante 109th Session, Report III (Part A), Report of the CEACR, etwa S. 393 u. S. 434. 587 Ibid., S. 434 f. 588 IAA, IAK, veröffentlicht für die für 2020 geplante 109th Session, Report III (Part A), Report of the CEACR, etwa S. 393, S. 394, S. 431. 585

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

1. JugendarbeitsschutzRL 94/33/EG Die Richtlinie 94/33/EG über den Jugendarbeitsschutz regelt Mindestvorschriften für die Beschäftigung von Kindern und Jugendlichen.589 Gemäß Art. 1 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 haben die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um Kinderarbeit zu verbieten, sofern die Tatbestände des Art. 4 Abs. 2 nicht einschlägig sind. Hierbei ist ein Mindestalter von 15 Jahren vorgesehen, sofern nicht einzelstaatliche Rechtsvorschriften ein späteres Ende der Vollzeitschulpflicht vorsehen, vor dessen Erreichen eine Beschäftigung ebenfalls ausgeschlossen ist.590 Daneben sind weitreichende arbeitszeitrechtliche Vorgaben für die Beschäftigung von Kindern und Jugendlichen (Abschnitt II) sowie Beschäftigungsverbote (Art. 7) vorgesehen. In den Erwägungsgründen findet sich auch ein Verweis auf die Normen der ILO. Gemäß Erwägungsgrund Nr. 7 ist „den Grundsätzen der Internationalen Arbeitsorganisation hinsichtlich des Jugendarbeitsschutzes Rechnung zu tragen, einschließlich der Regeln über das Mindestalter für den Zugang zur Beschäftigung oder zur Arbeit.“ Namentlich werden die einschlägigen Übereinkommen folglich nicht genannt. Zu denken ist hier insbesondere an die Übereinkommen Nr. 138 über das Mindestalter591 und Nr. 182 über das Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit, sowie die Empfehlung Nr. 146, welche die Kernarbeitsnorm der Abschaffung der Kinderarbeit konkretisieren. Einschlägig sind zudem Übereinkommen Nr. 77, Nr. 78, Nr. 124, Empfehlungen Nr. 79, Nr. 125 (up-to-date); Übereinkommen Nr. 6, Nr. 79, Nr. 90 und Empfehlungen Nr. 14, Nr. 41, Nr. 52, Nr. 80 (Interimstatus). Der Verweis in den Erwägungsgründen dürfte darauf zurückgehen, dass die Normen der ILO im Stellungnahmeverfahren des Europäischen Parlaments eine wichtige Rolle spielten.592 Umso erstaunlicher ist aber, dass die Richtlinie an mehreren Stellen hinter dem Gewährleistungsgehalt der Übereinkommen zurückbleibt.593 So sieht etwa Art. 5 Abs. 3 RL 94/33/EG eine Ausnahme von der Genehmigungspflicht (das heißt der Einzelfallprüfung) des Art. 5 Abs. 1 RL 94/33/EG bei kulturellen, künstlerischen, sportlichen oder Werbetätigkeiten für Kinder von mindestens 13 Jahren vor.594 Gemäß Art. 8 von Übereinkommen Nr. 138 ist immer eine Einzelfallprüfung erforderlich.595

589

Kolbe, in: Franzen/Gallner/Oetker, RL 94/33/EG, Art. 1, Rn. 1. Art. 1 Abs. 1 UAbs. 1, Art. 3 lit. b) RL 94/33/EG. 591 Dieses ersetzte eine Reihe sektorspezifischer Übereinkommen, vgl. Art. 10 Übk. Nr. 138. 592 Lörcher, AuR 1994, S. 360; vgl. auch Böhmert, Das Recht der ILO, S. 209; Adamy, in: BMAS/BDA/DGB, Weltfriede durch soziale Gerechtigkeit, S. 179, 200 f. 593 Vgl. Lörcher, AuR 1994, S. 360, 362. 594 Kolbe, in: Franzen/Gallner/Oetker, RL 94/33/EG, Art. 5, Rn. 1. 590

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Für künftige Entscheidungen ist bei der Auslegung der Richtlinie Art. 32 i. V. m. Art. 53 GRCh zu berücksichtigen. Übereinkommen Nr. 138 und Nr. 182 wurden von allen Mitgliedstaaten der EU ratifiziert.596 Vor dem Hintergrund des in der Grundrechtecharta eingeräumten Stellenwerts des Verbots der Kinderarbeit (als lex specialis zu Art. 24 GRCh, der den Schutz von Kindern allgemein regelt)597 im Zusammenspiel mit den völkerrechtlichen Garantien könnte der Spielraum für Ausnahmen vom Verbot der Kinderarbeit sogar so verengt sein, dass Art. 5 Abs. 3 RL 94/ 33/EG primärrechtswidrig ist.598 Wie im Fall der Arbeitszeitrichtlinie erweitert der Verweis auf die einschlägigen Übereinkommen der ILO im 7. Erwägungsgrund die Möglichkeit der Berücksichtigung der anderen Übereinkommen zu einem Berücksichtigungsgebot. 2. Erneuerbare-Energien-RL 2009/28/EG und Otto-und-Dieselkraftstoffe-Qualitäts-RL 98/70/EG Mit der Erneuerbare-Energien-Richtlinie 2009/28/EG müssen Biokraftstoffe und sonstige flüssige Biobrennstoffe Nachhaltigkeitskriterien erfüllen, um für Quotenund andere Fördersysteme anrechenbar zu sein.599 Verbindliche Kriterien sind dabei unter anderem die Einsparung von mindestens 50 Prozent an Treibhausgasemissionen über den Lebensweg verglichen mit fossilen Kraftstoffen. Bei Anlagen, die den Betrieb nach dem 5. Oktober 2015 aufgenommen haben, beträgt die Quote 60 Prozent.600 Gemäß Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 S. 1 RL 2009/28/EG erstellt die Kommission alle zwei Jahre einen Bericht zu Drittländern und Mitgliedstaaten, die eine bedeutende Quelle für in der Gemeinschaft verbrauchte Biokraftstoffe oder Rohstoffe für Biokraftstoffe darstellen. Dieser wird dem Europäischen Parlament und dem Rat vorgelegt. Dem Bericht zufolge muss neben Angaben zu ökologischen 595 Lörcher, AuR 1994, S. 360, 362 mit weiteren Beispielen auch zur Vereinbarkeit mit Übk. Nr. 90. Dieses wird inzwischen als „Instrument to be revised“ aufgeführt und könnte zwischen 2021 und 2022 außer Kraft gesetzt werden. 596 Übk. Nr. 90 kann dagegen wohl aus mehreren Gründen nicht herangezogen werden. Erstens wurde es von mehreren Mitgliedstaaten der EU (u. a. Deutschland) nicht ratifiziert. Zweitens wurde es schon von der Cartier-Arbeitsgruppe 2002 nur unter der Voraussetzung noch als „noch zeitgemäß“ eingestuft, dass grundlegende Überarbeitungen erfolgen müssten, siehe IAA, Working Party on Policy regarding the revision of standards (Cartier Working Party), Follow-up decisions by the Governing Body, Information note on the progress of work and decisions taken concerning the revision of standards (updated in June 2002) abrufbar unter: http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/–ed_norm/–normes/documents/genericdocument/ wcms_125644.pdf, S. 41. 597 Tillmanns, in: Schlachter/Heinig, EAUS, § 18, Rn. 6. 598 Problematisch ist zudem, dass die § 2 Abs. 1 Nr. 1 KindArbSchV geregelte Ausnahme vom Genehmigungsvorbehalt für das Austragen von Zeitungen (schon) mit § 5 Abs. 1, 3 der RL 94/33/EG nicht vereinbar ist, vgl. Klein, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, EU-Richtlinien, Rn. 413. 599 BMU, Erneuerbare Energien, S. 123. 600 Ibid.

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

Nachhaltigkeitskriterien auch die „soziale Tragbarkeit“ in den Mitgliedstaaten und Drittländern überprüft werden. Die Richtlinie konkretisiert die Prüfung der sozialen Tragbarkeit dahingehend, dass anzugeben ist, ob das betreffende Drittland oder der Mitgliedstaat alle acht Übereinkommen der ILO, die die Kernarbeitsnormen konkretisieren, „ratifiziert und umgesetzt hat“.601 Dieser Verpflichtung ist die Kommission bisher aber nur in äußerst eingeschränktem Maße nachgekommen. Im Bericht von 2013 wird immerhin in einem Absatz erwähnt, dass eine entsprechende Verpflichtung der Kommission bestehe, ohne dass die Übereinkommen aber überhaupt beim Namen genannt werden.602 Es wird festgestellt, dass die Umsetzung der Übereinkommen in Nicht-EU-Ländern, die diese ratifiziert haben, weniger gut erfolge als in der EU oder in den USA, obwohl letztere „viele dieser Übereinkommen“ nicht ratifiziert habe.603 Daher seien „die Anstrengungen auf breiter Front fortzusetzen“, um die Länder zu ermutigen, diese Übereinkommen in vollem Umfang anzuwenden. Zu beachten seien auch die sozialen Vorteile des Biokraftstoffverbrauchs in der EU. So seien 2010 schätzungsweise 220.000 Arbeitsplätze in der EU und 1,4 Millionen Arbeitsplätze weltweit geschaffen worden.604 Der Bericht enttäuscht in mehrerer Hinsicht: Zunächst fällt auf, dass weder im Bericht noch in einem Anhang konkretisiert wird, welche Staaten, die mit der EU Handel von Biokraftstoffen betreiben, welche Übereinkommen ratifiziert haben. Hierdurch entsteht zumindest der Eindruck, dass keine nähere Differenzierung zwischen Ländern und Übereinkommen getroffen wird. Die Annahme, Nicht-EULänder hätten die Übereinkommen weniger gut umgesetzt als EU-Mitgliedstaaten und die USA, wird nicht durch Berichte der (neutralen) Ausschüsse der ILO gestützt, die hierfür die maßgebliche Referenzquelle bilden sollten. Zudem bleibt im Unklaren, was unter „Anstrengungen auf breiter Front“ zu verstehen ist. Ebenso ist in der Richtlinie nicht vorgesehen, die arbeitsmarktpolitischen Auswirkungen von Biokraftstoffen zu untersuchen, sondern die Prüfung der Einhaltung arbeitsvölkerrechtlicher Vorgaben.

601 Art. 17 Abs. 7 UAbs. 2 S. 3 RL 2009/28/EG; s. a. Beke/D’Hollander/Hachez/Pérez de las Heras, The integration of human rights in EU development and trade policies, S. 42 f., abrufbar unter: http://www.fp7-frame.eu/wp-content/uploads/2016/08/07-Deliverable-9.1.pdf, die zu Recht auf das Problem der WTO-Rechtskonformität der Regelung hinweisen. 602 Stattdessen werden sie nur als internationale Abkommen „z. B. über Arbeitsbedingungen und biologische Vielfalt“ generalisiert, vgl. Report from the Commission to the European Parliament, the Council, the European Economic and Social Committee and the Committee of the Regions – Renewable energy progress report v. 27. März 2013, COM(2013) 175 final, S. 12. 603 Report from the Commission to the European Parliament, the Council, the European Economic and Social Committee and the Committee of the Regions – Renewable energy progress report v. 27. März 2013, COM(2013) 175 final, S. 12. 604 Ibid.

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Der Bericht von 2017 kommt den Vorgaben des Art. 17 Abs. 7 UAbs. 2 S. 3 RL 2009/28/EG überhaupt nicht mehr nach. Selbst eine mit dem Passus des Berichts von 2015 vergleichbare Prüfung fehlt.605 Gleiches lässt sich auch für die (wortlautgleichen) Berichtspflichten der Kommission für die Nachhaltigkeitskriterien für Biokraftstoffe nach Art. 7b Abs. 7 UAbs. 2 S. 3 der RL 98/70/EG zur Qualität von Otto- und Dieselkraftstoffen feststellen. RL 98/70/EG verweist insoweit in vergleichbarer Weise auf die acht Übereinkommen.606 3. RL 2011/36/EU zur Bekämpfung und Verhütung des Menschenhandels Eine (insbesondere auf den zweiten Blick) interessante Bezugnahme auf ILONormen findet sich in Erwägungsgrund Nr. 11 der Richtlinie 2011/36/EU zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des Rates. Laut Erwägungsgrund Nr. 11 werde in der Richtlinie der Begriff des „Menschenhandels“ weiter gefasst als im durch die Richtlinie abgelösten Rahmenbeschluss, „damit jüngsten Entwicklungen des Menschenhandels Rechnung getragen wird“. Die Richtlinie erfasst nun auch die Ausbeutung für Betteltätigkeiten als eine Form der Zwangsarbeit beziehungsweise der erzwungenen Dienstleistung „im Sinne des Übereinkommens Nr. 29“. Vor dem Hintergrund der „einschlägigen Rechtsprechung“ (so Erwägungsgrund Nr. 11) solle die Gültigkeit einer möglichen Zustimmung zur Leistung eines Betteldienstes in jedem Einzelfall geprüft werden. Bei der angeführten Rechtsprechung dürfte es sich nicht um jene des EuGH (da hierzu nicht existent), sondern um die des EGMR handeln.607 In den Fällen Van der Mussele, Silia, Stummer und Graziani-Weiss hatte der EGMR zur Auslegung von Art. 4 Abs. 3 EMRK die Schlussfolgerungen des Sachverständigenausschusses zur Auslegung von Übereinkommen Nr. 29 herangezogen, weshalb der Verweis der Richtlinie mittelbar auf Spruchpraxis verweist. Zu bedenken ist zudem, dass Übereinkommen Nr. 29 selbst keine Definition von erzwungenen Betteldiensten beinhaltet. Auch dieser Verweis muss daher als indirekter Verweis auf die Schlussfolgerungen des Sachverständigenausschusses ver-

605 Europäische Kommission, Report to the European Parliament, the Council, the European Economic and Social Committee and the Committee of the Regions – Renewable energy progress report v. 1. Februar 2017, COM(2015) 57 final. 606 Anders als der Bericht von 2015 zur Einhaltung der RL 2009/28/EG ist der Bericht zu RL 98/70/EG lediglich auf Grundlage der Verpflichtung von Art. 9 RL 98/70/EG veröffentlicht worden. Art. 7b bleibt unerwähnt, vgl. Europäische Kommission, Report to the European Parliament and the Council in accordance with Article 9 of Directive 98/70/EC relating to the quality of petrol and diesel fuels, COM(2017) 284 final. 607 Hierzu unter Teil 1 E. II. 9. a).

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

standen werden.608 Der Richtliniengeber orientiert sich somit – bewusst oder unbewusst – an der Auslegungspraxis des Sachverständigenausschusses, was als (zusätzliches)609 Argument für eine häufigere Berücksichtigung der Spruchpraxis bei der Auslegung des Unionsrechts angeführt werden kann. 4. EU-Offshore-Erdöl-und Erdgasaktivitäten-RL 2013/30/EU Neben den Richtlinien zur Übernahme von Übereinkommen der ILO in das Unionsrecht610 finden sich weitere „Hochsee“-Richtlinien mit Verweisen auf ILONormen. Erwägungsgrund Nr. 18 der EU-Offshore-Erdöl- und Erdgasaktivitäten-RL 2013/30/EU611 nimmt im Rahmen eines Verweises auf die Arbeitnehmerbeteiligungsrechte in der Richtlinie 92/91/EWG612 auf das unionsrechtliche Prinzip dreigliedriger Beratungen über die Festlegung solcher Verfahren Bezug. Ein Beispiel für solche förmlichen Beratungen bilde Übereinkommen Nr. 144 über dreigliedrige Beratungen. Art. 3 Nr. 4 sowie Art. 18 der Richtlinie 2009/18/EG613 über die Untersuchung von Unfällen im Seeverkehr verweisen auf die „IMO-Leitlinien über die faire Behandlung von Seeleuten bei einem Seeunfall“, wie sie unter anderem vom Verwaltungsrat der ILO auf dessen 296. Sitzung im Jahr 2006 angenommen wurden.614

608 In IAA, IAK, 101st Session 2012, Report III (Part 1B), General Survey on the fundamental Conventions concerning rights at work in light of the ILO Declaration on Social Justice for a Fair Globalization, Rn. 530 werden Betteltätigkeiten nur im Zusammenhang mit dem Einsatz von Kindern bei organisierten Betteltätigkeiten als Verstöße gegen Übk. Nr. 182 genannt; auch in IAA, IAK, 96th Session 2007, Report III (Part 1B), General Survey concerning the Forced Labour Convention and the Abolition of Forced Labour Convention, Rn. 81 nur im Zusammenhang mit dem Palermo-Protokoll aufgegriffen. 609 Zu den expliziten Verweisen der APS-Verordnung und ihren Auswirkungen auf das sonstige Unionsrecht unter Teil 4 E. I. 1. 610 Hierzu unter Teil 4 A. 611 Richtlinie 2013/30/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juni 2013 über die Sicherheit von Offshore-Erdöl- und -Erdgasaktivitäten und zur Änderung der Richtlinie 2004/35/EG (ABl. 2013 L 178, 66). 612 Richtlinie 92/91/EWG über Mindestvorschriften zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer in den Betrieben, in denen durch Bohrungen Mineralien gewonnen werden (ABl. 1992 L 348, 9). Es handelt sich um die 11. Einzelrichtlinie im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Arbeitsschutz-Rahmen-RL 89/391/EWG. 613 Richtlinie 2009/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 zur Festlegung der Grundsätze für die Untersuchung von Unfällen im Seeverkehr und zur Änderung der Richtlinie 1999/35/EG des Rates und der Richtlinie 2002/59/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. 2009 L 131, 114). 614 Leitlinien im Anhang II der Entschließung LEG.3(91) des IMO-Rechtsausschusses vom 27. April 2006.

F. Berücksichtigung wegen Bezugnahmen auf ILO-Normen in Richtlinien

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5. Öffentliche-Auftragsvergabe-RL 2014/24/EU, SektorenRL 2014/25/EU und KonzessionsRL 2014/23/EU a) Konformität der Vergaberichtlinien mit Übereinkommen Nr. 94 Zum vergaberechtlichen Sekundärrecht der Union zählen unter anderem die Richtlinie 2014/24/EU über die öffentliche Auftragsvergabe, die Richtlinie 2014/25/ EU über die Vergabe von Aufträgen durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie die Richtlinie 2014/23/EU über die Konzessionsvergabe.615 Alle drei Richtlinien verpflichten die Mitgliedstaaten, geeignete Maßnahmen zu treffen, dass bei der Ausführung öffentlicher Aufträge die „geltenden umwelt-, sozial- und arbeitsrechtlichen Verpflichtungen“ eingehalten werden, die durch Rechtsvorschriften der Union, einzelstaatliche Rechtsvorschriften, Tarifverträge oder die in Anhängen der Richtlinien aufgeführten internationalen Vorschriften festgelegt sind.616 Der jeweilig einschlägige Anhang der Richtlinien richtet die sozial- und arbeitsrechtlichen Verpflichtungen (unter anderem) auf die acht Übereinkommen aus, welche die ILO-Kernarbeitsnormen der Erklärung über die grundlegenden Rechte bei der Arbeit von 1998 konkretisieren.617 Andere Übereinkommen der ILO werden nicht in Bezug genommen.618 Auf dieser Grundlage ist es den Mitgliedstaaten möglich, soziale Aspekte zu jeder Phase des Vergabeverfahrens, also etwa bei der Leistungsbeschreibung, der Bestimmung den Eignungs- oder Zuschlagskriterien oder der Ausführungsbedingungen, zu berücksichtigen.619 Den acht in den Anhängen der Richtlinien aufgeführten Übereinkommen der ILO dürfte dabei im Vergleich zu den Rechtsvorschriften der Union und der Mitgliedstaaten sowie Tarifverträgen im innereuropäischen Raum eine vergleichsweise geringe Relevanz zukommen. Alle acht Übereinkommen wurden durch alle Mitgliedstaaten der EU ratifiziert wurden und – zumindest größtenteils – in nationale Rechtsvorschriften umgesetzt, die konkretere Vorgaben enthalten als die Übereinkommen.620

615

Vgl. Burgi, Vergaberecht, § 3, Rn. 43. Art. 18 Abs. 2, Anhang X der RL 2014/24/EU, Art. 36 Abs. 2, Anhang XIV der RL 2014/25/EU sowie Art. 30 Abs. 3, Anhang X der RL 2014/23/EU. 617 Die Vorgängerrichtlinie RL 2004/17/EG sah in Art. 26 Richtlinie 2004/18/EG ebenfalls vor, dass soziale und umweltbezogene Aspekte im Vergabeverfahren berücksichtigt werden konnten, was zuvor jedenfalls bis zur Entscheidung des EuGH v. 20. September 1988 – 31/81 (Gebroeders Beentjes BV), jedenfalls aber nicht mehr mit EuGH v. 26. September 2000 – C225/98 (Kommission/Frankreich) und EuGH v. 10. Mai 2012 – C-368/10 (Max Havelaar) umstritten war, vgl. auch Seifert, EuZA 2008, 526, 530 m. w. N.; zu sozialen Aspekten in der Vergaberichtlinie zudem Corvaglia, Public Procurement and Labour Rights, S. 176 ff. 618 Es ergeben sich jedoch weitere Überschneidungspunkte, vgl. Erwägungsgründe Nr. 20, 36, 97 – 99. 619 Vgl. Burgi, Vergaberecht, § 7 Rn. 1; Latzel, NZBau 2014, 673; Corvaglia, Public Procurement and Labour Rights, S. 182 ff.; vgl. auch etwa Regierungsbegründung zu § 31 Abs. 3 VgV, BT-Drs. 18/7318. 620 Ähnlich Latzel, NZBau 2014, 673, 677. 616

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

Die Bezugnahme auf die acht Kernarbeitsnorm-Übereinkommen ist in Beziehung zu Drittländern von größerer Relevanz: Gemäß Art. 86 Abs. 4 RL 2014/25/EU müssen die Mitgliedstaaten der EU die Kommission über alle Schwierigkeiten informieren, die sich aus der Nichteinhaltung der Kernarbeitsnormen-Übereinkommen ergeben, wenn ihre Unternehmen versuchen, öffentliche Aufträge in Drittländern zu erhalten. Art. 65 Abs. 6 UAbs. 1 RL 2014/25/EU sieht ein Folgeverfahren vor, bei dem die Kommission dem Rat vorschlagen kann, die Vergabe von Dienstleistungsaufträgen an Unternehmen, die dem Recht des betreffenden Drittlandes unterliegen, mit solchen Unternehmen verbunden sind oder Angebote für Dienstleistungen mit Ursprung in dem betreffenden Drittland einreichen, auszusetzen oder einzuschränken. Der Rat entscheidet so bald wie möglich mit qualifizierter Mehrheit.621 Ähnlich der APS-Verordnung, der Antidumping- und AntisubventionsVO und der Erneuerbare-Energien-RL ermöglicht die AuftragsvergabeRL, Verstöße gegen die Kernarbeitsnormen in Drittstaaten zu ahnden. Das Verfahren, welches in ähnlicher Form bereits in Art. 59 Abs. 4, 5 der Vorgänger-RL 2004/17/EG vorgesehen war, wurde allerdings bisher, soweit ersichtlich, in keinem Fall eingeleitet, jedenfalls aber noch nie abgeschlossen. b) Kollision der Grundfreiheiten mit Übereinkommen Nr. 94 im Rahmen der Vergabe öffentlicher Aufträge – Rüffert-Entscheidung Die Bezüge der vergaberechtlichen Richtlinien täuschen allerdings darüber hinweg, dass die Rechtsprechung des EuGH nicht immer mit den Vorgaben der völkerarbeitsrechtlichen Vorgaben für das Vergabeverfahren vereinbar ist. Konkret stehen sich die Grundfreiheiten beziehungsweise die primärrechtskonforme Auslegung der EntsendeRL 96/71/EG in der Lesart des EuGH und die Vorgaben des Übereinkommens Nr. 94 zur Vergabe öffentlicher Aufträge gegenüber.622 Zwischen RL 2014/24/EU und den Vorgaben des Übereinkommens Nr. 94 besteht der Konflikt hingegen nur mittelbar durch die (primärrechtlich bedingte) enge Auslegung von Art. 18 Abs. 2 RL 2014/24/EU. In diesem Zusammenhang ist auch Erwägungsgrund Nr. 37 Richtlinie 2014/24/EU von Relevanz, nach dem es im Hinblick auf „eine angemessene Einbeziehung umweltbezogener, sozialer und arbeitsrechtlicher Erfordernisse in die Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge“ besonders wichtig ist, dass Mitgliedstaaten und öffentliche Auftraggeber geeignete Maßnahmen ergreifen, um die Einhaltung der am Ort der Ausführung der Bauleistungen oder der Erbringung der Dienstleistungen geltenden Anforderungen auf dem Gebiet des Umwelt-, Sozial- und Arbeitsrechts zu gewährleisten. Dies gilt allerdings nur, „sofern diese Regelungen und ihre Anwendung mit dem Unionsrecht vereinbar 621

Art. 86 Abs. 5 UAbs. 2 RL 2014/25/EU. Zur Auseinandersetzung über die Vereinbarkeit der Vorgaben der EntsendeRL und Übk. Nr. 94 im Rahmen des Richtlinienverabschiedungsverfahrens Heuschmid/Schierle, in: Preis/ Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, Rn. 16.161. 622

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sind“, was mit einem Hinweis auf RL 96/71/EG und den Nichtdiskriminierungsgrundsatz konkretisiert wird.623 Der Konflikt zwischen Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit und den Vorgaben von Übereinkommen Nr. 94 ergibt sich aus den Vorgaben der RüffertEntscheidung des EuGH.624 Diese erging 2008 in einem Vorabentscheidungsverfahren des OLG Celle zum Hauptverfahren über die Forderung des Lands Niedersachsens an den Insolvenzverwalter eines deutschen Bauunternehmens auf Grundlage einer Vertragsstrafenvereinbarung. Niedersachsen begründete seinen Anspruch mit dem Vorliegen eines Verstoßes gegen eine Tariftreueerklärung, welche das deutsche Bauunternehmen abgegeben hatte und die laut dem Land Niedersachsen durch ein polnisches Nachunternehmen nicht eingehalten worden sei.625 Die damalige Fassung des niedersächsischen Vergabegesetzes sah hierzu vor, dass Aufträge für Bauleistungen nur an solche Unternehmen vergeben werden durften, die sich bei der Angebotsabgabe schriftlich verpflichteten, ihren Arbeitnehmern bei der Ausführung dieser Leistungen „mindestens das am Ort der Ausführung tarifvertraglich vorgesehene Entgelt zum tarifvertraglich vorgesehenen Zeitpunkt zu bezahlen“.626 Bei den am Ort der Ausführung tarifvertraglich vorgesehenen Entgelten handelte es sich gerade nicht um allgemeinverbindliche Mindestentgelte, sondern um regionale Entgelttarifverträge, die deutlich höhere Arbeitsentgelte vorsahen.627 Während Generalanwalt Bot in der niedersächsischen Regelung keine Ungleichbehandlung von örtlichen und entsandten Arbeitnehmer erkennen konnte, sofern diese bei der Ausführung desselben öffentlichen Auftrags den gleichen Lohn erhielten,628 kam der EuGH zum entgegengesetzten Ergebnis. So verstoße eine entsprechende Regelung gegen die Dienstleistungsfreiheit und die Richtlinie 96/71/ 623 Ebenso von Bedeutung sind die Erwägungsgründe Nr. 103 ff.; Corvaglia, Public Procurement and Labour Rights, S. 186 genügen die neuen Regelungen der RL 2014/24/EU. 624 Die Rüffert-Entscheidung wird aufgrund der zeitlichen Nähe und den ähnlichen Auslegungsergebnissen mit den Entscheidungen Laval, Viking-Line und Kommission/Luxemburg (siehe unter Teil 2 A. I.) zum sogenannten „Laval-Quartett“ gezählt, Malmberg, The Impact of the ECJ Judgments on Viking, Laval, Rüffert and Luxembourg on the Practice of Collective Bargaining and the Effectiveness of Social Action, S. 3. Hinsichtlich der Statthaftigkeit bzw. der Vereinbarkeit mit Völkerrecht werfen die Entscheidungen EuGH v. 18. September 2014 – C549/13 (Bundesdruckerei) und EuGH v. 17. November 2015 – C-115/14 (RegioPost) keine neuen Fragen auf, da die Länder bei der Gestaltung ihrer Vergabegesetze bewusst auf die Regelung der Entgeltbestimmungen in „Rechtsvorschriften“ im Sinne von Art. 3 der EntsendeRL setzten. In den Entscheidungen wird aber auch nicht von der Entscheidung des EuGH v. 3. April 2008 – C-346/06 (Rüffert) abgewichen; siehe zur Bundesdruckereientscheidung: Hütter, ZESAR 2015, 170. 625 Vgl. EuGH v. 3. April 2008 – C-346/06 (Rüffert), Rn. 9 ff.; OLG Celle, Vorlagebeschluss v. 3. August 2006 – 13 U 72/06, NZBau 2006, 660. 626 § 3 Abs. 1 S. 1 des Landesvergabegesetz v. 2. September 2002 (Nds. GVBl. S. 370), aufgehoben m. W. v. 1. Januar 2009 durch Gesetz v. 15. Dezember 2008 (Nds. GVBl. S. 411). 627 Vgl. Seifert, EuZA 2008, 526, 528. 628 GA Bot, SA v. 20. September 2007 – C-346/06 (Rüffert).

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EG: Da die Tarifverträge nicht für allgemeinverbindlich erklärt worden seien, fielen sie nicht unter Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 2. Spiegelstrich i. V. m. Abs. 8 UAbs. 1 RL 96/ 71/EG.629 Ebenso sei auch Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 1. Spiegelstrich RL 96/71/EG nicht einschlägig, da das Landesvergabegesetz selbst keine Mindestlohnsätze festlege.630 Eine Rezeption der völkerrechtlichen Vorgaben des Übereinkommens Nr. 94 erfolgt weder in den Schlussanträgen noch in der Entscheidung. Zwar lässt sich dies wohl damit erklären, dass Deutschland Übereinkommen Nr. 94 zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Römischen Verträge nicht ratifiziert hatte (und bis heute nicht ratifiziert hat), weshalb sich es nicht auf Art. 351 Abs. 1 AEUV berufen konnte.631 Wünschenswert wäre allerdings eine Untersuchung des EuGH dahingehend gewesen, ob sich aus Übereinkommen Nr. 94 und/oder nationalen Verfassungsüberlieferungen ein allgemeiner Rechtsgrundsatz ergibt, der bei der Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit als Rechtfertigungsgrund hätte dienen können. Konkreter Inhalt eines solchen Rechtsgrundsatzes wäre die Berücksichtigung regional einschlägiger und durch einen wesentlichen Teil der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer des betreffenden Berufes oder der betreffenden Industrie anzuwendenden Tarifverträge bei der Bestimmung der zugrunde zu legenden Lohnkosten bei Vergabe der öffentlichen Aufträge.632 Mit Belgien, Bulgarien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Italien, Niederlande, Österreich, Spanien und Zypern haben inzwischen zehn EUMitgliedstaaten Übereinkommen Nr. 94 ratifiziert.633 Zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses zwischen dem deutschen Bauunternehmen und dem Land Niedersachsen im Jahr 2003 waren es acht von 15 Mitgliedstaaten.634 Wie sich aus der RüffertEntscheidung erkennen lässt, wurden zudem auch in Deutschland sozialpolitische 629 EuGH v. 3. April 2008 – C-346/06 (Rüffert), Rn. 25 f. Hiernach müssen für allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge von allen in einem Gebiet die gleiche Tätigkeit/Gewerbe ausübende Unternehmen einzuhalten sein. Der Anwendungsbereich von Art. 1 Abs. 8 UAbs. 2 RL 96/71/EG war nicht eröffnet, da Deutschland über ein System der Allgemeinverbindlichkeitserklärung verfügt, vgl. Rn. 27. 630 EuGH v. 3. April 2008 – C-346/06 (Rüffert), Rn. 24; zum ebenfalls nicht einschlägigen Art. 3 Abs. 7 RL 96/71/EG siehe Rn. 32 f.; hierzu Davies, EU Labour Law, S. 97; Seifert, EuZA 2008, 526, 532 f. 631 Seifert, EuZA 2008, 526, 538; Hofmann, RdA 2010, 351, 353; Corvaglia, Public Procurement and Labour Rights, S. 68; gehen daher grds. zu Recht davon aus, dass der EuGH die Vereinbarkeit mit Völkerrecht nicht zu prüfen hatte. Etwas anderes muss allerdings bei Bejahung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes gelten. 632 Einen allgemeinen Rechtsgrundsatz mit entsprechendem Inhalt bejahend Däubler, NZA 2014, 694, 700 f.; sich diesem anschließend: Heuschmid/Schierle, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, Rn. 16.160; Nassibi, Schutz vor Lohndumping in Deutschland, S. 226; a. A. Koberski/Schierle, RdA 2008, 233, 236; Hofmann, RdA 2010, 351, 353; Ruchti, Das ILOÜbereinkommen Nr. 94, S. 247; neutral: Latzel, NZBau 2014, 673, 677. 633 Schweden hatte bereits vor der Rüffert-Entscheidung aufgrund einer Einschätzung über die Vereinbarkeit mit der EntsendeRL die Ratifizierung abgelehnt, vgl. Evju, EuZA 2010, 48, 58. 634 Heuschmid/Schierle, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, Rn. 16.160 f. stellen wohl auf den Zeitpunkt der Verabschiedung der RL 96/71/EG ab.

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Erwägungen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge als zusätzliches Kriterium zugelassen.635 aa) Kollision mit Übereinkommen Nr. 94 1949 verabschiedete die ILO Übereinkommen Nr. 94 sowie die begleitende Empfehlung Nr. 84 über Arbeitsklauseln in öffentlichen Verträgen. Übereinkommen Nr. 94 verpflichtet die Ratifikationsstaaten, bei der Vergabe öffentlicher Aufträge Klauseln in die Verträge aufzunehmen, nach denen gewährleistet wird, dass die eingesetzten Arbeitnehmern Löhne einschließlich Zulagen gezahlt werden und eine Arbeitszeit und sonstige Arbeitsbedingungen gelten, die nicht weniger günstiger sind als die Bedingungen, die im gleichen Gebiet für gleichartige Arbeit in dem betreffenden Beruf oder in der betreffenden Industrie gelten.636 Die vergleichbaren Bedingungen bestimmen sich hierbei unter anderem nach den gesetzlichen Regelungen, aber auch nach den Tarifverträgen, „denen ein wesentlicher Teil der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer des betreffenden Berufes oder der betreffenden Industrie angehört“.637 Ab wann von einem „wesentlichen“ Teil der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer des betreffenden Berufes oder der betreffenden Industrie ausgegangen werden kann, wird im Übereinkommen ebenso wenig konkretisiert wie in Empfehlung Nr. 84.638 bb) Spruchpraxis vor der Entscheidung Rüffert Im general survey von 2008639 findet sich keine Aussage des Sachverständigenausschusses, die eine eindeutige Auslegung des Begriffs des „wesentlichen“ Teils der Arbeitgeber und Arbeitnehmer beinhaltet. Zu Art. 2 Abs. 1 1. Spiegelstrich Übereinkommen Nr. 94 weist der Ausschuss lediglich darauf hin, dass im Rahmen der zweiten Lesung von Übereinkommen Nr. 94 in der IAK eine Änderung der Formulierung „repräsentativ“ beziehungsweise „durch einen wesentlichen Teil von Arbeitgebern und Arbeitnehmern“ durch die Worte „ausreichend repräsentativ“ nicht angenommen wurde.640 Nach Ansicht des Sachverständigenausschusses lässt 635

Däubler, NZA 2014, 694, 700. Art. 2 Abs. 1 Übk. Nr. 94. 637 Art. 2 Abs. 1 1. Spiegelstrich Übk. Nr. 94. 638 Seifert, EuZA 2008, 526, 538. 639 In IAA, IAK, 97th Session 2008, Report III (Part 1B), General Survey concerning the Labour Clauses (Public Contracts) Convention, 1949 (No. 94) and Recommendation (No. 84), Rn. 248 stellte der Sachverständigenausschuss auch fest, dass die Bestimmungen der Vergaberichtlinien 2004/17/EG und 2004/18/EG die EU-Mitgliedstaaten nicht an der Einhaltung des Übereinkommens Nr. 94 hindere. 640 IAA, IAK, 97th Session 2008, Report III (Part 1B), General Survey concerning the Labour Clauses (Public Contracts) Convention, 1949 (No. 94) and Recommendation (No. 84), Rn. 104 mit Verweis auf IAA, IAK, 32nd Session 1949, Record of Proceedings, S. 485: „At the second Conference discussion, a proposal to replace the words ,representative respectively of 636

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

sich hieraus allerdings nur folgern, dass Tarifverträge, die in einem Sektor oder einer Region „nicht allgemein anwendbar sind“ (generally applicable), sondern nur für ein Unternehmen oder eine begrenzte Gruppe von Unternehmen gelten, nicht unter Art. 2 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 94 fallen. Hieraus könnte man einerseits folgern, dass der Sachverständigenausschuss Art. 2 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 94 in gleicher Weise wie der EuGH Art. 3 Abs. 1 RL 96/71/EG auslegt, und nur allgemeinverbindliche Tarifverträge als erfasst ansieht. Allerdings wird im Bericht nicht näher konkretisiert, was unter „generally applicable“ zu verstehen ist. Zudem deuten die Gegenbeispiele eines Haustarifvertrags und eines Tarifvertrags, der nur eine begrenzte Anzahl an Unternehmen bindet, in die Gegenrichtung. Die Bindung eines einzigen Arbeitgebers oder einer begrenzten Anzahl an Unternehmen ist gerade nicht die Bindung eines wesentlichen Teils der Arbeitgeber und Arbeitnehmer an einen Tarifvertrag (oder zumindest dessen Anwendung).641 Gegen eine Auslegung des Begriffs des „wesentlichen Teils“ als „allgemeinverbindlich“ sprechen zudem die direkten Ausführungen zum Vorabentscheidungsverfahren Rüffert, das zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Berichts von 2008 noch nicht abgeschlossen war. Veröffentlicht waren lediglich die Schlussanträge von Generalanwalt Bot, die der Sachverständigenausschuss im general survey ausführlich aufgreift.642 Die – zur späteren Entscheidung des EuGH gegenläufigen – Schlussanträge werden vom Sachverständigenausschuss positiv aufgegriffen: Wenn Arbeiten im Rahmen eines öffentlichen Auftrags an einem bestimmten Ort ausgeführt werden müssten, gebe es nur wenig Möglichkeiten für eine Ungleichbehandlung in- und ausländischer Anbieter. Enthalte der Vertrag eine Klausel, wie sie im Übereinkommen vorgesehen ist, müssen alle Bieter die gleichen Arbeitsbedingunsubstantial proportions of employers and workers‘ by the words ,sufficiently representative respectively of employers and workers‘ failed to be adopted but this only reaffirmed the understanding that collective agreements which are not generally applicable in a sector or a region but apply to only one enterprise or a limited group of enterprises fall outside the scope of Article 2(1) of the Convention“; mit Hinweis hierauf ebenfalls: Ruchti, Das ILO-Übereinkommen Nr. 94, S. 122. Dieser kommt zum schwer begründbaren Ergebnis, dass „im Zweifel […] Tarifverträge gemeint sein [dürften], die von den Spitzenorganisationen der Arbeitgeberverbände sowie Gewerkschaften geschlossen werden. Nur solche [seien] in der Lage, das Erfordernis des ,wesentlichen Teils‘ zu erfüllen.“, vgl. S. 121. 641 S. aber den Verweis von Grillberger, EuZA 2018, 143, 147 auf IAA, IAK, 97th Session 2008, Report III (Part 1B), General Survey concerning the Labour Clauses (Public Contracts) Convention, 1949 (No. 94) and Recommendation (No. 84), Rn. 103, wo sich keine Aussage dahingehend findet, dass „durch entsprechende Klauseln in den Vergabeverträgen auch allenfalls höhere Löhne, als sie nach Gesetz oder Gesamtverträgen gebühren, abgesichert werden“ sollen. In Rn. 103 setzt sich der Sachverständigenausschuss mit dem Verhältnis der drei Grundlagen für den Vergleichsmaßstab für die Klauseln auseinander und kommt zum Ergebnis, dass bei mehreren einschlägigen Quellen (etwa Tarifvertrag, der auf einen wesentlichen Teil der Arbeitgeber und Arbeitnehmer Anwendung findet, und ein gesetzlicher Mindestlohn) die günstigere Norm Anwendung findet. 642 IAA, IAK, 97th Session 2008, Report III (Part 1B), General Survey concerning the Labour Clauses (Public Contracts) Convention, 1949 (No. 94) and Recommendation (No. 84), Rn. 274 ff. mit Verweis auf GA Bot, SA v. 20. September 2007 – C-346/06 (Rüffert).

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gen anwenden. Dies sei unabhängig von der Staatsangehörigkeit oder dem gewöhnlichen Wohnsitz der betroffenen Arbeitnehmer der Fall.643 cc) Spruchpraxis nach der Entscheidung Rüffert Der Normanwendungsausschuss der 97. IAK, die im Mai und Juni 2008 tagte, war der erste Ausschuss der ILO, der auf die Rüffert-Entscheidung vom 3. April 2008 reagierte.644 Wie üblich setzten sich die Vertreter der Staaten-, Gewerkschafts- und Arbeitgebervertreter in ihren Treffen auch mit den Ergebnissen des general surveys des Sachverständigenausschusses auseinander, welcher 2008 zu Übereinkommen Nr. 94 verfasst worden war. Die Arbeitnehmervertreter kritisierten die Entscheidung. Ein Gewerkschaftsvertreter aus Schweden wies etwa darauf hin, dass Schweden aus Vorsicht vor potenziellen Unionsrechtsverstößen Übereinkommen Nr. 94 bisher nicht ratifiziert hatte. Eigentlich hätten die Aussagen des Sachverständigenausschusses zur Komptabilität von Übereinkommen Nr. 94 mit Unionsrecht (die dieser auf Grundlage der Schlussanträge getroffen hatte) eine Gelegenheit für Schweden ergeben, das Übereinkommen doch noch zu ratifizieren. Durch die Rüffert-Entscheidung sei diese Gelegenheit nun aber in weite Ferne gerückt.645 Die Arbeitgebervertreter begrüßten die Rüffert-Entscheidung und wiesen darauf hin, dass das Urteil eine offensichtliche Diskrepanz zwischen den Anforderungen des Übereinkommens Nr. 94 und den EU-Vorschriften aufzeige. Diese könne dazu führen, dass Mitgliedstaaten der EU das Übereinkommen nicht ratifizieren oder davon absehen, es weiterhin anzuwenden.646 Die nach der Rüffert-Entscheidung zu Übereinkommen Nr. 94 veröffentlichten Berichte des Sachverständigenausschusses beinhalten nach wie vor keine konkreten Schwellenwerte zur Bestimmung des Erfordernisses des „wesentlichen Teils“ im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 94. Geklärt ist allerdings, dass Tarifverträge, die durch Verbände abgeschlossen wurden, denen ein „wesentlicher Teil der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer des betreffenden Berufes oder der betreffenden Industrie“ angehört, nicht mit „allgemeinverbindlichen Tarifverträgen“ gleichzusetzen sind. Dies geht aus einer Bemerkung an Frankreich aus dem Bericht von 2009 hervor.647 Ebenso geht der Sachverständigenausschuss im Bericht von 2013 643 IAA, IAK, 97th Session 2008, Report III (Part 1B), General Survey concerning the Labour Clauses (Public Contracts) Convention, 1949 (No. 94) and Recommendation (No. 84), Rn. 275. 644 IAA, IAK, 97th Session 2008, Record of Proceedings, S. 19/37, Rn. 116 ff.; hierzu auch Bravo-Ferrer/Rodriguez-Pinero Royo, in: GS Zachert, S. 87, 101; Trebilcock, EuZA 2013, 178, 184 f. 645 IAA, IAK, 97th Session 2008, Record of Proceedings, S. 19/37, Rn. 118. 646 Ibid., S. 19/37, Rn. 117. 647 IAA, IAK, 98th Session 2009, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 548: „The Committee however wishes to emphasize that Article 2, paragraph 1(a), of the Convention refers to collective agreements negotiated ,between organizations of employers and workers

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

davon aus, dass Anpassungen, die wegen der Rüffert-Entscheidung im niederländischen Recht notwendig geworden waren, nicht mit Übereinkommen Nr. 94 kompatibel sind.648 Die Schlussfolgerungen des Sachverständigenausschusses bestätigen daher, dass die Auslegung der Entsenderichtlinie im Lichte der Dienstleistungsfreiheit durch den EuGH (abhängig von der Ausgestaltung des jeweiligen nationalen Tarifvertragssystems) nicht mit den Inhalt des Übereinkommens Nr. 94 kompatibel sind.649 dd) Weitere Folgen Bisher wurde durch die Kommission kein Vertragsverletzungsverfahren gegen einen Mitgliedstaat eingeleitet, der Übereinkommen Nr. 94 ratifiziert hat (was im Rahmen des Vorrangs von Alt-Verträgen nach Art. 351 Abs. 1 AEUV relevant werden würde).650 Dies könnte aber auch an „freiwilligen“ Anpassungen des nationalen Vergaberechts durch die Mitgliedstaaten liegen. Zumindest bis zu einer Entscheidung des EuGH über die Inkompatibilität von Übereinkommen Nr. 94 mit den Vorgaben des Unionsrechts besteht für die Mitgliedstaaten keine Pflicht zur Kündigung des Übereinkommens nach Art. 351 Abs. 2 AEUV.651 Die Unvereinbarkeit der unions- mit den völkerrechtlichen Vorgaben an die Mitgliedstaaten verhält sich zudem konträr dazu, dass den Mitgliedstaaten durch die Kommission und den Europäischen Rat nahegelegt wurde, alle Up-to-date-Übereinkommen, zu denen auch Übereinkommen Nr. 94 zählt, zu ratifizieren.652 Entsprechend werden die Mitgliedstaaten einerseits zur Einhaltung des Übereinkommens, andererseits aufgefordert, gegen das Übereinkommen zu verstoßen. representative respectively of substantial proportions of the employers and workers in the trade or industry concerned‘, and not only those that have been declared generally applicable through the adoption of an extension order“. 648 IAA, IAK, 102nd Session 2013, Report III (Part 1 A), Report of the CEACR, S. 689 f.; vgl. auch S. 691 zu Norwegen: „While noting that it is not its role to comment on decisions of the ECJ on the compatibility of national legislation with Community law, the Committee recalls that the Rüffert decision, to which the EFTA Surveillance Authority referred in its reasoned opinion, concerned Germany, which has not ratified Convention No. 94. The situation of Norway is therefore different in legal terms as it is bound by the Convention“. 649 Heuschmid/Schierle, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, Rn. 16.160; Heuschmid, SR 2014, 1, 10. 650 Gegen Norwegen ging die EFTA-Überwachungsbehörde jedoch bis 2012 vor, vgl. IAA, IAK, 107th Session 2018, Report III (Part A), Report of the CEACR, S. 512 f. 651 Siehe unter Teil 4 B. sowie konkret zu Übk. Nr. 94: Seifert, EuZA 2008, 526, 539. 652 Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Menschenwürdige Arbeit für alle fördern, KOM/2006/0249 endg., Punkt 3.1; Schlussfolgerungen des Rates v. 31. November und 1. Dezember 2006, Rats-Dokument 15496/2006 vgl. Koberski/Schierle, RdA 2008, 233, 236; Heuschmid/Schierle, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, Rn. 16.160; Ruchti, Das ILO-Übereinkommen Nr. 94, S. 81.

F. Berücksichtigung wegen Bezugnahmen auf ILO-Normen in Richtlinien

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6. CSR-Reporting-RL 2014/95/EU zur Änderung der BilanzRL 2013/34/EU Mit der RL 2014/95/EU versucht die Unionslegislative, die Corporate Social Responsibility (CSR)653 zu stärken.654 Hierzu verabschiedete er allerdings keine neuen verbindlichen Standards, die von Unternehmen einzuhalten sind (als Compliance-Pflichten), sondern begründete Berichtspflichten von Unternehmen über Maßnahmen im sozialen Bereich (Reporting-Pflichten).655 a) Inhalt der Richtlinie Konkret dient die Richtlinie 2014/95/EU der Aufnahme mehrerer Berichtspflichten in die Richtlinie RL 2013/34/EU über den Jahresabschluss, den konsolidierten Abschluss und damit verbundene Berichte von Unternehmen bestimmter Rechtsformen. Die Richtlinie 2014/95/EU macht es für Unternehmen, die von öffentlichem Interesse sind und am Bilanzstichtag durchschnittlich mehr als 500 Mitarbeiter im Geschäftsjahr beschäftigt haben,656 erforderlich, in den Lagebericht657 eine nichtfinanzielle Erklärung aufzunehmen. Diese muss Angaben enthalten, die für das Verständnis des Geschäftsverlaufs, des Geschäftsergebnisses, der Lage des Unternehmens sowie der Auswirkungen seiner Tätigkeit erforderlich sind und sich unter anderem auf die Sozial- und Arbeitnehmerbelange sowie die Achtung der Menschenrechte beziehen.658 Allerdings ist zu beachten, dass die Richtlinie es Unternehmen auch ermöglicht, bestimmte Informationen nicht in den Lagebericht aufzunehmen, sofern hierfür eine „klare und begründete Erläuterung“ in den Bericht aufgenommen wird (Comply-or-explain-Verfahren).659 Die Unterlassung der Angaben im Lagebericht beziehungsweise der Erläuterung der Nichtaufnahme der Angaben kann durchaus rechtliche und finanzielle Folgen für ein Unternehmen haben. So haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass die Abschlussprüfer oder die Prüfungsgesellschaften überprüfen, ob die nichtfinanzielle 653 Zu den Bezügen internationaler CSR-Selbstverpflichtungsstandards auf ILO-Normen Zandvliet/van der Heijden, in: Marx/Wouters/Rayp/Beke, Global Governance of Labour Rights, S. 170, 174 ff.; Gehne, in: Gött, Labour Standards in International Economic Law, S. 308, 313. 654 IAA, Verwaltungsrat, 295th Session 2006, InFocus Initiative on Corporate Social Responsibility, GB.295/MNE/2/1: „CSR is a voluntary, enterprise-driven initiative and refers to activities that are considered to exceed compliance with the law“; s. a. Zandvliet/van der Heijden, in: Marx/Wouters/Rayp/Beke, Global Governance of Labour Rights, S. 170, 170. 655 Seifert, EuZA 2018, 51, 63. 656 Art. 19a Abs. 1 UAbs. 1 RL 2013/34/EU. Es findet eine „Konzernzurechnung“ in der Gruppe statt, vgl. Art. 29a Abs. 1 UAbs. 1 RL 2013/34/EU. 657 Die Informationen können auch in einem gesonderten Bericht veröffentlicht werden, Art. 19a UAbs. 1, UAbs. 4 RL 2013/34/EU. 658 Art. 19a Abs. 1 UAbs. 1 RL 2013/34/EU. 659 Art. 19a Abs. 1 UAbs. 2, Art. 29a Abs. 1 UAbs. 2 RL 2013/34/EU; Spießhofer, NZG 2014, 1281, 1282; Habersack/Ehrl, AcP 2019, 155, 178.

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

Erklärung vorgelegt wurde,660 wobei es möglich erscheint, dass (abhängig vom jeweiligen nationalen Umsetzungsrecht) ein Bestätigungsvermerk nicht erfolgt, sofern der Lagebericht nicht die notwendigen nichtfinanzielle Erklärungen enthält.661 In der Richtlinie selbst ist zwar kein Erfordernis der Festlegung von Sanktionen bei einem Verstoß gegen die Umsetzungsvorschriften vorgesehen;662 wie bei jeder Richtlinie muss aber auch die Durchsetzung der CSR-Richtlinie 2014/95/EU durch die Mitgliedstaaten sichergestellt werden (effet utile). b) Bezugnahmen auf ILO-Normen Der verbindliche Teil der Richtlinie konkretisiert nicht, über welche „Sozial- und Arbeitnehmerbelange“ berichtet werden soll.663 In Erwägungsgrund Nr. 7 RL 2014/ 95/EU wird allerdings festgehalten, dass die Erklärung des Unternehmens in Bezug auf soziale Belange und solche der Arbeitnehmer Angaben zu den Maßnahmen enthalten kann, die (unter anderem) „zur Umsetzung der grundlegenden Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation“ ergriffen wurden. Erwägungsgrund Nr. 9 RL 2014/95/EU stellt zudem den Bezug zur mehreren internationalen (zumeist Soft-Law-)Normen her, die ihrerseits auf Übereinkommen der ILO verweisen. Gemäß Erwägungsgrund Nr. 9 RL 2014/95/EU können sich die Unternehmen bei der Bereitstellung der Informationen unter anderem auf den UN Global Compact, die Leitprinzipien für Unternehmen und Menschenrechte (Umsetzung des UN-Rahmenprogramms „Protect, Respect and Remedy“), die Leitlinien der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) für multinationale Unternehmen, die Norm der Internationalen Organisation für Normung ISO 26000, die Dreigliedrige Grundsatzerklärung der ILO zu multinationalen Unternehmen und zur Sozialpolitik und die Global Reporting Initiative stützen. Alle aufgeführten Regelwerke verweisen für Sozial- und Arbeitnehmerbelange (zumindest auch) auf Übereinkommen der ILO,664 zumeist die acht KernarbeitsnormÜbereinkommen, vereinzelt auch auf weitere Übereinkommen. Auch nach den 660 Art. 19a Abs. 5, Art. 29a Abs. 5 RL 2013/34/EU, vgl. auch Art. 20 Abs. 3 RL 2013/34/ EU zur Prüfung des Diversitätskonzepts; zur Umsetzung in Deutschland in § 317 Abs. 2 S. 4 HGB aus Unternehmenssicht: Hennrichs, NZG 2017, 841, 844 ff.; s. a. Kocher, AVR 2019, 183, 204 mit Hinweis auf die Umsetzungsakte in Frankreich und dem Vereinigten Königreich. 661 Nach deutschem Recht bestehen zudem weitergehende Prüfungspflichten- und Rechte des Aufsichtsrats, siehe §§ 111, 170, 171 AktG. 662 Statt vieler: Art. 10 Abs. 2 RL 2008/104/EG; vgl. aber die deutsche Bußgeldvorschrift § 334 Abs. 1 Nr. 3, Nr. 4 HGB. 663 Anders der deutschen Umsetzungsakt, vgl. § 289c Abs. 2 Nr. 2 HGB, eingefügt durch das CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz v. 11. April 2017 (BGBl. I v. 18. April 2017, S. 802). 664 Prinzipien 3 – 6 des Global Compact verweisen auf die Kernarbeitsnormen, ebenso Guiding Principle Nr. 12 der UN Guiding Principles on Business and Human Rights and IFC Sustainability Framework, die Dreigliedrige Grundsatzerklärung der ILO zu multinationalen Unternehmen und zur Sozialpolitik. Auf die Kernarbeitsnormen sowie weitere ILO-Übereinkommen wird in den Erläuterungen zu Grundsatz Nr. 6 der ISO 26000 und Standards der Global Reporting Initiative (etwa GRI 103, GRI 402) verwiesen.

F. Berücksichtigung wegen Bezugnahmen auf ILO-Normen in Richtlinien

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(unverbindlichen) Leitlinien für die Berichterstattung über nichtfinanzielle Informationen,665 welche die Kommission zur Unterstützung der Unternehmen nach Art. 2 RL 2014/95/EU erarbeiten musste, gehört zu den wesentlichen Informationen über soziale Belange und Arbeitnehmerbelange die Umsetzung der grundlegenden Übereinkommen der ILO. Hinsichtlich der wesentlichen Informationen über die potenziellen und tatsächlichen Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit auf Menschenrechte wird zudem hinsichtlich der Rechte indigener Völker auf Übereinkommen Nr. 169 (up-to-date) verwiesen.666 c) Bewertung Die unverbindlichen Verweise auf die Kernarbeitsnormen der ILO und weitere, oft indirekte Bezüge der CSR-Berichtspflichten zu Übereinkommen der ILO sind zwar zu begrüßen, stellen allerdings keinen wesentlichen Beitrag zur Stärkung der Einhaltung der Übereinkommen, etwa in Ländern der Zulieferern von Unternehmen, die der Richtlinie unterfallen, dar. Diese sind entweder ohnehin auf Grund von staatlichen Vorschriften an die eigene Einhaltung der Übereinkommen beziehungsweise deren nationalen Umsetzungsvorschriften oder die Prüfung der Einhaltung ihrer Zulieferer gebunden667 oder haben sich hierzu vielfach bereits selbst verpflichtet, etwa auf Grundlage von Good-Governance-Kodizes. Ebenso dürfte die Richtlinie die Anstrengungen der Unternehmen wohl nicht vergleichbar machen, da sie (zu) weitreichende Spielräume bei ihrer Umsetzung gewährt.668 Anstelle reiner Reporting- wäre die Einführung europäischer Compliance-Vorschriften über die Verantwortlichkeit von Unternehmen über Arbeits-, Menschen- und Umweltrechtsverstöße (etwa im Rahmen einer Subsidiärhaftung) sinnvoller gewesen, um die Einhaltung dieser Standards in der Lieferkette sicherzustellen. Ein erster Schritt in diese Richtung bildet die Konfliktmineralien-Verordnung 2017/821,669 die in Art. 4 ff. unter anderem Sorgfaltspflichten der Unionseinführer, Risikomanagementpflichten und Kontrollmechanismen bei der Einfuhr von Mineralien aus Kon-

665 Europäische Kommission, Leitlinien für die Berichterstattung über nichtfinanzielle Informationen (Methode zur Berichterstattung über nichtfinanzielle Informationen), ABl. 2017 C 215, 1. 666 Siehe ibid., ABl. 2017 C 215, 16. 667 Etwa durch das französische Gesetz über unternehmerische Sorgfaltspflichten (Loi relative au devoir de vigilance des sociétés mères et des entreprises donneuses d’ordre), JORF n874 v. 28. März 2017, texte n81. 668 Spießhofer, NZG 2014, 1281, 1287. 669 Verordnung (EU) 2017/821 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17. Mai 2017 zur Festlegung von Pflichten zur Erfüllung der Sorgfaltspflichten in der Lieferkette für Unionseinführer von Zinn, Tantal, Wolfram, deren Erzen und Gold aus Konflikt- und Hochrisikogebieten, ABl. 2017 L 130, 1; hierzu Teicke, CCZ 2018, 274, 274 f.; zum US-amerikanischen Pendant, Sec. 1502 des Dodd-Frank Act: Kocher, AVR 2019, 183, 205; zur deutschen Rechtslage Rudkowski, RdA 2020, 232.

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

fliktgebieten vorsieht.670 Die einzuhaltenden Standards bestimmt die Verordnung nicht selbst, sondern verweist auf die OECD-Leitsätze für die Erfüllung der Sorgfaltspflicht zur Förderung verantwortungsvoller Lieferketten für Minerale aus Konflikt- und Hochrisikogebieten.671 Insofern beinhaltet die Verordnung auch einen indirekten Verweis auf ILO-Übereinkommen: Anders als viele Soft-Law-Instrumente verweisen die OECD-Leitsätze für die Erfüllung der Sorgfaltspflicht zur Förderung verantwortungsvoller Lieferketten für Minerale aus Konflikt- und Hochrisikogebieten zwar nicht auf alle acht Übereinkommen, die Kernarbeitsnormen konkretisieren immerhin aber auf Übereinkommen Nr. 182.672 Abschließend sei noch erwähnt, dass auch andere Formen des Nachweises sozialer, menschenrechtlicher und umweltrechtlicher Standards auf die Kernarbeitsnorm-Übereinkommen verweisen. So verweist Kriterium 11 (Soziale Aspekte) des auf Grundlage von Art. 8 Abs. 2 der EU-UmweltzeichenVO (EG) 66/2010673 ergangenen Beschlusses B 2014/763/EU der Kommission vom 24. Oktober 2014 zur Festlegung der Umweltkriterien für die Vergabe des EU-Umweltzeichens für absorbierende Hygieneprodukte674 auf die acht Kernarbeitsnorm-Übereinkommen der ILO. Der Antragsteller muss hierbei durch unabhängige Prüfung und entsprechende Belege nachweisen, dass die Einhaltung der Vorschriften durch Dritte überprüft wurde.675 7. Zwischenfazit zu bisher unberücksichtigten Bezugnahmen Es zeigt sich, dass nicht nur arbeitsrechtliche Richtlinien auf Übereinkommen der ILO verweisen, sondern in anderen Zuständigkeitsbereichen der Union Berücksichtigung gefunden haben, wie etwa dem Gesellschaftsrecht (CSR-RL), Vergabe670 Huck, EuZW 2018, 266, 268; Teicke/Rust, CCZ 2018, 39, 40. Ein Großteil dieser Pflichten sind erst ab dem 1. Januar 2012 einzuhalten, vgl. Art. 20 Abs. 3 Verordnung 2017/821. 671 Vgl. Art. 2 lit. o) Verordnung 2017/821 und etwa Art. 4 lit. b) der Verordnung mit Verweis auf Anhang II der OECD-Leitsätze, OECD Due Diligence Guidance for Responsible Supply Chains of Minerals from Conflict-Affected and High-Risk Areas in der 2. Fassung von 2013, abrufbar unter: https://www.oecd.org/corporate/mne/GuidanceEdition2.pdf; s. a. Habersack/Ehrl, AcP 2019, 155, 178 f. 672 OECD Due Diligence Guidance for Responsible Supply Chains of Minerals from Conflict-Affected and High-Risk Areas in der 2. Fassung von 2013, abrufbar unter: https:// www.oecd.org/corporate/mne/GuidanceEdition2.pdf, S. 21. 673 Verordnung (EG) Nr. 66/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 über das EU-Umweltzeichen, ABl. 2010 L 27, 1. 674 Europäische Kommission, Beschluss B 2014/763/EU v. 24. Oktober 2014 zur Festlegung der Umweltkriterien für die Vergabe des EU-Umweltzeichens für absorbierende Hygieneprodukte. 675 Hierzu gehören Ortsbesichtigungen, die Prüfer während des Prüfungsverfahrens der Produktionsstätten im Rahmen der Lieferkette der Erzeugnisse durchführen. Dies muss bei Antragstellung und anschließend während der Gültigkeitsdauer des Umweltzeichens erfolgen, wenn neue Produktionsstätten genutzt werden.

G. Fazit zu Teil 4 und Ausblick

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recht, Energierecht und Polizeirecht (RL zur Bekämpfung und Verhütung des Menschenhandels). Verweise auf ILO-Normen fanden in diesen anderen Bereichen zumeist zu Aspekten der Außenbeziehungen der Union Eingang in die Richtlinien. Dies zeigt sich etwa bei der Erneuerbare-Energien-RL und der Öffentlichen-Auftragsvergabe-RL. Diese Entwicklung ist zu begrüßen. Zu wünschen wären allerdings häufigere und klarere Verweise, die bei der Auslegung der Übereinkommen auch die Schlussfolgerungen der zuständigen Ausschüsse berücksichtigen. Dies ist bereits möglich. Ein ausdrücklicher Verweis würde allerdings die Rechtsanwendung erleichtern. Es ist aber auch zu bedenken, dass viele Richtlinien, deren Regelungsbereiche sich mit den Gewährleistungsinhalten der Übereinkommen und Empfehlungen überschneiden, keine Bezugnahme in ihren Erwägungsgründen oder an sonstiger einschlägiger Stelle enthalten. So lässt etwa der Verweis auf Übereinkommen Nr. 144 im Rahmen der Offshore-Erdöl- und ErdgasaktivitätenRL 2013/30/EU die Frage aufkommen, warum sich ein entsprechender Verweis nicht auch in Richtlinie 92/91/EWG findet. Die GRCh schließt diese Lücke aber inzwischen.

G. Fazit zu Teil 4 und Ausblick Es existiert kein unionsrechtlicher allgemeiner Transformationsakt für Übereinkommen der ILO in das Unionsrecht, wie zum Beispiel für die Gewährleistungsinhalte der EMRK durch Art. 52 Abs. 3 GRCh. Etwa im Fall des Seearbeitsübereinkommens und des Übereinkommens Nr. 188 über die Arbeit im Fischereisektor wurden die völkerrechtlichen Vorgaben allerdings in Richtlinien übernommen und entfalten hierüber in der Unionsrechtsordnung Verbindlichkeit. Bei der Auslegung des sonstigen Unionsrechts ist eine Berücksichtigung der Normen der ILO aber möglich, zum Teil sogar geboten. Das Berücksichtigungsgebot folgt für viele Bereiche des Arbeitsrechts aus Art. 53 GRCh, für manche Richtlinien zudem aus deren Erwägungsgründen, gegebenenfalls in Verbindung mit Art. 52 Abs. 7 GRCh. Als Beispiel sei der 6. Erwägungsgrund der ArbeitszeitRL 2003/88/ EG genannt, der in der Rechtsprechung des EuGH breite Beachtung fand. Zudem lassen sich aus Übereinkommen der ILO auch weiterhin neue allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts ableiten. Übereinkommen der ILO sind im Falle ihrer Unvereinbarkeit mit Unionsrecht zudem im Rahmen des Vorrangs völkerrechtlicher Alt-Verträge gemäß Art. 351 Abs. 1 AEUV zu berücksichtigen. Aufgrund der Verpflichtung des Mitgliedstaats aus Art. 351 Abs. 2 S. 1 AEUV, ein Übereinkommen aber notfalls sogar kündigen müssen, ist dieser Vorrang befristet. Ist künftig mit einer vermehrten Bindung der Union an Recht der ILO zu rechnen? Wohl kaum, zumindest sind keine Vorhaben der Kommission oder der Sozialpartner

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Teil 4: Unionsrechtliche Mechanismen zur Berücksichtigung von ILO-Normen

bekannt, wie im Fall des Seerechtsübereinkommens und des Übereinkommens Nr. 188 Normen der ILO im Wortlaut in das Unionsrecht zu übernehmen. Werden die Normen der ILO künftig häufiger durch den EuGH, die Generalanwälte und die Europäische Kommission bei der Auslegung des Unionsrechts berücksichtigt? Antworten hierauf wären spekulativ: Das methodische Handwerkszeug hat sich in den vergangenen Jahren nicht verändert. Insbesondere nach Inkorporation der GRCh in das Primärrecht ist es nicht zu einer häufigeren Rezeption der ILO-Standards oder gar einem Einlenken in Bezug auf die völkerrechtswidrige Auslegungspraxis der Prüfung von Kollektivmaßnahmen auf ihre Vereinbarkeit mit Grundfreiheiten gekommen. Eine Zunahme der Rezeptionspraxis ist – wenn überhaupt – nur marginal feststellbar. Keinen Katalysator dürfte zudem die 2017 in Göteborg angenommene Erklärung über eine europäische Säule der sozialen Rechte darstellen. So bestimmt die Erklärung zwar, dass „die europäische Säule sozialer Rechte […] die Mitgliedstaaten oder ihre Sozialpartner nicht davon abhalten“ solle „höhere Sozialstandards festzusetzen“ und führt hierfür einschlägige Übereinkommen und Empfehlungen der ILO an.676 Hierdurch werden die Ebenen des Völker- und Unionsrechts aber eher getrennt als verbunden.677 Da wie beschrieben, keine rechtlich-methodischen Probleme vorliegen, die bei der Berücksichtigung des Rechts der ILO bei der Auslegung des Unionsrechts hinderlich sein könnten, ist zu fragen, welche Änderungen in tatsächlicher Hinsicht getroffen werden können, um eine Rezeption zu stärken. Hierzu sollen im sich anschließenden Teil einige Ansatzpunkte entwickelt werden.

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Nichts anderes ergibt sich aus den Vorarbeiten, die zwar auf die Future of Work-Initiative verweisen, die Standards aber nicht aufgreifen, vgl. Mitteilung der Kommission v. 8. März 2016, COM(2016) 127 final. 677 Hoffnungsvoller Schubert/Jerchel, EuZW 2017, 551, 553.

Teil 5

Vom Gebot der Berücksichtigung der Normen der ILO zu ihrer tatsächlichen Berücksichtigung Allein das Bestehen der Auslegungsregel, arbeitsvölkerrechtliche Quellen bei der Auslegung des Unionsrechts heranziehen zu können und unter Umständen heranziehen zu müssen, bedeutet nicht, dass sie auch tatsächlich beachtet würde. Zwar ist im vergangenen Jahrzehnt eine Tendenz der vermehrten Rezeption von ILO-Standards und Spruchpraxis in Europa erkennbar, die insbesondere auf den EGMR zurückgeht. Allerdings hat der EuGH – wie aufgezeigt auch nach Inkorporierung der GRCh in das Primärrecht – nur in einer sehr überschaubaren Anzahl von Fällen Übereinkommen und sonstige Normen der ILO rezipiert. Die Spruchpraxis blieb sogar vollkommen unberücksichtigt. Dies könnte auf eine der drei folgenden Ursachen zurückzuführen sein: fehlende Kenntnis, fehlendes Verständnis oder fehlende Akzeptanz. Es scheint zumindest möglich, dass der Gerichtshof in vielen hier nicht dargestellten Entscheidungen keine bewusste Entscheidung getroffen hat, Übereinkommen der ILO nicht zu berücksichtigen, sondern ihm schlicht nicht bekannt war, dass einschlägige Übereinkommen und konkretisierende Spruchpraxis existieren. Denkbar ist aber ebenso, dass völkerrechtliche Garantien bekannt waren, der Gerichtshof sich jedoch nicht mit ihnen auseinandersetzen wollte oder zumindest nicht in seinen Urteilsgründen auf die Normen verweisen wollte.

A. Steigerung der Sichtbarkeit der Bezüge der ILO-Normen zum Unionsrecht Zur Verbesserung der Kenntnisse und des Verständnisses der zu berücksichtigenden Quellen als auch zur Erhöhung der Akzeptanz des Berücksichtigungsgebots sind mehrere Strategien denkbar, die allerdings das Handeln unterschiedlicher Organe, Einrichtungen, Einzelpersonen und Interessengruppen in der EU und in der ILO notwendig machen.1 Zunächst scheint es daher wichtig, die Sichtbarkeit der

1 Zu „Handlungsoptionen“ der Mitgliedstaaten und der Rolle der Zivilgesellschaft bei der Stärkung der Rolle der UN-Menschenrechtsverträge im Unionsrecht, die auf die Normen der ILO übertragen werden können Schadendorf, EuR 2015, 28, 46 ff.

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Teil 5: Vom Gebot der Berücksichtigung zur tatsächlichen Berücksichtigung

Bezüge zu erhöhen und die Spruchpraxis als Ergebnisse des komplexen System der Normüberwachung der ILO einfacher zugänglich zu machen.

I. Maßnahmen der ILO 1. Verbesserte Auffindbarkeit der Normen und Spruchpraxis der ILO Grundvoraussetzung der Kenntniserlangung über die Normen und Spruchpraxis der ILO ist die Auffindbarkeit dieser Rechtsquellen. Je einfacher die Normen und die Spruchpraxis gefunden werden können, desto häufiger dürften sie auch herangezogen werden. Die seit 1996 erfolgende Digitalisierung der Materialien und Bereitstellung auf der Homepage der ILO war hierzu ein wichtiger Schritt: So werden hier inzwischen die Texte aller Übereinkommen, sämtliche Spruchpraxis und nahezu alle Tagungsberichte und sonstigen Dokumente der ILO zur Verfügung gestellt. Das System könnte aber benutzerfreundlicher ausgestaltet werden,2 wodurch eine Rezeption der Standards und der Spruchpraxis noch einfacher gelingen könnte. 2. General survey zu den Bezügen inter- und supranationalen Rechts zu den Normen der ILO Zusätzlich zur Zurverfügungstellung der Normen und Spruchpraxis könnte die ILO die Rezeption ihrer Normen selbst erläutern. Denkbar wäre etwa ein general survey, der sich nicht (wie klassischerweise der Fall) mit einem bestimmten Bereich des Arbeits- und Sozialrechts auseinandersetzt, sondern die Bezüge anderer interund supranationaler Rechtsquellen, gleich ob verbindlich oder soft law, zum Recht der ILO behandelt. In diesem könnten die Bezüge des regionalen Völkerrechts (also unter anderem des Rechts des Europarats und der Organisation Amerikanischer Staaten), des Unionsrechts, von Handels- und Investitionsschutzabkommen und der UN-Menschenrechtsverträge zu den Standards und der Spruchpraxis der ILO herausgearbeitet werden. Die Erstellung eines entsprechenden general survey würde auch nicht gegen das Mandat des Sachverständigenausschusses verstoßen.3 Grundlage der Erstellung eines general survey zu einem bestimmten Thema bildete zwar bisher stets ein Beschluss des Verwaltungsrats, der auf den Berichtspflichten der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Vorlage bisher nicht ratifizierter Übereinkommen und Empfehlungen an die zuständigen nationalen Stellen4 aufbaute. Es ist dem Sachverständigenausschuss aber auch schon derzeit nicht untersagt, auch andere Quellen einfließen zu 2

Denkbar wäre etwa, die Auffindbarkeit per Suchmaschinen zu erhöhen, die Schlagwortsuche zu verbessern oder auf „ähnliche“ Bemerkungen zu anderen Ländern hingewiesen werden. 3 Hierzu unter Teil 1 D. I. 1. a). 4 Art. 19 Abs. 5 – 7 ILO-Verfassung.

A. Steigerung der Sichtbarkeit der Bezüge der ILO-Normen zum Unionsrecht

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lassen. Sollten sich die Regierungs-, Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter darauf einigen können, ausnahmsweise einen Bericht nicht zu einer spezifischen Frage des Arbeits- oder Sozialrechts, sondern allgemein zu den Bezügen inter- und supranationaler Rechtsordnungen zum Recht der ILO verfassen zu lassen, wäre dies vom Mandat des Verwaltungsrats gedeckt, was der Arbeit des Sachverständigenausschusses die notwendige Grundlage bieten würde. Es ist darauf hinzuweisen, dass entsprechende Studien zwar bereits vereinzelt durch die Wissenschaft, NGOs und auch im Auftrag der ILO erarbeitet wurden.5 Ein general survey hätte aber im Vergleich zu den bereits verfügbaren Dokumenten eine höhere Strahlkraft und mehr Außenwirkung. Zudem würde er auch im Normanwendungsausschuss von Vertretern der Regierungen und Sozialpartner diskutiert werden und könnte hierdurch in den nationalen Rechtsordnungen Beachtung finden. 3. Regelmäßige Fortbildung der EuGH-Référendaires auf dem Gebiet des Arbeitsvölkerrechts Eine Spezialisierung der Unionsgerichtsbarkeit wird zwar zum Teil gefordert,6 ist für die kommenden Jahre allerdings nicht abzusehen. Entsprechend muss es sich sowohl bei den Richtern und Generalanwälten als auch beim Fachpersonal des EuGH, das bei der Entscheidungsfindung unterstützt, zwangsläufig um europarechtliche „Generalisten“ handeln, was selbstverständlich nicht bedeutet soll, dass diese Personen nicht auch ausgewiesene Experten auf dem Gebiet des Europäischen Arbeitsrechts sind. Es ist aber nicht überraschend (und im Übrigen auch nicht vorzuwerfen), dass der Gerichtshof in vielen Fällen wohl aus Unkenntnis ob ihrer Existenz arbeitsvölkerrechtliche Normen nicht berücksichtigte und sich bei der Auslegung des Unionsrechts auf die althergebrachten Auslegungsmethoden beschränkte. Damit der Gerichtshof künftig weniger auf Hinweise auf Übereinkommen der ILO durch Parteienvertreter oder Vertreter der Mitgliedstaaten vertrauen muss, sondern selbst über die notwendigen Kenntnisse über die Übereinkommen und die Funktionsweise des komplexen Überwachungssystems verfügen, sollte die ILO7 ihr Angebot zur Fortbildung zum Normüberwachungssystem und der Spruchpraxis nicht auf Richter der nationalen Arbeitsgerichtsbarkeiten beschränken,8 sondern

5 Siehe etwa Ebert/Oelz, Bridging the gap between labour rights and human rights: The role of ILO law in regional human rights courts. 6 Hierzu Jacobs/Münder/Richter, Spezialisierung der Unionsgerichtsbarkeit im Arbeitsrecht; hierauf spielt auch Teklè, ELLJ 2018, 236, 256 an. 7 Etwa durch das Vertretungsbüro in Brüssel oder dem ILO Training Center in Turin. 8 Die ILO organisiert zudem auch regelmäßige Treffen von Arbeitsrichtern aus Europa, vgl. Trebilcock, EuZA 2013, 178, 187. Hierzu sollten die Référendaires ebenfalls eingeladen werden.

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Teil 5: Vom Gebot der Berücksichtigung zur tatsächlichen Berücksichtigung

auch gezielt Mitarbeiter der Richter und Generalanwälte des EuGH und hierbei insbesondere die Référendaires (Rechtsreferenten) einladen.

II. Maßnahmen der EU 1. Zweite offizielle Erläuterungen der GRCh mit Verweisen auf die völkerrechtlichen Rechtserkenntnisquellen Das Gebot der Berücksichtigung völkerrechtlicher Quellen nach Art. 53 GRCh ist eine methodische Besonderheit bei der Auslegung der GRCh. Eine weitere Besonderheit beim methodischen Umgang mit der Charta betrifft die historische Auslegung. So sind gemäß Art. 52 Abs. 7 GRCh die durch das Präsidium des Chartakonvents erarbeiteten Erläuterungen zur Charta „gebührend zu berücksichtigen“.9 Die Charta-Erläuterungen helfen bei der genetischen Auslegung der Charta, indem sie die Beweggründe und Einschätzungen des Konvents beschreiben.10 Diese Erläuterungen können und sollen keinesfalls verändert werden. Wenngleich die Erläuterung bereits viele völkerrechtliche Bezüge der GRCh, insbesondere zur EMRK, aber auch der ESC und der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer, aufgreift,11 könnten die „historischen“ Erläuterungen um eine zweite offizielle Erläuterung zur „völkerrechtskonformen Auslegung“ der Chartabestimmungen ergänzt werden. Eine solche zweite Erläuterung der Charta müsste sämtliche (ersichtlichen) einschlägigen Normen des internationalen und regionalen Menschenrechtsschutzes aufführen und Auskunft über die wichtigsten Schlussfolgerungen und Bemerkungen der zuständigen Überwachungsausschüsse geben. Im Fall der UN-Aufsichtsausschüsse wäre hierbei insbesondere auf die allgemeinen Auslegungslinien (general comments) zurückzugreifen, während Grundlage der ILOSpruchpraxis insbesondere die general surveys des Sachverständigenausschusses und der compliation of decisions des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit bilden könnten. Ein erster Schritt zu einer zweiten Erläuterung der Charta wäre die Erstellung eines Entwurfs dieser völkerrechtlichen Erläuterung etwa durch die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, die ähnliche Dokumente bereits erstellt hat.12 Bei der Erstellung der „völkerrechtlichsaffinen“ Erläuterung zur Charta könnten auch die Verwaltungsbüros der internationalen Menschenrechtsausschüsse, das Internationale Arbeitsamt sowie die Sozialpartner und andere NGOs eingebunden 9 Vgl. etwa EuGH v. 22. Dezember 2010 – C-279/09 (DEB), Rn. 32; EuGH v. 22. Januar 2013 – C-283/11 (Sky Österreich), Rn. 42; EuGH v. 6. März 2014 – C-206/13 (Siragusa), Rn. 22; EuGH v. 27. Mai 2014 – C-129/14 PPU (Spasic), Rn. 54. 10 Vgl. auch Kingreen,, in: Calliess/Ruffert, Art. 52 GRCh, 43. Die historische Genese gilt als eher untypisch für den EuGH, vgl. Jarass, Art. 52 GRCh, Rn. 81. 11 Zu den Folgen: Jarass, Art. 52 GRCh, Rn. 82. 12 Siehe auch die „Charterpedia“, abrufbar unter: http://fra.europa.eu/de/charterpedia.

A. Steigerung der Sichtbarkeit der Bezüge der ILO-Normen zum Unionsrecht

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werden. Durch eine zweite offizielle Erläuterung zur völkerrechtskonformen Auslegung der Charta wäre (etwa im Gegensatz zu wissenschaftlichen Fachbeiträgen) die allgemeine Zugänglichkeit gesichert und der Stellenwert des Völkerrechts bei der Auslegung der Charta klargestellt. 2. Bezugnahmen auf ILO-Normen in neuen Sekundärrechtsakten Die Bezugnahmen in arbeitsrechtlichen Richtlinien stellen bislang den zentralen Ausgangspunkt für die Rezeption von Übereinkommen der ILO durch Generalanwälte und den EuGH dar. Um die Beibehaltung dieser Praxis zu sichern und zu begünstigen, ist darauf zu achten, dass künftige Verordnungen und Richtlinien insbesondere auf dem Gebiet des europäischen Arbeitsrechts (zumindest in den Erwägungsgründen) ebenfalls auf die Bezüge zu den arbeitsvölkerrechtlichen Quellen hinweisen. Mit Blick auf die derzeitigen Richtlinienverabschiedungsverfahren zeigt sich hier mehr Schatten als Licht. So fehlt etwa in der Richtlinie (EU) 2019/1158 zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige13 vom 20. Juni 2019 eine Bezugnahme auf einschlägige Normen der ILO. In den Erwägungsgründen Nr. 3 und Nr. 4 finden sich zwar Verweise auf die UN-Behindertenrechtskonvention und das UNÜbereinkommen über die Rechte des Kindes.14 Ein breiterer Verweis auf sämtliche einschlägigen völkerrechtlichen Normen oder die Normen der ILO fehlt hingegen. Zugegebenermaßen sind Normen der ILO zur Elternzeit rar. So existieren bislang keine Übereinkommen der ILO zur Elternzeit.15 Jedoch behandeln mehrere Empfehlungen Aspekte, die auch im Zusammenhang mit dem Regelungsgegenstand der neuen Richtlinie 2019/1158 von Revelanz sind. § 10 Abs. 3 der Empfehlung Nr. 191 bestimmt etwa, dass „die unselbständig beschäftigte Mutter oder der unselbständig beschäftigte Vater des Kindes […] während eines Zeitraums nach dem Ende des Mutterschaftsurlaubs Anspruch auf Eltemurlaub haben“ sollen. § 22 Abs. 1 der Empfehlung Nr. 165 sieht zudem ein Benachteiligungsverbot bei Elternzeit vor. Zudem existiert Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses zu Übereinkommen Nr. 111 und Übereinkommen Nr. 156, die auch im Zusammenhang mit der Auslegung der Richtlinie relevant werden könnte.

13 Richtlinie (EU) 2019/1158 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20. Juni 2019 zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige und zur Aufhebung der Richtlinie 2010/18/EU des Rates, ABl. 2019 L 188, 79; hierzu Stoye/Thoma, ZESAR 2019, 10. 14 Dies stellt allerding einen Fortschritt gegenüber der Elternzeit-Richtlinie 2010/18/EU dar, die weder selbst noch in der in Bezug genommenen Rahmenvereinbarung Bezüge auf völkerrechtliche Normen beinhaltete. 15 IAA, Maternity and paternity at work, S. 60.

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Auch die Richtlinie (EU) 2019/1152 über transparente und vorhersehbare Arbeitsbedingungen16 enthält (ebensowenig wie die bislang maßgebliche Richtlinie 91/ 533/EWG)17 keine Verweise auf das einschlägige Völkerrecht. Aus dem Normschatz der ILO wäre hier die Empfehlung Nr. 198 betreffend das Arbeitsverhältnis einschlägig gewesen.18 Der aktuelle Vorschlag zur Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, enthält ebenfalls keine Bezugnahme auf einschlägige Übereinkommen der ILO.19 Eine Berücksichtigung der Übereinkommen ist aber möglich. So findet sich im Entwurf eines Erwägungsgrunds Nr. 1 der Hinweis „In diesem Zusammenhang wird sowohl auf europäischer als auch auf internationaler Ebene zunehmend anerkannt, dass es eines ausgewogenen und effizienten Hinweisgeberschutzes bedarf.“,20 was als Grundlage für eine Rezeption auch von ILONormen dienen kann. In Betracht kommt insbesondere eine Rezeption von Art. 5 lit. c) Übereinkommen Nr. 158.21 Dem könnte man entgegengehalten, dass Übereinkommen Nr. 158 bislang nur durch zehn Mitgliedstaaten der Union ratifiziert wurde.22 Andererseits wurden viele der Übereinkommen der ILO zur Arbeitszeit ebenfalls nur durch weniger EU-Mitgliedstaaten ratifiziert. Erwägungsgrund Nr. 6 RL 2003/88/EG verweist trotzdem auf die Grundsätze der ILO zur Arbeitszeitgestaltung. Einen Lichtblick bildet hingegen die Verordnung zur europäischen Arbeitsaufsichtsbehörde, die in Erwägungsgrund Nr. 46 einen Verweis auf Übereinkommen Nr. 81 beinhaltet.23 Führt man sich vor Augen, dass die bestehenden nationalen 16 Richtlinie (EU) 2019/1152 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20. Juni 2019 über transparente und vorhersehbare Arbeitsbedingungen in der Europäischen Union, ABl. L 186, 105; zu deren Inhalt und Neuerungen gegenüber der RL 91/533/EWG Maul-Sartori, NZA 2019, 1161. 17 Richtlinie 91/533/EWG des Rates v. 14. Oktober 1991 über die Pflicht des Arbeitgebers zur Unterrichtung des Arbeitnehmers über die für seinen Arbeitsvertrag oder sein Arbeitsverhältnis geltenden Bedingungen, ABl. L 288, 32. 18 Siehe nun auch IAA, IAK, veröffentlicht für die für 2020 geplante 109th Session, Report III (Part B), General Survey, Promoting employment and decent work in a changing landscape, Rn. 230 ff. und die Bezugnahme auf Richtlinie 2019/1152 in Rn. 234. 19 Europäische Kommission, Proposal for a Directive of the European Parliament and of the Council on the protection of persons reporting on breaches of Union law v. 23. April 2018, COM(2018) 218 final, angenommen in der ersten Lesung durch das Europäische Parlament am 16. April 2019, P8_TA(2019)0366. 20 Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments v. 16. April 2019 zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, P8_TA(2019)0366, Erwägungsgrund Nr. 1. 21 Vgl. auch Fischer-Lescano, Internationalrechtliche Regulierung des Whistleblowing, abrufbar unter: http://www.dgb.de/presse/++co++e776672e-8e05-11e5-bf89-52540023ef1a, S. 25. 22 Finnland, Frankreich, Lettland, Luxemburg, Portugal, Schweden, Slowakei, Slowenien, Spanien und Zypern. 23 Hierzu bereits unter Teil 4 E. III.

B. Sicherstellung der Berücksichtigung der ILO-Normen

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Arbeitsaufsichtsbehörden in den Mitgliedstaaten unterschiedliche Traditionen, Organisationsweisen und Rechte haben, ist ein Rückgriff auf die Spruchpraxis der ILO, die seit fast 70 Jahren nationale Systeme überprüft, einordnet und vergleicht, äußert hilfreich sein. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Organisation der europäischen Arbeitsaufsicht selbst als auch bei ihrer (Haupt-)Aufgabe, der Koordinierung von Maßnahmen nationaler Arbeitsaufsichtsbehörden. Allerdings wäre anstelle der ausschließlichen Verweisung auf Übereinkommen Nr. 81 ein allgemeinerer Verweis (beispielsweise: „Bei der Anwendung der Verordnung ist den Grundsätzen der Internationalen Arbeitsorganisation Rechnung zu tragen“) besser gewesen. Dadurch wären auch Empfehlung Nr. 20 sowie das Übereinkommen Nr. 81 begleitende Protokoll Nr. 81 mit umfasst gewesen.24 Auch im Bereich der Governance-Kontrolle von Unternehmen spielen die ILONormen weiterhin eine zunehmende Rolle, wie sich am Beispiel der jüngst verabschiedeten Verordnung 2020/852 über die Einrichtung eines Rahmens zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen erkennen lässt.

B. Sicherstellung der Berücksichtigung der ILO-Normen und Spruchpraxis in Verfahren vor dem EuGH Es sind mehrere Ansätze denkbar, die Berücksichtigung von Normen und Spruchpraxis in Verfahren vor dem EuGH nicht nur mittels Vorschriften im materiellen Recht, sondern auch durch prozessuale Vorkehrungen sicherzustellen.

I. Konkretisierung der Verfahrensordnung des EuGH: Aufarbeitung der völkerrechtlichen Vorgaben durch den Generalanwalt Deutlich häufiger als der EuGH haben bislang die Generalanwälte Übereinkommen der ILO rezipiert. Dies überrascht schon insoweit nicht, als dass die Schlussanträge der Generalanwälte in der Regel ohnehin eine deutlich ausführlichere Auseinandersetzung mit allen entscheidungserheblichen Aspekten des Vorabentscheidungs-, Vertragsverletzungs- oder Gutachtenverfahrens beinhalten, während der EuGH versucht, seine Ausführungen so konkret wie möglich zu halten.25 So bestimmt Art. 49 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, dass der 24

Zum Aufbau der Arbeitsaufsicht und Fragen der Koordinierung verschiedener Ebenen in einem Mitgliedstaat: IAA, IAK, 95th Session 2006, Report III (Part 1B), General Survey concerning Labour Inspection, Rn. 138 ff., vgl. insb. Rn. 150: „Establishing inter-institutional cooperation and multilateral collaboration is an inherent part of the very concept of an administration system“. 25 Siehe unter Teil 4 C. III. 2.

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Teil 5: Vom Gebot der Berücksichtigung zur tatsächlichen Berücksichtigung

Generalanwalt „in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu bestimmten dem Gericht unterbreiteten Rechtssachen öffentlich zu stellen“ hat, „um das Gericht bei der Erfüllung seiner Aufgaben zu unterstützen“.26 Denkbar wäre es, diese Bestimmung um Vorgaben zu den zu berücksichtigenden Quellen zu erweitern. Eine Erweiterung könnte wie folgt lauten: „Die Begründung der Schlussanträge umfasst die Darstellung des einschlägigen Völkerrechts, Unionsrechts und nationalen Rechts“. Viele Schlussanträge sind bereits entsprechend aufgebaut und untergliedern die Darstellung des rechtlichen Rahmens in die drei genannten Kategorien. Insoweit dienen viele der im dritten Kapitel dargestellten Schlussanträge als Positivbeispiele, in denen Generalanwälte ihren Auftrag bereits entsprechend wahrnahmen. Die Aufnahme eines solchen – klarstellenden – Hinweises in die Verfahrensordnung würde für Transparenz sorgen und könnte für Generalanwälte, die bisher auf einen Rückgriff auf das Völkerrecht verzichteten, einen Beweggrund bilden, dem in Art. 53 GRCh verbürgten Berücksichtigungsgebot nachzukommen. Die Rezeption der einschlägigen völkerrechtlichen Normen und der begleitenden Spruchpraxis der zuständigen Ausschüsse stellt sicher, dass sich der Gerichtshof bei seiner Entscheidungsfindung problemlos einen eigenen Eindruck darüber verschaffen kann, ob die Spruchpraxis der Ausschüsse der gleichen oder unterschiedlicher Organisationen konsistent ist, zumal der Generalanwalt bereits selbst darüber befinden könnte, ob ihn die Spruchpraxis überzeugt und keine anderweitigen Hindernisse einer Orientierung der Auslegung des Unionsrechts am Völkerrecht entgegenstehen.

II. Vorlagefragen mit Verweisen auf Arbeitsvölkerrecht Bereits die nationalen Gerichte können zur Sicherung der Einheit der Rechtsordnung und Kohärenz im Mehrebenensystem beitragen. An die nationalen Vorlagegerichte ist der Aufruf gerichtet, bereits in den Vorlagefragen oder der Begründung

26 EUV/AEUV Protokoll Nr. 3 über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, ABl. 2008 C 115, 210, zuletzt geändert durch Verordnung (EU, Euratom) 2016/1192 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 2016 über die Übertragung der Zuständigkeit für die Entscheidung im ersten Rechtszug über die Rechtsstreitigkeiten zwischen der Europäischen Union und ihren Bediensteten auf das Gericht, ABl. 2016 L 200, 137. Diese Definition findet sich im Abschnitt der Verfahrensbestimmungen zum EuG. Hierauf kann auch für die Schlussanträge in Verfahren vor dem EuGH zurückgegriffen werden So wird lediglich in Art. 82 Abs. 1 der Verfahrensordnung bestimmt, dass Schlussanträge des Generalanwalts nach Schließung der mündlichen Verhandlung gestellt werden, sofern eine solche vorgesehen ist. Art. 38 Abs. 8 EuGH-Verfahrensordnung bestimmt, dass der Generalanwalt die Schlussanträge in einer anderen Sprache als der Verfahrenssprache verfassen kann. Anders als für das EuG existieren für den EuGH bisher keine praktischen Durchführungsbestimmungen zur Verfahrensordnung.

B. Sicherstellung der Berücksichtigung der ILO-Normen

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des Vorlagebeschlusses auf etwaiges einschlägiges Arbeitsvölkerrecht hinzuweisen.27

III. Einholung von Gutachten des Internationalen Arbeitsamts Die Verfahrensordnung des EuGH ermöglicht es, im Rahmen der Beweisaufnahme Sachverständigengutachten einholen zu lassen.28 Sollten über die bisherige Auslegungspraxis der Ausschüsse der ILO Unklarheiten bestehen, wäre es denkbar, dass etwa der Generalanwalt eine Anfrage an das Internationalen Arbeitsamt richtet, eine summary of decisions der Überwachungsausschüsse zu erstellen.29 Ebenso könnte die Kommission als Verfahrensbeteiligte ein Gutachten in Vorab-, Vertragsverletzungs- und sonstigen Verfahren einbringen. Kompetenzielle Bedenken dürften weder auf Seiten der EU noch auf Seiten der ILO bestehen.30

27 So etwa das LAG Düsseldorf im Schultz-Hoff-Verfahren, vgl. unter Teil 4 F. I. 2. c) bb) (1); s. a. die Vorlagefragen vieler nationaler Gerichte in Vorlageverfahren im Zusammenhang mit europäischen Finanzhilfen, siehe unter Teil 4 C. I. 2. 28 Art. 70 Abs. 1 EuGH-Verfahrensordnung, diese können auch durch Generalanwälte oder einzelne Richter angefordert werden, vgl. Abs. 3. 29 Mit Blick auf Eingaben aus Mitgliedstaaten Gruber, ZESAR 2019, 457, 459: „Im Gegensatz zum EGMR […] kennt der EuGH keine amicus-curiae-Stellungnahmen, […]. Gerade beim EuGH und insbesondere bei Arbeitsrechtsstreitigkeiten wäre das aber sinnvoll“. 30 Anders etwa im Falle von Gutachten des EGMR. Das am 1. August 2018 in-Kraft-getretene 16. Zusatzprotokoll (CETS 214) ermöglicht es nun nationalen Höchstgerichten den EGMR zur Auslegung der EMRK anzurufen, sofern der jeweilige Mitgliedstaat das Protokoll ratifiziert hat. Siehe zu diesem Verfahren Gundel, EuR 2015, 609.

Gesamtfazit Die Institutionen ILO und EU eint die Idee, den Frieden auf der Welt zu sichern. Die ILO versucht universalen Weltfrieden mittels sozialer Gerechtigkeit zu erreichen.1 Ziel der Europäischen Union ist es, den Frieden ihrer Völker zu fördern (Art. 3 Abs. 1 EUV). Hierbei wirkt sie auf eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft hin, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt. Ebenso wie die ILO bekämpft sie soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz (Art. 3 Abs. 3 UAbs. 2 EUV). Beide Organisationen haben eine Vielzahl arbeitsrechtlich relevanter Normen verabschiedet. Deren Schnittmengen können beiderseits fruchtvoll genutzt werden. Der europäische Konsens findet bereits durch das gemeinsame Auftreten der EUMitgliedstaaten und die faktisch ausgeprägte Beteiligung der Kommission Berücksichtigung in vielen Bereichen der Normsetzung der ILO. So könnte das Recht der ILO durch fortschrittlichere Normen des Unionsrechts etwa auf dem Gebiet des Arbeitszeitrechts profitieren. Es sollte aber stets darauf geachtet werden, dass die EU nicht versucht, eigene Standards auf die universelle Ebene zu transformieren, ohne zu prüfen, ob diese Standards überhaupt – etwa in Entwicklungsländern – umgesetzt werden können. Das Netz der Normen der ILO wird durch normkonkretisierende Spruchpraxis verdichtet. Die Schlussfolgerungen der Ausschüsse sind rechtlich zwar nicht generell-verbindlich, sie werden allerdings aufgrund ihres hohen Grads an Überzeugungskraft von vielen internationalen und nationalen Gerichten bei der Auslegung der Übereinkommen herangezogen. Es empfiehlt sich – auch für den EuGH – bei einem Rückgriff auf die Übereinkommen und Empfehlungen der ILO die Spruchpraxis als zentralen Maßstab für deren Auslegung heranzuziehen. Eine völkerrechtliche Pflicht der Union zur Berücksichtigung der Normen der ILO ergibt sich bislang nur eingeschränkt. Die Union ist bislang völkerrechtlich nur an die vier Prinzipien der Erklärung über grundlegende Rechte und Prinzipien bei der Arbeit gebunden, die Teil des Völkergewohnheitsrechts geworden sind. Hierfür spricht insbesondere die inhaltliche Überschneidung der Prinzipien mit dem durch den IGH bereits anerkanntem ius cogens. Eine Ausdehnung der völkerrechtlichen Bindung der Union auf weitere Normen der ILO ist derzeit nicht zu erwarten. Es bleibt abzuwarten, ob als ein Grundsatz gesunder und sicherer Arbeitsbedingungen als fünfte Kernarbeitsnorm anerkannt werden wird, was in entfernter Zukunft auch zu einer Einordnung des Grundsatzes als Völkergewohnheitsrecht führen könnte. 1

Vgl. S. 1 der Präambel der ILO-Verfassung.

Gesamtfazit

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Einem Beitritt der Union zur ILO stehen politische und rechtliche Probleme im Wege. Sinnvoller erscheint anstelle eines Beitritts der EU zur ILO ohnehin die Öffnung der standardisierten Schlussbestimmungen der Übereinkommen, um die Ratifikation ausgewählter Übereinkommen durch regionale völkerrechtliche Organisationen zu ermöglichen. Entsprechende Vorhaben sind allerdings ebenfalls nicht bekannt. Es existiert auch kein unionsrechtlicher allgemeiner Transformationsakt für Übereinkommen der ILO in das Unionsrecht, wie zum Beispiel für die Gewährleistungsinhalte der EMRK durch Art. 52 Abs. 3 GRCh. Etwa im Fall des Seearbeitsübereinkommens und des Übereinkommens Nr. 188 über die Arbeit im Fischereisektor wurden die völkerrechtlichen Vorgaben allerdings in Richtlinien übernommen und genießen hierüber in der Unionsrechtsordnung Verbindlichkeit. Übereinkommen der ILO gehen zudem im Falle ihrer Unvereinbarkeit mit Unionsrecht als völkerrechtliche Alt-Verträge oftmals gemäß Art. 351 Abs. 1 AEUV unionsrechtlichen Vorgaben vor. Dieser Vorrang ist aber gemäß Art. 351 Abs. 2 S. 1 AEUV befristet. Bei der Auslegung des Unionsrechts ist eine Berücksichtigung der Normen der ILO stets möglich, zum Teil sogar geboten. Das Berücksichtigungsgebot folgt für viele Bereiche des Arbeitsrechts aus Art. 53 GRCh, für manche Richtlinien zudem aus deren Erwägungsgründen. Es stehen somit genügend Verbindungen zwischen Brüssel und Luxemburg nach Genf zur Verfügung. Umso fataler erscheint das Dilemma von Mitgliedstaaten beider Organisationen, bislang zur Einhaltung unionsrechtlicher Vorgaben gegen Übereinkommen der ILO verstoßen zu müssen, wie teils sogar ausdrücklich durch Überwachungsausschüsse der ILO festgestellt wurde. Im Sinne des in der Einleitung verwendete Vergleichs zeigt das „Fährunglück“ der Rosella nach wie vor Auswirkungen im europäischen Streckennetz. In der Ägäis machten die ILO-Ausschüsse auf die „Havarie“ von Kollektiv- und anderen Arbeitnehmerrechten aufmerksam. Es wird sich zeigen, ob die verstärkte Beteiligung der Sozialpartner, die zumindest auch auf die Bemerkungen der ILO-Ausschüsse zurückzuführen sein dürfte, ein „Aufgrundlaufen“ der Kollektivrechte noch verhindern können wird.2 Allein das Bestehen der Auslegungsregel, arbeitsvölkerrechtliche Quellen bei der Auslegung des Unionsrechts heranziehen zu können und unter Umständen heranziehen zu müssen, bedeutet nicht, dass sie auch tatsächlich beachtet würde. Es genügt nicht, dass ein Streckennetz aufgebaut wurde, sondern es bedarf auch einer Lokomotive, Waggons und eines erläuternden Streckenplans, da ansonsten die Verbindung nicht genutzt werden kann.

2 Wenig Hoffnung bereitet auch Erklärung über die soziale Säule der Union, an deren Verabschiedung die ILO am Rande beteiligt war, zur Beteiligung Teklè, ELLJ 2018, 236, 241. Diese erschöpft sich bisher in Symbolik.

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Gesamtfazit

Zur Steigerung der Sichtbarkeit der Bezüge des Unionsrechts zum Recht der ILO sind mehrere Ansatzpunkte denkbar. So ist der ILO (nicht nur mit Blick auf die EU, sondern auch auf die Anwender des nationalen Rechts) zu empfehlen, die Auffindbarkeit der Spruchpraxis (etwa durch eine verbesserte Schlagwortsuche) weiter zu vereinfachen. Ebenso könnte die Erstellung eines general survey über die Bezüge des inter- und supranationalen Rechts zu den Normen der ILO den Rechtsanwender auf ihm bisher unbekannte Parallelen aufmerksam machen. Zur praktischen Stärkung des Gebots der Berücksichtigung der Normen der ILO im Unionsrecht kommt zudem eine zweite Erläuterung der GRCh in Betracht, in welcher die aktuellen völkerrechtlichen Bezüge der Charta dargelegt werden und die so neben die vorhandene (genetische) Erläuterung der Charta träte. Ein solcher Streckenplan erleichtert die Planbarkeit einer Reise enorm. Zudem ist die Aufnahme einer konkretisierenden Bestimmung über den Inhalt der Schlussanträge der Generalanwälte in die Verfahrensordnung des EuGH zu erwägen. Die Verpflichtung der Generalanwälte, sich mit den einschlägigen völkerrechtlichen Rechtserkenntnisquellen in den Schlussanträgen auseinanderzusetzen, dürfte die häufigere Rezeption der Normen der ILO und anderer völkerrechtlicher Quellen durch die Lokomotive des Unionsrechts – den EuGH – zur Folge haben. Die Berücksichtigung der Normen der ILO bei der Auslegung des Unionsrechts ist kein Selbstzweck. Die internationalen Normen gehen auf einen Konsens zwischen Regierungen, Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter zurück. Ein solcher Konsens über Mindeststandards stellt oft einen Kompromiss nach langjährigen Auseinandersetzungen dar, der versucht, die verschiedenen Interessen bestmöglich unter Beachtung der Zielsetzung der ILO miteinander abzuwägen. Diese Idee ist auch im europäischen Arbeitsrecht keine Unbekannte. Umso mehr sollte der weltweite Konsens zwischen Staaten-, Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern auch in Europa einen Mindeststandard darstellen, von dem im Unionsrecht freilich „nach oben“ abgewichen werden kann.

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Sachwortverzeichnis Abdul Koroma 83 f. Acar-Entscheidung (EGMR) 161 Akerberg Fransson-Entscheidung (EuGH) 267 f. Albany-Entscheidung (EuGH) 177, 195, 200, 210, 213, 284 Alemo-Herron-Entscheidung (EuGH) 268 f. Allgemeines Präferenzsystem 234, 296 ff. AMCU/Chambers of Mines of South AfricaEntscheidung (Südafrikanisches Verfassungsgericht) 169 Amerikanische Menschenrechtskonvention 164 ff. AMRK siehe Amerikanische Menschenrechtskonvention Antidumping-VO/Antisubventions-VO 295, 298 f., 358 Arbeitsschutz 33, 35, 44, 49, 50, 59 ff., 75, 86, 92, 144, 242, 321, 352 ff. Arbeitszeit 48, 62, 68, 174, 223 f., 250, 283, 319 f., 321 ff., 338, 344 ff., 349 f., 352, 369, 380 Arbetsdomstolen 176, 178 f., 181 Asklepios-Entscheidung (EuGH) 268 f. Atlantikcharta 38 Ausschuss für Vereinigungsfreiheit 43, 95, 99 ff., 119, 121, 144, 146 ff., 163, 205, 209, 239, 284

Bosphorus-Entscheidung (EGMR) 171 f., 200 British Airways Pilots’ Association 179 ff., 200, 336 Bundesarbeitsgericht 32, 65, 146, 286, 308, 327 ff., 342, 335

BAG siehe Bundesarbeitsgericht BALPA siehe British Airways Pilots’ Association Barbulescu-Entscheidung (EGMR) 157 f. Bauer-Entscheidung (EuGH) 342 f. Béláné Nagy-Entscheidung (EGMR) 160 f. Berliner Konferenz von 1890 33 f., 36 f. Berücksichtigungsgebot 271 ff. Beschwerdeverfahren 95 ff. Bogg, Alan 29

ECOSOC siehe UN-Wirtschafts- und Sozialrat ECSR siehe Europäischer Ausschuss für Soziale Rechte EFSF siehe Europäische Finanzstabilisierungsfazilität EFSM siehe Europäischer Finanzstabilisierungsmechanismus Egenberger-Entscheidung (EuGH) 289, 309 f.

Cartier-Arbeitsgruppe 71 f., 306, 322 f., 353 Centenary-Erklärung 47 ff., 59 ff., 73, 76 Comité Especial de Tratamiento de Conflictos ante la OIT 84 Corporate Social Responsibility 218, 365 f., 367 CSR-Reporting-RL siehe Corporate Social Responsibility Decent Work Agenda 45 ff., 48, 61, 73 Defrenne-Entscheidungen (EuGH) 296, 312 ff., 315 ff., 319, 349 Demir und Baykara-Entscheidung (EGMR) 150 ff., 154, 189, 199 Dicu-Entscheidung (EuGH) 341 ff. Direct requests 87 f. Diskriminierungsverbot 44, 226 f., 257 ff., 285 f., 304 ff. 349, 351, 380 Dockarbeit siehe Hafenarbeit Dreigliedrige Grundsatzerklärung über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik 73, 75, 110, 127, 366

416

Sachwortverzeichnis

EGMR, Rezeption von ILO-Normen/ Spruchpraxis 149 ff. Einseitige Bindungserklärung – unionsrechtliche 247 f. – völkerrechtliche 239 ff. Elser-Entscheidung (EuGH) 255 Empfehlungen der ILO 72 f. Enerji Yapi-Yol Sen-Entscheidung (EGMR) 155 EntsendeRL 173 ff., 187 ff., 358 ff. Erklärung über grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit von 1998 siehe Kernarbeitsnormen Erklärung über soziale Gerechtigkeit für eine faire Globalisierung 46, 59 f., 73, 75, 83 Erklärung von Philadelphia 37 f., 40, 43, 73, 80, 99, 224, 275, 305 f. Erklärungen der ILO 73 f. Erneuerbare-Energien-RL 353 ff. Erster Weltkrieg 34, 36, 39, 43, 322 ESC siehe Europäische Sozialcharta ESM siehe Europäischer Stabilitätsmechanismus ETUC siehe Europäischer Gewerkschaftsbund Europäische Arbeitsbehörde 300, 376 Europäische Finanzstabilisierungsfazilität 202, 265 Europäische Kommission – Aviation: Open and connected EuropeMitteilung 186 – Beobachterstatus in der ILO 216 f. – Berichtspflichten 253 ff. – Beteiligung an ILO-Normsetzung 54 ff. – Einholung von Gutachten des IAA 379 – Monti II-Verordnungsentwurf siehe Monti II-Vorschlag – Rolle in der griechischen Staatsschuldenkrise siehe Griechenland – Vertragsverletzungsverfahren zu Poolsystemen 192 Europäische Säule der sozialen Rechte 58, 278, 279, 370, 381 Europäische Sozialcharta 172, 279, 282 Europäischer Ausschuss für Soziale Rechte 159, 172, 183, 197, 205 Europäischer Finanzstabilisierungsmechanismus 202, 265

Europäischer Gewerkschaftsbund 63 f. Europäischer Stabilitätsmechanismus 202, 265 f. Everything but arms (EBA) 296 FischereiarbeitsbedinungenRL 57 f., 252 FNV-Entscheidung (EuGH) 325 ff. FNV-Kunsten-Entscheidung (EuGH) 210 ff. Fonnship-Entscheidung (EuGH) 184 Footnote, single/double 87 f. Funktionsnachfolge 240 ff. General survey 81, 83, 86 f., 91, 93, 127, 147, 150, 158, 210, 287 f., 335, 372 f., 374, 382 Gleichbehandlung siehe Diskriminierungsverbot Göteborger Sozialgipfel siehe Europäische Säule der sozialen Rechte Grant-Entscheidung (EuGH) 284 ff. Graziani-Weiss-Entscheidung (EGMR) 155 f., 355 GRCh, Erläuterungen 264, 267, 273, 350, 374 f. Griechenland 201 ff. Grundrechtecharta siehe GRCh Gutachten Nr. 2/91 des EuGH 56 Hafenarbeit 190 ff. HLS-Entscheidung (EGMR) 157 Holship-Entscheidung (EFTA-Gerichtshof) 189 ff. Höpfner und Elser-Entscheidung (EuGH) 255 Hrvatski-lijecnicki-sindikat siehe HLSEntscheidung (EGMR) Hypothekentheorie 244 f. IAA siehe Internationales Arbeitsamt IAGMR siehe Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte IAK siehe Internationale Arbeitskonferenz Icelandic-Association-of-Academics-Entscheidung (EGMR) 157 ICERD siehe UN-Rassendiskriminierungskonvention

Sachwortverzeichnis IGH 98, 106 ff., 115, 121 f., 123 ff.,134 f., 139, 142 f., 144, 225 f. ILO – 100. Jubiläum 32 – Beitritt der EU 228 ff. – Beziehungen zur EU 215 ff. – Europäische Regionalkonferenz 73, 221 Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte 164 ff. Internationale Arbeitskonferenz 89, 115 – Geschäftsordnung 50 – Normanwendungsausschuss siehe Normanwendungsausschuss – Sitzung von 2012 127 f. – Zusammensetzung 52 Internationale Arbeitsorganisation siehe ILO Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz 34 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte 86 f., 109, 137, 139, 285 f. Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 60, 87, 109, 294, 310, 325, 340 Internationales Arbeitsamt 51 f., 54 f., 100, 103, 112 f., 117 f., 122 f., 125, 128, 203, 217, 379 IPbpR siehe Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte IPwskR siehe Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ISO 26000 75, 110, 127, 366 Ius cogens 225 ff., 244, 275, 380 JugendarbeitschutzRL

352 ff.

Kanadischer Oberster Gerichtshof 167 Kernarbeitsnormen 42 ff., 60, 73 ff., 93, 127, 144, 215, 218, 248, 276, 296, 301 f., 366 ff. KHS-Entscheidung (EuGH) 325, 332 ff., 340, 351 King-Entscheidung (EuGH) 338 ff. Kiyutin-Entscheidung (EGMR) 155 Klageverfahren 97 ff.

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Laval-Entscheidung (EuGH) 172, 174 ff., 180, 181 ff., 189, 278, 284, 349 f. Ledra-Entscheidung (EuGH) 266, 269 Levy-Entscheidung (EuGH) 256 ff. Lex Britannia 175 f., 179, 181 Luftverkehrssektor 181, 186 Macarthys-Entscheidung (EuGH) 317, 319 Marschall-Entscheidung (EuGH) 307 ff., 350 Matelly-Entscheidung (EGMR) 159 Melloni-Entscheidung (EuGH) 272 Menschenhandel 161, 355 ff. Minne-Entscheidung (EuGH) 256 Monti-II-Vorschlag 183 f., 263 Nachhaltige Investions-VO 391 Normanwendungsausschuss 78, 89 ff., 117, 120 f, 213 – Anmerkungen 90 – Griechenlandkrise 203 f. – Liste der 24 Fälle gravierender Verstöße 91 f., 203 – Special paragraphs 91 – Verfassungskrise siehe Verfassungskrise – Verhältnis zum Sachverständigenausschuss 80, 93, 144 NUMSA/Bader-Pop-Entscheidung (Südafrikanisches Verfassungsgericht) 168 f. OECD 75, 110, 127, 201, 366, 368 Öffentliche AuftragsvergabeRL 357 ff. Offshore-Erdöl und ErdgasRL 356 Ognevenko-Entscheidung (EGMR) 162 Ohlin-Bericht 28, 222 ff. OTOE-Entscheidung (EGMR) 163 Pringle-Entscheidung (EuGH)

265 f.

Rainys und Gasparavicius-Entscheidung (EGMR) 149 Référendaires 373 f. RMT-Entscheidung (EGMR) 158 ff. Römische Verträge 215 f., 220 f., 224, 254, 312 f., 360 Rüffert-Entscheidung (EuGH) 358 ff.

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Sachwortverzeichnis

S.M.-Entscheidung (EGMR) 162 Sabbatini-Bertoni-Entscheidung 314 Sachverständigenausschuss 78 – Anmerkungen 87 f. – Mandat 78 ff. – Spruchpraxis (Verbindlichkeit) 119 ff. – Spruchpraxis 86 f. Sähköalojen-Entscheidung (EuGH) 187 ff. Schultz-Hoff-Entscheidung (EuGH) 327 ff. SDG siehe Sustainable Development Goals Seearbeitsübereinkommen 65, 71, 248 ff., 323, 369, 381 Shimizu-Entscheidung (EuGH) 343 f. Sidabras-Entscheidung (EGMR) 149 Siliadin-Entscheidung (EGMR) 149 Simap-Entscheidung (EuGH) 344 ff. Siragusa-Entscheidung (EuGH) 269 f. Sklaverei siehe Zwangsarbeit Sozialpartner 34, 40 f., 42, 46, 50, 57, 81 f., 84, 91, 96, 100, 111, 129 ff., 141, 179, 190 f., 205, 221, 258, 373 f., 381 Sozialpartner, europäische 63 f., 231 Spätere Übung 137 ff. Special paragraphs 91 SRM-TWG siehe Standard Review Mechanism Tripartite Working Standard Review Mechanism Tripartite Working 53, 62, 72, 76 f., 92, 96, 130, 261 Ständiger Internationaler Gerichtshof 107, 111, 141 StIGH siehe Ständiger Internationaler Gerichtshof Stoeckel-Entscheidung (EuGH) 256 f. Stummer-Entscheidung (EGMR) 155 f., 355 STX-Entscheidung (Oberster Gerichtshof Norwegen) 196 Südafrikanisches Verfassungsgericht 168 Sustainable Development Goals 47

Taricco II-Entscheidung (EuGH) 272 Transparente ArbeitsbedingungenRL 376 Tripartismus 35, 39 f., 42, 46, 51 f., 61, 64, 72, 78, 80 f., 89, 95, 97, 113, 127, 130, 141, 145, 224, 231, 251 Troika siehe Griechenland

Tüm Haber Sen-Entscheidung (EGMR) 149 Tymoshenko-Entscheidung (EGMR) 156 Übereinkommen der ILO – Ablösung 69 – Anzahl 50 – Auslegung 102 ff. – Außerkraftsetzung 60 – Inkrafttreten 65 – Interim-Status 71 – Kündigung 69 – Nr. 100 223, 279, 305, 311, 313 ff., 350 – Nr. 11 161 – Nr. 111 50, 71, 149, 279, 305 ff., 311, 313, 315, 318 f., 350 – Nr. 116 70, 237, 322 – Nr. 132 283, 322, 325, 327 ff. – Nr. 135 148, 290 – Nr. 137 190, 192 ff. – Nr. 138 279, 352 f. – Nr. 141 161, 290 – Nr. 143 290, 306 – Nr. 149 290, 346 – Nr. 153 55, 322 – Nr. 156 157, 305, 351 – Nr. 158 166, 376 – Nr. 176 260, 279 – Nr. 182 279, 322, 352, 368 – Nr. 183 279, 305 – Nr. 188 58, 253 – Nr. 189 59 f., 279 – Nr. 190 53, 279, 305 f. – Nr. 29 99, 107, 149, 156, 160, 162, 279, 355 – Nr. 30 344 f. – Nr. 45 259 ff., 262, 305 – Nr. 80 70, 237 – Nr. 81 276 f., 279, 300, 377 – Nr. 87 39 f., 91, 100, 109 f., 118 – 129, 131, 136, 144 f., 148, 150, 153, 155, 158, 165 ff., 180 ff., 188, 199, 208, 277, 279, 284, 290 – Nr. 89 256 f., 259, 262, 306 – Nr. 94 58, 357 ff., 361 ff. – Nr. 96 71, 255 – Nr. 98 40 f., 100, 148, 150, 153, 165, 168, 181, 188, 203 f., 206, 208, 210, 212 f., 254, 277, 279, 290

Sachwortverzeichnis – Parallelen zur GRCh 290 ff. – Rechtsnatur 65 ff. – Rezeption 148 ff., 303 ff. – Überwachung 76 ff. – Verabschiedung 49 ff. UdSSR 37, 41, 43, 82, 122 UN – Global Compact 74, 110, 127, 366 – Behindertenrechtskonvention 235, 238 f., 375 – Rassendiskriminierungskonvention 137, 287, 289, 310 – Wirtschafts- und Sozialrat 39 ff., 95 USA 36, 38, 42, 354 van der Heijden, Paul 83 Van der Mussele-Entscheidung (EGMR) 149 Van-Wesemael-Entscheidung (EuGH) 255, 259 Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben 375 Verfassungskrise 2012 107 ff., 127 ff. Vergaberichtlinien siehe Öffentliche AuftragsvergabeRL Versailler Vertrag 35 f., 37, 76, 78, 135, 305, 313, 322 Verwaltungsrat 49, 51 f., 54 f., 59, 64, 70 ff., 75, 78, 80, 81, 83, 85 ff., 95 ff., 108 ff.,

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111 f., 117, 120, 122, 132, 135, 217, 222, 230, 373 – Zusammensetzung 51 Viking-Line-Entscheidung (EuGH) 173 ff. siehe auch Laval Völkergewohnheitsrecht 68, 225 ff., 261, 380 Völkerrechtsfreundliche Auslegung des Unionsrechts siehe Berücksichtigungsgebot Voß-Entscheidung (EuGH) 319 Whitley Council 34 Wiener Vertragsrechtskonventionen 67, 102 ff. Williams-Entscheidung (EuGH) 336 ff. Wilson-Entscheidung (EGMR) 149 WKStV siehe Wiener Konvention zur Staatennachfolge in Verträgen World Federation of Trade Unions 39 WTFU siehe World Federation of Trade Unions WTO 43, 60, 114, 229, 240 ,297 f., 299, 354 WVK siehe Wiener Vertragsrechtskonventionen Zwangsarbeit 36, 39, 74, 99, 149, 160 f., 226, 246, 355 Zweiter Weltkrieg 36, 38, 43, 190