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German Pages 262 Year 2015
Achim Geisenhanslüke, Hans Rott (Hg.) Ignoranz
Literalität und Liminalität hrsg. v. Achim Geisenhanslüke und Georg Mein | Band 3
2008-03-25 12-07-31 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0330174402293932|(S.
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Achim Geisenhanslüke, Hans Rott (Hg.) Ignoranz. Nichtwissen, Vergessen und Missverstehen in Prozessen kultureller Transformationen
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© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Eva-Maria Konrad Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-778-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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INHALT Vorwort Ignoranz 7
Schöndummheit. Über Ignoranz ACHIM GEISENHANSLÜKE 15
Missverständnisse der Selbstbeobachtung: Kafkas Tagebücher JÜRGEN DAIBER 35
Meinungsverschiedenheiten und Missverständnisse HANS ROTT 61
Der Mensch – Facetten des Nichtwissens MARTIN SAUERLAND/MARIANNE HAMMERL 97
Erinnerungen an das Vergessen JOCHEN MECKE 121
Von Neds und Chavs: Britische Jugend zwischen Ignoranz, Kreativität und Widerstand RAINER EMIG 153
Vom Vorteil des Nachteils, dass Medien geistlos sind. Wissen und Nichtwissen in 2001: A Space Odyssey BERNHARD J. DOTZLER 175
Die Halbwertszeit der Wissenszwerge. Anmerkungen zu einigen »Mythen« der Wissensgesellschaft CHRISTIAN WOLFF 203
Wikipedia – Ein Medium der Ignoranz? RAINER HAMMWÖHNER 229
Autorinnen und Autoren 259
VORWORT IGNORANZ Im Zeitalter der Globalisierung ist ein Wettstreit um Wissenskompetenzen entstanden, der das Verhältnis, das der Mensch zum Wissen einnimmt, auf entscheidende Weise verändert hat: Nicht allein als Träger, sondern mehr noch als Ressource des Wissens gilt der Mensch im Posthumanismus. Der Begriff der human resource ist zu einem Schlüsselbegriff der aktuellen Wissenschaftspolitik geworden, deren Interesse vor allem darin liegt, Wissen ökonomisch nutzbar zu machen. Der vorliegende Band, der auf eine interdisziplinäre Vortragsreihe an der Universität Regensburg im Sommersemester 2007 zurückgeht, stellt den zeitgenössischen Konfigurationen des Wissens den Begriff der Ignoranz als Herausforderung gegenüber. Der Grund dafür ist ein einfacher: Ignoranz ist ursprünglicher als Wissen, der Bereich des Nichtwissens immer größer als der des Wissens. Das hat John Locke bereits zum Ausgang des 17. Jahrhunderts betont: »Da unser Wissen, wie ich gezeigt habe, ziemlich beschränkt ist, werden wir vielleicht über den jetzigen Zustand unseres Geistes etwas Licht erhalten, wenn wir einmal nach der dunklen Seite blicken und unsere Unwissenheit überschauen. Diese ist nämlich unendlich viel größer als unser Wissen.«1
Den Blick auf diese »dunkle« Seite des Nichtwissens zu richten, bleibt eine der zentralen Aufgaben, denen sich die Geisteswissenschaften heute noch zu stellen haben. Da Ignoranz aus der Perspektive des Wissens heraus immer nur als das Andere des Wissens, als seine Grenze oder sein Gegenteil beschreibbar ist, ist mit dem Erkenntnisinteresse, das dem Begriff der Ignoranz gilt, ein methodischer Vorteil verbunden: Vom Standpunkt der Ignoranz aus kann auch das Reich des Wissens beschrieben werden, das aus dieser Perspektive wie eine Insel im Meer des Nichtwissens erscheint. Insofern ist es nur erhellend, die Wissenskultur von ihrem Anderen her zu denken, um ein vorurteilsfreies Bild der modernen Wissensgesellschaft gewinnen zu können. 1
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, Band II, Hamburg: Meiner 1988, S. 205.
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ACHIM GEISENHANSLÜKE/HANS ROTT
Im Begriff der Ignoranz überlagern sich theoretische und praktische Aspekte. Ein wichtiger Aspekt betrifft zunächst die traditionell der Philosophie vorbehaltene Aufgabe der Begriffsklärung und die damit verbundene Frage, wie etwa Ignoranz, Dummheit, scheinbares Wissen und bewusstes Unwissen voneinander abzugrenzen sind. Der Begriff der Ignoranz ermöglicht vielfältige Differenzierungen, die zugleich unterschiedliche Fragerichtungen einzelner Disziplinen auffächern können. Als wertneutraler Oberbegriff, der hier in ähnlicher Weise wie das englische ignorance verwendet wird, subsumiert Ignoranz Phänomene des Nichtwissens, des Vergessens und des Missverstehens. Zunächst ist auch die von Nietzsche ins Feld geführte Bedeutungsvariante von »Ignoranz« zu beachten, in der diese so etwas wie Nicht-wissen-wollen oder KeinInteresse-am-Wissen-haben meint: »warum nicht lieber Unwahrheit? Und Ungewissheit? Selbst Unwissenheit?«2, schreibt Nietzsche in der Einleitung zu Jenseits von Gut und Böse. Wenn wir die Unterscheidung zwischen habituellen und partikulären Aspekten aber vernachlässigen, kann man vergröbernd sagen, dass sich der Begriff der Unwissenheit weitgehend mit dem Begriff der Ignoranz deckt. Vergessen ist ein Prozess, an dessen Ende ein Nichtwissen dessen steht, was man vorher gewusst hat; Missverstehen dagegen ein Prozess, an dessen Ende ein Nichtwissen darüber steht, was der Sprecher mit seiner Äußerung mitteilen wollte. Ein Vorurteil ist die bewusste oder unbewusste Einsetzung eines Urteils anstelle von Wissen. Das vielbeachtete Phänomen der Dummheit ist eine strukturelle geistige Eigenschaft, die häufig Nichtwissen produziert. Uninformiertheit ist dagegen ein Zustand der Ignoranz, der auf fehlender Versorgung mit Daten oder Fakten beruht. In dieser Bedeutungsvielfalt des Begriffes Ignoranz liegt ein Reichtum an Fragen und Problemen begründet, der methodisch und disziplinär unterschiedlichen Ansätzen und Forschungsrichtungen Raum gibt. Einigen von ihnen geht der vorliegende Band nach. Mit der Auffächerung des Begriffs eröffnen sich dem Denken der Ignoranz zugleich zwei fundamentale Ausgangsprobleme, mit denen es sich kritisch auseinanderzusetzen hat. Das erste Problem betrifft die Frage nach den Grundlagen des Sprechens über Ignoranz. Besonders deutlich wird das in der Frage nach dem Umgang mit der Dummheit, unter deren Namen Probleme der Ignoranz in der Kulturgeschichte oft verhandelt worden sind. Schon Robert Musil stellt die These auf, »daß jeder, der über Dummheit sprechen oder solchem Gespräch mit Nutzen bei-
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Friedrich Nietzsche: KSA 5, S. 15. Zu beachten ist, dass Nietzsche gerade darauf abzielt, Unwahrheit und Unwissenheit nicht ab-, sondern aufzuwerten.
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VORWORT IGNORANZ
wohnen will, von sich voraussetzen muß, daß er nicht dumm sei«3. Das Sprechen über Formen der Ignoranz ist mit der Frage nach Widersprüchen verbunden, die die Geschichte der Philosophie und Literatur seit der paradoxen sokratischen Selbstbezichtigung des Nichtwissens begleiten: Sokrates kann nicht wissen, dass er nichts weiß, wenn er doch weiß, dass er nichts weiß. Ein totales Nichtwissen kann sich seiner nicht bewusst sein. Im Anschluss an Musil dreht sich die Frage gewissermaßen um: Wie ist ein Sprechen über Ignoranz möglich, das von sich beanspruchen kann, selbst den Bereich des Nichtwissens zu überwinden? Vor diesem Hintergrund erscheint der Umgang mit Problemen der Ignoranz zugleich als Grundlage für die Reflexion über die Möglichkeiten des Wissens. Ein zweites Problem, das die Ignoranz betrifft, ist das der Verstellung.4 Zu den praktischen Schwierigkeiten im Umgang mit Wissen und Unwissen zählt die Möglichkeit, dass beide auch fingiert sein können. Zwei Grundsituationen lassen sich auf idealtypische Weise voneinander unterscheiden: Im ersten Fall handelt es sich um den, der vorgibt, von etwas zu wissen, von dem er in Wirklichkeit nichts versteht; der zweite Fall betrifft den Wissenden, der Unwissen vortäuscht, um einen strategischen Vorteil zu erreichen. »Niemals mit offenen Karten spielen«5, nennt der spanische Jesuit Balthasar Gracián als Grundvoraussetzung der Kunst der Verstellung, die auf die Frage nach Wissen und Nichtwissen zurückführt. Den Zusammenhang von Ignoranz und Verstellung in der Verknüpfung von epistemologischen und politischen Fragestellungen aufzudecken, ist eine der Aufgaben, die in Zukunft zu lösen sein werden. Auf der anderen Seite steht Ignoranz in einem engen Zusammenhang mit Problemen der Rationalität und damit verbundenen Urteilsformen. Dabei stellt sich zugleich die Frage, wie Phänomene des Missverstehens und des Vergessens als wesentlicher Bestandteil der Ignoranz rational beschreibbar sind. Schon Freud hat mit den Stichwörtern »Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum« im Untertitel seiner Psychopathologie des Alltagslebens ein ganzes Kaleidoskop der Ignoranz erstellt. Die Phänomene des individuellen Verdrängens und Vergessens, die für die Psychoanalyse zentral sind, erweitert der vorliegende Band um kulturgeschichtliche Fragestellungen, die über den Horizont der Psychoanalyse hinausgehen. Hat in der gegenwärtigen kulturellen Situation 3 4
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Robert Musil: »Über die Dummheit«, in: Gesammelte Werke II, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, S. 1273. Vgl. Achim Geisenhanslüke: Die Masken des Selbst. Aufrichtigkeit und Verstellung in der europäischen Literatur, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006. Balthasar Gracián: Handorakel und die Kunst der Weltklugheit, Stuttgart: Kröner 1954.
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das Thema der individuellen und kollektiven Erinnerung Hochkonjunktur, so droht der essentielle Beitrag, den das Vergessen für die Entstehung und das Funktionieren der Kultur leistet, selbst in Vergessenheit zu geraten. Wie Harald Weinrichs Studie zur Lethe gezeigt hat,6 ist das Vergessen für die Herstellung von kultureller Identität mindestens so wichtig wie das Erinnern. Eine ähnlich zentrale Position nimmt der Begriff des Missverstehens ein, der nicht nur am Ursprung kultureller Transformationsprozesse stehen kann, sondern darüber hinaus den grundsätzlichen Zusammenhang von Sprache, Wahrheit und Interpretation in Frage stellt.7 Nichtwissen, Vergessen und Missverstehen sind daher nicht allein als negative Begriffe aufzufassen, sondern als Bestandteile einer »Kultur der Ignoranz«, deren produktiven Auswirkungen der vorliegende Band in Theorie und Praxis nachzugehen sucht. Die einzelnen Beiträge des vorliegenden Bandes unternehmen es, unterschiedliche Facetten der Ignoranz zu entfalten, um eine erste Bestandsaufnahme des Themas zu leisten, oder vielleicht bescheidener, um erste Brückenköpfe in ein weites und vergleichsweise wenig exploriertes Gebiet zu treiben. Der einleitende Beitrag von Achim Geisenhanslüke geht aus germanistischer und komparatistischer Perspektive den Problemzusammenhängen nach, die mit dem Begriff der Ignoranz verbunden sind. Ausgehend von Robert Musils Rede Über die Dummheit aus dem Jahre 1937 stellt er zunächst die Schwierigkeit vor, auf indifferente Weise über das Phänomen der Dummheit zu sprechen, in die sich auch der wegen seiner intellektuellen Schärfe gerühmte Robert Musil verstrickt. In einem zweiten Schritt wendet Geisenhanslüke sich dem Zusammenhang von Ignoranz, Klugheit und Verstellung zu, um abschließend auf die definitorischen Schwierigkeiten einzugehen, die mit dem Begriff der Dummheit einhergehen. Wie Geisenhanslüke im Ausblick auf Wittgenstein deutlich macht, verweist die Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Ignoranz im Rahmen einer Vertrauenskrise der Humanität, die Musil in seiner Zeit diagnostiziert, über eine rein erkenntnistheoretische Frage hinaus auf die ethische Frage nach dem rechten Umgang mit dem Wissen. Jürgen Daiber konzentriert sich in seinem Beitrag auf das Thema des Missverständnisses in den Tagebüchern Kafkas. Bei Kafka, so erläutert Daiber, dient der Begriff des Missverständnisses zur Darstellung innerer Prozesse, die sich trotz differenzierter sprachlicher Erklärungsversuche 6 7
Vgl. Harald Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München: Beck 1997. Vgl. Karl Werner Modler: Das Segel des Theseus. Aufsätze über das Missverstehen, Wien: Passagen 2006.
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VORWORT IGNORANZ
nicht fassen lassen und vielmehr neue Missverständnisse generieren. In einer minutiösen Lektüre der Tagebücher Kafkas, die zugleich als zivilisationshistorische Dokumente zur Prager Kultur des beginnenden 20. Jahrhunderts fungieren, spielt das Thema der Selbstbeobachtung eine zentrale Rolle. In einer Form der Doppelreflexion, die sowohl das schreibende Ich als auch das Schreiben selbst betrifft, formuliert Kafka den Wunsch nach einer möglichst vollständigen Selbsterkenntnis, um ihn im Prozess des Schreibens zugleich zu dementieren. Anhand der Tagebucheinträge zu der Verlobten Felice Bauer, dem Freund Max Brod u. a. verdeutlicht Daiber darüber hinaus, dass die Unauflösbarkeit der Missverständnisse eine Differenz Kafkas zur Psychoanalyse markiert, innerhalb derer das literarische Schreiben die ambivalente Form einer Hassliebe annimmt. Der Philosoph Hans Rott versucht, die Unterschiede zwischen zwei spezifischen Formen von Ignoranz zu analysieren: zwischen Meinungsverschiedenheiten und Missverständnissen. Die ersteren bestehen in substantiellen Widersprüchen zwischen den Auffassungen, Überzeugungen oder Theorien von zwei Personen, von denen mindestens eine im Unrecht – und damit also ignorant – ist. Die letzteren resultieren aus Unterschieden des Sprachgebrauchs, die dazu führen, dass der Hörer nicht weiß, was die Sprecherin mit ihrer Äußerung eigentlich sagen wollte. Rott argumentiert, dass die prima facie so deutliche Unterscheidung zwischen »bloßen« Unterschieden von Sprache oder Bedeutung einerseits und »echten«, sachlichen Diskrepanzen andererseits theoretisch nur schwer in den Griff zu bekommen ist und Mehrdeutigkeiten letztlich prinzipiell nicht auszuräumen sind. Dies liegt daran, dass für eine Aufklärung fast immer Übersetzungen nötig sind und das Übersetzungsproblem trotz oder gerade wegen einer Vielzahl von Adäquatheitsbedingungen mehrere gleichwertige Lösungen hat. Je nach Übersetzung – auch zwischen Sprechern, die dieselbe Sprache zu sprechen scheinen – kann die Diagnose verschieden lauten. Nichtsdestoweniger, so Rotts Plädoyer, ist die Entwicklung einer Wissenschaft der Unstimmigkeiten eine dringende Aufgabe für die Philosophie und angrenzende Disziplinen. Der Beitrag der Psychologen Martin Sauerland und Marianne Hammerl dreht sich um die mannigfachen Weisen, in denen der Mensch, so wie er ist, vom Ideal der Rationalität abweicht. Sauerland und Hammerl lassen eine lange Reihe von empirischen Resultaten aus der Psychologie Revue passieren, die alle belegen, wie überraschend weit die tatsächlichen kognitiven Fähigkeiten und das faktische Verhalten des Menschen von den selbst auferlegten normativen Standards entfernt sind. In diesem Zusammenhang ist auch besonders das fehlende Wissen über die Ursachen unserer Überzeugungen und Wünsche, ja sogar über die Konstitu-
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ACHIM GEISENHANSLÜKE/HANS ROTT
tion unseres Selbst relevant – zweifellos besonders dramatische Formen der Ignoranz. Statt über unsere vermeintliche Dummheit zu klagen, verweisen Sauerland und Hammerl auf Untersuchungen, die zeigen, dass scheinbare Irrationalitäten bei genauer Betrachtung der je spezifischen Problemkontexte, der Beschränkung von Ressourcen und des evolutionären Anpassungsdrucks sich als den Vorschriften der reinen Vernunft überlegen zeigen. Damit erfahren einige aphoristische Ahnungen Nietzsches eine späte empirische Bestätigung. In der Konklusion des Beitrags wird deutlich, dass weder vollkommene Transparenz im Bewusstsein eigener mentaler Zustände zweckdienlich ist, noch das Bestehen von mehr oder weniger grundlegenderen Täuschungen über die Welt und unsere Position in ihr die Aussichten für unser Wohlergehen mindert. Der von den Autoren angeführte self-serving bias unterstreicht auf individuell-psychologischer Ebene die positiven Leistungen der Ignoranz. Den Ausgangspunkt der Überlegungen des romanistischen Kulturwissenschaftlers Jochen Mecke bildet die aktuelle Hochkonjunktur des Erinnerns in allen Bereichen des kulturellen Lebens. Ihr setzt er in der ironischen Tradition des Erasmus von Rotterdam ein Lob des Vergessens gegenüber, das auf Paradoxien aufmerksam macht, die erst aus der Perspektive der Ignoranz sichtbar werden. So zeigt der Beitrag in Anlehnung an Nietzsche und Borges auf, dass es gerade das Vergessen und nicht allein die Erinnerung ist, die für die Herstellung von Identität verantwortlich ist: Keine Subjektbildung ist ohne den fundamentalen Akt des Vergessens möglich. Am Beispiel des pacto del olvido, der das Vergessen des Bürgerkriegs und Frankismus in Spanien betrifft, des kollektiven Ausblendens des Algerienkriegs in Frankreich und der von W. G. Sebald lancierten Debatte um den Luftkrieg in Deutschland verdeutlicht Mecke zugleich die politischen Implikationen, die mit dem Vergessensbegriff verbunden sind. Aus der kultur- und mediengeschichtlichen Perspektive, die Mecke leistet, offenbart sich die grundlegend produktive Kraft des Vergessens als Katalysator kultureller Prozesse und Transformationen, wie sie sich im Rahmen einer Ästhetik des Vergessens an Romanen von Cervantes bis zu Proust aufzeigen lassen. Der Anglist Rainer Emig verweist in seinem Beitrag zur britischen Jugendkultur in Anknüpfung an Michel Foucault auf die kulturelle Dimension des Ignoranzbegriffes im Kontext von Fragen der Macht. Dass Unwissenheit und Ignoranz mit Machtpositionen verbunden sind, verdeutlicht der Blick auf die sogenannten »Neds« und »Chavs«, auf junge non-educated delinquents, so der juristische Jargon, die zu Leitfiguren der Popkultur werden. Anhand von drei Beispielen führt Emig die kulturelle Vernetzung von Jugend- und Popkultur im Zeichen der Ignoranz vor. In der britischen Fernsehserie Little Britain tritt mit der Figur der
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VORWORT IGNORANZ
Vicky Pollard eine klischierte Version der Chavs auf, die sich durch eine Form der Ignoranz auszeichnet, die in der Demontage des Zusammenhangs von Wissen und Macht zugleich subversiv wird. Das zweite Beispiel, auf das Emig rekurriert, ist die Musikerin Lady Sovereign, die sich in ihren Videos als »Feminem«, als weiblicher Eminem inszeniert, um unter dem Motto »Love Me or Hate Me« zugleich eine ironische Demontage des eigenen Kultstatus zu unternehmen. Der Roman The Asbo Show (2007) von Tony Saint schließlich überführt in der Tradition sozialironischer Texte aus den 1960er Jahren die Probleme der Neds und Chavs ins Medium der Literatur. Wie der Beitrag von Emig deutlich macht, sind die sozialen Probleme, die die aktuelle Jugendkultur vor Augen führt, mit den traditionellen Wissenskategorien der Bildungsgesellschaft nicht zu lösen. Sie erfordern vielmehr eine grundsätzliche Offenheit für das Phänomen der Ignoranz, die von der ökonomischen wie politischen Identifikation mit Figuren des Wissens wegführt. Der Medientheoretiker Bernhard J. Dotzler widmet sich in seinem Beitrag der Geistlosigkeit der Medien am Beispiel von Stanley Kubricks Kultfilm 2001: A Space Odyssee (1968). Ausgehend von Nietzsches Zarathustra und dessen Vertonung durch Richard Strauss stellt Dotzler die evolutionsgeschichtliche Frage nach Affe, Mensch und Übermensch in den Kontext des schwarzen Monolithen, der den Film beherrscht. Wie der Beitrag deutlich macht, stellt der Monolith zweierlei vor: eine These und ein Denkmal des Nichtwissens. Die These betrifft die Entstehung menschlicher Intelligenz durch den Eingriff einer außerirdischen Macht, die der Film einleitend anhand der Befähigung des Menschen zum Werkzeuggebrauch vorführt. Zugleich fungiert der schwarze Monolith als Denkmal des Nichtwissens, wie Dotzler im Blick auf die »Dummheit« des superklugen Bordcomputers HAL konstatiert, da der Geistwerdung selbst ein Akt des Nichtwissens innewohnt: Denken und Wissen, so HAL als Spiegel menschlicher Intelligenz, entpuppen sich als Möglichkeit des Irrens, der Täuschung und des Fehlgehens. Der Ausgang aus der Ignoranz, mit der der Film beginnt, führt in eine fundamentalere Form der Ignoranz, die das Selbstbewusstsein des Menschen als denkendes und wissendes Subjekt bestimmt. Im Mittelpunkt des Beitrags des Medieninformatikers Christian Wolff stehen drei »Mythen«, die Probleme der so genannten Wissensund Informationsgesellschaft widerspiegeln, in der wir heute leben. Zu diesen Denkfiguren oder Redeweisen gehören die Ideen, dass die »Halbwertszeit« des Wissens, d. h. seine Nachgefragtheit oder Brauchbarkeit, immer geringer werde; dass dem Vergessen des Alten eine neue, exponentiell zunehmende »Informationsflut« oder »Wissensexplosion« gegenüberstehe; und dass schließlich Wissen als »Rohstoff« heutzutage
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ähnlich wie früher Erz im Bergbau industriell abgebaut und verarbeitet werde. Wolff zeigt die Reichweise dieser Metaphern und deutet sie als Zeichen dafür, dass das quantitative Übermaß des Wissens im Verbund mit seiner schlechten Haltbarkeit Ängste hervorrufen und zu einer Geringschätzung des Wissens führen kann. Potentielle Lösungsmöglichkeiten liegen, so Wolff, in einer gesteigerten Informationskompetenz einerseits wie einem aufgeklärten Umgang mit der eigenen Ignoranz andererseits, sowie im Verlassen der individuellen Ebene zugunsten sozialer Verbände als den geeigneten Trägern des Wissens. Der Informationswissenschaftler Rainer Hammwöhner illustriert diesen letzten Punkt an einem aktuellen Beispiel, das inzwischen viel öffentliche Beachtung und Relevanz gewonnen hat. Die von vielen, je einzeln »ignoranten« Beiträgern weitgehend unkontrolliert verfasste InternetEnzyklopädie Wikipedia dient mittlerweile zahlreichen Benutzern als Informationsquelle. Hammwöhner erliegt nicht der Versuchung, sich den oft gehörten Beschwerden über die Qualität dieses Mediums anzuschließen, sondern betont die Chancen und zum Teil erstaunlichen Erfolge der Wikipedia. Während ihre Aktualität und die mehrdimensionale Sortierbarkeit der Einträge offensichtliche Vorzüge sind, bereitet die systematische begriffliche Kategorisierung des inzwischen angehäuften Wissensschatzes noch Schwierigkeiten. Hammwöhner schlägt eine Lösungsheuristik vor, die die im einzelnen oft unausgereift wirkenden Vorschläge durch gewissenhafte inter-language links in anderssprachige Wikipedias hinein verbessert. Dadurch verspricht eine neue Ebene der Demokratisierung nutzbar zu sein, die letztlich zu einer sinnvollen Abwägung und Aggregation von Kategorisierungssystemen führen kann. Bei aller Vorsicht, zu der der gegenwärtige Stand der Dinge mahnt, scheint mit Hammwöhners Betrachtung der Wikipedia ein modellhaftes Szenario gegeben, das eine Antwort auf die von Wolff aufgeworfenen Probleme bereit hält. Während der Endredaktion dieses Bandes im Frühjahr 2008 ist, für alle Beteiligten völlig überraschend, Marianne Hammerl verstorben. Frau Hammerl war eine von allen Seiten hochgeschätzte Kollegin, die in ihrer Funktion als Universitätsprofessorin, Frauenbeauftragte und Weiterbildungsbeauftragte der Universität Regensburg durch ihr außerordentliches Engagement und ihre warmherzige Persönlichkeit beeindruckte. Ihr viel zu früher Tod stellt einen unaussprechlichen Verlust dar, dem die Autoren der Beiträge tief bewegt und fassungslos gegenüberstehen. Ihrem Andenken ist der vorliegende Band gewidmet.
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SCHÖNDUMMHEIT. ÜBER IGNORANZ ACHIM GEISENHANSLÜKE
I. Der reizvolle Begriff der Schöndummheit geht, im Verbund mit ähnlich attraktiven Ausdrücken wie dem der »Dummlistigkeit«, auf Robert Musil zurück. Im Rahmen seiner Rede vom 17. März 1937 mit dem ebenso schlichten wie vielsagenden Titel Über die Dummheit zeigen Ausdrücke wie Schöndummheit und Dummlistigkeit an, dass es sich bei Fragen der Ignoranz, als deren Teil die Dummheit im Folgenden zu bestimmen sein wird, um Probleme handelt, für die keine eindeutigen Lösungen parat stehen. Schön und dumm, dumm und listig, die jeder Tendenz zur vernunftfreundlichen Entmischung fremde Macht der Ignoranz ist Lob und Tadel gegenüber gleichermaßen unempfindlich. Zwar schreibt sich Musil in seiner Rede durchaus affirmativ in die Tradition des »entzückenden und noch heute unverbrauchten«1 Lobs der Torheit ein, das Erasmus von Rotterdam bereits im Jahre 1509 mit dem wiederum zugleich selbstbewussten und törichten Ruf anstimmt: »ich weiß sehr gut, in welchem schlechten Ruf die Torheit sogar bei den ärgsten Dummköpfen steht.«2 Ein Lob, gar ein Selbstlob der Dummheit3 will er gleichwohl nicht formulieren. Wenn Musil die Vermutung äußert, »daß, was wir Schöngeistigkeit nennen, zugleich auch eine Schöndummheit wäre«4, und zugleich von sich behauptet, die Dummheit schon lange zu kennen, sogar »manches Mal in kollegialem Verhältnis zu ihr gestanden«5 zu haben, dann bezieht er sich auf einen Widerstand, der mit allen Fragen der Ignoranz unauflösbar verknüpft zu sein scheint und der sich auf die Schwierigkeit einer genauen Begriffsbestimmung des Nichtwissens bezieht. »Niemand 1 2 3 4 5
Robert Musil: »Über die Dummheit«, in: Gesammelte Werke II, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, S. 1271. Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit, Stuttgart: Reclam 1949, S. 7. Vgl. den Sammelband von Lutz Walther: Lob der Dummheit, Leipzig: Reclam 2000. R. Musil: Über die Dummheit, S. 1271. Ebd., S. 1270.
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ACHIM GEISENHANSLÜKE
urteilt über Unwissenheit schlechter als der Unwissende«6, formuliert Petrarca im Kontext der Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit. Mit dem gleichen Recht aber kann behauptet werden: Niemand urteilt über die Unwissenheit schlechter als der Wissende. Denn aus der überlegenen Position des Wissens heraus erscheint die Ignoranz immer nur als das Andere, Fremde der Vernunft, als das, was diese nicht zu erfassen vermag. Das Ergebnis der Raster, die der Verstand über die Dummheit legt, ist eine Vielfalt von trennscharf unterschiedenen Begriffen wie Agnoia, Agnosie, Dummheit, Einfalt, Ignoramus, Irrtum, stupiditas oder einfach Stumpfheit des Kopfes. In ihrer Vielheit, die zugleich ein Einspruch gegen die von der Philosophie postulierte Einheit der Vernunft ist, verweisen die verschiedenen Begriffe auf ein gemeinsames ihnen zugrunde liegendes Problem, das am besten durch den neutralen Begriff der Unwissenheit abgedeckt wird. Ignoranz mit Unwissenheit zu übersetzen, wie es die vorliegende Untersuchung vorschlägt, bedeutet daher zunächst, das Problem moralischer Wertungen und pathologischer Zuweisungen auszuklammern, um zu einer möglichst vorurteilsfreien Beschreibung des Phänomens zu gelangen. Vor dem Urteil über die Ignoranz, das zum Beispiel in den alten medizinischen Klassifizierungen der Debilität, Imbezillität und Idiotie zum Ausdruck kommt, ebenso aber in Immanuel Kants artistischen Begriffsunterscheidungen von Dummheit, Albernheit, Gescheitheit, Gewitztheit, Klugheit, Abgewitztheit, Einfältigkeit und schließlich der schlimmsten Form der Dummheit, der Ehrlichkeit, vor diesem auf Eindeutigkeit dringenden philosophischen Urteil über die Ignoranz muss sich auch der klügste Kopf hüten, um nicht selbst in den Abgründen der Dummheit zu versinken, die er doch eigentlich aufklären will. »I do not see stupidity only on the other side of the barricades but lodged at the very heart of reason and its pernicious institutions«7, hält Avital Ronell in ihrem anregenden Buch über die unheimliche und zugleich ansteckende Macht der Stupidity fest. »Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens«8, resigniert Talbot in der Jungfrau von Orléans, um damit zugleich anzudeuten, dass der militante Kampf gegen die Ignoranz das falsche Mittel ist, um mit ihr umzugehen. Das kollegiale Verhältnis, das Musil in seiner Rede verschämt eingesteht, kann insofern als Vorbild für eine Auseinandersetzung mit der Ignoranz dienen, deren
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Francesco Petrarca: Über seine und vieler anderer Unwissenheit, Hamburg: Meiner 1993, S. 35. Avital Ronell: Stupidity, Urbana: University of Illinois Press 2002, S. 92. Friedrich Schiller: »Die Jungfrau von Orléans«, in: Werke und Briefe in 12 Bänden. Band 5. Dramen IV. Hg. von Matthias Luserke, Frankfurt am Main: Dt.-Klassiker Verlag 1996, S. 228.
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SCHÖNDUMMHEIT. ÜBER IGNORANZ
Anspruch darin besteht, die Unwissenheit nicht von oben herab zu klassifizieren, sondern sich ihr freundschaftlich zuzuneigen.
II. Wenn Musil seine Rede 1937 einleitend unter anderem dadurch legitimiert, in einem kollegialen Verhältnis zur Dummheit zu stehen, so dass die Dummheit gleichsam als unsichtbarer Begleiter neben dem zu stehen scheint, der über sie spricht, dann bezieht er sich zugleich auf den Mann ohne Eigenschaften, den Roman, der in der Fachwelt als der vielleicht klügste und zugleich wohl unbekannteste Roman der deutschsprachigen Literatur gilt,9 wobei das Lob des Mann ohne Eigenschaften oft mit dem bedauernden Zusatz versehen wird, dass gerade die enorme Klugheit des Autors dem Roman vielleicht doch geschadet habe. Nicht nur hat der von Schreibhemmungen geplagte Überautor Robert Musil den Roman nicht fertig stellen können, im Unterschied etwa zum allgegenwärtigen Thomas Mann, der seine Projekte für gewöhnlich erfolgreich abschloss und sich auch vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht darin stören ließ, den Zauberberg zu beenden. Die vielen theoretischen Abschweifungen und die betont essayistische Form des Romans haben es dem Leser darüber hinaus seit jeher schwer gemacht, neben der unbestrittenen Klugheit des Autors auch die ästhetischen Qualitäten des Textes angemessen zu würdigen. Ganz unabhängig von den müßigen Spekulationen über die geheime Konkurrenz zwischen dem fleißigen und erfolgreichen Schriftsteller Thomas Mann und dem genialen und erfolglosen Autor Robert Musil, wie sie etwa Elias Canetti in seiner Autobiographie Das Augenspiel vornimmt, wo er von der eigenen unverzeihlichen Dummheit berichtet, Musil gerade in dem Augenblick, als dieser ihm zum Erscheinen der Blendung gratulieren wollte, in einem Anfall von »Geistesverwirrung«10 einen Gratulationsbrief Thomas Manns gezeigt zu haben, worauf sich Musil, ein »Meister der Distanz«, wie Canetti versichert, von ihm »für
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Ein beeindruckendes Zeugnis dieses Sachverhalts legte Günter Jauchs Sendung »Wer wird Millionär« vom 20. Mai 2001 mit der Frage nach dem Titel des Romans ab. Zur Auswahl standen Eigenschaften, Hemmungen, Nerven und Handy. Auch der Publikumsjoker konnte dem Kandidaten leider nicht helfen. Im Gegenteil: Während sich Eigenschaften und Hemmungen mit 20% die Waage hielten, votierten 58% für Nerven. 10 Elias Canetti: Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931-1937, Frankfurt am Main: Hanser 1988, S. 252.
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immer verabschiedet habe«11, ganz unabhängig also von schöndummen Vergleichen schöngeistiger Schriftsteller ist Musils Rede Über die Dummheit mit Zitaten aus dem Mann ohne Eigenschaften nur so gespickt, was angesichts der Bedeutung dieses Lebensprojektes für Musil kaum überraschen kann und keineswegs bedeuten muss, dass dem Autor in seinen späteren Tagen eben nichts mehr eingefallen sei, so dass er sich zu guter Letzt bei sich selbst bedienen musste. Vielmehr steht das Thema der Ignoranz in seiner allgemeinen Bedeutung als Unwissenheit geradezu im Zentrum des Romans. Dass das Problem der Unwissenheit im Mann ohne Eigenschaften eine zentrale Rolle einnimmt, zeigt zunächst der für Musil nicht unbedingt ruhmreich ausfallende Blick auf die Darstellung des inneren Zusammenhangs von Weiblichkeit und Dummheit im Roman. Im Kontext der Schöndummheit, die Musil in seiner Rede anspricht, hatte schon Kant dem schönen Geschlecht die Klugheit schlechterdings abgesprochen. »Das Weib in jedem Alter wird für bürgerlich-unmündig erklärt; der Ehemann ist ihr natürlicher Curator«12, formuliert der unverheiratete Königsberger Philosoph, und auch Jean Paul bemerkt in seinem Lob der Dummheit ganz in diesem Sinne, das weibliche Geschlecht könne durchaus der Klugheit entbehren: »Eine Frau hat nicht nötig, klug zu sein: denn, weil sie schön ist, so ist sie schon alles das, zu was sie kaum die feurigste Einbildungskraft ihres Anbeters machen kann.«13 Wo immer die feurige Einbildungskraft die Philosophen und Literaten auch hinträgt, die Dummheit der Frauen wartet schon auf sie. Das ist auch im Mann ohne Eigenschaften nicht anders, sei es im Fall der gefräßigen Leona, der nymphomanisch veranlagten Bonadea oder Diotima, die liebevoll als »junges, hohes volles Rind von guter Rasse« beschrieben wird, »sicher wandelnd und mit tiefem Blick die trockenen Gräser betrachtend, die es ausrupfte.«14 Frauen, die Klugheit besitzen, Nietzsche lesen und sich den Zwängen der bürgerlichen Ehe zu verweigern suchen wie Clarisse, erscheinen dagegen als neurotische Hysterikerinnen und sind als Zukunftsbräute Moosbruggers unheilbar dem Wahnsinn verfallen. Musils Darstellung der Frauenfiguren im Mann ohne Eigenschaften lässt in diesem Zusammenhang berechtigte Zweifel an dem sonst so gerühmten Verstand
11 Ebd. 12 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Werkausgabe Band XII, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 522. 13 Jean Paul: »Das Lob der Dummheit«, in: Sämtliche Werke. Abteilung II. Band 1. Jugendwerke I, München: Hanser 1974, S. 325. 14 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, S. 276.
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ihres Urhebers aufkommen15, und so ist es vielleicht auch kein Zufall, dass im Titel des Romans das eigentliche Problem, der Mann, schon mitgenannt wird.16 Es wäre jedoch voreilig, das Problem der Ignoranz in gerechter Entrüstung allein auf den Zusammenhang von Dummheit und Weiblichkeit im Mann ohne Eigenschaften beziehen zu wollen. Die entscheidende Figur, in der das Problem der Ignoranz im Roman zum Ausdruck kommt, ist vielmehr der Mann ohne Eigenschaften selbst. Dabei kann es keineswegs darum gehen, die Eigenschaftslosigkeit des Helden, die Klaus Laermann als »Modell misslingender Identifizierung«17 beschrieben hat, durch die Eigenschaft der Dummheit aufzuheben. Vielmehr stellt sich gerade im Blick auf das Problem der Ignoranz die Frage nach den Grenzen, die das Reich der Unwissenheit von dem der Weisheit trennen. Eingeführt wird Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, als herausragender Repräsentant des Wissens seiner Zeit, als junger Mensch, »der am besten Wissen seiner Zeit, an Mathematik, Physik, Technik geschult ist.«18 Der Bildungsgang des jungen Menschen führt zunächst vom Militär über die Technik zur theoretischen Mathematik, damit aber geradewegs in eine Krise, die den Begriff des Wissens selbst betrifft. Denn der Mann ohne Eigenschaften muss erkennen, dass alle Versuche, sich durch herausragende intellektuelle Leistungen zu empfehlen, an einen Ort führen, der bereits durch geniale Rennpferde und andere Größen des Sports besetzt ist. Eigentlich bietet sich als letzter Ausweg aus der Krise des Wissens nur noch die Königsdisziplin der Philosophie an. Aber auch die kann in diesem Fall nicht weiter helfen: »In diesem Augenblick hätte er sich nur noch der Philosophie zuwenden können. Aber die Philosophie in dem Zustand, worin sie sich damals befand, erinnerte ihn an die Geschichte der Dido, wo eine Ochsenhaut auf Riemen geschnitten wird, während es sehr ungewiß blieb, ob man auch wirklich ein Königreich damit umspannt.«19 Auch die Königin aller Wissenschaften, als die die Kritik der reinen Vernunft die Philosophie einleitend gepriesen hatte, führt in den »Indifferentism, die Mutter des Chaos und der Nacht«20, vor der schon 15 Vgl. in diesem Zusammenhang die Kritik Musils bei A. Ronell: Stupidity, S. 61-93. 16 Vgl. Marja Rauch: Vereinigungen. Frauenfiguren und Identität in Musils Prosawerk, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000. 17 Klaus Laermann: Eigenschaftslosigkeit. Reflexion zu Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«, Stuttgart: Metzler 1970, S. IX. 18 R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 940. 19 Ebd., S. 47. 20 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Werkausgabe Band III, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 12.
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Kant den Gerichtshof der Vernunft warnt. Die Zurückweisung der Welterklärungsansprüche der Naturwissenschaften wie die der Richtsprüche der Philosophie lässt eine Leerstelle entstehen, die der Roman elegant überbrückt, indem er seinen Helden ein Jahr Urlaub von seinem Leben nehmen lässt. Im Zentrum des Mann ohne Eigenschaften steht mithin die Frage nach dem Verhältnis der modernen Möglichkeiten rationalen Wissens zu einer Form der Unwissenheit, die selbst nicht erkenntnistheoretisch, sondern ethisch fundiert ist. Hauptthema des Romans, so Musil in einem Interview aus dem Jahre 1926, sei die Frage: »Wie soll sich ein geistiger Mensch zur Realität verhalten?«21 Musils Roman stellt nicht die skeptizistische Frage nach den Möglichkeiten des menschlichen Wissens, sondern die nach den Geboten des praktischen Verhaltens. Wenn der amerikanische Philosoph Stanley Cavell davon ausgeht, »dass das, was in unsere Kompetenz als moralische Subjekte eingeht, in die Fähigkeit, unsere Handlungen zu entschuldigen, zu rechtfertigen oder zu erklären […], von derselben Art ist wie das, was unserer Auffassung nach in unser Vermögen, uns selbst zu kennen, eingeht, in eine Weise zu sagen, was man tut, und folglich in das, was wir für das Haben eines Selbst halten (so dass die Moral in dieser Weise ein Fundament im Wissen hat)«22,
dann kommt dem Mann ohne Eigenschaften das Selbst abhanden, weil er erkennen muss, dass das Wissen der Moral kein Fundament bieten kann. Der Bereich des Wissens, den der junge Held des Romans als hoffnungsvoller Mathematiker auf der Höhe der Erkenntnisse seiner Zeit verkörpert, ist nicht mehr als eine Insel im Meer des Unwissens, wie schon John Locke in seinen Ausführungen über das weite Reich der Ignoranz feststellte: »Da unser Wissen, wie ich gezeigt habe, ziemlich beschränkt ist, werden wir vielleicht über den jetzigen Zustand unseres Geistes etwas Licht erhalten, wenn wir einmal nach der dunklen Seite blicken und unsere Unwissenheit überschauen. Diese ist nämlich unendlich viel größer als unser Wissen.«23 Angesichts der von Locke skizzierten Ausgangslage, derzufolge der Bereich des Nichtwissens immer umfassender ist als der des Wissens, eine Einsicht, die auch dem Mann ohne Eigenschaften zugrunde liegt, ist die Rede Über die Dummheit die systematische Ausarbeitung eines Problems, das im Zentrum des Mann ohne Eigenschaften 21 Robert Musil: »Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil«, in: Gesammelte Werke II, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, S. 940. 22 Stanley Cavell: Der Anspruch der Vernunft. Wittgenstein, Skeptizismus, Moral und Tragödie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 22. 23 John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. Band II. Buch III und IV, Hamburg: Meiner 1988, S. 205.
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steht. Im Folgenden wird es jedoch weniger darum gehen, Musilexegese zu betreiben, als vielmehr darum, mit Musils Hilfe und über ihn hinaus das unerschöpfliche Reich der Ignoranz zu durchwandern. Drei Problemzusammenhänge dienen der Vermessung des Terrains der Ignoranz als Leitfaden: die Unmöglichkeit, auf indifferente Art und Weise über Dummheit zu sprechen, der Zusammenhang von Ignoranz, Klugheit und Verstellung, sowie die Schwierigkeit, Unwissenheit zu definieren.
III. Musil beginnt seine Rede mit dem Hinweis auf ein scheinbar einfaches Problem, das jeden betrifft, der sich über die Dummheit äußert: »Einer, der sich unterfängt, über die Dummheit zu sprechen, läuft heute Gefahr, auf mancherlei Weise zu Schaden zu kommen; es kann ihm als Anmaßung ausgelegt werden, es kann ihm sogar als Störung der zeitgenössischen Entwicklung ausgelegt werden.«24 Der Hinweis auf die Anmaßung, die mit dem Sprechen über Dummheit verbunden ist, ist nicht nur der Rhetorik geschuldet, um das spürbare Gefälle zwischen dem gelehrten Redner und seinen unwissenden Zuhörern zu überbrücken. Musil weist zum einen auf die grundlegende Schwierigkeit hin, klug über Dummheit zu sprechen. Zum anderen macht er von Beginn an deutlich, dass er die Dummheit als ein Zeitphänomen betrachtet: Dummheit ist für Musil die Dummheit der eigenen Zeit, die sich trotz technischen Fortschritts in einem immer weiter um sich greifenden Zustand geistiger Verwirrung befindet. Der gut gemeinte Hinweis Karl Corinos, Musil setze sich in seiner Rede zeitkritisch mit dem Austrofaschismus auseinander, kann hier allerdings kaum weiterhelfen. Die »Mischung aus Mut und Vorsicht, aus gelegentlichem Zugeständnis und der Ablehnung der Faschismen«25, die Corino erkennen will, macht vielmehr deutlich, dass sich auch Musil der Dummheit, die er beschreibt, nicht ganz zu entziehen wusste. In dem Maße, in dem die Dummheit Ausdruck der eigenen Zeit ist, hat der Zeitgenosse notwendig selbst an ihr teil. Unzeitgemäße Betrachtungen über den Nutzen und Nachteil der Dummheit für das Leben in der Tradition Nietzsches treffen auf die Schwierigkeit, ein Phänomen fassen zu wollen, das der Beschreibung zu nah und zu fern zugleich ist, nie aber aus der richtigen Perspektive greifbar. Schon auf dem Internationalen Pariser Kongress 1936 war Musil durch eine Haltung aufgefallen, die von den meisten als Bekenntnis eines Unpolitischen verstanden 24 R. Musil: Über die Dummheit, S. 1270. 25 Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2003, S. 1237.
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worden war, dem es vor allem darum geht, auch in Zeiten der Dummheit an die Möglichkeiten des Bedeutenden zu glauben. Ob die von Musil eingeforderte Genialität als Überwindung der grassierenden Dummheit seiner Zeit oder selbst als unbegreifbare Naivität zu verstehen ist, sei hier dahingestellt. Auf jeden Fall ist derjenige, der über Dummheit redet, in mehr als einem Sinne selbst in diese involviert, so dass Musil bei der Anfangsschwierigkeit ansetzt, »daß jeder, der über Dummheit sprechen oder solchem Gespräch mit Nutzen beiwohnen will, von sich voraussetzen muß, daß er nicht dumm sei; und also zur Schau trägt, daß er sich für klug halte, obwohl es allgemein für ein Zeichen von Dummheit gilt, das zu tun!«26 Eine indifferente Haltung scheint der Dummheit gegenüber unmöglich. Die Schwierigkeit, klug über Dummheit zu reden, um sich so in den performativen Widerspruch zu verstricken, dass man über etwas redet, was man eigentlich gar nicht versteht – und was anders ist Ignoranz? –, weist vielmehr auf ein zweites Problem hin, das unmittelbar an die Frage nach dem rechten Reden über Dummheit anschließt. In Übereinstimmung mit einer langen Tradition stellt Musil fest, »es sei vorsichtiger, sich nicht als klug zu zeigen.«27 Das Sprechen über die Dummheit verbindet sich mit der Lehre von der Klugheit der Verstellung, die Musil mit Gracián, Schopenhauer und Nietzsche teilt.
IV. Wenn Musil von der Maxime ausgeht, es sei von Vorteil, sich dümmer zu geben als man ist, dann greift er zunächst auf Graciáns Begriff der prudentia, der Weltklugheit, zurück. Im Kontext der höfischen Lehre der Verstellung als einer Kunst des regulativen Vernunftgebrauchs in einem agonal strukturierten sozialen Umfeld behauptet Gracián: »Bisweilen besteht das größte Wissen im Nichtwissen oder in der Affektation desselben. Man muss mit den übrigen leben, und die Unwissenden sind die Mehrzahl.«28 Gracián geht auf den Gegensatz von Wissen und Nichtwissen zurück, um ihn im Rahmen seines Lobes der Verstellung ebenso zu bestätigen wie aufzuheben. Klugheit und Dummheit erscheinen nicht länger als Gegensätze, sondern als Verhaltensweisen, die miteinander dialektisch vermittelt sind. An die Stelle einer Wesensdefinition der Dummheit tritt bei Gracián ihre Überführung in eine Verhaltenslehre, die den Gebrauch der Dummheit reguliert: 26 R. Musil: Über die Dummheit, S. 1273. 27 Ebd. 28 Balthasar Gracián: Handorakel und Kunst der Weltklugheit, Stuttgart: Kröner 1954, S. 66f.
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»Von der Dummheit Gebrauch zu machen verstehn. Der größte Weise spielt bisweilen diese Karte aus, und es gibt Gelegenheiten, wo das beste Wissen darin besteht, daß man nicht zu wissen scheine. Man soll nicht unwissend sein, wohl aber es zu sein affektieren. Bei den Dummen weise und bei den Narren gescheit sein wird wenig helfen. Man rede also zu jedem seine Sprache. Nicht der ist dumm, der Dummheit affektiert, sondern der, welcher an ihr leidet: die aufrichtige, nicht die falsche Dummheit ist die wirkliche; da die Geschicklichkeit es schon so weit getrieben hat. Das einzige Mittel, beliebt zu sein, ist, daß man sich mit der Haut des einfältigsten der Tiere bekleide.«29
Graciáns Aufforderung, von der Dummheit klug Gebrauch zu machen, ist in einer negativen Anthropologie begründet, die das soziale Leben als einen beständigen Kampf um Herrschaft erscheinen lässt. Graciáns Welt ist die einer Bühne, auf der sich die Menschen beständig kostümieren, um ihre Intentionen zu verschleiern und zu verbergen. Der Kluge ist aufgrund seines Wissens, das ihn von den Dummen unterscheidet, immer isoliert. Um sich im Kampf um die Herrschaft behaupten zu können, muss er das Kleid seines Gegners anlegen. Der Schein, nicht zu wissen, ist in diesem Sinne lebensnotwendig, Klugheit eine Auszeichnung und ein Handicap zugleich, das dazu zwingt, sich unaufhörlich zu verstellen. Auch bei Gracián ist das Reich der Unwissenheit größer als das der Klugheit. Gerade deswegen aber ist der Kluge der Gefahr ausgeliefert, seine Klugheit offen zur Schau zu stellen und sich damit der Dummheit zu überantworten. Von den beiden Möglichkeiten, dass der Dumme Wissen simuliert und der Kluge Unwissenheit vortäuscht, erwägt Gracián nur die letztere. Vor diesem Hintergrund unterscheidet er zwischen der wirklichen und der falschen Dummheit, der aufrichtigen und der verstellten Dummheit: Dumm ist derjenige, der wirklich an der Dummheit leidet oder der, der seine Klugheit nicht zu verbergen versteht. In Graciáns Darstellung gibt es letztlich keine Klugheit, die nicht in irgendeiner Weise auf die Dummheit angewiesen wäre. Auf den Zusammenhang zwischen Dummheit und Verstellung, den Gracián im Handorakel geltend macht, greift auch Musil zurück: »Es ist wahrscheinlich, daß diese tief mißtrauische, heute aufs erste gar nicht mehr verständliche Vorsicht noch aus Verhältnissen stammt, wo es für den Schwächeren wirklich klüger war, nicht für klug zu gelten: seine Klugheit konnte den Starken ans Leben gehen! Dummheit hingegen lullt das Mißtrauen ein; sie ›entwaffnet‹, wie noch heutigentags gesagt wird. Spuren solcher alten Pfiffigkeit und Dummlistigkeit finden sich denn auch wirklich in Abhängigkeitsverhältnissen, wo die Kräfte so ungleich verteilt sind, daß der Schwächere sein Heil darin sucht, sich dümmer zu stellen als er ist; sie zeigen sich zum Bei29 Ebd., S. 119.
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spiel als sogenannte Bauernschlauheit, dann im Verkehr von Dienstboten mit der bildungszüngigen Herrschaft, im Verhältnis des Soldaten zum Vorgesetzten, des Schülers zum Lehrer und des Kindes zu den Eltern. Es reizt den, der die Macht hat, weniger, wenn der Schwache nicht kann, als wenn er nicht will. Dummheit bringt ihn sogar ›in Verzweiflung‹, also unverkennbar in einen Schwächezustand!«30
Graciáns Lob der Verstellung verbindet Musil mit Nietzsches Analyse der Macht. Klugheit scheint demzufolge untrennbar mit Schwäche verbunden zu sein, während die Position der Stärke es nicht nötig habe, sich auf die Klugheit zu verlassen. Macchiavellis berühmter Vergleich zwischen dem Löwen und dem Fuchs, den Gracián im Handorakel in der Maxime aufnimmt »Wer sich nicht mit der Löwenhaut bekleiden kann, nehme den Fuchspelz«31, führt Musil im Rahmen einer Analyse weiter, die mit Nietzsche Macht als Relationsverhältnis unterschiedlicher Kraftquantitäten versteht. Der Starke regiert auch den klugen Schwachen, dem als einziges Mittel die List bleibt, sich dumm zu stellen, um die Macht zu täuschen. Die »Maßnahme gegen die Gewalt«, die Musil der »Dummlistigkeit« zuspricht, kulminiert so in einer Umwertung der Machtverhältnisse, die den Starken in einen Schwächezustand versetzt. Bedingen sich Dummheit und Klugheit bei Gracián in einem Prozess wechselseitiger Aufeinanderangewiesenheit, so greift Musil auch auf Graciáns Unterscheidung der aufrichtigen und der falschen Dummheit zurück. In Musils Begrifflichkeit stehen sich die ehrliche und die gefährliche Dummheit gegenüber. Die ehrliche Dummheit bestimmt Musil im Blick auf die Umgangssprache als lange Leitung, sie sei »arm an Vorstellungen und Worten und ungeschickt in ihrer Anwendung«32, zugleich aber eine »Künstlerin«33, die durch den Ersatz höherer Vorstellungen durch eine einfache Geschichte über poetische Qualitäten verfüge. Die gefährliche Dummheit bezieht Musil dagegen auf das zeitgenössische Problem der Bildung. Sie sei »nicht sowohl ein Versagen an Intelligenz als vielmehr deren Versagen aus dem Grunde, daß sie sich Leistungen anmaßt, die ihr nicht zustehen«34. Die gefährliche Dummheit erscheint Musil als »Bildungskrankheit«35, zustande gekommen durch »Unbildung, Fehlbildung, falsch zustande gekommene Bildung, Mißverhältnis zwi-
30 31 32 33 34 35
R. Musil: Über die Dummheit, S. 1273. B. Gracián: Handorakel, S. 110. R. Musil: Über die Dummheit, S. 1286. Ebd., S. 1287. Ebd. Ebd.
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schen Stoff und Aufgabe der Bildung«36. Wiederum bezieht sich Musil auf den Mann ohne Eigenschaften, um die geistige Dummheit von ihrer schlichteren Schwester zu trennen: »Es gibt schlechterdings keinen bedeutenden Gedanken, den die Dummheit nicht anzuwenden verstünde, sie ist allseitig beweglich und kann alle Kleider der Wahrheit anziehen. Die Wahrheit dagegen hat jeweils nur ein Kleid und ist immer im Nachteil.«37 Musils Skizze der gefährlichen Dummheit beschreibt diese als »die lebensgefährlichste, die dem Leben selbst gefährliche Krankheit des Geistes«.38 Als pathologische Form einer Krankheit, die den Geist anfällt, denunziert Musil die Dummheit und fällt zugleich in den Gegensatz von Klugheit und Ignoranz zurück, den Gracián außer Kraft gesetzt hatte. Das Verweben von psychologischen Erklärungsmustern und soziologischer Gesellschaftsanalyse, das Musil mit Nietzsche teilt, führt in eine Frontstellung zurück, die der Hinweis auf den inneren Zusammenhang von Dummheit und Verstellung eigentlich überwinden wollte: Bei Musil steht Geist gegen Dummheit als Verkörperung eines Herrschaftsanspruches, den Musil in das Reich der Utopie verweist, das in seiner Unbestimmtheit vielleicht noch weiter entrückt als das der Unwissenheit. Vor diesem Hintergrund muss sich auch Musil die Frage gefallen lassen, was er denn eigentlich meint, wenn er von Dummheit spricht, und was er mit seiner Rede Über die Dummheit letztendlich bezweckt.
V. »Viele verlieren den Verstand deshalb nicht, weil sie keinen haben«39, schreibt Gracián über die Geistesschwäche, die die Dummheit bedingt. Was keinen Verstand hat, lässt sich aber nicht leicht definieren. Wie Lutz Walther in der Einleitung zum Lob der Dummheit feststellt, wird jede Auseinandersetzung mit Formen der Ignoranz dadurch erschwert »daß es eine allgemeingültige, alle Facetten umfassende Definition der Dummheit nicht gibt«40. Das dritte und zugleich fundamentalste Problem, auf das Musil in seiner Rede trifft, ist daher die Schwierigkeit einer zufrieden stellenden Definition der Dummheit. Zum einen konstatiert er die »Unaufschiebbarkeit der Frage: Was ist eigentlich Dummheit?«41 Er muss jedoch 36 37 38 39 40 41
Ebd. Ebd., S. 1288. Der Satz findet sich im Mann ohne Eigenschaften, S. 59. R. Musil: Über die Dummheit, S. 1288. B. Gracián: Handorakel, S. 21. L. Walther: Lob der Dummheit, S. 27. R. Musil: Über die Dummheit, S. 1270.
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selbst bekennen: »ich weiß nicht, was sie ist. Ich habe keine Theorie der Dummheit entdeckt, mit deren Hilfe ich mich unterfangen könnte, die Welt zu erlösen.«42 Die Unaufschiebbarkeit der Frage nach dem Wesen der Dummheit verbindet sich mit der Unmöglichkeit, sie zu beantworten. Aus dieser paradoxen Ausgangssituation, die einem Eingeständnis in das Scheitern und damit in die eigene Dummheit gleichzukommen scheint, zieht Musil jedoch zugleich positive Schlüsse. An die Stelle einer Wesensdefinition tritt für ihn eine Funktionsanalyse der Dummheit, die im weitesten Sinne an das Vorgehen Ludwig Wittgensteins erinnert: »Und da ich mir weder auf dichterische Weise helfen wollte, noch es auf wissenschaftliche tun konnte, habe ich es auf das naivste versucht, wie es in solchen Fällen allemal nahe liegt, indem ich einfach dem Gebrauch des Wortes dumm und seiner Familie nachging.«43 Musils koketter Hinweis auf die Naivität seines Vorgehens ist alles andere als bescheiden, setzt er doch die Frage nach dem Wesen der Dummheit gekonnt außer Kraft. Wie Wittgenstein zu Beginn des Blauen Buches festgehalten hat, verursachen »Was ist?«-Fragen in uns einen geistigen »Krampf«44, der dadurch zustande kommt, dass wir auf nichts zeigen können, was die Frage zu beantworten hälfe. An die Stelle der Frage »Was ist die Bedeutung eines Wortes?«45 setzt er daher die, »was eine Erklärung der Bedeutung eines Wortes ist«46. Wie Wittgenstein meint, besteht einer der entscheidenden Vorteile der veränderten Fragestellung darin, das Problem der Bedeutung damit »gewissermaßen auf die Erde herunter«47 zu holen. Musils Vorschlag geht in die gleiche Richtung. Er will das Problem der Dummheit dahin holen, wo es hingehört: auf die Erde. Ohne die Analogie zwischen dem Wiener Philosophen und Beinaheliteraten und dem Wiener Literaten und Beinahephilosophen zu weit treiben zu wollen, besteht Wittgensteins wie Musils Vorgehen darin, das Studium der Grammatik eines Ausdrucks an die Stelle seiner Wesensdefinition zu setzen. Was Musil in seiner Rede Über die Dummheit interessiert, ist die Art und Weise, wie der Ausdruck Dummheit in der Alltagssprache, wie in der Philosophie verwendet wird.
42 Ebd., S. 1272. 43 Ebd. 44 Ludwig Wittgenstein: Das Blaue Buch, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, S. 15. 45 Ebd. 46 Ebd. 47 Ebd.
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Musils Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Dummheit konzentriert sich zunächst auf das philosophische Urteil, »daß die Dummheit bloß oder vernehmlich ein Mangel an Verstand sei«48. Schon Kant hatte die Dummheit in der Kritik der reinen Vernunft genau in diesem Sinne interpretiert: »Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.«49 Kants Einsicht in die unheilbare Macht der Dummheit, die sich auch durch die Erfahrung nicht belehren lassen will, widerspricht Musil, indem er nicht den Mangel an den Ursprung der Dummheit setzt, sondern auch ihr eine bestimmte Form der Tüchtigkeit zuspricht. Musil geht davon aus, dass »jede Klugheit ihre Dummheit«50 habe, so »daß sich jedem Typus von ›Leistung‹ ein ›Typus von Dummheit‹ zuordnen lasse.«51 Wenn jede Klugheit ihre Dummheit hat, dann hat aber auch jede Dummheit ihre Klugheit. Aus Musils These lassen sich daher zwei Folgerungen ableiten, die für die Auseinandersetzung mit Fragen der Ignoranz von zentraler Bedeutung sind. Zum einen lässt sich die Dummheit, wie schon bei Gracián deutlich geworden ist, nicht ohne den Gegenbegriff der Klugheit denken. Zum anderen macht der Zusammenhang von Klugheit und Dummheit über Kants Definitionsversuch hinaus deutlich, dass sich die Auseinandersetzung mit Unwissenheit nicht in epistemologischen Fragen erschöpft, sondern ihren Grund in Problemen der Ethik hat. Wenn Musil Klugheit und Dummheit aneinander bindet, dann folgt er nicht länger der Kantischen Pflichtethik, sondern der Tugendlehre des Aristoteles. Zwar verwendet Musil den Begriff der Tugend in seiner Rede nicht, wohl aber den für Aristoteles zentralen Begriff der Tüchtigkeit: »Wollte man darum einen allgemeinsten Begriff der Klugheit suchen, so ergäbe sich aus diesen Vergleichen etwa der Begriff der Tüchtigkeit, und alles, was untüchtig ist, könnte dann gelegentlich auch dumm heißen; in Wirklichkeit ist es auch dann so, wenn die zu einer Dummheit gehörende Tüchtigkeit nicht wörtlich als Klugheit angesprochen wird.«52 Den Begriff der Dummheit als »Untüchtigkeit und Untauglichkeit«53 entlehnt Musil vermutlich Nietzsche, der nicht nur in seiner autobiographischen Schrift Ecce Homo mit Kapitelüberschriften wie »Warum ich so weise bin«, »Warum ich so klug bin« und »Warum ich so gute Bücher schreibe« als herausragendes Beispiel für den inneren Zusammenhang von Klugheit und Dummheit aufgefallen war. Nietzsches und Musils Ver48 49 50 51 52 53
R. Musil: Über die Dummheit, S. 1279. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 185. R. Musil: Über die Dummheit, S. 1279. Ebd. Ebd. Ebd., S. 1280.
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wendung des Begriffes Tüchtigkeit geht auf den aristotelischen Begriff der areté zurück, der, wie Ernst Tugendhat hervorgehoben hat, »für jede Form von vorzüglicher Eigenschaft«54 einsteht. Mit Aristoteles wäre die Dummheit, der die Klugheit in der Form der praktischen Urteilskraft, der phronesis, zur Seite steht, daher nicht einfach als ein Mangel zu beschreiben, sondern als ein Verfehlen der rechten Mitte. Die zentrale These der aristotelischen Tugendlehre lautet, »daß die Tugend die jeweilige Mitte (meson) ist zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig mit Bezug auf das Kontinuum eines Affektbereichs oder des betreffenden Handlungsbereichs.«55 Mit Aristoteles lässt sich Dummheit daher nicht nur als kognitive Mangelerscheinung bestimmen, sondern ebenso als »Affektstörung, eine Störung des affektiven Gleichgewichts«56, die, wie Musil meint, aller moralischen Bewertung vorausgeht. Wie Tugendhat unterstreicht, war Aristoteles davon ausgegangen, »daß eine psychische areté immer als eine hexis, als ein ›Sichverhalten‹ zu den Affekten verstanden werden muss, und ferner, daß sie immer als eine feste Willensdisposition zu verstehen ist, zwischen den Gefühlen richtig zu wählen«57. Während Musil Untüchtigkeit und Affektstörung jedoch als Problem ansieht, das aller moralischen Bewertung vorangeht, besteht für Aristoteles Tugend gerade im moralischen Sinne in der Einhaltung der rechten Mitte durch eine vernünftige Wahl zwischen Handlungen und Gefühlen. Mit dem Begriff der Tüchtigkeit zielt Musil demnach zunächst auf eine der aristotelischen Tugendlehre vergleichbare Ausgangskonstellation, derzufolge die Dummheit nicht nur als ein Zuwenig, sondern auch und gerade als ein Zuviel zu bestimmen wäre: »stupidity issues from an experiment in excess rather than from an experience of lack«58, stellt Avital Ronell fest. Ob als Exzess oder als Mangel an Urteilskraft: Entscheidend für das Problem der Ignoranz bleibt, dass die Begriffe des Wissens und der Unwissenheit, die hier in Frage stehen, auf Probleme der Ethik verweisen, wobei Musil Nietzsche auch darin folgt, den unbestimmten Begriff des Lebens als Kriterium für richtiges menschliches Verhalten einzusetzen: »Welche Tüchtigkeit dabei im Vordergrund steht und zu einer Zeit den Begriff von Klugheit und Dummheit mit ihrem Inhalt erfüllt, hängt von der Form des Lebens ab.«59 Mit Aristoteles stellt Musil die Dummheit in den Kontext der Frage nach dem richtigen Ver54 Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 228. 55 Ebd., S. 250. 56 R. Musil: Über die Dummheit, S. 1277. 57 E. Tugendhat: Vorlesungen über Ethik, S. 246. 58 A. Ronell: Stupidity, S. 28. 59 R. Musil: Über die Dummheit, S. 1279.
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halten zu Handlungen und Affekten. Hatte Aristoteles aber das im moralischen Sinne gute Leben als Grund der Tugendethik gekennzeichnet, so reduziert Musil mit Nietzsche die aristotelische Tugendlehre auf den Begriff des Lebens, ohne ein Kriterium für das Gute angeben zu können oder zu wollen. Die unmittelbare Folge der Rückführung von Dummheit auf das Leben besteht in einer skeptischen Grenzziehung, die Musil in seiner Rede wie im Mann ohne Eigenschaften mühsam durch die ihm eigene »ironische Grundhaltung«60 abfängt. Die Ironie, nach Musil »nicht eine Geste der Überlegenheit, sondern eine Form des Kampfes«61, führt zu der Frage zurück, ob der Kampf das probate Mittel ist, um der Dummheit zu begegnen. Das »Gefühl von der ebenso schamverletzenden wie gewaltigen Herrschaft der Dummheit«62 provoziert bei Musil jedenfalls eine heftige Gegenreaktion, die zu der Diagnose einer »Vertrauenskrise der Humanität, einer Krisis des Vertrauens, das bis jetzt noch in die Menschlichkeit gesetzt wird«63, führt, die der kämpferische Autor ebenso scharfsinnig analysiert wie hinter dem eigenen Rücken mitproduziert, wenn er sich abschließend ganz dem Reich der Unwissenheit überantwortet: »Und ich erkläre mich, den Fuß auf der Grenze, außerstande, weiterzugehen; denn einen Schritt über den Punkt, wo wir halten, hinaus, und wir kämen aus dem Bereich der Dummheit, die selbst theoretisch noch abwechslungsreich ist, in das Reich der Weisheit, eine öde und im allgemeinen gemiedene Gegend.«64
VI. Wenn jeder Schritt weiter in das öde Reich der Weisheit führt, dann muss sich die Philosophie seit dem archimedischen Aufschwung zu den Höhen des Himmels hüten, nicht in den Graben der Unvernunft zu fallen. Wie Musils Rede Über die Dummheit deutlich macht, sind die Grenzen zwischen dem Wissen und dem Nichtwissen fließend, existieren Schwellen und Übergänge an der Stelle von Barrikaden und Gräben. Selbst der kluge Kopf, als der gerade Musil ja unbestritten gilt, verstrickt sich in unlösbare Widersprüche, wenn er Umgang mit der Dummheit sucht. Die Unterscheidung zwischen dem genialen und dem stumpfen Kopf zerrinnt gerade dem zwischen den Fingern, der nach einer klaren Unterscheidung
60 61 62 63 64
R. Musil: Was arbeiten Sie?, S. 941. Ebd. R. Musil: Über die Dummheit, S. 1271. Ebd., S. 1284. Ebd., S. 1291.
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von Klugheit und Dummheit verlangt. Im Mann ohne Eigenschaften notiert Musil über Ulrich: »Er vergalt es seiner Zeit damit, daß er die Ursache der geheimnisvollen Veränderungen, die ihre Krankheit bildeten, indem sie das Genie aufzehrten, für ganz gewöhnliche Dummheit hielt. Durchaus nicht in einem beleidigenden Sinn. Denn wenn die Dummheit nicht von innen dem Talent zum Verwechseln ähnlich sehen würde, wenn sie außen nicht als Fortschritt, Genie, Hoffnung, Verbesserung erscheinen könnte, würde wohl niemand dumm sein wollen, und es würde keine Dummheit geben. Zumindest wäre es sehr leicht, sie zu bekämpfen. Aber sie hat leider etwas ungemein Gewinnendes und Natürliches.«65
Gewinnend und natürlich sei die Dummheit, beteiligt an allen Formen des geistigen Lebens, an Fortschritt und Genie, und doch diejenige Kraft, die das Genie aufzehrt. Die Dummheit erschüttert Musils eigentlich unbeirrbaren Glauben an das Bedeutende. Der Grund liegt in ihrer kreativen Kraft, wie Musil im Blick auf den luftigen Menschentyp seiner Zeit diagnostiziert: »Wenn man, was sie zu diesem Zweck unternahmen, Halbklugheit nennen wollte, so wäre bemerkenswert, daß gerade die andere, ungenannte, oder, um sie zu nennen, die dumme, niemals genaue und richtige Hälfte dieses Halbklugseins eine unerschöpfliche Erneuerungskraft und Fruchtbarkeit besaß. Es war Leben in ihr, Wandelbarkeit, Ruhelosigkeit, Standpunktwechsel.«66 Musil führt den Begriff der Halbklugheit im Kontext der Ungenauigkeit ein, die es ermöglicht, von einem genialen Rennpferd, einem wissenschaftlichen Fußballspieler, einem geistvollen Fechter oder der tragischen Niederlage eines Boxers zu reden, und in Zeiten, wo ein stattlicher und darüber hinaus noch promovierter Boxer mit dem liebevollen Kosenamen »Dr. Faust« versehen wird, scheint sich nichts wesentlich geändert oder gar gebessert zu haben. Wenn Ignoranz sich einigermaßen plausibel mit Nichtwissen übersetzen lässt, dann muss eingestanden werden, dass jene von Musil diagnostizierte Halbklugheit des Nicht-allzu-genau-Wissens die Bedingung der Möglichkeit menschlichen Handelns ist. So hat schon die griechische Mythologie der sinnreichen Geschichte vom heroischen Prometheus den einfältigen Epimetheus zur Seite gestellt, der sich von der schönen Gabe der Götter blenden lässt und erst nachzudenken beginnt, als er die Büchse der Pandora schon geöffnet hat. Nachdenken bedeutet in diesem Sinne notwendig ein Zuspätkommen und Verpassen des rechten Zeitpunkts, der eben nie gegeben ist, und die ihm eigene Nachdenk-
65 R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 58. 66 Ebd., S. 458.
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lichkeit verwandelt den Philosophen folgerichtig in den »foolosopher«67, als den Avital Ronell selbst den Andenker Hölderlin apostrophiert. »Die meisten Sätze, welche über philosophische Dinge geschrieben worden sind, sind nicht falsch, sondern unsinnig«68, schreibt Wittgenstein im Tractatus logico-philosophicus, mit dem er alle Probleme der Philosophie zu erledigen glaubte, bis er dann in den späten Schriften den klugen Ratschlag geben konnte: »Steige immer von den kahlen Höhen der Gescheitheit in die grünenden Täler der Dummheit.«69 Dummheit, Unwissen, Irrtum sind nicht nur Phänomene der Alltagskultur, die neuen Medien zum Beispiel nicht notwendig dümmer als die alten Bücher, die schon um den prekären Zusammenhang von Studium und Wahrheit wussten. So schreibt Rabelais über die Erziehung von Gargantua, »daß er, obgleich er sich dem Studium mit großem Eifer widmete und seine ganze Zeit darauf verwandte, doch keinen rechten Gewinn davon hätte, vielmehr immer dümmer, einfältiger, träumerischer und verwirrter wurde«70, was ihn schnurstracks zu der These führt, »daß es besser sei, überhaupt nichts zu studieren als solche Bücher unter solchen Lehrern. Denn all ihr Wissen sei nichts als Dummheit und ihre Gelehrsamkeit nur ein leerer Latsch, um tüchtige und edle Geister zu erniedrigen und sie aller Jugendfrische zu berauben.«71 Rabelais nimmt jene Erkenntnis vorweg, die am Ende eines langen Studiums und zugleich am Beginn eines der berühmtesten Texte der Weltliteratur steht: »Da steh’ ich nun, ich armer Tor, / Und bin so klug als wie zuvor!«72 Fausts »Habe nun, ach! Philosophie« ist bis zur völligen geistigen Erschöpfung zitiert worden, und wenn je eine Erkenntniskraft in den jämmerlichen Ausrufen des Magisters und Doktoren steckte, dann hat sie sich mit Sicherheit längst in der Tiefe der Zeiten und im Dunkel des Vergessens verflüchtigt. Das Eingeständnis, gerade durch den übermächtigen Wissensdurst, der an der Universität den einzig institutionalisierten Platz in der Geschichte gefunden hat, von dem jeder für sich selbst beurteilen mag, ob er der Gescheitheit oder der Verdummung dient, genau »so klug als wie zuvor« geblieben zu sein, hat jedenfalls auch etwas für sich, wenn man nicht auf den scheinbar unaus67 A. Ronell: Stupidity, S. 14. 68 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 26. 69 Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit. Werkausgabe Band 8, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 557. 70 François Rabelais: Gargantua und Pantagruel, Frankfurt am Main: Insel Verlag 2003, S. 76. 71 Ebd. 72 Johann Wolfgang Goethe: »Faust«, in: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 3. Dramatische Dichtungen I, München: Beck 1986, S. 20.
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schöpflichen Zuwachs an Wissen schielt, sondern auf das erhabene Reich der Ignoranz: Nicht dümmer zu werden, ist vielleicht mehr, als auch der kluge Kopf vom Leben verlangen kann.
Literatur Canetti, Elias: Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931-1937, Frankfurt am Main: Hanser 1988. Cavell, Stanley: Der Anspruch der Vernunft. Wittgenstein, Skeptizismus, Moral und Tragödie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006. Corino, Karl: Robert Musil. Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2003. Goethe, Johann Wolfgang: »Faust«, in: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 3. Dramatische Dichtungen I, München: Beck 1986. Gracián, Balthasar: Handorakel und Kunst der Weltklugheit, Stuttgart: Kröner 1954. Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Werkausgabe Band XII, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Werkausgabe Band III, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. Laermann, Klaus: Eigenschaftslosigkeit. Reflexion zu Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«, Stuttgart: Metzler 1970. Locke, John: Versuch über den menschlichen Verstand. Band II. Buch III und IV, Hamburg: Meiner 1988. Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978. Musil, Robert: »Über die Dummheit«, in: Gesammelte Werke II, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, S. 1270-1291. Musil, Robert: »Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil«, in: Gesammelte Werke II, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, S. 939942. Paul, Jean: »Das Lob der Dummheit«, in: Sämtliche Werke. Abteilung II. Band 1. Jugendwerke I, München: Hanser 1974, S. 307-368. Petrarca, Francesco: Über seine und vieler anderer Unwissenheit, Hamburg: Meiner 1993. Rabelais, François: Gargantua und Pantagruel, Frankfurt am Main: Insel Verlag 2003. Rauch, Marja: Vereinigungen. Frauenfiguren und Identität in Musils Prosawerk, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000. Ronell, Avital: Stupidity, Urbana: University of Illinois Press 2002.
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Rotterdam, Erasmus von: Das Lob der Torheit, Stuttgart: Reclam 1949. Schiller, Friedrich: »Die Jungfrau von Orleans«, in: Werke und Briefe in 12 Bänden. Band 5. Dramen IV. Hg. von Matthias Luserke, Frankfurt am Main: Dt.-Klassiker Verlag 1996. Tugendhat, Ernst: Vorlesungen über Ethik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. Walther, Lutz: Das Lob der Dummheit, Leipzig: Reclam 2000. Wittgenstein, Ludwig: Das Blaue Buch, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984. Wittgenstein, Ludwig: Über Gewißheit. Werkausgabe Band 8, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984.
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MISSVERSTÄNDNISSE DER SELBSTBEOBACHTUNG: KAFKAS TAGEBÜCHER JÜRGEN DAIBER
Im August 1911 beschließt der 28jährige Concipist der Prager AUVA (ArbeiterUnfallVersicherungsAnstalt), Franz Kafka, sich einen Auslandsurlaub zu gönnen. Er reist mit dem befreundeten Max Brod nach Paris. Doch wie so oft bei Kafka – und wie bei anderen Sterblichen auch – läuft im Urlaub nicht alles nach Plan. Kafka muss ein nicht unkomplizierter Reisegefährte und Max Brod nicht allzu geduldig mit dem Freund gewesen sein. So zürnt Brod etwa, wenn Kafka trotz Verstopfung kein Abführmittel nehmen will, ihm das Gebäck im Café Biard auf dem Boulevard des Italiens nicht schmeckt oder Kafka den gemeinsamen Bordellbesuch durch vorzeitige Flucht beendet. Man kehrt gemeinsam im heute nicht mehr bestehenden Hotel Sainte-Marie in der Rue de Rivoli Nr. 83 ein, wo die gereizte Stimmung zwischen den beiden Freunden einen skurrilen Höhepunkt erfährt,1 den Kafka seinem Reisetagebuch anvertraut: »[...] Pariser Mißverständnisse. Max kommt in mein Hotelzimmer herauf und ist darüber aufgeregt, daß ich noch nicht fertig bin und mir das Gesicht wasche, während ich früher doch gesagt hätte, daß wir uns nur ein wenig waschen und gleich weggehn sollen. Da ich mit Wenigwaschen nur das Waschen des ganzen Körpers ausgeschlossen, dagegen damit gerade das Waschen des Gesichtes gemeint habe und damit eben noch nicht fertig bin, verstehe ich seine Vorwürfe nicht und wasche das Gesicht weiter wenn auch nicht so genau wie früher, während sich Max mit dem ganzen Schmutz der Nachtfahrt in seinen Kleidern auf mein Bett setzt, um zu warten. Er hat die Gewohnheit, und führt sie auch jetzt vor beim Vorwürfemachen, den Mund aber auch das ganze Gesicht süßlich zusammenzuziehn, als suche er dadurch einerseits das Verständnis seiner Vorwürfe zu befördern und als wolle er andererseits zeigen, daß nur dieses süßliche Gesicht, das er gerade hat, ihn davon abhalte mir eine Ohrfeige zu geben. [...] Ich dagegen verstehe es – so war es auch in Paris – so vor Müdigkeit in
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Vgl. zu Folgendem: Hartmut Binder: Kafka in Paris. Historische Spaziergänge mit alten Photographien, München: Langen/Müller 1999.
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mich zurückgefallen zu sein, daß mich der Einfluß solcher Gesichter überhaupt nicht erreicht, weshalb ich dann in meinem Jammer so mächtig sein kann, geradewegs aus der vollkommensten Gleichgültigkeit und ohne jedes Schuldgefühl mich ihm gegenüber entschuldigen zu können.«2
Zum einen dokumentiert die Passage in ihrer für Kafka typischen Beschreibung einer paradoxen Daseinsbefindlichkeit die Meisterschaft des Prosaisten Franz Kafka, zum anderen führt sie ins Zentrum der Untersuchung. Unter Missverständnis sei im Folgenden der fehlgeschlagene »Prozess oder das Resultat eines Prozesses, in dem eine Person zu verstehen oder interpretieren versucht, was eine andere Person sagt oder schreibt«3, bezeichnet. Im Gegensatz zu gelungenen Interpretationsprozessen besteht das Ergebnis eines Missverständnisses (bzw. das Missverständnis selbst) im Nichtwissen dessen, was der andere meint. Missverständnisse sind, solange sie bestehen – im Gegensatz zu Meinungsunterschieden – charakteristischerweise unbewusst. Missverständnisse wären demnach durch Reden aufzulösen, Meinungsverschiedenheiten nicht. Im Big Typescript aus dem Jahre 1933 schreibt Wittgenstein: »Mißverständnis nenne ich das, was durch eine Erklärung zu beseitigen ist. Die Erklärung der Bedeutung eines Wortes schließt Mißverständnisse aus.«4 So weit, so gut. Es gibt nun böse Zungen, die behaupten, dass Literaten mit Vorliebe einreißen, was Philosophen zuvor in mühevoller Tätigkeit an klärender Terminologie entwickelt haben. Meine vorläufige These lautet, vereinfacht gesagt, dass Kafka in seinen Tagebüchern den Begriff Missverständnis für die Darstellung von – zumeist inneren – Prozessen verwendet, die sich selbst durch differenzierteste sprachliche Erklärungen, die bei Kafka einer minuziösen Selbstbeobachtung entspringen, nicht ausräumen lassen. Es ist vielmehr bei Kafka so, dass dadurch, dass er das Missverständnis erkennt und sprachlich markiert, dieses nicht verschwindet; oder aber – eine andere Variation – mit seinem Verschwinden ein neues Missverständnis generiert wird. Im Umfeld der berühmten Parabel Vor dem Gesetz aus Kafkas Roman Der Prozeß heißt es dazu: »Richtiges Auffassen einer Sache und
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Franz Kafka: »Tagebücher«, in: ders., Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, hg. von Jürgen Born u. a., Frankfurt am Main: Fischer 1990. S. 991f. (In der Folge zitiert als KATB.) Hans Rott: »Meinungsverschiedenheiten und Missverständnisse« (in diesem Band), S. 61. Ludwig Wittgenstein: The Big Typescript: TS 213, hg. von Grant Luckhardt/Maximilian Aue, Oxford: Blackwell 2005.
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Mißverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus.«5 Aber der Reihe nach. Mit dem Tagebuch, so wie es vorliegt, setzt der 26jährige Franz Kafka im Sommer 1909 ein. Kafka hat wohl bereits in seiner Studienzeit ein Journal geführt, die Aufzeichnungen jedoch vernichtet, aus der ihm eigenen manischen Unzufriedenheit mit der literarischen Qualität seiner Texte heraus.6 Was erhalten blieb, entstammt im Wesentlichen dem Zeitraum zwischen dem Sommer 1909 und dem Herbst 1917. Danach setzt das Tagebuch – bedingt durch die im Herbst 1917 ausbrechende Lungentuberkulose – nur noch sporadisch ein. Die für die Selbstanalyse notwendigen Energien fließen von diesem Zeitpunkt an stärker in Briefe und die literarische Produktion ein. Ab 1919 bis 1923, also bis ein Jahr vor Kafkas Tod, finden sich nach zweijährigem Schweigen nur noch wenige, aber äußerst ergiebige Tagebucheintragungen, die vor allem um Selbstbeobachtung angesichts der Krankheit und das unabweisbar in Kafkas Blickfeld rückende eigene Ende kreisen. Franz Kafkas Tagebücher sind, dies haben die Mitherausgeber der Kritischen Kafka Ausgabe, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann, in wünschenswerter Deutlichkeit herausgearbeitet, »zivilisationshistorische Dokumente von hohem Rang«7. Sie liefern zahlreiche Verweise auf die Kultur und Subkultur Prags des beginnenden 20. Jahrhunderts. Ihr Autor führt uns in die Sphäre des Theaters, er zeigt sich als begeisterter Kinogänger8, als regelmäßiger Besucher gelehrter Vorträge und literarischer Leseabende. Ebenso jedoch gewährt er uns Einblicke »in die Kabaretts, Nachtklubs, Zirkusveranstaltungen und Variétés, ja in die Prager Bordelle, denen Kafka mit seinem Freund Max Bord [regelmäßig] einen Besuch abstattete.«9
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Franz Kafka: »Der Proceß«, in: ders., Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, hg. von Jürgen Born u. a., Frankfurt am Main: Fischer 1993, S. 297. Am 11. März 1912 vermerkt das Journal emotionslos: »Heute viele alte widerliche Papiere verbrannt.« Vgl. zur Entstehungsgeschichte der Tagebücher: Peter-André Alt: Der ewige Sohn, München: Beck 2005, S. 160164. Gerhard Neumann: »Eine höhere Art der Beobachtung. Wahrnehmung und Medialität in Kafkas Tagebüchern«, in: Beatrice Sandberg/Jakob Lothe (Hg.), Franz Kafka. Eine ethische und ästhetische Rechtfertigung, Freiburg: Rombach 2002, S. 33-59. Vgl. hierzu die gelungene Studie von Hanns Zischler: Kafka geht ins Kino, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996. G. Neumann: Eine höhere Art der Beobachtung, S. 33.
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Weiterhin bieten die Tagebücher Protokolle der Reisen, die Kafka etwa nach Paris, Italien, die Schweiz oder auf den Spuren Goethes nach Weimar unternahm. Schließlich enthält das Journal auch zahlreiche Entwürfe und zum Teil auch komplette Texte, die Kafka später in der literarischen Sphäre veröffentlichen wird. Die berühmte Erzählung Das Urteil und Der Heizer, das ausgegliederte erste Kapitel aus dem Fragment gebliebenen Roman Der Verschollene, entstehen im Umfeld des Journals.10 In einem vierten Themenbereich versammelt Kafkas Tagebuch Alltagsbeobachtungen, die dem Feld des familiären Lebens und der privaten äußeren Existenz gelten: Wahrnehmungen auf den häufigen Spaziergängen, Großstadtimpressionen, sehr häufig sezierende Beschreibungen von Gesichtern und Gesten der Menschen, denen Kafka in den Caféhäusern, Theatern und Cabarets begegnet und die er im Journal portraitiert.11 Schließlich, und dieser fünfte Komplex ist der für diese Studie entscheidende, bietet das Tagebuch eine unendliche Fülle an Daten, die diverse Spielarten der Selbstbeobachtung thematisieren. Diese Selbstbeobachtung dient Kafka wesentlich dazu, a) eine umfassende Analyse der eigenen seelischen und körperlichen Befindlichkeit zu leisten (bei Kafka mit dem Begriff »Selbsterkenntnis« umkreist) und b) die Veränderung eben dieser seelischen und körperlichen Befindlichkeit unter der Prozedur des Schreibens bedingungslos in immer neuen quälenden Anläufen ins Blickfeld zu nehmen. Es kommt dabei – dies ist entscheidend – zu einem seltsamen Prozess der »Doppelreflexion«12 bei Kafka: Der Schreibende beobachtet sich selbst im Medium des Schreibens und er beobachtet darüber hinaus das Wesen der Schrift, über welche er eben diesen Vorgang der Selbstbeobachtung inszeniert. Unter dieser ständigen Doppelbeobachtung des Selbst und der Fixierung des Beobachteten im Modus der Schrift kommt es bei Kafka – so die These – von Anfang an zur Ausprägung psychischer Konstellationen, die den Tagebuchschreiber vor unlösbare Probleme stellen. Ein früher Eintrag vom 12. Januar 1911 fasst die Ausgangslage bereits in hoher Deutlichkeit:
10 Metaliterarische Vergleiche mit Tagebüchern anderer Personen, von Goethe über Hebbel und den Schlachtenmaler Heinrich Lang, gehören ebenfalls in diesen inhaltlichen Komplex. Vgl. G. Neumann: Eine höhere Art der Beobachtung, S. 34. 11 Vgl. hierzu das wichtige Buch von Georg Guntermann: Vom Fremdwerden der Dinge beim Schreiben. Kafkas Tagebücher als literarische Physiognomie des Autors, Tübingen: Niemeyer 1991 (vor allem: S. 37-91). 12 Den Begriff verdanke ich: Wolfgang Lange: »Über Kafkas KierkegaardLektüre«, in: DVjS 60 (1986), S. 286-308, hier S. 297.
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»Ich habe vieles in diesen Tagen über mich nicht aufgeschrieben, teils aus Faulheit [...] teils aber auch aus Angst, meine Selbsterkenntnis zu verraten. Diese Angst ist berechtigt, denn endgültig durch Aufschreiben fixiert dürfte eine Selbsterkenntnis nur dann werden, wenn dies in größter Vollständigkeit bis in alle nebensächlichen Konsequenzen hinein sowie mit gänzlicher Wahrhaftigkeit geschehen könnte. Denn geschieht dies nicht – und ich bin dessen jedenfalls nicht fähig – dann ersetzt das Aufgeschriebene nach eigener Absicht und mit der Übermacht des Fixierten das bloß allgemein Gefühlte nur in der Weise, daß das richtige Gefühl schwindet, während die Wertlosigkeit des Notierten zu spät erkannt wird.«13
Das Tagebuch als intendiertes Instrument einer radikalen und vollständigen Selbsterkenntnis produziert hier von Anfang an eine Einsicht in die Grenzen des Mediums; der Tagebuchschreiber Kafka erscheint sich in seinem Tagebuch nicht in gewünschter Vollständigkeit. Der Eintrag Kafkas vom 21. Juni 1913 spitzt das Problem in einer bündigen Formulierung zu: »Die ungeheure Welt, die ich im Kopfe habe. Aber wie mich befreien und sie befreien ohne zu zerreißen. Und tausendmal lieber zerreißen, als sie in mir zurückhalten oder begraben. Dazu bin ich ja hier, das ist mir ganz klar.«14 Angesprochen ist hier eine Form der Bewusstseinserforschung, die einen Konflikt zwischen Beobachtungssubjekt (»ich«) und Beobachtungsobjekt (»die ungeheure Welt«) konstatiert. Subjekt und Objekt sind laut Kafka auf eine Art und Weise ineinander verschränkt, dass sich das Subjekt – obwohl es einen unstillbaren Drang dazu fühlt – von dem über sein Inneres wahrgenommenen Objekt nicht zu lösen vermag. Der Drang, das Wahrgenommene im Akt des Schreibens nach draußen zu befördern, droht, den Wahrnehmenden zu zerstören. Sehen wir uns schließlich eine dritte, zeitlich weit auseinander liegende Tagebucheintragung an. Auch sie greift die angesprochene Problemstellung wieder auf, versucht jedoch erstmals eine provisorische Antwort. Der Eintrag stammt vom 27. Januar 1922: »Merkwürdiger, geheimnisvoller, vielleicht gefährlicher, vielleicht erlösender Trost des Schreibens: das Hinausspringen aus der Totschlägerreihe Tat – Beobachtung, Tat – Beobachtung, indem eine höhere Art der Beobachtung geschaffen wird, eine höhere, keine schärfere, und je höher sie ist, je unerreichbarer von der ›Reihe‹ aus, desto unabhängiger wird sie, desto mehr eigenen Gesetzen der Bewegung folgend, desto unberechenbarer, freudiger, steigender ihr Weg.«15 13 KATB, S. 143. 14 Ebd., S. 562. 15 Ebd., S. 892.
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Im Hinausspringen aus der »Totschlägerreihe« von »Tat« und »Beobachtung« vermutet der Tagebuchschreiber Kafka die Möglichkeit einer höheren Form der Betrachtung. Es scheint dabei eine Art des Schreibens von Kafka intendiert, welche den skizzierten unauflösbaren Konflikt zwischen Beobachtungssubjekt und Beobachtungsobjekt umgeht. Dies soll geschehen, indem sich das sich beobachtende Ich zu einer wie auch immer gearteten höheren Form der Selbstreflexion aufschwingt. Diese höhere Form der Selbstreflexion soll es ihm ermöglichen, die quälende Beobachtung der »ungeheuren Welt« im Vorgang des Schreibens erträglich, ja sogar »freudiger, steigender« zu machen. Kafka ist sich demnach darüber im klaren, dass eine einfache Form der Selbstbeobachtung, eine Beobachtung also, »die unkritisch unterstellt, ein denkendes Ich könne sich über Bewusstseinsakte, die sich auf es zurückbeugen, ohne Schwierigkeiten erreichen«16, seiner eigenen Wahrnehmungsmentalität nicht entspricht. Das sich selbst beobachtende Ich kann im Sinne Kafkas gar nicht sicher sein, ob das Objekt, auf welches es in der Reflexionsbewegung trifft, in der Tiefe tatsächlich erfasst und damit mit ihm identisch ist. »Alle Dinge nämlich, die mir einfallen, fallen mir nicht von der Wurzel aus ein, sondern erst irgendwo gegen ihre Mitte. Versuche sie dann jemand zu halten, versuche jemand ein Gras und sich an ihm zu halten, das erst in der Mitte des Stengels zu wachsen anfängt.«17 Um diesem Dilemma zu entgehen, sucht das Tagebuch eine gesteigerte Form der Selbstbeobachtung zu produzieren. Es sucht nach einem Modus der Inszenierung, welcher die wahrgenommene Brechung zwischen Ich und Welt durch eine metareflexive Form der Darstellung abzubilden sucht. Es gerät bei Kafka auf diese Weise zur Probe eines höheren Orts der Selbstbeobachtung, in welchem jenes zentrale Verfahren der Doppelreflexion per gesteigerter Selbstbeobachtung erprobt und – dies sei vorweg genommen – am Ende als untauglich verworfen wird. Hierin liegt – so die nun schärfer zu formulierende These – das zentrale Missverständnis der Selbstbeobachtung des frühen Tagebuchschreibers Kafka. Das Missverständnis besteht in dem bei Kafka mit dem Vollzug zunehmend verzweifelter werdenden Glauben, durch Abkehr von den einfachen schematischen Gesetzen der Selbstbeobachtung und durch eine 16 Lutz Ellrich: »Diesseits der Scham. Notizen zu Spiel und Kampf bei Plessner und Kafka«, in: Claudia Liebrand/Franziska Schößler (Hg.), Textverkehr. Kafka und die Tradition, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 243-272, hier S. 251. Ellrich verwendet die These einer höheren Selbstreflexion bei Kafka für eine Analyse von Formen des Spiels und der Theatralität, welche er in den Schriften Kafkas nachzuweisen sucht. 17 KATB, S. 14.
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Steigerung, genauer Verdoppelung dieser Selbstbeobachtung im Medium der Tagebuchschrift zur Beschreibung jener Fixierungen vorzustoßen, die das Ich im Umgang mit sich selbst und der Außenwelt an einer befreienden Erkenntnis hindern. Einfacher gesagt: Die Beobachtung des Selbst bei der Darstellung des eigenen Dilemmas – und sei sie mehrfach gebrochen, paradoxal oder in sich doppelbewegenden Umkehrungen formuliert – hebt dieses Dilemma nicht auf. Entwickelt werden sollen diese Missverständnisse der Selbstbeobachtung im Tagebuch an drei Punkten, die ich mit folgenden Untertiteln versehen habe: a) Selbstbeobachtung als gescheiterter Dialog mit dem »Nebenmenschen« b) Selbstbeobachtung im Lichte der Psychoanalyse Freuds c) Selbstbeobachtung unter den »Gespenstern der Schrift«
Selbstbeobachtung als gescheiterter Dialog mit dem »Nebenmenschen« »Als ich beim Doktor wartete, sah ich das eine Schreibmaschinenfräulein an und dachte darüber nach, wie schwer ihr Gesicht selbst während des Anblicks festzustellen sei. Besonders die Beziehung zwischen einer auseinandergezogenen, ringsherum fast in gleicher Breite über den Kopf vorragenden Frisur zu der meist zu lang erscheinenden geraden Nase verwirrte. Bei einer auffallenderen Wendung des gerade ein Aktenstück lesenden Mädchens wurde ich durch die Beobachtung fast betroffen, daß ich durch mein Nachdenken dem Mädchen fremder geblieben war, als wenn ich mit dem kleinen Finger ihren Rock gestreift hätte. Als der Doktor im Vorlesen des Vertrags zu einer Stelle kam, die von meiner möglichen Frau und den möglichen Kindern handelte, bemerkte ich mir gegenüber einen Tisch mit zwei großen Sesseln und einen kleineren um ihn herum. Bei dem Gedanken, daß ich niemals imstande sein werde, diese oder beliebige Sessel mit mir, meiner Frau und meinem Kind zu besetzen, bekam ich ein von allem Anfang an so verzweifeltes Verlangen nach diesem Glück, daß ich aus dieser gereizten Aktivität meine während des langen Vorlesens einzig bleibende Frage an den Doktor stellte, die sofort mein vollständiges Mißverstehen einer größeren gerade vorgelesenen Partie des Vertrages enthüllte.«18
Die Eintragung vom 8. November 1911 spielt auf Kafkas Ernennung zum Anstaltsconcipisten in der AUVA an. Sie enthält en détail bereits alle Strategien, die Kafka am Ende seines Lebens zu jenem berühmten Aphorismus aus seinen Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und 18 Ebd., S. 236f.
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den wahren Weg bewegen werden: »Verkehr mit Menschen verführt zur Selbstbeobachtung.«19 Der Tagebucheintrag beginnt – wie so oft bei Kafka – mit der Beschreibung von Bestandteilen des menschlichen Gesichts, in diesem Fall mit der Relation zwischen der oberen Kopfhälfte der Sekretärin und ihrer Nase. Die gewählten Attribute des Gesichts sind zufällig – auch Augen, Mund, »Beschaffenheit der Haut, Bildung der Knochen, die Umrisslinien des Profils«20 –, kaum ein Merkmal der menschlichen Physiognomie entgeht dem Zugriff des Tagebuchschreibers Franz Kafka. Entscheidend ist nun, was der Betrachter aus der Kombination der gewählten Details macht. Denn Kafka erfährt in der Betrachtung des fremden Antlitzes die entscheidende Impression der Entfremdung vom betrachteten Objekt und der Außenwelt. Der Blick auf den Anderen vermittelt dem Beobachter in drastischer Deutlichkeit den Status seiner eigenen Fremdheit im Angesicht des Gegenübers, der in diesem besonderen Falle auf eine seltsame Weise noch erotisch aufgeladen ist: »wurde ich durch die Beobachtung fast betroffen, daß ich durch mein Nachdenken dem Mädchen fremder geblieben war, als wenn ich mit dem kleinen Finger ihren Rock gestreift hätte.« Nachdem das beobachtende Ich diesen Status seiner Fremdheit dem Beobachteten gegenüber konstatiert hat, schwenkt das sezierende Kameraauge weiter auf die Innenausstattung des Büroraums. Tische und Stühle werden begutachtet, doch wiederum wendet der Blick in die Außenwelt sich sofort nach innen, gerät zur intimen Selbstaussage. Kafka ist zum Zeitpunkt des Eintrags Junggeselle und er wird es zeitlebens nach drei unter dramatischen Umständen gescheiterten Verlobungen auch bleiben. Der Grund: Die Ehe wird vom 26jährigen als zentrale Bedrohung der Schriftstellerexistenz und der mit ihr assoziierten inneren Freiheit begriffen. Das Tagebuch vermerkt einen knappen Monat zuvor in Kafkas unnachahmlicher Komik: »Sollte ich das vierzigste Lebensjahr erreichen, so werde ich wahrscheinlich ein altes Mädchen mit vorstehenden, etwas von der Oberlippe entblößten Oberzähnen heiraten. […] Vierzig Jahre werde ich aber kaum werden, dagegen spricht
19 Franz Kafka: »Nachgelassene Schriften und Fragmente II«, in: ders., Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, hg. von Jürgen Born u. a., Frankfurt am Main: Fischer 1992, S. 130. (In der Folge zitiert als KANF.) 20 Vgl. zu dieser Passage: G. Guntermann: Vom Fremdwerden der Dinge, S. 44-47.
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zum Beispiel die Spannung, die sich mir über die linke Schädelhälfte öfters legt…«21
Das Verhältnis Kafkas zu den Frauen gewinnt über die Tagebucheintragungen eine Gestalt, die Georg Guntermann mit einer glücklichen Formulierung als die »Halbdistanz des Junggesellen«22 charakterisiert hat. Zentral an dieser Halbdistanz ist: Sie wird in Kafkas Beziehungen im Wesentlichen über das Medium der Schrift erzeugt – im Falle der zweimaligen Verlobten Felice Bauer über einen schier endlosen Briefverkehr und über die Selbstreflexion dieser Beziehung im Tagebuch. Kafka schickt in den Jahren 1912-1914 580 Briefe an Felice von Prag nach Berlin, in Hochzeiten verfasst er zwei pro Tag. Zu persönlichen Treffen kommt es kaum, was nicht nur der räumlichen Distanz geschuldet ist. Kafka schätzt die Distanz ermöglichende Form der Schrift und fürchtet die tatsächliche zwischenmenschliche Begegnung. Warum? In seinen Briefen und vor allem im Tagebuch ist der Beobachter Kafka in seinen Blicken frei, er vermag die seinem Blick innewohnende Fremdheit dem Anderen gegenüber auszuagieren, ohne die Verletzungen preiszugeben, welche dieser Blick der Fremdheit dem Angeblickten bereiten würde. Ebenso instruktiv wie schockierend ist in diesem Zusammenhang der erste »physiognomische Check«, mit dem das Tagebuch Kafkas Felice Bauer taxiert, immerhin ein Mensch, um dessen Nähe Kafka nach eigener Aussage über fünf Jahre bis zur Selbstzerfleischung gerungen hat. Das Tagebuch vom 20. August 1912 vermerkt: »Fräulein Felice Bauer. Als ich am 13. VIII zu Brod kam, saß sie bei Tische und kam mir doch wie ein Dienstmädchen vor. Ich war auch gar nicht neugierig darauf, wer sie war, sondern fand mich sofort mit ihr ab. Knochiges, leeres Gesicht, das seine Leere offen trug. Freier Hals. Überworfene Bluse. […] Fast zerbrochene Nase, blondes, etwas steifes, reizloses Haar, starkes Kinn. Während ich mich setzte, sah ich sie zum erstenmal genauer an, als ich saß, hatte ich schon ein unerschütterliches Urteil.«23
21 KATB, S. 69. 22 G. Guntermann: Vom Fremdwerden der Dinge, S. 41. 23 KATB, S. 431f.
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Alles ist da: die sezierende Beobachtung anatomischer Details und der unabweisbare Eindruck von Fremdheit, welche diese Details beim Beobachter auslösen und die ihn auf sich selbst zurückwerfen. Weshalb, so die nahe liegende Frage, dann nicht auf völlige Distanz zu den Menschen gehen? Weshalb der Position der Halbdistanz verpflichtet bleiben? Walter Benjamin hat einmal von einer »Sumpfwelt«, in der Kafkas Romane entstanden, und vom »Moorboden«24, aus dem seine Frauenfiguren aufgestiegen seien, gesprochen. Und in der Tat scheint sich in Kafkas Verhältnis zur Sexualität jenes Moment der Halbdistanz des Junggesellen am deutlichsten Ausdruck zu verschaffen. Geschlechtlichkeit wird bei Kafka als etwas Dumpfes, Dunkles empfunden, in welchem das Ich sich zu verlieren droht, vor dessen zumeist als gewalttätig empfundener Triebkraft es sein Begehren dennoch nicht freizuhalten vermag. Schmutz und Lust werden daher von Anfang an in Kafkas literarischen Arbeiten zu zentralen »Merkmalen der Sexualität, an deren ambivalenter Struktur die Abgründigkeit des menschlichen Triebs sichtbar gemacht wird.«25 Immer wieder zwingt die Sexualität Kafkas Helden aus dem unschuldigen und quasi reinen Beobachterstandpunkt heraus, in den »Schmutz« der Welt hinein. Winfried Menninghaus hat in einer Studie zu Kafka am Romanfragment Der Verschollene eindringlich gezeigt, wie diese von Kafka phantasierte männliche Unschuld über das Feld »widerlicher weiblicher Praktiken« den ersehnten Selbstbeobachterstandpunkt verlassen muss. Wegen eines »widerlichen« an Vergewaltigung grenzenden Missbrauchs durch ein mehr als doppelt so altes Dienstmädchen wird Karl Roßmann in Der Verschollene nach Amerika transportiert, um dort am Ende wieder in der Gewalt einer dicken alten Frau zu landen, die sich zudem als Prostituierte entpuppt. Zwischendurch wird der jugendliche Held noch durch eine sportliche junge Frau mittels einer fernöstlichen Kampftechnik auf ein – Zitat Kafka – »Kanapee« gezwungen.26 Auch das Tagebuch protokolliert in »masochistisch anmutenden Ekelexzessen«27 vielfach den Konnex von Sexualität und Schmutz, welcher Kafkas 24 Walter Benjamin: »Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages«, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. II.2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 438. 25 P. Alt: Der ewige Sohn, S. 124. 26 Vgl. Winfried Menninghaus: »Der Verschollene oder die Trajektorie männlicher Unschuld im Feld ›widerlicher‹ weiblicher Praktiken«, in: ders., Ekel. Theorie einer starken Empfindung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 378-392. 27 P. Alt: Der ewige Sohn, S. 184.
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Libido speist. Beschreibungen von alten Frauen, unreiner Gesichtshaut, verfallenen Körpern und unerfreulichen Gerüchen markieren jene doppelte Besetzung von Kafkas Sexualität im Zeichen von Angst und gleichzeitigem Begehren, Abstoßung und Lust. Eine derartige psychische Konstellation lässt Kafka verständlicherweise die Aussicht auf Ehe, Nachkommenschaft und trauliches Zusammenleben knapp ein halbes Jahrhundert vor den Dramen Edward Albees und Jean Paul Sartres als vorweg genommenes Purgatorium erscheinen. Noch einmal Kafka selbst in seiner schwer zu übertreffenden »tödlichen Komik«: »Zölibat und Selbstmord stehn auf ähnlicher Erkenntnisstufe, Selbstmord und Märtyrertod keineswegs, vielleicht Ehe und Märtyrertod.«28 Der Versuch, Verbindung zum anderen Menschen zu schaffen, die unternommene Reflexion auf das hier erotisch Verbindende führt immer wieder zur Erfahrung des Trennenden, zum Erlebnis der eigenen Fremdheit und Isolation. Aus dieser Perspektive sind Missverständnisse wie das oben beschriebene vollständige Missverstehen einer größeren gerade vorgelesenen Partie des Vertrages vorprogrammiert. Sie bilden quasi nur die Spitze des Eisbergs einer Form der Selbstbeobachtung, deren Fluch es ist, den eigenen Gedankenwegen unablässig folgen zu müssen und die Daten der Außenwelt für diese selbstbesessene Reflexivität zurechtzubiegen, praktikabel zu machen. Ein weiteres schönes Beispiel eines solchen Missverstehens des Anderen durch übersteigerte Selbstbeobachtung liefert Kafkas Tagebuch mit einer Schilderung der stockenden Arbeit am Roman Der Verschollene, der – wie alle Romane Kafkas – Fragment bleibt. Kafka quält sich, die Odyssee seines Helden Karl Roßmann in Amerika über eine plausible Handlung voran zu treiben und unternimmt einen Spaziergang durch die Prager Altstadt, um den Kopf frei zu bekommen. Das Tagebuch schildert dabei folgende Episode: »Letzthin ging ich durch die Eisengasse, da sagt jemand neben mir: ›Was macht Karl?‹ Ich drehe mich um; ich sehe einen Mann, der ohne sich um mich zu kümmern im Selbstgespräch weitergeht und auch diese Frage im Selbstgespräch gestellt hatte. Nun heißt aber Karl die Hauptperson in meinem unglücklichen Roman und jener harmlose vorübergehende Mann hatte unbewußt die Aufgabe mich auszulachen, denn für eine Aufmunterung kann ich das wohl nicht halten.«29
28 KANF, S. 52f. 29 Zitat nach G. Guntermann: Vom Fremdwerden der Dinge, S. 79.
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Der Beobachter negiert an dieser Stelle die Möglichkeit einer von seinem Bewusstsein unabhängigen Außenwelt und setzt stattdessen in einem solipsistischen Kurzschluss alles in der Außenwelt Wahrgenommene zu seinem Selbst in Bezug. Die Realität konstituiert sich in solch verabsolutierter Weise lediglich über den Gang durch die Pforte der Selbstbeobachtung, was das Missverstehen des Anderen nicht möglich, sondern zwangsläufig macht. Kafka ist sich über diese zwanghafte Struktur, welche seine Selbstbeobachtung im Hinblick auf die Wahrnehmung der Außenwelt anzunehmen vermag, vollständig im Klaren, ohne diese Form der Selbstbeobachtung und die an sie gekoppelten Missverständnisse der Mitmenschen jedoch vollständig ausschalten zu können. Ein später Tagebucheintrag, jener vom 7. November 1921, vermerkt illusionslos, dass für Kafka »der Weg zum Mitmenschen [noch immer] sehr lang ist«,30 wie es ähnlich auch bereits früh in den Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande heißt. Die Passage lautet: »Unentrinnbare Verpflichtung zur Selbstbeobachtung: Werde ich von jemandem andern beobachtet, muß ich mich natürlich auch beobachten, werde ich von niemandem sonst beobachtet, muß ich mich umso genauer beobachten.«31
Selbstbeobachtung im Lichte der Psychoanalyse »Es gibt Überraschungen des Bösen. Plötzlich wendet es sich um und sagt: ›Du hast mich mißverstanden‹, und es ist vielleicht wirklich so. Das Böse verwandelt sich in deine Lippen, läßt sich von deinen Zähnen benagen und mit den neuen Lippen – keine frühern schmiegten sich dir noch folgsamer ans Gebiß – sprichst du zu deinem eigenen Staunen das gute Wort aus.«32
Kafka bricht im November 1917 sein Tagebuch ab und wird das Journal erst zwei Jahre später, im Juni 1919 wieder aufnehmen. Die Funktion des Tagebuchs versehen jetzt die so genannten Oktavhefte, denen das obige Zitat vom 21. Oktober 1917 entnommen ist. An die Stelle einer Selbstbeobachtung, welche die Wahrnehmung äußerer Zustände für eine Observation der Innenwelt praktikabel macht, geraten während des Winters 1917/1918 metaphysische Themen verstärkt in den Fokus dieser Oktavhefte. Am 13. August 1917 hatte Kafka in seiner Wohnung im Schönborn-Palais zwischen 4 und 5 Uhr morgens einen Lungenblutsturz erlit30 Ebd., S. 63. 31 KATB, S. 63. 32 KANF, S. 38.
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ten, der zehn Minuten dauert. Als das »Quellen aus der Kehle«33 endlich nachlässt, fällt Kafka in tiefen Schlaf. Am Morgen findet die Hausangestellte Rúsenka Bettzeug und Teppich dunkelrot gefärbt vor und prophezeit dem Kranken: »Pane doktore, s Vámi to dlouho nepotrvá« (Armer Herr Doktor, mit Ihnen geht es nicht mehr lange).34 Die am 4. September nach Röntgenbefund durch den Lungenspezialisten Gottfried Pick vorgenommene Diagnose lautet: Tuberkulose beider Lungenspitzen. Aus der Perspektive dieser Diagnose ist es kein Wunder, dass sich die Oktavhefte mit Aphorismen füllen, welche um die Begriffe von Schuld, Erkenntnis, Wahrheit und um die Möglichkeit von Erlösung im Angesicht des sich nähernden Todes kreisen; der Tod, ohne den, wie Schopenhauer einmal vermerkt hat, keine Philosophie getrieben würde. Vor diesem Hintergrund ist obige Eintragung zu lesen. Was ist das Böse bei Kafka, der im Umgang mit diesem Terminus »Distanz zu allen orthodoxen Varianten abendländischer Metaphysik«35 wahrt, und was bedeutet es, das Böse misszuverstehen? Zur Erläuterung des komplexen Sachverhalts sei ein weiterer Eintrag aus den Oktavheften vom 21. November 1917 herangezogen. Er lautet: »Das Tier entwindet dem Herrn die Peitsche und peitscht sich selbst, um Herr zu werden, und weiß nicht, daß das nur eine Phantasie ist, erzeugt durch einen neuen Knoten im Peitschenriemen des Herrn. Böse ist das, was ablenkt. Das Böse weiß vom Guten, aber das Gute vom Bösen nicht. Selbsterkenntnis hat nur das Böse. Ein Mittel des Bösen ist das Zwiegespräch.«36
Kafkas Grundgedanke in den Aphorismen der Oktavhefte lautet, dass allein das Böse Bewusstsein von sich selbst gewinnen könne, während das Gute die Differenz, die es von seinem Gegenteil trennt, nicht erfasst. Einzig das Böse besitzt also eine Form der Selbsterkenntnis, »weil es den nötigen Abstand zu dem halten kann, was erkannt werden soll. Das Gute dagegen, das in sich ruht, ist seiner nicht bewusst und bleibt sich undurchschaubar«37 – ein Stadium, das Kafka in einem Aphorismus der
33 Franz Kafka: »Briefe an Felice«, in: ders., Gesammelte Werke, hg. von Max Brod, New York: Fischer 1967, S. 753. 34 Zur vollständigen Episode vgl. P. Alt: Der ewige Sohn, S. 452. 35 Ebd., S. 463. 36 KANF, S. 119 bzw. S. 48f. 37 P. Alt: Der ewige Sohn, S. 463.
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Oktavhefte38 mit dem Zustand vor dem Sündenfall vergleicht. »Wahrheit«, so heißt es in einem später gestrichenen Text, »kann sich selbst nicht erkennen; Wer sie erkennen will muß Lüge sein.«39 Dies bedeutet laut Kafka, dass der Einzelne sich in der paradoxen Situation vorfindet, zur Wahrheit nur durchzudringen, indem er sich außerhalb ihrer Ordnungen bewegt. Dieser Zustand von Nicht-Wahrheit ist der Modus des Bösen. Wenn Christus in Joh. 8, 44 den Teufel als den »Vater der Lüge« bezeichnet, ist auf diese Analogie von Lüge und Bosheit angespielt. Weiterhin ist das Böse bei Kafka als eine Form der Selbsterkenntnis charakterisiert, die zur Selbstzerstörung führen muss. Warum? Selbsterkenntnis kann im Sinne Kafkas niemals – da der Welt der Halbwahrheit, Viertelwahrheit, Lüge zugehörig – an den Grund dessen gelangen, was sie ihrem eigentlichen Kern nach erstrebt: absolute Wahrheit. Der Mensch befindet sich damit, seitdem er über die Erkenntnis der Existenz von Gut und Böse verfügt, laut Kafka in einem auswegslosen Dilemma. Denn: »Niemand kann sich mit dieser Erkenntnis allein begnügen, sondern muß sich bestreben, ihr gemäß zu handeln. Dazu aber ist ihm die Kraft nicht mitgegeben, er muß daher sich zerstören, selbst auf die Gefahr hin, sogar dadurch die notwendige Kraft nicht zu erhalten, aber es bleibt ihm nichts anderes übrig, als dieser letzte Versuch.«40
Entscheidend für meine Zwecke ist nun die Rolle der Selbstbeobachtung in diesem Prozess der Selbsterkenntnis auf der Suche nach einer ungeteilten, sich selbst unbewussten Wahrheit, zu welcher der geteilte und sich selbst bewusste Mensch nicht fähig ist. Im dritten Oktavheft spielt Kafka diesen Gedanken einer Selbsterkenntnis, die Selbstzerstörung ist, wo sie im Modus der Selbstbeobachtung verharrt, wiederum anhand einer Variation des Sündenfall-Mythos durch: »Erkenne dich selbst, bedeutet nicht: Beobachte dich. Beobachte dich ist das Wort der Schlange. Es bedeutet: Mache dich zum Herrn deiner Handlungen. Nun bist du es aber schon, bist Herr deiner Handlungen. Das Wort bedeutet also: Verkenne dich! Zerstöre dich! Also etwas Böses – und nur wenn man sich
38 Kafka hat in den Oktavheften 109 Aphorismen im Rahmen einer durchnummerierten Handschrift gesammelt. Diese Aphorismen wurden 1931 von Max Brod und Hans-Joachim Schoeps unter dem heute geläufigen Titel Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg publiziert. 39 KANF, S. 69. 40 Ebd., S. 132.
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sehr tief hinabbeugt, hört man auch sein Gutes, welches lautet: ›Um dich zu dem zu machen, der du bist‹.«41
Das Missverständnis gegenüber dem Bösen, so lässt sich aus dem Gesagten schlussfolgern, besteht für Kafka in zwei Arten des Irrglaubens: Das erste Missverständnis liegt in dem Glauben, sich von den auf absolute Selbsterkenntnis zielenden Kräften der Selbstbeobachtung freihalten zu können, das zweite Missverständnis ist der Glaube, mit der Hingabe an diese Kräfte an das angestrebte Erkenntnisziel zu gelangen. Damit sind wir auf jenem psychoanalytischen Grund, den der geschulte Selbstbeobachter Kafka unmittelbar nach dem Ausbruch der Lungentuberkulose betritt. Kafkas enger Freund Felix Weltsch hatte diesem unmittelbar nach Ausbruch der Krankheit einen Brief geschickt, und darin, den ständigen Pessimismus des Freundes kritisierend, betont, zum Gesundwerden gehöre vor allem der Gesundungswille seitens des Betroffenen. Kafka antwortete, diesen Gesundungswillen besitze er, allerdings auch den »Gegenwillen«. Weltsch interpretiert die Rede vom Gegenwillen offenbar psychoanalytisch, denn Kafka entgegnet gegen Ende Oktober 1917: »Was Du mit der ›Eindrängung‹ des Gegenwillens meinst, glaube ich zu verstehn, es gehört zu dem verdammt psychologischen Theorienkreis, den Du nicht liebst, aber von dem Du besessen bist (und ich wohl auch). Die Naturtheorien haben Unrecht so wie ihre psychologischen Schwestern.«42
Kafka, der gegenüber Freuds Arbeiten, so bemerkt er im Juli 1912, »nur einen großen leeren Respekt«43 fühlt, lehnt im Zusammenhang mit der eigenen Krankheit jedes monokausale Erklärungsmuster ab, wie es Psychologie und Medizin in seinem Falle bereitstellen.44 In einem Brief an Max Brod vom April 1921 heißt es dazu: »Die Tuberkulose hat ihren Sitz ebensowenig in der Lunge, wie z. B. der Weltkrieg seine Ursache im Ultimatum. Es gibt nur eine Krankheit, nicht mehr, und diese eine
41 Ebd., S. 42. 42 Franz Kafka: »Briefe 1902 – 1924«, in: ders., Gesammelte Werke, hg. von Max Brod, New York: Fischer 1967, S. 187. 43 Brief an Willy Haas, Zitat nach P. Alt: Der ewige Sohn, S. 310. 44 Kafka wird auf die Lehre Freuds weniger durch systematisches Studium von dessen Schriften als vielmehr durch Vortragsbesuche, Gesprächszirkel und Zeitschriftenartikel (Pan, Neue Rundschau) ab den Jahren 1912/1913 aufmerksam. Zu diesem Themenkomplex vergleiche die akribische Studie Hartmut Binders: »Kafka und die Psychoanalyse«, in: ders., Motiv und Gestaltung bei Franz Kafka, Bonn: Bouvier 1987, S. 92-115.
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Krankheit wird von der Medizin blindlings gejagt wie ein Tier durch endlose Wälder.«45 Den Tod als die eine Krankheit, auf die Kafka hier anspielt, können weder Psychoanalyse, noch Naturheilkunde, noch moderne Laborforschung erfolgreich bekämpfen. Der in den Menschen gepflanzte Todeskeim ist laut Kafka »die einzige Krankheit, die es gibt, weshalb man von den medizinischen Heilversuchen sagen muß, daß sie gesund machen, wenn man gesund ist.«46 Der Arzt will »das Leid der Welt« durch das »Heil der Welt«, welches er in Gestalt einer Spritze mit sich trägt, vertreiben und verwechselt dadurch für Kafka Ursache und Wirkung, Kommandozentrale und kämpfende Truppe. Ähnlich steht die Sache bei der Psychoanalyse. Zwar versucht der geschulte Selbstbeobachter Kafka anfangs noch, die Krankheitssymptome aus psychoanalytischer Perspektive zu deuten. Und in der Tat fasst Kafka von Anfang an die Krankheit als psychosomatisches Symptom, als Indiz seelischer Überforderung, welches sich über den Körper Raum schafft: »So geht es nicht weiter hat das Gehirn gesagt und nach fünf Jahren hat sich die Lunge bereit erklärt, zu helfen.«47 Analog zu Freud sieht Kafka den Nährboden der Krankheit in der Psyche und dem unbewältigten Material des seelischen Kampfes, als deren sichtbares Zeichen die Verletzung der Lunge hervorgegangen ist. Anders als Freud, und diese Differenz ist entscheidend, glaubt Kafka jedoch nicht an das monokausale Erklärungsmuster psychoanalytischer Therapie, welches psychische Krankheit mittels »Kausalitätsprinzip ausschließlich auf die individuellen Eigenschaften der beteiligten Personen«48 zurückführt, also auf veränderliche Einzelmomente, die unter veränderten Konstellationen nicht auftreten würden. Für Kafka sind bei der Krankheit stattdessen Kräfte am Werk, die den Erlebnisbereich der Einzelperson weit übersteigen. Kafka fasst diese Kräfte als Sinnbild für eine tiefere, überindividuelle, dem therapeutischen Zugriff verborgene Sphäre. Ebenso wenig wie die kranke Lunge den Ratschlägen der Ärzte nach – die Kafka übrigens »lächerlich« erscheinen – durch »Licht, Luft, Sonne, Ruhe« geheilt zu werden vermag, ist die der Lungenkrankheit zu Grunde liegende seelische Neurose heilbar durch eine Aufdeckung ihrer psychischen Begleitumstände. Die Eindrängung von Kräften, die der Gesundung entgegenstehen, psychologisch zu fassen, indem man sie 1:1 auf 45 F. Kafka: Briefe an Felice, S. 320. 46 Zitat nach H. Binder: Kafka und die Psychoanalyse, S. 100. 47 Franz Kafka: »Briefe 1913-1914«, in: ders., Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, hg. von Jürgen Born u. a., Frankfurt am Main: Fischer 1999, S. 161. 48 Vgl. zum Fallbeispiel v. a. H. Binder: Kafka und die Psychoanalyse, S. 101.
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den Erlebnishorizont des persönlichen Lebens reduziert, bedeutet für Kafka die anthropologische Konstante, die Verankerung dieser Kräfte im Überpersönlichen zu ignorieren. In einem berühmten Brief an die Geliebte Milena Jesenska schreibt Kafka zu diesem Punkt: »Ich [...] sehe in dem therapeutischen Teil der Psychoanalyse einen hilflosen Irrtum. Alle diese angeblichen Krankheiten, so traurig sie auch aussehn, sind Glaubenstatsachen, Verankerungen des in Not befindlichen Menschen in irgendwelchem mütterlichen Boden; [...] Solche Verankerungen aber, die wirklichen Boden fassen, sind doch nicht ein einzelner auswechselbarer Besitz des Menschen, sondern in seinem Wesen vorgebildet und nachträglich sein Wesen (auch seinen Körper) noch in dieser Richtung weiterbildend. Hier will man heilen?«49
Der Knoten liegt also im menschlichen Kern verankert. Diese Verankerung hält Kafka – im Gegensatz zu Freud – für nicht auflösbar. Löst man den Knoten, löst man den Menschen auf. Kafka wendet das Gesagte im Fortlauf des Briefes an Milena auf sich selber an im Bild von den drei Kreisen. Er enthält die entscheidende Absage an die bis dahin im Lichte des Tagebuchs praktizierte Selbstbeobachtung, bedingt durch die Krankheit und bedingt durch den Versuch, ihr unter psychoanalytischer Perspektive nahe zu kommen. Der innerste Kreis des Menschen, der ihm unzugängliche Kern (dieser Kreis sei mit A bezeichnet), bestimmt, warum der Mensch sich quälen muss, warum er kein ihm adäquat erscheinendes Leben zu leben vermag. Kreis A erklärt dies dem etwas weiter außen gelagerten Kreis B. Dieser zweite Kreis B gibt den Befehl dann an den dritten Kreis, C, weiter. C kann A niemals, unter keinen Umständen erkennen, sondern lediglich für wahr halten, dass A dem B alles erklärt, B alles richtig verstanden und weitergegeben hat. Und C – dies ist das Telos des ganzen Gedankengangs – ist nun nichts anderes als die sinnliche Welt, jene einzige Welt, die dem Psychologen fassbar und zugänglich ist. Diese im Zuge der Krankheit gemachte Erfahrung hat nun bei Kafka entscheidende Konsequenzen für den Versuch einer Beobachtung der Seele, also Form der Selbstbeobachtung. Diese Selbstbeobachtung vermag niemals in den innersten Kreis A, dort, wo der Keim der eigentlichen Ursache gepflanzt ist, vorzudringen. Maximal ein Randstrich der Beobachtung vermag in Kontakt mit dem Kreis B zu geraten und dies unter dem Modus eines jederzeit möglichen Missverständnisses, einer jederzeit möglichen Täu49 Brief an Milena, zitiert nach H. Binder: Kafka und die Psychoanalyse, S. 101.
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schung. Lediglich der Kreis C ist für den Selbstbeobachter einsehbar und dieser Kreis enthält nur Spurenelemente der ursprünglich gesuchten Information. Das Tagebuch vermerkt: »Haß gegenüber aktiver Selbstbeobachtung. Seelendeutungen, wie: Gestern war ich so, und zwar deshalb, heute bin ich so, und deshalb. Es ist nicht wahr, nicht deshalb und nicht deshalb und darum auch nicht so und so. Sich ruhig ertragen, ohne voreilig zu sein, so leben, wie man muß, nicht sich hündisch umlaufen.«50
Die Krankheit ist für Kafka aus dieser Perspektive eine Metapher, deren Bedeutung in den Labyrinthen der Seele, im Innern des Kreises A verschachtelt bleibt. Das Labyrinth ist nicht einsehbar und der so entstandene blinde Fleck wird vom Analytiker mit seinen eigenen Theorien aufgefüllt. Noch einmal Kafka präzisierend in einem Eintrag vom 18. Oktober 1917: »Wie kläglich ist meine Selbsterkenntnis, verglichen etwa mit meiner Kenntnis meines Zimmers. [...] Warum? Es gibt keine Beobachtung der innern Welt, so wie es eine der äußern gibt. Zumindest deskriptive Psychologie ist wahrscheinlich in der Gänze ein Anthropomorphismus, ein Annagen der Grenzen. Psychologie ist die Beschreibung der Spiegelung der irdischen Welt in der himmlischen Fläche oder richtiger: Die Beschreibung einer Spiegelung, wie wir, Vollgesogene der Erde, sie uns denken, denn eine Spiegelung erfolgt gar nicht, nur wir sehen Erde, wohin wir uns auch wenden.«51
Kafkas Selbstbeobachtung zielt darauf ab, unterhalb der Alltagswirklichkeit und der Alltagswahrnehmung, wie sie ein psychologischer Zugriff pflegt, einen grundsätzlichen Dualismus zwischen sinnlicher und geistiger Ebene aufzudecken, der nicht auflösbar erscheint. Der Versuch, es über die monokausalen Erklärungsmuster der Psychoanalyse dennoch zu tun, greift für eine adäquate Analyse des modernen Individuums im Sinne Kafkas zu kurz. Wiederum im Oktober 1917 notiert er auf dem Krankenlager in Zürau bei seiner Schwester Ottla, die Spiegelmetapher fortführend: »Psychologie ist Lesen einer Spiegelschrift, also mühevoll und was das immer stimmende Resultat betrifft ergebnisreich, aber wirklich geschehn ist nichts.«52 Diese Einschätzung steht in diametralem Widerspruch zu weiten Teilen postmoderner Lesarten, einleuchtend ist sie – wohl nicht zuletzt durch Kafkas singuläre Formulierungskunst – dennoch. 50 KATB, S. 608. 51 KANF, S. 31f. 52 Ebd., S. 100.
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Die Psychoanalyse zeige der Moderne, so hat es Harold Bloom einmal formuliert, die Landkarte der Seele.53 Das Missverständnis des Bösen besteht bei Kafka in dem Glauben, dass die Kenntnis dieser Landkarte irgendetwas dazu beitrage, den richtigen Weg zu finden.
Selbstbeobachtung unter dem Medium der Schrift »In mir kann ganz gut eine Konzentration auf das Schreiben hin erkannt werden. Als es meinem Organismus klar geworden war, daß das Schreiben die ergiebigste Richtung meines Wesens sei, drängte sich alles hin und ließ alle Fähigkeiten leer stehn, die sich auf die Freuden des Geschlechtes, des Essens, des Trinkens, des philosophischen Nachdenkens, der Musik zuallererst, richteten. Ich magerte nach allen diesen Richtungen ab. Das war notwendig, weil meine Kräfte in ihrer Gesamtheit so gering waren, daß sie nur gesammelt dem Zweck des Schreibens halbwegs dienen konnten. Ich habe diesen Zweck natürlich nicht selbständig und bewußt gefunden, er fand sich selbst und wird jetzt nur noch durch das Bureau, aber hier von Grund aus, gehindert. [...] Ich habe also nur die Bureauarbeit aus dieser Gemeinschaft hinauszuwerfen, um, da meine Entwicklung vollzogen ist und ich, soweit ich sehen kann, nichts mehr aufzuopfern habe, mein wirkliches Leben anzufangen, in welchem mein Gesicht endlich mit dem Fortschreiten meiner Arbeiten in natürlicher Weise wird altern können.«54
Hier, im Eintrag vom 3. Januar 1912, liegt das letzte Missverständnis der Selbstbeobachtung des Tagebuchschreibers Kafka, welches er im Fortlauf des Tagebuchs mit der ihm eigenen Schonungslosigkeit enthüllen und dekonstruieren wird. Das Missverständnis liegt in der beim frühen Tagebuchschreiber gehegten Hoffnung, über die Selbstaussprache im Medium der Schrift zur Selbstbefreiung gelangen zu können. Kafka hofft, über die Inszenierung des Schreibprozesses im Tagebuch, sich im Zustand umfassender Unsicherheit einen Halt verschaffen zu können. Dieser Halt soll durch einen Mechanismus erlangt werden, den ich eingangs als Doppelreflexion bezeichnet habe. Die Spiegelung des eigenen Ichs im Medium der Schrift soll dem Tagebuch-Ich jene Distanz zu sich selbst verschaffen, welche die der klassischen Selbstreflexion innewohnende Selbstbeobachtung – wie gezeigt – nicht zu vermitteln vermag. Zeigen lässt sich dies im Tagebuch Kafkas an Passagen, in denen das 53 Vgl. Harold Bloom: The western canon. The book and the school of ages, New York: Harcourt Brace 1994, S. 448. Beispiel entnommen: P. Alt: Der ewige Sohn, S. 312. 54 KATB, S. 341.
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Schreiben selbst zum Gegenstand des Schreibens wird. So notiert Kafka im Journal vom 23. Dezember 1911: »Ein Vorteil des Tagebuchführers besteht darin, daß man sich mit beruhigender Klarheit der Wendungen bewußt wird, denen man unaufhörlich unterliegt [...] Im Tagebuch findet man Beweise dafür, daß man selbst in Zuständen, die heute unerträglich scheinen, gelebt, herumgeschaut und Beobachtungen aufgeschrieben hat, daß also diese Rechte sich bewegt hat wie heute […].«55
Diese literarisch vermittelte Selbstbeobachtung, dies wird beim frühen Kafka überdeutlich, soll eine Selbstvergewisserung leisten, welche die bloße Selbstbeobachtung, die schriftlich unfixiert bleibt, nicht zu leisten vermag. Über die literarische Gestaltung des Selbstentwurfs wird Kafka, zugespitzt formuliert, die Bewältigung des eigenen Anblicks erst möglich. Das Tagebuch wird, wo nicht zum Ort der Erlösung, so doch zum einzigen Ort, in dessen Möglichkeitssphäre die Isolierung, Enthaltsamkeit und Abstraktion vom praktischen Lebensvollzug kompensierbar erscheint. »Ich werde das Tagebuch nicht mehr verlassen. Hier muß ich mich festhalten, denn nur hier kann ich es.«56 »Das Tagebuch von heute an festhalten! Regelmäßig schreiben! Sich nicht aufgeben! Wenn auch keine Erlösung kommt, so will ich doch jeden Augenblick ihrer würdig sein.«57
»Ein Mann ohne Tagebuch ist wie ein Weib ohne Spiegel«58, diese leicht chauvinistisch gefärbte Äußerung des unfreiwilligen Junggesellen Gottfried Keller übers Tagebuchschreiben lässt sich auf den frühen Kafka durchaus anwenden. Das Tagebuch ist in dieser Phase bei Kafka der einzige Ort der Selbstvergewisserung; aus dem gestörten Lebenszug heraus zieht das Tagebuchschreiben den Selbstbeobachter Kafka auf gesichertes Terrain. Doch Kafka wäre nicht Kafka, entspränge nicht diesem Modell einer Erleichterung der seelischen Ökonomie durch die Schrift bald darauf auch eine Gefahrenquelle. Denn die Steigerung der Selbstbeobachtung
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Ebd., S. 307f. Ebd., S. 131. Ebd., S. 376. Gottfried Keller: Sämtliche Werke, hg. von Carl Helbling, Bern: Benteli 1947, Bd. 21, S. 33.
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im Medium der Schrift beruht auf der »Entfernung [eben dieses Ichs] von der Wirklichkeit«.59 Warum? Beim Eintritt in die Schrift des Tagebuchs wird das Ich ein Anderes. Denn die Bedingung des Schreibens fußt auf einer Verdopplung von Ich und Realität und – hier zeigt sich der Einfluss des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard auf Kafka – deren Brechung in einen am Leben teilhabenden und einen das Leben ästhetisierenden Zustand.60 Das Missverständnis des Tagebuchschreibers besteht laut Kafka darin, dass er bei aller Selbstbespiegelung im Medium der Schrift im eigentlichen Sinne keine adäquate Selbstbeschreibung erreicht. Vielmehr nimmt der Tagebuchschreiber durch die Schrift eine »scheinhafte Identität« an, mit deren Hilfe er fiktional »Grenzsituationen des Lebens«61 durchspielt, ohne sich ihnen jedoch de facto auszusetzen. Unmittelbar nach dem Ausbruch der Lungentuberkulose vermerkt das Tagebuch vom 19. September 1917: »Mir war immer unbegreiflich, daß es jedem fast, der schreiben kann, möglich ist, im Schmerz den Schmerz zu objektivieren, so daß ich z. B. im Unglück, vielleicht noch mit dem brennenden Unglückskopf mich setzen und jemandem schriftlich mitteilen kann: Ich bin unglücklich. Ja, ich kann noch darüber hinausgehen und in verschiedenen Schnörkeln je nach Begabung, die mit dem Unglück nichts zu tun haben [...], darüber einfach oder antithetisch oder mit ganzen Orchestern von Associationen phantasieren.«62
Indem das Ich sich selbst und seine Welt schreibend entwirft, huldigt es – so die spätere Position Kafkas im Tagebuch – einer Form der Selbstbeobachtung, die letztlich auf einer Selbsttäuschung basiert. Der Kern des Missverständnisses liegt in der Annahme, der fiktive Charakter, zu dem das Selbst des Autors beim Eintritt in die Schrift wird, sei identisch mit 59 G. Guntermann: Vom Fremdwerden der Dinge, S. 114. 60 Die Konfliktsituation, die Kierkegaard in seinen Schriften ständig umkreist, ist durch drei zentrale Begriffe markiert: das Ästhetische, das Ethische und das Religiöse. Die Termini sind bei Kierkegaard in dieser Reihenfolge hierarchisch gewichtet. Das Ästhetische ist hierbei mit den Niederungen der Sinnlichkeit und einem ihr verpflichteten Hedonismus assoziiert. Der Künstler folgt damit im Sinne Kierkegaards einem aus Narzissmus gespeisten Lustprinzip, welches ihm die Maßstäbe ethischer Existenz unerreichbar werden lässt. Vgl. zum Einfluss Kierkegaards auf Kafka: Thomas Anz: »Identifikation und Abscheu. Kafka liest Kierkegaard«, in: Manfred Engel/Dieter Lamping (Hg.), Franz Kafka und die Weltliteratur, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, S. 83-92. 61 P. Alt: Der ewige Sohn, S. 625. 62 KATB, S. 834.
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jenem Selbst, das der Beobachter beim Blick nach Innen wahrnimmt. Der im künstlich erzeugten Klima literarischer Selbstreferenz erfolgende Akt der Beobachtung auf das Ich verändert jedoch dieses Ich in einer Art poetischer Unschärferelation. Das Experiment der Selbstbeobachtung über das Schreiben reduziert über diesen Akt der Beobachtung die beobachtete innere Welt, die sich letztlich im Sinne Kafkas nur leben, nicht beschreiben lässt. In einem Brief an Max Brod vom 5. Juli 1922 reflektiert Kafka diese Vorgänge detailliert und erklärt gegenüber Brod: »Das Dasein des Schriftstellers [...] ist ein Argument gegen die Seele, denn die Seele hat doch offenbar das wirkliche Ich verlassen, ist aber nur Schriftsteller geworden, hat es nicht weiter gebracht; sollte die Trennung vom Ich die Seele so sehr schwächen können?«63 In diese Eintragung spielt Platons im Phaidros formulierte Auffassung von der Schrift als Gegensatz zur Seele (pneuma), zum Atem und zu dem in der Stimme sich äußernden Logos hinein. In einem Kommentar zu dieser Kritik Platons wird das Schreiben laut Derrida unter dieser Perspektive zum Medium der Trauer, der Melancholie und des Todes. Schreiben schafft keine Präsenz, sondern nur die Illusion der »Annäherung an den [...] Raum des Unterschieds, der Materie und Intelligibles trennt.«64 In Derridas Grammatologie heißt es dazu etwas pathetisch: »Die Schrift im geläufigen Sinn ist toter Buchstabe, sie trägt den Tod in sich. Sie benimmt dem Leben den Atem.«65 Kafkas Eintragungen ins Tagebuch der letzten Jahre gehen eben von dieser entscheidenden Schwächung des Ichs durch die erschriebene Selbstbeobachtung aus. Die Schrift wird, in einer weiteren Formulierung aus dem Brief an Max Brod, von Kafka in dieser Phase als »Lohn für Teufelsdienst« angesehen. »Nicht Selbstabschüttelung, sondern Selbstaufzehrung«66 sei, wie das Oktavheft am 25. Januar 1922 vermerkt, das eigentliche Ergebnis des Ich-Protokolls. Das Vertrauen in die sinnstiftende Aufgabe des Tagebuchschreibens hat sich verkehrt in Misstrauen und skeptischen Vorbehalt. Das Schreiben ist jetzt für Kafka ebenso wenig wie jede andere Form der Selbstreflexion in der Lage, den Stachel des Todes, der allen Dingen innewohnt, vom Menschen fernzuhalten. Mehr noch: Wer sich schreibend selbst belauert, bezahlt mit einem Verzicht auf Leben durch vorzeitiges Altern. Das Tagebuch vermerkt am 10. April
63 F. Kafka: Briefe 1902 – 1924, S. 386. 64 Beispiel entnommen: P. Alt: Der ewige Sohn, S. 626. 65 Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 33. 66 KANF, S. 77.
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1922: »Ewige Jugend ist unmöglich; selbst wenn kein anderes Hindernis wäre, die Selbstbeobachtung machte sie unmöglich.«67 Knapp zwei Monate nach diesem Eintrag, im Juni 1922, setzt Kafka seine Pensionierung bei der AUVA durch. Er erhält die Hälfte der Bezüge, die sein Arbeitgeber ihm für den Fall eines erneuten Dienstantritts in Aussicht gestellt hatte. Körperlich ist Kafka in diesen Wochen in schlechterer Verfassung denn je. Er hat Gewicht verloren, schläft wenig, hustet stark und kann längere Spaziergänge nur mit regelmäßigen Atempausen absolvieren. Aufgrund der steigenden Inflation reicht die Pension nur knapp zum Leben, erlaubt aber keinen Aufenthalt in teuren Sanatorien. Wenn die Krankheit in den folgenden 20 Monaten schnell in ihr letales Stadium eintritt, so erklärt sich dies auch damit, dass Kafka sich die Wärme des europäischen Südens finanziell nicht mehr leisten kann. Stattdessen bezieht Kafka im böhmischen Planá bei der Schwester Ottla das kleine Zimmer eines Landhauses. Hier in der ländlichen Idylle lebt das Tagebuch noch einmal kurz auf, ehe es im Juni 1923, knapp ein Jahr vor Franz Kafkas Tod, endgültig zum Verstummen kommt. Von Planá aus schreibt Kafka an den Freund Oskar Baum einen Brief, der sein Verharren in der Provinz analysiert und erneut von der Angst kündet, durch gesteigerte Selbstbeobachtung die innere Situation nur zu verschlimmern: »Im letzten oder vorletzten Grund ist es ja nur Todesangst. Zum Teil auch die Angst, die Götter auf mich aufmerksam zu machen; lebe ich hier in meinem Zimmer weiter, vergeht der Tag regelmäßig wie der andere, muß natürlich auch für mich gesorgt werden, aber die Sache ist schon im Gang, die Hand der Götter führt nur mechanisch die Zügel, so schön, so schön ist es, unbeachtet zu sein […].«68
Einige Monate später, am 7. April 1924, wird bei Kafka, dessen Gesundheit sich Schritt für Schritt verschlechtert hat, eine zusätzliche Kehlkopftuberkulose diagnostiziert, die sich bereits in den Rachenraum ausgedehnt hat. Die Therapie wird einzig auf Schmerzlinderung durch Pantopon und Morphium abgestellt, da sich eine chirurgische Entfernung der Geschwüre nach dem medizinischen Standard der Zeit verbietet. Am Mittag des 3. Juni 1924 stirbt Franz Kafka. Noch am Tag vor seinem Tod korrigiert er mit dem Bleistift in der Hand die ersten Seiten des Hungerkünstler-Bandes, dessen Fahnen aus Berlin eingetroffen sind. Die schriftlich fixierte Selbstbeobachtung kann das Sterben nicht bannen, aber die Furcht, durch den Akt der Niederschrift nur ein imaginäres, un67 KATB, S. 916. 68 F. Kafka: Briefe 1902 – 1924, S. 382.
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verbindliches Spiel mit dem Tod und den Geistern zu inszenieren, ist vorüber. Von dieser Angst kündet noch der letzte uns erhaltene Tagebucheintrag Kafkas. In ihm unternimmt Kafka eine abschließende Selbstbeobachtung, eine Doppelreflexion über das Ich und das Schreiben im Medium der Schrift. In der Eintragung löst Kafka noch einmal prägnant jenes in den frühen Tagebüchern gehegte Missverständnis auf, durch sprachliche Selbstbespiegelung zur Selbstbefreiung gelangen zu können. Was bleibt, ist eine Hassliebe gegenüber schriftlich fixierter Selbstbeobachtung, eine Ambivalenz von Erkenntnis und gesteigerter Verwirrung, und schließlich, ein Faden nicht rationalisierbarer Hoffnung; Dinge, die Kafka bis zu seinem Tod mit dem Tagebuchschreiben verband: »Immer ängstlicher im Niederschreiben. Es ist begreiflich. Jedes Wort, gewendet in der Hand der Geister – dieser Schwung der Hand ist ihre charakteristische Bewegung – wird zum Spieß, gekehrt gegen den Sprecher. Eine Bemerkung wie diese ganz besonders. Und so ins Unendliche. Der Trost wäre nur: es geschieht, ob du willst oder nicht. Und was du willst, hilft nur unmerklich wenig. Mehr als Trost ist: Auch du hast Waffen.«69
Literatur Alt, Peter-André: Der ewige Sohn, München: Beck 2005. Anz, Thomas: »Identifikation und Abscheu. Kafka liest Kierkegaard«, in: Manfred Engel/Dieter Lamping (Hg.), Franz Kafka und die Weltliteratur, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, S. 83-92. Benjamin, Walter: »Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages«, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. II.2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977. Binder, Hartmut: Kafka in Paris. Historische Spaziergänge mit alten Photographien, München: Langen/Müller 1999. Binder, Hartmut: »Kafka und die Psychoanalyse«, in: ders., Motiv und Gestaltung bei Franz Kafka, Bonn: Bouvier 1987, S. 92-115. Bloom, Harold: The western canon. The book and the school of ages, New York: Harcourt Brace 1994. Derrida, Jacques: Grammatologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. Ellrich, Lutz: »Diesseits der Scham. Notizen zu Spiel und Kampf bei Plessner und Kafka«, in: Claudia Liebrand/Franziska Schößler (Hg.), Textverkehr. Kafka und die Tradition, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 243-272. 69 KATB, S. 926.
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MISSVERSTÄNDNISSE DER SELBSTBEOBACHTUNG
Guntermann, Georg: Vom Fremdwerden der Dinge beim Schreiben. Kafkas Tagebücher als literarische Physiognomie des Autors, Tübingen: Niemeyer 1991. Kafka, Franz: »Briefe 1902-1924«, in: ders., Gesammelte Werke, hg. von Max Brod, New York: Fischer 1967. Kafka, Franz: »Briefe 1913-1914«, in: ders., Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, hg. von Jürgen Born u. a., Frankfurt am Main: Fischer 1999. Kafka, Franz: »Briefe an Felice«, in: ders., Gesammelte Werke, hg. von Max Brod, New York: Fischer 1967. Kafka, Franz: »Der Proceß«, in: ders., Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, hg. von Jürgen Born u. a., Frankfurt am Main: Fischer 1993. Kafka, Franz: »Nachgelassene Schriften und Fragmente II«, in: ders., Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, hg. von Jürgen Born u. a., Frankfurt/Main: Fischer 1992. Kafka, Franz: »Tagebücher«, in: ders., Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, hg. von Jürgen Born u. a., Frankfurt am Main: Fischer 1990. Keller, Gottfried: Sämtliche Werke, hg. von Carl Helbling, Bern: Benteli 1947, Bd. 21. Lange, Wolfgang: »Über Kafkas Kierkegaard-Lektüre«, in: DVjS 60 (1986), S. 286-308. Menninghaus, Winfried: »Der Verschollene oder die Trajektorie männlicher Unschuld im Feld ›widerlicher‹ weiblicher Praktiken«, in: ders., Ekel. Theorie einer starken Empfindung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 378-392. Neumann, Gerhard: »Eine höhere Art der Beobachtung. Wahrnehmung und Medialität in Kafkas Tagebüchern«, in: Beatrice Sandberg/Jakob Lothe (Hg.), Franz Kafka. Eine ethische und ästhetische Rechtfertigung, Freiburg: Rombach 2002, S. 33-59. Rott, Hans: »Meinungsverschiedenheiten und Missverständnisse« (in diesem Band), S. 61-96. Wittgenstein, Ludwig: The Big Typescript: TS 213, hg. von Grant Luckhardt/Maximilian Aue, Oxford: Blackwell 2005. Zischler, Hanns: Kafka geht ins Kino, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996.
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M EINUNGSVERSCHIEDENHEITEN UND M ISSVERSTÄNDNISSE HANS ROTT
Einleitung: Ignoranz, Meinungsverschiedenheiten und Missverständnisse Wie sind Meinungsverschiedenheiten und Missverständnisse begrifflich gegenüber dem Nichtwissen zu positionieren? Ein Missverständnis ist der Prozess oder das Resultat eines Prozesses, in dem eine Person zu verstehen oder interpretieren versucht, was eine andere Person sagt oder schreibt.1 Im Gegensatz zu gelungenen Interpretationsprozessen besteht das Ergebnis eines Missverständnisses bzw. das Missverständnis selbst im Nichtwissen dessen, was die andere Person meint. Im Sprachgebrauch der beiden Personen gibt es Bedeutungsverschiedenheiten, die unerkannt bleiben. Missverständnisse sind, solange sie bestehen, charakteristischerweise unbewusst: Man wähnt zu wissen, was die andere meint, obwohl man in Wirklichkeit diesbezüglich ignorant ist.2 Meinungsverschiedenheiten hingegen sind den Beteiligten immer sehr bewusst. Was ist es aber, das bei Meinungsverschiedenheiten verschieden ist? Ich werde mich im Folgenden auf solche Meinungen beschränken, deren Gegenstand frei von subjektiven, wertenden oder normativen Elementen ist. Bei Meinungen der letzteren Art kann man Diskrepanzen unaufgelöst stehen lassen, ohne unvernünftig zu sein; in sol1
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Für die Zwecke dieses Beitrags soll »interpretieren« einfach »zu verstehen versuchen« heißen, und ich beschränke mich auf das Verstehen oder Interpretieren sprachlicher (mündlicher oder schriftlicher) Äußerungen. In diesem Beitrag soll »Ignoranz« stets als »Nichtwissen« verstanden werden. Ich werde nichts sagen über Ignoranz als die generelle Veranlagung von (manchen) Menschen, nichts wissen zu wollen und sozusagen keinerlei Verhältnis zum Wissen zu haben. Mein Beitrag hat nicht Ignoranz als Disposition zum Gegenstand, sondern Ignoranz im episodischen Sinne, und das soll heißen: partikuläre Vorkommnisse von Nichtwissen, dass etwas der Fall ist.
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chen Dingen kann man eben verschiedener Ansicht sein. Es soll in diesem Beitrag also um Meinungen gehen wie »Ich meine, dass Franz Maria am letzten Dienstag besucht hat.« Dass Franz Maria am letzten Dienstag besucht hat, ist (wenn der Bezug von »Franz«, »Maria« und »letzter Dienstag« durch den Kontext fixiert ist) ein objektiver Sachverhalt, der in der wirklichen Welt entweder besteht oder nicht, bezüglich dessen man also objektiv entweder richtig oder falsch liegen kann. Mit »Meinungen« seien im Folgenden nicht nur besonders schwache Formen des Fürwahrhaltens bezeichnet. Meinungen im intendierten weiten Sinn können auch durch »Ich glaube, dass Franz Maria am letzten Dienstag besucht hat« oder durch »Ich bin überzeugt, dass Franz Maria am letzten Dienstag besucht hat« beschrieben werden. Statt von Meinungsverschiedenheit könnte man also auch von der Verschiedenheit im Glauben oder im Überzeugtsein reden. Wichtig ist nur, dass der eine Gesprächspartner einen Satz (in mehr oder weniger hohem Grade) für wahr hält, den die andere Gesprächspartnerin als falsch ablehnt. In wissenschaftlichen Kontexten würde man dies als das Vertreten von konfligierenden Theorien bezeichnen.3 Was haben derartige Meinungsverschiedenheiten aber mit Ignoranz zu tun? Nun, in den Augen des einen ist die andere, die dem einen widerspricht, ignorant. Sie weiß anscheinend nicht, was er zu wissen glaubt (etwa, dass Franz Maria am letzten Dienstag besucht hat). Es handelt sich also auch hier nicht um ein bewusstes, agnostisches Nichtwissen, sondern um die verschärfte Form des Nichtwissens, die auch auf der Metaebene fehlgeleitet ist, indem das eigene Nichtwissen verkannt und verleugnet wird. In Fällen von Missverständnis und Meinungsverschiedenheit bedeutet also Nichtwissen nicht nur Unwissenheit, sondern vermeintliches, »eingebildetes« Wissen.4 Die Situation bei Meinungsverschiedenheiten ist dabei durchaus symmetrisch. Nicht nur hält der eine die andere, sondern auch die andere hält den einen für ignorant. Aus der Perspektive der 3. Person lässt sich 3
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Eine weitere terminologische Unschärfe, die wir in Kauf nehmen wollen: Zwischen einzelnen Sätzen (als Beschreibungen einzelner Meinungen) und ganzen Theorien (als Mengen von Sätzen verstanden) wird im Folgenden nicht differenziert. Eine Meinungsverschiedenheit auf Theorienebene besteht dann, wenn die beiden Theorien je einen Satz enthalten, so dass dieses Satzpaar eine Meinungsverschiedenheit auf Satzebene darstellt, oder kürzer: wenn sich die Theorien logisch widersprechen. Vermeintliches Wissen ist kein Wissen. Der Fall des vermeintlichen Wissens zeigt, dass die Bedingung der »negativen Introspektion« als Axiom für die epistemische Logik verfehlt ist. Wenn jemand nicht weiß, dass A, dann weiß er eben nicht automatisch, dass er nicht weiß, dass A.
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nicht ohne weitere Information entscheiden, wer richtig liegt, man kann nur sagen, dass (höchstens/genau) eine der beiden widerstreitenden Meinungen wahr sein kann, dass also (mindestens/genau) einer der Beteiligten ignorant ist, und zwar im eben erwähnten, verschärften Sinne.
Missverständnisse versus Meinungsverschiedenheiten: Eine erste Annäherung Man kommt an den Wörtern »Meinungsverschiedenheit« und »Missverständnis« nicht vorbei, wenn man ein Buch über »Konfliktmanagement« aufschlägt. Dem Raum nach zu urteilen, den diese Thematik in Buchhandlungen und im Internet einnimmt, ist sie außerordentlich wichtig. Das verwundert nicht: Auseinandersetzungen gibt es in Partnerschaften, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, zwischen Kolleginnen und Kollegen, zwischen Staaten und zwischen Kulturen. Man sucht nach Mitteln gegen die Entstehung oder Eskalation von Konflikten auf allen Ebenen. Gelingt das nicht, drohen Scheidung, Konkurs, Krieg. Konfliktberatung wird von Psychologen, Kommunikationswissenschaftlern und Sozialpädagogen angeboten, in der Regel aber nicht von Philosophen. In den meisten Publikationen zum Konfliktmanagement wird zwischen Meinungsverschiedenheiten und Missverständnissen allerdings gar nicht unterschieden. Sie werden zusammengefasst und bilden häufig Glieder einer Kette mit weiteren verwandten Begriffen. In unmittelbarer Nachbarschaft werden »Auseinandersetzung«, »Differenz«, »Disput«, »Dissens«, »Kontroverse«, »Streitigkeit« usw. genannt. Oft wird in der Literatur zum Konfliktmanagement dies alles über einen Kamm geschoren. Das ist überraschend, denn intuitiv kann man verschiedener Meinung sein und einander doch perfekt verstehen,5 und umgekehrt kann man einander, so scheint es, missverstehen und dabei im Grunde genommen einer Meinung sein. Doch die genannte Literatur ist eher praktisch ausgerichtet, und ihr kommt es letztlich vor allem auf die zwischenmenschlichen Aspekte an, auf psychologische Befindlich- und so5
Eine echte Meinungsverschiedenheit setzt jedenfalls ein Verstehen in dem Sinne voraus, dass die Äußerungen eines Sprechers adäquat in die Sprache eines Hörers oder Interpreten übersetzbar sein müssen. Werden inkommensurable Sprachen benutzt, kann man verschiedene Meinungen gar nicht kommunizieren. Tritt dieses Problem nicht auf, kann man natürlich auch bei Vorliegen von Missverständnissen im Grunde verschiedener Meinung sein. Ich werde auf diesen Punkt zurückkommen.
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ziale Verträglichkeiten, die entstehen, weil Gefühle, Werte, Interessen und Normen im Spiel sind. Hierüber wird es in diesem Beitrag nicht gehen. Bezüglich Gefühlen, Werten, Interessen und Normen scheinen nämlich viele Menschen Meinungsverschiedenheiten als legitim anzuerkennen. Nicht aber in sog. »Sachverhaltskonflikten«6, in denen es um divergierende Aussagen mit objektivem Wahrheitsanspruch geht, womit sich der vorliegende Beitrag beschäftigen soll. 7 In ganz seltenen Fällen wird aber auch von Konfliktberatern eine Trennung von Meinungsverschiedenheiten und Missverständnissen empfohlen: »Becker und Hugo-Becker8 versuchen zwischen Missverständnis und Meinungsverschiedenheit zu differenzieren und gehen davon aus, dass Missverständnisse einfacher zu klären sind als Meinungsverschiedenheiten.«9 »Wir müssen zwischen einem Missverständnis und einer Meinungsverschiedenheit unterscheiden. Ein Missverständnis kann durch Fragen geklärt werden.« 10 6
Dies ist die übliche deutsche Übersetzung der »data conflicts« in der Klassifikation von Konflikten nach Moore (vgl. Christopher W. Moore: The Mediation Process. Practical Strategies for Resolving Conflict, San Francisco: Jossey-Bass 1986). 7 Unsere Diskussion wird also Aussagen über ethische oder ästhetische Angelegenheiten vernachlässigen, unabhängig von der Frage, ob diesen ein objektiver Wahrheitswert zukommen kann. Dadurch möchte mich von dem seit einigen Jahren prominent gewordenen Thema des »faultless disagreement« (vgl. Max Kölbel: »Faultless Disagreement«, in: Proceedings of the Aristotelian Society 104 (2003), S. 53-73) abgrenzen. Damit sind Fälle »legitimer« Meinungsverschiedenheiten gemeint in dem Sinne, dass zwei Sprecher derselben Sprache widersprüchliche Aussagen machen, ohne dass einer von ihnen einen Irrtum begeht. Neben den bereits genannten Gründen für solcherart untadelige Uneinigkeiten entstehen diese außerdem oft aufgrund von vagen Prädikaten, die von verschiedenen Sprechern derselben Sprache in Anwendung auf ein bestimmtes Objekt verschieden präzisiert werden dürfen. Auch dieser Fall soll vernachlässigt werden. 8 Vgl. Annegret Hugo-Becker/Henning Becker: Psychologisches Konfliktmanagement. Menschenkenntnis, Konfliktfähigkeit, Kooperation, München: dtv, 2. Aufl. 1996. 9 Daniela Molzbichler: Kulturen in Konflikt?, Dissertation, Universität Salzburg 2004. Zitat entnommen von http://www.alois-mock.at/download/ Diss_Molzbichler.pdf. 10 Susanne Jalka: Konstruktiv Streiten, das Einmaleins der Konfliktintelligenz, Frankfurt am Main: Eichborn Verlag 2001. Zitat entnommen von http://www.konfliktkultur.at/streiten.htm.
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»In seinem Buch When Talking makes Things Worse zeigt David Stiebel (1997)11 sehr eindrucksvoll, dass man zwischen ›Missverständnissen‹ und ›Meinungsverschiedenheiten‹ sorgfältig differenzieren sollte. Missverständnisse lassen sich durch eine Verbesserung der Kommunikation bearbeiten beziehungsweise beseitigen.«12
Missverständnisse wären demnach durch Reden aufzulösen, Meinungsverschiedenheiten nicht. Es scheint, als ob die begriffliche Unterscheidung zwischen »Meinungsverschiedenheiten« und »Missverständnissen« eine ist, die – pragmatistisch gesprochen – auch einen Unterschied macht.13 Jedoch wird diese Diagnose in der genannten Literatur leider nicht untermauert.14 Vielleicht darf man sich von solcherart Literatur ohnehin keine Aufschlüsse über eine genuin philosophische Fragestellung erwarten. Doch gibt es keinen Grund zum akademischen Hochmut. Erstens nämlich finden wir bei einer Person hoher philosophischer Dignität genau dieselbe Diagnose.15 Im Big Typescript aus dem Jahre 1933 schrieb Wittgenstein: 11 Vgl. David Stiebel: When Talking Makes Things Worse! Resolving Problems When Communication Fails, Dallas: Whitehall and Nolton 1997. 12 Astrid Schreyögg: Coaching von Doppelspitzen: Anleitung für den Coach, Frankfurt am Main: Campus 2005. 13 Vgl. William James: Pragmatism. A New Name for Some Old Ways of Thinking, New York: Longman Green and Co. 1907. Zitiert nach F. Bowers/I. K. Skrupskelis (Hg.), Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1975, S. 30: »There can be no difference anywhere that doesn’t make a difference elsewhere – no difference in abstract truth that doesn’t express itself in a difference in concrete fact and in conduct consequent upon that fact, imposed on somebody, somehow, somewhere and somewhen.« 14 Stützt der Wortgebrauch in der Alltagssprache einen Unterschied? Sowohl Missverständnisse als auch Meinungsverschiedenheiten kann man klären. Doch gibt es bei der Wahl der Verben auch systematische Unterschiede. Während man Missverständnisse ausräumt oder beseitigt, werden Meinungsverschiedenheiten beigelegt. 15 Dass zwischen »Missverständnis« und »Meinungsverschiedenheit« unterschieden werden müsse, wurde auch in zwei berühmten Aufsätzen aus den 1970er Jahren eingefordert. Davidson unterscheidet (zumindest heuristisch) Unterschiede im begrifflichen Schema (differences in conceptual scheme) von Unterschieden im Glauben (differences in belief) (vgl. Donald Davidson: »On the Very Idea of a Conceptual Scheme«, in: Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association 47 (1974), S. 5-20. Zitiert nach dem Wiederabdruck in Donald Davidson, Inquiries into Truth and Interpretation, Oxford: Oxford University Press 1984, S. 183-198, hier S. 197) und Dummett unterscheidet Uneinigkeiten, die von einem Unterschied in der Interpretation stammen (disagreements stemming from diffe-
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»Es fragt sich [nun]: Kann sich ein Missverständnis darin äußern, dass, was der Eine bejaht, der Andere verneint? Nein, denn dies ist eine Meinungsverschiedenheit und kann als solche aufrecht erhalten werden. Bis wir annehmen, der Andere habe Recht…. … Missverständnis nenne ich das, was durch eine Erklärung zu beseitigen ist. Die Erklärung der Bedeutung eines Wortes schließt Missverständnisse aus.«16
Zweitens aber ist die Situation in der Philosophie nicht klarer als in der eben angesprochenen Literatur. Viele Philosophen würden vielleicht erwarten, dass das Problem der Unterscheidung von Meinungsverschiedenheiten und Missverständnissen seit Quines berühmtem Aufsatz »Two Dogmas of Empiricism«17 obsolet sei. Denn Meinungsverschiedenheiten sind Uneinigkeiten bezüglich der Fakten, Missverständnisse sind Uneinigkeiten bezüglich der Sprache. Und hat uns Quine nicht gezeigt, dass es keine prinzipielle Trennung zwischen einer faktischen »Komponente« und einer sprachlichen »Komponente« von Sätzen geben kann? Wie soll nach der Anerkennung der Quineschen Einsichten das Begriffspaar »Meinungsverschiedenheit/Missverständnis« also noch auseinander gehalten werden können? Hilary Putnam hat das, wohl mit einem Schuss Übertreibung, so formuliert:
rence of interpretation), von substantiellen Uneinigkeiten/Uneinigkeiten über die Tatsachen (disagreements of substance/disagreements about the facts) (vgl. Michael Dummett: »What is a Theory of Meaning?«, in S. Guttenplan (Hg.), Mind and Language, Oxford: Clarendon Press 1975, S. 97138. Zitiert nach dem Wiederabdruck in Michael Dummett, The Seas of Language, Clarendon Press: Oxford 1993, S. 1-33, hier S. 18). 16 Ludwig Wittgenstein: The Big Typescript, Wiener Ausgabe, Bd. 11 (= TS 213), hg. v. Michael Nedo, Wien: Springer-Verlag 2000, S. 36f. Diese Passage ist nicht besonders durchsichtig. Wittgenstein betrachtet Fälle des »miteinander uneins sein«, die dann entstehen, wenn eine Person bekräftigt, was die andere Person verneint. Was Wittgenstein zu sagen scheint, ist, dass sogar anscheinend klare Fälle des Miteinander-uneins-Seins als harmlose Fälle des Aneinander-Vorbeiredens interpretiert werden können, wenn die erste Person als Heuristik der Konversation annimmt, dass die andere Person Recht hat. Diese nachsichtige Annahme, dass das Gesagte wahr ist, scheint nach Wittgenstein »echten« Unstimmigkeiten ihren Stachel nehmen und sie in bloß sprachliche Differenzen verwandeln zu können. 17 Vgl. Willard V. O. Quine: »Two Dogmas of Empiricism«, in: Philosophical Review 60 (1951), S. 20-43.
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»Wenn Quine einen entscheidenden Beitrag zur Philosophie geleistet hat, dann ist es die Erkenntnis, dass sich Bedeutungsänderungen und Theorieänderungen nicht scharf trennen lassen. Ich glaube zwar nicht wie Quine, dass sich überhaupt nicht definieren lasse, was eine Bedeutungsänderung ist; doch folgt daraus keineswegs, dass die Dichotomie ›es hat sich entweder etwas an der Bedeutung oder etwas an der Theorie geändert‹ haltbar wäre.«18
Es gibt also bedeutende Philosophen, die unsere Frage schon als gegenstandslos ansahen. Wie sich herausgestellt hat, ist sie aber nach wie vor offen. Dem entspricht die naive, aber in uns Sprechern fest verwurzelte Intuition, dass ein fundamentaler Unterschied besteht zwischen echten, substantiellen und bloß verbalen, terminologischen Differenzen oder Uneinigkeiten. Aber wenn es ihn gibt, worin genau besteht dieser Unterschied? Und wenn es ihn am Ende doch nicht gibt, wie können wir uns diese fundamentale Intuition dann erklären?
Vorklärungen: Terminologie und erste Thesen Sowohl Meinungsverschiedenheiten als auch Missverständnisse werden von sprachlichen Äußerungen hervorgerufen. Beschränken wir uns der Einfachheit halber auf den Zweipersonenfall. Wenn die beiden betroffenen Sprecher eine Sprache teilen, dann ist die Situation diese: Der eine behauptet A, die zweite bestreitet A, d. h. sie behauptet die Negation nicht-A. Oberflächlich-syntaktisch betrachtet, stehen die Aussagen der beiden Personen im Widerspruch zueinander. Semantisch ist die Sachlage aber nicht eindeutig. Man ist zunächst geneigt, den Widerspruch für einen klaren Fall von Meinungsverschiedenheit zu halten, denn schließlich sollten Sprecher derselben Sprache ihren gemeinsamen Vokabeln nicht verschiedene Bedeutungen zuordnen. Aber oft genug bereinigen zwei Personen im Laufe des Gesprächs die Angelegenheit auf eine solche Weise, dass sie sich schließlich einig sind, die (in A vorkommenden) Wörter nur auf verschiedene Weisen benutzt zu haben. Beide Partner des Gesprächs stimmen dann darin überein, dass die ursprüngliche Diskrepanz nur ein Unterschied in der façon de parler (in der Redeweise) war 18 Hilary Putnam: »The Meaning of ›Meaning‹«, in: ders., Mind, Language and Reality, Philosophical Papers, Vol. 2, Cambridge: Cambridge University Press 1975, S. 215-271. Zitiert nach Hilary Putnam, Die Bedeutung von »Bedeutung«, 2. Auflage, Frankfurt am Main: Klostermann 1990, S. 76.
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und sie sich missverstanden hatten. Voraussetzung für dieses Verfahren ist die kooperative Annahme, der oder die andere sage nichts Falsches (ob absichtlich oder unabsichtlich, kann dahingestellt bleiben).19 Wir benötigen für unsere Terminologie einen Oberbegriff zu »Meinungsverschiedenheit« und »Missverständnis«. Ich werde die als Ausgangssituation beschriebene, oberflächlich-syntaktische Art von Widerspruch Unstimmigkeit oder Uneinigkeit nennen (auch Diskrepanz, Differenz oder Divergenz wären geeignete Begriffe). Es ist wichtig zu bemerken, dass eine Unstimmigkeit voraussetzt, dass die Antagonisten über dieselbe Sprache verfügen. Üblicherweise stellt eine Sprache eine Negationspartikel wie »nicht« oder »¬« (das logische non) zur Verfügung, um Unstimmigkeiten direkt zum Ausdruck bringen zu können. Sobald wir verschiedene Sprachen feststellen oder unterstellen, ist die Kommunikationssituation problematisch. Wenn sich die Gesprächspartner der evtl. partiellen, unauffälligen Verschiedenheit ihrer Sprachen nicht bewusst sind, dann ist die Gefahr des Aneinander-Vorbeiredens groß. Gegeben diesen Oberbegriff, können wir nun definieren: Eine Meinungsverschiedenheit ist eine echte oder substantielle, ein Missverständnis hingegen eine bloß verbale oder terminologische Unstimmigkeit oder Differenz.20 Zu meinen Grundannahmen gehört, dass das, was primär gegeben ist, konkrete sprachliche, d. h. mündliche oder schriftliche Äußerungen, konkret vorliegende Texte sind. Sprachen sind Konstrukte, die aus Äußerungen, Texten oder allgemeiner gesprochen: aus Sprachpraxen abstrahiert werden. Durch Kodifizierung können die Regelmäßigkeiten einer Sprache zu Regeln werden, die eine normative Kraft entfalten. Ich möchte dafür plädieren, die Frage der Gleichheit der Sprachen zweier Sprecher nicht als trivial anzusehen, sondern im Auge zu behalten, dass Äußerungen, die als Äußerungen auf Deutsch derselben Sprache angehören, als Äußerungen in Dialekten, Fachsprachen, subkulturellen Sprachen oder Idiolekten aber verschieden sein können. Ich werde also davon reden,
19 Vgl. oben Wittgensteins »Bis wir annehmen, der andere habe Recht …«. 20 Eine verbale Differenz heißt im Deutschen oft »Streit um Worte« (vgl. gr. »Logomachie«). In dieser Bezeichnung liegt jedoch eine Mehrdeutigkeit. Es kann sich um einen Streit (erster Stufe) handeln, der in verschiedenen Gebrauchsweisen der Wörter – und nicht in unterschiedlichen Meinungen oder Überzeugungen – seinen Grund hat. Es kann aber auch ein expliziter Streit (zweiter Stufe) über den rechten Gebrauch von Wörtern in einer bestimmten Sprache gemeint sein. Auch wenn Letzteres dem Terminus »Streit um Worte« besser entspräche, unser Thema ist ersteres.
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dass Texte primär gegeben sind und Sprachen diesen erst zugeordnet werden.21 Anders als bei Sprechern derselben Sprache ist die Situation bei Sprechern verschiedener Sprachen. Einerseits sind diese, wenn die Verschiedenheit anerkannt ist, darauf vorbereitet, allen möglichen Arten von Unterschiedlichkeiten beim anderen zu begegnen, und zwar in häufigerer und drastischerer Form als bei Sprechern der eigenen Sprache. Schließlich weisen verschiedene Sprachen ja auf verschiedene Kulturen, und verschiedene Kulturen weisen auf verschiedene Einstellungen, Überzeugungen und Wünsche hin. Deshalb erscheint die Wahrscheinlichkeit von Konflikten zwischen Fremden größer als zwischen Angehörigen derselben sprachlichen oder kulturellen Gemeinschaft. Dies ist Teil dessen, was uns das Fremde erst fremd macht. In Wirklichkeit ist die Situation aber komplizierter. Wenn zwei Personen (anerkanntermaßen) verschiedene Sprachen sprechen, dann müssen sie von einer Übersetzung Gebrauch machen, die die Äußerungen der einen in die Sprache der anderen Person abbildet. Die ganz direkte Art der Uneinigkeit zwischen zwei Sprechern derselben Sprache, die in der Negationspartikel dieser Sprache sozusagen auf den Punkt gebracht ist, kann gar nicht auftreten. Jede Meinungsverschiedenheit kann sich nur indirekt, vermittelt durch eine Übersetzung bemerkbar machen. Eine angemessene Übersetzung aber (so könnte man argumentieren) muss nicht wiedergeben, was der Sprecher anscheinend, oberflächlich betrachtet meint, sondern das, was er wirklich meint. Es ist gar nicht leicht zu sagen, wie bei dieser Methode fundamentale Meinungsverschiedenheiten entstehen können. Wie kann die Hörerin beim Übersetzen zu der Annahme oder zum Ergebnis gelangen, dass der Sprecher andere, diametral entgegengesetzte Überzeugungen über die Welt hat als sie?
21 Nicht alles ist Text, aber Text ist das, woran wir uns halten können. Hingegen leugnen so unterschiedliche Philosophen wie Davidson (vgl. Donald Davidson: »A Nice Derangement of Epitaphs«, in: Richard Grandy/Richard Warner (Hg.), Philosophical Grounds of Rationality, Oxford: Clarendon Press 1986, S. 157-174) und Chomsky (vgl. Noam Chomsky: Knowledge of Language: Its Nature, Origin, and Use, New York: Praeger 1986), dass die Annahme, es gebe so etwas wie konventionalisierte Sprachen einer Sprechergemeinschaft, philosophisch oder wissenschaftlich vernünftig ist. Nach ihnen existiert »das Deutsche« nicht, jedenfalls nicht in einem theoretisch fruchtbaren Sinne. Manche moderne Linguisten unterscheiden Ethnolekte, Funktiolekte, Genderlekte, Mediolekte, Regiolekte, Situolekte, Soziolekte usw. (vgl. Heinrich Löffler: Germanistische Soziolinguistik, 3. Aufl., Berlin: Schmidt 2005, Kapitel 5).
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Wir stellen diese Frage einstweilen zurück und halten eine weitere These fest: Die Art des Unterschieds zwischen Meinungsverschiedenheit und Missverständnis zeigt sich im Allgemeinen erst, wenn man Übersetzungen zwischen den betreffenden Sprechern betrachtet. Dies gilt auch dann, wenn man zunächst geneigt ist, eine Übersetzung für überflüssig zu halten. Denn die Annahme einer gemeinsamen Sprache ist nichts anderes als die spezielle Entscheidung für eine homophone Übersetzung. Bevor ich zur Ausarbeitung dieser These komme, sei eine relativierende Gegenthese vorgebracht, die Zweifel anmeldet, ob bei der Beurteilung von Unstimmigkeiten immer Übersetzungen ins Spiel kommen müssen. Was ist mit dem Fall, in dem beide beteiligten Parteien, nachdem sie über alle für den Streitpunkt relevanten Informationen verfügen, behaupten, dass sie nach ihrem eigenen Verständnis Recht behalten haben? Das heißt, wenn sich die wirkliche Welt als eine solche herausstellt, die gemäß der je eigenen idiolektalen Interpretation die Behauptungen beider Sprecher als wahr erweist? Kann es sich dann noch um eine Meinungsverschiedenheit handeln? Ich denke nicht. Hiermit ist tatsächlich eine Möglichkeit benannt, wie eine Diskrepanz ohne Zuhilfenahme einer Übersetzung als Missverständnis zu erkennen ist. Man muss sich allerdings klar machen, dass dies allein in dem »glücklichen« Falle möglich ist, in dem alle relevanten Informationen (a) verfügbar sind und (b) beiden Protagonisten Recht geben. Außerdem ist damit nur eine asymmetrische Auflösung möglich. Zwar kann das Vorliegen eines Missverständnisses nachgewiesen werden, nicht aber das Nichtvorliegen eines solchen, und damit das Vorliegen einer substantiellen Meinungsverschiedenheit. Diese wäre nur dann festzustellen, wenn es keine mögliche Welt gäbe, die beiden Sprechern Recht gibt. Die einzige ersichtliche Methode, sich einer solchen Nichtexistenz zu versichern, benötigt wieder Übersetzungen.22 Deshalb sind wir, trotz der soeben entdeckten partiellen Lö-
22 Entweder eine Übersetzung zwischen den beiden Sprachen oder eine Übersetzung in eine dritte, vermeintlich neutrale Sprache. – Man könnte auch versuchen, Meinungsverschiedenheit und Missverständnis unmittelbar auseinander zu halten aufgrund einer Supervenienz der strittigen Aussage A über »bodenständige« Aussagen p1,…,pn, d. h. einfache, fundamentale, eng an Wahrnehmung gekoppelte Sätze, über deren Bedeutung unproblematisch Einigung zu erzielen ist (auch über deren Wahrheitswert wäre unproblematisch Einigung zu erzielen, wenn ein gewisse Verifikationsanstrengung unternommen würde). Seien im Folgenden ĭ1 und ĭ2 zwei geeignete Supervenienzfunktionen, die die Abhängigkeit des Wahrheitswerts von A von den Sätzen p1,…,pn nach dem Sprachgebrauch der beiden Sprecher repräsentieren. Dies sei also die Situation: Sprecher 1 behauptet A , wobei für Sprecher 1 A = ĭ1(p1,…,pn);
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sungsmöglichkeit, letztlich wieder auf die Diskussion von Übersetzungen zurückverwiesen. Der weitere Plan dieses Beitrags ist wie folgt: Zuerst wenden wir uns der Frage zu, ob es unüberwindliche Grundsatzprobleme der Verständigung zwischen Sprechern sehr verschiedener Sprachen geben könnte, eine Frage, die unter Verweis auf zwei anthropologische Fallbeispiele verneint werden wird („Vorfragen zur Möglichkeit des Verstehens“). Dann stellen wir Vorüberlegungen zur Idee und zur Anzahl annehmbarer Übersetzungen an („Zwei grundsätzliche Constraints für Übersetzungen“), bevor wir ein künstliches Beispiel diskutieren, das illustrieren soll, wie die Unterscheidung zwischen Meinungsverschiedenheit und Missverständnis eine Unbestimmtheit erbt aus der bekannteren Unbestimmtheit der Übersetzung („Warum immer weitere Constraints die hartnäckige Unbestimmtheit der Übersetzung nicht beseitigen“). Im Abschnitt „Zwölf Thesen zum Verhältnis von Meinungsverschiedenheiten und Missverständnissen“ werden die Thesen aus den bis dahin erfolgten Überlegungen zusammengefasst. Schließlich nenne ich am Ende des Beitrags drei Problemfelder, die deutlich machen sollen, wie wichtig eine Theorie der Unstimmigkeiten für die Philosophie ist.
Sprecher 2 behauptet ¬A , wobei für Sprecher 2 A = ĭ2 (p1,…,pn). Eine Meinungsverschiedenheit (eine echte, substantielle Diskrepanz) zwischen den Sprechern liegt vor, wenn die Sprecher bzgl. des Wahrheitswerts von mindestens einem pi aus p1,…,pn nicht übereinstimmen. Denn dann gibt es keine (durch ±p1,…,±pn bestimmbare, wobei »±« die An- oder Abwesenheit des Negationszeichens »¬« andeutet) mögliche Welt, in der beide Sprecher nach ihrem je eigenen Sprachgebrauch »Recht behalten«. Dieser Fall muss gegeben sein, wenn der Sprachgebrauch der Sprecher identische Abhängigkeiten (ĭ1 = ĭ2) verwendet. Ein Missverständnis (eine »nur« verbale, terminologische Diskrepanz) liegt dagegen vor, wenn die Abhängigkeiten verschieden sind (ĭ1 ĭ2) und nach ihnen zumindest eine (durch ±p1,…,±pn bestimmbare) mögliche Welt existiert, in der beide Sprecher nach eigenem Sprachgebrauch bzgl. A »Recht behalten«. Zu beachten ist, dass Meinungsverschiedenheit und Missverständnis sich nach diesen Definitionen nicht ausschließen. Ein Anschauungsbeispiel für sowie eine Kritik an diesem Modell findet sich in: Hans Rott: »Unstimmigkeiten: Pragmatistische Gedanken über Bedeutungs- und Meinungsverschiedenheiten«, in: André Fuhrmann/Erik Olsson (Hg.), Pragmatisch denken, Frankfurt: Ontos-Verlag 2004, S. 295-321, hier S. 303-306.
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Vorfragen zur Möglichkeit des Verstehens: Zwei anthropologische Indizien Zunächst wollen wir also plausibel machen, dass ein Verstehen zwischen Sprechern verschiedener Sprachen möglich ist. Besonders wenn wir es mit sehr disparaten Kulturen zu tun haben, sind zwei prinzipielle Barrieren denkbar. Erstens könnte es sein, dass die betreffenden Personen qua Sprecher verschiedener Sprachen so verschieden denken, dass eine Kommunikation von vornherein nicht gelingen kann. Von besonderem Interesse ist hier der Fall, in welchem die eine Sprache ausdrucksmächtiger erscheint als die andere. Zweitens könnte, selbst wenn Ausdrucksund Gedankenreichtum auf beiden Seiten als gleich anzunehmen sind, eine Verschiedenheit der Logiken, die die jeweiligen Gedanken miteinander verknüpfen, einer funktionierenden Kommunikation im Wege stehen. Da diese Vorfragen sich auf einer außerordentlich hohen Abstraktionsebene bewegen, möchte ich für beide Fragen empirische Evidenz betrachten. Wir beschränken uns im Folgenden auf einige Hinweise, die wir aus zwei Aufsehen erregenden Beispielen anthropologischer und linguistischer Forschung ziehen können. Zur Beantwortung der ersten Frage nach einer unhintergehbaren Formung des Denkens durch die Sprache ist der Fall der fehlenden kontrafaktischen Konditionalsätze im Chinesischen einschlägig. Alfred Bloom hat in seinem Buch The Linguistic Shaping of Thought23 empirische Evidenz angeführt, die zeigen soll, dass Chinesen Schwierigkeiten mit kontrafaktischem (und daher überhaupt mit abstrakt-theoretischem) Denken hätten, weil ihnen die sprachliche Konstruktionsform der kontrafaktischen Konditionalsätze abgehe. Wenn sich dieser Zusammenhang erhärten ließe, wäre das in der Tat ein sehr überzeugender Beleg für die sog. Sapir-Whorf-Hypothese. Ohne hier Einzelheiten geben zu können, scheint es mir jedoch fair zu berichten, dass diese These nach einer bewegten Diskussion in den 80er und 90er Jahren als empirisch unbegründet zurückgewiesen wurde.24 Selbst in voneinander weit entfernten Spra23 Vgl. Alfred H. Bloom: The Linguistic Shaping of Thought: A Study in the Impact of Language on Thinking in China and the West, Hillsdale, NJ: Erlbaum 1981. 24 Die wichtigsten Kritiken Blooms stammen wohl von Au (vgl. Terry Au: »Chinese and English Counterfactuals: The Sapir-Whorf Hypothesis Revisited«, in: Cognition 15 (1983), S. 155-187, und ders., »Counterfactuals: In Reply to Alfred Bloom«, in: Cognition 17 (1984), S. 289-302), Liu (vgl. Lisa G. Liu: »Reasoning Counterfactually in Chinese: Are There Any Obstacles?«, in: Cognition 21 (1985), S. 239-270), Takano (vgl. Yohtaro Ta-
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chen mit gravierenden grammatikalischen Unterschieden gelingt es, ähnliche und ähnlich komplexe Denkfiguren zu fassen und zu kommunizieren. Gehen wir also davon aus, dass die Sprachen anderer Völker dazu in der Lage sind, beliebig raffinierte Satzgefüge auszudrücken. Bei der Beantwortung der zweiten Frage wollen wir etwas mehr Mühe fürs Detail aufwenden. Die Frage, ob die Logik, auf der das Denken eines fremden Sprechers beruht, einer Übersetzung im Weg stehen könnte, bringt uns zu einer anderen Episode anthropologischer Forschung, die im Jahr 1937 mit Edward Evans-Pritchards berühmten Untersuchungen über die Azande, einen Stamm in Nord-Zentralafrika, ihren Ausgang nahm. Wie große Aufmerksamkeit der Philosophen die Forschungen Evans-Pritchards erregten, zeigt sich daran, dass sie Peter Winchs25 und Charles Taylors26 bekannte Arbeiten zur Möglichkeit kulturübergreifender Rationalitätsstandards anregten. Doch im Folgenden will ich mich auf die Diskussionen konzentrieren, die sich an David Bloors Kapitel über »Azande-Logik und westliche Wissenschaft« aus seinem Buch Knowledge and Social Imagery27 anschlossen. Gestützt auf seine Lektüre von Evans-Pritchard, behauptete Bloor, dass das Denken der Azande einer Logik gehorche, die sich von der westlichen Logik ganz fundamental unterscheide. Die Azande (im Jahre 1937) glaubten an Hexerei. Genauer gesagt glaubten sie an eine Hexensubstanz, welche sich von Eltern auf die Kinder gleichen Geschlechts, also von Vätern auf Söhne und von Müttern auf Töchter, vererbe. Eine andere Möglichkeit, sich die Hexensubstanz zuzuziehen, gibt es nicht. Während die Azande davon ausgingen, dass jeder Clan einige Hexen – beiderlei Geschlechts – hatte, waren sie davon überzeugt, dass die Clans nicht nur aus Hexen bestünden. Zusammen genommen scheinen diese Überzeugungen jedoch den Standards unserer westlichen Logik zu widersprechen. So schrieb Evans-Pritchard:
kano: »Methodological problems in cross-cultural studies of linguistic relativity«, in: Cognition 31 (1989), S. 141-162) und Lardiere (vgl. Donna Lardiere: »On the Linguistic Shaping of Thought: Another Response to Alfred Bloom«, in: Language in Society 21 (1992), S. 231-251). 25 Vgl. Peter Winch: »Understanding a Primitive Society«, in: American Philosophical Quarterly 1 (1964), S. 307-324. 26 Vgl. Charles Taylor: »Rationality«, in M. Hollis and S. Lukes (Hg.), Rationality and Relativism, Cambridge, Mass.: MIT Press 1982, S. 87-105. 27 Vgl. David Bloor: Knowledge and Social Imagery, London: Routledge and Kegan Paul 1976.
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»Unserem Denken erscheint es offensichtlich, dass wenn man einen Mann als Hexe erkannt hat, auch der ganze Clan damit aus Hexen bestehen muss, denn ein Azande-Clan ist eine Gruppe von Personen, die miteinander biologisch über die männliche Linie verwandt sind. Die Azande verstehen den Sinn dieses Arguments, aber sie akzeptieren nicht seine Konklusionen, und es würde den ganzen Begriff der Hexerei in einen Widerspruch verwickeln, wenn sie dies täten.«28
Während Winch und Taylor die Rationalität primitiver Kulturen in einer breiten Perspektive angesprochen hatten,29 entspann sich um 1990 über genau diese eine scheinbare Widersprüchlichkeit im Denken der Azande eine sehr intensive Diskussion, die sich auf nur wenige Seiten aus EvansPritchards Buch stützte.30 Der Disput kam zum Stillstand, nachdem Timm Triplett auf überzeugende Weise diagnostiziert hatte, dass »es keine Evidenz gibt, dass die logischen Denkprozesse der Azande sich von unseren unterscheiden«31. Wenn man die Aufmerksamkeit der Azande durch kritisches Nachfragen auf das Problem lenkt, so suchen und finden sie Auswege, den drohenden Widerspruch zu vermeiden. Die hierbei wichtigste Vorstellung ist, dass nicht die Eigenschaft, Hexe zu sein, vererbt wird, sondern nur eine Hexensubstanz im Bauch, die aber inaktiv
28 Edward E. Evans-Pritchard: Witchcraft, Oracles and Magic Among the Azande, Oxford: Clarendon Press 1937, S. 24 (Übersetzung HR). Ganz offenbar zählen hier nur Männer. Evans-Pritchard scheint mit dem von ihm studierten Volk gemeinsam zu haben, dass sich für ihn die Frage der Clanzugehörigkeit von Frauen und ihre Auswirkung auf die Clanzugehörigkeit der Kinder gar nicht stellt. Bei Berücksichtigung dieser Frage würde das Problem komplizierter. 29 Vgl. dazu auch Newton da Costa/Steven French: »Partial Structures and the Logic of Azande«, in: American Philosophical Quarterly 32 (1995), S. 325339. 30 Teilnehmer waren Triplett (vgl. Timm Triplett: »Azande Logic versus Western Logic?«, in: British Journal for the Philosophy of Science 44 (1988), S. 361-366, und ders.: »Is There Anthropological Evidence that Logic Is Culturally Relative? Remarks on Bloor, Jennings, and EvansPritchard«, in: British Journal for the Philosophy of Science 45 (1994), S. 749-760), Jennings (vgl. Richard C. Jennings: »Zande Logic and Western Logic«, in: British Journal for the Philosophy of Science 40 (1989), S. 275-285) und Keita (vgl. Lansana Keita: »Jennings and Zande Logic: A Note«, in: British Journal for the Philosophy of Science 40 (1993), S. 275-285), allesamt mit Bezug auf E. Evans-Pritchard: Witchcraft, Oracles and Magic Among the Azande, S. 23-25. 31 T. Triplett: Is There Anthropological Evidence that Logic Is Culturally Relative?, S. 760.
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(»kalt«) bleiben kann und das bei den meisten Clanmitgliedern auch bleibt.32 Was zeigen uns diese beiden vieldiskutierten anthropologischen Beispiele? Sie versorgen uns mit einer gewissen, natürlich nicht leichthin generalisierbaren empirischen Evidenz, dass Kommunikation quer über Kulturen nicht durch grundsätzliche Einschränkungen der Sprache oder Abweichungen der Logik behindert wird. Trotz beträchtlicher Zweifel zu Beginn und kritischer fachwissenschaftlicher Untersuchungen hat sich schließlich herausgestellt, dass kontrafaktische Konditionale sehr wohl auf »idiomatische« Weise ins Chinesische übersetzt werden können33 und dass die Azande Denkmuster erkennen lassen, die sehr nahe an unseren eigenen Mustern sind. Ganz gegen die ursprünglichen Intentionen von Bloom und Bloor legen die beiden Beispiele am Ende Zeugnis für die Übersetzbarkeitsthese ab. Natürlich bleiben zwischen den Azande von 1937 und den Europäern von 2007 große »Meinungsverschiedenheiten« bestehen, die durch keine Übersetzung zu überbrücken sind. Aber die Azande schienen zunächst nicht nur uns, sondern sogar sich selbst zu widersprechen. Diese besonders eklatante Unstimmigkeit stellte sich am Ende als bloßes Missverständnis heraus. Die entsprechende Neubewertung ist allerdings keine, die sich als Resultat eines »internen« Reinterpretationsprozesses der Azande-Äußerungen darstellen würde. Man musste nur Evans-Pritchards Bericht über die Azande genau genug lesen, um den scheinbaren Widerspruch aufzulösen. Mit einer Verspätung von 50 Jahren ist das geschehen, und so sollte die These einer fundamental abweichenden, parakonsistenten34 oder dreiwertigen35 Logik der Azande heute vom Tisch sein.
32 Eine logische Rekonstruktion des Arguments habe ich in »Disagreement and Misunderstanding Across Cultures« versucht (vgl. Hans Rott: »Disagreement and Misunderstanding Across Cultures«, in: Christian Kanzian/Edmund Runggaldier (Hg.), Cultures: Conflict, Analysis, Dialogue. Proceedings of the 29th International Ludwig Wittgenstein Symposium, Frankfurt: Ontos-Verlag 2007, S. 261-275, hier S. 274f.). 33 Vgl. T. Au, Chinese and English Counterfactuals, und ders., Counterfactuals. 34 Vgl. N. da Costa/S. French: Partial Structures and the Logic of Azande. 35 Vgl. David E. Cooper: »Alternative Logic in ›Primitive Thought‹«, in: Man (New Series) 10 (1975), S. 238-256; dagegen argumentiert Salmon (vgl. Merrilee H. Salmon: »Do Azande and Nuer Use a Non-standard Logic?«, in: Man (New Series) 13 (1978), S. 444-454).
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Zwei grundsätzliche Constraints für Übersetzungen Eine Übersetzung ist eine Funktion, welche die Sätze (oder Äußerungen) einer Sprache in die Sätze (bzw. Äußerungen) einer anderen Sprache abbildet. Das zentrale Ziel dabei ist, dass die Übersetzung bedeutungserhaltend sein soll. Aber die Erhaltung von Bedeutung ist keine Idee, mit der wir beginnen können, sondern eine, deren Sinn wir erst verdeutlichen müssen. Zunächst möchte ich für annehmbare Übersetzungen zwei grundsätzliche Beschränkungen (constraints) vorschlagen: 1. Wahrnehmungsadäquatheit. Eine Übersetzung sollte in basalen Wahrnehmungssituationen verankert sein. Man darf in der Regel davon ausgehen, dass ein bestimmtes Objekt zu einem bestimmten Zeitpunkt von verschiedenen anwesenden Personen auf ähnliche Art wahrgenommen (gesehen, gehört, gerochen, eventuell auch gefühlt oder geschmeckt) wird und dass ähnliche Wahrnehmungen von diesen Personen tendenziell unter dieselben oder ähnliche Begriffe gruppiert werden. Wenn auch begriffliche Grenzziehungen von verschiedenen Sprechern in gewissem Umfang unterschiedlich vorgenommen werden, so dürfen doch diejenigen Begriffe, die relativ eng mit Wahrnehmungen verbunden sind, nicht auf chaotische Weise von Sprecher zu Sprecher divergieren. Diese Forderung wird motiviert durch die Tatsache, dass Sprachlernen mit Beobachtungssätzen beginnt. 2. Homomorphie. Eine Übersetzung sollte so homomorph wie möglich sein; umständliche Übersetzungen sind zu vermeiden. Das heißt, die Übersetzung sollte die syntaktische Struktur des Quellsatzes im entsprechenden Satz der Zielsprache nachzubilden versuchen. Diese Forderung ist im Allgemeinen natürlich nicht perfekt zu erfüllen, doch stellt sie ein Ideal dar, das man verfolgen sollte.36 Homophone Übersetzungen gehen noch weiter als homomorphe Übersetzungen: Sie sind identische Abbildungen, und es
36 Eine perfekte Übereinstimmung in der syntaktischen Struktur wird höchstens erreicht werden, wenn die Gegenstände durch die Lexika der betreffenden Sprachen auf ähnliche Art und Weise kategorisiert werden. Zum Beispiel ist der Satz »Dieses Ding hat die Farbe F« in einer Sprache, die nur drei Farbbegriffe hat, bestenfalls übersetzbar in eine Disjunktion von Sätzen einer Sprache mit sieben Farbbegriffen. So impliziert lexikalische Unterschiedlichkeit syntaktische Unterschiedlichkeit. Homomorphe Übersetzungen sind nur möglich zwischen Sprachen mit Vokabularen, die in diesem Sinne sehr ähnlich sind.
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ist sehr nahe liegend, wenn auch nicht zwingend, Quell- und Zielsprache homomorpher Übersetzungen als identisch anzunehmen. Homophone Übersetzungen stellen sehr spezielle Grenzfälle von Übersetzung dar, die den Eindruck erwecken, als wäre gar nicht übersetzt worden. Diese beiden Bedingungen, so vage sie sein mögen, schränken den Bereich annehmbarer Übersetzungen schon deutlich ein. Für wie stark aber sollen wir diese Beschränkungen halten? Es ist unwahrscheinlich, dass sie die Anzahl der annehmbaren Übersetzungen eines bestimmten Korpus von Äußerungen auf genau eine beschränken. Zwei andere Optionen, die auf den ersten Blick beide unerwünscht erscheinen, sind sehr viel plausibler. Die Beschränkungen könnten erstens so restriktiv sein, dass es für realistische Übersetzungsaufgaben keine Übersetzung gibt, die sowohl der Wahrnehmungsadäquatheit als auch der Homomorphie-Bedingung genügt. Die Äußerungen von Sprechern verschiedener Sprachen wären dann inkommensurabel, es gäbe kein gemeinsames Maß, das ihre Inhalte zu vergleichen erlaubte. Keine Übersetzung kann dann die Kluft in der Weltanschauung, die in verschiedenen Sprachen zum Ausdruck kommt, überbrücken. Dieses Szenario, das die Möglichkeit erfolgreicher Kommunikation in Frage stellen würde, wollen wir das Kuhnsche Szenario nennen. Im Gegensatz dazu besteht das andere Szenario darin, dass es bei allen realistischen Übersetzungsaufgaben ein Überangebot an annehmbaren Übersetzungen gibt. Viele Übersetzungsschemata erfüllen die beiden Bedingungen, und zwar in einem noch zu klärenden Sinne gleichermaßen gut. Dann ist zu fragen, ob es noch sinnvoll ist, von »der richtigen Übersetzung« zu sprechen, oder ob eine wesentliche Unbestimmtheit bleibt. Letzteres ist, natürlich, das Quinesche Szenario. Nun erscheint das Quinesche Szenario viel plausibler als das Kuhnsche. Die schiere Tatsache, dass Tausende von Übersetzungen fiktionaler und nichtfiktionaler Texte produziert worden sind, mit denen wir mehr oder weniger zufrieden sind, ist ein empirisches Indiz dafür, dass die Aufgabe der Übersetzung zu bewältigen ist. Natürlich verliert jede Übersetzung einige charakteristische Merkmale des Originals.37 Dies entmu37 Robert Frosts bekannte Sentenz »Poetry is what is lost in translation. It is also what is lost in interpretation.« (zitiert nach Louis Untermeyer: Robert Frost. A Backward Look, Washington: Library of Congress 1964, S. 18) scheint mir einen richtigen Kern zu haben. Deutlich über das Ziel hinaus schießt hingegen Friedrich Schlegel: »Was in gewöhnlichen guten oder vortrefflichen Übersetzungen verloren geht, ist grade das Beste.« (Friedrich Schlegel: »Die Lyceums-Fragmente« (1797), in: Hans Eichner (Hg.), Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, 1. Abteilung: Kritische Neuausgabe,
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tigt uns aber nicht bei der Aufgabe, gute Übersetzungen zu verfertigen. Wir müssen vielmehr sehen, welche weiteren Forderungen wir an eine gute Übersetzung stellen und inwieweit diese simultan erfüllbar sind.
Warum immer weitere Constraints die hartnäckige Unbestimmtheit der Übersetzung nicht beseitigen Die Sätze, die ein fremder Sprecher äußert oder bejaht, werden durch eine Übersetzung auf Sätze der eigenen Sprache abgebildet. Nach Quine gibt es vielerlei (nicht miteinander äquivalente) Abbildungen, die alle gleichermaßen adäquat sind. Es liegt nahe, die Vielzahl an Übersetzungen durch weitere Constraints einzuschränken. Wir betrachten vier wichtige Vollkommenheits- oder Rationalitätsannahmen, die im Prozess der Interpretation an die Äußerungen anderer Sprecher herangetragen werden. In diesem Abschnitt möchte ich allerdings eine Erklärung anbieten, warum die oben benannte Unbestimmtheit auch nach Einführung weiterer Kriterien nicht reduziert wird. Die folgenden Kriterien sind semantische Desiderata, die bei der Aufgabe der Übersetzung eine wichtige Rolle spielen: (i) Wahrheit (in den Augen des Interpreten) (ii) Konsistenz (logische Kohärenz im ersten Sinne) (iii) Abgeschlossenheit (logische Kohärenz im zweiten Sinne) (iv) Informativität (logische Stärke) Die Wahrheitsbedingung (i) ist gewissermaßen eine Erweiterung der Wahrnehmungsadäquatheit über den Bereich des direkt Wahrnehmbaren hinaus. Nicht nur die Sinne, sondern die ganze kognitive Ausstattung des Gesprächspartners wird als so gut funktionierend angenommen, dass dieser im Großen und Ganzen die Wahrheit der Überzeugungen garantiert. Und Wahrheit heißt hier Wahrheit in den Augen des Interpretierenden, so dass ein Maximieren von Wahrheit in diesem Sinne ein Minimieren von Meinungsverschiedenheiten bedeutet. Mit ähnlichen Gründen kann man auch die Konsistenzbedingung (ii) rechtfertigen. Die Annahme, das vom Sprecher Geglaubte und Geäußerte sei konsistent, ist ebenfalls eine Art Rationalitätsbedingung. Bedingung (iv) unterstellt, dass die Äußerungen des Sprechers (und damit auch seine Überzeugungen) nicht trivial, sondern inhaltsreich sind. Die Bedingung (iii) der logischen Abgeschlossen-
2. Band: Charakteristiken und Kritiken 1, München: Schöningh 1967, S. 156, § 73).
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heit kann sich allerdings nicht direkt auf die Äußerungen eines Sprechers beziehen; kein Sprecher würde auch nur beginnen, zu seinen Aussagen alle logischen Konsequenzen derselben herzusagen. Bedingung (iii) kann sich also nur auf die Überzeugungen eines Sprechers beziehen, die hinter der (niemals logisch abgeschlossenen) Menge seiner Äußerungen stehen. Deshalb erfordert diese Bedingung eine etwas weiter ausholende Erklärung. Das Unternehmen, die Äußerungen eines Fremden zu interpretieren, wird durch den landläufigen Begriff der Übersetzung nicht ausgeschöpft. Nach (oder eben: bei) der Übersetzung einer Anzahl von Sätzen des Sprechers muss der Übersetzende sich (noch) entschließen, welche Überzeugungen er dem Sprecher zuschreiben möchte. Denn dessen Äußerungen werden als Ausdruck dessen aufgefasst, was er glaubt.38 Es ist hier eine relevante Frage, ob der Übersetzer annehmen sollte, der Sprecher sei in dem Sinne logisch kompetent, dass er sich der inhaltlichen Implikation dessen, was er sagt, bewusst ist. Überblickt der Sprecher, auf welche Gehalte ihn seine Äußerungen verpflichten?39 Die Rationalitätsbedingung (iii) unterstellt dies. Solche Überlegungen, die auch die Zuschreibung von Überzeugungen auf der Grundlage sprachlicher Äußerungen umfassen, sind wesentlicher Bestandteil einer vollständigen Interpretation eines Sprechers. Ein Übersetzer hat grundsätzlich die Wahl zwischen einer möglichst »wörtlichen« Übersetzung (Homomorphie) und einer Übersetzung, die das wiedergibt, was der Sprecher eigentlich meinen oder sagen müsste (gegeben seine anderen Einstellungen). Insofern sind die angeführten Überlegungen nicht erst nach der Übersetzung, sondern schon währenddessen, als integraler Teil der Übersetzungsleistung anzustellen. Die Nummerierung der Bedingungen (i) – (iv) soll keine Ordnung nach Wichtigkeit suggerieren. Ganz im Gegenteil möchte ich dafür plädieren, dass verschiedene Ordnungen zwischen den Bedingungen als vernünftig angesehen werden können. Diese vier Bedingungen markieren Tugenden, die der Übersetzer/Interpret den Äußerungen des Sprechers bzw. dem Sprecher selbst zuschreibt, und auf indirekte Weise werden sie so zu Tugenden der Übersetzung. Wie wir gleich an einem Beispiel sehen werden, können diese Kriterien miteinander in Konflikt geraten. Man muss sie deshalb gegeneinander – und möglicherweise auch gegen weite38 Die hierin inbegriffene Wahrhaftigkeitsunterstellung soll im Folgenden nicht problematisiert werden. 39 Wäre er bereit, diesen inferentiellen Verpflichtungen nachzukommen, selbst wenn sich herausstellen sollte, dass sie zu einigen merkwürdigen oder sogar absurden Konsequenzen führen? Oder würde er dann lieber einen Rückzieher machen, wenn die Inhalte seiner Äußerungen sich als inkohärent herausstellen sollten?
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re Tugenden – abwägen. Das zuerst angeführte Desiderat (i), »Wahrheit«, ist dasjenige, welches widerspiegelt, ob eine Meinungsverschiedenheit zwischen Sprecher und Übersetzer/Interpret vorliegt. Ob es eine solche substantielle Uneinigkeit gibt, und wie viel Uneinigkeit es gibt, hängt also davon ab, wie gut sich das Desiderat der Wahrheit bei der Erstellung einer optimalen Übersetzung im Vergleich mit anderen, konkurrierenden Desiderata schlägt. Zur Illustration wenden wir uns jetzt einem Beispiel zu. Nehmen wir an, wir haben vier Äußerungen vorliegen, die wir als Ausdruck von vier Überzeugungen eines fremden Sprechers ansehen können. Der Einfachheit halber nehmen wir weiter an, dass wir irgendwie herausgefunden haben, dass der Fremde Satzverknüpfer benützt, die genau unseren logischen Konnektiven nicht (¬), und (&) und wenn … dann (ĺ) entsprechen. Die betreffenden Äußerungen sollen die folgenden Transkriptionen haben, wobei ԓ, ʹ und ˝ atomare, d. h. nicht weiter in Teilsätze zerlegbare Sätze der fremden Sprache sein sollen:
ԓ ʹ ԓ & ʹ ĺ ˝ ¬˝ Betrachten wir nun zwei Versuche, diese Sätze zu übersetzen. Übersetzung 1 sei die vollkommen homomorphe Übersetzung. Sie übersetzt die atomaren Sätze des Sprechers in atomare Sätze unserer Sprache (vgl. Tabelle 1, Spalte 1a). Der Aufgabe eines Interpreten wird jedoch nicht jede Übersetzung, d. h. nicht jede Abbildung, die den vier Sätzen der fremden Sprache vier entsprechende Sätze der Sprache des Interpreten zuordnet, gerecht. Letzten Endes muss der Interpret, wenn er den anderen verstehen will, Sinn machen aus dem, was gesagt wurde, er muss dem fremden Sprecher Überzeugungen zuschreiben. Wir artikulieren die Verpflichtungen (commitments) des Sprechers, indem wir alle logischen Konsequenzen des Gesagten als zu seinen Überzeugungen gehörig mit einschließen, und erfüllen so das Desideratum (iii) der logischen Abgeschlossenheit (Spalte 1b). Spätestens jetzt entdecken wir, dass die so erhaltenen Sätze, wörtlich genommen, inkonsistent sind. Angesichts dessen werden wir vermutlich Vorsicht walten lassen wollen, indem wir annehmen, dass der Sprecher »in Wirklichkeit« nur drei der vier Sätze glaubt. Da wir nicht sagen kön-
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nen, welche drei, scheint es sinnvoll, auf die vorsichtige Disjunktion aller vier Möglichkeiten auszuweichen (Spalte 1c).40 Tabelle 1: 1a
1b (Abgeschlossenheit)
1c (vorsichtige Disjunktion) Cn ( (p & q & r)
p
(p & q & ¬r)
q p&qĺr
Cn ( A ) inkonsistente
(p & ¬q & ¬r)
¬r
Theorie
(¬p & q & ¬r) ) = Cn ( (pq) & (rĺp&q) )
Wenden wir uns jetzt einer alternativen zweiten Übersetzung zu, die nicht vollkommen homomorph ist. Das Beispiel wird lebendiger, wenn wir den Buchstaben etwas Inhalt geben. Der zu interpretierende Sprecher sei Angehöriger eines bisher unbekannten exotischen Volkes. Von den atomaren Sätzen unserer Zielsprache stehe p jetzt für »Das Land leidet unter einer Dürre«, q für »Es wird bald Regen geben« und r für »Die Ernte wird gut sein«. Zusätzlich verwenden wir jetzt den neuen atomaren Satz s, der für »Die Götter zürnen uns« stehe. Die alternative Übersetzung basiere auf der methodologischen Hypothese, dass manche kategorischen Aussagen des untersuchten Volkes als durch eine implizite Vorbedingung der Gestalt ¬s, »Wenn uns die Götter nicht zürnen«, eingeschränkt zu verstehen sind. Stellen wir uns vor, wir hätten Gründe anzunehmen, dass alle Vorhersagen bezüglich des Wetters auf diese Art und Weise eingeschränkt werden müssen. Also übersetzen wir den atomaren Satz ʹ, dem vorher der atomare Satz q, »Es wird bald Regen geben«, entsprochen hatte, durch den materialen Konditionalsatz ¬s ĺ q (vgl. Tabelle 2, Spalte 2a). Danach, in einem zweiten Schritt, schreiben wir dem Sprecher alle Konsequenzen der soeben übersetzten Sätze zu (Spalte 2b).
40 Eine Disjunktion ist eine durch oder () verbundene Satzreihe; die Glieder der Satzreihe heißen Disjunkte. – Ich gehe hier über eine nicht unwichtige Unterscheidung hinweg: Während davon auszugehen ist, dass der fremde Sprecher eines der Disjunkte in Spalte 1c (d. i. äquivalent zu drei von vier Ausgangssätzen) glaubt, bleibt uns nichts weiter übrig, als für die Zuschreibung die vorsichtigere Disjunktion zu nehmen, weil wir nicht wissen, welches Disjunkt wir dem fremden Sprecher zuschreiben sollen.
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Tabelle 2: 2a
2b (Abgeschlossenheit)
p ¬s ĺ q
Cn ( p, ¬q, ¬r, s )
p&qĺr ¬r
In diesem Fall ist die sich ergebende, logisch abgeschlossene Theorie41 konsistent, weshalb wir die dritte Spalte nicht auszufüllen brauchen. Wir wollen nun die Vorzüge dieser fünf Übersetzungsvarianten vergleichen. Für das Kriterium (i), die Wahrheit in den Augen des Interpreten, müssen wir dessen »Perspektive«, die Aussagen, die er für wahr hält, kennen. In unserem Beispiel wollen wir annehmen, dass er die folgenden Aussagen für wahr hält: p, q, r und ¬s.42 Tabelle 3: Übersetzung
Wahrheit
Konsistenz Abgeschlossenheit
Stärke
1a
r
+
1b
+
+
1c
+
+
+
2a
r
+
+
2b
+
+
+
Die Tabelle 3 zeigt die semantischen Vorzüge unserer Übersetzungsvarianten im Überblick. Ansonsten steht »+« für die völlige Erfüllung, »–« für die klare Nichterfüllung eines Kriteriums. Wir wollen sagen, dass das Kriterium (i) der Wahrheit hinreichend gut erfüllt ist und schreiben hierfür »r« als Abkürzung, wenn alle übersetzten Sätze bis auf einen in den Augen des Interpreten wahr sind. Solange die zugeschriebene Satzmenge 41 Eine Theorie im Sinne der Logiker ist eine logisch abgeschlossene Satzmenge, also eine Menge, die die logischen Konsequenzen ihrer Elemente bereits enthält. 42 Mit dieser Konzentration auf die Wahrheitswerte von atomaren Sätzen (nach dem Dafürhalten des Interpreten) ist eine Art atomistischer Philosophie mit inbegriffen. Man könnte auch sagen, dass durch die Literale p, q, r und ¬s eine »kleine« mögliche Welt gegeben ist.
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noch nicht logisch abgeschlossen ist, können die Diskrepanzen zwischen dem fremden Sprecher und dem Interpreten ja sinnvoll gezählt werden.43 Aufs Ganze gesehen mag die zweite Übersetzung etwas besser erscheinen als die erste. Die Überzeugungszuschreibung gemäß Übersetzung 1c erfüllt die ersten drei Bedingungen, ist aber inhaltlich sehr schwach. Die Überzeugungszuschreibung gemäß Übersetzung 2b hat einige Vorzüge gegenüber der Zuschreibung, die auf homomorpher Übersetzung basiert, resultiert allerdings, wie das »–« in der Spalte »Wahrheit« ausweist, in vielen Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Sprecher und dem Übersetzer/Interpreten. Auch war ein Preis zu bezahlen: Die grundsätzliche syntaktische Bedingung der homomorphen Übersetzung hatten wir aufgeweicht. In jedem Falle kann man sagen, dass verschiedene Übersetzungsstrategien zu deutlich verschiedenen Resultaten führen. Wir wollten uns a priori auf keine Reihenfolge festlegen, welche unserer Desiderata die wichtigsten sind, und fühlen uns auch durch das Beispiel zu keiner Festlegung gedrängt. Wir erhalten aber nun eine Vorstellung davon, warum das Problem der Übersetzung auch nach Einsatz der vier neuen, zusätzlichen Kriterien mehrlösig bleibt: weil die Kriterien für gute Übersetzungen mindestens zum Teil miteinander in Widerspruch stehen und es keine objektive Bestimmtheit der Prioritäten oder Gewichte zwischen ihnen gibt. Es gibt immer mehrere (miteinander unvergleichbare) Optima der Übersetzung. Die unaufgelöste Unbestimmtheit der Übersetzung erzeugt eine entsprechende Unbestimmtheit betreffs der Frage, ob eine Diskrepanz zwischen Sprecher und Interpret eine »echte« Meinungsverschiedenheit oder ein »bloßes« Missverständnis darstellt.44 Die Mehrdeutigkeit ist essentiell und kann nicht weggedeutelt werden. Jedoch sind wir auf der Metaebene nun endlich in der Lage, relativ zu einer optimalen Lösung des Übersetzungsproblems zwischen Meinungsverschiedenheit und Missverständnis zu unterscheiden: Eine Meinungsverschiedenheit über einen vom Interpreten für wahr gehaltenen Satz A liegt dann vor, wenn die optimale Übersetzung der Äußerungen des Sprechers den Satz ¬A impliziert. Anderenfalls ist eine
43 Dieses »r« ist nicht symmetrisch. So kann Hannah bzgl. Sophia auf das Ergebnis »r« in punkto Wahrheit kommen, umgekehrt Sophia bzgl. Hannah aber auf »–«. 44 Ausklammern will ich hier den Fall des Nichtverstehens ebenso wie den Fall der Meta-Meinungsverschiedenheit darüber, ob bezüglich eines bestimmten Satzes eine Meinungsverschiedenheit oder ein Missverständnis vorliegt.
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Äußerung »¬A« von Seiten des Sprechers als Missverständnis einzustufen. Wir haben inzwischen insgesamt sechs verschiedene Desiderata oder Prinzipien kennengelernt, die mindestens zum Teil in verschiedene Richtungen ziehen und deshalb entsprechend gegeneinander gewichtet oder priorisiert werden müssen: Beobachtungsadäquatheit und Homomorphie, Wahrheit und Abgeschlossenheit, Konsistenz und logische Stärke. Es bleibt zu erwähnen, dass dies längst nicht alle Prinzipien sind, die bei einer Übersetzung in Rechnung gestellt werden können und sollen. Ich nenne aus der Literatur hier nur die folgenden Bedingungen, die für gute Übersetzungen und Interpretationen vorgeschlagen wurden: • Grandys45Principle of humanity, das erklärbare Irrtümer berücksichtigt, • Putnams Principle of the benefit of46doubt, das einen erfolgreichen Bezug auf Existierendes zugesteht, • Lewis’47 und Siders48 Principles of eligibility, die 49einen Bezug auf natürliche Klassen und Eigenschaften unterstellen, sowie zukünftige Selbst• Hirschs Principle of charity to retractions, das korrekturen des Sprechers in Rechnung stellt.50 Auf die genaue Anzahl und den genauen Inhalt der Desiderata kommt es aber in unserem Zusammenhang nicht an. Wichtig ist nur das Prinzip, dass multiple, in verschiedenen Kombinationen widerstreitende Desiderata eine Unbestimmtheit der Übersetzung und damit ipso facto eine Unbestimmtheit in der Frage »Meinungsverschiedenheit oder Missverständnis« erzeugen. 45 Vgl. Richard Grandy: »Reference, Meaning, and Belief«, in: Journal of Philosophy 70 (1973), S. 439-452. 46 Vgl. Hilary Putnam: »Language and Reality«, in: ders., Mind, Language and Reality, Philosophical Papers, Vol. 2, Cambridge: Cambridge University Press 1975, S. 272-290. 47 Vgl. David Lewis: »New Work for a Theory of Universals«, in: Australasian Journal of Philosophy 61 (1983), S. 343-377. 48 Vgl. Theodore Sider: »Criteria of Personal Identity and the Limits of Conceptual Analysis«, in: Philosophical Perspectives 15 (Metaphysics) (2001), S. 189-209. 49 Vgl. dazu Eli Hirsch: »Physical-Object Ontology, Verbal Disputes, and Common Sense«, in: Philosophy and Phenomenological Research 70 (2005), S. 67-97, hier S. 90-97. 50 Vgl. E. Hirsch: Physical-Object Ontology, Verbal Disputes, and Common Sense.
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Zwölf Thesen zum Verhältnis von Meinungsverschiedenheiten und Missverständnissen Wir wollen in kurzer Form die Thesen zusammenfassen, die sich im Laufe meiner Überlegungen angesammelt haben. Es versteht sich, dass sie nicht im Einzelnen mit Inhalt gefüllt wurden, sie ergeben jedoch zusammengenommen ein Bild, das die Untersuchung von Meinungsverschiedenheiten und Missverständnissen leiten können sollte. 1. Fragen nach der Verschiedenheit des Denkens und Sprechens in fremden Kulturen sollten nicht allein abstrakt, sondern anhand der Anschauung konkreter anthropologischer, ethnologischer und kulturwissenschaftlicher Beispielstudien beantwortet werden.51 2. Prominente Beispielsfälle (wie die »chinesischen Counterfactuals« und die »Azande-Logik«) weisen darauf hin, dass der Verständigung kein sprachlich eingeschränktes oder logisch verqueres Denken prinzipiell im Wege steht. 3. Unstimmigkeiten oder Diskrepanzen setzen eine gemeinsame Sprache bzw. die Übersetzung in eine einzige Sprache voraus (die einen Negationsoperator wie »nicht« oder »¬« enthalten muss). 4. Wenn beide Parteien gemäß der Selbstinterpretation ihrer Aussagen nach einer empirischen Überprüfung am Ende »Recht behalten«, lässt sich eine Unstimmigkeit direkt als Missverständnis erweisen. Ein direkter positiver Erweis einer Unstimmigkeit als Meinungsverschiedenheit ist nicht möglich. 5. Im Allgemeinen aber lässt sich die Frage »Meinungsverschiedenheit oder Missverständnis« ohne Rückgriff auf Übersetzungen nicht beantworten. Was wie dieselbe Sprache aussieht, erweist sich bei näherem Verstehen oft als eine Variation von Dialekten, Soziolekten, Fachsprachen, Subkultursprachen oder – letztendlich – Idiolekten. 6. Eine Meinungsverschiedenheit bzgl. eines Satzes A liegt vor, wenn die optimale Übersetzung der Aussagen des anderen Sprechers den Satz ±A impliziert und der Interpret/Übersetzer ±A für falsch hält.52 51 Hierdurch wird Sprachphilosophie partiell zu Wissenschaftsphilosophie. Probleme wie die folgenden sind zentral: Mit welchen methodischen Mitteln wenden die relevanten empirischen Wissenschaften die Fragen nach der Verschiedenheit von Denken und Sprechen auf konkrete Völker, Sprachen und Kulturen an? Zu welchen Ergebnissen sind sie so gekommen? 52 Zur Bedeutung von »±« siehe Fußnote 22.
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7. Die Bestimmung einer optimalen Übersetzung ist auf zweierlei Art holistisch: Erstens sind für ein belastbares Ergebnis immer größere Textumfänge oder größere Sprechhandlungsmuster zu übersetzen, zweitens sind bei der Beurteilung einer Übersetzung verschiedene Kriterien/Desiderata zu aggregieren. 8. Die Desiderata von Übersetzungen sind teilweise konfligierend und deshalb mit verschiedenen Prioritäten bzw. Gewichten zu berücksichtigen. Die dadurch entstehenden Freiheitsgrade haben die Existenz von gleichermaßen legitimen Übersetzungen zur Folge. 9. Aufgrund der Unbestimmtheit der Übersetzung ist der Unterschied zwischen Meinungsverschiedenheit und Missverständnis prinzipiell ebenso unbestimmt. 10. Insoweit aber unter den Sprechern eine intuitive Einigkeit besteht, was eine gute Übersetzung ausmacht, ist die Antwort auf die Frage »Meinungsverschiedenheit oder Missverständnis« stabil. 11. Meinungsverschiedenheiten zwischen Sprechern verschiedener Sprachen können schwerer erkannt werden als Meinungsverschiedenheiten zwischen Angehörigen derselben Kultur. Denn zwischen Sprechern verschiedener Sprachen muss in jedem Fall eine Übersetzung vermitteln, und Übersetzungen tendieren dazu, Diskrepanzen auszubügeln. 12. Die Bevorzugung der homophonen Übersetzung innerhalb einer einheitlich scheinenden Sprachgemeinschaft verleitet dazu, jede Diskrepanz als Meinungsverschiedenheit zu interpretieren.
Schluss und Ausblick: Eine Wissenschaft der Unstimmigkeiten Wie anfangs erwähnt, hat sich seit Quines »Two Dogmas« eine allgemeine Skepsis durchgesetzt, ob sich ein gültiger Trennungsstrich zwischen analytischen und synthetischen Urteilen, zwischen der Bedeutungs- und der Faktenkomponente von Sätzen ziehen lässt. Dies war natürlich schematisiert. Quines Thesen haben durchaus Widerspruch provoziert, und schließlich hat Quine selbst später in The Roots of Reference eine Definition von Analytizität gegeben.53 Dennoch scheint mir die Phi53 Vgl. Willard V. O. Quine: The Roots of Reference, La Salle, Ill.: Open Court 1974, § 21: »Here then we may at last have a line on a concept of analyticity: a sentence is analytic if everybody learns that it is true by learning its words. Analyticity, like observationality, hinges on social uniformity.«
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losophie, speziell die Analytische, immer noch stark unter dem Eindruck von Quines Attacke in »Two Dogmas« zu stehen. Ich möchte dafür plädieren, die Lehren aus der Analytisch-synthetisch-Debatte aufzugreifen und unter den neuen Vorzeichen einer Debatte zum Thema »Meinungsverschiedenheiten vs. Missverständnisse« weiterzuführen. Drei exemplarische Hinweise auf aktuelle Forschungsgebiete sollen abschließend erklären, warum ich das Thema nicht nur aus interdisziplinärer Perspektive, sondern auch aus innerphilosophischen Gründen für aktuell und dringlich halte. Erstens. Über die Freiheit des Handelns und Wollens wurde aufgrund des Fortschritts der Neurowissenschaften in den letzten Jahren viel diskutiert. Die deutsche Öffentlichkeit zumal scheint von empirischen Wissenschaftlern heute mehr zu erwarten als von der Philosophie. So hört man manche Hirnforscher verkünden, unsere Freiheit sei eine Illusion, weil eigentlich nicht die Person, sondern das Gehirn entscheide, was der Hirnträger wolle und tue. Unter Philosophen erfreuen sich solche Redensarten keines großen Beifalls. Obgleich die Hirnforscher kompatibilistische Positionen aus der Philosophie kennen, argumentieren sie häufig so, als ob alle Philosophen unbekehrbare Dualisten wären. Nichts ist falscher als das. In unserem Zusammenhang ist wieder aktuell, was David Hume in seiner Enquiry Concerning Human Understanding schon für gelöst hielt. Gibt es die eine Freiheit, die wir meinen und über die nun (wieder) eine neue, substantielle Auseinandersetzung entbrannt ist? Oder stehen verschiedene Freiheitsbegriffe im Raume, und der Streit geht »nur« um Worte? Hume hatte vor zweieinhalb Jahrhunderten die letztere Diagnose gestellt und aufklärungsoptimistisch geschrieben, dass dann, wenn die terminologischen Konfusionen geklärt wären,54 alle Menschen erkennen würden, dass sie eigentlich immer schon einer Meinung gewesen seien.55
54 Für Hume ist Freiheit das Gegenteil von Zwang, nicht von Notwendigkeit. 55 Vgl. David Hume: An Enquiry Concerning Human Understanding (1748), zitiert nach Peter H. Nidditch (Hg.), Enquiries Concerning Human Understanding and Concerning the Principles of Morals, 3. Auflage, Oxford: Oxford University Press 1975, S. 95: »But to proceed in this reconciling project with regard to the question of liberty and necessity; the most contentious question of metaphysics, the most contentious science; it will not require many words to prove, that all mankind have ever agreed in the doctrine of liberty as well as in that of necessity, and that the whole dispute … has been hitherto merely verbal.« – Hume war hier vielleicht von Locke beeinflusst: »The multiplication and obstinacy of Disputes, which has so laid waste the intellectual World, is owing to nothing more, than to this ill use of Words. For though it be generally believed, that there is great diversity of Opinions in the Volumes and Variety of Controversies, the World is
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Nun sind seit Hume sowohl auf philosophischem als auch auf naturwissenschaftlichem Felde große Fortschritte erzielt worden, doch scheint mir vom Humeschen Argument mindestens soviel richtig geblieben zu sein: Man muss mit Nachdruck versuchen, begriffliche und empirische Fragen zu sortieren, und das heißt: »bloße« Missverständnisse von »echten« Meinungsverschiedenheiten der Debattanten zu trennen.56 distracted with; yet the most I can find, that the contending learned Men of different Parties do, in their Arguings one with another, is, that they speak different Languages. For I am apt to imagine, that when any of them quitting Terms, think upon Things, and know what they think, they think all the same: Though perhaps, what they would have, be different« (John Locke: An Essay concerning Human Understanding (1690), zitiert nach Peter H. Nidditch (Hg.), Oxford: Oxford University Press 1975, III, x, § 22, S. 504). – Zu diesem Thema hier noch eine kleine historische Nebenbemerkung: 35 Jahre nach Hume, dessen erste Enquiry in Deutschland gut rezipiert worden war, behauptete auch Moses Mendelssohn, dass die Schwierigkeit des Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit »mehr in der Sprache, als in der Sache« läge (Moses Mendelssohn: »Ueber Freiheit und Nothwendigkeit«, in: Berlinische Monatsschrift 2, Siebentes Stück, Julius 1783, S. 1-11, hier S. 4; vgl. auch ders., Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes, Berlin: Voß 1785. Zitiert nach der Ausgabe in Gesammelte Schriften, Schriften zur Philosophie und Ästhetik, Bd. 3.2, bearb. v. Leo Strauss, Stuttgart: Frommann-Holzboog 1974, S. 1-175, hier S. 98) – um dann für eine ganz andere Lösung als Hume zu plädieren. Daraufhin meinte Johann August Eberhard, die »moralische Sprache der Deutschen« erlaube Unterschiede (hier den zwischen physischer und sittlicher Notwendigkeit), die in der »moralischen Sprache der Engländer« noch nicht aufgenommen seien (Johann August Eberhard: »Ueber Freiheit und Nothwendigkeit«, in: Berlinische Monatsschrift 2, Siebentes Stück, Julius 1783, S. 276-281, hier S. 280). Kant hingegen bestand darauf, dass »in Dingen, worüber man, vornehmlich in der Philosophie, eine geraume Zeit hindurch gestritten hat, niemals eine Wortstreitigkeit zum Grunde gelegen habe, sondern immer eine wahrhafte Streitigkeit über Sachen« (Immanuel Kant: Einige Bemerkungen zu Ludwig Heinrich Jakob’s Prüfung der Mendelssohn’schen Morgenstunden, in: Ludwig Heinrich Jakob, Prüfung der Mendelsohnschen Morgenstunden oder aller spekulativen Beweise für das Daseyn Gottes, Leipzig: Heinsius 1786, S. XLIX-LX. Zitiert nach der Akademie-Ausgabe VIII, S. 149-155, hier S. 152). 56 Jackson verwendet das Beispiel der Willensfreiheit, um die Leistung von Begriffsanalysen in der (heutigen) Metaphysik zu illustrieren (vgl. Frank Jackson: »The Role of Conceptual Analysis«, in: ders., From Metaphysics to Ethics: A Defense of Conceptual Analysis, Oxford: Clarendon Press 1998, S. 28-55, hier S. 31f., 44f.). Die für unseren Kontext interessante
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Mein zweites Beispiel entstammt der Rechtsphilosophie. Ronald Dworkins Hauptwerk Law’s Empire57 führte gegen die bis dahin dominierenden Positionen des Rechtspositivismus und des Naturrechts den sog. »Interpretivismus« ein. Ein entscheidendes Motiv Dworkins war es, zu erklären, ob und – wenn ja – wie es zum Auftreten theoretischer Uneinigkeit (theoretical disagreement) zwischen Juristen kommen könne.58 Diese Möglichkeit, so Dworkin, müsste nach der positivistischen Interpretation von H. L. A. Hart eigentlich ausgeschlossen sein. Denn Umfang und Inhalt des Gesetzes seien durch die im Geltungsbereich des Gesetzes gesprochene Sprache weitgehend fixiert; und wo nicht, sei das Ermessen des Richters völlig frei. Dworkin hält dies für unrealistisch. Die Interpretation von Gesetzestexten sei eine hermeneutische Aufgabe, die Ähnlichkeiten mit der Interpretation literarischer Texte habe. Ein zentrales von Dworkin benanntes Problem besteht darin, festzulegen, welcherart Texte oder juristische Praxen überhaupt als konstitutiv für »das Gesetz« angesehen werden sollen. Die interpretivistische Antwort ist, kurz gesagt, diese: Gesetzliche Rechte und Pflichten werden von einem System von Werten und Prinzipien bestimmt, das die beste Rechtfertigung der vorliegenden politischen Praxen einer Gemeinschaft bietet. Dieses System wird durch eine Interpretation erschlossen, die gleichermaßen die tatsächlich etablierten Praxen als auch die Qualität der Werte und Prinzipien in Rechnung stellt. Es erscheint mir aussichtsreich, Dworkins »theoretical disagreement« als substantielle Diskrepanzen oder »echte Meinungsverschiedenheiten« in der Terminologie dieses Beitrags zu betrachten und die Details der rechtsphilosophischen Debatte daraufhin zu untersuchen, welche Vorschläge sie zum Umgang mit solchen Diskrepanzen bereithält.59 Es gilt, das Wechselspiel der spezifischen Frage ist, inwieweit philosophische Analysen in einer anderen Sprache resultieren als der Alltagssprache, in der unsere unmittelbaren Intuitionen und unsere folk theories formuliert sind. 57 Vgl. Ronald Dworkin: Law’s Empire, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1986. 58 Vgl. Ronald Dworkin: »Law as Interpretation«, in: Texas Law Review 60 (1982), S. 527-550, und ders., Law’s Empire, S. 45-96. 59 Vgl. aber Stavropoulos, dessen »substantive disagreements« (Nicos Stavropoulos: Objectivity in Law, Oxford: Clarendon Press 1996, S. 125) in meinem Sinne terminologische Diskrepanzen wären. Ein großer Teil der Diskussionen von und um Dworkin beschäftigt sich mit der Bedeutung von »Gesetz« (oder »das Gesetz«). Doch wäre die Konzentration hierauf eine extreme Einschränkung. Es müssen auch die Bedeutungen derjenigen Wörter bestimmte werden, die in Gesetzen verwendet werden, z.B. »vehicle« (vgl. Timothy Endicott: »Law and Language«, in: Edward N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2002 Edition), http://
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Analyse von Diskrepanzen in der Interpretation von Gesetzen und allgemeiner Überlegungen zum Unterschied von substantiellen und bloß verbalen Diskrepanzen sowohl für die (rechtsphilosophische) Objektebene als auch für die (sprachphilosophische) Metaebene fruchtbar zu machen. Das dritte Gebiet, auf dem Diskrepanzen als Thema prominent sind, hat sich erst vor kurzem formiert. Seit ein bis zwei Jahrzehnten hat sich die Metaphysik als philosophische Grundlagendisziplin auf die Hauptbühne der Analytischen Philosophie gespielt. Dabei emanzipierte sie sich, anders als in den Jahrzehnten vorher, wahrnehmbar von der Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie. Jüngst wurde sie jedoch wieder von Methodenproblemen eingeholt, und es wird bereits eifrig die Disziplin der Metaontologie60 oder Metametaphysik61 entwickelt. In dieser Debatte geht es um den Wert philosophischer Intuitionen und das Gewicht unserer alltäglichen Sprechweisen im Vergleich zu systematischer Theorienbildung. Es ist aber nicht immer ganz klar, ob diese Diskussionen in eine gute Richtung gehen. Auf der einen Seite stehen Theoretiker, die eine revisionäre Ontologie verfolgen, d. h. eine solche, die die Ontologie des Common sense negiert. Der u. a. von Ted Sider ausgearbeitete Vierdimensionalismus ist etwa durch die Doktrin der zeitlichen Teile62 und die Doktrin der mereologischen Summen63 gekennzeichnet. Auf diese Weise werden merkwürdige Dinge als existent anerkannt. So gäbe es danach in meinem Hinterhof einen Gegenstand, der tagsüber einem Baum
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plato.stanford.edu/archives/win2002/entries/law-languageEndicott2002), »gratuitous promise« oder »courtesy« (vgl. Nicos Stavropoulos: »Interpretivist Theories of Law«, in: Edward N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2003 Edition), http://plato.stanford.edu/ archives/win2003/entries/law-interpretivist). Vgl. Matti Eklund: »Metaontology«, in: Philosophy Compass 1 (2006), S. 317-334, und Siders 14-seitige Bibliographie zur »Metaontology« (vgl. Theodore Sider: »Bibliography on Metaontology (including ontological commitment, and some philosophy of mathematics)«, 2006, http:// homepages.nyu.edu/~ts65/teaching/MO06/metaontology_bib.pdf), die auch viele ältere Titel enthält. Vgl. David Chalmers/David Manley/Ryan Wasserman (Hg.): Metametaphysics, Oxford: Oxford University Press (im Erscheinen). »Wenn ein Gegenstand während eines gewissen Zeitintervalls fortbesteht, dann gibt es einen zeitlichen Teil des Gegenstands, der genau während dieses Zeitintervalls existiert und räumlich mit diesem Gegenstand zusammenfällt.« (nach E. Hirsch, Physical-Object Ontology, Verbal Disputes, and Common Sense, S. 68) »Die Zusammensetzung zweier beliebiger Gegenstände bildet wieder einen Gegenstand.« (nach E. Hirsch, Physical-Object Ontology, Verbal Disputes, and Common Sense, S. 68)
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gleicht, des Nachts aber immer nur aus einem astlosen Stamm besteht.64 Für Common Sense-Realisten65 ist das eine Zumutung: Sie erheben heftigsten Widerspruch. Verschiedene Autoren, darunter Hilary Putnam66 und vor allem Eli Hirsch haben aber argumentiert, dass es sich bei der Gegenüberstellung von Alltagsrealisten und Vierdimensionalisten nur um verbale Differenzen handle, die mit einer Reinterpretation des Existenzquantors »wegübersetzt« werden könnten. Ich möchte nicht Partei für die deflationistische (oder antirealistische) Position in der Metaontologie ergreifen. Vielmehr will ich auch an diesem Beispiel illustrieren, dass es Zeit ist, eine Theorie der Unstimmigkeiten zu entwickeln, die es erlaubt, zwischen bloß verbalen und inhaltlich-substantiellen Differenzen – d. h. zwischen Missverständnis und Meinungsverschiedenheit – zu unterscheiden. Ziel wäre es einerseits, auch der metaontologischen Debatte Orientierung zu bieten, und andererseits, sich durch den konkreten Verlauf der metaontologischen Debatte weitere Anhaltspunkte für die Ausgestaltung der Theorie der Unstimmigkeiten zu holen. Ich plädiere also dafür, die komplizierten Auseinandersetzungen um die Freiheit des Handelns und Wollens, um die Natur der Gesetze und um die aktuellen metaphysischen Positionen intensiv und im Detail zu studieren, um ein Überlegungsgleichgewicht auf hoher Abstraktionsebene zu erreichen. »Meinungsverschiedenheit« und »Missverständnis« sind zwei sinnvolle Begriffe, die es wert sind, auseinandergehalten und verstanden zu werden.67
64 Beispiel von Eli Hirsch: »Quantifier Variance and Realism«, in: Philosophical Issues 12 (Realism and Relativism) (2002), S. 51-73. 65 Und das sind wir ja alle, nachdem wir den Hörsaal verlassen haben. 66 Eine gute aktuelle Zusammenfassung findet sich in Hilary Putnam: »A Defense of Conceptual Relativity«, in: ders., Ethics Without Ontology, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2004, S. 33-51. 67 Frühere Fassungen dieses Textes habe ich im Frühjahr 2007 an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Regensburg vorgetragen. Ich danke den anwesenden Hörerinnen und Hörern für gute Diskussionen. Eva Konrad und Andrea Potzler bin ich für die kritische Durchsicht des Manuskripts dankbar.
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DER MENSCH – FACETTEN
DES
NICHTWISSENS
MARTIN SAUERLAND/MARIANNE HAMMERL (†)
Der Mensch – wie er sein möchte Wer kennt die kleinen Ärgernisse des Alltags nicht, wenn einem beispielsweise während eines Vortrags oder in einer Prüfung die entscheidenden Fakten nicht mehr einfallen? Wie wünschenswert doch ein besseres Gedächtnis in solchen Situationen wäre! Oft bereuen Personen auch bestimmte Handlungen (z. B. aggressives Verhalten verbaler Art, spontane Einkäufe), zu denen sie sich haben hinreißen lassen, ohne die situativen Umstände vollständig erfasst, geschweige denn die langfristigen Folgen ihres Verhaltens bedacht zu haben. Wie gut es – im Nachhinein besehen – gewesen wäre, hätte man die Impulse rechtzeitig unter bewusste Kontrolle gebracht! Nicht selten registrieren Personen auch zu spät, dass sie allein wegen des Beharrens auf einem Vorurteil erhebliche Nachteile in Kauf genommen haben. Hätte man sich bei seiner Entscheidung doch nur nicht so sehr von seinen Emotionen leiten lassen! In all diesen Fällen scheint eines deutlich zu sein: Das Ideal bestünde in allumfassendem Wissen, in einem perfekten Gedächtnis, in rein rationaler Entscheidungsfindung und in der totalen Einsicht in die Ursachen und Folgen des eigenen Handelns. Doch warum wird der beschriebene Idealzustand so selten erreicht? Dieser Frage wird im nachfolgenden Kapitel nachgegangen.
Ursachen menschlichen Fehlverhaltens In der Tat gehen nicht nur die zumeist unbedeutenden »Patzer und Schnitzer« (z. B. Versprecher), sondern auch große Katastrophen (z. B. politische Fehlplanungen oder gar Reaktorunfälle) oft auf die limitierte Kapazität des kognitiven Apparates, auf die schnell erschöpften Aufmerksamkeitsressourcen, auf fehlendes Wissen, auf unvollständig repräsentierte Problemräume oder auf die blinde Anwendung altbewährter
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MARTIN SAUERLAND/MARIANNE HAMMERL
Regeln in neuen Situationen zurück.1 Zahlreiche Fehlleistungen kommen demnach dadurch zustande, dass Routineabläufe nicht ausreichend oder zum falschen Zeitpunkt durch Aufmerksamkeit kontrolliert werden, so dass z. B. anstelle von »IG-Medien« versehentlich das wesentlich geläufigere »IG-Metall« ausgesprochen wird oder im Januar 2008 noch das Jahr 2007 als Datum niedergeschrieben wird. Andere Fehlleistungen kommen durch selektive Planungsprozesse und rigide Regelanwendungen zustande, die letztlich auf die Nichtbeachtung bestimmter vom Üblichen abweichenden Bedingungen2 oder auf die Nichterfassung der Vielzahl potenziell Einfluss nehmender Variablen zurückgehen3. Somit scheinen nicht nur die massiven Nachteile, mit denen Patienten mit Störungen der Gedächtnisleistung bzw. sonstiger kognitiver Leistungsfähigkeiten (z. B. Aufmerksamkeitsdefiziten, Störungen der Impulskontrolle) dauerhaft konfrontiert sind, die Idealisierung entsprechender Fähigkeiten zu legitimieren, sondern eben auch die Fehlleistungen des alltäglichen Lebens lassen das wünschenswert erscheinen, was im Folgenden global als das Ideal der Rationalität bezeichnet wird.
Das Ideal der Rationalität Das ideale Verhalten wäre demnach ein primär oder sogar vollständig an den Regeln der Logik ausgerichtetes Handeln. Wünschenswert wären darüber hinaus eine unbeschränkte Gedächtniskapazität und enorme Aufmerksamkeitsressourcen, um alle relevanten Faktoren erfassen und abwägen zu können. Hinzukommen sollte noch die Fähigkeit, von Leidenschaften oder Ängsten unbeeinflusste und objektive Entscheidungen treffen zu können. Diese globale Form der Rationalität könnte im Homo scientificus ihre höchste Entfaltung finden. Der Erfolg des wissenschaftlichen Arbeitens könnte gerade darin bestehen, Sachverhalte unvoreingenommen, leidenschaftslos und unter Einbeziehung sämtlicher bekannten Fakten sys1
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Vgl. D. Dörner: »Merkmale der kognitiven Struktur guter und schlechter Versuchspersonen beim Umgang mit einem sehr komplexen System«, in: H. Ueckert/D. Rhenius (Hg.), Komplexe menschliche Informationsverarbeitung, Bern: Huber (1978), S. 185-195, und J. Reason: Human error, Cambridge: Cambridge University Press 1990. Vgl. A. S. Luchins/E. H. Luchins: »New experimental attempts at preventing mechanization in problem solving«, in: Journal of General Psychology 42 (1950), S. 279-297. Vgl. J. St. B. T. Evans (Hg.): Thinking and reasoning: Psychological approaches, London: Routledge & Kegan Paul 1983.
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tematisch anhand logischer Prinzipien in raum-zeitlichen Koordinaten objektiv registrieren und analysieren zu können. Eine Verkörperung dieser Idealvorstellung findet sich möglicherweise in der bemerkenswert sympathischen Filmfigur des Commander Data aus der Serie Star Trek (The Next Generation) – eine nie ermüdende, nichts vergessende, emotionslose, nach logischen Prinzipien operierende Hochleistungsmaschine, die in menschlicher Gestalt auftritt. Wenn sich Personen diesem Ideal anzunähern versuchen, gewinnen sie anscheinend mehr Sicherheit hinsichtlich der Begründungen ihres eigenen Verhaltens, sie begehen weniger Fehler, ihre Entscheidungen werden seltener bereut etc. Die Tatsache, dass diese Auffassung sehr weit verbreitet ist, spiegelt sich in solchen Aufforderungen wider, wie »Denk nach, bevor Du etwas tust!«, »Lass Dich nicht so sehr von Deinen Emotionen beeinflussen!« oder auch »Erst Denken, dann Handeln!« etc. Generell scheinen Aufklärung und kritisches Denken die Früchte der modernen Existenz hervorgebracht zu haben. Und eine ausgezeichnete Selbstkenntnis scheint darüber hinaus ganz unzweifelhaft mit persönlichem Erfolg im Leben einherzugehen, selbst wenn es sich um die Kenntnis der eigenen Defizite handelt (Gnothi seauton!).
Der Mensch – wie er ist Die bisherigen Ausführungen haben bereits gezeigt, dass häufig massive Diskrepanzen zwischen dem faktischen und dem oft als ideal propagierten Bild des Menschen auftreten. Der Abstand zum Ideal kann dabei außerordentlich groß sein. Dies wird im nachfolgenden Kapitel näher erläutert.
Fehlende Einsichten Aus evolutionspsychologischer Perspektive wird beispielsweise unterstellt, dass sich die grundlegenden (= ultimaten) Ursachen des Verhaltens der bewussten Einsicht des Menschen zumeist entziehen. Beispielsweise kopulieren Menschen wohl in den seltensten Fällen wegen des Wunsches, ihre Gene in die nächste Generation zu transferieren und die Auftretenswahrscheinlichkeit derselben im Genpool der nächsten Generationen zu erhöhen (ultimate Ursache), sondern wohl eher aufgrund des Lust-Erlebens, welches mit einer Kopulation normalerweise einhergeht (proximate = aktuelle Ursache). In diesem Fall gewährleisten somit spezifische evolvierte emotionale Reaktionssysteme adaptives Verhalten, die
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als biologische Imperative fungieren, und zwar ohne dass dies Einsicht in die ultimaten Verhaltensziele seitens des Organismus erfordern würde.4 Ähnliches gilt auch für so fundamentale Sachverhalte wie die Kriterien der Partnerwahl.5 Die Partnerwahl ist nicht beliebig – aus evolutionspsychologischer Perspektive erscheint sie geradezu erschreckend gut berechenbar. Die Kriterien der Partnerwahl sind demnach systematisch an solche Merkmale gekoppelt, die mit der Überlebens- und Reproduktionsfähigkeit einer Person in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Solche Hintergründe bleiben den beteiligten Akteuren jedoch zumeist verborgen. Im subjektiven Erleben einer Person mag vielleicht ein Gefühl der Verliebtheit handlungsleitend scheinen. Möglicherweise kann eine Person sogar Auskunft darüber geben, was sie an ihrem Partner attraktiv findet (z. B. die schönen Augen), die biologischen Ursachen solcher emotionaler Merkmalsbewertungen im Speziellen und der Partnerwahl im Allgemeinen bleiben jedoch im Unklaren – wie z. B. die Tatsache, dass die Augen einem biologischen Anamnesebogen gleichkommen, der ausgezeichnete Vorhersagen über die Reproduktionsfähigkeit der entsprechenden Person erlaubt. Werden Personen aufgefordert, generell Gründe für ihre Präferenzen bzw. ihr Verhalten zu benennen, kann immer wieder festgestellt werden, dass das tatsächliche Verhalten nicht mit den angegebenen Gründen korrespondiert.6 Personen sind i. d. R. zu einer Auskunft über die objektiven Gründe ihres Erlebens und Verhaltens nicht imstande. Offenbar besteht paradoxerweise die »Gefahr«, dass sich der Gegenstand, der im Fokus der Beobachtung steht, durch den Akt der Beobachtung an sich verändert. Zudem ist der Gedächtnisabruf zumeist hochgradig selektiv7 und 4
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Vgl. K. Schneider/W. Dittrich: »Evolution und Funktion von Emotionen«, in: K. R. Scherer (Hg.), Psychologie der Emotion (Enzyklopädie der Psychologie, Themenbereich C, Serie IV, Band 3), Göttingen: Hogrefe 1990, S. 41-114. Vgl. D. M. Buss: Evolutionary psychology: The new science of the mind, Boston: Allyn & Bacon 2004. Vgl. R. E. Nisbet/T. D. Wilson: »Telling more than we can know: Verbal reports on mental processes«, in: Psychological Review 84 (1977), S. 231259; T. D. Wilson: »Strangers to ourselves: The origins and accuracy of beliefs about one’s own mental states«, in: J. H. Harvey/G. Weary (Hg.), Attribution: Basic issues and applications, New York: Academic Press 1985, S. 9-36, und T. D. Wilson/J. W. Schooler: »Thinking too much: Introspection can reduce the quality of preferences and decisions«, in: Journal of Personality and Social Psychology 60 (1991), S. 181-192. Vgl. z. B. S. M. Smith/A. Glenberg/R. A. Bjork: »Environmental context and human memory«, in: Memory and Cognition 6 (1978), S. 342-353, und J. D. Teasdale/M. L. Russell: »Differential effects of induced mood on the
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z. T. durch die menschliche Neigung zur Hypothesenverifizierung verzerrt8. Personen konstruieren Verhaltensgründe häufig einfach gemäß implizit vorhandener oder sozial geteilter Kausaltheorien.9 Diese einschlägigen Befunde lassen sich wie folgt resümieren: Von Personen wird bei der Suche nach den Ursachen ihres Verhaltens oft mehr angegeben als tatsächlich vorhanden ist, und es wird selten alles von dem angegeben, was tatsächlich vorhanden ist. Hinzu kommt noch, dass sich Personen langfristig i. d. R. außerordentlich unzufrieden zeigen, wenn sie dazu gebracht werden, sich ausschließlich gemäß ihrer explizit geäußerten Einstellungen zu verhalten.10 Offenbar fehlt Personen auch die Einsicht in die Herkunft, die Wirkprinzipien und die Funktion »höherer kognitiver Prozesse«. Dijksterhuis und Nordgren illustrieren dies an einem vermutlich allzu bekannten Beispiel: »[A person] made a list of various attributes and assigned both choice options pluses and minuses on these attributes. During this process, she suddenly realized that there were too many pluses appearing on the ›wrong side‹. According to UTT [Unconscious Thought Theory], what happens is that her unconscious had already made an intuitive decision.«11
Höhere kognitive Prozesse sind i. d. R. darauf gerichtet, bestimmte motivationale Ziele zu erreichen und Hindernisse zu beseitigen, die diesen Zielen entgegenstehen.12 Kognitionen sind daher ihrer Beschaffenheit nach Problemlöseprozesse.13 Bei der Konfrontation mit einem Problem werden demnach nach bestimmten Prinzipien Problemlöseoperatoren generiert und ausgewählt. Die Auswahl der Operatoren, die von einem Organismus vorgenommen wird, reduziert den Raum möglicher Zustände
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recall of positive, negative and neutral words«, in: British Journal of Clinical Psychology 22 (1983), S. 163-171. Vgl. J. M. Darley/P. H. Gross: »A hypothesis-confirming bias in labeling effects«, in: Journal of Personality and Social Psychology 44 (1983), S. 2033. Vgl. R. E. Nisbet/T. D. Wilson: Telling more than we can know. Vgl. T. D. Wilson/J. W. Schooler: Thinking too much. A. Dijksterhuis/F. L. Nordgren: »A theory of unconscious thought«, in: Perspectives on Psychological Science 1 (2006), S. 95-109, hier S. 107. Vgl. J. R. Anderson: Kognitive Psychologie, Heidelberg: Spektrum 2001. Vgl. A. Newell: »Reasoning, problem-solving, and decision processes: The problem space as a fundamental category«, in: R. Nickerson (Hg.), Attention and performance, Hillsdale/NJ: Erlbaum 1980, S. 693-718, und E. C. Tolman: Purposive behavior in animals and men, New York: AppletonCentury-Crofts 1932.
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und ermöglicht dem Organismus im optimalen Fall die Überführung eines zumeist aversiven Ausgangszustands in einen erwünschten Zielzustand. Der Gedanke, dass Kognitionen somit im besten Falle Instrumente sind, die keine wesentlich andere Funktion haben als diejenige, Lebewesen in ihrem Streben nach grundlegenden und zumeist unbewussten Bedürfnissen zu unterstützen, ist weder selten noch neu. Ein eifriger Verfechter dieser Position war beispielsweise Friedrich Nietzsche. Einige seiner Aphorismen mögen dies belegen: »Unsere Bedürfnisse sind es, die die Welt auslegen; unsre Triebe und deren Für und Wider«14, »Denn Denken ist nur ein Verhalten dieser Triebe zu einander.«15 Und sogar für die meisterhaften Werke der Philosophie gilt demnach: »Das meiste bewusste Denken eines Philosophen ist durch seine Instinkte heimlich geführt und in bestimmte Bahnen gezwungen«16. Provozierend stellt Dember heraus: »The brain is a servant of the stomach and the sex organs: cognitive processes are instruments, means to an end.«17 Plutchik hält darüber hinaus fest: »Conscious thought and reason, often referred to as cognitions, are generally believed to be part of the process of adapting to the environment and have an evolutionarily based structure.«18 Metzinger illustriert diesen Gedanken an einem Beispiel: »Therefore, we can today more easily imagine and simulate those types of situations, which possess great relevance to our survival.«19 Nicht zuletzt weist auch Klix in seinem Artikel »Evolutionsbiologische Spuren in kognitiven Strukturbildungen und Leistungen des Menschen« darauf hin, dass die Entstehung kognitiver Prozesse ein Teil der Erdgeschichte und damit der Evolution ist.20 Der von Köhler untersuchte Affe namens Sultan, der nach kurzer kognitiver Inkubationszeit zwei kurze Stöcke zu einer langen Stange verband, erst mit deren Hilfe er das außerhalb seines 14 F. Nietzsche: Der Wille zur Macht (ausgewählt und geordnet von Peter Gast unter Mitwirkung von Elisabeth Förster-Nietzsche), Stuttgart: Kröner 1996 (Originalarbeit erschienen 1901), S. 337. 15 F. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Berlin: De Gruyter 1968 (Originalarbeit erschienen 1886), S. 50. 16 Ebd., S. 11. 17 W. N. Dember: »Motivation and the cognitive revolution«, in: American Psychologist 29 (1974), S. 161-168, hier S. 167. 18 R. Plutchik: Emotions and life. Perspectives from psychology, biology and evolution, Baltimore/MD: United Book Press 2003, S. 45 19 T. Metzinger: Being no one: The self-model theory of subjectivity, Cambridge/MA: MIT Press 2003, S. 59. 20 Vgl. F. Klix: »Evolutionsbiologische Spuren in kognitiven Strukturbildungen und Leistungen des Menschen«, in: F. Klix/H. Spada (Hg.), Wissen (Enzyklopädie der Psychologie, Themenbereich C, Serie II, Band 6), Göttingen: Hogrefe 1998, S. 43-77.
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Käfigs liegende Futter erreichen konnte21, kann als Veranschaulichung der Konzeption kognitiver Prozesse als Instrumente zur Steigerung der Überlebens- und Reproduktionschancen eines Organismus dienen. Nietzsche weist in diesem Sinne mit Nachdruck auch auf die biologische Basis der Logik hin: »Auch hinter aller Logik […] stehen […] physiologische Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben.«22 Die Logik steht nicht außerhalb des menschlichen Erkenntnisapparates, sie ist vielmehr ein genuines Produkt dieses Apparates; d. h., auch die Logik ist anthropomorph. Dieser Gedanke wird sehr relevant, wenn man bedenkt, dass die Logik an diverse Bedingungen geknüpft ist. So ist logisches Schließen an die Bedingung geknüpft, dass es identische Fälle gibt. Identische Fälle aber sind zwar ein sehr nützliches, aber dennoch fiktives Konstrukt des evolvierten menschlichen Erkenntnisapparates. Um logisch sinnvoll schließen zu können, muss – nach Nietzsche – eine »Fälschung alles Geschehens« vorausgegangen sein. Möglicherweise erscheint dem Menschen die Welt nur deshalb logisch, weil er sie zuvor »logisiert« hat und logische Strukturen permanent in die Welt hineinprojiziert.23 Selbst die höchsten der höheren kognitiven Prozesse gehen somit auf einen recht unbekannten Grund zurück und fungieren nach Prinzipien, die für Personen weitestgehend uneinsichtig bleiben. Den geschilderten Ausführungen zufolge, bleiben dem Menschen die Ursachen seiner Wünsche, Bewertungen und Handlungen und die Entstehung, Arbeitsprinzipien und Funktion seiner Gedanken und Inferenzen oft verborgen, teils bleiben sie ihm sogar prinzipiell verschlossen. Sieht er sich gezwungen, Ursachen für bestimmte Verhaltensweisen anzugeben, fingiert er in beinahe beliebig anmutender Weise Gründe, die oft eher rationalisierenden als rationalen Charakter besitzen.24 Oft besteht für Personen nicht einmal Klarheit darüber, dass selbst Wahrnehmungsleistungen durch kontextbezogene Erwartungen, Erfahrungen und Motive beeinflusst sind25 – dies gilt auch für die Wahrnehmung von Gruppen, anderen Personen und auch der eigenen Person. An dieser Stelle könnte zwar eingewendet werden, dass es zumindest eine »sichere Sache« gibt, die gewusst werden kann, auch wenn alles an21 Vgl. W. Köhler: Intelligenzprüfung an Menschenaffen, Berlin: Springer 1973 (Originalarbeit erschienen 1917). 22 F. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, S. 11. 23 Vgl. F. Nietzsche: Der Wille zur Macht, S. 358. 24 Vgl. L. Festinger: A theory of cognitive dissonance, Stanford/CA: Stanford University Press 1957. 25 Vgl. dazu J. S. Bruner/L. Postman: »An approach to social perception«, in: W. Dennis/R. Lippitt (Hg.), Current trends in social psychology, Pittsburgh: University of Pittsburgh Press 1951, S. 71-118.
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dere bezweifelbar ist, nämlich die, dass es ein Ich bzw. ein Selbst oder Ego gibt – denn schließlich muss es jemand geben, der alles andere bezweifeln kann. Nach der Selbstmodelltheorie der Subjektivität von Metzinger26 unterliegen Personen jedoch sogar hinsichtlich dieser scheinbaren Gewissheit, jemand zu sein, d. h. ein Selbst zu haben, das Träger von Gedanken und Eigenschaften ist und als Initiator von Handlungen gedacht wird, einer gewissen Art von Täuschung. Metzinger zufolge gibt es nämlich kein Selbst – Organismen haben weder ein Selbst, noch sind sie ein Selbst. Stattdessen existieren bloß Selbstmodelle, d. h. spezifische Aktivierungsereignisse in der Zytoarchitektur des Gehirns, die episodisch vom biologischen System aktiviert werden, um besser mit der Umwelt interagieren zu können. Die subjektive Erfahrung, »jemand zu sein«, und das phänomenale Erleben, über ein substanzhaftes, einheitliches und unteilbares Ich bzw. Selbst zu verfügen, lässt sich demzufolge auf spezifische Aktivierungszustände im Gehirn bzw. auf die Aktivierung spezifischer transienter komputationaler Strukturen bzw. Prozesse reduzieren, die bestimmte Eigenschaften des biologisch realisierten Systems repräsentieren. Das phänomenale Erleben, jemand zu sein, entsteht primär dadurch, dass neuronale Repräsentata (bzw. Modelle) die Eigenschaft besitzen, transparent zu sein; d. h., sie werden vom System nicht als Modelle oder neuronale Repräsentata erkannt. Das Selbstmodell ist somit nicht als solches kognitiv penetrabel (autoepistemische Geschlossenheit), das System erkennt das von ihm selbst erzeugte Selbstmodell nicht in seiner Eigenschaft als Modell und ist somit unfähig zu registrieren, dass es sich um ein vom Gehirn generiertes Repräsentat handelt. Das System sieht quasi durch den Modellcharakter des Modells hindurch direkt auf die Inhalte des Selbstmodells. Somit verwechselt sich das System permanent mit den von ihm selbst erzeugten Inhalten des Selbstmodells. Die Frage »wer ich bin« müsste somit auf folgende Weise beantwortet werden: Ich bin ein neuronales Repräsentat bzw. ein Modell von Eigenschaften und Zuständen des biologischen Systems (d. h. ein System-Modell), das nicht als Modell oder Repräsentat erkannt wird (d. h. phänomenal transparent ist), was zur Folge hat, dass sich das System phänomenal als ein Selbst erlebt, und zwar im Sinne eines Trägers von Gedanken, Handlungen und Eigenschaften.27 Wird dieser Gedankengang akzeptiert, werden auch Theorien plausibel, die sogar bestreiten, dass der Mensch über einen freien Willen ver-
26 Vgl. T. Metzinger: Being no one. 27 Vgl. M. Sauerland/M. Hammerl: »The fiction of an interpreter behind the interpretation«, in: American Journal of Psychology 117 (2004), S. 129135.
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fügt. Nach Libet28, Prinz29, Singer30, Schopenhauer31 und auch Wegner/Wheatley32 gehört die Annahme der Willensfreiheit zu den existentiellen Täuschungen. In der Tat finden sich bei den erwähnten und bei weiteren Autoren schlüssige Argumentationsketten und auch empirische Belege, die gegen die These der Freiheit des menschlichen Willens sprechen.33 Die in diesem Kapitel beschriebenen Sachverhalte stellen keineswegs belanglose intellektuelle Spielereien dar, die an der Lebenswirklichkeit weitestgehend vorbeigehen. Sie finden vielmehr ihren Niederschlag sogar im alltäglichen Handeln, wie z. B. dem Kaufverhalten von Personen. Zahlreiche Untersuchungen demonstrieren, dass Personen die tatsächlichen Einflussfaktoren ihrer Kaufentscheidungen oft nicht bewusst sind. Ohne dies zu bemerken und ohne dies zu wollen, lassen sich Konsumenten beispielsweise von der seriellen Anordnung der Produkte auf einem Ladentisch beeinflussen.34 Wird in der Weinabteilung eines Marktes französische Musik gespielt, kaufen Personen deutlich mehr französischen als gleichwertigen deutschen Wein. Wird hingegen in demselben Markt deutsche Musik gespielt, wird vermehrt deutscher im Vergleich zu französischem Wein gekauft. Der Einfluss der gespielten Musik auf ihr Kaufverhalten war den Konsumenten in den entsprechenden Studien nicht bewusst; von vielen Besuchern des Marktes wurde die Musik über-
28 Vgl. B. Libet: »Unconscious cerebral initiative and the role of conscious will in voluntary action«, in: The Behavioral and Brain Sciences 8 (1985), S. 529-539. 29 Vgl. W. Prinz: »Kritik des freien Willens: Bemerkungen über eine soziale Institution«, in: Psychologische Rundschau 55 (2004), S. 198-206. 30 Vgl. W. Singer: »Entscheidungsgrundlagen: Keiner kann anders als er ist. Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu reden«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Januar 2004, S. 33. 31 Vgl. A. Schopenhauer: Über die Freiheit des menschlichen Willens, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992 (Originalarbeit erschienen 1839). 32 Vgl. D. M. Wegner/T. P. Wheatley: »Apparent mental causation: Sources of the experience of will«, in: American Psychologist 54 (1999), S. 480492. 33 Vgl. J. A. Bargh/T. L. Chartrand: The unbearable automaticity of being, in: American Psychologist 54 (1999), S. 462-479; P. Haggard/M. Eimer: »On the relation between brain potentials and the awareness of voluntary movements«, in: Experimental Brain Research 126 (1999), S. 128-133, und B. Libet: Unconscious cerebral initiative. 34 Vgl. R. E. Nisbet/T. D. Wilson: Telling more than we can know.
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haupt nicht registriert.35 Auch Werbeinformationen per se, die Werberezipienten beiläufig (d. h. ohne Aufmerksamkeitszuwendung) begegnen, können durchaus u. a. die Sympathien für das beworbene Produkt oder die Anzeige steigern, ohne dass dieser Sympathieanstieg von den Rezipienten auf die vorhergehende Begegnung mit dem Produkt bzw. der Werbeanzeige zurückgeführt werden könnte.36 Zudem beeinflussen solche beiläufigen Werbebegegnungen sogar das Wahlverhalten zugunsten des beworbenen Produkts.37 Überdies konnte gezeigt werden, dass schlichte Konditionierungsprozesse (wie beim so genannten Pawlowschen Hund physiologische Reaktionen) Bewertungsänderungen beim Menschen erzeugen können (evaluative conditioning), die den betroffenen Personen gar nicht bewusst sind.38
Das Faktum der Irrationalität Da Personen somit in der überwiegenden Mehrzahl von Situationen nicht über sämtliche notwendigen Informationen verfügen, die für eine »vollständig rationale«, algorithmenorientierte Entscheidungsfindung erforderlich wären, müssen sie oft zwangsweise auf Heuristiken als Entscheidungsgrundlage zurückgreifen. Beim Kaufverhalten beispielsweise stellt der Preis oft die einzige Informationsquelle über die Qualität eines Produkts dar. Dann wird oft geschlossen: Was teuer ist, das ist auch gut bzw. Qualität hat ihren Preis. Dass diese Heuristik von Anbietern oft ausgenutzt wird und sich auch erfolgreich ausnutzen lässt, stellt ein sehr gut belegtes Faktum der Werbeund Konsumentenforschung dar.39
35 Vgl. A. North/D. Hargreaves/J. McKendrick: »The influence of in-store music on wine consumption«, in: Journal of Applied Psychology 84 (1999), S. 271-276. 36 Vgl. S. Shapiro/D. J. Macinnis/S. E. Heckler: »The effects of incidental ad exposure and the formation of consideration sets«, in: Journal of Consumer Research 24 (1997), S. 94-104. 37 Vgl. M. Sauerland: Die Effekte beiläufig rezipierter Werbeinformation (in Vorbereitung). 38 Vgl. M. Hammerl/H.-J. Grabitz: »Unbewußte Evaluationsprozesse«, in: Sprache & Kognition 16 (1997), S. 159-165, und dieselben: »Affectiveevaluative learning in humans: A form of associative learning or only an artifact?«, in: Learning and Motivation 31 (2000), S. 345-363. 39 Vgl. G. Felser: Werbe- und Konsumentenpsychologie, Heidelberg: Spektrum 2001.
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Bei der Wahl zwischen verschiedenen Produkten wird häufig sogar das Gesetz der Transitivität verletzt. Die Präferenzen zwischen einem Produkt A und einem Produkt B lassen sich umkehren, wenn eine indiskutable Alternative C hinzugefügt wird, die einfach nur einen Kontrast zu einer der Alternativen A oder B aufbaut. Kommen etwa die Pizzeria A, die qualitativ hochwertige Speisen zu bieten hat, dort dafür aber sehr unfreundliche Kellner bedienen, und Pizzeria B, die weniger gute Speisequalität zu bieten hat, dafür aber über sehr freundliche Kellner verfügt, für einen feierlichen Abend in Frage, so könnte die nachträgliche Nennung von Pizzeria C, in der das Essen recht hochwertig ist, die Kellner aber am unfreundlichsten sind, die ursprünglichen Präferenzen zwischen A und B verändern, weil Alternative C das Merkmal »Unfreundlichkeit der Kellner« in Alternative A relativiert. Selbst der Vergleich zweier Produkte A und B kann zu unterschiedlichen Präferenzen führen, und zwar in Abhängigkeit davon, welches Produkt zuerst präsentiert wird. Das zuerst genannte Produkt stellt nämlich jeweils den Referenzwert dar, mit dem das jeweils andere Produkt verglichen wird. Der Vergleichsmaßstab kann dabei durchaus wechseln. Selbst dann, wenn es lediglich um die Annahme oder Ablehnung eines einzigen Produkts geht, kann das Urteil verändert werden, wenn bestimmte für das Zielkriterium eigentlich irrelevante Eigenschaften hinzugefügt werden. Fahrzeug A könnte so beispielsweise exakt den Vorstellungen entsprechen, die eine Person von einem »Kraftstoffsparer« hat – das Fahrzeug ist leicht, aerodynamisch und fährt mit Diesel. Würde der Verkäufer dasselbe Fahrzeug mit den Eigenschaften leicht, aerodynamisch, hat Ledersitze und fährt mit Diesel anpreisen, verwässert das Merkmal »hat Ledersitze« möglicherweise die Typizität des Fahrzeugs für die Kategorie »Kraftstoffsparer«, was im extremen Fall zur Ablehnung des Produkts führen kann. Es ist sogar möglich, dass der gleiche monetäre Betrag in Abhängigkeit der mentalen Kategorie, in der er verbucht wird, unterschiedlich bewertet wird. Stellt eine Person vor dem Kinoeingang fest, dass sie eine Kinokarte im Wert von 10 Euro verloren hat, wird sie eher von einem Kinokartenneukauf absehen, als wenn die Person vor dem Kinokartenkauf feststellt, dass sie 10 Euro aus ihrem Portemonnaie verloren hat. Der Grund für dieses irrational anmutende Verhalten liegt darin, dass im ersten Fall das mentale Konto für Freizeitaktivitäten mit 20 Euro belastet wäre, im zweiten Fall hingegen ist es lediglich mit 10 Euro belastet (einen Überblick über diese und ähnliche Befunde gibt Felser40). Aus dem Alltag bekannt dürfte auch das Phänomen sein, dass ein recht hoher Preis von beispielsweise 200 Euro für ein zusätzliches Auto40 Vgl. ebd.
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radio bei einem Autokauf kaum noch ins Gewicht fällt, da der Preis für das Auto bereits sehr hoch ist und somit als so genannter Ankerreiz die Relationen verschiebt. Es erscheint daher geradezu lächerlich, beim Kauf eines Autos bzw. Autoradios um eine Preissenkung von 20 Euro zu feilschen, während bei einem Einzelkauf des Radios für die Ersparnis weniger Euro z. B. grotesk lange Umwege in Kauf genommen werden würden. Der Wunsch, das Denken an die Regeln der formalen Logik anzugleichen, stellt per se schon – wie oben bereits angedeutet und unten weiter ausgeführt – ein zweifelhaftes Ziel dar. Doch selbst wenn die Logik ein adäquates Referenzmodell für menschliches Denken sein soll, so muss konstatiert werden, dass Menschen selten in der Lage sind, diesem Ideal nahe zu kommen – im Gegenteil, es treten zahlreiche Fehlschlüsse bzw. Denkfehler auf. In einer Vielzahl von Untersuchungen wurde beispielsweise nachgewiesen, dass Personen oft die A-priori-Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses nicht ins Kalkül ziehen, wenn sie Urteile über die Wahrscheinlichkeit des Auftretens bedingter Ereignisse abgeben (vgl. dazu die Base Rate Fallacy, z. B. Gigerenzer41). Systematische Denkfehler können auch mittels der so genannten Wasonschen Wahlaufgabe identifiziert werden.42 Diese Wahlaufgabe stellt Probanden vor ein Problem des deduktiven Schließens nach der Form eines konditionalen Syllogismus. Das Problem kann mithilfe des Modus ponens und des Modus tollens logisch korrekt gelöst werden. Der Modus ponens wird korrekt angewendet, wenn das Antecedens einer Konditionalaussage vorliegt (formal: wenn P, dann Q; P gilt) und auf die Gültigkeit der Konsequenz geschlossen wird (formal: Q gilt). Der Modus tollens wird korrekt angewendet, wenn die Konsequenz einer Konditionalaussage verneint ist (formal: wenn P, dann Q; Q gilt nicht) und auf die Verneinung des Antecedens geschlossen wird (formal: P gilt nicht). Probanden vermögen den Modus ponens zwar i. d. R. erfolgreich anzuwenden, bei der Anwendung des Modus tollens treten jedoch häufig Fehlschlüsse auf bzw. Fehlschlüsse werden in diesem Fall sehr häufig akzeptiert.43 Selbst in der Wissenschaft, die von rationalen Prinzipien geleitet sein sollte, geht es nicht sonderlich rational zu. Es gibt zahlreiche irrational 41 Vgl. G. Gigerenzer: Adaptive thinking. Rationality in the real world, Oxford: Oxford University Press 2000. 42 Vgl. P. C. Wason: »Realism and rationality in the selection task«, in: J. St. B. T. Evans (Hg.): Thinking and reasoning: Psychological approaches, London: Routledge & Kegan Paul 1983, S. 44-75. 43 Vgl. z. B. L. J. Rips/S. L. Marcus: »Supposition and the analysis of conditional sentences«, in: M. A. Just/P. A. Carpenter (Hg.), Cognitive processes in comprehension, Hillsdale/NJ: Erlbaum 1977, S. 185-220.
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anmutende Elemente in der Wissenschaftspraxis. Kuhns wissenschaftshistorische Analysen aus dem Jahr 1983 demonstrieren, dass der Wechsel von wissenschaftlichen Paradigmen keineswegs einen rationalen, begründungsorientierten Prozess darstellen muss. Der wissenschaftliche Fortschritt ist nicht unbedingt kontinuierlich, kumulativ oder linear, sondern er stellt eher einen irrationalen Vorgang dar, der den Charakter eines Glaubenskampfes annehmen kann. Der Paradigmenbegriff stellt somit auch ein Gegenkonzept zu den Vorstellungen eines regelhaften Vorgehens einer kumulativen, systematischen Wissenschaftshistoriographie dar. Ein Paradigmenwechsel ist eher das Resultat eines Machtkampfes zwischen Anhängern eines alten und des neuen Paradigmas. Aufgrund der verschiedenen Gültigkeits- und Beweisführungskriterien sind die Paradigmen häufig inkommensurabel; d. h., neue Theorien beinhalten zumeist auch neue Begriffe, für die es in dem alten Paradigma kein eindeutiges Äquivalent gibt. Zum Teil werden auch Begriffe des alten Paradigmas in nuanciert neuer Bedeutung gebraucht, so dass ein rationaler Meinungsaustausch zwischen Anhängern des alten und des neuen Paradigmas zumeist auch gar nicht möglich ist. Somit kann der Konflikt zwischen konkurrierenden Paradigmen auch niemals durch Logik und Experiment allein eindeutig entschieden werden. Entscheidender für den Vollzug eines Paradigmenwechsels sind Faktoren wie Opportunismus und Gruppenrepression. Die Theorien des neuen Paradigmas stellen nach Kuhn44 somit im besten Fall auch lediglich geeignetere Problemlöseinstrumente dar als die Theorien des alten Paradigmas. Ein Paradigmenwechsel geht jedoch nicht zwangsläufig mit einer sukzessiven Annäherung an die Wahrheit einher. In diesem Zusammenhang bemerkt Feyerabend, dass die meisten revolutionären Denker intuitiv vorgegangen sind.45 Das heißt, dass die Erfolge, die häufig der wissenschaftlichen Methode zugeschrieben werden, eigentlich dem gebühren, was gemeinhin Intuition genannt wird. Zu erwähnen sind an dieser Stelle auch die zahlreichen Anekdoten über revolutionäre wissenschaftliche Ideen, die durch schlichte Inkubation entstanden sind.
44 Vgl. T. S. Kuhn: »Commensurability, comparability, communicability«, in: P. D. Asquith/T. Nickles/E. Lensing (Hg.), Proceedings of the 1982 Biennial Meeting of the Philosophy of Science Association, Chicago: University of Chicago Press 1983, S. 669-688. 45 Vgl. P. Feyerabend: Wider den Methodenzwang, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983.
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Der Mensch – wie er sein kann Der Status Quo menschlicher Denk-, Begründungs- und Entscheidungsprozesse ist offenbar weit von seinem Ideal entfernt. Dies stellt möglicherweise einen bedauernswerten Zustand dar. Es könnten jedoch auch gewisse Konsequenzen aus diesen Einsichten gezogen werden. Der Mensch könnte sich beispielsweise noch stärker darum bemühen, seine Defizite zu beseitigen; d. h., er könnte noch eifriger danach streben, seinem Ideal nachzugehen. Natürlich könnten auch (technische) Hilfsmittel entwickelt werden, mit denen er seine eigenen Defizite kompensieren kann. Umgekehrt könnte auch das Idealbild aufgegeben oder durch ein realistischeres Referenzmodell ersetzt werden. Damit im Zusammenhang steht auch eine weitere Möglichkeit, die sich auf die Bedeutung der Diskrepanz selbst bezieht: Der Diskrepanz könnte ein neuer Status zugewiesen werden, und zwar derjenige der Bedeutungslosigkeit. Dies wird im nachfolgenden Kapitel näher dargestellt.
Einsicht in den Nutzen der fehlenden Einsicht Wenn eine der Idealvorstellungen darin besteht, ein perfektes Gedächtnis zu haben, und dies gleichbedeutend damit ist, nichts mehr vergessen zu müssen bzw. diejenigen Informationen nicht vergessen zu müssen, die nicht vergessen werden wollen, dann sei an dieser Stelle auf die Probleme hingewiesen, mit denen Personen konfrontiert sind, die ein »fotografisches Gedächtnis« besitzen. Solche Personen sind in der Tat in der Lage, sich bestimmte Szenen im Detail einzuprägen. Es stellt sich jedoch immer wieder heraus, dass diese Fähigkeit deutlich zulasten anderer kognitiver Fähigkeiten geht. Eine Person, die sich vieles merken kann, trainiert ihre Fähigkeiten nicht mehr, das Wesentliche aus einer Szene zu extrahieren – auf diese Weise kann die Fähigkeit zur Abstraktion verloren gehen. Die Tatsache, dass Menschen wegen des Fehlens vollständiger Information bei ihren Entscheidungen häufig auf einfache Regeln und Heuristiken zurückgreifen, stellt ebenfalls einen sehr funktionalen Sachverhalt dar. Dies ist deshalb der Fall, weil durch Heuristiken sehr schnell ein sehr oft sehr gut funktionierendes Handlungsschema zur Verfügung steht. Einen Ball mit absoluter Sicherheit fangen zu können, würde zahlreiche komplexe Berechnungen ballistischer Prozesse erfordern. Eine einfache Heuristik reicht jedoch aus, um sehr schnell mit einer ungemein
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hohen Erfolgsquote zugreifen zu können.46 An dieser Stelle wäre einzuwenden, dass solche Heuristiken aber auch sehr oft zu dysfunktionalen Vorurteilen führen, die nur mit bewusster Anstrengung und aufmerksamkeitsgeleiteter Gegensteuerung überwunden werden können. Doch auch bezüglich solcher Phänomene wandelt sich das Bild in der Psychologie allmählich. So gehen Dijksterhuis und Nordgren beispielsweise der Frage nach, wie das ressourcenlimitierte Bewusstsein ein differenzierteres Urteil über Personen generieren kann als der nicht limitierte intuitive Prozess.47 In der Tat liegen diesbezüglich einige verblüffende Befunde vor, die zeigen, wie adäquat und oft sogar überlegen intuitiv getroffene Urteile über Personen sein können Es scheint darüber hinaus vermessen zu sein zu beklagen, dass Fehlleistungen oft dadurch zustande kommen, dass bestimmte Wenn-DannRegeln und Routinen angewendet werden, die in der betreffenden Situation nicht zum Erfolg führen, weil die Bedingungen nuanciert anders waren als dies üblicherweise der Fall ist. Es ist zu bedenken, dass das Dilemma ja gerade dadurch zustande kommt, dass die entsprechenden Wenn-Dann-Regeln so oft so gut funktioniert haben, dass sie quasi automatisch und universal auch in neuen Situationen eingesetzt werden.48 Der Anteil des Erfolgs solch regelhaften Vorgehens scheint im Angesicht der wenigen, unterrepräsentierten, aber umso augenfälligeren Fehlleistungen nicht ausreichend gewürdigt zu werden. Zudem kann die bewusste Anwendung solcher Regeln und Routinen fatale Konsequenzen haben, wie die Irritationen demonstrieren, die beim bewussten Treppensteigen entstehen können. Auch auf den durchschnittlichen Erfolg und die Funktion der oben erwähnten evolvierten Prozesse, zu denen Menschen oft der Zugang fehlt, ist an dieser Stelle hinzuweisen. Solche Prozesse können sich in der Evolutionsgeschichte des Menschen überhaupt nur deshalb durchgesetzt haben, weil sie im Durchschnitt aller Aktivierungen und Realisierungen erfolgreich waren und Fehler überlebensrelevanter Art bei der Ausführung eher selten aufgetreten sind. Cosmides/Tooby49 sowie Gigerenzer50
46 Vgl. G. Gigerenzer/W. Gaissmaier: »Wie funktioniert Intuition?«, in: E. H. Witte (Hg.), Evolutionäre Sozialpsychologie und automatische Prozesse, Lengerich: Pabst Science Publishers 2006, S. 31-49. 47 Vgl. A. Dijksterhuis/F. L. Nordgren: A theory of unconscious thought. 48 Vgl. J. Reason.: Human error. 49 Vgl. L. Cosmides/J. Tooby: »Cognitive adaptations for social exchange«, in: J. Barkow/L. Cosmides/J. Tooby (Hg.), The adapted mind: Evolutionary psychology and the generation of culture, New York: Oxford University Press (1992), S. 163-228.
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wiesen für den Humanbereich sogar nach, dass logische Probleme wie das Medizinische-Diagnose-Problem oder die oben beschriebene Wasonsche Wahlaufgabe erst dann von der überwiegenden Mehrzahl der Probanden korrekt gelöst werden können, wenn diese Probleme quasi als adaptive Probleme umformuliert werden. Die für die Lösung solcher Aufgaben erforderlichen Denkprozesse sind demnach genau dann besonders effektiv, wenn diese logischen Probleme in einem Format präsentiert werden, welches in der environment of evolutionary adaptedness (EEA) dieser Denkprozesse ebenfalls präsent war.51 Unter solchen Umständen funktionieren mentale Algorithmen schnell, zuverlässig und ökonomisch effizient.52 Kognitive Prozesse laufen demnach immer dann besonders effizient ab, wenn die Aufgabenstellung, denen diese kognitiven Operationen gelten, in einem Format präsentiert werden, welches den Umweltgegebenheiten und dem Charakter der Probleme, mit denen auch Vorfahren des modernen Menschen konfrontiert waren, gerecht wird. Die üblichen Denk- und Entscheidungsprozesse können unter diesen Voraussetzungen Entscheidungsprozessen, die aufgrund der formalen Logik korrekterweise getroffen werden müssten, sogar überlegen sein.53 Dies ist nur prima facie ein Paradoxon, denn formallogische Denkfehler sind in natürlichen Umwelten gelegentlich hochgradig angemessen und adaptiv. Menschen begehen offenbar gelegentlich formallogische Denkfehler, da deren Korrektur zu nachteiligen Entscheidungen für sie führen würde. Des Weiteren erfüllt auch die von Metzinger54 beschriebene autoepistemische Geschlossenheit ihren Zweck (s. o.). Die beschriebene Transparenz mentaler Modelle bewirkt vermutlich einen adaptiven Vorteil, da sie u. a. eine rasche Informationsverarbeitung gewährleistet. Es wäre wohl eher eine hinderliche Entwicklung, d. h. ein überlebenshemmender metabolischer Ballast gewesen, wenn die physikalischen »Vehikel« der Inhalte des Selbstmodells vollständig erfahrbar wären – naiver Realismus ist demnach durchaus adaptiv. Auch bestimmte andere zunächst scheinbar beklagenswerte kognitive Fehleinschätzungen sind durchaus sinnvoll. Depression, Verzweiflung und Resignation können offenbar leicht das Resultat einer realistischen Selbst- und Weltsicht sein. Ein Hinweis darauf geht beispielsweise aus 50 Vgl. G. Gigerenzer: »Ecological intelligence: An adaptation for frequencies«, in: D. D. Cummins/C. Allen (Hg.), The evolution of mind, London: Oxford University Press 1998, S. 9-29. 51 Vgl. L. Cosmides/J. Tooby: Cognitive adaptations for social exchange. 52 Vgl. ebd. 53 Vgl. ebd. 54 Vgl. T. Metzinger: Being no one.
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einer Untersuchung hervor, die zeigte, dass Personen, die sich in einem depressiven Zustand befinden, ihre Kontrollmöglichkeiten in einer Laboraufgabe realistischer einschätzten als eine nicht-depressive Vergleichsgruppe.55 Dies ist ein Phänomen, welches – einhergehend mit einigen weiteren – auch als depressiver Realismus bezeichnet wird.56 So scheinen moderat depressive Personen auch gewissen selbstwertdienlichen kognitiven Verzerrungen nicht zu unterliegen.57 Eine solche phasenweise depressiv-realistische Selbst- und Weltsicht könnte zwar genau dann funktional sein, wenn daraus realistische, d. h. erreichbare Zielsetzungen entspringen; die selbstwertdienlichen und von Kontrollillusionen geprägten Urteilsverzerrungen, denen Gesunde offenbar permanent unterliegen, scheinen somit jedoch unter »normalen Umständen« sehr funktional zu sein. Der Nutzen solcher selbstbezogenen Wahrnehmungs- und Urteilsverzerrungen wird in zahlreichen Phänomenbereichen deutlich. Der Selfserving bias bezeichnet beispielsweise die Tendenz, eigene Erfolge eher internal (z. B. auf persönliche Fähigkeiten oder Anstrengungen), eigene Misserfolge dagegen eher external (z. B. auf unfaire Bedingungen, Aufgabenschwierigkeiten oder Zufall) zu attribuieren. Hoppe beobachtete schon 1930, dass seine Probanden dazu neigten, für Misserfolge, die sie erlitten, die Verantwortung abzulehnen.58 In einer Vielzahl von Untersuchungen – mit einem beinahe ebenso großen Spektrum an verschiedenen experimentellen und auch nicht-experimentellen Settings – konnte die oben beschriebene Attributionsasymmetrie seitdem verlässlich nachgewiesen werden. Unter Self-handicapping wird das irrational anmutende Verhalten einer Person gefasst, die ihre eigene Leistung sabotiert.59 Den genannten Autoren zufolge ermöglicht das Handicap jedoch die Aufrechterhaltung des eigenen Ansehens, selbst dann, wenn tatsächlich Versagen eintreten sollte. Der Grund dafür liegt darin, dass Personen das Versagen nicht auf mangelnde Fähigkeiten attribuieren müssen, sondern 55 Vgl. S. E. Taylor/J. D. Brown: »Illusion and well-being: A social psychological perspective on mental health«, in: Psychological Bulletin 103 (1988), S. 193-210. 56 Vgl. D. L. Krebs/K. Denton: »Social illusions and self-deception: The evolution of biases in person perception«, in: J. A. Simpson/D. T. Kenrick (Hg.): Evolutionary social psychology, Hillsdale/NJ: Erlbaum 1997, S. 2147. 57 Vgl. S. E. Taylor/J. D. Brown: Illusion and well-being. 58 Vgl. F. Hoppe: »Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie: Erfolg und Misserfolg«, in: Psychologische Forschung 14 (1930), S. 1-63. 59 Vgl. R. L. Higgins/C. R. Snyder/S. Berglas: Self-handicapping: The paradox that isn’ t, New York: Plenum Press 1990.
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das Handicap verantwortlich machen können. Dies ermöglicht eine Exkulpation durch eine external variable Ursachenzuschreibung – die Person hat eine Rechtfertigung für mögliches zukünftiges Versagen zur Verfügung stehen. In Anlehnung an die Theorie der sozialen Vergleiche von Festinger60 beschreibt u. a. Wood die Tendenz zum Downward-socialcomparison61. Vergleichen sich demnach Personen mit unterlegenen, weniger erfolgreichen oder vermeintlich unglücklicheren anderen Personen, so kann dieser abwärts gerichtete Vergleichsprozess einen steigernden Effekt auf das Ansehen der sich vergleichenden Person haben.62 Diese blind einseitige Tendenz zum Downward-social-comparison wurde von Taylor eindrucksvoll an Brustkrebspatientinnen belegt, die dadurch ihre Überlebenschancen verbesserten.63 Darüber hinaus gelang Cialdini und De Nicholas der Nachweis, dass Personen dazu tendieren, ihre Verbindungen zu erfolgreichen anderen Personen aufzuzeigen, um sich »in deren Erfolg sonnen zu können« (basking in reflected glory).64 Diese Tendenz verstärkt sich bei vorhergehendem Ansehensverlust. So lässt sich beispielsweise experimentell zeigen, dass Probanden, die ein fingiertes negatives Leistungsfeedback in einem Test erhielten, schneller und häufiger äußerten, am selben Tag wie eine bekannte und erfolgreiche Person Geburtstag zu haben, als Probanden, die positives Leistungsfeedback erhielten. Minimalverbindungen (Geburtsdaten) zu erfolgreichen anderen Personen genügten diesen Personen offenbar, um sie im Dienste ihres Selbstwertes einsetzen zu können. Auch solche selbstwertdienlichen Verzerrungen und der Psychohygiene nachweislich dienliche positive Illusionen gewährleisten Personen letztlich ein optimales »Funktionieren« im Alltag. Der Nutzen einer eher anti-aufklärerischen Haltung wird vielleicht nirgendwo eindrucksvoller beschrieben als in der oben bereits erwähnten
60 Vgl. L. Festinger: »A theory of social comparison processes«, in: Human Relations 7 (1954), S. 117-140. 61 Vgl. J. V. Wood: »Theory and research concerning social comparisons of personal attributes«, in: Psychological Bulletin 106 (1989), S. 231-248. 62 Vgl. L. G. Aspinwall/S. E. Taylor: »The effects of social comparison direction, threat, and self-esteem on affect, self-evaluation, and expected success«, in: Journal of Personality and Social Psychology 64 (1993), S. 708722, und S. E. Taylor/M. Lobel: »Social comparison activity under threat: Downward evaluation and upward contacts«, in: Psychological Review 96 (1989), S. 569-575. 63 Vgl. S. E. Taylor: Positive illusions: Creative self-deceptions and the healthy mind, New York: Basic Books 1989. 64 Vgl. R. B. Cialdini/M. E. De Nicholas: »Self-presentation by association«, in: Journal of Personality and Social Psychology 57 (1989), S. 626-631.
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Unconscious Thought Theory von Dijksterhuis und Nordgren65. Der Gedankengang der Theorie ist verblüffend einfach: Da die bewusste Informationsverarbeitung ressourcenlimitiert ist, Informationen bewusst i. d. R. lediglich linear und seriell verarbeitet werden können und bewusste Gedanken häufig lediglich epi-phänomenalen, rationalisierenden Charakter besitzen, sollten komplexe Probleme eher der unbewussten Informationsverarbeitung überlassen werden, da diese schneller, effizienter, weniger fehleranfällig, parallel und beinahe ohne Ressourcenbeschränkung zu arbeiten vermag. Unbewusste Prozesse vermögen eine Vielzahl unterschiedlich gewichteter Einflussfaktoren in einer Situation somit realitätsnäher abzubilden, als eine bewusste Informationsverarbeitung dies leisten könnte. Es gibt durchaus mehrere empirische Belege für diese Annahmen. Bei sehr komplexen Produktinformationen (z. B. Wohnungsangebote) führt eine unbewusste Informationsverarbeitung so beispielsweise zu einem »objektiv« guten und einem subjektiv langfristig zufrieden stellenden Wahlverhalten. Bewusste Bewältigungsversuche scheitern hier in der Regel eher. Zwar ist es noch umstritten, ob es sich bei den so genannten Inkubationsprozessen tatsächlich um unbewusstes Denken (und nicht vielmehr um das Vergessen eingefahrener Problemlöseversuche) handelt, dennoch könnten sich durch die Nutzung und Kultivierung der unbewussten Informationsverarbeitung ungeahnte Möglichkeiten eröffnen. Dies könnte sogar für die Provokation wissenschaftlicher Revolutionen fruchtbar sein. So regen Dijksterhuis und Nordgren – auf der Basis erster gelungener Vorstudien – beispielsweise auch an, Lernprogramme (z. B. zum Lernen von Sprachen) auf die gewonnenen Erkenntnisse auszurichten.66
Das Ideal der Selbstakzeptanz Das neue Ideal des Menschen könnte eine uneingeschränkte Selbstakzeptanz sein. Dieses soll und muss den selbstbewussten Willen zur Selbststeigerung nicht ausschließen. Die neue Setzung wäre, die Funktionen und den Nutzen der beschriebenen vermeintlich irrationalen und nur vermeintlich bedauernswerten Prozesse zu erkennen und im Zuge dessen deren enormes Potenzial zu entdecken und systematisch in Anspruch zu nehmen, anstatt einem unerreichbaren Ideal nachzustreben, das in Abhängigkeit des angelegten Maßstabs keineswegs als das per se höherwertige oder überlegene bezeichnet werden kann.
65 Vgl. A. Dijksterhuis/F. L. Nordgren: A theory of unconscious thought. 66 Vgl. ebd.
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Den oben geschilderten Befunden zufolge erscheint es jedenfalls geradezu absurd, das Ziel zu verfolgen, sich möglichst viele ablaufende Prozesse, Verhaltensursachen etc. bewusst zu machen, Sachverhalte in Metriken zu zwingen und Denkprozesse von den Leidenschaften befreien zu wollen. Offenbar ist dem Menschen oft mehr Glück und Erfolg beschieden, wenn Prozesse automatisch, automatisiert, intuitiv oder unbewusst ablaufen. Diese (Selbst-)Erkenntnis entbindet den Menschen aber nicht von der Verantwortung für sein »Handeln und Tun«. Im Gegenteil sollte sich daraus die Verpflichtung ergeben, das ungeheure Potenzial des »unbewussten Denkens« in wichtigen Entscheidungsprozessen systematisch zu nutzten (z. B. durch die Einräumung von kognitiven Inkubationsphasen).
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ERINNERUNGEN
AN DAS
VERGESSEN
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Hochkonjunktur des Erinnerns Es kann keinen Zweifel geben: Soviel Vergangenheit wie gegenwärtig war noch nie, Gedächtnis und Erinnerung haben Hochkonjunktur. Das Bedürfnis unserer Gesellschaft nach Aufbewahrung hat obsessive Formen angenommen. Nicht nur die Relikte vergangener Epochen landen in Museen, sondern auch die Alltagsobjekte der unmittelbaren Gegenwart. Die Beschleunigung der Zeit sorgt dafür, dass sich der Nutzzeitwert von Produkten exponentiell verringert. Computer, die wir noch vor zehn Jahren benutzt haben, betrachten wir heute mit einer fast sentimentalisch anmutenden Einstellung als museumsreife Objekte. Und dies gilt beileibe nicht nur für Computer: Eine Mode, ein Designobjekt oder ein Gegenstand des Alltags, der – wie Shakespeares Mohr – seine Schuldigkeit getan hat, kann keineswegs gehen, sondern wandert schnurstracks in ein Museum, damit der kollektiven Erinnerung ja nichts entwischt. Und in dieses Museum gehen mehr Menschen als auf den Fußballplatz.1 Erst recht gilt dies natürlich für die Architektur: Der realisierte oder geplante komplette Neuaufbau im Krieg zerstörter Kirchen (Frauenkirche) und Schlösser (Potsdam und Berliner Stadtschloss), die Funktion nicht renovierter Kirchen als Erinnerungsorte an den Krieg (Gedächtniskirche in Berlin) oder aber das Holocaust-Mahnmal in Berlin legen dafür beredte Zeugnisse ab. Eine Stadt wie Regensburg bietet in dieser Hinsicht reichhaltiges Anschauungsmaterial: Stolpersteine, das »Dokument« der Zerstörung des Jüdischen Ghettos, das von Dani Karavan geschaffene »Monument«, auch wenn es nicht als Denkmal, sondern als Ort der Begegnung verstanden werden will, ja überhaupt das ganze Stadtzentrum zeugt nicht bloß von der Vergangenheit, sondern »ist« eigentlich Geschichte in Gegenwart. Auch wenn gegenwärtige Vergangenheit nicht 1
Vgl. Hermann Lübbe: Die Gegenwart der Vergangenheit. Kulturelle und politische Funktionen des historischen Bewusstseins. Vortrag gehalten vor der 16. Landesversammlung am 16. März 1985 in Oldenburg, Oldenburg: Holzberg 1985, S. 5.
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JOCHEN MECKE
ausreicht, um europäische Kulturhauptstadt zu werden, für die Aufnahme in das Weltkulturerbe genügt es allemal. Der Denkmalschutz sorgt überdies dafür, dass sich architektonischer Wandel in der Gegenwart nur im Rahmen der Vergangenheitsbewahrung vollziehen kann. Und nicht nur die räumlich präsenten Archive sind interessant, sondern auch die virtuellen und medialen: Über unsere Fernsehsender laufen täglich Wiederholungen von mehrere Jahre alten Serien, die überdies auf DVD verfügbar sind; einzelne Fernsehsender wie neulich der Kultursender 3sat holen gar ganze Fernsehtage aus den MAZ-Archiven hervor und senden sie erneut; Nostalgiesendungen wie die 70er-, 80er-, oder 90erJahre Show warten mit den Stars von damals auf. In allen diesen Sendeformaten wird das technisch hergestellt, was in Prousts Recherche jenen herausragenden Moment bedeutete, in dem Zeit selbst sichtbar wurde: Prousts sich bei der Matinée de Guermantes einstellende vision stéréoscopique, bei der die Zeit selbst im gleichzeitigen Blick auf Vergangenheit und Gegenwart wahrnehmbar wird, ist für den Fernsehzuschauer zur alltäglichen Erfahrung geworden, wenn im Split-Screen Popstars der 70er Jahre gleichzeitig beim damaligen und beim gegenwärtigen Auftritt, mithin zur gleichen Zeit als junger Mensch und als dreißig Jahre ältere, gediegene Damen und Herren zu sehen sind. Auch Nostalgiesendungen selbst entgehen in Zeiten der Mittelknappheit nicht dem Schicksal des medialen Recycling, denn auch sie werden wiederverwertet und nach vier Jahren spätestens nochmals gesendet, ein Zeitraum, der vielleicht genügt, um eine Erinnerung an die Erinnerung, eine Nostalgie der Nostalgie zu erzeugen. Nostalgie bestimmt auch die Sendeformate im Radio: Einzelne Radios – wie zum Beispiel Radio Nostalgie in Frankreich oder Beatles-Radio-Dot-Com – widmen sich ausschließlich dem Abspielen von Oldies, und bestimmte, real nicht mehr existierende Rockgruppen wie zum Beispiel Genesis gehen mit alten Songs auf Tour, ganz zu schweigen von jener ungewollt-gewollten Rocky Horror Monster Show, welche die Rolling Stones als Fleisch gewordene Vergangenheit des Rock ’n’ Roll immer noch zelebrieren. Der Deutschlandfunk und die meisten Regionalzeitungen erinnern jeden Tag an historische Ereignisse, deren Jahrestag wir jeweils begehen, 2003 haben die Vereinten Nationen bzw. die UNESCO das Internationale Jahr des Süßwassers ausgerufen, 2004 das Internationale Jahr zum Gedenken an den Kampf gegen die Sklaverei, 2005 war das Internationale Jahr der Kleinstkredite, des Sports und des Sportunterrichts, 2006 das Internationale Jahr der Wüsten und der Wüstenausbreitung und 2007 ist, wie wir alle wissen, das Jahr der Geisteswissenschaften … und das Jahr des Delphins, also insgesamt wohl das Jahr bedrohter Tierarten und Wissenschaften!
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ERINNERUNGEN AN DAS VERGESSEN
Die Gründe für diese Suche und Sucht nach Vergegenwärtigung der Vergangenheit sind vielfältig: Die enorme Beschleunigung des Tempos technischer, ökonomischer und sozialer Entwicklungen nähert die zeitliche Ausdehnung der Gegenwart asymptotisch dem Nullpunkt an, während die zeitlichen Horizonte von Vergangenheit und Zukunft exponentiell wachsen. »Gegenwartsschrumpfung«, konstatiert Hermann Lübbe, »– das ist der Vorgang der Verkürzung der Extension der Zeiträume, für die wir mit einiger Konstanz unserer Lebensverhältnisse rechnen können.«2 Angesichts dieser Entwicklungen liegt der Verdacht nahe, dass es der Erinnerungssucht eigentlich gar nicht um die Erinnerung an das seit langem Vergangene, sondern vielmehr an die unmittelbar zuvor abgeschlossene Gegenwart geht. Was bei Goethe einst im Teufelspakt unter Höllenstrafen und Seelenverlust verboten war und später eine eigentümliche Karriere als faustische nationale Charaktereigenschaft der Deutschen feierte, die asketische Ablehnung des Begehrens nämlich, der schöne Augenblick möge doch verweilen, das scheint unter den Auspizien schwindender Gegenwart geradezu zur auferlegten Relevanz geworden zu sein.3 Was liegt da näher als durch die Aufbewahrung der Vergangenheit die Illusion zu erzeugen, diese beschleunigte Entwicklung anhalten zu können, die Zeit zu stoppen – Time Must Have a Stop (1945) war der verheißungsvolle Titel eines Romans von Aldous Huxley4 – und sich über die beschleunigte Zeit noch einmal zu erheben.5 Halten wir fest: Niemals in unserer Kulturgeschichte haben individuelle und kollektive Erinnerung eine solch große Rolle gespielt, niemals war der Wunsch nach Vergegenwärtigung der Vergangenheit so groß 2
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Hermann Lübbe: »Schrumpft die Zeit? Zivilisationsdynamik und Zeitumgangsmoral. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart«, in: Kurt Weis (Hg.), Was ist Zeit: Zeit und Verantwortung in Wissenschaft, Technik und Religion, München: DTV 1995, S. 53-79, hier S. 54. Zur Gegenwartsschrumpfung s. a. Hermann Lübbe: Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart, Berlin: Springer 1992, S. 34f. »Wird ich zum Augenblick sagen:/ Verweile doch! du bist so schön!/ Dann magst du mich in Fesseln schlagen,/ Dann will ich zugrunde gehen!« (Johann Wolfgang Goethe, Faust. Goethes Faust-Dichtungen, München Goldmann 1979, S. 200) Vgl. Aldous Huxley: Time must have a Stop, London: Granada 1982. Zum Zusammenhang zwischen beschleunigter Zeit und moderner Literatur vgl. Jochen Mecke: Roman-Zeit: Zeitformung und Dekonstruktion des französischen Romans der Gegenwart, Tübingen: Narr 1990, 3. Teil, S. 231, und Jochen Mecke: »Zeit – Zeitmedien – Medienzeit«, in: Ulrich Leinsle/Jochen Mecke (Hg.), Zeit – Zeitenwechsel – Endzeit: Zeit im Wandel der Zeiten, Kulturen, Techniken und Disziplinen. Regensburg: Regensburger Universitätsverlag 2000, S. 19-37.
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und niemals zuvor waren die materiellen Möglichkeiten, das heißt konkret die Speichermöglichkeiten, diesem Wunsch zu entsprechen, so umfassend. Für das Wissen gilt übrigens das Gleiche: Denn wir hören nicht auf, durch Quizsendungen wie Wer wird Millionär?, Quiztaxi oder durch die Lektüre von Büchern über Bildung6 oder in für Kinder und Laien geschriebenen Werken wie zum Beispiel Jostein Gaarders Roman Sophies Welt das Trauma der uns »auferlegten« Ignoranz abzuarbeiten.7 Selbst Literatur scheint nunmehr auch in den Augen einer Theorie, die vormals Referenzen und Reverenzen an die Realität von sich bzw. ihr wies, als Wissensspeicher erneut an Attraktivität zu gewinnen.8 Angesichts dieser Entwicklung nimmt es nicht Wunder, dass Gedächtnis und Erinnerung höchstes Ansehen genießen. Die theoretischen Großkonzepte der lieux de mémoire, der Erinnerungsorte (Pierre Nora9), des kollektiven, kommunikativen, sozialen und kulturellen Gedächtnisses (Maurice Halbwachs, Jan Assmann10) liefern die entscheidenden Stichworte zur geistigen Situation der Zeit, ja mehr noch: Gedächtnis hat spätestens mit den Arbeiten von Aleida Assmann eine geradezu staatstragende Rolle übernommen. Für Ignoranz und Vergessen gilt hingegen: Beides wird sowohl theoretisch als auch praktisch unter Strafe gestellt.11 6
Vgl. den Bestseller von Dieter Schwanitz: Bildung. Alles, was man wissen muss, Frankfurt am Main: Eichborn 1999. 7 Jostein Gaarders Buch eröffnet eine Reihe besonderer Kinderbücher für Erwachsene, die im Unterschied zu literarischen und dezidiert poetischen Klassikern wie Antoine de Saint-Exupérys Le petit prince (1943/1946) vor allem darum bemüht sind, in einer leicht verständlichen Weise Bildung und Wissen zu vermitteln (vgl. Jostein Gaarder: Sofies Welt. Roman über die Geschichte der Philosophie, München: Hanser 1993, oder die Bücher von François Lelord: Le voyage d’Hector ou la recherche du bonheur, Paris: Jacob 2004; ders.: Hector et les secrets de l’amour, Paris: Jacob 2005; ders.: Hector et le temps qui passe, Paris: Jacob 2006; Catherine Clément: Le voyage de Théo, Paris: Seuil 1998, etc.). 8 Vgl. Jochen Hörisch: Das Wissen der Literatur, München: Fink 2007. 9 Vgl. Pierre Nora: Les lieux de mémoire, 3 Bände, Paris: Gallimard 1997. 10 Vgl. Maurice Halbwachs: La mémoire collective, 2., durchgesehene und erweiterte Auflage, Paris: Presses Universitaires de France 1968; Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 2. Aufl., München: Beck 1999. 11 Das dürfte auch der Grund dafür sein, dass die Publikationsflut zur Gedächtniskultur inzwischen ganze Bibliotheken füllt, während die Arbeiten zur kulturellen und ästhetischen Funktion des Vergessens auf ein paar Regalbrettern Platz finden. Zieht man davon noch die Publikationen ab, bei denen es unter dem Titel »Vergessen« in Wirklichkeit um die Notwendigkeit der Erinnerung geht und auch all diejenigen, die im Vergessen nur ein
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Dass Wissen Macht ist, ist uns spätestens seit Nietzsche und Foucault geläufig, aber noch mehr Macht hat, wer festlegt, welches Wissen gesellschaftliches Ansehen genießt und welche Unwissenheit und welches Vergessen sanktioniert wird. Und Macht hat auch, wer festlegt, was wir getrost vergessen dürfen. Insofern ist die Bezeichnung als »ignorant« und »vergesslich« auch eine Frage des sozialen Urteils und der sozialen Hierarchie. Professoren wissen vielleicht viel in ihrem Fach, sind aber möglicherweise völlig ignorant, wenn es darum geht, einen tropfenden Wasserhahn zu reparieren. Machtdiskurse aber legen fest, dass die eine Form des Nicht-Wissens akzeptiert, die andere jedoch hochgradig sanktioniert wird, vor allem in Zeiten wiederauferstehender Bildungsideale, in denen wir aus Handbüchern entnehmen können, was wir in Sachen Kultur und Wissenschaft unbedingt wissen müssen und nicht wieder vergessen dürfen. Gleiches gilt für das Vergessen: Was dem Handwerker nicht erlaubt ist, nämlich etwa einen Termin oder sein Werkzeug zu vergessen, gehört bei anderen, meist universitären Berufsständen geradezu als festes Epithet zur Berufsbezeichnung und gereicht ihren Trägern, etwa dem zerstreuten Professor, möglicherweise sogar zur Ehre.
Lob des Vergessens Doch nicht nur aus diesen Gründen muss es als vermessen erscheinen, im Zeitalter von Vergesslichkeit, Alzheimer und staatstragender Gedächtnistheorien über die Vergessenskultur zu schreiben. Denn gegen das Vergessen lassen sich sofort eine Reihe äußerst berechtigter und plausibler Einwände formulieren: 1. Zunächst dürfte das Vergessen wohl eher eine äußerst negative Erscheinung sein, die unser Berufs- und Privatleben empfindlich stört. 2. Darüber hinaus lässt sich fragen, in welchem Zusammenhang das Vergessen mit Ignoranz und Dummheit steht. 3. Weiterhin ist das Vergessen im Unterschied zur Erinnerung offensichtlich keine Kunst. Es stellt sich vielmehr ganz unwillkürlich ein und bedarf im Defizit oder aber eine Katastrophe sehen können, so bleiben nicht mehr viele Werke übrig, in denen versucht wird, die Positivität und Produktivität des Vergessens zu untersuchen. Stellvertretend seien hier genannt: Günter Butzer/Manuela Günter: Kulturelles Vergessen Medien – Rituale – Orte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004; Gary Smith/Hinderk M. Emrich: Vom Nutzen des Vergessens, Berlin: Akademischer Verlag 1996; Marc Augé: Les formes de l’oubli, Paris: Payot & Rivages 1998; Harald Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München: Beck 2005; Kai Behrens: Ästhetische Obliviologie. Zur Theoriegeschichte des Vergessens, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005.
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Unterschied etwa zu Lernen, Wissen und Erinnerung keiner besonderen Anstrengung.12 Auf den ersten Einwand lässt sich mit einer Erinnerung an die Vorzüge des Vergessens antworten. Ohne Vergessen müssten wir auf eine ganze Reihe von Errungenschaften wie zum Beispiel Wahlen und Demokratie verzichten. Es war ein großer Vorteil für den neu gewählten französischen Präsidenten, der seinen Wahlkampf unter dem Vorzeichen des Bruchs mit der Vergangenheit, d. h. vor allem mit der Politik der vorherigen Regierung, führte, dass die Bürger seines Landes einfach vergessen hatten, dass er selbst dieser Regierung jahrelang angehört hatte. Und schon fünf Jahre zuvor hatten die Bürger desselben Landes einen Präsidenten im ersten Wahlgang mit den meisten Stimmen gewählt, einfach weil sie glückselig vergessen hatten, dass er während seines ersten Mandats kaum je eines der vielen gemachten Versprechen gehalten oder sonstige Leistungen aufzuweisen hatte. Und dies gilt sicherlich für zahlreiche Demokratien: Wenn jeder sich an die Wahlversprechen vom letzten Mal erinnern würde, wer würde dann noch zur nächsten Wahl gehen? Politiker hingegen kann das Vergessen vor juristischer Verfolgung schützen und machterhaltend wirken, wie das Beispiel von Helmut Kohls Black Out zeigt.13 Aber das Vergessen sichert nicht nur Demokratie: Ohne Vergessen gäbe es keine lukrativen Psychoanalytikerpraxen, in welchen wir das Vergessene mühsam wieder ans Tageslicht fördern müssen. Und überhaupt sind die Segnungen des Vergessens Legion: kein Theater ohne Souffleur, kein Examen ohne Repetitor, und ohne Vergessen keine Prüfung, denn deren Existenzberechtigung beruht ja zum Teil geradezu auf der Möglichkeit des Vergessens. Wenn alles, was in Vorlesungen und Seminaren gelehrt wird, behalten würde, dann wäre ein Teil der Examina überflüssig. Ohne Vergessen keine Schulen und keine Universitäten. Keine Reformen ohne Vergessen. Denn wenn wir wüssten, was in der Vergangenheit schon alles versucht worden ist und was in der Zukunft auf einen zukommt, würde niemand mehr Reformen angehen. Ohne Vergessen keine Literatur: Denn – wie Harold Bloom in The Anxiety of In12 Dass über Vergessenskultur so wenig geschrieben wird, dürfte wohl auch diesem Umstand zu verdanken sein. Umberto Eco hat darauf hingewiesen, dass es eine Vergessenskunst nicht geben könne, da diese der Grundkonzeption des Zeichens widerspreche (vgl. Umberto Eco: »An ›Ars oblivionalis‹? Forget it«, in: PMLA 103 (1988), S. 254-261). 13 Zur Erinnerung: Kohl hatte vergessen, dass er sehr wohl über den Zweck der Staatsbürgerlichen Vereinigung als Spendenbeschaffungsanlage informiert war. Es war sein Parteifreund Heiner Geissler, der vermutete, Kohl habe da wohl einen Blackout gehabt.
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fluence gezeigt hat – das Vergessen der Vorläufer, die einen Autor beeinflusst haben, ist die Ermöglichungsbedingung des eigenen Schreibens.14 Wir verdanken dem Vergessen die Mnemotechnik, die Schrift und die Entwicklung sämtlicher Aufzeichnungsmedien bis hin zum Computer. Und ohne Vergessen gibt es natürlich auch keine Kolloquien und Vorträge, denn ein guter Vortragender muss zweierlei Dinge sofort vergessen: erstens all das, was schon vorher über sein Thema gesagt worden ist, und zweitens – noch viel wichtiger – das Thema seines Vortrags selbst, denn was gibt es bei Kolloquien, Kongressen oder Ringvorlesungen Hinderlicheres für die eigene Kreativität und die Entwicklung origineller Ideen als die engen Fesseln eines Themas? Das Vergessen des Themas erlaubt es auch noch, Lob dafür einzuheimsen, etwas völlig Neues und Originelles gesagt zu haben, … zwar nicht zum Thema, aber das spielt überhaupt keine Rolle, denn dank einer Art prästabilierter Harmonie vergessen auch die Zuhörer, worum es eigentlich gehen sollte. Und weiter: Ohne Vergessen kein Glaube, keine Freundschaft, keine Liebe und keine Hoffnung, ja nicht einmal ein stabiler Staat. Und dennoch soll mit dem Vergessen kein Staat zu machen sein? Mit Verlaub! Hier sind Zweifel angebracht. Es ließe sich noch seitenlang weiter trefflich über die Vorzüge des Vergessens philosophieren, in der Hoffnung, dass der geneigte Leser vergessen haben möge, dass sich der Verfasser obiger Passagen eines wirkmächtigen, aus der Renaissance stammenden Modells abendländischer Literatur bedient hat, nämlich des von Erasmus von Rotterdam 1509 veröffentlichten Lobes der Torheit, eines Werkes in dem der Autor die Weltherrscherin Torheit ironisch lobt, weil sie sich mit ihren Töchtern Eigenliebe, Schmeichelei, Faulheit, Lust und nicht zuletzt Vergesslichkeit die Welt untertan gemacht hat. Bereits Erasmus hat mithin zeigt, dass ohne diese Laster ein erträgliches Dasein auf Erden gar nicht möglich ist.15 Das Beispiel des Erasmus zeigt allerdings auch, dass jedes Lob des Vergessens eigentlich immer – zumeist in ironischer Brechung – eine Apologie seines Gegenbegriffs ist. Statt einer Apologie soll im Folgenden der Versuch einer Kritik des Vergessens in Angriff genommen werden. Überprüft werden sollen das Leistungsvermögen und die Grenzen des Vergessens für Individuum, Kultur, Ästhetik und Erkenntnis. Dazu ist es allerdings im Kontext des vorliegenden Bandes unverzichtbar, zunächst die Gemeinsamkeiten und den Zusammenhang zwischen Ignoranz und Vergessen zu klären und deren Strukturmerkmale näher zu betrachten. 14 Vgl. Harald Bloom: The Anxiety of Influence: A Theory of Poetry, New York: Oxford University Press 1973. 15 Vgl. Erasmus von Rotterdam: Lob der Torheit, Stuttgart: Reclam 1992.
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Ignoranz, Dummheit, Vergessen Die erste strukturelle Gemeinsamkeit von Ignoranz und Vergessen liegt in ihrer Unwillkürlichkeit. Im Unterschied zu Wissen und zur Erinnerung ist es unmöglich, eine Sache bewusst und direkt zu ignorieren oder zu vergessen. Wir erinnern uns: »Je mehr man lernt, desto mehr weiß man. Je mehr man aber weiß, desto mehr vergisst man. Je mehr man vergisst, desto weniger weiß man. Ergo: Je mehr man lernt, desto weniger weiß man.« Der Spruch verdankt seine bestechende Überzeugungskraft zwar einem mehrfachen logischen Kurzschluss, aber auch der Einsicht in die Asymmetrie zwischen Lernen und Ignoranz, Erinnern und Vergessen. Denn Lernen und Erinnern erfordert eine Anstrengung, Ignoranz und Vergessen gehen wie von selbst. Dass Ignoranz und Vergessen nicht planbar sind, hängt mit unserer Unfähigkeit zusammen, die Negation von Bewusstseinsinhalten zu denken. Wir können uns nicht vornehmen, an etwas Bestimmtes nicht zu denken, bzw. wenn wir dies tun, ist dies der beste Weg uns dazu zu bringen, permanent gerade genau daran zu denken. »On ne saurait penser à rien«, »Man kann nicht an nichts denken« lautet ein französisches Sprichwort, dem Eric Rohmer einen wundervollen Film gewidmet hat.16 Ähnliches gilt auch für das Vergessen.17 Eine Kunst des Vergessens – dies wäre eine erste Antwort auf den zweiten, häufig gegen deren Existenz erhobenen Einwand – kann offenbar nur darin bestehen, eine Erinnerung durch eine noch stärkere, einen Eindruck durch einen noch prägenderen zu überschreiben. Psychotechniken wie etwa die Verhaltenstherapie, die lösungsorientierte Kurzzeittherapie oder das neurolinguistische Programmieren sorgen für eine solche Auslöschung belasteter, traumatischer Empfindungen mittels der Überlagerung durch neue positive Eindrücke.18 Eine weitere besondere Struktur
16 Vgl. Eric Rohmer: La femme de l’aviateur (Frankreich 1980). 17 Die Paradoxie des Vergessens hat Immanuel Kant allerdings nicht daran gehindert, es trotzdem zu versuchen: Nach der Entlassung seines Dieners Lampe hatte er fein säuberlich auf einen Zettel notiert: »Der Name Lampe muss nun völlig vergessen werden.« (Eine ausführliche Darlegung des Hintergrunds findet sich in: H. Weinrich: Lethe, S. 98-105.) 18 Damit befinden sich diese Therapieformen, die auf der Möglichkeit indirekt erzeugten Vergessens des »Problems« oder des Traumas beruhen, in radikalem Gegensatz zur auf die Erinnerung und Aufarbeitung des Vergessenen sowie Verdrängten setzenden Psychoanalyse (vgl. Richard Bandler/John Grinder: The Structure of Magic I: A Book About Language and Therapy, Palo Alto: Science & Behavior Books 1975; Paul Watzlawick (Hg.): Kurzzeittherapie und Wirklichkeit. Eine Einführung, München: Piper 2001).
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des Vergessens lässt sich anhand zweier Beispiele aus Film und Literatur verdeutlichen. In seinem Thriller mit dem Titel Memento hat der Regisseur Christopher Nolan den aus psychopathologischer Sicht interessanten Fall eines Mannes dargestellt, der unter einer besonderen Form des Gedächtnisverlustes leidet.19 Leonard Shelby kann sich an Ereignisse, die länger als eine Viertelstunde zurück liegen, nicht erinnern.20 Um nicht zu vergessen, muss er Personen und Ereignisse mit einer Polaroid-Kamera aufnehmen und alle Informationen mühsam auf Zetteln oder auf seiner eigenen Haut notieren. Der Punkt, auf den es im Kontext unserer Überlegungen ankommt, ist folgender: Der Held vergisst nichts Konkretes, sondern einfach alles. Eines allerdings vergisst er niemals: die Tatsache nämlich, dass er beständig alles vergisst. Das Vergessen ist somit niemals total, sondern wird als solches erinnert. Es setzt sowohl eine Erinnerung an die eigene Identität als auch an die Tatsache des Vergessens voraus. Das Vergessen des Vergessens hingegen ermöglicht eine solche Erinnerung nicht mehr. In dieser Reflexivität des Vergessens liegt der entscheidende Unterschied zwischen dem normalen Vergessen und dem fortgeschrittenen Stadium der Alzheimer-Krankheit. Für die Ignoranz gilt das Gleiche: Die gängigen Formen des Nicht-Wissens setzen ein grundlegendes Wissen voraus, das Wissen darum nämlich, dass etwas nicht gewusst wird. Ignorant ist jemand, der etwas nicht weiß und gleichzeitig weiß, dass er etwas nicht weiß. Ich weiß, dass ich nicht weiß, lautet bekanntlich die kanonische Formel der Ignoranz bei Sokrates.21 Während der Ignorant zumindest wissen muss, dass er etwas nicht weiß, muss der Vergessende in der Lage sein, sich daran zu erinnern, dass er etwas vergessen hat. Aus
19 Vgl. Christopher Nolan: Memento, USA 2000, Helkon DVD 2002. 20 In genauerer fachterminologischer Bezeichnung besteht Shelbys Gedächtnisstörung darin, dass er unfähig ist, »neue Informationen bleibend aufzunehmen und abzuspeichern.« Der terminus technicus dieses Verlustes des Kurzzeitgedächtnisses lautet anterograde Amnesie (vgl. Hans J. Markowitsch: Gedächtnisstörungen, Stuttgart: Kohlhammer 1999, S. 12). 21 »Diesem Mann bin ich allerdings an Weisheit überlegen; denn wie es scheint, weiß keiner von uns beiden etwas Rechtes und Ordentliches, aber er bildet sich ungeachtet seiner Unwissenheit ein, etwas zu wissen, während ich, meiner Unwissenheit mir bewusst, mir auch nicht einbilde etwas zu wissen. Es scheint also, ich bin doch noch um ein kleines Stück weiser als er, nämlich um dies: was ich nicht weiß, das bilde ich mir auch nicht zu wissen ein.« (Plato: Apologie des Sokrates und Kriton, übersetzt und erläutert von Otto Apelt, in: Platon. Sämtliche Dialoge, übersetzt und hg. von Otto Apelt in Verbindung mit Kurt Hildebrandt, Constantin Ritter und Gustav Schneider, Band I, Hamburg: Meiner 1988, S. 30.)
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dieser paradoxen Struktur der Ignoranz und des Vergessens lässt sich eine terminologische Unterscheidung gewinnen. Der Ignorant weiß, dass er nicht weiß. Er wird daher versuchen, seine Wissenslücken zu schließen. Der Dumme hingegen ist sich der Grenzen seines Wissens nicht bewusst, er sieht daher auch keine Veranlassung, etwas daran zu ändern.22 Das bedeutet aber, dass der Dumme dazu verurteilt ist, immer wieder die gleichen Verhaltensweisen zu reproduzieren. Darüber hinaus verfügt er in einer Reihe von Situationen nicht über die notwendige Flexibilität, um sich in ihnen angemessen zu verhalten. Das heißt, es fehlt ihm nicht nur an Wissen, es fehlt ihm vor allem die eigene Urteilskraft, die es ihm erlaubt, allgemeine Prinzipien und vielleicht das Wissen, über das er verfügt, auf eine konkrete Situation anzuwenden. Damit kommt der Dummheit aber eine Eigenschaft zu, die sie geradezu zum Objekt des Lachens prädestiniert: Denn wir lachen, so will es die von Henri Bergson in Le rire entwickelte Theorie, über alles, was sich vom Menschlichen durch seine Mechanik entfernt.23 Für das Vergessen gilt das Gleiche: Wer immer wieder etwas vergisst, ist nicht nur unfähig, sich in bestimmten Situationen angemessen zu verhalten, sondern dazu verurteilt, diese Unfähigkeit zu wiederholen. Ignoranz und Vergessen enthalten damit beide ein reflexives Element. Dummheit hingegen, so könnte man definieren, ist die Ignoranz der Ignoranz, während das Vergessen des Vergessens für bestimmte Psychopathologien und die Alzheimerkrankheit charakteristisch ist. Neben der oben dargelegten Asymmetrie teilen Ignoranz und Vergessen als weiteres Merkmal die Ausblendung eines Bereichs des Wissens. Der Unterschied besteht lediglich in der zeitlichen Struktur: Ignoranz bezieht sich auf einen Bereich des Wissens und Tuns, der in einer
22 Diese Art von Dummheit ist derjenigen verwandt, die Robert Musil in seinem berühmten Vortrag Über die Dummheit neben der »schlichten Dummheit« betrachtet. »Sie ist nicht sowohl ein Mangel an Intelligenz als deren Versagen aus dem Grunde, dass sie sich Leistungen anmaßt, die ihr nicht zustehen.« Für Musil ist dies die »eigentliche Unbildung«, das heißt ein »Mißverhältnis zwischen Stoff und Kraft«. (Robert Musil: »Über die Dummheit«, in: Gesammelte Werke, Band 8, Reinbek b. H.: Rowohlt 1978, S. 1287). Eine Dummheit, die sich selbst für gebildet und klug hält, wird jedoch die gleiche Unwissenheit in Bezug auf die Grenzen des eigenen Wissens nach sich ziehen und damit eine Haltung hervorrufen, die der schlichten Dummheit letztlich verwandt ist (s. a. Achim Geisenhanslüke: »Schöndummheit. Über Ignoranz« (in diesem Band), S. 15-34). 23 Vgl. Henri Bergson: Le rire, Paris: Alcan 1924, S. 16 : »Ce qu’il y a de risible […], c’est une certaine raideur de mécanique là où l’on voudrait trouver la souplesse attentive et la vivante flexibilité d’une personne.«
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Gesellschaft als bekannt vorausgesetzt werden kann, das Vergessen meint hingegen bereits Gewusstes und Bekanntes, das jedoch aus dem Wissensreservoir oder dem kollektiven oder individuellen Gedächtnis getilgt wurde. Für das auf die Zukunft bezogene Noch-Nicht-Wissen haben wir kein spezifisches Wort. Als Kepler trotz großer Abweichungen bei der Messung der Epizyklen von Planetenbahnen immer noch an der Idee von Kreisbahnen festhielt, war er weder vergesslich noch unwissend oder gar dumm, seine Unwissenheit bezog sich weder auf in der Vergangenheit einmal Gewusstes noch auf in der Gegenwart Bekanntes, sondern auf ein Gebiet, das noch nicht bekannt und erforscht war.24 Damit ergibt sich aber folgende mögliche zeitliche Gliederung des Nicht-Wissens: Vergessen ist das Nicht-Mehr-Wissen des in der Vergangenheit einmal Gewussten, Ignoranz das Nicht-Wissen oder Unwissenheit des in der Gegenwart, Ahnungslosigkeit das Noch-Nicht-Wissen des in der Zukunft Wissbaren. Aber kann man tatsächlich davon ausgehen, dass dem Vergessen des Bekannten eine positive Funktion für Individuum, Gesellschaft, Kunst und Literatur zukommt?
Leistungen und Grenzen des Vergessens Aus der oben skizzierten Struktur des Vergessens ergibt sich, dass Selbstbewusstsein, Erinnerung und Kontinuität die unabdingbaren Voraussetzungen für die Entstehung von Identität sind … und damit auch für die Wahrnehmung des Vergessens.25 Erst vor dieser fundamentalen Kontinuität kann sich überhaupt jene Diskontinuität, jene Differenz konstituieren, die das Vergessen ausmacht. Damit etwas vergessen werden kann, muss es ein Subjekt geben, das sich an sich selbst und an die eigene Vergangenheit erinnert und damit auch in der Lage ist, das eigene Vergessen als Bruch in der Vergangenheitskette wahrzunehmen. Ohne Gedächtnis und Erinnerung ist die Einheit individueller und kollektiver Subjekte nicht zu denken. In der gegenwärtigen Gedächtnishochkonjunktur wird allerdings gerne ausgeblendet, dass das Vergessen mindestens ebenso 24 Vgl. Arthur Koestler: Die Nachtwandler. Die Entstehungsgeschichte unserer Weltkenntnis, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, v. a. S. 322-326. 25 Natürlich soll damit nicht bestritten werden, dass es objektive Kriterien für das Vergessen gibt und dass auch andere Menschen feststellen können, dass jemand etwas vergessen hat oder vergesslich ist. Das Bewusstsein des Vergessens ist nicht conditio sine qua non für das Vorliegen von Gedächtnislücken, sondern für deren Wahrnehmung. Umgekehrt gilt jedoch, dass das Bewusstsein des Vergessens nur vor dem Hintergrund einer grundlegenden Erinnerung an die eigene Vergangenheit möglich ist.
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sehr an der Herstellung von Identität beteiligt ist. Dies muss nicht einmal in einem hochtheoretischen Sinn gemeint sein, sondern bezieht sich auf das ganz triviale Phänomen, dass die Herstellung der eigenen Identität die Auswahl bestimmter Ereignisse für die Aufbewahrung im Gedächtnis und den Ausschluss anderer Ereignisse voraussetzt, die dem Vergessen anheim gegeben werden. Persönliche Identität setzt eine individuelle Selektion derjenigen Ereignisse voraus, die als Teil der eigenen Geschichte empfunden werden, und damit auch das Vergessen derjenigen Erlebnisse, die nicht dazu gehören. Der total recall, die Totalspeicherung der Vergangenheit bietet keinen Ansatzpunkt für die Ausbildung der Identität. Erst die Integration eines Teils und die Ausblendung eines anderen bildet eine individuelle Struktur aus der gesichts- und geschichtslosen Masse der Ereignisse. Ebenso wie das Erinnern ist damit auch das Vergessen conditio sine qua non der Bildung persönlicher Identität. Nicht alles kann, muss und darf erinnert werden. Dies gilt natürlich a fortiori für negativ belegte Ereignisse. Was Erinnerungs- und Gedächtnismedien wie Literatur und Film vor allem im Thriller inszenieren, nämlich den Gedächtnisverlust nach einem zumeist traumatischen und verdrängten Ereignis und die darauf folgende Rekonstruktion der eigenen Vergangenheit und Identität, und was dadurch immer wieder spektakulär in das Bewusstsein von Individuum und Kollektiv gerückt wird, kann per definitionem keine Entsprechung auf der Seite des Vergessens haben. Denn die vergessenen Geschehnisse sollen es auch bleiben, und das zumeist aus gutem Grund. Da das Vergessene eine Leerstelle im Gedächtnis ausmacht, die durch Negativität bestimmt ist, kann der Vergessensprozess im Unterschied zum Rekonstruktions- und Erinnerungsprozess der Kriminalromane und -filme nicht dargestellt werden. Notwendig ist er allerdings für die eigene Existenz mindestens genauso. Nicht die Verdrängung ist darstellbar, sondern die Erinnerung. Erst wenn die Zeit der Verdrängung und des Vergessens beendet ist, können Speichermedien des Symbolischen ihre Funktion erfüllen. Dies lässt sich etwa an den autobiographischen Erzählungen der Opfer traumatischer Erlebnisse zeigen. Wie viele Verfolgte des Nationalsozialismus hat auch der ehemalige Buchenwaldinsasse und spätere spanische Kultusminister Jorge Semprun in einem autobiographischen Text, dessen Titel L’écriture ou la vie bereits Programm ist, deutlich gemacht, dass er zwar immer wusste, dass er die Ereignisse seiner Gefangenschaft in Buchwald erzählen müsse, dass er aber andererseits gerade diese Ereignisse vergessen musste, um weiterleben zu können.26 Jorge Semprun geht noch weiter, denn als Motto zitiert er einen Text von Maurice Blanchot, der verdeutlicht, dass das Vergessen nicht nur die conditio sine qua non 26 Vgl. Jorge Semprun: L’écriture et la vie, Paris: Gallimard folio 2005.
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des eigenen Überlebens in der Nachkriegszeit, sondern auch für die Erinnerung an die Ereignisse in Buchenwald und damit auch für deren Aufzeichnung ist: »Qui veux se souvenir doit se confier à l’oubli, à ce risque qui est l’oubli absolu et à ce beau hasard que devient alors le souvenir.«27 Auch die Betrachtung der jüngeren Geschichte der meisten europäischen Kulturen wirft Fragen an die als politisch korrekt geltende Erinnerungspolitik auf. In Spanien nimmt diese Erinnerungspolitik die Form einer radikalen Kritik am so genannten pacto del olvido an, am Pakt des Vergessens zwischen den politischen Parteien und ehemaligen Gegnern des Bürgerkriegs, ein Pakt, der die gesamte transición, d. h. die Zeit des friedlichen Übergangs von der Diktatur zur Demokratie hielt.28 Politisch korrekt ist heute die radikale Infragestellung dieses Paktes im Namen der Erinnerung an die Opfer, denen nunmehr historische Gerechtigkeit zuteil werden soll. Straßen werden umbenannt, Massengräber ausgegraben und es wird versucht, die namenlosen Opfer von Erschießungen zu identifizieren. So beschließt die spanische Regierung 2006 eine Ley de la recuperación de la memoria histórica, die die bisher vor allem auf Initiative privater Vereinigungen wie der Asociación para la recuperación de la memoria histórica oder dem Foro por la Memoria vorgenommenen Ausgrabungen von Massengräbern ausdrücklich vorsieht.29 Die Berechtigung dieser für die spanische Aufarbeitung der Vergangenheit und die 27 Maurice Blanchot, zitiert nach J. Semprun: L’écriture ou la vie, S. 9. 28 Mit dem »pacto del olvido« sind nicht die diversen, von den ersten demokratisch gewählten Regierungen erlassenen Amnestiegesetze gemeint, die zunächst die im Bürgerkrieg unterlegenen Parteien, dann jedoch auch die Täter des Franco-Regimes schützten. Es ist auch nicht ein schriftlich niedergelegtes Abkommen wie zum Beispiel die für die Entwicklung der Wirtschaft wichtigen pactos de Moncloa (1977) gemeint, sondern eine Haltung der spanischen Eliten, die darauf abzielte, den Bürgerkrieg und den Frankismus aus den politischen Debatten fern zu halten (vgl. Walter L. Bernecker/Sören Brinkmann: Kampf der Erinnerung. Der spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936-2000, Nettersheim: Graswurzelrevolution 2006, S. 245f.; vgl. auch Aguilar Fernández: Memoria y olvido de la Guerra Civil española, Madrid: Alianza 1996). Bernecker und Brinkmann teilen die Geschichte spanischer Erinnerungspolitik des Bürgerkriegs in die Epochen »Zwischen Erinnern und Vergessen (1975-1980), in eine vom Schweigen der Politik und der intensiven fachhistorischen Forschung bestimmte (1980-1996) und schließlich in eine Epoche der massiven Rückkehr der Vergangenheit (1996-2004ff.) ein« (W.L. Bernecker/S. Brinkmann: Kampf der Erinnerung, S. 229, 313). 29 Die Web-Site der Vereinigung enthält eine Chronik der verschiedenen Aktivitäten wie zum Beispiel der verschiedenen Ausgrabungen (vgl. http:// www.memoriahistorica.org/ vom 04. September 2007).
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Wiedergewinnung eines Teils der Geschichte notwendigen Politik des Gedenkens ist natürlich unbestritten. Streiten lässt sich allerdings über die politisch weniger korrekte, aber dafür umso notwendigere Frage, ob die einzigartige Leistung der transición – immerhin eines der seltenen Beispiele für einen friedlichen Übergang von der Diktatur zur Demokratie –, ob diese großartige Leistung der spanischen Kultur ohne das Vergessen überhaupt möglich gewesen wäre. Übrigens will sich auch die gegenwärtige Erinnerungspolitik nicht an alles erinnern bzw. an alles erinnert werden. Eine Initiative u. a. des foro por la memoria schlägt die Entfernung sämtlicher Symbole des Faschismus von öffentlichen Straßen und Gebäuden vor.30 Auch wenn diese Form der Spurenbeseitigung seitens eines Erinnerungsforums wie ein Oxymoron wirken mag, so ist die Absicht, die Herrschaftssymbole des Frankismus nicht länger auf öffentlichen Plätzen zu dulden, konsequent. Wie aber ist es zu bewerten, wenn dabei der offenkundige Funktionswandel bestimmter Namen ausgeblendet wird? Mit der Tilgung des Namens von José Antonio Primo de Rivera wird nicht nur der Führer der Falange und somit ein Täter entfernt, sondern auch der von den Republikanern hingerichtete Gefangene und damit auch die Erinnerung an ein Opfer, das nunmehr in einer veränderten Konstellation dem Vergessen preisgegeben werden soll.31 Eine ähnliche Frage nach der Legitimität des Vergessens lässt sich auch für Frankreich stellen, aus deutscher Sicht häufig heimlich oder offen bewundert für sein ungebrochenes Verhältnis zu eigener Geschichte und Nation. Auch hier werden nunmehr die traumatischen Erlebnisse der eigenen Vergangenheit gegen eine ganze Reihe von Widerständen aufgearbeitet. Was man in dem von Pierre Nora initiierten und herausgegebenen Mammutwerk Lieux de mémoire nur punktuell findet, nämlich jene konkreten Orte und Topoi französischer Geschichte, die durchaus problematisch sind – erwähnt werden lediglich der Aufstand in der Vendée, der an die Exekution der Aufständischen der Pariser Kommune gemahnende Mur des Fédérés, Vichy und Port-Royal, doch »Cathares«, »SaintBarthélémy«, »collaboration«, »la guerre d’Indochine« oder »la guerre d’Algérie« sucht man vergebens –, das findet sich in jenen Zeitungsartikeln, Zeitschriftenaufsätzen und Büchern zuhauf, die sich mit den 30 Vgl. Propuesta de retirada de todo tipo de simbología franquista de las vías públicas y edificios de las administraciones estatal, autonómica y municipal (http://www.foroporlamemoria.info/limpia_calles_de_fascismo.htm vom 04. September 2007). 31 Vgl. die Seite La caza al monumento fascista, die in einer Liste der zu entfernenden Straßennahmen u. a. auch den von José Antonio de Primo de Riveira enthält (http://www.foroporlamemoria.info/simbolos_franquistas.php vom 04. September 2007).
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schwarzen Flecken auseinandersetzen, die auf der Landkarte der Erinnerungsorte nicht verzeichnet sind.32 Die Notwendigkeit eines solchen Prozesses der Aufarbeitung der Schattenseiten der eigenen Geschichte in der Gegenwart ist zwar in Frankreich nicht ganz unbestritten, wird jedoch zumindest von den meisten Intellektuellen als notwendig betrachtet. Politisch inkorrekt ist hingegen nach wie vor die Frage, ob der enorme Modernisierungsschub in der Nachkriegszeit, der so genannten trentes glorieuses, überhaupt möglich gewesen wäre ohne jenen französischen Mythos der résistance, der es erlaubte, Kriegsniederlage und Kollaboration und später auch den Vietnam- und den Algerienkrieg zu vergessen und zu verdrängen.33 Naturgemäß verschärft sich die Brisanz der Frage, wenn sie sich auf die deutsche Geschichte bezieht. Dass eine neutrale oder gar positive Betrachtung des Vergessens in Deutschland mit großen Vorbehalten rechnen muss, ergibt sich aus der Erinnerungspflicht an die Verbrechen des Nationalsozialismus und des Holocaust, eine Pflicht, der allerdings häufig mit einer ebenso starken Tendenz kollektiver Amnesie begegnet wurde. Der Schriftsteller Gustav Sebald hat in seinem berühmten Essay über Luftkrieg und Literatur allerdings ein anderes Objekt kollektiven Vergessens im Blick. Er kritisiert, die deutsche Literatur habe versagt, da der Luftkrieg und dessen Folgen von ihr ausgeblendet worden seien. Und man darf hinzufügen, dass dies nicht nur für die deutsche Literatur, sondern auch für die deutsche Gesellschaft insgesamt gilt. Die Deutschen waren – um eine (öfter missverstandene) These Alexander Mitscherlichs aufzugreifen – nicht nur »unfähig zu trauern«, sie haben nicht nur den Holocaust und den Faschismus, sondern auch Luftkrieg und Vertreibung
32 Vgl. Pierre Nora: Les lieux de mémoire. 33 Alfred Grosser konstatiert, dass der »französische Blick auf die negativen Seiten der nationalen Vergangenheit getrübt« sei, und setzt dies von der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland ab, »wo die Auseinandersetzung mit den vergangenen, allerdings immensen, Verbrechen oft masochistische Züge annimmt« (Alfred Grosser: »Gegenwart der Vergangenheit«, in: ders., Wie anders ist Frankreich? München: Beck 2005, S. 10-50, hier S. 49f.). Für die in der Nachkriegszeit vorherrschende Sichtweise der résistance hält Grosser allerdings fest, dass es »eine Verherrlichung, mit Überschätzung der Realität [gab, J.M.], so als hätte die große Mehrheit der Franzosen im Widerstand gelebt«, hält dem aber auch die Aufarbeitung und Kritik des Mythos in den sechziger und siebziger Jahren entgegen (A. Grosser: Gegenwart der Vergangenheit, S. 34f.).
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vergessen.34 Gleich auf den ersten Seiten seines Essays konfrontiert Sebald seine Leser mit einer beunruhigenden These: »Der inzwischen bereits legendäre und, in einer Hinsicht tatsächlich bewundernswerte deutsche Wiederaufbau, der, nach den von den Kriegsgegnern angerichteten Verwüstungen, einer in sukzessiven Phasen sich vollziehenden zweiten Liquidierung der eigenen Vorgeschichte gleichkam, unterband durch die geforderte Arbeitsleistung sowohl als durch die Schaffung einer neuen, gesichtslosen Wirklichkeit von vornherein jegliche Rückerinnerung, richtete die Bevölkerung ausnahmslos auf die Zukunft aus und verpflichtete sie zum Schweigen über das, was ihr widerfahren war.«35
Sebald spricht von einer erstaunlichen Fähigkeit zur Selbstanästhisierung eines aus dem Vernichtungskrieg scheinbar ohne nennenswerten psychischen Schaden hervorgegangenen Gemeinwesens, das seine Vergangenheit als Täter und Opfer einem perfekt funktionierenden Mechanismus der Verdrängung überantwortet habe.36 Ja er geht sogar noch weiter und stellt fest: »Der Katalysator (des Wiederaufbaus) war eine reine immaterielle Dimension: der bis heute nicht zum Versiegen gekommene Strom psychischer Energie, dessen Quelle das von allen gehütete Geheimnis der in die Grundfesten unseres Staates eingemauerten Leichen ist, ein Geheimnis, das die Deutschen in den Jahren nach dem Krieg fester aneinander band und heute noch bindet, als jede positive Zielsetzung, im Sinne etwa der Verwirklichung von Demokratie, es jemals vermochte.«37
34 Mit dem Objekt dieser nicht empfundenen Trauer ist zunächst die das Selbstbild der Deutschen ehemals repräsentierende Gestalt des Führers gemeint, die erst durch seinen Tod und die Niederlage entwertet wurde. »Die Unfähigkeit zur Trauer um den erlittenen Verlust des Führers ist das Ergebnis einer intensiven Abwehr von Schuld, Scham und Angst; sie gelingt durch den Rückzug bisher starker libidinöser Bindungen. Die Nazivergangenheit wird derealisiert, entwirklicht.« (Alexander und Margarete Mitscherlich: Über die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen eines kollektiven Verhaltens, München: Piper 1973, S. 34). Laut den Autoren war der Gewinn der Verdrängung und des Vergessens bei den Deutschen dabei größer als alle Leiden an Symptomen, so dass kein Anreiz verspürt wurde, sich unbequemen Fragen auszusetzen (S. 25.). 35 Gustav Sebald: Luftkrieg und Literatur, Frankfurt am Main: Fischer, S. 16. 36 Vgl. ebd., S. 17. 37 Ebd., S. 20.
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Die entscheidende Frage ist somit nicht, ob die Deutschen nach dem Krieg vergessen haben. Sie lautet vielmehr: Wäre es den Deutschen tatsächlich möglich gewesen, sofort nach Kriegsende die Schande des Holocausts, des Faschismus, der Angriffskriege, aber auch die durch Vertreibung und Luftkrieg zugefügten eigenen Traumata aufzuarbeiten und dennoch die Energie für den Wiederaufbau des Landes aufzubringen? Offenbar hat doch gerade dieses Vergessen und Verdrängen Wiederaufbau und Wirtschaftswunder in einer ungeahnten Weise befeuert. Falls Sebalds These stimmt, und vieles spricht dafür, dann hätten die Deutschen diese unglaubliche Leistung getrieben von der Sehnsucht erbracht, sowohl den Holocaust als auch die eigene Opferrolle zu vergessen, und dabei eine Energie entfaltet, die ansonsten niemals möglich gewesen wäre. Dass das Vergessen noch in einem viel grundlegenderen Sinne staatstragend und -bildend ist, hat kein Geringerer als Ernest Renan in seinem berühmten, am 11. März 1882 an der Sorbonne gehaltenen Vortrag Qu`est-ce qu’une nation? deutlich gemacht. Renan stellt unmissverständlich klar, dass für die Entstehung einer Nation mindestens ebenso wichtig wie die Erinnerung an verbindende Gemeinsamkeiten das Vergessen all der Differenzen ist, die ihre einzelnen Gruppierungen voneinander trennen. Für eine so heterogene und historisch relativ junge Nation wie die deutsche scheint das unmittelbar einzuleuchten. Aber selbst eine so »gestandene« Nation wie die französische, deren Selbstbewusstsein lange Zeit bewundert wurde, beruht auf nichts anderem als dem Vergessen solcher Differenzen: »L’oubli, et je dirai même l’erreur historique, sont un facteur essentiel de la création d’une nation, et c’est ainsi que le progrès des études historiques est souvent pour la nationalité un danger. L’investigation historique, en effet, remet en lumière les faits de violence qui se sont passés à l’origine de toutes les formations politiques, même de celles dont les conséquences ont été le plus bienfaisantes. L’unité se fait toujours brutalement ; la réunion de la France du Nord et de la France du Midi a été le résultat d’une extermination et d’une terreur continuée pendant près d’un siècle.«38
Und Renan lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass das Vergessen traumatischer Ereignisse und kultureller Unterschiede conditio sine qua non für die Genese und den Bestand der nationalen Einheit sind: »[…] tout citoyen français doit avoir oublié la Saint-Barthélémy, les massacres
38 Ernest Renan: »Qu’est-ce qu’une nation«, in: ders., Œuvres Complètes, Band 1, hg. von Henriette Psichari, Paris: Calman-Lévy 1947, S. 891.
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du Midi au XIIIe siècle.«39 Die Ausrottung der Katharer im 12. und 13. Jahrhundert und die Bartholomäusnacht am 24.08.1572, in der die Katholiken in Paris dreitausend, und später in der Provinz zusätzlich noch mehr als zehntausend Protestanten ermordeten, sind ebenso Teil eines identitätsstiftenden nationalen Vergessens wie die zahlreichen ethnischen Differenzen zwischen Franken, Westgoten oder Burgundern.40 Nationale Identität beruht mindestens ebenso sehr auf dem kulturellen Vergessen wie auf dem kulturellen Gedächtnis. Die oben skizzierte anthropologisch und kulturgeschichtlich begründete Legitimität und Notwendigkeit des Vergessens lässt sich aus mediengeschichtlicher Perspektive stützen: Dank der immensen Speicherkapazität moderner Technik ist die Möglichkeit, Vergangenheit medientechnisch zu archivieren, ins Unermessliche gewachsen. Videos und DVDs speichern unseren Urlaub ebenso umfassend digital ab wie herausragende Ereignisse unseres Lebens wie etwa Hochzeiten oder Geburtstage. Mit diesem ungeheuren Archivierungspotenzial erzeugen technische Speichermedien allerdings auch ein Problem: Ein Grund, warum nicht nur Computer, sondern alle technischen Speichermedien grundsätzlich »doof« sind41, liegt in der Tatsache, dass sie die Wirklichkeit mechanisch reproduzieren. Im Unterschied zu symbolischen Medien wie etwa der Literatur speichern sie Vergangenheit nicht in zu Sinn und Bedeutung verdichteter Form ab, sondern erfassen das Reale in seiner ganzen Breite in Echtzeit. Dies hat aber zur Folge, dass zur technischen Vergegenwärtigung der Vergangenheit exakt die gleiche Zeit aufgewendet werden muss, die das ursprüngliche Ereignis in Anspruch genommen hat, so dass die Zeit dadurch keineswegs besser verfügbar gemacht wird.42 Unsere medientechnischen Landkarten der Vergangenheit nehmen den gleichen Umfang an wie diejenigen Landstriche, die sie abbilden sollen. Technische Formen der Vergangenheitsarchivierung bewältigen Zeit nicht, sondern verdoppeln sie. Eine ähnliche Paradoxie hat Borges auch für das 39 Ebd., Qu’est-ce qu’une nation, S. 892. 40 Vgl. ebd. 41 Vgl. Bernhard J. Dotzler: »Vom Vorteil des Nachteils, dass Medien geistlos sind – Wissen und Nichtwissen in 2001: A Space Odyssey« (in diesem Band), S. 175-202. 42 Manfred Osten geht daher davon aus, dass die exponentiell wachsenden Speicher- und Archivierungsmöglichkeiten langfristig zu einem Verlust des kulturellen Gedächtnisses führen werden. Für ihn ist die angebliche Entlastung des Gedächtnisses durch digitale Systeme eine gigantische Selbsttäuschung und bedeutet die endgültige Ankunft des Odysseus bei den Lotophagen (Manfred Osten: Das geraubte Gedächtnis. Digitale Systeme und die Zerstörung der Erinnerungskultur, Frankfurt: Insel 2004, S. 12f.).
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Wissen in einer Erzählung mit dem Titel La biblioteca de Babel durchkonjugiert. Sie handelt von einer Bibliothek, die – Leibniz’ Idee der matesis universalis lässt von Ferne grüßen – nicht nur alles tatsächliche, sondern alles mögliche Wissen enthält … und dafür die Dimensionen eines unendlichen, als Labyrinth gestalteten Universums angenommen hat, das keiner der Bibliothekare mehr überschauen, geschweige denn bewältigen kann.43 In dieser Situation avanciert das Vergessen zu einer relativ einfachen Strategie der Komplexitätsreduktion. Und wenn wir uns unsere eigene Praxis anschauen, so wird deutlich, dass wir dem täglich anwachsenden Wissens- und Vergangenheitsballast ganz pragmatisch begegnen: Wir bannen die Gefahr des total recall, indem wir das Gehörte, Gelesene und Gesehene rasch vergessen. Unsere Haltung ist allerdings zwiespältig, denn wir erkaufen uns diese äußerst hilfreiche und ohne großen Aufwand zu betreibende Wissens- und Erinnerungsbewältigungsstrategie um den Preis eines permanenten schlechten Gewissens, von dem wir uns dann wieder durch den Erwerb moderner Ablassbriefe der Informationsgesellschaft in Form von Büchern über Bildung, historisches oder naturwissenschaftliches Grundwissen freizukaufen suchen. Dass zu diesem schlechten Gewissen aber kein Anlass besteht, lässt sich noch einmal mit einer ebenso schönen wie paradoxen Erzählung von Jorge Luis Borges illustrieren. In Funes el memorioso erzählt er die Geschichte eines mit der Fähigkeit zur totalen Erinnerung begabten jungen Mannes, der in der Lage ist, sich an jedes Ereignis seines bisherigen Lebens mit allen Details, Sinneseindrücken und Empfindungen zu erinnern. Was man zunächst für eine beneidenswerte Begabung halten mag, erweist sich allerdings als Plage, denn Funes’ Erinnerung ist so vollständig, dass er praktisch selbst zum Aufzeichnungsmedium des Realen wird. Für Gegenwart bleibt bei ihm kein Platz mehr, so dass er wie ein Toter nur noch mit geschlossenen Augen regungslos in seinem abgedunkelten Zimmer liegen und sich der totalen Erinnerung hingeben kann.44 Da er die konkrete Realität nicht vergessen kann, ist er – so vermutet der Erzähler – auch unfähig zu denken: »Pensar es olvidar diferencias, es generalizar, abstraer. En el abarrotado mundo de Funes no había sino detalles.«45 Borges’ paradoxe Erzählung treibt Nietzsches in der 2. Unzeitgemäßen Betrachtung über den Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben entwickelte Kritik der Geschichtsschreibung bis zur letzten, 43 Vgl. Jorge Luis Borges: »La biblioteca de Babel«, in: ders., Ficciones, Madrid: Alianza 1980, S. 89-116. 44 Vgl. Jorge Luis Borges: »Funes el memorioso«, in: ders., Ficciones, Madrid: Alianza 1980, S. 121-132. 45 Ebd., S. 131.
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absurden Konsequenz. Nietzsche wirft der monumentalischen Geschichtsschreibung vor, dass sie nach dem Motto handele: »Lasst die Toten die Lebendigen begraben!«46 Aus der Kritik der Historie entspringt eine Apologie des Vergessens: »Zu allem Handeln gehört das Vergessen […]. Also, es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Tier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben.«47 Borges radikalisiert Nietzsches Kritik an der Historie insofern, als seine Erzählung nicht nur der von Nietzsche gegeißelten monumentalischen und antiquierenden Geschichte gilt, sondern der materiellen Basis von Geschichte überhaupt, d. h. dem Erinnern schlechthin. Während sonst davon ausgegangen wird, dass die Erinnerung an die eigene Vergangenheit möglichst vollständig sein sollte, zeigt Borges, dass von der vollständigen Erinnerung eine Bedrohung ausgeht und dass das Vergessen zum Leben mindestens ebenso notwendig ist wie das Erinnern.
Produktivität des Vergessens Borges Erzählung lässt sich paradoxerweise auch als Allegorie auf den nunmehr erreichten Endzustand einer von zunehmendem Funktionsverlust des Gedächtnisses geprägten Mediengeschichte lesen. In früheren Zeiten, in denen die Speicherung von Informationen auf Stein, Papyrusrollen oder Pergament extrem kostenintensiv und zeitaufwändig war, standen Erinnerung und Gedächtnis naturgemäß in höchstem Ansehen. In Ermangelung besserer und billiger Medien wurde der Mensch sich selbst zum Speichermedium par excellence.48 Dank leicht zu lernender Techniken war er in der Lage, Wissen perfekt zu memorieren und zu reproduzieren. Mit der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern verliert das Gedächtnis jedoch seine herausragende Rolle. Eine neue Pädagogik entsteht, die nicht mehr auf dem Auswendiglernen des Buchstabens, sondern auf der Deutung des Sinns und dessen produktiver Aneig-
46 Friedrich Nietzsche: »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«, in: Friedrich Nietzsche, Werke, Band I, hg. von Karl Schlechta, Frankfurt: Ullstein 1972, S. 209-285, hier S. 225. 47 Ebd., S. 213. 48 In seinem Artikel zur Mediengeschichte geht Werner Faulstich von einer ersten Phase aus, in der die Mensch-Medien zusammen mit anderen Medien wie z. B. Schreib- und Gestaltungsmedien dominierten (vgl. Werner Faulstich: »Mediengeschichte«, in: ders. (Hg.), Grundwissen Medien, München: Fink 2000, S. 29-41, hier S. 32).
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nung beruht. Der Rezipient wird vom bloßen Speichermedium zum Schöpfer. Während noch Juan Luis Vives (1492-1540) der Schulung des Gedächtnisses bei der Erziehung der Kinder und Schüler höchste Priorität einräumt und fordert, dass ein Schüler jeden Tag auswendig zu lernen habe, hat bereits eine Generation später mit Montaigne der Verfall der Gedächtniskultur eingesetzt.49 Montaigne (1553-1592) hält diese Wende in einem Satz fest, der in Frankreich nach wie vor fast sprichwörtlichen Charakter hat. Über den Erzieher sagt er: »[…] je voudrois aussi qu’on fust soigneux de luy [i.e. l’enfant, J.M.] choisir un conducteur, qui eust plustost la teste bien faicte, que bien pleine […]«50, d. h. ein Erzieher, der besser einen guten Kopf hat statt eines Kopfes, der mit auswendig gelerntem Wissen vollgestopft ist. Da es auf andere Fähigkeiten als die bloße Speicherung des Gelernten ankommt, kann Montaigne dem Lernenden das Recht auf das Vergessen seiner Quellen einräumen: »Et qu’il [le disciple, J.M.] oublie hardiment s’il veut, d’où il les [i.e. les préceptes, J.M.] tient, mais qu’il se les sache approprier.«51 Und in radikalem Gegensatz zur vorherigen Konzeption des Wissens heißt es nunmehr: »Sçavoir par coeur n’est pas sçavoir : c’est tenir ce qu’on a donné en garde à sa memoire. Ce qu’on sçait droittement, on en dispose, sans regarder au patron, sans tourner les yeux vers son livre. Fascheuse suffisance, qu’une suffisance pure livresque ! Je m’attens qu’elle serve d’ornement, non de fondement : suivant l’advis de Platon, qui dit, la fermeté, la foy, la sincerité, estre la vraye philosophie : les autres sciences, et qui visent ailleurs, n’estre que fard.«52
Auswendigwissen ist nun nicht mehr Wissen, sondern eher dessen Gegenteil. Zur gleichen Generation wie Montaigne gehört Juan Huarte (1529-1591), der in seinem berühmten Buch Examen de los ingenios zum Begründer der neuzeitlichen Temperamentenlehre avancierte. Nach Huarte sind die drei Grundvermögen des Geistes, also Gedächtnis (memoria), Einbildungskraft (imaginativa) und Verstand (entendimiento), gekoppelt mit dem Anteil von Kälte, Wärme, Feuchtigkeit und Trockenheit im Körper. Menschen mit einem guten Gedächtnis haben einen hohen Anteil von Feuchtigkeit, so dass sich die Eindrücke im feuchten Ge-
49 Für die nachfolgenden Punkte stütze ich mich auf die von Harald Weinrich vorgelegte Kulturgeschichte des Vergessens (vgl. H. Weinrich: Lethe, S. 58-65). 50 Michel de Montaigne : Les Essais, Livre I, hg. von Pierre Villey, Paris: Quadrige/PUF 1992, S. 150. 51 Ebd., S. 152. 52 Ebd.
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hirn besonders gut einprägen und aufbewahren lassen. Eine feuchte, zähe und klebrige Gehirnmasse ist zwar in der Lage, Erinnerungen aufzubewahren, dafür aber denkbar ungeeignet, lebhafte Phantasien zu entwickeln, die wiederum in einem warmen Gehirn besser gedeihen, oder aber rasch aufzufassen und neue Ideen zu schaffen, eine Fähigkeit, die sich am besten in einem trockenen Gehirn entwickelt. Was sich allerdings nicht mit einander kombinieren lässt, ist eine Fähigkeit, die Feuchtigkeit voraussetzt, also Gedächtnis, und eine, die das genaue Gegenteil erfordert, also Trockenheit, d. h. der Verstand: »Desta doctrina se infiere claramente que el entendimiento y la memoria son potencias opuestas y contrarias; de tal manera, que el hombre que tiene gran memoria ha de ser falto de entendimiento, y el que tuviere mucho entendimiento no puede tener buena memoria, porque el celebro es imposible ser juntamente seco y húmido a predominio.« 53
Womit endlich ganz nebenbei das Geheimnis des zerstreuten und vergesslichen Professors gelöst wäre (s. o.). Darüber hinaus zeigen Montaigne und Huarte jedoch einen Wandel in der Bewertung des Gedächtnisses an, der eng mit den Speichermöglichkeiten der damals neuesten Medientechnik, des Buchdrucks, und mit der durch ihn gegebenen Entlastung des menschlichen Geistes und der Neuverteilung seiner Aufgaben zusammenhängt. Weil technische Medien »doof« sind und das Wissen nur »nachplappern«, können Menschen – nunmehr von der Sklaverei der Mnemotechnik befreit – intelligent werden und Wissen kreativ abwandeln. Eine zweite Dimension dieser Veränderung wird von Cervantes im Don Quijote konstatiert. Abgesehen davon, dass der behäbige Sancho Panza mit seinem feuchten Gehirn über ein ausgezeichnetes Gedächtnis verfügt und der hagere Don Quijote mit einem heißen Gehirn über eine reiche Einbildungskraft, illustriert der Roman auch, dass die Bilder, die bisher im Rahmen der klassischen Mnemotechniken vor allem dazu dien53 Zitat nach der Ausgabe des Servers der elektronischen Bibliothek Cervantes Virtual: Juan Huarte: Examen de ingenios para las ciencias (http:// www.cervantesvirtual.com/servlet/SirveObras/01371741544583735212257 /p0000002.htm vom 04. September 2007). »Aus dieser Lehre fließet unwidersprechlich, dass der Verstand und das Gedächtnis ganz entgegengesetzte und widrige Vermögenheiten sind, so daß der, welcher ein starkes Gedächtnis hat, notwendig am Verstande Mangel leiden muß und der, welcher einen großen Verstand besitzt, kein gutes Gedächtnis besitzen kann, weil das Gehirn ohnmöglich zugleich übermäßig trocken und übermäßig feucht sein kann.« (Juan Huarte: Prüfung der Köpfe, übersetzt von Gotthold Ephraim Lessing, Nachdruck der Ausgabe Zerbst 1752, München: Fink 1968, S. 82).
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ten, den zu erinnernden Stoff besser im Gedächtnis zu verankern, dank der durch den Buchdruck nunmehr frei gesetzten Kapazitäten ungebunden im Geist flottieren und, statt dem Gedächtnis als Stütze zu dienen, nunmehr die Einbildungskraft befeuern. Das erste Kapitel des Don Quijote stellt den Zusammenhang zwischen Buchdruck und enthemmter Phantasie explizit her, zunächst einmal materiell, denn Alonso Quijano kann sich dank der gesunkenen Kosten den Kauf und die Lektüre einer großen Zahl von Ritterbüchern leisten, eine Masse, die er durch permanente Lektüre zu bewältigen sucht, bis sich schließlich die Einbildungskraft seines ausgetrockneten (s. Huarte) Geistes bemächtigt: »En resolución, él se enfrascó tanto en su lectura, que se le pasaban las noches leyendo de claro en claro, y los días de turbio en turbio; y así, del poco dormir y del mucho leer, se le secó el cerebro, de manera que vino a perder el juicio. Llenósele la fantasía de todo aquello que leía en los libros, así de encantamentos como de pendencias, batallas, desafíos, heridas, requiebros, amores, tormentas y disparates imposibles; y asentósele de tal modo en la imaginación que era verdad toda aquella máquina de aquellas sonadas y soñadas invenciones que leía, que para él no había otra historia más cierta en el mundo.«54
Mit der Gutenberg-Galaxis und dem Quijote wird ein neues Kapitel der Vergessensgeschichte aufgeschlagen, das über Mallarmé und Valéry bis in die Moderne reicht und in dem das Vergessen zur Vorbedingung einer nun nicht mehr wie noch im Quijote fehlgeleiteten, sondern nunmehr produktiven Kreativität wird. In Paul Valérys Cahiers kulminiert der Antagonismus zwischen Gedächtnis und Kreativität in der Auffassung, dass das treue Gedächtnis »dumm« sei, weil es den Menschen dazu bringe, wie ein Papagei alles zu wiederholen, was vor ihm gesagt wurde: »Apprendre à parler c’est apprendre à dégager les sens des mots, des époques où on les a appris – c’est oublier la plupart des relations d’alors. Sans oubli, on n’est que perroquet.«55 Von dieser mechanischen mémoire brute des Papageis, die mit absoluter Treue alles festhält, was sich ereignet hat, unterscheidet Valéry das kluge Gedächtnis, das in der Lage ist, zu vergessen. Damit schließt Valérys Poetologie die zwei Zentralbegriffe 54 Miguel de Cervantes: Don Quijote de la Mancha, édición del Instituto Cervantes (1605-2005), hg. von Francisco Rico, Madrid: Galaxia Gutenberg 2005, S. 41f. Der Zusammenhang zwischen Medienrevolution und Cervantes’ Romanpoetik wird untersucht in: Jochen Mecke: »Hypertextualität und Hypermedialität im Don Quijote«, in: Christoph Strosetzki (Hg.), Miguel de Cervantes’ Don Quijote, Berlin: Erich Schmidt 2005, S. 205-230. 55 Paul Valéry: Cahiers I, hg. von Judith Robinson-Valéry, Paris: Gallimard 1973, S. 1212.
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des vorliegenden Bandes, Ignoranz und Vergessen, miteinander kurz.56 Der Prozess der Emanzipation des Vergessens ist abgeschlossen. Damit wird allerdings auch der radikale Gegensatz zwischen Erinnerung und Vergessen aufgelöst. In der neuen mediengeschichtlichen Konstellation wird offenbar, dass das Vergessen die Grundvoraussetzung zum Erinnern ist. Ohne Vergessen keine Erinnerung, ohne Erinnerung kein Vergessen. Beide Begriffe sind somit eng aufeinander bezogen, sie bedingen sich wechselseitig, wie der französische Ethnologe Marc Augé in seinem Buch über Formes de l’oubli schreibt: »Faire l’éloge de l’oubli, ce n’est pas vilipender la mémoire, encore moins ignorer le souvenir, amis reconnaître le travail de l’oubli dans la première et repérer sa présence dans le second. La mémoire et l’oubli entretiennent en quelque sorte le même rapport que la vie et la mort. La vie et la mort ne se définissent que l’une par rapport à l’autre et l’omniprésence du sacrifice dans les religions humaines exprime cette contrainte d’ordre sémantique.«57
Diese wechselseitige Bedingung ist allerdings nicht nur semantisch gegeben, sie ist auch nicht das Ergebnis einer bloßen Rhetorik der Dekonstruktion, sondern vor allem deshalb von Interesse, weil sie in der Poetik der Moderne eine entscheidende Rolle spielt. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, diese These aus der Betrachtung von Marcel Prousts Romanzyklus A la Recherche du temps perdu zu entwickeln und dabei die noch offene Frage zu beantworten, ob es eine Ästhetik und eine Epistemologie des Vergessens gibt.
Ästhetik des Vergessens? Entscheidende Vorbehalte gegen die Möglichkeit einer Ästhetik des Vergessens wurden bereits in den sechziger Jahren von Umberto Eco aus semiotischer Perspektive formuliert. Für Eco kann es im Rahmen einer semiotischen Theorie keine ars oblivionis geben, da Kunst und Literatur etwas darstellen müssen. Es gibt aber keine Darstellung der Negation. Kein Versuch der Darstellung des Vergessens könne daher jemals das Vergessen selbst darstellen, sondern immer nur eine Erinnerung an das Vergessene. Doch nicht nur im Hinblick auf das Objekt literarischer und künstlerischer Darstellung ist das Vergessen problematisch, sondern auch in Bezug auf das Subjekt. Es kann keine wirkliche Produktionsästhetik 56 Vgl. die Ausführung von Harald Weinrich zur Unterscheidung der beiden Formen des Gedächtnisses bei Valéry (H. Weinrich: Lethe, S. 185f.). 57 M. Augé: Les Formes de l’oubli, S. 20.
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des Vergessens geben, da das Vergessen niemals bewusst inszeniert werden könne, sondern unwillkürlich einfach nur geschieht.58 Und in der Tat erreichen wir bekanntlich das genaue Gegenteil unserer Absicht, sobald wir uns bemühen, an etwas Bestimmtes nicht zu denken. Allerdings fasst Eco die Begriffe Erinnerung und Vergessen als absolute Gegensatzpaare in einem logischen Sinne auf und geht überdies von einem intentionsgesteuerten produktionsästhetischen Modell von Kunst und Literatur aus. Literatur sagt aber bekanntlich mehr, als ihre Autoren sagen wollen, und daher können literarische Texte auch beredt von dem sprechen, was ihre Autoren vergessen oder verdrängt haben.59 Diesen produktiven Zusammenhang zwischen Erinnern und Vergessen verdeutlicht Marcel Proust in einer berühmten Schüsselszene von A la Recherche du temps perdu, die gleichzeitig als mise en abyme einer Produktionsästhetik gelten kann, welche die entscheidende Rolle des Vergessens in Rechnung stellt. Der zentralen Szene der Recherche, die den Zusammenhang zwischen Vergessen und Erinnerung verdeutlicht, der berühmten MadelaineSzene, geht eine lange Beschreibung von Erinnerungen des Erzählers an seine Kindheit voraus. Doch diese Erinnerungen bleiben auf eine einzige, sich jeden Abend wiederholende Szene beschränkt, das Drama des Zubettgehens und das ängstliche Warten des kleinen Marcels darauf, ob seine Mutter noch kommen wird, um ihm einen Gute-Nacht-Kuss zu geben. So sehr sich der Erzähler auch anstrengt, etwas Anderes kann er der Vergangenheit nicht entreißen, denn die willentliche und bewusste Erinnerung fördert nur das zu Tage, was für sie nützlich ist.60 Dieses »dumme« Gedächtnis ist nicht dazu in der Lage, auch nur eine einzige beglückende Empfindung aus den Tiefen der Vergangenheit an die Oberfläche zu holen. Es liefert Bilder der Vergangenheit, so wie sie den An-
58 Vgl. U. Eco: An »Ars Oblivionalis«?, S. 259. 59 Gegen Umberto Ecos These hat Kai Behrens den dezidierten Versuch gemacht, eine Aufwertung des ästhetischen Vergessens vorzunehmen (vgl. K. Behrens: Ästhetische Obliviologie). Literatur ermögliche dem Rezipienten durch die ästhetische Distanz das Vergessen des Kontextes (S. 22), entlaste ihn von praktischen Erwägungen und versetze ihn in neue Vorstellungshorizonte (S. 17). Neben diesen rezeptionsästhetischen Argumenten belegt Behrens auch die produktionsästhetische Relevanz des Vergessens, etwa anhand von Harold Blooms Begriff des Agon, der Einflussangst, die zum Vergessen und Ausblenden von Vorgängern führt (S. 228). Allerdings bleibt Behrens Ansatz auf die Theoriegeschichte des ästhetischen Vergessens beschränkt. Das konkrete Funktionieren einer solchen Ästhetik in literarischen Texten wird nur am Rande seiner Überlegungen gestreift. 60 Vgl. Marcel Proust: Du côté de chez Swann, I, 1, A la recherche du temps perdu, tome I, hg. von Jean Yves Tadié, Paris: Gallimard 1987, S. 44.
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forderungen von Vernunft und Alltag entsprechen. Für Proust ist dieses Gedächtnis nutzlos, da es kein »wahres Bild« der Vergangenheit liefert, sondern lediglich ein schwaches instrumentelles Abziehbild des Willens und der Vernunft. Davon unterscheidet Proust die mémoire involontaire, die unwillkürliche Erinnerung, die sich der Kontrolle des Bewusstseins entzieht: Als Marcel eines Nachmittags seine Mutter besucht und er – gegen seine Gewohnheit – eine Tasse Tee trinkt, evoziert der Geschmack der im Tee schmelzenden Madelaine eine Empfindung, die nach und nach die Erinnerung an die Sonntagmorgen in Combray, dem Ort seiner Kindheit auslöst, als seine Tante Léonie ihn eben jenes Gebäck in ihren Tee tunken ließ. Schließlich entsteht aus dieser Erinnerung das ganze Combray, die ganz Kindheit, die bisher auf das Zu-Bett-Gehen und den Gute-Nacht-Kuss der Mutter reduziert war.61 Inwiefern leistet diese Szene einen Beitrag zur Poetik des Vergessens? Zunächst zeigt sie, dass die dominanten Erinnerungsbilder dem Geheimnis der Vergangenheit nicht auf die Spur kommen. Sie liefern nur Bekanntes und Erwartbares. Der Erzähler führt die Tatsache, dass der Anblick der madelaine keinerlei Erinnerungen bei ihm wachrief, darauf zurück, dass spätere visuelle Wahrnehmungen des Gebäcks die Szenen in Combray überdeckt haben, oder weil die Formen ihre Evokationskraft verloren haben. Mit dem auf diese Weise überflüssig gewordenen Sehsinn lehnt Proust aber genau diejenige Sinnesempfindung ab, die in der klassischen Mnemotechnik die entscheidende Rolle spielt.62 Gegen die mnemotechnischen Erinnerungsbilder bringt Marcel Prousts Obliviopoetik jene Sinneswahrnehmungen ins Spiel, die vom willentlichen Gedächtnis noch nicht instrumentalisiert werden konnten, d. h. Geschmackssinn, Gehörsinn und Tastsinn. »Mais, quand d’un passé ancien rien ne subsiste, après la mort des êtres, après la destruction des choses, seules, plus frêles mais plus vivaces, plus immatérielles, plus persistantes, plus fidèles, l’odeur et la saveur restent encore longtemps, comme des âmes, à se rappeler, à attendre, à espérer, sur la ruine de tout le reste, à porter sans fléchir, sur leur gouttelette presque impalpable, l’édifice immense du souvenir.«63
Es sind die subdominanten Sinneseindrücke wie Geschmacks-, Tast-, Gehörsinn oder aber der kinetische Sinn, welche die unterschwelligen bisher von der Dominanz des Sehsinns unterdrückten Bilder der Vergan-
61 Vgl. ebd., S. 47. 62 Vgl. ebd., S. 46. 63 Ebd.
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genheit in der Erinnerung aufsteigen lassen.64 Der dadurch erreichte Zustand erlaubt dem Menschen, wie Marcel im letzten Band der Recherche, Le temps retrouvé im Rückblick festhält, ein Stückchen Ewigkeit im Diesseits zu erfahren: »Et voici que soudain l’effet de cette dure loi, s’était trouvé neutralisé, suspendu, par un expédient merveilleux de la nature, qui avait fait miroiter une sensation – bruit de la fourchette et du marteau, même inégalité de pavés – à la fois dans le passé ce qui permettait à mon imagination de la goûter, et dans le présent où l’ébranlement effectif de mes sens par le bruit, le contact avait ajouté aux rêves de l’imagination ce dont ils sont habituellement dépourvus, l’idée d’existence – et grâce à ce subterfuge avait permis à mon être d’obtenir, d’isoler, d’immobiliser – la durée d’un éclair – ce qu’il n’appréhende jamais: un peu de temps à l’état pur.«65
Zur Erreichung dieses Zustandes ist allerdings das Vergessen ebenso notwendig wie die Erinnerung. Nur weil Marcel die Vergangenheit Combrays vergessen hatte, weil die Bilder der vergangenen madelaine von späteren visuellen Wahrnehmungen überlagert, weil die Erlebnisse der Vergangenheit im Säurebad des Vergessens von allen visuellen Eindrücken gereinigt worden waren, wird es Marcel möglich, sie auf neue, und das heißt ästhetische Art zu erinnern. »Poetik des Vergessens« kann Prousts mémoire involontaire deshalb genannt werden, weil erst das Vergessen die Ereignisse aus ihrer instrumentellen Beherrschung befreit und es ermöglicht, sie neu und verwandelt wieder ins Bewusstsein treten zu lassen. Dies ist aber andererseits nur deshalb möglich, weil Ereignisse nie ganz vergessen werden, sondern immer eine Erinnerungsspur nach sich ziehen. Diese Spuren stellen den kleinsten gemeinsamen Nenner, die Brücke zwischen Vergessen und Erinnern dar und ermöglichen die Vergegenwärtigung des Vergangenen. Das Vergessen ist somit nicht nur die Möglichkeitsbedingung des Erinnerns, es ist vielmehr die Voraussetzung für eine besondere, kreative und produktive Form der Erinnerung. Deren Bedeutung überschreitet allerdings den Kontext der Proust’schen Erinnerungs- bzw. Vergessenspoetik, denn sie enthält ein allgemeines Prinzip, das die französischen Surrealisten vielleicht als erste formuliert und angewendet haben. Die surrealistische Theorie des poetischen Bildes, das in der Regel aus der zufälligen Kombination zweier Bereiche erzeugt wird, basiert nämlich auf dem durch bestimmte Techni-
64 Gleich auf den ersten Seiten spricht Proust auch von dem Erinnerungsvermögen des Körpers (vgl. ebd., S. 6). 65 Marcel Proust: Le temps retrouvé, Recherche, Band IV, Paris: Gallimard 1989, S. 451.
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ken künstlich erzeugten Vergessen all desjenigen, was kollektives und kulturelles Gedächtnis an Information angesammelt haben: »[...] les deux termes de l’image ne sont pas déduits l’un de l’autre par l’esprit en vue de l’étincelle à produire, [...] ils sont les produits simultanés de l’activité [...] surréaliste.«66 Bei dem surrealistischen jeu des questions et réponses oder auch beim jeu des définitions werden vorher auf Zetteln notierte Fragen und Antworten rein zufällig miteinander kombiniert: So kann etwa die Frage »Qu’est-ce que la liberté« mit einer zufällig gezogenen Antwort wie zum Beispiel »un animal crevé sous un meuble« kombiniert werden.67 Was die surrealistische Praxis des Frage-und-Antwort-Spiels ergibt, ist das technisch umgesetzte, gezielte Vergessen eines kulturellen Wissens, das untrüglich zu einem traditionellen Bild der Freiheit etwa als fliegender Vogel führen würde. Die surrealistische Metapher wird nicht mehr ausgehend vom Bildempfänger, hier der Freiheit, erzeugt, zu dem dann ein passender Bildspender, hier etwa das traditionelle Bild des Vogels, mittels eines tertium comparationis gesucht wird, hier etwa das konventionelle Merkmal der Ungebundenheit und Schwerelosigkeit. In diesem Fall wäre die Metapher nichts weiter als die Erinnerung an bereits Bekanntes und streng genommen nicht mehr als eine poetische Tautologie. Im surrealistischen Spiel aber werden beide Bilder unter Ausblendung des Wissens miteinander so kombiniert, dass sich daraus ein völlig neues tertium comparationis ergibt, das eine nunmehr nicht pleonastische Sicht auf die Freiheit bewirkt. Eine mögliche Deutung wäre etwa, dass sich die menschliche Freiheit in Wirklichkeit einem Domestizierungsprozess verdankt, einer Befreiung von den Trieben des Menschen oder, anders formuliert, der Tötung des Tieres in uns. Der Schriftsteller Arthur Koestler hat in The Act of Creation den Nachweis geführt, dass menschliche Kreativität auf einer solchen Ausblendung des Vorwissens und der dadurch ermöglichten Bisoziation zweier Bereiche entsteht, die aus der Perspektive kulturellen Wissens nichts miteinander zu tun haben.68 Solche Bisoziationen stellen sich darüber hinaus zumeist in Momenten ein, in denen Forscher, nach einer Zeit intensiver Suche, das ursprünglich untersuchte Problem vergessen haben. In einer etwas vereinfachten Form stellt sich das wohl berühmteste Beispiel einer solchen Bisoziation folgendermaßen dar69: Der Tyrann von Syrakus hatte eine goldene Krone geschenkt bekommen. Doch er hegte 66 André Breton: »Manifeste du surréalisme«, in: ders., Œuvres Complètes, Paris 1988, S. 358. 67 Vgl. André Breton u. a.: »Le dialogue en 1928«, in: Georges Sebbag (Hg.), enJeux surreálistes, Paris : Jean-Michel Place 2004, S. 60-64. 68 Vgl. Arthur Koestler: The Act Of Creation, S. 35f. 69 Vgl. ebd., S. 105-108.
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den Verdacht, dass diese Krone mit Silber versetzt worden war und bat Archimedes um seine Meinung. Dieser kannte zwar das spezifische Gewicht von Gold, doch wie konnte man dieses bei einem unregelmäßigen Körper messen, ohne die Krone einzuschmelzen? Der Ausgang der Anekdote ist bekannt: Alle Überlegungen führten zu nichts. Erst als Archimedes in einer völlig anderen Situation das Problem aus den Augen verloren hatte und gedankenverloren bzw. »problemvergessen« den bei seinem Einstieg in das Bad steigenden Wasserspiegel betrachtete, trat eine Bisoziation zwischen gegenwärtiger Situation und Problem ein. Er selbst war ein unregelmäßiger Körper und sein eigenes Volumen ließ sich durch die Verdrängung des Wassers messen und damit auch das spezifische Gewicht der geschenkten Krone! Heureka! Koestler lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass das Vergessen unabdingbare Voraussetzung für die Entstehung neuer, innovativer Gedanken ist: »Without the art of forgetting, the mind remains cluttered up with readymade answers, and never finds occasion to ask the proper questions.«70 Damit lässt sich allerdings noch einmal eine Engführung von Ignoranz und Vergessen vornehmen: Während die Ignoranz einen Teil des Wissbaren nicht zur Kenntnis nimmt, blendet das Vergessen bereits Gewusstes aus, eine Ausblendung, die jedoch niemals vollständig ist, sondern bestimmte Spuren im Gedächtnis zurücklässt. Diese Erinnerungsspuren werden durch das Vergessen von ihrem früheren Kontext befreit und können in neue Zusammenhänge eingeordnet, neu assoziiert werden. Dadurch werden Neuschöpfungen in Wissenschaft, Kunst und Literatur möglich. Ähnliches gilt auch für die Ignoranz: Auch sie ist nie total, sondern betrifft nur bestimmte Wissensgebiete. Zur Schaffung neuen Wissens ist es jedoch unverzichtbar, bestimmte Wissensbereiche zu ignorieren. Ignoranz und Vergessen sind in diesem Zusammenhang die Ermöglichungsbedingungen der Schaffung und Entdeckung neuen Wissens.
70 Ebd., S. 190.
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Bevor man von Ignoranz als einer philosophischen Frage oder einem ästhetischen Phänomen sprechen kann, sollte man sich daran erinnern, dass Ignoranz zuallererst eine kulturelle Kategorie ist. Als solche ist sie untrennbar mit Fragen der Macht verbunden. Wer ignorant ist, bestimmen in aller Regel die, die etwas wissen. Und wer etwas weiß, hat die Macht, bzw. wer die Macht hat, schreibt sich in aller Regel größeres Wissen zu, als denen, die im Umkehrschluss dann für unwissend, im besten Fall bildungsbedürftig, im schlechtesten als nicht bildbar bezeichnet werden. Dies trifft, der Beitrag von Achim Geisenhanslüke macht es deutlich1, auch für das Projekt dieses Sammelbands zu, in dem in üblicher Manier Experten, die durch ihre machtvolle Stellung in der Bildungshierarchie als Universitätsprofessoren über die scheinbar nötige Autorität verfügen, weise Dinge über das Gegenteil von Weisheit und Wissen verkünden. Dieses Muster der tautologischen und in manchen Fällen gar paradoxen gegenseitigen Konstitution von Wissen und Macht durch die Identifikation von Nichtwissen und Ignoranz hat Michel Foucault in seinen Schriften sehr genau herausgearbeitet. So schreibt er etwa in einer Vorlesung von 1976 mit dem Titel »Historisches Wissen der Kämpfe und Macht«: »Zum anderen glaube ich, daß man unter unterworfenem Wissen etwas anderes und, in gewissem Sinne, völlig anderes verstehen muß: eine ganze Reihe von Wissensarten, die als nicht sachgerecht oder als unzureichend ausgearbeitet disqualifiziert wurden: naive, am unteren Ende der Hierarchie, unterhalb der erforderlichen Wissens- oder Wissenschaftlichkeitsniveaus rangierende Wissensarten. Und gerade über diese aus der Tiefe wiederauftauchenden Wissensarten, diese nicht qualifizierten, geradezu disqualifizierten Wissensarten (das 1
Vgl. Achim Geisenhanslüke: »Schöndummheit. Über Ignoranz« (in diesem Band), S. 15-34.
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Wissen des Psychiatrisierten, des Kranken, des Krankenwärters, das des Arztes – das jedoch parallel und marginal zum Wissen der Medizin besteht –, das Wissen des Delinquenten usw.), die ich als Wissen der Leute bezeichnen würde und die nicht zu verwechseln sind mit Allgemeinwissen oder gesundem Menschenverstand, sondern im Gegenteil ein besonderes, lokales, regionales Wissen, ein differentielles, von anderen Wissen stets unterschiedenes Wissen darstellen, das seine Stärke nur aus der Härte bezieht, mit der es sich allem widersetzt, was es umgibt […].«2
Wir begegnen diesem marginalen, unterworfenen und disqualifizierten Wissen ständig als vermeintliches Nichtwissen, Unwissenheit und Ignoranz in der kulturellen Praxis, also im Alltag, in den Massenmedien und der Populärkultur. Aus dieser Alltags- und Populärkultur will ich in diesem Beitrag ein Beispiel herausgreifen, an dem die Probleme der Zuschreibung von Ignoranz und Nichtwissen besonders deutlich werden. Es ist ein Beispiel, das gegenwärtig besondere Aufmerksamkeit in Großbritannien erregt, das aber mit Modifikationen auch auf Deutschland und alle Kulturen der sogenannten westlichen Welt und vielleicht sogar der gesamten globalisierten Welt übertragbar ist. Es handelt sich um das Phänomen der sogenannten »Neds« und »Chavs«. »Ned« ist dabei eine Bezeichnung, die vor allem in Schottland für männliche Jugendliche aus der Unterschicht gebräuchlich ist, die oft gefälschte Markenkleidung wie Nike oder auch Burberry tragen und sich durch rüpelhaftes Verhalten wie illegales Trinken und Rauchen in der Öffentlichkeit und Kleinkriminalität auszeichnen. Eine der häufig verwendeten Etymologien des Begriffs lautet »non-educated delinquent«, also »ungebildeter Straftäter«. Bereits diese Interpretation der Bezeichnung führt uns wieder direkt in den Nexus von Ignoranz und Macht, indem sie Mangel an Bildung mit sozialer Devianz gleichsetzt.3 Interessant ist dabei allerdings, dass die betroffenen Jugendlichen das Label »Neds« selbst für sich verwenden, und durchaus stolz. Ich werde darauf später noch zurückkommen. Das englische und walisische Äquivalent zum »Ned« ist der »Chav«; in Irland gibt es den »Skanger« und in Nordirland den »Spide«.4 Auch 2
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Michel Foucault: »Historisches Wissen der Kämpfe und Macht«, übers. von Elke Wehr, in: ders., Dispositive der Macht. Michael Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve Verlag 1978, S. 55-74, hier S. 60-61. Dass es sich vermutlich um eine fiktionale Etymologie handelt, sieht man daran, dass »uneducated« in der Tat der idiomatischere Ausdruck wäre. Bis auf den »spide« und den »skanger« haben alle Begriffe mittlerweile Einzug in das Oxford English Dictionary gehalten (online edition 2007), das aber etwa »ned« bereits 1910 nachweist und damit zeigt, dass der Be-
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»Chav« besitzt eine fantasievolle Etymologie, die in das gerade entworfene Muster passt: »council-housed and violent«, also »in Sozialwohnung hausend und gewalttätig«.5 Hier wird allerdings im Gegensatz zum Ned nicht so sehr der Bildungsgrad, sondern die soziale Herkunft betont, was aber nicht weiter verwundert, ist doch in Großbritannien die Klassenstruktur traditionell stark ausgeprägt.6 Das, was wir für Deutschland in neuester Zeit immer wieder kritisieren, die beobachtbare Tatsache nämlich, dass Bildung stark mit sozialer Herkunft verknüpft ist, ist für die Briten normal. Für Nichtbriten ist es vielleicht auch verwunderlich, dass Neds und Chavs nicht unbedingt identisch sind mit dem Phänomen britischer Alltagskultur, das wir vor allem durch Fußball kennengelernt haben, dem »Hooligan«. Hooligans sind häufig Männer in den 20ern und 30ern, oft Familienväter und selten ohne Arbeit, und ihre gewaltsamen Eskapaden sind für sie häufig gut organisierte Wochenend- oder Kurzurlaubsausflüge. Im Unterschied zu Hooligans sind Neds und Chavs in Großbritannien nicht ausschließlich Phänomene, die zu sozialer Besorgnis führen, sondern sie haben auch sehr schnell ein Eigenleben als kulturelle Ikonen entwickelt, entweder als komische Figuren oder als Kultfiguren. Ich führe in diesem Beitrag zwei der berühmtesten Chavs vor, um einen Eindruck von den Klischees, aber auch den Ambivalenzen des Konzepts zu geben. Dabei ist von Anfang an mit zu bedenken, dass wir es hier nicht mit objektiven Darstellungen zu tun haben, sondern mit Kunstfiguren, was im ersten Beispiel offensichtlich ist, im zweiten stärker mitgedacht werden muss. Was die ästhetische aber auch kommerzielle Aufbereitung des Chavs über das Vorurteil seiner inhärenten Ignoranz, Unwissenheit, Selbstvergessenheit und Unbildung aussagt, wird danach zur Sprache kommen, ebenso die Frage, welche Rolle Jugend- und Straßenkulturen in den Wissens- und Machtstrukturen unserer Gesellschaften spielen. Little Britain ist eine überaus erfolgreiche englische FernsehComedy, die in der mittlerweile gut etablierten Tradition der dystopischen Visionen eines Großbritanniens steht, das aus betrügerischen So-
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zug zu den heutigen »chavs« konstruiert ist. Die dort fehlenden Begriffe werden ausführlich in http://www.urbandictionary.com/ (vom 8. Juli 2007) erläutert. Ich verdanke meine erste Begegnung mit den Chavs Oliver Lindner. Vgl. seinen Beitrag »Contemporary Youth Culture in Britain. A Transcultural Utopia?«, in: Dirk Wiemann u. a. (Hg.): Transcultural Britain, Journal for the Study of British Cultures (im Druck für 2008). Vgl. Ernest Cashmore: United Kingdom? Class, Race and Gender since the War, London: Unwin Hyman 1989.
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zialhilfeempfängern, jugendlichen Kleinkriminellen, geistig Behinderten, ländlichen Schwulen, Transvestiten und Kinderschändern besteht. Und das sind nur die Comedies, von denen eine der ersten League of Gentlemen war und zu denen sich nach Little Britain noch das überaus düstere Monkey Dust gesellte, eine Zeichentrickserie, die ursprünglich auch zwei muslimische Möchtegern-Selbstmordattentäter enthielt, die aber zu blöde waren, jemals Schaden anzurichten (diese Figuren wurden nach den Bombenanschlägen in London stillschweigend aus der Serie entfernt).7 Mit Vicky Pollard aus Little Britain treffen wir allerdings eher auf jemanden, die sich selbst beständig torpediert, eine klischierte Vertreterin der Chav-Kultur, also eine »Chavette«.8 Fast alle männlichen und weiblichen Figuren in Little Britain werden von einem der zwei Autoren der Sendung, David Walliams und Matt Lucas, gespielt, und Matt Lucas stellt Vicky als übergewichtige Blondine im rosa Trainingsanzug dar. Im berühmt gewordenen Sketch, der die Figur einführt, hat Vicky eine Meinungsverschiedenheit mit ihrem Lehrer, der von David Walliams gespielt wird. Im Sketch selbst ist von dem, was Vicky sagt, nicht viel zu verstehen. Ihr stakkatohaftes »No but yeah but no but yeah but no but« ist aber gerade deshalb zu ihrem Markenzeichen geworden. Trotzdem ist der Sketch kein Nonsens, und Gerold Sedlmayr weist in einem neueren Aufsatz überzeugend darauf hin, dass Vicky durchaus etwas zu sagen hat.9 Nur haben ihre diskursiv verkündeten Positionen und Interessen nichts mit dem zu tun, was die Autoritätsfigur der Szene, der Lehrer an Vickys Schule, von ihr verlangt. Ich möchte die Szene in Bezug auf das analysieren, was im Zentrum unserer Vortragsreihe steht: Ignoranz. Der Lehrer, der als typisches Klischee des Cordanzug-tragenden verständnisvollen Antiautoritären gezeichnet ist, verlangt von Vicky eine Stellungnahme dazu, dass sie ihre Hausarbeit zu Lord Kitchener immer noch nicht eingereicht hat. Statt darauf einzugehen, erzählt Vicky aber von ihrem Streit mit einer Mitschülerin und verunglimpft diese. Sie erscheint uns also doppelt ignorant: Sie hat die Hausaufgabe nicht gemacht, und sie ist nicht in der Lage, adäquat auf die Vorwürfe ihres Lehrers einzugehen, der hier für den Nexus aus Wissen und Macht steht, auf den ich anfangs Bezug genommen habe. 7
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Little Britain (BBC 2003ff.), League of Gentlemen (BBC 1999ff.), Monkey Dust (BBC 2003-2005). Omar, Abdul and Shafiq, die islamistischen Möchtegernterroristen, traten in der 2. Staffel von Monkey Dust auf. Als Inbegriff des Chav wird sie mittlerweile sogar im Oxford English Dictionary benutzt. Vgl. Gerold Sedlmayr: »›Yeahbutnobutyeahbut‹. The Dismantling of Britishness in Little Britain«, in: D. Wiemann (Hg.), Transcultural Britain.
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Aber die Szene lässt sich auch genau konträr lesen. Der scheinbar progressive Lehrer hat Vicky und ihren Klassenkameraden ein Essay zu Lord Kitchener aufgegeben. Lord Kitchener ist eine der berühmtesten Figuren des britischen Empire, der durch seine Zerschlagung von Aufständen zuerst in Ägypten und dann im Sudan Ruhm erlangte und später in Südafrika und Indien zum Einsatz kam, bevor er im Ersten Weltkrieg Kriegsminister wurde.10 Das Essay, so scheint es aus Vickys unbeholfenen Fragmenten, die sie in einer späteren Fortsetzung des Sketchs präsentiert, sollte ein rein biographisches werden – ohne kritische Einordnung von Kitchener in die Kolonialgeschichte Großbritanniens. Für Vicky ist Kitchener nur irgendein toter Typ, der irgendwann einmal für irgendetwas bedeutend war. Das ist aus der Perspektive des Lehrers (und unserer) ignorant und unwissend. Im Rahmen dessen, was für Vicky relevant ist – etwa ihre Stellung in der Klasse und ihre Freundschaften und Feindschaften mit Gleichaltrigen – ist ihre Haltung aber nicht nur verständlich, sondern sogar sinnvoll. Vielmehr erscheint die Haltung des Lehrers ignorant, der erwartet, dass seine Schüler ohne Kontext die Relevanz englischer Kolonialpolitik verstehen. Dass diese auf sie eine Auswirkung hat, wird subtil durch die Tatsache deutlich, dass die Mitschülerin Vickys, die ihr Glück beim Gespräch mit dem Lehrer wünscht, farbig ist. Dieses Muster aus Vicky als typischer Vertreterin der Chavs in Konfrontation mit einer Autorität, die Wissen und Macht vereint, erscheint in allen Vicky Pollard-Sketchen. So gibt es etwa einen, in dem sie wegen Ladendiebstahls vor Gericht steht und mit ihren Tiraden Richter und Anwälte zur Weißglut bringt. In einem anderen ist sie beim Schularzt, der eine Schwangerschaft feststellt, obwohl Vicky insistiert, nie Sex gehabt zu haben – oder vielleicht nur einmal. Schließlich erleben wir den Besuch einer Sozialarbeiterin, die nach Vicky und ihrem Neugeborenen schaut und feststellen muss, dass Vicky das Baby für eine CD der irischen Boyband Westlife eingetauscht hat. Als die Frau vom Sozialamt darauf empört fragt, wie sie das nur habe tun können, meint Vicky resigniert, das habe sie mittlerweile auch eingesehen: Die CD sei nämlich echt Scheiße. Natürlich ist Vicky eine Witzfigur, und sie diskreditiert die Jugendkultur, deren scheinbar extremer Ausdruck sie ist. Sie ist aber auch eine subversive Figur, die gegen jeden Anspruch von gesellschaftlicher Norm (die immer durch Autoritätsfiguren verkörpert wird, die als Experten Wissen und Macht vereinen) auf ihren eigenen Interpretationsrahmen und Wertemustern insistiert. Um in der Terminologie des Aufsatzes von 10 Vgl. Alan Jack Smithers: The Fighting Nation. Lord Kitchener and his Armies, London: Leo Cooper 1994.
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Hans Rott zu sprechen, könnte man argumentieren, dass das, was wir bei ihr zuerst für eine Kette von Missverständnissen halten, sich letztlich aber als eine logisch verknüpfte Reihe von Meinungsverschiedenheiten mit Autoritäten entpuppt11, auch wenn wir deren Logik nur schwer verstehen können und auch Vickys Werten vielleicht nicht unbedingt folgen möchten. Dass die sogenannte »Chav-Kultur« in Großbritannien umstritten ist, aber auch, dass sie ein Medienphänomen ist, lässt sich an scheinbar humorvollen Anti-Chav-Symbolen wie dem »Abfälle korrekt entsorgen«Schild sehen, das die Aufschrift »Keep Britain tidy: Bin a Chav« – »Haltet Großbritannien sauber: entsorgt einen Chav« trägt. Als Chav-Symbol wird hier die Baseballmütze verwendet, die in der globalen Jugendkultur ubiquitär ist, bei den Chavs gerne aber auch das Burberry-Muster hat. Wie sehr es hier um Fragen der Aneignung von kulturellen Werten geht, erkennt man daran, dass als Reaktion darauf die Firma Burberry schon im Jahre 2004 die Produktion solcher Mützen eingestellt hat.12 Als billige illegale Kopien zirkulieren sie aber weiter. Eine noch wichtigere politische Botschaft steckt aber in dem Symbol, indem es zur Ausgrenzung auffordert und impliziert, dass die Chavs Großbritannien verschmutzen und unordentlich machen. Ganz ähnlich wie bei den Anti-Nazi-Symbolen ähnlicher Aufmachung ergibt sich hier ein Double-bind. Das, was sich in der Regel als betont Britisch (oder Englisch) empfindet, wie die Chavs das häufig tun, wird von einem anonymeren abstrakteren Großbritannien als ausgrenzenswert empfunden, wenn nicht gar als wert, auf die Müllhalde der Geschichte geworfen zu werden. Wieder begegnen wir einer Frage der Macht, die auch die Interpretationshoheit darüber besitzt, was nun britisch ist. Würde es sich bei der Zielgruppe des scheinbar lustig gemeinten Symbols etwa um Schwarze handeln, wäre uns sofort klar, dass es sich dabei um eine problematische rassistische Geste handelt. Bei den Chavs hingegen scheint sich uns nur eine interessante Paradoxie aufzutun, die wir aus dem deutschen Kontext von Rechtsradikalen kennen, die häufig ein ausländerfreies Deutschland fordern, während ihre Gegner ein rechtsradikalenfreies wollen. Ähnlich wie die Comedyfigur Vicky Pollard wissen auch die realen Chavs, dass sie unbeliebt sind, dass man sie zum Verschwinden bringen möchte und dass es zahlreiche ganz reale Mittel gibt, dies durchzusetzen. Eine zentrale Maßnahme, mit der die wissende Macht der Experten das Problem des jugendlichen Vandalismus angeht, sind »ASBOs«, »Anti11 Vgl. Hans Rott: »Meinungsverscheidenheiten und Missverständnisse« (in diesem Band), S. 61-96. 12 Vgl. Laura Mannering: »Burberry dumps ›lout‹ hat«, in: The Daily Mirror vom 10.9.2004.
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Social Behaviour Orders«. Sie wurden mit dem Crime and Disorder Act von 1998 zum ersten Mal eingesetzt und sind juristische Auflagen für Verhalten, die von örtlichen Magistrates Courts verhängt werden, und zwar sehr rasch (zum Teil können sie unmittelbar ausgesprochen werden). Verstöße dagegen werden dann als Straftat verfolgt. Der AntiSocial Behaviour Act von 2003 hat die Rolle der ASBOs noch einmal verstärkt. Unter den zahlreichen Dingen, gegen die ein ASBO verhängt werden kann, listet die offizielle Informationsseite des britischen Justizministeriums, crimereduction.gov.uk, das Belästigen von Anwohnern und Passanten, Beleidigungen, Sachbeschädigungen, Vandalismus, Lärmbelästigung, Graffiti, bedrohliches Verhalten von Gruppen, rassistische Beleidigungen, Trinken und Rauchen von Minderjährigen, Rauschmittelmissbrauch, Joyriding, also das Stehlen und zu Schrott Fahren von Autos, Betteln, Prostitution, das Aufsuchen von Sperrbezirken, das Werfen von Gegenständen, tätlichen Angriff und Kfz-Diebstähle. Aber damit ist die Liste keineswegs erschöpft, und sie kann sehr flexibel und individuell eingesetzt werden. Selbst Kommunalverwaltungen können nun schnell und flexibel zum Teil empfindliche Geldstrafen verhängen. Betreiber von Einkaufszentren können ebenso ASBOs beantragen wie Unternehmen des öffentlichen Nahverkehrs, etwa bei wiederholtem Schwarzfahren. Während die Befürwörter der ASBOs (und ihrer »freiwilligen« Vorstufe der ABCs, der »Acceptable Behaviour Contracts«) davon ausgehen, dass durch solche Maßnahmen das öffentliche Leben in Großbritannien sicherer geworden ist, verweisen Gegner auf die rechtlichen Problematiken. ASBOs stellen zum Teil Eingriffe in Grundrechte wie Versammlungsfreiheit und Bewegungsfreiheit dar, die in Großbritannien allerdings nicht von einer schriftlichen Verfassung gedeckt werden. Während die Regierung betont, dass ASBOs auch für und explizit nicht gegen Jugendliche da sind, sprechen die Statistiken eine andere Sprache. Gleiches gilt für die Tatsache, dass z. B. das Tragen von Schirmmützen und Kapuzensweatshirts, den sogenannten »hooded tops« oder »hoodies«, manchmal von ASBOs verboten werden soll, ebenso wie das Zusammenrotten von Jugendlichen in Gruppen oder ihr Aufenthalt an bestimmten Orten wie Kaufhäusern. Damit wird deutlich, dass das, was sich zwischen Chavs und den jeweiligen Autoritäten abspielt, in der Tat auch eine Art des Klassenkampfs ist, wenngleich hier nicht die traditionelle Arbeiterklasse in gewohnter Weise ausgebeutet und unterdrückt werden soll. Vielmehr handelt es sich um eine Unterschicht, eine »non-working class«, die sich in der Regel ihres Klassenstatus’ kaum bewusst ist und eher einen vagen Stolz auf England mit einem trotzigen Bekenntnis zu ihrer Herkunft aus
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Sozialbauten verbindet. Im Deutschen nennen wir ähnliche Gruppen seit neuestem »Prekariat«.13 Auch die Unterdrücker der Chavs sind nicht mehr so eindeutig zu identifizieren wie noch die kapitalistischen Ausbeuter im 19. Jahrhundert. Es ist eine Allianz der »gemeinen Bürger«, der »common people«, die allerdings nicht so »common«, so »gewöhnlich«, wie die Chavs sein wollen, die ihr Ruhe- und Ordnungsbedürfnis aber gleichzeitig auch instrumentalisieren lassen – und zwar von Firmen und Institutionen, denen daran gelegen ist, dass ihre Kaufhäuser von Ladendieben geschützt, ihre Einkaufspassagen und -zentren sowie ihre Transportmittel von Vandalismus oder einfach nur der störenden Präsenz junger Leute, die keine Konsumenten sind, verschont bleiben. Wie sehr die Chavs wissen, um was es geht, lässt sich am »hoodie«, dem Kapuzensweatshirt und seinem Träger sehr gut demonstrieren. Ursprünglich simple Sportbekleidung, wurde es Jugendlichen sehr schnell klar, dass es auch praktisch dafür ist, von den in Großbritannien allerorts vorhandenen Überwachungskameras nicht so einfach identifiziert zu werden. Als Konsequenz gab es »hoodie«-Verbote in Form von ASBOs. Als Reaktion darauf wieder wurden »hoodies« hergestellt, die den Slogan »Save the Hoodies« trugen. In ähnlicher Weise wurde die Tatsache, dass ein oder mehrere ASBOs auf eine Person ausgestellt waren, unter Jugendlichen schnell zur besonderen anstrebenswerten Auszeichnung. Dabei sind die Strukturen, innerhalb derer sich die Chavs bewegen, auch wenn diesen dies kaum bewusst ist, nicht völlig neu. Sie sind im Gegenteil die vieler Jugendbewegungen im weitesten Sinne zumindest seit der frühen Neuzeit, wenn auch die genaue soziale Zuordnung der Jugendlichen sich gewandelt hat. Bereits im Renaissance-England der ersten Königin Elizabeth gab es das Problem der »apprentices«, junger Männer aus der Mittel- und Unterschicht, die zwar formal alle in einer Lehre steckten, aber ihre Freizeit zu allerhand gewaltsamen und zum Teil kriminellen Aktivitäten nutzten, die ganz ähnlich aussahen und das »gemeine Volk« genauso erschreckten wie Zusammenrottungen von Chavs heute.14 13 Den Begriff des »Prekariats«, eine Kombination aus »Proletariat« und »prekär«, führte in Deutschland die SPD-nahe Friedrich Ebert Stiftung 2006 in die Diskussion um soziale Schichtungen ein. Vgl. Rita MüllerHilmer: Die Gesellschaft im Reformprozess, Bonn: Friedrich-EbertStiftung 2006, S. 22-23 u. 83-94; http://www.fes.de/inhalt/Dokumente/ 061017_Gesellschaft_im_Reformprozess_komplett.pdf vom 8. Juli 2007. 14 Vgl. Charles Whitney: »›Usually in the Werking Daies‹. Playgoing Journeymen, Apprentices, and Servants in Guild Records, 1582-92«, in: Shakespeare Quarterly 50:4 (Winter 1999), S. 433-458.
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Auch in der scheinbar so guten alten viktorianischen Zeit des angeblich so repressiven 19. Jahrhunderts war Kleinkriminalität und Gewalt unter Jugendlichen eher die Regel als die Ausnahme. So berichten Zeitungen aus den 1850ern von blutigen Kämpfen zwischen Kindern und Jugendlichen, denen erwachsene Zuschauer in großer Zahl Beifall spendeten. Auch Angriffe auf Polizisten waren keine Seltenheit.15 Näher an unserer Zeit sind den Neds und Chavs die Teddyboys im England der 1950er (nach denen nach einer anderen Theorie die »Neds« benannt sind, ebenso wie »Chav« auch als Roma-Wort für »jungen Mann« gilt)16.Auch die Teddyboys hatten, wie Jugendkulturen generell, ihren Kleidercode, hier die dandyhafte Mode, die sich auf die edwardianische Epoche des frühen 20. Jahrhunderts bezog.17 Auch sie hatten einen Hang zur Gewalt, die etwa bei den Notting Hill Riots von 1958 durchaus rassistische Züge annehmen konnte. Das ist umso bemerkenswerter als ein Teil der Teddyboy-Mode aus der amerikanischen schwarzen Musikkultur stammte.18 Gleiches scheint bei den Chavs zu geschehen, deren Kleidung eindeutig der schwarzen amerikanischen Jugendkultur abgeschaut ist, inklusive der Liebe zu »bling«, Goldketten und ostentativem Glitzerschmuck. Genauso paradox wie der Rassismus vieler Teddyboys ist der naive Nationalismus der Chavs, die immer wieder gerne betonen, ihr wahres Privileg sei, englisch zu sein, auch wenn ihre Outfits ebenso wenig wie ihre Musik auf britischen Mustern beruhen und wenn, dann auf welchen, die bereits schwarze Einflüsse in Form von Hip Hop oder Ska zu neuen Formen wie »Grime« verschmelzen, was sich wieder mit »Schmutz« übersetzen lässt. Diese Widersprüche werden auch im Video zum Song »9 to 5« des neuen Stars am britischen Pop-Himmel, Lady Sovereign, in der Version mit den Ordinary Boys, den »gewöhnlichen Jungs«, deutlich. Es besteht aus »typisch englischen« Bildern vom Billigwochenendurlaub an der kiesigen Südküste, wo der Himmel immer eher grau als blau ist, wo man eklige Hotdogs und Eis isst und mit seinen tätowierten Kumpeln Fußball spielt und Autoskooter fährt. Dennoch verkauft der Song uns 15 Siehe z. B. »Training Children to Fight«, in: Manchester Guardian vom 5.3.1851, S. 5. Ich verdanke Dr. Jessica Malay (University of Huddersfield) den Hinweis auf diese Quelle. 16 Eine andere sieht den Ursprung in der Kontraktion von »ne’er-do-well«, »Tunichtgut«. 17 Vgl. David Christopher: British Culture. An Introduction, London/New York: Routledge 1999, S. 135. 18 Vgl. Mike Storry/Peter Childs: British Cultural Identities, London/New York: Routledge 1997, S. 172-174. Vgl. auch Dick Hebdige: Subculture. The Meaning of Style, London/New York: Routledge 1979.
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seine nationalistische Botschaft mit Ska-Rhythmen, einer britischen Version des Reggae. Die Ignoranz der Chavs, so könnte man hier scheinbar zu Recht argumentieren, betrifft ihre eigene Selbstdefinition, das Wissen über ihre kulturellen Ursprünge und soziale Herkunft. Dass trotzdem das Bild etwas differenzierter ausfällt, möchte ich aber gerade an Lady Sovereign demonstrieren. Ihr kultureller Status scheint gesichert, widmete ihr doch selbst die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 5. Mai 2007 eine Meldung. In dieser ist zu lesen: »Die Volksausgabe unserer Nachbarn von den Britischen Inseln gilt nicht nur als unkompliziert, antiintellektuell, trinkfest und partyversessen, sondern auch immer noch als Meister im Erfinden und Kultivieren von Kunstfiguren. Das kann man augenblicklich wieder besonders gut bei den Damen im Musikgeschäft beobachten. Wo der Dandy geboren wurde, da können auch die ProletenTussi, die Chefsekretärin und das keltische Urweib zur Popfigur werden. Allen voran Louise Harman alias Lady Sovereign, deren Image man schon fast als Konzeptkunst bezeichnen muss: Von der Körpergroße (1,55) über den straff seitlich geknüpften Haarzopf, über ihren Herkunftsort ›Chalkhill Estate‹, eine Sozialbausiedlung aus dem Nordwesten Londons, bis zum Titel ihrer ersten Platte ›Public Warning‹ (Island/Universal 7055636) – all das sind ideale Zutaten, um den ›größten Giftzwerg im Game‹ zu kreieren, eine mitreißende Göre des ›Grime‹, jener nervös beschleunigten, tanzbaren Hip-Hop-Variante aus dem Vereinigten Königreich. Einen ›Feminem‹, einen weiblichen Eminem, nannten sie manche. ›Love Me or Hate Me‹, so heißt ihr Superhit und – ihr Motto.«19
Das Video zu »Love Me or Hate Me« vom Regisseur Brian Beletic, der auch schon für die Blackeyed Peas und Basement Jaxx gearbeitet hat, bestärkt zum einen alle Vorstellungen, die landläufig von der angeblichen Ignoranz der Chav-Kultur zirkulieren und die auch der FAZ-Artikel reproduziert, wenn er etwa von »antiintellektuell« und einem »speziellen Produkt der englischen Arbeiterklasse« spricht oder von einer »typischen Minimalfrisur irgendwo zwischen Sträfling und begossenem Pudel« und dem »Siegelring, der sich auch zum Zuschlagen eignet«. Primitivität wird signalisiert und zelebriert, Gewalttätigkeit zumindest angedeutet. Und dennoch ist das Video genau wie die durchgängige Selbstpräsentation von Lady Sovereign auch erfrischend selbstironisch und sogar durchaus kritisch, wenn es um die Ideale unserer modernen Warenwelt geht. Nachdem der Song typisch selbstreferentiell »It’s officially the biggest midget in the game« (»Sie ist offiziell der größte Giftzwerg im Metier«) intoniert, folgt dieser Ansage gleich das modifizierende »I don’t know« (»Na, ich weiß nicht«). Und nachdem ihre Kurzbezeichnung 19 Nadja Geer: »Lady Sovereign und die ›Chavs‹. Die Rapperin als warnendes Beispiel«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5.5.2007, S. 42.
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»SOV« ausgerufen worden ist,20 sehen wir Lady Sovereign erst fettleibig, dann mit künstlich vergrößerten Brüsten und schließlich mit grotesker Behaarung. Dazu verkündet sie die drei größten Probleme der modernen jungen Britin: Übergewicht, zu kleiner Busen und haarige Achselhöhlen. Sie verkündet sie nicht nur, sondern macht sich gleich wieder über sie lustig, indem sie betont: »I wear a big baggy t-shirt that hides that nasty shit«, »Ich trage ein großes weites T-Shirt, das diesen ekligen Kram versteckt«. Bloße Anpassung ist das nicht, wie man dann gleich noch weiter sieht, wenn Lady Sovereign ihre eigene Form der Maniküre vorstellt. »Never had my nails done«, »Ich hab’ mir noch nie die Nägel machen lassen«, erklärt sie im Weiteren, um dann mit Hamsterkäfig an der Hand und der Erwähnung von Shepherd’s Pie, einer ziemlich ekligen Angelegenheit aus Lammhack und Kartoffelbrei, auf den Lippen fast karikaturenhaft die traditionelle englische Unterklassenkultur hochleben zu lassen. Hier verkörpert sie eindeutig auch eine Geschlechterrolle, die populärerweise als »girl power« bezeichnet wurde. Ihre ersten Vertreterinnen in der Popkultur waren die Spice Girls, und Sporty Spice alias Mel C alias Melanie Chisholm, Unterschichtenkind aus Liverpool, ist sichtlich eines der optischen Vorbilder von Lady Sovereign. Ihre symbolische Gegnerin im Video zu »Love Me or Hate Me« ist eine schicke junge Frau mit einem Corgi-Hund an der Leine, der Hunderasse, mit der die jetzige Königin assoziiert wird. »Go on then, go on report me«, ruft sie dieser zu, »Zeig’ mich doch an«, ganz klar die ASBOs-Regelungen im Kopf. »I’m English, try and deport me!«, »Ich bin Engländerin. Versuch doch, mich auszuweisen«, wird der Text dann noch direkter. Wem gehört England, der angepassten, brav konsumierenden Mittelund Oberschicht, die den Mythos von Tony Blairs »Cool Britannia« gefressen hat, oder den Chavs, die sich eben über diese Ideale lustig machen und dem britischen »feel-good factor« das nicht so schöne Gefühl ihrer Präsenz entgegensetzen? »I won’t go back to the minimum wages«, »Ich geh’ nicht mehr zurück auf den Mindestlohn«, lautet etwa eine Zeile in »9 to 5«.21 Dabei sind die Texte von Lady Sovereign brutal offen, was die Ignoranz und Dummheit angeht, die sie in Teilen zumindest auch zelebriert: »Had a hamster, it died cuz I ignored it«, »Ich hatte einen Hamster, der ist gestorben, weil ich mich nicht um ihn gekümmert habe«, erklärt »Love Me or Hate Me« ganz lakonisch, nur um später den Spieß 20 Eine Variation von »SOB«, »son of a bitch«. 21 Für eine umfassende Sicht gegenwärtiger britischer Jugendkultur vgl. Gerd Stratmann/Merle Tönnies/Claus-Ulrich Viol (Hg.): Youth Identities. Teens and Twens in British Culture, Anglistik und Englischunterricht 63, Heidelberg: Winter 2000.
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wieder umzudrehen. In einer Gesellschaft, die sich um Chavs nur mit juristischen Anordnungen kümmert, die, wie das Video zeigt, das Gefühl haben, einfach auf den Müll geworfen zu werden, hat Lady Sovereign das Privileg, dass man ihr zuhört, wenn auch aus dubiosen Gründen: »So everybody’s entitled to opinions, I open my mouth and shit I got millions. I’m the middle kid, the riddle kid, I’ll make you giggle till you’re sick.« [Jeder hat also das Recht auf Meinungen; ich mach’ den Mund auf und, Scheiße, ich krieg dafür Millionen. Ich bin das mittlere Kind, das Kind mit den Rätselreimen, Ich lass dich kichern, bis du kotzt.]
Gleichzeitig scheint es sie nicht zu stören und es passt vielleicht sogar in das Bild, das sie präsentieren möchte, wenn unter den »Bedrohungen«, die sie als Kunstfigur im Video erfolgreich zu meistern hat, nicht nur als Äffchen gezeichnete jugendliche Autovandalen sind, sondern auch nervige Straßenverkäufer von Handtaschen (eine Beleidigung für die explizit nicht damenhafte Lady Sovereign), die allesamt schwarz oder asiatisch sind. In einem anderen Video zu »9 to 5«, das auf dem Oberdeck eines typischen Doppeldeckerbusses spielt, haben wir dann aber neben typisch englischen Hausfrauen auch einen Herrn mit Schirm, Charme und Melone, der ebenso wie die Hausfrauen das Lied vom protestantischen Arbeitsethos intoniert, gegen das Lady Sovereign anrappt. Nur dass dieser typisch englische Gentleman im Video eine schwarze Hautfarbe hat. Eines der Vorbilder, das Lady Sovereign in Interviews für sich reklamiert, ist in der Tat die kritische schwarze Rapperin Ms Dynamite.22 Dumm oder schlau? Oder schlau auf eine ganz eng begrenzte pragmatische Weise, für die die englische Sprache den Ausdruck »streetwise« oder »street smart« kennt, etwa »straßenweise« oder »straßenschlau«? Das Deutsche hat hier nur »bauernschlau« zu bieten, was allerdings ebenfalls die Klassendimension dieses nichtautorisierten Wissens betont, das nicht von Experten stammt und nicht von diesen anerkannt wird. Die Frage, wer wen anhand welcher scheinbaren oder wirklichen Verständnisprobleme als ignorant und unwissend bezeichnet, wird in meinem letzten multimedialen Beispiel, dem Video zu Lady Sovereigns
22 Alias Niomi MacLean-Daley und mit schottischen und jamaikanischen Wurzeln. Zur Komplexität der multiethnischen Kontexte gegenwärtiger britischer Jugendkultur vgl. Rupa Huq: Beyond Subculture. Pop, Youth and Identity in a Postcolonial World, London: Routledge 2006.
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»Hoodie« noch einmal sehr schön auf den Punkt gebracht. Es spielt wieder ganz bezeichnend in einem der bevorzugten Habitate der Chavs, einem typisch englischen Einkaufszentrum. Es zeigt Lady Sovereign umgeben von einer Gruppe ähnlich gekleideter junger Frauen, von denen zwei sogar farbig sind. Das Thema des Videos ist die Konfrontation mit der Chav-Gruppe und zwei Frauen der oberen Mittelschicht, die beide ebenso klischeehaft wie die Chavs gezeichnet werden – die eine mit blondierten Haaren, die zweite asiatisch, beide gut gekleidet und auf einem Einkaufsbummel, während die Chavs nur herumhängen und nichts konsumieren. Man kann das Video auch als Ausdruck der Moralpanik beschreiben, die gegenüber den Chavs in weiten Teilen der britischen Bevölkerung und ihrer Medien herrscht. Aus kleinen Provokationen baut sich eine Eskalation der potentiellen Gewalt auf, in die ganz bezeichnend auch Überwachungskameras und Wachpersonal als Symbole der Rechtsordnung involviert werden. Am Schluss haben wir eine Konfrontation zwischen der etablierten Mittelschicht und den plötzlich unheimlich in ihrer Zahl angewachsenen Chavs. Doch genau dieser Schluss des Videos setzt all dem auch wieder eine ironische Wendung entgegen: Die Mittelklassefrau, die die Chavs verdächtigt hatte, ihr die Handtasche gestohlen zu haben, und die mit ihrer Freundin zusammen in Panik ausbricht, als sie sich nun auch noch von einer Gruppe Chavs verfolgt glaubt, muss erkennen, dass diese ihr nur die im Kleidergeschäft vergessene Tasche hinterher getragen haben. Wer hat nun wen nicht verstanden? Wer war und ist ignorant? Die Chav-Gruppe, die zwei Modepüppchen, das Drumherum, oder auch wir als Zuschauer mit bestimmten Erwartungshaltungen?23 Dass sich aus sozialen Spannungen und Gruppen, die sich nicht repräsentiert und am scheinbaren Wirtschaftsboom beteiligt fühlen, ein kommerziell brauchbares Spektakel machen lässt, haben die Beispiele von Little Britain bis hin zu Lady Sovereign ja nachhaltig bewiesen. Es gibt sogar bereits Literatur, die als Fiktion nicht nur über die ChavKultur berichtet, sondern durchaus formal und intellektuell ambitioniert nach deren Funktion innerhalb der Welt der scheinbar »Normalen« fragt. Es handelt sich dabei um den Roman The Asbo Show von Tony Saint aus dem Jahr 2007. Der Roman beschreibt den Alltag des Sozialarbeiters Roger Merrion, der im ASBO Unit, der ASBO-Abteilung, arbeitet und dessen Haupteinsatzgebiet die berüchtigte Composers Estate einer ungenannten engli23 Für einen Versuch, eine historische und theoretische Perspektive auf britische Populärkultur miteinander zu verbinden, vgl. Morag Shiach: Discourse on Popular Culture. Class, Gender and History in Cultural Analysis, 1730 to the Present, Cambridge: Polity 1989.
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schen Großstadt ist. Sein Vater, ein überzeugter Sozialist, ist gerade verstorben. Von seiner Frau Marion ist er entfremdet, und im Verlauf des Romans verlässt er die Wohnung, die er mit ihr und den gemeinsamen Kindern Beth und Nick bewohnt, und zieht heimlich in einen leerstehenden Block der von ihm betreuten Siedlung, Goossens genannt, nach einer britischen Musikerfamilie belgischer Herkunft, aber im Volksmund nur als »Goebbels« bezeichnet. Von dort hat er freie Sicht auf das Treiben der Sozialwohnungsbewohner, Arbeitslosen und Kleinkriminellen der Gegend. Zuerst findet er dies eine nervenberuhigende Show, besonders wenn er sie zusammen mit Alkohol und Drogen konsumiert. Später kommt er auf die Idee, dass auch andere an dieser »Show« Interesse haben könnten und richtet mit seinen Kumpeln vom Sozialamt einen regelmäßigen Boot-Shuttleservice auf dem hinter dem Block entlang fließenden Kanal ein und gewinnt als Kunden Büro-Parties, Junggesellenabschiede und zunehmend auch die Kultur- und Medienschickeria der Stadt. Schließlich gerät das Geschäft ebenso außer Kontrolle wie Merrions Trunk- und Drogensucht. Der Roman steht in der Tradition englischer sozialironischer Texte wie denen von Kingsley Amis aus den 1960er Jahren. Nur dass diese die mühsamen Aufstiegsversuche der englischen Unterschicht in die Mittelschicht beschrieben, Tony Saints Roman hingegen eine weitgehend segregierte Apartheit-Gesellschaft zeigt, in der selbst die relativ machtvolle Mittelschicht von der gleichen Großmarktkette, PoundBlaster UK, kontrolliert wird, die Waren, Telefonnetzwerke und Shopping-Kanäle im Fernsehen wie CostBlast TV bereitstellt und auf letzterem nutzlosen Ramsch unter die Leute bringt. Damit ist der Text auch eine Dystopie in der Tradition von Aldous Huxleys Brave New World (1932). Obwohl er klar übertreibt und über weite Strecken zynisch ist, enthält er aber doch zahlreiche überzeugende Schilderungen nicht nur des Lebens der Unterprivilegierten, die auch hier Chavs genannt werden, sondern auch Ansätze von analytischen Einsichten in deren rechtlichen und gesellschaftlichen Status. Eine typische Szene beim Zustellen eines ASBO-Bescheids durch Roger Merrion und seinen Kollegen Spence etwa zeigt Folgendes: »The sitting room was unbearably hot and bore virtually no decoration. Two low three-seater settees were pushed right up to the wall. As Mrs Molloy joined the group already seated (four other women, two adolescent males), she sank deep into it, only a few inches from the ground. The air was caustic with smoke. Both young men present were dressed in the standard uniform of the ASBO recipient: prison-white running shoes, shimmering baggy track pants, American sports T-shirt and baseball cap. Each had a similarly glazed, almost cross-eyed look in their eyes. Among the cigarette women, Roger detected a physical similarity with Mrs Molloy in one or two of them. In the centre of the
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room stood a toddler. Roger pegged him at about eighteen months old, grubby about the face, dressed only in a pull-up nappy with a large pacifier masking half his face. Spence stood, dwarfing the others, who were studiously ignoring his presence and concentrating on the room’s focal point – a giant silver-edged television, surrounded by the associated hardware of a home cinema system and a full range of Playstation paraphernalia.«24 [Das Wohnzimmer war unerträglich heiß und enthielt so gut wie keine Dekoration. Zwei niedrige Dreisitzer-Sofas waren direkt an die Wand gerückt. Als Frau Molloy sich zur bereits sitzenden Gruppe gesellte (vier andere Frauen und zwei männliche Jugendliche), sank sie tief ein, nur ein paar Zentimeter vom Boden. Die Luft war schneidend von Qualm. Beide junge Männer trugen die Standarduniform des ASBO-Empfängers: gefängnisweiße Laufschuhe, glänzende weite Trainingshosen, amerikanische Sport-T-Shirts und Baseballmütze. Jeder hatte den gleichen glasigen, fast schielenden Blick in den Augen. Unter den Raucherinnen entdeckte Roger bei einer oder zwei eine körperliche Ähnlichkeit mit Frau Molloy. In der Raummitte stand ein Kleinkind. Roger schätzte ihn auf etwa achtzehn Monate, mit verschmiertem Gesicht, nur von mit einer Einwegwindel bekleidet und das Gesicht halb von einem großen Schnuller maskiert. Spence stand so, dass er die anderen klein aussehen ließ, die seine Gegenwart aber bemüht ignorierten und sich auf den Mittelpunkt des Raumes konzentrierten – ein riesiges silberfarbiges Fernsehgerät, das umrahmt war von der dazugehörigen Hardware eines Heimkinosystems und der gesamten Auswahl an Playstation Zubehör.]
Damit ist das Klischee erfüllt, das aber wohl gar nicht weit an der Realität vorbeigeht. Nur ist es auch wichtig, am Zitat zu beobachten, dass Rogers scheinbar objektiver Sozialarbeiterblick natürlich auch schon Wertungen und Prognosen enthält. So ist etwa bereits das Kleinkind »maskiert«; die Schuhe der jungen Männer werden bereits mit »Gefängnis« assoziiert. In bester oder schlechtester britischer Sozialromantradition tragen die Mitglieder der Unterschicht mit Molloy natürlich auch einen irischen Namen. Noch wichtiger ist aber, dass sich ihr Lebensstil gar nicht substantiell von dem des Beobachters unterscheidet: Auch in seinem Heim (solange er noch eines hat) gibt es natürlich einen Großbildfernseher, auf dem genau wie bei den Molloys zunehmend CostBlast TV läuft. Auch er trinkt und raucht, und auch sein Sohn besitzt natürlich eine Playstation, auf der er gegen seinen Vater War on Terror II: Wind of Revenge, Krieg gegen Terror II: Wind der Rache, spielt, ein im Zusammenhang mit dem Prestigeverlust der Blair-Regierung durch den Irak-Krieg äußerst ironi-
24 Tony Saint: The Asbo Show, London: Serpent’s Tail 2007, S. 13.
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scher Titel.25 Nur ist dieser sechzehnjährige Sohn Nick wesentlich gebildeter als die Personen in der Wohnung der Molloys. Interessanterweise ist er auch analytischer, was deren Situation angeht, als sein eigener Vater. So kommentiert er den Bericht seines Vaters über den Einsatz bei den Molloys, der mit einem Angriff von Frau Molloy auf ihn mit einer Flasche Bleichmittel endete, wie folgt: »›They’re just people,‹ ventured Nick, peering into the casserole dish. ›They’re not, like, murderers or something. They’re just not enfranchised like you are. So they do what they want.‹ ›How come you know so much about them?‹ Nick cocked his head. ›Er, ‘cause maybe you sent me to school with hundreds of them. Not that many of them turn up after year nine, mind.‹ ›What do you mean? If you didn’t go to school, your father and me, we’d be sent to prison.‹ Nick smacked her a quick kiss on the cheek. ›Mum, you’re a great cook but there’s a lot of shit going on out there you don’t know anything about. It’s us and them. And there’s more and more of them and you can’t change them. One day they’ll win and we’ll all be like them. Live with it.‹ Marion shook her head. ›You have to believe people can change for the better.‹ Nick shrugged, in a way that reminded Roger of himself. ›Yeah, but why should they? What’s in for them? Nobody gives a toss about them, so why shouldn’t they have some fun?‹ ›So you think it’s OK to behave like that?‹ asked his mother. ›I’m not saying it’s right. Or wrong. I’ll leave the judging to others. I’m just saying that’s what they think. Can I have a glass of wine?‹«26 [›Das sind einfach nur Menschen‹, warf Nick ein und starrte in den Bräter. ›Das sind keine Mörder oder so was. Sie haben einfach nicht so viele Rechte wie ihr. Deshalb machen sie, was sie wollen.‹ ›Woher weißt Du denn soviel über die?‹ Nick schaute sie schräg an. ›Na, vielleicht weil Ihr mich mit hunderten von ihnen auf eine Schule schickt. Nicht, dass viele davon nach der 9. Klasse noch dort auftauchen.‹ ›Was soll das heißen? Wenn Du nicht zur Schule gehen würdest, kämen Dein Vater und ich ins Gefängnis.‹ Nick drückte ihr rasch einen Kuss auf die Wange. ›Mama, Du bist eine großartige Köchin, aber da draußen geht eine Menge Scheiß ab, von dem Du gar nichts weißt. Da heißt es, wir gegen die anderen. Und von denen gibt es mehr und mehr, und Du kannst sie nicht ändern. Eines
25 Vgl. ebd., S. 38. 26 Ebd., S. 35.
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Tages gewinnen sie, und wir werden wie sie sein. Gewöhn’ Dich an den Gedanken.‹ Marion schüttelte den Kopf. ›Man muss daran glauben, dass Menschen sich zum Besseren ändern können.‹ Nick zuckte mit den Schultern auf eine Weise, die Roger an sich selbst erinnerte. ›Schon, aber warum sollten sie? Was haben sie zu gewinnen? Keiner schert sich einen Dreck um sie; warum sollten sie also keinen Spaß haben?‹ ›Also meinst Du, es ist in Ordnung, wie sie sich benehmen?‹, fragte seine Mutter. ›Ich sage ja nicht, dass es in Ordnung ist. Oder nicht in Ordnung. Ich überlasse das Richten anderen. Ich sage nur, das ist, was sie denken. Kann ich ein Glas Wein haben?‹]
Dass Nick Recht hat, belegt eine andere Szene, in der Rogers Kollege Spence eine Lanze für die Chavs bricht, als Roger die übliche Anklage gegen sie erhebt: »›They make people’s lives a misery.‹ ›Of course they do. But look, man. You plant a bomb in a shopping centre and you end up with more rights than these people. The thing about this lot,‹ said Spence, gesturing back at Gildenhall, ›is that nobody, and I mean nobody, gives a shit about them. Christ, gypsies get treated better. Bloody pikeys have got the treehuggers throwing themselves at their feet. Nobody goes into bat for the white trash. Imagine the council ordering a gyppo not to walk into a kebab shop. There’d be uproar. Uproar.‹«27 [›Sie machen den Leuten das Leben zur Qual.‹ ›Natürlich tun sie das. Aber sieh es mal so. Du legst eine Bombe in einem Einkaufszentrum und hast danach immer noch mehr Rechte als diese Menschen. Die Sache mit denen‹, sagte Spence und zeigte zurück auf die GildenhallSiedlung, ›ist, dass niemand, und ich meine wirklich niemand, sich einen Dreck um sie schert. Verdammt, Zigeuner werden besser behandelt. Den verdammten irischen Obdachlosen werfen sich die Ökofritzen vor die Füße. Aber keiner macht auch nur einen Finger für den weißen Abschaum krumm. Stell Dir vor, die Stadtverwaltung verbietet einem Zigeuner, einen Kebab-Imbiss zu betreten. Das gäbe einen Aufstand. Einen Aufstand.‹]
Spences Argument ist so drastisch wie seine politisch unkorrekte Sprache. Selbst Terroristen haben mehr Rechte als die Unterschicht der Chavs, die mit ASBOs in der Tat am Betreten bestimmter Gegenden und auch Geschäften gehindert werden können. Alle Minderheiten haben Fürsprecher und werden im politisch korrekten Denken in Konzepten der 27 Ebd., S. 23.
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Multikulturalität als Bereicherung empfunden. Nicht aber Chavs. Welche Haltung ist die ignorantere? Diejenige, die Chavs in die typisch sozialromantischen Utopien des Stolzes auf die eigene Klasse oder die aufklärerischen Ideale des Bildungsaufstiegs, die perfekt zusammengehen mit sozialem und ökonomischen Aufstieg als angepasste MittelklasseKonsumenten, integrieren will? Für letztere sprach am Abendessenstisch Rogers Frau Marion. Für erstere argumentierte, allerdings schon sehr an der Welt verzweifelt, Rogers Vater vor seinem Ableben: »›Nuisance neighbours, did you say?‹ ›Sort of.‹ Dad had nodded firmly. He was a great believer in something called social fabric, which he purported to understand as a concept. ›No,‹ he’d said. ›Socialist thinking is quite firm on this point. Standards of public behaviour were invented by the bloody working class. What happens to these people?‹ Roger had shrugged. ›They get a verbal warning, then a written warning. Then, if it carries on, they could get evicted.‹ Dad had gone quiet on hearing this. In asking the question, he had anticipated a Utopian response. Uncomfortable reality had a habit of doing this to him. His inherent love of the underdog regularly put him into this kind of quandary. ›Of course, it’s not entirely their fault. They’ve been brought up with no political conscience. They don’t know any better. They really get evicted?‹«28 [›Unmögliche Nachbarn, sagst Du?‹ ›So etwas Ähnliches.‹ Dad hatte lebhaft genickt. Er glaubte fest an so etwas wie ein soziales Gefüge, das er als Konzept zu verstehen meinte. ›Nein‹, sagte er. ›Sozialistisches Denken ist an diesem Punkt ganz klar. Standards des öffentlichen Benehmens wurden von der verdammten Arbeiterklasse erfunden. Was passiert mit diesen Leuten?‹ Roger hatte mit den Schultern gezuckt. ›Sie bekommen eine mündliche Verwarnung, danach eine schriftliche. Danach, wenn es immer noch nicht aufhört, könnten sie aus der Siedlung entfernt werden.‹ Dad war daraufhin ganz still geworden. Als er gefragt hatte, hatte er eine utopische Antwort erwartet. Die unangenehme Wirklichkeit machte das ständig mit ihm. Seine angeborene Sympathie für die Unterdrückten brachte ihn dauernd in solche Zwickmühlen. ›Natürlich ist es nicht ganz ihre Schuld. Sie sind halt ganz ohne politisches Bewusstsein erzogen worden. Sie wissen es nicht besser. Werden sie wirklich rausgeworfen?‹] 28 Ebd., S. 28.
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Auch der alte Sozialist benutzt das Konzept der Ignoranz, hier, um es als strukturelles Defizit des bestehenden Systems und nicht als individuelles Verschulden zu identifizieren. Dass seine Sicht der Dinge widersprüchlich ist, wird am ironischen »bloody« deutlich, mit dem er die angebliche Erfindung von sozialen Umgangsformen durch die Arbeiterklasse garniert. Wieder stellt sich die Frage, die sich durch die gesamte Analyse zog: Wer ist hier wie ignorant? Die Chavs, die sich weder in sozialistische Utopien noch in neoliberale kapitalistische Ideale einfügen lassen? Oder die besorgte Mittelschicht, die in ihrer Abwertung von Phänomenen wie den Chavs nicht erkennt, dass sie in ihrem Verhalten oft nicht sehr stark von den Chavs zu unterscheiden ist? Phänomene wie Joyriding und das Vandalisieren von Autos sind hier bezeichnende Phänomene, die den Erklärungsnotstand der angeblichen Bildungselite nur zu deutlich machen. Warum stehlen Jugendliche schnelle Autos nicht um sie zu besitzen, sondern um sie zu Schrott zu fahren und dabei vielleicht noch ihr Leben zu riskieren? Innerhalb der etablierten Erklärungsmuster und Wertesysteme der Autoritäten ist dies widersinnig. Innerhalb des pragmatischen Lebenswissens der Unterschicht, die weiß, dass sie ein teures Auto weder besitzen noch unterhalten kann und dass ihre Existenz für die Mehrheit der Gesellschaft und deren ökonomische Strukturen keinen Wert besitzt, ist Joyriding nicht nur erklärbar, sondern nachvollziehbar. Es sind solche Phänomene, an denen unsere Kultur ihre Fähigkeit zu Integration und Flexibilität demonstrieren muss, will sie nicht zu einer Zweiklassengesellschaft in einem Zustand des permanenten Bürgerkriegs auf niedrigem Niveau werden. Dass das angeblich so aufstrebende und ökonomisch vorbildliche Großbritannien hier auf einem sehr schlechten Weg ist, der aber auch der Weg von Ländern wie Frankreich und auch Deutschland werden könnte, zeigt die neuste Studie des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen. Nach ihr »leben Kinder in keinem Industrieland unter so widrigen Bedingungen wie auf der Insel. Sie seien ärmer, hätten ein schlechteres Verhältnis zu ihren Eltern und Altersgenossen und seien stärker den Risiken von Alkohol, Drogen und ungeschütztem Geschlechtsverkehr ausgesetzt als in den meisten anderen Ländern. […] Als besonders besorgniserregend bezeichneten die Autoren das Verhältnis der britischen Kinder und Jugendlichen zu ihren Altersgenossen. Nur 40 Prozent bezeichneten die Kameraden als nett und hilfsbereit. Das ist so wenig wie in keinem anderen der untersuchten Länder. Knapp jedes zweite Kind gab zu, mindestens zweimal in seinem Leben betrunken gewesen zu sein. Nur zwei Drittel berichteten von regelmäßigen Essen mit ihren Eltern. Ein Fünftel hält die eigene gesundheitliche und psychische Verfassung für schlecht. Angesichts dieser Statistiken dürfte es die Briten wenig trösten, dass ihr Nachwuchs mit Blick auf die Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeiten der
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Jugendlichen überdurchschnittlich gut abschneidet. Allerdings müssen sich 30 Prozent der Jugendlichen im Alter von 15 bis 19 Jahren wegen mangelnder Ausbildung wohl später mit wenig qualifizierten Arbeiten begnügen.«29
Wenn wir Wissen und sein scheinbares Gegenteil, Ignoranz, also mit den angeblich objektiven Maßstäben von PISA-Studien messen, sollten sich Probleme wie die der Neds and Chavs in Bälde von selbst lösen. Wenn wir an solche Phänomene mit den traditionellen Denkmustern der Utopien oder liberal-humanistischen Bildungs- und Aufstiegsideale herangehen, müssen wir die Menschen, die für sie stehen, als nicht-integrierbar ausmustern und in der Tat, wie im Roman The Asbo Show nur halb ironisch vorgeschlagen, in Reservate und Zoos verbannen. Wenn wir aber unsere eigene Position auch als zumindest teilweise ignorant erkennen, in Bezug auf die Neds und Chavs zum Beispiel, deren Ansichten und Lebensstil unseren zum Teil diametral entgegen gesetzt, aber zum Teil auch erstaunlich ähnlich sind, und wenn wir sie mit Foucault als Teil der beständigen Kämpfe um Wissen, Wahrheit und Macht verstehen, dann werden wir in Zukunft komplexere Fragen an das Problem der Identifikation von Ignoranz und Wissen herantragen müssen.30
Literatur Anonym: »Training Children to Fight«, in: Manchester Guardian vom 5. März 1851, S. 5. Anonym: »›Schockierendes Ergebnis‹. Großbritannien liegt bei der neuen Unicef-Studie über Kinderarmut auf dem letzten Platz«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.2.2007. Bennett, Andy/Kahn-Harris, Keith (Hg.): After Subculture. Critical Studies in Contemporary Youth Culture, Basingstoke: PalgraveMacmillan 2004. Cashmore, Ernest: United Kingdom? Class, Race and Gender since the War, London: Unwin Hyman 1989.
29 »›Schockierendes Ergebnis‹. Großbritannien liegt bei der neuen UnicefStudie über Kinderarmut auf dem letzten Platz«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.2.2007. 30 Dass auch eine Einschätzung solcher Phänomene mit traditionellen Kategorien wie jenen der Subkulturen nicht mehr unproblematisch möglich ist, zeigt u. a. Andy Bennett/Keith Kahn-Harris (Hg.): After Subculture. Critical Studies in Contemporary Youth Culture, Basingstoke: PalgraveMacmillan 2004.
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VON NEDS UND CHAVS
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VOM VORTEIL DES NACHTEILS, DASS MEDIEN GEISTLOS SIND. WISSEN UND NICHTWISSEN IN 2001: A S P A C E O D Y S S E Y BERNHARD J. DOTZLER
Richard Strauss, op. 30
Also sprach Zarathustra: »Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden? Alle Wesen bisher schufen Etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe zu dieser grossen Fluth sein und lieber noch zum Thiere zurückgehn, als den Menschen überwinden? Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und Vieles ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe, als irgendein Affe. [...] Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde.«1
1
Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von G. Colli und M. Montinari, München: de Gruyter 1980, Bd. IV, S. 14 und 16.
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Bevor er aber so »zum Volke« sprach, war Zarathustra vor die Sonne hin getreten und hatte diese angerufen: »Du grosses Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest!« Diese Anrufung mag wie ein Widerruf auf den Anfang der Nietzscheschen Frühschrift Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn erscheinen; jedenfalls ist sie dessen Komplement. Dort nämlich heißt es: »In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der ›Weltgeschichte‹: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben. – So könnte Jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustrirt haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt; es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben. Denn es giebt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über das Menschenleben hinausführte.«2
Dort der Hymnus auf das Geschöpf, dem die Sonne scheint. Hier die Denunziation seiner Nichtigkeit. Das kann als Widerspruch gesehen werden. Oder man sieht es als folgerecht an, wenn aus der Nichtigkeit des Menschen auf den zu fordernden Übermenschen geschlossen wird: damit die Sonne den bekäme, dem zu leuchten ihr ein Glück sein kann; damit der Intellekt doch eine Mission über das Menschenleben hinaus erhielte. Aber es soll im Weiteren nicht um die Philosophie Nietzsches, und überhaupt: es soll nicht um Philosophie zu tun sein. Gegenstand der Betrachtung sei vielmehr eine bestimmte Konstellation, oder genauer: Diese Konstellation sei ihrerseits nur ein Ausgangspunkt, bestehend – soweit – aus zwei Komponenten. Da ist also auf der einen Seite der »Übermensch«, der im damaligen Englisch wie im heutigen Neudeutsch etwas weniger verfänglich auch als Superman tituliert werden kann. Und da ist auf der anderen Seite das »grosse Gestirn« wie hinter ihm der ganze Kosmos. Als Richard Strauss seine ›Vertonung‹ des Zarathustra komponierte, notierte er über die ersten Takte: »Die Sonne geht auf. Das Individuum tritt auf die Welt oder die Welt ins Individuum.« Und in der Handschrift der Partitur fügte er der sich erhebenden Trompetenfanfare c'–g'– c'' einen so einfachen wie großen Kommentar hinzu: »Universum«3. Mit
2 3
Ebd., Bd. I, S. 875. Vgl. Schotts Führer durch die Musikwelt: Berlin 2005, CD-ROM: Digitale Bibliothek 114, S. 6959.
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Grund (und nicht nur mit Sinn für den Show-Effekt) hat dieselbe Musik daher Verwendung im Soundtrack jenes Films gefunden, den die zeitgenössische Kritik sogleich als wahrhaft »Nietzscheanischen Film« (um nicht einfach Nietzsche-Verfilmung zu sagen)4 feierte: Stanley Kubricks 2001: A SPACE ODYSSEY, 1964-68 konzipiert und gedreht, 1968 uraufgeführt. Es sind insgesamt vier Quellen, aus denen sich die musikalische Untermalung oder auch, wenn man so will, Überhöhung dieses Films speist.5 Die wenig später zum Hollywood-Filmtitel geratende Lautlosigkeit langer Weltraumflüge (SILENT RUNNING, USA 1971) wird vom Adagio der Gayaneh-Suite des Sovjet-Komponisten Aram Chatschaturjian begleitet. Diese Art der Filmmusik und der zugehörigen RaumgleiterBildsequenzen kann beinahe als Kopiervorlage für viele weitere Weltraum-Filme bezeichnet werden und ist eben deshalb nicht weiter bemerkenswert. Bleiben die drei anderen Musiken und hier eben erstens Strauss, Richard Strauss. Zweitens György Ligeti: das Kyrie aus dem Requiem, Lux aeterna und das Orchesterstück Athmosphères, das wenige Jahre, bevor Kubrick seinen Film zu planen begann, in Donaueschingen für Furore gesorgt hatte; diese Klänge begleiten alles Geschehen extraterrestrischer Herkunft. Und drittens neuerlich Strauss, allerdings Johann Strauss, dessen Donauwalzer den Aufbruch der Terrestrischen in den Weltraum mit akustischer Schwerelosigkeit versorgt. Es sei ein »Rundtanz des Weltalls« hat Romain Rolland über Richard Strauss’ Zarathustra-Musik bemerkt.6 Mit Johann Strauss’ Tanzmusik ergibt sich ein weiterer Bezug zu Nietzsches Text: »Wer die Menschen einst fliegen lehrt [das Präsens hier markiert auch Nietzsches Text als Science Fiction], der hat alle Grenzsteine verrückt; alle Grenzsteine selber werden ihm in die Luft fliegen, die Erde wird er neu taufen – als ›die Leichte‹. [...] Das ist aber meine Lehre: wer einst fliegen lernen will, der muss erst stehn und gehn und laufen und klettern und tanzen lernen: – man erfliegt das Fliegen nicht!«7 4
5
6 7
Vgl. Stanley Kubrick: »Playboy Interview« (1968), in: Stephanie Schwam (Hg.): The Making of 2001: A Space Odyssey, New York: Random House 2000, S. 272-300, hier: S. 272. Zur stärkeren These, dass die Musik sogar die Hauptrolle spielt, vgl. HansJürgen Schaal: »Stanley Kubricks Suche nach den Klängen des Weltraums«, in: »du«. Zeitschrift für Kultur 754 (2005): Augen zu, Film ab. Ein Handbuch zum Soundtrack, S. 46-48. Zit. n. Walter Deppisch: Richard Strauss, Reinbek: Rowohlt 1986, S. 59. F. Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. IV, S. 242 u. 244.
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Um mithin fliegen zu können, haben die Raumstationen und Raumfahrzeuge bei Kubrick das Tanzen gelernt – vom Gehen und Laufen und Klettern in der Schwerelosigkeit gar nicht zu reden, das Kubrick mit akribischer Genüsslichkeit zelebriert (Abb.1). Abb. 1: A Space Odyssey
So fügt sich der Film in diesem Punkt – das Universum betreffend – überdeutlich in die besagte Konstellation. Bevor auch der Abspann mit Johann Strauss’ Walzerklängen den Kinobesucher aus seinen unendlichen Weiten entlässt, erklingt aber zum letzten Bild noch einmal Richard Strauss’ Zarathustra-Vorspiel, und indem dieses Bild das berüchtigte Sternenkind zeigt, das noch allen Filmdeutungen ein obskurantistisches Rätsel blieb, präsentiert es tatsächlich niemand anderen als Superman himself. Im gleichnamigen Comic hat man den Einfluss des Science FictionFilmklassikers METROPOLIS wieder erkannt. Der Zeichenstil der Entwürfe für die dann ab 1938 regelmäßig erscheinende Bildergeschichte ist Fritz Langs Filmbildern ebenso nachempfunden, wie Supermans alias Clark Kents Heimatstadt nicht zufällig eben Metropolis heißt. Abb. 2: Beginn der Superman-Serie
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Umgekehrt ist nun zu konstatieren, dass Kubricks Filmklassiker sich durch den Comic-Klassiker (Abb. 2) hat inspirieren lassen.8 Das cosmic baby im Schlussbild (Abb. 3) ist also keine rein Kubricksche Erfindung, sondern folgt einem schon älteren Kindchen- und zugleich Übermenschen-Schema. Abb. 3: A Space Odyssey – Filmplakat
*** Die Geschichte dieses Kubrickschen Super-Babys beginnt nun gerade mit den auch von Nietzsche beschworenen Affenmenschen: »Einst wart ihr Affen...« – nach Kubricks Mischung aus Zahlenmystik und damals 8
Nachweislich bediente sich Kubrick mehrfach derselben Art von direkten Entlehnungen – so z. B. wenn er für DR. STRANGELOVE den Ortsnamen »Laputa« aus Gulliver’s Travels entnimmt (vgl. Kay Kirchmann: Stanley Kubrick. Das Schweigen der Bilder, Bochum: Schnitt 2001, S. 28). Zum Schlussbild vgl. Kubricks Selbstaussage, Bowman werde hier »wiedergeboren als höher entwickeltes Wesen, ein Sternenkind, ein Engel, ein Übermensch, wenn Sie so wollen« (zit. n. K. Kirchmann: Stanley Kubrick, S. 175; meine Hervorhebung).
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populärer Paläoanthropologie also vor 4 Millionen Jahren (die Zahl 4 prägt den Film ebenso durchgängig, wie gerade im April 1968 ein Knochenfund in Äthiopien das Urmenschentum auf eben jene prähistorische Zeit zurückzudatieren erlaubte9). The Dawn of Man heißt das erste Kapitel, das zunächst von der Menschwerdung durch den Übergang vom Affen zum »tool making animal« erzählt, um dann – mit dem berühmtesten matchcut der Filmgeschichte (Abb. 4) – ans Ende des 20. Jahrhunderts zu springen, mit seinen Raumfahrzeugen als den jüngsten »tools« des (so der deutsche Zwischentitel) Aufbruchs der Menschheit. Abb. 4: A Space Odyssey – Schnittfolge
Beide Episoden sind dabei durch ein rätselhaftes Objekt miteinander verklammert, einen schwarzen Monolithen (schwärzer als jeder Rollkragenpulli von Beckett, schwärzer als jeder sonstige Existentialismus zur Filmentstehungszeit). Dieser brachte den Affen den Geistesblitz, sich mit Werkzeugen über das Tierreich zu erheben, und dieser wird dann auf 9
Beide Angaben nach Carolyn Geduld: Filmguide to 2001: A Space Odyssey, Bloomington: Indiana 1973, bzw. K. Kirchmann: Stanley Kubrick, S. 166, und Stephanie Schwam (Hg.): The Making of 2001: A Space Odyssey (The Modern Library: The Movies, hg. v. Martin Scorsese), New York: Random House 2000, S. 8.
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dem Mond wieder entdeckt. Dort stellt man fest, was der Affenmensch sich noch nicht träumen lassen konnte: Es handelt sich um den eindeutigen Beweis außerirdischer Intelligenz. Irgendeine ETI (Extraterrestrial Intelligence) muss den Monolithen hier vergraben haben, und zwar als eine Art Frühwarnsystem, das den Außerirdischen verrät, wann den einstigen Affen der Aufbruch ins All gelungen sein wird. Kaum fällt zum ersten Mal das Licht der über dem Mond aufgehenden Sonne auf den Monolithen, sendet dieser ein Funksignal zum Jupiter aus. 18 Monate später wird daher eine Jupiter-Mission gestartet: An Bord des Raumschiffs Discovery fliegen die Astronauten Bowman und Poole dem Unbekannten entgegen, begleitet von drei Wissenschaftlern im Kälteschlaf und – als der Hauptfigur dieses Mittelteils – dem Supercomputer HAL. Trotz HAL, wie später noch zu erläutern sein wird, erreicht der bis dahin einzige Überlebende, David Bowman, sein vorherbestimmtes Ziel, weshalb er im letzten Teil – Jupiter und dahinter die Unendlichkeit – erneut auf den schwarzen Monolithen treffen kann: zuerst als Sternentor überdimensional in der Umlaufbahn des Jupiter schwebend, schließlich als Fremdkörper in dem befremdlichen Rokokozimmer (Abb. 5), in dem die Reise endet und worin Bowman in rasender Geschwindigkeit altert und stirbt und als das besagte cosmic baby wiedergeboren wird. Abb. 5: A Space Odyssey
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Auch wenn man den Film auf diese Weise zur Gänze erinnern muss, kann und soll es nun nicht um eine vollständige Ausdeutung gehen, ja nicht einmal um diesen Film selber (streng genommen). Als »KinoMythos schlechthin«10, als mutmaßlich »der meistkommentierte Film der Filmgeschichte«11 hat 2001 in der Medienwissenschaft einen Status erlangt wie Faust in der Germanistik. Man kann ihn daher – im Ganzen – getrost auf sich beruhen lassen (alles ist schon gesagt), oder besser vielleicht: im Vertrauen auf dieses Ganze (und alles, was andere schon darüber gesagt haben) anhand nur einiger weniger Requisiten oder Motive kommentieren. Als was, so lässt sich dergestalt weiter fragen, figuriert der schwarze Monolith? Dieser Monolith stellt zweierlei vor, nämlich erstens eine These und zweitens ein Denkmal des Nichtwissens. Die These besagt, dass sich die Menschenintelligenz – der zündende Funke, der aus den Hominiden den Homo sapiens erschuf – einem außerirdischen Eingriff verdankt. Die durch ihn induzierte Intelligenz äußert sich, wie gesagt, durch die plötzliche Befähigung zum Werkzeuggebrauch. Als Merkmal der Unterscheidung zwischen Tier und Mensch wird also nicht eigens auf die Sprache abgehoben. In Gestalt des Monolithen ist 2001 aber doch der Film zu William S. Burroughs’ berüchtigtem Lichtblick, der ihm das Wort als »Virus« offenbarte und dieses Virus als »eine Zeitbombe, die jemand auf diesem Planeten liegen ließ«12. Nicht umsonst muss ausgerechnet der Ausbruch einer Epidemie als Tarngeschichte herhalten, um die Mondstation Clavius von der Öffentlichkeit abzuriegeln und so den dortigen Fund des Monolithen geheimzuhalten. »Language is a virus from outer space«, sang nach Burroughs dann auch Laurie Anderson im Jahr des BLADE RUNNER, 1982, während hierzulande die Gruppe Spliff (ehemals Nina Hagen Band) die Flaschenpostzeile »Computer sind doof« in die Brandung der Neuen Deutschen Welle warf.
10 Thomas Koebner (Hg.): Filmklassiker. Beschreibungen und Kommentare, 5., überarbeitete und erw. Aufl., Stuttgart: Reclam 2006, Bd. III, S. 194. Vgl. ferner: ders. (Hg.): Filmgenres: Science Fiction, durchgesehene und aktualisierte Ausgabe, Stuttgart: Reclam 2007, S. 199-208. 11 Hans-Thies Lehmann: »Die Raumfabrik – Mythos im Kino und Kinomythos«, in: Karl Heinz Bohrer (Hg.), Mythos und Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 572-609, hier S. 590. 12 William S. Burroughs: Die elektronische Revolution, Bonn: Sans Soleil; Expanded Media Editions 2001, S. 7. – Zum persönlichen Kontakt zwischen Clarke und Burroughs siehe die bei S. Schwam: The Making of 2001, S. 37 abgedruckten Notizen aus Clarkes Arbeitstagebuch.
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Abb. 6: A Space Odyssey
Ineins mit der starken These verkörpert der Monolith aber zugleich das Nichtwissen. Zwar wurde die Szenerie seiner Ausgrabung auf dem Mond (Abb. 6) stilbildend für weitere Begegnungen der dritten Art (etwa Steven Spielbergs CLOSE ENCOUNTERS OF THE THIRD KIND, Abb. 7), aber die ETI, die den Monolithen dort postierte, wird doch an keiner Stelle des Geschehens gezeigt (anders als in Folgeproduktionen). Abb. 7: Close Encounters of the third kind
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Der Film soll eine rein visuelle Erfahrung sein, wie Kubrick im Rahmen einer Artikel- und Interviewserie erklärte, in der der Playboy nacheinander ihn wie Marshall McLuhan wie Leslie A. Fiedler mit seiner Ausrufung der Postmoderne zu Wort kommen ließ.13 Deshalb teilt er die Burroughs’sche Virus-These, vermeidet es aber, das Virus als die Sprache zu identifizieren: »2001 is a nonverbal experience; out of two hours and nineteen minutes of film, there are only a little less than forty minutes of dialog. I tried to create a visual experience, one that bypasses verbalized pigeonholding and directly penetrates the subconscious with an emotional and philosophic content. To convolute McLuhan, in 2001 the message is the medium.«14
Der Film und sein merkwürdigstes Requisit – der Monolith – sollen also ein und dasselbe sein: direkte Penetration der Gehirne seiner Empfänger. Wie der Film steht der Monolith insoweit rein für sich oder die Autoreferentialität als solche. Seine Rätselhaftigkeit lässt sich womöglich auf das simple Wortspiel reduzieren, durch das der Filmkünstler selber seinen Auftritt im Film erhält: CUBE-BRICK.15 Zugleich ist der Monolith so etwas wie das inverse Element des Films: radikale Zurücknahme jeder optischen Dimension mit Ausnahme der des Nichtsehens. Der Roman, den Arthur C. Clarke als narrative Vorlage des Filmskripts ausformulierte, betont es mehrfach: »Das Objekt [...] war ein kohlschwarzer Quader [...]. Er war so schwarz, daß er das auf ihn fallende Licht zu absorbieren schien.« »Das Ding war die absolute Kristallisation der Nacht [...].«16 Es oder er, der Monolith, ist also black box im strengsten Sinn und insofern Nichtwissen wie die durch ihn veranlasste Odyssee, die Expedition ins Ungewisse des Alls. Wie sehr die Raumfahrt in den Jahren rund um die Mondlandung faszinierte, bedarf keiner weiteren Ausführung. Noch die Magna Charta for the Knowledge Age (1994) konnte sich umstandslos auf diesen zur »Erforschung des Weltraums« antreibenden »Entdeckergeist« berufen,
13 Dies zum Thema »vergessene Fachzeitschriften«: »An Interview with Stanley Kubrick«, in: Playboy 9 (1968); »Marshall McLuhan, The Revearsal of the Overheated Image«, in: Playboy 12 (1968); »An Interview with Marshall McLuhan«, in: Playboy 3 (1969); »Leslie A. Fiedler, Cross the Border, Close the Gap«, in: Playboy 12 (1969). 14 S. Kubrick: Playboy Interview, S. 272. 15 Vgl. H.-T. Lehmann: Die Raumfabrik, S. 594. 16 Arthur C. Clarke: 2001. Odyssee im Weltraum, München: Heyne 1996, S. 64 u. 71.
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um Werbung für den Cyberspace zu machen.17 Der Weltraum, daher seine Anziehungskraft, ist ein paradigmatischer Fall von Nichtwissen. Wir wissen eine Menge über ihn, wir verfügen über eine wahre Flut an Information aus dem All, und doch wissen wir nicht, was da oder wie es da ist: out there. »The Universe«, soll J. B. S. Haldane gesagt haben, »is not only stranger than we imagine; it is stranger than we can imagine.«18 Bei aller Faszination und womöglich übertrieben ausgemalten Unerahnbarkeit ist dieses Nichtwissen jedoch von der harmlosen Art. Es ist wie die bekannte Fernsehserie, die gerade zur 2001-Entstehungszeit über die amerikanischen Bildschirme flimmerte und jede ihrer Folgen wie folgt beginnen ließ: »Space – the final frontier. These are the voyages of the starship Enterprise, its five year mission to explore strange new worlds, to seek up new life and new civilisations, to boldly go where no man has gone before...«
To boldly go... – niemand war jemals dort, aber man könnte im Prinzip dorthin gelangen; man weiß nicht, welche Abenteuer da draußen zu bestehen sein werden, aber man weiß es noch nicht. Wie der Weltraum selbst – »space is a source of endless knowledge«19 – ist diese Art des Nichtwissens nur eine unausschöpfliche Quelle immer neuen Wissens und damit von einer Harmlosigkeit, für die es eine bezeichnende Anekdote gibt. Als die Raumsonde Mariner IV im Juni 1965 erste Nahaufnahmen vom Mars zur Erde zu funken begann, soll Kubrick allen Ernstes versucht haben, sein Filmprojekt für den Fall zu versichern, dass Marsmenschen entdeckt werden sollten, noch bevor der fertige Film in die Kinos gekommen sein würde.20 Historisch und systematisch parallel zur raumfahrttechnischen Weltraumerkundung zwischen Sputnik-Schock und Mondlandung erfolgte indes auch die Begründung der Astronoetik, auf die man den Film durchaus ebenso beziehen kann. Astronoetik ist die Wissenschaft, die dem aufwendigen Unternehmen der Astronautik die finanzielle »Unbedürftigkeit der nackten Hirnfunktion« gegenüberstellt. Sie hat es – so ihr Erfinder, Hans Blumenberg – mit den Folgen von Wissen, mit »Wissensein17 Dyson, E./Gilder, G./Keyworth, G./Toffler, A.: »Magna Charta für das Zeitalter des Wissens«, dt. in: Stefan Bollmann/Christiane Heibach (Hg.), Kursbuch Internet. Anschlüsse an Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, Reinbek: Rowohlt 1998, S. 104-117, hier S. 108. 18 S. Schwam: The Making of 2001, S. 30. 19 Ebd., S. 29. 20 Vgl. ebd., S. 5 u. 35f., sowie den Bericht nach der Premiere: »Panam zum Mond«, in: Der Spiegel 21 (1968), S. 136.
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schätzung« zu tun. Statt wohin auch immer da draußen im All »hinzufahren« wie der Astronaut, wirft der Astronoetiker die Frage auf, »ob und gegebenenfalls welchen Sinn es hätte hinzufahren. Es könnte sein, daß sich auch nach Hin- und Rückfahrt nicht entscheiden ließe, ob es den Aufwand gerechtfertigt habe.«21 Mit den Folgen des Wissens befasst, hat es die Astronoetik nämlich mit dem zu tun, was zum Wissen gehört, ihm aber auf andere Weise unbekannt ist als der mit jedem Wissenszuwachs mitwachsende Horizont des noch nicht Bekannten. Wissensfolgen sind von prinzipieller Unwissbarkeit. Sie folgen dem Wissen nach als neues, vom Bekannten her nicht vorhersehbares Wissen. Sobald sie eintreten, ist das Wissen schon nicht mehr dasselbe, also nicht mehr das, dessen Folgen nun beobachtbar sind. Man hat zumal das Medienwissen als Wissen von solcher Unvordenklichkeit charakterisiert.22 Kubricks 2001 jedenfalls spekuliert auf der einen Seite über das Unbekannte vor dem Hintergrund des Bekannten. Das ist die Seite, auf der der Film auch für die Vielzahl renommierter Wissenschaftler berühmt geworden ist, die an ihm mitgewirkt haben, und deren Statements ihm ursprünglich als Prolog vorangestellt sein sollten; bis heute kommt dieser Aspekt seiner Vorhersage-Qualität immer wieder einmal zur Sprache.23 Aber Kubrick entschied sich dafür, den Prolog nicht zu zeigen. Auf der anderen Seite stellt der Film – nicht nur, aber auch deshalb – einen Beitrag zur Astronoetik dar (auch wenn seine Produktionskosten die von Blumenberg gerühmte Unbedürftigkeit des reinen Denkens ein wenig überstiegen). Statt nur die faktische oder die Fakten betreffende Unwissenheit verhandelt er das oder ein (wer will das sagen?) fundamentales Nichtwissen, das dem Wissen selber inhärent ist.
21 Hans Blumenberg: Die Vollzähligkeit der Sterne, Frankfurt am M.: Suhrkamp 1997, S. 320 u. 548f. Vgl. dazu Bernhard J. Dotzler: »›Current Topics on Astronoetics‹. Zum Verhältnis von Fälschung und Information«, in: Anne-Kathrin Reulecke (Hg.), Fälschungen. Zu Autorschaft und Beweis in Wissenschaften und Künsten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 6880. 22 Vgl. Wolfgang Hagen: »Was heißt und zu welchem Ende studiert man – Mediengeschichte?«, in: Peter Berz u. a. (Hg.), FAKtisch, München: Fink 2003, S. 215-224, hier S. 223. 23 »An den Arbeiten für den Film«, berichtet schon der genannte SpiegelArtikel (a. a. O., S. 134), »beteiligten sich 36 Weltraum-Experten und 40 Industrieunternehmen, etliche Spezialisten der US-Raumfahrtbehörde Nasa sowie ein IBM-Computer.« Vgl. unlängst noch Anthony Frewin: »2001: Ein verworfener Prolog«, in: Kinematograph 19 (2004): Stanley Kubrick, S. 128-135, sowie die Rede von Kubricks »wissenschaftlich fundiertem Realismus« bei H.-J. Schaal, Stanley Kubricks Suche, S. 46.
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*** Wie mit dem Monolithen, der das astronautische Unternehmen in Gang und damit das astronoetische Experiment auf sein optisch-negoptisches Bild bringt, verhält es sich sodann aber auch mit dem Bordcomputer HAL, der ein zweites berühmt gewordenes Element des Films, vermutlich sogar seinen berühmtesten Akteur überhaupt darstellt. Heillos optimistisch in der Vorwegnahme dessen, was die Künstliche Intelligenz-, kurz: KI-Forschung seinerzeit ganz ebenso optimistisch in Bälde zu realisieren versprach, verkörpert HAL doch gleichzeitig nicht mehr und nicht weniger als die grandioseste Ignoranz. »We all felt bad when HAL terminated the cryogenically slumbering crew, cut Frank adrift, and almost murdered Dave. But that’s not what I found so unforgiveable«, gestand eine der Leitfiguren der KI-Gemeinde Jahre später: »To me, HAL’s biggest crimes were his conceit and his stupidity.«24 Von den ersten Filmkritiken an hat sich das Gros der Kommentare indes täuschen lassen und nicht nur HALs Intelligenz bewundert, sondern auch noch seine mit ihr einhergehende Emotionalität, die der Film doch eindeutig genug als möglichen Täuschungseffekt benennt. HAL, sagt man, beweise mehr Gefühl als die zu maschineller Perfektion abgerichtete menschliche Besatzung des Raumschiffs.25 »Tu’ es nicht, Dave«, fleht der Computer, »ich habe Angst«, als er Platine um Platine außer Gefecht gesetzt wird: »Stop... stop... I’m afraid... my mind is going... I can feel it.« Seine Einführung als vollwertiges Besatzungsmitglied hat dergleichen Äußerungen jedoch längst als so und nicht anders einprogrammierte Reaktion unter Verdacht gestellt. Kurz und bündig erklärt an der korrespondierenden Stelle der Roman: »Das sechste Besatzungsmit-
24 Douglas B. Lenat: »From 2001 to 2001: Common Sense and the Mind of HAL«, in: David G. Stork (Hg.), HAL’s Legacy: 2001’s Computer as Dream and Reality, Cambridge/Mass.: MIT Press 1997, S. 193-209, hier S. 193. 25 »The only human in the film is HAL«, schrieb der Harvard Crimson; der »computer-protagonist of 2001«, so die New York Times am 14.4.1968, »seems almost human, while the human actors in the film appear to be models of dispassionate efficiency« (beide Zitate nach: S. Schwam: The Making of 2001, S. 155 u. 161). Vgl. ferner H.-T. Lehmann: Die Raumfabrik, S. 590, und K. Kirchmann: Stanley Kubrick, S. 113f. u. 133. Als eine der wenigen Ausnahmen vgl. Max Kozloffs informierte Synopse mit Godards ALPHAVILLE (1965), die zu dem Ergebnis kommt: »What emerges, therefore, is only a fictional opposition between feeling and mechanism« (Film Culture 48-49 (1970), hier ebenfalls nach: S. Schwam: The Making of 2001, S. 179).
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glied kannte keine derartigen Gefühle, denn es war kein Mensch. Es war der hochgezüchtete Hal-9000-Computer, Gehirn und Nervensystem des Raumschiffes.«26 Im Film erhält HAL seinen ersten Auftritt im Rahmen eines Fernseh-Interviews, das von der Erde aus mit der DiscoveryMannschaft geführt wurde, und dessen Ausstrahlung nun über einen kleinen Bildschirm auf dem Raumschiff flimmert. Der Reporter befragt Bowman und Poole; erklärt, um wen es sich bei HAL handelt: »The 6th member of the Discovery crew [...] was the latest result in machine intelligence, the HAL 9000 computer which can reproduce, though some experts still prefer to use the word mimic, most of the activities of the human brain and with incalculable greatest speed and reliability.«
Er spricht mit HAL selbst: »Good afternoon, HAL [...], you are the brain and central nervous system of the ship«; und schließlich endet das Interview bzw. die das Inter-View (!) zeigende Filmsequenz mit diesem Wortwechsel: »Dr Poole, [...] in talking to the computer, one gets the sense that he is capable of emotional responses [...]. Do you believe that HAL has genuine emotions?« »Well, he acts like he has genuine emotions, because he’s programmed that way to make it easier for us to talk to him. But as to whether or not he has real feelings is something I don’t think anyone can truthfully answer.«
Also –: Man weiß nicht, ob HAL Gefühle hat oder nicht. Unabhängig davon leidet er aber keinen Zweifel, dass er der Supercomputer ist, den die Welt seit der Erfindung elektronischer Rechenanlagen erwartete. Bevor das cosmic baby am Filmende das Geschehen vom Außer- ins Überirdische wendet, nimmt er den Platz des Übermenschen ein. »Alle Wesen bisher«, um Nietzsche zu wiederholen, »schufen Etwas über sich hinaus«: Dieses Etwas ist der Computer, wie Kubricks Film ihn zeigt. Anfänglich als weiblicher Roboter namens Athena entworfen,27 erfüllt er in seiner mit dem Raumschiff eins gewordenen Gestalt wie noch keine Rechenmaschine je das Ziel, das etwa Admiral Grace Hopper (Computerpionierin der Anfangsjahre, die 1969 nicht nur als erste Frau, sondern überhaupt den ersten Computer Sciences »Man of the Year« award verliehen bekam) 1952 wie folgt formuliert hatte: »It is the current aim to
26 A. C. Clarke: 2001. Odyssee im Weltraum, S. 86. 27 Vgl. David G. Stork (Hg.), HAL’s Legacy: 2001’s Computer as Dream and Reality, Cambridge/Mass.: MIT Press 1997, S. xiii.
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replace, as far as possible, the human brain by an electronic digital computer.«28 In dieser Eigenschaft als das eigentliche »Gehirn« der JupiterMission ist HAL, wie gesagt, der Filmfigur gewordene Optimismus der KI-Forschung seiner Zeit.29 Ob Sprachverstehen, künstliches Sehen oder das Schachspiel – nichts, was die KI-Weisheit sich träumen ließ und was HAL zu leisten nicht imstande wäre. Fast schon zwangsläufig muss es da soweit kommen, dass HAL rebelliert und sich gegen den Menschen, der ihn erschuf, erhebt. Gerade das Moment seiner Rebellion birgt jedoch zugleich die abgrundtiefe Dummheit, die ihn regiert. Auf der einen Seite bestätigt es seine Intelligenz, wie Marvin Minsky, einstmaliger KI-Star, den Kubrick zu seiner Filmproduktion hinzugezogen hatte, betonte: »For instance, HAL explains that the Jupiter mission is too important to be jeopardized by humans. It is through emotion that he sets the goals and subgoals, ultimately killing the humans – except, of course, Dave.«30 Noch Ridley Scotts ALIEN von 1979 wird in dieser Weise einem Androiden die heimliche Oberaufsicht über das Unternehmen, die extraterrestrisch-menschenüberlegene Lebensform aufzusuchen, übertragen sein lassen, und ein Jahr später assistierte die Wissenschaftsphilosophie: »Sich etwas vornehmen und irren: Merkmale des Denkens.«31 Auf der anderen Seite offenbart sich erst durch HALs Alleingang, wie dumm oder doof er in Wahrheit ist. Seine Rebellion scheitert an dem einzigen Überlebenden, Dave Bowman. Doch besteht seine Dummheit nicht etwa in dieser scheinbaren Unterlegenheit. Vielmehr verrät die Niederlage nur, welcher Art die Dummheit ist. Um sich gegen die Maschine zu behaupten, bleibt Dave Bowman zuletzt nur der Ausweg, sie auszuschalten. Und hier, im Herzen der Computer-Finsternis, im blutroten Innern der black box, die jeder Computer per definitionem für seinen
28 Grace Murray Hopper: »The Education of a Computer« (1952), in: Annals of the History of Computing 9 (1988), S. 271-281, hier S. 272. 29 Vgl. A. Frewin: 2001: Ein verworfener Prolog, S. 131. 30 David G. Stork: »Scientists on the Set: An Interview with Marvin Minsky«, in: ders., HAL’s Legacy, S. 29. – Zu Minskys Mitwirkung vgl. im Roman die prospektive Behauptung: »Doch in den achtziger Jahren demonstrierten Minsky und Good, dass neutrale [!? neuronale] Schaltanlagen sich auf der Basis eines beliebigen Lehrprogramms automatisch und selbständig weiterzuentwickeln vermochten« (A. C. Clarke: 2001. Odyssee im Weltraum, S. 86f.). 31 Georges Canguilhem: »Gehirn und Denken« (1980), in: ders.: Grenzen medizinischer Rationalität. Historisch-epistemologische Untersuchungen, Tübingen: Kimmerle 1989, S. 7-40, hier S. 34.
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user darstellt, kommt es nicht nur zu den ultimativen Gefühlsäußerungen HALs (»tu es nicht, Dave, ich habe Angst«), sondern am Ende der Szene auch zu der Überraschung einer an die Astronauten gerichteten Videobotschaft: »Good day, gentleman. This is a prerecorded briefing made prior to your departure and which for securitiy reasons of the highest importance has been known, unforwarded during the mission, only by your HAL 9000 computer [...].« Was bis dahin geschah, erklärt sich damit folgendermaßen: Die Discovery wurde auf ihre Mission geschickt, ohne dass ihre menschliche Besatzung über das genaue Ziel dieser Mission informiert worden wäre. Nur HAL wusste von Anfang an Bescheid. Er war also erstens nicht bloß nützlicher Autopilot, sondern der eigentliche Kopf des Unternehmens, und zweitens gezielte Perversion. Ausgerechnet als Glanzstück der Informationstechnologie war er zur Geheimhaltung alias Desinformation programmiert. Als Wissensmaschine sollte er dem Nichtwissen dienen. Um diesem Dilemma zu entkommen, begeht HAL den Fehler, einen Defekt an der Funkverbindung zur Erde zu melden. Diese Behauptung ist in sich folgerichtig, betrifft sie doch eben den wunden Punkt der ja tatsächlich gestörten Kommunikation. Indem sie faktisch jedoch unwahr ist (das angeblich defekte Aggregat erweist sich als voll funktionsfähig), unterminiert sie das Vertrauen in HALs Verlässlichkeit und führt so zu der Überlegung der Astronauten, ob er nicht besser abzuschalten wäre. Dagegen rebelliert der Computer dann. Auch ohne falsche Anthropomorphisierung ist sein Aufbegehren mithin als schlichte Gegenwehr zu bezeichnen, eine Gegenwehr, die wiederum alle Konsequenz für sich hat: HAL weiß, dass die Astronauten nicht wissen – so ist es nur logisch, wenn er sein eigenes »Überleben« für das Gelingen der Mission über das der Besatzung stellt. Oder anders gesagt: Indem die Mannschaft der Discovery, informationell gesehen, von vorneherein eliminiert worden ist, dient HALs geballte Intelligenz zu nichts anderem, als diese Eliminierung durchzuhalten und eben eigenmächtig das ihm vorgegebene Ziel zu verfolgen. Im Effekt beweist sich HALs Intelligenz auf diese Weise nicht anders als die, die den evolutionären Sprung des ersten Menschen vom Primaten zum tool making animal markiert, nämlich durch Mord.32 Auch Kubricks unter dem Einfluss des Monolithen stehendem Urmenschen dämmert die Zukunft seiner instrumentellen Vernunft vorab im Erkennen der Möglichkeit, einen Knochen als Keule zur Beutejagd zu verwenden. Es besteht somit eine Verbindung zwischen diesem Urmenschen und 32 »[...] aber Bowman hielt ihn [HAL] nicht für fähig, einen Mord zu begehen«, unterstreicht der Roman (A. C. Clarke: 2001. Odyssee im Weltraum, S. 132) gerade diesen Intelligenzbeweis.
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HAL, zwischen HAL und dem Monolithen. Und diese Verbindung ist die Intelligenz, die vielmehr Dummheit ist. So maschinenklug HAL durch den ganzen Film hindurch auftritt, am Ende reduziert sich sein Verhalten auf den Starrsinn, die idee fixe oder den Festwert einer mehr oder minder geradlinigen Befehlsausführung. Deshalb gilt auch für ihn das Gesetz aller Computer, das John von Neumann einmal so umschrieben hat: »Wenn man sagt, daß die Maschinen denken, lernen usw., so ist das symbolisch zu verstehen. Sie tun natürlich nur das, was man ihnen vorher ganz genau vorgekaut hat, und sie haben die weitere Eigentümlichkeit, daß sie alles das, was man ihnen mitteilt, absolut ernst und wörtlich nehmen, also tatsächlich das durchführen, was man ihnen vorgeschrieben hat, einschließlich der Druck- und Denkfehler. Ich wiederhole: Eine der Hauptschwierigkeiten im Operieren mit Maschinen ist, daß wirklich alles, was man ihnen sagt, wortwörtlich genommen wird und daß man logische Fehler, wesentliche Denkfehler und einfache Übersichtsfehler, Druckfehler mit einer absoluten Genauigkeit ausmerzen muß, auf einem ganz anderen Niveau der Strenge, als man es sonst gewohnt ist.«33
Womöglich ließe sich 2001 durchgängig als groß angelegte Etüde über nichts als diese Strenge bezeichnen. Jedenfalls ist es ein Film über die ihr korrespondierende Geistlosigkeit, verstanden im ältesten, biblischen Sinn: Der Geist belebt, der Buchstabe tötet. Die Vor- und die Nachteile scheinen sich dabei, wie in der allgemeinen Einschätzung, so auch hier die Waage zu halten. Der Vorteil ist die – sprichwörtlich – »todsichere« Automatik ohne menschliches Versagen. Als Nachteil gilt der unaufhebbare Mangel an dem, was der Mensch für sein Bestes hält, eben – wie der Kybernetiker W. Grey Walter es formulierte – seinen »Vorzug des Denkens«. Dass der Mensch »sich im Kampfe ums Dasein hat behaupten können«, schrieb Walter, als hätte noch kein Nietzsche, kein Zarathustra gesprochen, »verdankt er der Entwicklung dieser höchsten Gehirnfunktion. Er ist sapiens, die denkende Art der Gattung homo – der Unterscheidende, Verständige, Urteilsfähige, selbst wenn er nicht immer ganz all diese Bedeutungen jenes Namens erfüllt, den er sich selber gegeben hat.«34 Dass sich beide Seiten die Waage halten, gilt auch insofern, als dieser Nachteil gerade der Vorteil ist, den die Maschinen gegenüber den Menschen haben. Beim Schachspiel etwa haben Deep Thought und Deep
33 John von Neumann: »Entwicklung und Ausnutzung neuerer mathematischer Maschinen« (1954), in: Elektronische Rechenanlagen 6 (1983), S. 28-35, hier S. 28f. 34 William Grey Walter: Das lebende Gehirn, Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1961, S. 25.
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Blue ihre Überlegenheit keineswegs dadurch errungen, dass sie es »human style« zu spielen gelernt hätten, sondern schlicht aufgrund ihrer »massive ability to crunch numbers and symbols«, aufgrund ihrer »computational power to carry out brute-force searches through millions or billions of possible alternatives, using relatively little knowledge or reasoning capabilities.«35 Der eigentliche Vorteil aber liegt weniger bei den Maschinen als vielmehr darin, dass deren Geistlosigkeit dem Geist, auf dem der Stolz des Menschen gründet, den Spiegel vorhält. So dumm er ist, vollbringt HAL doch beachtliche Intelligenzleistungen. Und umgekehrt? Die Frage ergibt sich fast zwingend: So intelligent sich der Mensch zu geben weiß, beherrscht ihn dennoch welche Dummheit? Auf diese Frage hat Jacques Lacan gerade zur Filmentstehungszeit die Antwort gegeben, die auch der Film gibt. Nicht aufgrund des ihr fehlenden »menschlichen Bewußtseins« sei es abzulehnen, so Lacan, eine Rechenmaschine als »Denkmaschine« zu bezeichnen, »sondern einzig und allein deshalb, weil sie nicht mehr [denkt] als der Mensch das in seinem gewöhnlichen Status tut, ohne dafür weniger den Appellen des Signifikanten preisgegeben zu sein.«36 Nicht das Subjekt macht die Sprache, sondern die Sprache das Subjekt, heißt dazu die Generalthese, und eben diese Generalthese hat Kubrick ja an den Anfang seines Films gestellt. Die Geschichte von der Ankunft des Monolithen erzählt von der Geburt des homo sapiens durch ein Licht, das ihm aufgeht, also durch seinen Ausgang aus der Ignoranz. Zugleich führt sie die Ignoranz vor Augen, die das darauf gegründete Selbst-Bewusstsein des Menschen bedeutet. Der Monolith ist die Botschaft, dass die sapientia des Menschen Gabe oder Datum from outer space sei. In HAL personifiziert sich, was der Mensch kraft ganz derselben sapientia schließlich über sich hinaus zu erschaffen vermochte. Es transzendierend destruiert aber das Bild der Maschine sein bis dahin gepflegtes Menschenbild.
*** 35 Vgl. D. G. Stork: HAL’s Legacy, S. 10f., 49 und 75ff. (Zitate: S. 49 und 75 und 82). 36 Jacques Lacan: »Das Seminar über E. A. Poes ›Der entwendete Brief‹« (»Parenthese der Parenthesen«, 1966), in: ders., Schriften I, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, S. 7-60, hier S. 59. – Vgl. dazu Oswald Wieners Erinnerung an den »Formalismus des Unbewußten« im Rahmen eines Essays, dessen Titel wie auf HAL zugeschnitten scheint: »Über das Ziel der Erkenntnistheorie, Maschinen zu bauen die lügen können«, in: ders., Schriften zur Erkenntnistheorie, Wien/New York: Springer 1996, S. 96-107, hier S. 104.
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Die Destruktion »des Menschen« ist oder war nun gleichbedeutend mit der Destruktion »der Geschichte«. Expressis verbis untertitelt der Roman zum Film das Schlussbild mit dem Sternenkind: »und die ›Weltgeschichte‹, wie die Menschheit sie kannte, näherte sich ihrem Ende.«37 Aber schon beim Anblick der – wie man heute sagen würde – OnlinePräsentation einer Zeitungsseite fragt sich derselbe Roman, ob nicht »dieser Apparat mit seiner phantastischen Technik die letzte menschliche Errungenschaft auf dem Gebiet der Nachrichtenübermittlung sei«: »Man konnte sich schwer vorstellen, daß das System verbessert werden könnte. Aber früher oder später [...] würde es trotz allem veraltet sein und durch etwas Neues und so Unvorstellbares ersetzt werden, wie dieser Nachrichtenschirm dem alten Gutenberg erschienen wäre.«38
Die Geschichte, heißt das, ist zu Ende, und doch geht Geschichte natürlich immer weiter. Dem Prinzip nach, als Formalismus aller Formalismen, eine Erfindung sub species aeternitatis, hat doch selbst der Computer seine Historie. Dass die Computer doof sind, war damals, zur Filmentstehungszeit, nichts Neues, und ist es auch heute nicht. Was hat sich dennoch von damals zu heute ereignet? Dass sich der Mensch von vergleichbarer Dummheit geschlagen zeigt, weiß man denn seit Lacan. Gäbe es keine Botschaft über diese längst etablierte Einsicht hinaus? Als Science Fiction story prophezeit 2001 eine dreistufige Technologie-Entwicklung. Ausgehend von dem bereits überholten Erfolg einer nullten und ersten Computergeneration extrapoliert sie aus dem sich abzeichnenden zweiten Durchbruch mikroelektronischer Schalt- und Speicherelemente eine »dritte Generation von Elektronengehirnen«, die auf lernfähigen neuronalen Netzen basieren und in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts kommun werden sollten.39 Zufällig erlebte die Theorie neuronaler Netze gerade im vorhergesagten Jahrzehnt eine gewisse Blüte, als technischen Standard etablierte dasselbe Jahrzehnt aber bekanntlich den PC. Und mit dem PC hörte die KI-Forschung zwar nicht auf, faszinationsgeschichtlich verwandelte sich der Computer jedoch vom Elektronengehirn zum Multimedia-Gerät. Das sahen weder Clarke noch Kubrick voraus. Und doch zeigt der Film hier etwas, ohne dass er es hätte wissen können, oder wenn man so will: transportiert er im Nichtwissen Wissen. Wie schon erwähnt, planten Clarke und Kubrick anfänglich, einen Roboter namens Athena als sechstes Besatzungsmitglied mit auf die Rei37 A. C. Clarke: 2001. Odyssee im Weltraum, S. 203. 38 Ebd., S. 50f. 39 Vgl. ebd., S. 86f., vgl. dazu D. G. Stork: HAL’s Legacy, S. 34f.
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se zu schicken. Erst während der Arbeiten an Roman und Drehbuch verlor sich diese Gestalt zugunsten des mit dem gesamten Raumschiff verschmolzenen Bordcomputers HAL: »the latest result in machine intelligence«, wie seine Einführung in der erwähnten Szene den Fernsehreporter sagen lässt, »brain and central nervous system« der Discovery und ihrer Jupiter-Mission. Diese Betonung beider Funktionen (»brain and central nervous system«) signalisiert die eine Hälfte der Botschaft. Die andere Hälfte ergibt sich aus der Ersetzung Athenas durch HAL. Durch sie tritt an die Stelle der Evolutionslinie Affe – Mensch – Roboter die Evolutionslinie Affe – Mensch – Bordcomputer (Abb. 8). Auf seine Weise bewahrheitet der Film damit das Resultat, das auf der ganzen Linie der einschlägigen Motivgeschichte nachzuweisen wäre:40 Verheißen war der Maschinenmensch, erfüllt hat sich statt dessen der Medienschein. Abb. 8: Montage
Roboter (Athena)
Bordcomputer (HAL)
(mögliches Vorbild)
Mensch
Affe
Denn wo Athena eine leibhaftige Gestalt besessen hätte, ist HAL als dem Raumschiff integriertes System so ubiquitär wie dabei, cum grano salis, unsichtbar. Nicht zufällig erhält der Computer seinen ersten Auftritt durch jene Art von Film im Film, den der Fernsehbericht über ihn dar-
40 Vgl. Bernhard J. Dotzler: »Die Wiederkehr der Puppe: Szenenwechsel im Fin de siècle«, in: Pia Müller-Tamm/Katharina Sykora (Hg.): Puppen – Körper – Automaten. Phantasmen der Moderne, Köln: Oktagon 1999, S. 234-247.
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stellt. Darin wie danach erscheint er rein als Auge. Es gibt auch seine Bildschirmanzeigen, die gleich noch einmal zu erwähnen sein werden. Und es gibt seine Stimme, die seine Rolle als Besatzungsmitglied, als eigenständige Filmfigur unterstreicht. Aber soweit er Akteur ist, ist er – optisch – reines Auge (Abb. 9). Ein Großteil der Dialoge zwischen ihm und den Astronauten ist im klassischen Schuss-Gegenschuss-Verfahren gedreht: HALs Blick auf Bowman; Bowman, wie er zu dieser roten Linse spricht. Allein schon dadurch erscheint der Computer auch im Reden und Handeln als Auge. Dieses Auge ist überall auf der Discovery. Es überwacht das ganze Schiff und ist insofern »vergöttlichtes Auge«41, Panoptismus – rot wie die aufgehende Sonne, die Zarathustra ganz am Ende von Nietzsches Buch noch einmal anruft: »›Du großes Gestirn‹, sprach er, wie er einstmal gesprochen hatte, ›du tiefes Glücks-Auge, was wäre all dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest!‹«42 Aber zugleich ist das Auge HALs doch immer nur dieses eine Auge, Einauge also: Polyphem. Abb. 9: HAL
41 Vgl. dazu wie zum Folgenden schon H.-T. Lehmann: Die Raumfabrik, S. 593f. und 596. 42 F. Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. IV, S. 405.
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Weil 2001 im Untertitel eine ODYSSEE IM WELTRAUM heißt, 2001: A SPACE ODYSSEY, liegt die Assoziation mit dem einäugigen Riesen im Epos Homers mehr als nahe. Das Auge HALs, folgt aus ihr (einmal mehr), ist zugleich das Auge der Dummheit, ist also nichts anderes als das »kalte Auge, der emotionslose Blick«43 eben einer Maschine, ob diese Maschine nun der pars pro toto in ihm dargestellte Computer sei oder das Medium der Darstellung selber, der Film, die Kamera. Tatsächlich ist die Anlehnung an Dziga Vertovs »Film-Auge« (Abb. 10) unverkennbar – und damit die Anlehnung an ein weit vor den Computer zurückreichendes Lob der Geistlosigkeit technischer Medien. »Ich bin Kinoglaz. Ich bin ein mechanisches Auge«, jubelt die Kamera in Vertovs KinokiManifest: »Ich, die Maschine, zeige euch die Welt so, wie nur ich sie sehen kann«, und zwar eben weil ja die Maschine dabei nicht wirklich sieht, sondern das »Chaos von visuellen Erscheinungen« so unermüdlich wie schlechterdings blindlings registriert.44 Die Kinematographie, betont eine andere frühe Medientheorie, könne »geradezu die Wiedergabe menschlicher geistiger Leistungen sein«, verbunden mit dem »ungeheure[n] Vorzug«, erstens »automatisch« und dadurch zweitens »von menschlicher Intelligenz« vollkommen »unabhängig« zu funktionieren.45 Abb. 10: Tscheloweks kinoapparatom
43 T. Koebner: Filmgenres, S. 205. 44 Vgl. Dziga Vertov: »Kinoki – Umsturz« (1923), in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.): Texte zur Theorie des Films, Stuttgart: Reclam 1995, S. 2438, hier S. 28 und 33. 45 Vgl. Hermann Häfker: »Die Kulturbedeutung der Kinematographie« (1908), in: Albert Kümmel/Petra Löffler (Hg.), Medientheorie 1888-1933, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 78-83, hier S. 79f. und 81.
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Auch am Beispiel HALs erweist sich also der Film als die Selbstreflexion des Mediums, die man durchgängig in ihm erkannt hat, wie umgekehrt: Diese Selbstreflexion erweist sich als bestimmend noch für das Erscheinungsbild HALs. Die obsessive Visualität, mit der Kubrick zu Werk ging, ließ 2001 als »eine Art Katalog moderner Spezialeffekte«46 in die Filmgeschichte eingehen. Die Filmkritik damals sprach von einem »film of ›special effects‹ in which ›nothing happens‹«47, und nicht zuletzt HAL war oder ist davon betroffen. Nicht Roboter, sondern Auge, konnten ihm kaum spektakuläre Auftritte ins Drehbuch geschrieben werden (kein Vergleich mit dem TERMINATOR). Gleichwohl durfte auch er nicht nur Auge sein, sondern musste ja seinerseits dem Auge auch etwas bieten. Also galt es auch hierfür etwas zu erfinden, was es bis dato nicht gab. Es gab noch bei Weitem die besagten Bildschirmanzeigen nicht, mit denen der Computer als die das Raumschiff steuernde Bordelektronik in Erscheinung tritt (Abb. 11). »Es gab [...] keine DOS- und Apple-GrafikProgramme«, kein Windows, keine Browser. »Alle die Fließgrafiken, Tabellen, sich verändernden Kurven, flimmernden Icons und gepixelten Outputs wurden für diesen Film Bild für Bild gezeichnet und dann wie im klassischen Trickfilm kombiniert.«48 Auch ohne »Handlung« markiert der Film damit ein Ereignis. Um die gleiche Zeit, in der man überhaupt erst anfing, den Computer als Medium zu begreifen, erfand 2001 die Medienoberfläche, auf der die sonst unsichtbare Maschine sichtbar wird. Heute generieren die Computer für uns die Filme, die auf die Leinwand kommen; damals generierte die Leinwand für uns den Rechner, der mehr als nur Rechner ist.
46 James Monaco: Film verstehen, Reinbek: Rowohlt 1995, S. 136. – »Kubricks Dreharbeiten mit den Schauspielern waren nach einem halben Jahr abgeschlossen. Dann jedoch begannen fast zwei Jahre Arbeit an den mehr als 200 Spezialeffekten: 35 Technikdesigner und 25 Effektspezialisten waren an der Technologie der Zukunft beteiligt« (H.-J. Schaal: Stanley Kubricks Suche, S. 46). 47 Annette Michelson: »Bodies in Space: Film as Carnal Knowledge« (zuerst in: Artforum), in: S. Schwam: The Making of 2001: A Space Odyssey, S. 194-215, hier S. 204. 48 Volker Fischer: »Designing the Future. Zur pragmatischen Prognostik in 2001: A Space Odyssey«, in: Kinematograph 19 (2004): Stanley Kubrick, S. 103-119, hier S. 112.
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Abb. 11: HAL’s Display
Zudem hat der Film nun einmal doch eine Handlung. An sich schon damals nicht übertrieben originell, wirft der Kampf zwischen Mensch und Maschine bei Kubrick vielleicht doch zum ersten Mal eine neue Frage auf. HAL muss abgeschaltet werden, aber HAL ist – wie betont – »brain and central nervous system« des ganzen Raumschiffs. Folglich kann er gar nicht so einfach abgeschaltet werden. Vielmehr beschließen die Astronauten, lediglich eine Lobotomie an ihm vorzunehmen, das heißt: eben nur seine Gehirnfunktion auszuschalten, während seine Steuerungsfunktion intakt zu bleiben hat.49 Einmal implementiert, bleibt die – im kybernetischen Wortsinn – control bei den Maschinen, und eben das ist die weiterführende Botschaft: Es gehörte schon zu den Fehlern der älte49 »Denn Hal«, erklärt der Roman sehr ausdrücklich (A. C. Clarke: 2001. Odyssee im Weltraum, S. 143), »war das zentrale Nervensystem des Schiffes; ohne seine Tätigkeit würde die Discovery ein Schiff ohne Steuer sein. Bowmans Aufgabe bestand darin, die höher entwickelten Windungen seines brillanten, aber kranken Gehirns auszuschalten und nur die lebenswichtige Automatik intakt zu lassen.« Im Film beraten sich Bowman und Poole während ihrer vermeintlich geheimen Absprache in der Raumgondel über dieses Problem, und tatsächlich entfernt Bowman dann in der Szene, in der er HAL seines Gedächtnisses beraubt, sehr viele, aber nicht sämtliche MTund LT-Aggregate (Memory und Logical Terminals).
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ren KI-Debatte, dass sie die bescheidene, aber wirksame tatsächliche künstliche Intelligenz der Schalt- und Regelkreise eher in den Hintergrund drängte, als über sie aufzuklären. Um wie viel mehr macht inzwischen die Multimedialität der Endgeräte vergessen, welche Machinalität hinter ihren Oberflächen aktiv ist. Kubricks 2001 lehrte und lehrt die Konstruktion und Dekonstruktion dieses Vergessens in einem.
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Bildlegenden und -nachweise: Abb. 1 2001: A SPACE ODYSSEY (GB/USA 1968) http://osiris2.pi-consult.de/userdata/l_1/p_2/library/image/2001-800. jpg (vom 14. August 2007) Abb. 2 Beginn der Superman-Serie Jerry Siegel/Joe Shuster, Superman. Klassiker der Comic-Literatur, Band 01, hrsg. von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 2005 Abb. 3 2001: A SPACE ODYSSEY (Filmplakat) http://www.movieforum.com/people/makers/stanleykubrick/images/ 2001.jpg (vom 14. August 2007) Abb. 4 2001: A SPACE ODYSSEY (Schnittfolge) http://k-punk.abstractdynamics.org/archives/10)%20Kubrick%20200 1%20(bone%20spaceship%20transition).jpg (vom 14. August 2007) Abb. 5 2001: A SPACE ODYSSEY http://stuff.minus8.net/welcome/Kubrick2001A.jpg (vom 14. August 2007) Abb. 6 2001: A SPACE ODYSSEY http://www.billcasselman.com/2001-monolith-on-moon.jpg (vom 14. August 2007) Abb. 7 CLOSE ENCOUNTERS OF THE THIRD KIND (USA 1977) http://www.sheilaomalley.com/archives/closeencounters.bmp (vom 14. August 2007) Abb. 8 Eigene Grafik/Montage
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Abb. 9 HAL http://www.sfgate.com/blogs/images/sfgate/techchron/2006/05/10/ hal.jpg (vom 15. August 2007) Abb. 10 TSCHELOWEK S KINOAPPARATOM (UdSSR 1929) http://www.medienkunstnetz.de/assets/img/data/2191/bild.jpg (vom 15. August 2007) Abb. 11 HALs Display http://www.technovelgy.com/graphics/content07/HAL-9000.jpg (vom 15. August 2007)
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DIE HALBWERTSZEIT DER WISSENSZWERGE. A N M E R K U N G E N Z U E I N I G E N »M Y T H E N « DER WISSENSGESELLSCHAFT CHRISTIAN WOLFF »Pygmaeos gigãtum humeris impositios, plusquam ipsos gigantes videre.« (Diego de Estella, Kommentar zu Lukas, Caput X, 1622)1
Das Bild vom Wissenschaftler als Zwerg, der getragen von den Schultern eines Riesen weiter sehen kann und dessen lange kulturgeschichtliche Tradition Robert K. Merton minutiös herausgearbeitet hat,2 ist auch heute noch gebräuchlich: Beispielsweise verwendet Google Scholar,3 die spezialisierte Suchmaschine für wissenschaftliche Information in der Familie der Google-Anwendungen, es als Motto und platziert es prominent unterhalb des Rechercheeingabefeldes.4 Worum es im Folgenden gehen soll, ist nicht der Versuch einer Interpretation dieses Bildes als Leitidee für die Informationsgesellschaft und ihren Umgang mit Wissen, sondern eine Betrachtung von Redensweisen mit Bezug zu Wissen und Information, wie sie sich (nicht nur) in den elektronischen Medien finden und die 1
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Zitiert nach R. K. Merton: Auf den Schultern von Riesen; Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit, Frankfurt am Main: Syndikat Autoren- und Verlagsgesellschaft 1980, S. 216), dessen Studie zur Rezeptionsgeschichte dieses Aphorismus als Musterbeispiel der Untersuchung (wissenschaftlicher) Ignoranz gelten kann, zeigt er doch, dass über Jahrhunderte der Aphorismus im Wortlaut ungenau und mit falscher Quellenangabe (also letztlich ohne Verifikation der Quelle) gebraucht wurde (vgl. ebd., S. 204ff.). Vgl. ebd., S. 204ff. Vgl. http://scholar.google.de. Vgl. N. Bolz: »Die Wissensgesellschaft – Stupid Stuff oder Serious Business?«, in: Forschungszentrum Jülich (Hg.), Knowledge eXtended. Die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern, Bibliothekaren und IT-Spezialisten, Jülich: Forschungszentrum Jülich GmbH. Zentralbibliothek 2005, S. 9-36, hier S. 18, wonach Wissenszwerge auch in dem viel zitierten Ausspruch von Jürgen Mittelstraß aufscheinen, die Menschen in der Wissensgesellschaft seien »Informationsriesen und Wissenszwerge zugleich«.
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verbreitete Vorstellung von der Wissens- und Informationsgesellschaft charakterisieren. Dabei spielen Nichtwissen und Ignoranz auf zwei Ebenen eine Rolle: Einerseits thematisieren einige dieser Redensweisen das Phänomen Ignoranz bzw. die als gefährlich erachteten Konsequenzen von Ignoranz, andererseits ist zu fragen, inwieweit die Vorstellung von einer sich verkürzenden Halbwertszeit von Wissen mit der Realität vereinbar ist oder eher als ein Indikator von Ignoranz bezüglich der Wissensgesellschaft gelten kann. Der im Titel genannte Begriff des Mythos ist im Sinne seines Alltagsgebrauchs verwendet5 – die Redensweisen der Informationsgesellschaft sollen hier nicht als Mythen im Sinne der Welterklärung oder einer sinnstiftenden Geschichte interpretiert werden. Sie lassen sich eher als »Mythen des Alltags der Informationsgesellschaft« im Sinne von Barthes fassen.6 Dieter Simon bringt den oft ungenauen Gebrauch von »Mythos« auf den Punkt: »Scheint ziemliche Mühe zu machen, dieses Wort. Jedenfalls dem, der die Kontexte präzise entschlüsseln möchte, in denen der Mythos auftritt. Man könnte vermuten, das sei sein Geheimnis. Das Undurchsichtige als Schleier vor dem Wahrhaftigen. Verdunklung der hässlichen Realität durch Beschwörung des Mythos. Erhebung durch ›Mythologisierung‹. Aber damit täte man, jedenfalls heute, dem schönen Wort unrecht. In Wahrheit wird es gegenwärtig meistens kritisch eingesetzt. Es stellt sich ein, wenn die Sachverhalte aufgeklärt sind. Vor Tische las man’s anders – beim Nachtisch heißt es ›Mythos‹ im Sinne von ›Märchen‹.«7
Dabei wird Mythos verallgemeinernd als etwas verstanden, dem in seiner Wirklichkeitsbeschreibung eine Differenz zur Realität zu unterstellen
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Ein nicht ungewöhnliches Vorgehen, vgl. P. Feyerabend: Erkenntnis für freie Menschen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 27ff., der in ähnlicher Weise vom »Mythos der Vernunft« handelt, oder N. Bolz: Die Wissensgesellschaft, S. 26f., der »neue Universitätsmythen« erläutert. Vgl. R. Barthes: Mythen des Alltags, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964. Also nicht im traditionellen Verständnis des Mythos, wie es die Definition von H. Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, zum Ausdruck bringt: »Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit. […] Mythen werden erzählt, um etwas zu vertreiben. Im harmlosesten, aber nicht unwichtigsten Falle: die Zeit. Sonst und schwererwiegend: die Furcht« (S. 194f.). D. Simon: Editorial [zum Themenheft Der Mythos und die Wissenschaft. Eine dialektische Affäre] Gegenworte, Herbst 2003, http://www.gegen worte.org/heft-12/editorial12.html.
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ist.8 Zunächst sollen wesentliche Merkmale der Informations- und Wissensgesellschaft benannt werden, bevor ausgewählte »Mythen« (Redeweisen, Vorstellungen) der Informations- und Wissensgesellschaft9 anhand ihrer Verwendung vor allem in Online-Medien vorgestellt und untersucht werden.
Einleitung: Wissens- und Informationsgesellschaft Für die Beschreibung der postindustriellen Gesellschaft steht eine Vielzahl von Begriffen und Interpretationsangeboten bereit. Die Vorstellung, wir seien in einer Informations- oder Wissensgesellschaft angekommen, steht dabei in Beziehung und Konkurrenz zu alternativen Deutungsmustern wie Dienstleistungsgesellschaft10, nachindustrielle Gesellschaft11, Risikogesellschaft12, Medien- und Kommunikationsgesellschaft und Freizeit- bzw. Erlebnisgesellschaft13. Peter Drucker und David Bell stellen frühzeitig Wissen und Information als prägende Faktoren der modernen Gesellschaft in den Mittelpunkt;14 seit einigen Jahren wird das Kon-
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Mit einer vergleichbaren Strategie geht Janich vor, wenn er für die Dekonstruktion von Information als Naturgegenstand den Begriff der Legende verwendet (vgl. P. Janich: Was ist Information?, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 11ff.). Nachfolgend synonym gebraucht, da auch die Begriffsgeschichte ein enges Wechselspiel bzw. starke inhaltliche Überlappung offenbart (vgl. A. Mattelart: Kleine Geschichte der Informationsgesellschaft, Berlin: AvinusVerlag 2003, und ders.: Kultur und Globalisierung. Marktmacht gegen Vielfalt, Zürich: Rotpunktverlag 2006). Vgl. G. Voss: Trend zur Dienstleistungsgesellschaft?, Köln: Deutscher Industrieverlag 1976. Vgl. D. Bell: Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt am Main/New York: Campus 1975. Vgl. U. Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986. Vgl. P. Rössler: Mythen der Mediengesellschaft, Konstanz: UVK 2005, und G. Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt am Main: Campus 1992. Vgl. P. F. Drucker: The Age of Discontinuity; Guidelines to our Changing Society, London: William Heinemann Ltd. 1969, und D. Bell: Die nachindustrielle Gesellschaft.
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zept der Wissensgesellschaft auch im Plural gebraucht.15 Zu den Merkmalen der Informations- und Wissensgesellschaft zählen dabei als »Industrialisie• die allgemeine Tendenz zur Informatisierung rung des Geistes in allen Sphären«16, wobei Information und Wissen zu relevanten gesellschaftlichen Ressourcen werden, • die Überwindung industrieller Produktionsstrukturen verbunden mit gesellschaftlichem Wandel in der postindustriellen Moderne, • die Flexibilisierung und Globalisierung der Waren- und Dienstleistungsproduktion, • die Zunahme von Unsicherheit trotz Wissenszuwachs, wie sie sich auch in »postmodernen« Begriffen wie »Unübersichtlichkeit«17 oder »Risikogesellschaft«18 zeigt und • die wachsende Bedeutung »wissensbasierter Berufe« (knowledge worker) mit hohen, sich aber schnell wandelnden Qualifikationsanforderungen.19
15 Vgl. N. Stehr: Knowledge Societies, London: SAGE Publication Ltd 1994. A. Mattelart: Kultur und Globalisierung, S. 146f. führt dazu aus: »Über den Verwaltungsbegriff ›Informationsgesellschaft‹ herrschte lange Zeit Konsens und in den internationalen Großinstitutionen herrscht er noch immer (Mattelart 2003). Die UNESCO scheint in dieser Hinsicht die Ausnahme zu sein, die die Regel bestätigt. Denn die UNESCO spricht neuerdings von ›Wissensgesellschaften‹ im Plural und räumt damit ein, dass es verschiedene Weisen der Aneignung neuer Technologien gibt, die, ausgehend von unhintergehbaren sozialen, kulturellen und historischen Gegebenheiten, ausgehandelt sein wollen.« (Vgl. dazu auch A. Mattelart: Kleine Geschichte der Informationsgesellschaft, S. 73f.) 16 H.-D. Kübler: Mythos Wissensgesellschaft; Gesellschaftlicher Wandel zwischen Information, Medien und Wissen. Eine Einführung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage GmbH 2005, S. 18. 17 J. Habermas: Die neue Unübersichtlichkeit (Vol. es 3325), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985/1996. 18 U. Beck: Risikogesellschaft. 19 Der Managementtheoretiker Peter Drucker macht auf die Tatsache aufmerksam, dass vor der Wissensarbeit (knowledge work) der Wissensarbeiter kam, was er mit dem Ungleichgewicht von Zunahme akademischer Abschlüsse bei noch fehlendem Arbeitsmarkt für die so Qualifizierten nach dem zweiten Weltkrieg begründet: »That the knowledge worker came first and knowledge work second – that indeed knowledge work is still largely to come – is a historical accident. From now on, we can expect increasing emphasis on work based on knowledge, and especially skills based on knowledge« (P. F. Drucker: The Age of Discontinuity, S. 267f; vgl. auch N. Steht: »Das Produktivitätsparadox«, in: S. Böschen/I. Schulz-Schaeffer
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Dass die Wissensgesellschaft an Bedeutung gewonnen hat, lässt sich auch ökonomisch nachvollziehen: Stehr geht nach Denison davon aus, dass technisches und organisatorisches Wissen für immerhin 54% des amerikanischen Wachstums von 1948-1973 verantwortlich ist.20 Dies wurde aber auf der Basis einer einfachen Schätzmethode berechnet, die die Problematik der Messung wissensbezogener Phänomene verdeutlicht: Die Zurechnung zu Wissen wird verstanden als »percentage of the measured growth rate in output that cannot be explained by the growth rate of the total factor inputs and by other adjustments made for other types of productivity increases«21 – alles, was nicht anderweitig mit »traditionellen« ökonomischen Parametern erklärt werden kann, wird als wissensbezogener Faktor gewertet. Ob man die Informations- oder Wissensgesellschaft wie von North behauptet22 tatsächlich als fünften Zyklus im Sinne von Kondratjeffs Theorie langfristiger ökonomischer Entwicklungszyklen – nach Dampf, Elektrizität, Chemie/Autos, Medien – sehen mag, erscheint schon angesichts des unsicheren Status dieses Deutungsmusters der Wirtschaftsgeschichte zweifelhaft23, unbestritten ist aber der tief greifende Transformationsprozess, der mit der Informations- und Wissensgesellschaft verbunden ist. Dabei handelt es sich bei der Vorstellung von der Informationsund Wissensgesellschaft (noch) nicht um ein geschlossenes und akzeptiertes Modell. Lau und Böschen monieren zu Recht eine ganze Reihe von Defiziten: 24
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(Hg.), Wissenschaft in der Wissensgesellschaft, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag/GWV Fachverlag GmbH 2003, S. 77-93, hier S. 86, Fn. 20). Vgl. N. Stehr: Wissen und Wirtschaften; Die gesellschaftlichen Grundlagen der modernen Ökonomie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 326f., und E. Denison: Accounting for slower economic growth. The United States in the 1970s, Washington/DC: The Brookings Institution 1979, S. 131. I. Feller: »The Economics of Technological Change Filtered through a Social Knowledge System Framework«, in: Science Communication 9 (1987), S. 233-253, hier S. 240. Vgl. K. North: Wissensorientierte Unternehmensführung, S. 16ff. »Während der intensiven Diskussion seit den 1960er Jahren ist dieser Begriff aber mit so viel guten Gründen in Frage gestellt worden, daß weder er selber noch überhaupt das Konstrukt der Kondratieffschen, extrem langen Konjuknturwellen von der Dauer eines halben Jahrhunderts überlebt haben« (H.-U. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Dritter Band: Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des ersten Weltkriegs. 1849-1914, München: C.H. Beck 1995, S. 548). Vgl. C. Lau/S. Böschen: »Wissensgesellschaft und reflexive Modernisierung«, in: S. Böschen/I. Schulz-Schaeffer (Hg.), Wissenschaft in der Wis-
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Deskriptive und normative Aussagen werden vermischt, z. B. bei der Legitimation neuer Technologien,25 der im Konzept der Wissensgesellschaft beschriebene Wandel ist beschreibbar, bisher aber kaum erklärbar, eine technokratische Grundhaltung herrscht vor, die in der Vorstellung von einer grenzenlosen rationalen Bewirtschaftung von Wissen vor allem auf das technologisch Mögliche abstellt und nicht nur Informations- und Wissensgesellschaft, sondern auch die zugrunde liegenden Konzepte von Wissen und Information werden oftmals gleichgestellt oder nicht klar voneinander abgegrenzt.
Es kommt hinzu, dass eine weitergehende Typisierung von Wissensformen im öffentlichen Diskurs oftmals nicht erfolgt und »Wissen« als generisch gebrauchter Begriff durch spezifischere Konzepte wie technisches Wissen, Verfügungswissen oder Gebrauchswissen zu substituieren ist. Dabei ist z. B. implizites Wissen nur schwer objektivierbar, gleichzeitig konzentrieren sich Debatten um die Wissensgesellschaft vor allem auf positives Wissen, dessen Wahrnehmung und Bewertung durch die Mechanismen einer »Ökonomie der Aufmerksamkeit«26 beeinflusst wird. In der deutschsprachigen Informationswissenschaft hat sich eine Abgrenzung von Wissen und Information durchgesetzt, die von einem semiotischen Modell ausgeht, in dem Wissen die semantische Ebene abdeckt, während Information einen Handlungsbezug aufweist (Pragmatik) und als »Wissen in Aktion« gesehen wird.27 Es kann aber nicht davon ausge-
sensgesellschaft, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag/GWV Fachverlag GmbH 2003, S. 220-235, hier S. 223. 25 Vgl. Dazu auch T. K. Landauer: The Trouble with Computers; Usefullness, Usability, and Productivity, Cambridge/MA/London: The MIT Press (Bradford Books) 1995. 26 G. Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München: Hanser 1998. 27 Vgl. R. Kuhlen: »Information«, in: R. Kuhlen/T. Seeger/D. Strauch (Hg.), Handbuch Grundlagen von Information und Dokumentation, München: K. G. Saur 2004, S. 3-20. Anders N. Stehr: Arbeit, Eigentum und Wissen; Zur Theorie von Wissensgesellschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 242f.: »Wissen […] ist eine Handlungskapazität. Es gibt dem Handelnden […] die Möglichkeit, etwas in Gang zu setzen. […] Information hat […] sowohl eine engere als auch eine allgemeinere Funktion [sc. als Wissen, CW]. Allgemeiner deshalb, weil Information bei weitem nicht so knapp ist wie Wissen. […] Information ist eher ein öffentliches Gut.«
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gangen werden, dass in der Wissenschaft hinsichtlich dieser zentralen Konzepte Konsens herrscht, wie das nachfolgende Zitat zeigt, das Daniel Bells Diskussion der Besonderheiten der Informationsgesellschaft entnommen ist. Wissen und Information, Informiertsein und »etwas wissen« lassen sich hier kaum voneinander trennen: »Die Grenzen, die der Aufnahme von Information generell gezogen sind: Wie George Miller in einem Aufsatz darlegt, stellt die ›magische Zahl 7 r 2‹ die äußere Grenze für die Kontrollspanne der ›Informationsbits‹ dar, die der einzelne auf einmal ›verarbeiten‹ kann, und ebenso sind natürlich auch der Aufnahmefähigkeit für Informationen über Ereignisse (bzw. Bereiche, die man überblicken oder Interessen, die man verfolgen kann) äußere Grenzen gezogen. Angesichts des ›exponentiellen‹ Wachstums des Wissens und der Vervielfachung der Bereiche und Interessen führt das beim einzelnen zwangsläufig zu einem immer mangelhafteren Informiertsein – mit einem Wort, wir wissen immer weniger.«28
»Mythen« der Wissensgesellschaft Die Wissensgesellschaft hat eine Vielzahl von Analogien und Metaphern hervorgebracht, die moderne Diskurse über Wissen und Information prägen. Dazu gehören zunächst die Vorstellung von der Wissensgesellschaft selbst, die Diskussion um die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz, Marshall McLuhans Vorstellungen von den Medien als extensions of man im elektrischen/medialen Zeitalter,29 die Computermetapher und ihr Umfeld (Speicher, Rechenoperationen, Algorithmen als Deutungsmuster)30, oder auch die Annahme eines medialen globalen Dorfs31. Zu den bemerkenswerten neueren Bildern zählt die von dem bekannten amerikanischen Informatiker Ben Shneiderman entwickelte Vorstellung von der Informations- und Kommunikationstechnik als einer Art Kreativitätsma-
28 D. Bell: Die nachindustrielle Gesellschaft, S. 353. 29 Vgl. M. McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media, Dresden: Verlag der Kunst 1994. 30 Vgl. D. Draaisma: Die Metaphernmaschine. Eine Geschichte des Gedächtnisses, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999, S. 141ff., und K. Wagner: Datenräume, Informationslandschaften, Wissensstädte. Zur Verräumlichung des Wissens und Denkens in der Computermoderne, Freiburg: Rombach 2006. 31 Vgl. M. McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Bonn u. a.: Addison-Wesley 1995.
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schine für Jedermann/-frau32, mit der er zu einem Vordenker der social software- und Web 2.0-Bewegung geworden ist. Shneiderman mahnt einen Perspektivenwechsel der Informatik an (»The old computing was about what computers could do; the new computing is about what users can do«33), und bemüht dabei das Bild von »Leonardo’s Laptop«, um Kreativitätspotentiale des IT-Einsatzes deutlich zu machen.34 Nachfolgend sollen nur solche Vorstellungen näher betrachtet werden, die sich mit dem schnellen Anwachsen und gleichzeitigen Verdrängen und Vergessen von Wissen und Information befassen. Für den Nachweis des Gebrauchs solcher Redeweisen wird vornehmlich auf online verfügbare Quellen zurückgegriffen. Den einzelnen Belegstellen kommt dabei eine Indikatorenrolle zu; eine differenzierte Methodik der quantitativen Diskursanalyse mit corpuslinguistischen Verfahren fehlt bisher.35
Halbwertszeit von Wissen Die Annahme, Wissen verfalle mit einer messbaren Halbwertszeit, stellt eine Analogie zu radioaktiven Zerfallsprozessen her. Die »Messung« solcher Halbwertszeiten bezieht sich sowohl auf das Zitationsverhalten als auch auf die tatsächliche Nutzung wissenschaftlicher Literatur und ist heute gängige Praxis in bibliometrischen Studien.36 Dabei wird häufig
32 Vgl. B. Shneiderman: Leonardo’s Laptop. Cambridge/MA/London: The MIT Press 2003. 33 Vgl. ebd., S. 2. 34 Vgl. dazu auch T. K. Landauer: The Trouble with Computers, der in einer breit angelegten Untersuchung gängige Vorstellungen über Rationalisierungsgewinne und Produktivitätssteigerungen durch den Einsatz von Rechentechnik dekonstruiert und darauf hinweist, dass falsche Annahmen über die Leistungsmöglichkeiten von Computern zu Fehlentwicklungen geführt haben. Ähnlich wie Shneiderman fordert er eine stärkere Fokussierung auf den Faktor Mensch bei der Entwicklung von Software. 35 Verweise auf Online-Quellen bzw. Trefferzahlen aus Suchmaschinen als Relevanzindikator finden sich zunehmend auch in wissenschaftlicher Literatur und haben angesichts der Bedeutung online publizierter Texte wohl auch ihre Berechtigung. Systematische Untersuchungsverfahren fehlen aber bisher oder sind erst in ersten Ansätzen erkennbar, vgl. R. L. Cilibrasi/P. M. B. Vitányi: »The Google Similarity Distance«, in: Transactions on Knowledge and Data Engineering 19 (2007), S. 370-383. 36 Vgl. W. Umstätter: »Die Skalierung von Information, Wissen und Literatur«, in: Nachrichten für Dokumentation 43 (1992), S. 227-242.
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angenommen, dass die Zeitspanne, bis zu der Wissen nicht mehr gültig oder überholt ist, immer kürzer wird, also eine fallende Halbwertszeit unterstellt, was bereits einen Bruch der Ausgangsmetapher darstellt: Halbwertszeiten variieren je nachdem, um welchen Zerfallsprozess es sich handelt, sind aber ansonsten nicht veränderliche Messwerte eines stochastischen Prozesses. Zwei Belege sollen solche Annahmen belegen: In einem Bildungsforum des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) heißt es: »Weiterbildung ist der Schlüsselbegriff, denn die Halbwertszeit von Wissen beträgt im Internet-Business vielleicht ein Jahr«37, und im Netzkultur-Forum Telepolis führt Frank Hartmann aus: »Keine nach privatwirtschaftlichen Kriterien geführte Universität wird ihr geistiges Kapital einfach allgemein freigeben. Und so wird auch dieser innovative Schritt einem spezifischen Distinktionsmechanismus geschuldet sein: das MIT kann es sich leisten, unter Bedingungen einer ständig sinkenden Halbwertszeit von Wissen so frei zu agieren.«38
Hartmann bezieht sich auf das OpenCourseWare-Programm39 des Massachusetts Institute of Technology (MIT), in dem Lehrmaterialien der – teuren – Spitzenuniversität der Weltöffentlichkeit online kostenlos zur Verfügung gestellt werden.40 Halbwertszeit von Wissen und die damit 37 U. Löffler: »Die Ausbildungen dauern heute viel zu lange«. Halbwertszeit von Wissen beträgt im Internet ein Jahr. Bildung PLUS – Forum Bildung, 2001, http://www.forumbildung.de/templates/imfokus_inhalt.php?artid=40 vom 15. Oktober 2007. 38 F. Hartmann: Akademische OpenCulture oder globales WissensBusiness. Telepolis, 2001, http://www.heise.de/tp/r4/artikel/7/7593/1.html vom 21. Mai 2007. 39 Vgl. MIT (Hg): OpenCourseWare Homepage, Cambridge/MA: MIT, http://ocw.mit.edu/OcwWeb/web/home/home/index.htm vom 15. Oktober 2007. 40 Weitere Belege für die Annahme sinkender Halbwertszeiten lassen sich (online) unschwer finden, immerhin aber auch nüchternere Bewertungen, die Offenkundiges betonen, wie der folgende Auszug aus einer Stellungnahme zur Wissensgesellschaft: »[…] kann solch ein Kanon nicht festgelegt werden, da die rasche Produktion eine Festlegung an sich unmöglich mache und die Halbwertszeit von Wissen beständig abnehme. Das ist aber nur teilweise richtig, denn natürlich gibt es Wissen, das über viele Jahre gültig und aktuell ist. Etliche mathematische Gleichungen sind ähnlich wie die Schrift viele Jahrhunderte alt, ohne dass jemand auf die Idee kommen würde, sie angesichts der aktuellen Wissensexplosion über Bord zu werfen« (M. Bovenschulte: Was ist die Basis der Wissensgesellschaft? IPS –
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behauptete kontinuierliche Abnahme des Wissens werden vielfach als Faktum akzeptiert und nicht weiter hinterfragt. Nur in Ausnahmefällen kommt eine Differenzierung nach Wissenstypen hinzu und macht das Bild der Halbwertszeit von Wissen plausibler, so etwa in der wirtschaftswissenschaftlichen Dissertation von Sven Vanini, der Strategien für den Umgang mit Wissensverfall in Unternehmen entwickelt.41 In der fachwissenschaftlichen Diskussion ist man sich der offensichtlichen Grenzen dieser Analogie aber durchaus bewusst: »The idea of a ›half-life‹ came from the world of physics, where radioactive substances decayed exponentially with time. It was thought that, since the amount of literature available was increasing more or less exponentially with time, the references to it might be expected correspondingly to decrease exponentially into the past. (It was recognised, of course, that the analogy was only partial: radioactive substances are transmuted into something else, whereas papers in old journals are still available to be cited.)«42
Neben dem hier angesprochenen prinzipiellen Unterschied zwischen dem Verfallsprozess chemischer Elemente (und seiner Unveränderlichkeit) und der Wahrnehmung von Wissen wird aber auch verschleiert, dass die Bezugsgröße dieser Halbwertszeit in der Regel nicht sich änderndes Wissen (z. B. die Verdrängung älterer Theorien durch neue Erkenntnisse als tatsächliche »Entwertung« von Wissen) ist, sondern soziales Verhalten im wissenschaftlichen Publikationswesen. Es ist in der Bibliometrie gängige Praxis, Zitationsverhalten durch Halbwertszeiten zu messen und vergleichbar zu machen, der Rückschluss auf die Wissensgrundlage selbst (bzw. ihre Repräsentation in Publikationen) erscheint aber dennoch nicht zulässig. Ferner ist bei der Betrachtung von Studien zur Halbwertszeit nicht eindeutig, ob tatsächlich eine sinkende Tendenz nachgewiesen werden kann, der »Wissensverfall« sich also beschleunigt: Bibliometrische Studien zeigen z. T. eine gegenteilige Entwicklung, d. h. ein Ansteigen des mittleren Alters zitierter Literatur. Beispielsweise errechnen Marx und Gramm für die Publikationen ausgewählter Max PlanckInstitute in den Jahren 1979-1999 eine steigende »Halbwertszeit« der Zi-
Innovation Positioning System, 2006, http://www.vdivde-it.de/ips/juni 2006/1 vom 21. Mai 2007). 41 Vgl. S. Vanini: Halbwertszeit von technologischem Wissen: Meßkonzepte und Implikationen für die Technologieplanung, Hamburg: Verlag Dr. Kovac 1999. 42 J. Meadows: »A practical line in bibliometrics«, in: Interlending & Document Supply 33 (2005), S. 90-94, hier S. 90.
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tationen.43 Zugleich unterbleibt die Differenzierung nach Wissensarten und Fachgebieten, die erforderlich ist, da in unterschiedlichen Wissenschaftskulturen deutlich verschiedene Zitationsmuster vorherrschen: Das mittlere Alter zitierter Literatur ist je nach Fach sehr unterschiedlich.44 Daneben können auch mediale Umbrüche wie die Digitalisierung und elektronische Verfügbarkeit wissenschaftlicher Quellen Einfluss auf das Zitationsverhalten haben: Eine Studie zu den von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Sondersammelgebieten der wissenschaftlichen Bibliotheken konstatiert eine »now or never«-Haltung vieler Wissenschaftler, die Literatur nur heranziehen, wenn sie unmittelbar verfügbar ist.45 Ein solches Verhalten mag zwar zu »kürzeren Halbwertszeiten« führen, es fehlt aber jeglicher Bezug zur Validität der Wissensgrundlage. Insofern liegt es nahe, statt von Verfallsprozessen zu sprechen, Analogien aus der Geologie und Archäologie heranzuziehen: Neues Wissen lagert sich in Schichten über den bisherigen Wissensbestand, ohne dass dieses Wissen in seiner Qualität bewertet oder verändert würde. Gerade in anwendungsnahen Wissenschaften mit kurzen Innovationszyklen zeugen die in wissenschaftlicher Literatur erschlossenen Quellen oft von einem sehr kurzen Zeithorizont: Älteres wird nicht wahrgenommen, nicht weil es nicht relevantes Wissen enthielte, sondern schlicht, weil es als zu alt empfunden wird, die Zeit für eingehende Recherche fehlt oder der Aufwand für die Beschaffung nicht digital verfügbarer Literatur gescheut wird.
43 Vgl. W. Marx/G. Gramm: Literaturflut – Informationslawine – Wissensexplosion. Wächst der Wissenschaft das Wissen über den Kopf?, Stuttgart: Zentrale Informationsvermittlung der Chemisch-Physikalisch-Technischen Sektion der MPG am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung 1994/2002. 44 Vgl. W. Glänzel/U. Schoepflin: »A bibliometric study on ageing and reception processes of scientific literature«, in: Journal of Information Science 21 (1995), S. 37-53. 45 »Anwendungsorientierte Disziplinen tendieren eindeutig zu einer ›now or never‹-Mentalität: entweder ich kann das Medium sofort an meinem Arbeitsplatz einsehen, oder ich benutze es gar nicht. Diese Haltung erwächst vor allem aus den starken zeitlichen Anforderungen an das jeweilige zu lösende Problem, aber auch aus dem pragmatischen Charakter der Forschungsaufgabe selbst« (P. T. Boekhorst/M. Kayß/R. Poll: Nutzungsanalyse des Systems der überregionalen Literatur- und Informationsversorgung, Teil 1: Informationsverhalten und Informationsbedarf der Wissenschaft, Münster/Bonn: Universitäts- und Landesbibliothek Münster/infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft GmbH 2003, S. 10).
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Eine Methodik für die quantitative und qualitative Überprüfung von Wissensbeständen ohne Rekurs auf Publikationen bzw. Publikationsstatistiken erscheint als wünschenswert, aber kaum realisierbar oder gar als naiv angesichts der Differenziertheit der Wissenschaft.46 Bovenschulte spitzt es in seinem Kommentar zur Wissensgesellschaft treffend zu: »Die Wissensgesellschaft selbst aber entzieht sich solch einem wissenschaftlichen Vorgehen mittels Überprüfbarkeit auf ebenso elegante wie dreiste Weise und verliert sich in einem wolkigen Konglomerat aus Indikatoren und Einschätzungen.«47 Die Diskussion der Halbwertszeit von Wissen stellt sich so als ein besonders prägnantes Beispiel für ein grundlegenderes Problem dar: die Annahme der Messbarkeit von Wissen durch Beobachtung des wissenschaftlichen Publikationsverhaltens, die zunehmend den Wissenschaftsbetrieb prägt bzw. prägen wird. Sie zeigt sich in der Konjunktur von Szientometrie, Bibliometrie und Informetrie und der Vielzahl dort entwickelter und eingesetzter Messverfahren und Parametern der Wissenschaftsindikatoren48 wie peer review, Wissenschaftspreise, Drittmitteleinwerbung, Publikationsanalysen, Zitationsanalysen oder Strukturindikatoren.49 Da die Bewertung der Qualität von Wissen nur im Einzelfall möglich ist, gewinnen formale, prozessbezogene und quantitative Aspekte an Bedeutung. Es drängt sich der Gedanke auf, dass die Wissensgesellschaft die Industriegesellschaft zwar abzulösen beginnt,
46 Versuche, den Informationsgehalt von Texten auch unter Rekurs auf allgemeine digital verfügbare Wissensstrukturen (Ontologien, Thesauri) zu messen, befinden sich noch im experimentellen Stadium (vgl. J. Reischer: »Extracting Informative Content Units in Text Documents: Using Topic Chains for Conceptual Document Representation«, in: A. Oßwald/M. Stempfhuber/C. Wolff (Hg.), Open Innovation – neue Perspektiven im Kontext von Information und Wissen? Proc. 10. Internationales Symposium für Informationswissenschaft, Konstanz: UVK 2007, S. 285-302). 47 M. Bovenschulte: Basis der Wissensgesellschaft, S. 1. 48 Vgl. Hornbostel, S.: Wissenschaftsindikatoren. Bewertungen in der Wissenschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997. 49 Einschlägige Publikationen weichen der Frage nach der Qualität wissenschaftlicher Publikationen im Sinne einer Bewertung aus (vgl. M. Jokic/ R. Ball: Qualität und Quantität wissenschaftlicher Veröffentlichungen; Bibliometrische Aspekte der Wissenschaftskommunikation (Vol. 15), Zagreb und Jülich: Forschungszentrum Jülich GmbH 2006): »Dabei soll die Frage, ob die Qualität wissenschaftlicher Arbeit einer letztendlichen quantitativen Begründung zugänglich ist, ebenso unkommentiert bleiben, wie die bereits Realität gewordene quantitative Beurteilung von einzelnen Wissenschaftlern, Instituten, Einrichtungen oder Ländern selbst« (ebd., S. 7).
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gleichzeitig aber ihre industrielle Phase (»Wissensfordismus«) noch vor sich hat, wenn zukünftig alle relevanten Tätigkeiten des Wissenschaftlers standardisierten Messverfahren unterworfen werden.
Wissens- und Informationsflut, Informations- und Wissensexplosion Eine weitere populäre Vorstellung von der Wissens- und Informationsgesellschaft hebt auf das weltweit schnelle Wachstum von Daten/ Information/Wissen ab und stellt eine Analogie zu natürlichen und von Menschen verursachten Katastrophen her, wenn wahlweise von Wissensflut, Informationsflut oder Wissensexplosion gesprochen wird.50 Die Metapher ist verbunden mit der Vorstellung, dass die Menge verfügbarer Information sehr viel schneller wächst, als sie wahrgenommen und verarbeitet werden kann. Für eine solche Sichtweise lässt sich eine Vielzahl von Fakten zitieren. So schätzt die zuletzt für das Jahr 2002 erfolgte und 2003 erschienene Studie »How much Information?« der School of Information Management and Systems an der University of California at Berkeley51, dass allein 2002 etwa 5 ExaByte (d. h. 5 1018 Byte) an Information auf digitalen Speichermedien neu produziert wurde, was nach der Rechnung der Autoren der 37.000fachen Menge der in den Büchern der Library of Congress enthaltenen Information entspricht. Die Autoren gehen von einer Mengenverdopplung etwa alle drei Jahre aus und kommen auch für den Informationsfluss (Übertragung über Datennetze, Rundfunk etc.) zu ähnlich dramatischen Werten, nämlich auf 18 ExaByte übertragene Information im Jahr 2002. Auch hier gilt, dass eine bessere begriffliche Trennung der Ebenen Daten, Information und Wissen erforderlich ist: Man wird argumentieren können, dass die Studie weniger eine Informationsmenge, sondern vielmehr Datenvolumina misst – die gleiche Menge Information kann in der Regel durch unterschiedliche Mengen an Daten repräsentiert sein, z. B. bedingt durch verschiedene Codierungsvorschriften oder Speicherformate. Für die Zahl der im World Wide Web enthaltenen Dokumente kann man z. B. anhand der Trefferzahlen bei
50 Der im Englischen gebräuchliche Begriff des information overload ist wesentlich neutraler, knowledge overload wird kaum verwendet. 51 Vgl. P. Lyman/H. R. Varian: How much Information?, 2003, http://www2. sims.berkeley.edu/research/projects/how-much-info-2003/ vom 15. Oktober 2007.
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Google davon ausgehen, dass mittlerweile viele Milliarden Dokumente dort zu finden sind. Witten/Gori/Numerico nennen für 2005 die Zahl von etwa 11,5 Milliarden Dokumenten im frei durch Suchmaschinen indexierbaren Web.52 Auch eingegrenzt auf den Wissenschaftsbereich sind die Datenmengen eindrucksvoll; Marx/Gramm nennen folgende Zahlen:53 • Weltweit existieren ca. 200.000 wissenschaftliche Zeitschriften.54 • Allein in Naturwissenschaft und Technik erfolgen ca. vier Millionen neue Fachveröffentlichungen pro Jahr. • Jedes Jahr werden weltweit etwa eine Million Patente angemeldet. • Etwa 20 Millionen chemische Verbindungen und ca. 32 Millionen Biosequenzen sind bekannt. Im Sinne der oben eingeführten Abgrenzung von Wissen und Information nach Kuhlen erfolgt bei solchen Schätzungen die Bezugnahme auf Daten und Information, weniger auf Wissen. Intuitiv nachvollziehbar ist anhand dieser Größenordnungen, dass das schnelle Wachstum negativ konnotiert ist und daher mit Katastrophen in Verbindung gebracht wird – der Anteil des vom Einzelnen aufnehmbaren Wissens wird immer schneller immer kleiner. Die nachfolgende Tabelle zeigt die Trefferzahlen für die Aspekte Flut, Lawine und Explosion mit Bezug zu Wissen bzw. Information in der Suchmaschine Google und in der Datenbank des Leipziger Wortschatzprojektes.55
52 Vgl. I. H. Witten/M. Gori/T. Numerico: Web Dragons; Inside the Myths of Search Engine Technology, San Francisco: Morgan Kaufmann Publishers 2007, S. 81. 53 Vgl. W. Marx/G. Gramm: Literaturflut. 54 Die weltweit größte Zeitschriftendatenbank ZDB verzeichnet 1,3 Millionen Titelnachweise, allerdings umfasst der Datenbestand auch nichtwissenschaftliche Zeitschriften, vgl. http://www.zeitschriftendatenbank.de/ wir_ueber_uns/index.html vom Oktober 2007. 55 Vgl. C. Wolff: »Zeitbezogene Korpusauswertung. Medienanalyse oder Sprachwandelforschung?«, in Sandra Reimann/Katja Kessel (Hg.), Wissenschaften im Kontakt. Kooperationsfelder der Deutschen Sprachwissenschaft, Tübingen: Narr 2007, S. 173-187.
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Tabelle 1: Wissen Information Wissensflut Informationsflut 9 Wortschatz 261 Wortschatz 24.400 Google 526.000 Google Aspekt Explosion Wissensexplosion Informationsexplosion 21 Wortschatz 2 Wortschatz 15.000 Google 944 Google Aspekt Lawine Wissenslawine Informationslawine 0 Wortschatz 9 Wortschatz 38 Google 505 Google Flut, Explosion und Lawine mit Bezug zu Wissen und Information – Trefferzahlen bei Google (http://www.google.de) und im Leipziger Wortschatz-Corpus (http://wortschatz.uni-leipzig.de), Zugriffe jeweils Mai 2007. Aspekt Flut
Informations- und Wissensflut sind dabei offensichtlich die gängigsten Konzepte im Sprachgebrauch der Presse. Belegstellen zu Wissensflut aus Tageszeitungen, die der Leipziger Wortschatzdatenbank entnommen sind, zeigen, dass mit der Wissensflut eine Gefährdungswahrnehmung verbunden ist:56 »Eine gute Uni müsse künftig viel mehr als bisher, ›das effektive Lernen lehren, um die Wissensflut in jedem einzelnen Fachgebiet überhaupt bewältigen zu können‹, sagt Hermann Körndle.«57 »Damit junge Menschen nicht ›in der Wissensflut und in den Scheinwelten des Informationsüberflusses versinken‹, müssten sie einen ›kritischen Umgang‹ mit den neuen Medien erlernen.«58 »Wie bewältigen die Wissenschaften diese Wissensflut?«59 »Dazu gehöre ein ›elektronisches Klassenzimmer‹, das auf den Umgang mit Computern und mit der Wissensflut vorbereiten solle.«60
56 Datenquelle: http://wortschatz.uni-leipzig.de, Abfrage mit dem Suchbegriff Wissensflut, Zugriff Mai 2007. 57 Berliner Zeitung 1997. 58 Berliner Zeitung 2000. 59 Rheinischer Merkur 1997. 60 Süddeutsche Zeitung 1996.
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Nicht nur in Publikumsmedien, sondern auch in der Wissenschaft wird die große verfügbare Informationsmenge als Problem im Sinne einer Informationsflut angesehen. So kommt die bereits zitierte Studie zu den Sondersammelgebieten der DFG auch auf der Basis der Auswertung internationaler Studien zum Thema Informationsnutzung und Informationskompetenz zu folgendem Fazit: »Als Hauptproblem für die gezielte Nutzung vorhandener Informationen zum eigenen Forschungsthema wird in der Literatur zum Informationsverhalten von Wissenschaftlern die Informationsflut gesehen, die durch die Möglichkeiten des elektronischen Publizierens immens verstärkt wird. Das bestätigte sich klar in den Aussagen der Fokusgruppen und den frei formulierten Antworten der Umfrage, aber auch bei dem in der Umfrage deutlich werdenden Bedarf nach strukturierter, selektierter Fachinformation. Wissenschaftler fühlen sich durch die Überfülle an vorhandener Information überfordert; der ›Informationsmüll‹ übersteigt ihre Aufnahmekapazität in inhaltlicher wie zeitlicher Hinsicht.«61
Dieselbe Studie beobachtet expliziten Informationsverzicht als gängige Handlungsoption angesichts dieser angenommenen Überforderung, was sich als Ignoranz im Sinne bewussten und gezielten Nichtwissens (Nichtwissen-Wollens) interpretieren lässt. Die Beobachtung schnellen Wachstums verfügbarer Information ist dabei nicht neu, Hornbostel verweist auf vergleichbare Wahrnehmungen bereits in den 50er und 60er Jahren im Umfeld der Entstehung moderner »Großforschung«62 und Marx/Gramm merken an, dass die »Wissensexplosion« eine grundsätzliche Begleiterscheinung der modernen Wissenschaftsentwicklung ist: »Die Wissensexplosion ist […] eine Situation, mit der die moderne Wissenschaft seit ihrer Entstehung konfrontiert ist. Für den einzelnen Wissenschaftler war das Wissen seiner Zeit stets zu groß, um auch nur in seinem Fachgebiet noch überschaubar zu sein. Das exponentielle Wachstum hat zur Folge, dass sich die Wissenschaft in hohem Maße in der Gegenwart konzentriert. Man schätzt, dass 80 bis 90 Prozent aller Wissenschaftler, die jemals gelebt haben, unsere Zeitgenossen sind. Damit wird auch der größte Teil aller jemals geleisteten wissenschaftlichen Tätigkeit in unserer Generation und vor unseren Augen geleistet. Dies gilt allerdings nicht nur für die Gegenwart, sondern hat auch für jeden vergangenen Zeitpunkt gegolten. Zu allen Zeiten konnten Wissenschaft-
61 P. T. Boekhorst/M. Kayß/R. Poll: Nutzungsanalyse, S. 87. 62 Vgl. S. Hornbostel, Wissenschaftsindikatoren, S. 322.
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ler sagen, dass das Wissen sich in den letzten 10 bis 20 Jahren um soviel vermehrte, wie in der gesamten Zeit vorher.«63
Bereits in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts hat der polnische Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck das nach ihm benannte Gesetz zum Zusammenhang von Wissen und Ignoranz formuliert64, wonach die Zunahme des Wissens in der Wissensgesellschaft mit dem Bewusstsein von gleichzeitigem Nichtwissen korrespondiert.65 Der frühere Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, der Konstanzer Biologe Hubert Markl, hat dafür eine ansprechende Metapher gewählt: Er sieht das wachsende Wissen als Kugel in einem Universum des Nichtwissens, zu dem die Oberfläche der Kugel die Schnittstelle darstellt. Wächst das Wissen (Volumen der Kugel), so wächst in stärkerem Maß die Berührungsfläche zum Unwissen (Oberfläche der Kugel).66 Auch Robert K. Merton legt nahe, dass Wissen Unwissen (specifiable und specified ignorance) generiert: »In anything but a paradoxical sense, newly acquired knowledge produces newly acquired ignorance«67. Wehling vermutet in diesem Sinne eine steigende Bedeutung wissenschaftlicher Ignoranz (»growing impact of scientific ignorance on social relations«, »penetration of all spheres of life by scientific ignorance«68), die er als Schattenseite des Wissens charakterisiert. Dabei werden wenigstens zwei Formen von Nichtwissen in der Wissenschaft deutlich: Zum einen pragmatisch bedingte Ignoranz als Informationsverzicht, wenn Publikationen (allgemeiner: Wissensquellen) 63 W. Marx/G. Gramm: Literaturflut. 64 Vgl. L. Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980. 65 Vgl. M. Heidenreich: »Die Debatte um die Wissensgesellschaft«, in: S. Böschen/I. Schulz-Schaeffer (Hg.), Wissenschaft in der Wissensgesellschaft, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003, S. 25-51, hier S. 45. 66 Vgl. W. Marx/G. Gramm: Literaturflut, und S. Seeger: »Von der Innovationsflut zum wirtschaftlichen Erfolg. Selektion, Kooperation, Organisation. Innovationsmanagement in jungen, kleinen und mittleren Unternehmen«, in: M. Nippa (Hg.), Innovationsmanagement. Von der Idee zum erfolgreichen Produkt, Heidelberg: Physica-Verlag 2007, S. 111-129, hier S. 115. 67 R. K. Merton: »Three Fragments from a Sociologist’s Notebook: Establishing the Phenomenon, Specified Ignorance, and Strategic Research Materials«, in: Annual Review of Sociology 13 (1987), S. 1-28, hier S. 8. 68 P. Wehling: »Die Schattenseite der Verwissenschaftlichung. Wissenschaftliches Nichtwissen in der Wissensgesellschaft«, in: S. Böschen/I. SchulzSchaeffer (Hg.), Wissenschaft in der Wissensgesellschaft, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003, S. 119-142, hier S. 121.
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nur selektiv wahrgenommen werden, zum anderen bewusstes Nichtwissen mit Bezug zu möglicher wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Vergrößerung des wissenschaftlichen Sektors (bzw. der Wissensindustrie), die die absoluten Zahlen des Informationszuwachses relativieren hilft, ist bereits angesprochen worden. Weitergehend kann man davon ausgehen, dass Werkzeuge der Informationstechnik (Suchmaschinen, digitale Bibliotheksinfrastruktur, Hilfsmittel der Textproduktion etc.) tatsächlich auch zu effektiverem Umgang mit Information führen können. Erstaunlich ist die geänderte Wahrnehmung verfügbarer Wissensressourcen: Eine große Bibliothek kann man als zugänglichen Wissensschatz sehen, den zu erschließen für den Wissenschaftler kein Problem ist und der wissenschaftliches Arbeiten erst möglich macht, auch wenn dabei klar ist, dass der Einzelne ihn nie zur Gänze durcharbeiten kann. Der digitale Informationszuwachs dagegen soll uns überfluten oder unter sich begraben. Möglicherweise stehen wir staunend und verunsichert vor der »neuen Welt digitaler Information« und müssen die geeigneten Praktiken eines souveränen Umgangs mit ihr erst mühsam erlernen, nicht anders, als dies auch für die Entwicklung der »Lesekompetenz« gegolten hat.69
Information und Wissen als Rohstoff Eine dritte Redensweise, die ebenfalls den quantitativen Aspekt thematisiert, ist das Bild von Wissen bzw. Information als Rohstoff. Auch der Aspekt »Rohstoff« ist in online-Quellen für den Bezug zu Wissen bzw. Information jeweils in vergleichbarer Größenordnung belegbar, der nachfolgende Auszug aus einer Tagungseinladung der Friedrich-EbertStiftung aus dem Frühjahr 2007 soll die Gebrauchweise stellvertretend illustrieren: »Wissen schafft Arbeit: ›Rohstoff Wissen‹ als wirtschaftlicher Erfolgsfaktor Wissenschaft und Bildung sind die Rohstoffe der Zukunft Berlins. Die deutsche Hauptstadt hat seit 1989 einen beispiellosen Strukturwandel durchlaufen […]. Berlin hat eine Wissenschafts- und Forschungslandschaft, die ihresgleichen sucht. In unmittelbarer Umgebung von Forschung und Entwicklung entstehen neue Wirtschaftsstrukturen und damit die Grundlagen neuer Industrien und unternehmensnaher Dienstleistungen.
69 Vgl. A. Manguel: Eine Geschichte des Lesens, Berlin: Verlag Volk & Welt 1998.
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Der ›Rohstoff Wissen‹ als wirtschaftlicher Erfolgsfaktor hat in Berlin Tradition. Schon einmal, ab Mitte des 19. Jahrhunderts waren es gut ausgebildete Menschen und deren Ideen, die z. B. die ›Elektropolis‹ haben entstehen lassen. Heute sind es wieder Menschen, die aus der Wissenschaft den Weg in das Unternehmertum angetreten haben.«70
Die Rohstoffmetapher hat einen ähnlichen Ausgangspunkt wie das Bild von der Informationsflut, impliziert aber eine andere Herangehensweise: Die Bergbauanalogie zeigt eine Differenzierung der Vorstellung von Wissen bzw. Information, da die Rohstoffgewinnung in der Regel mit Qualitätsunterschieden rechnet: Aus einer großen Menge verfügbarer Information sind die relevanten wertvollen Einheiten zu selektieren. Gleichzeitig steht hier wieder der Einzelne als Handelnder im Mittelpunkt, da ihm die Aufgabe der Rohstoffgewinnung zufällt. Damit liegt es auch an ihm, die »Unreinheit« oder Unterstrukturiertheit einer Informationsmenge für sich bzw. für die je gewählte Aufgabenstellung zu überwinden. Anders als Informationsflut und Wissensexplosion, Bilder, die keinen unmittelbaren Niederschlag in wissenschaftlicher Praxis gefunden haben, ist der Bergbaugedanke zum Leitmotiv neuerer Forschungsrichtungen in den Wirtschaftswissenschaften, der Informatik und der Sprachund Texttechnologie geworden: Unter dem Begriff data mining hat sich seit Anfang der 90er Jahren ein Forschungsfeld etabliert, das Methoden zur Analyse sehr großer Datenbestände entwickelt und praktisch anwendet (knowledge discovery in databases (KDD))71. Solche Verfahren, die sich vor allem statistischer Methoden und Ansätze des maschinellen Lernens bedienen, werden seit etwa 1995 auch auf den »Wissensrohstoff Text«72 übertragen – das sog. Text Mining73 verspricht, das Wissensmanagement in Forschung und Anwendung zu verbessern.
70 Friedrich Ebert-Stiftung: Wissen schafft Arbeit: »Rohstoff Wissen« als wirtschaftlicher Erfolgsfaktor, 2007, http://www.fes.de/aktuell/documents 2007/070319_Wissen.pdf vom 15. Oktober 2007. 71 Vgl. I. H. Witten/E. Frank: Data Mining. Practical Machine Learning Tools and Techniques, Amsterdam u. a.: Elsevier 2005. 72 G. Heyer/U. Quasthoff/T. Wittig: Wissensrohstoff Text. Text Mining: Konzepte, Algorithmen, Ergebnisse, Bochum: W3L 2005. 73 Vgl. A. Mehler/C. Wolff: »Einleitung: Perspektiven und Positionen des Text Mining«, in: LDV-Forum, 20 (2005), Einführung in das Themenheft Text Mining, S. 1-18.
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Fazit Die oben diskutierten Beispiele sollen deutlich machen, dass Metaphern aus dem Bereich der Naturkatastrophen, der Naturwissenschaft und dem Ingenieurwesen zu den gängigen Vorstellungen im Umgang mit Information und Wissen gehören. Erstaunlich ist dabei die Selbstverständlichkeit, mit der Wissensverfall wie Wissenswachstum ohne Bezugnahme auf den Surrogatcharakter der zugrunde liegenden Messverfahren und Bezugsgrößen als Drohkulisse der Informations- und Wissensgesellschaft aufgebaut werden – und als glaubwürdig erscheinen. So negativ besetzte Vorstellungen lassen auf Hilflosigkeit des Einzelnen (»kaum zu bewältigende Flut«) und Verlustängste (ständige Entwertung eigenen Wissens) schließen und bringen eine Geringschätzung der Ressource Wissen zum Ausdruck.74 Man kann fragen, ob der Individualbezug von Wissen, d. h. die Annahme, als Einzelner die Wissensflut bewältigen zu müssen, einen Erklärungsansatz für das wahrgenommene Bedrohungsszenario der Wissensgesellschaft bietet. Der behaupteten Gefahr, von der Informationslawine überrollt zu werden, lässt sich der Gedanke eines Wissenskollektivismus (oder »Wissenstaylorismus«) entgegenstellen, der zum einen die Vorstellung umfasst, dass es weniger darauf ankommt, als Individuum den Wissensverfall zu beherrschen und Wissen immer schneller zu akkumulieren und zu verarbeiten, sondern die Gesamtheit vorhandenen Wissens auf möglichst viele Träger zu verteilen. In einem produktiven Sinne könnte man die Ansätze kollektiver Wissenserarbeitung durch moderne Wissensmanagementansätze als einen Schritt in diese Richtung betrachten. Der Erfolg der Online-Enzyklopädie Wikipedia lässt sich ebenfalls in diesem Sinn interpretieren. Ein weiterer Erklärungsansatz könnte in der Ungleichzeitigkeit von Zunahme der Wissenschaftsproduktion, der Entwicklung ihrer Informationsspeicher (digitale Bibliotheken, WWW) und Zugangsmöglichkeiten (Datenbanken, Suchmaschinen, Wissenschaftsportale) und der Ausbildung geeigneter Kompetenzen für den Umgang mit ihnen liegen. Die große Beachtung, die der Ausbildung von Schlüsselqualifikationen wie Informationskompetenz seit einiger Zeit geschenkt wird, deutet jedenfalls ebenso in diese Richtung wie empirische Befunde zu den erheblichen Defiziten von Studenten und Dozenten auf diesem Feld.75 Hier liegt 74 Vgl. K. P. Liessmann: Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft, Wien: Paul Zsolnay Verlag 2006, S. 157. 75 Vgl. P. T. Boekhorst/M. Kayß/R. Poll: Nutzungsanalyse, und R. Klatt/K. Gavriilidis/K. Kleinsimlinghaus/M. Feldmann: Nutzung elektronischer wissenschaftlicher Information in der Hochschulausbildung. Barrieren und Potenziale der innovativen Mediennutzung im Lernalltag der Hochschulen.
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eine Herausforderung für »Metawissenschaften« wie die Bibliotheksoder Informationswissenschaft, einen praktischen Beitrag zu einer »science of science« zu leisten: Wer Informationsbestände und die Zugänge zu ihnen kennt, verfügt über geeignete Strategien des bewussten Nichtwissens im Sinne potentiellen Wissen-Könnens.76 In der Begrifflichkeit von Ursula Schneider, die unterschiedliche Formen von Ignoranz im Umgang mit Wissen untersucht77, entspräche dies einem Weg von der »ignorierten Ignoranz« (dem Nichtwissen von Nichtwissen) über die »Ignoranz im Sinne bewusster Lücken« (z. B. durch Informationsverzicht) zur wissensstrategisch wertvolleren »positiven Ignoranz«, bei der man bereits weiß, was man nicht zu wissen braucht.78
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WIKIPEDIA –
EIN
MEDIUM
D E R I G N O R AN Z ?
RAINER HAMMWÖHNER
Einleitung Die Frage nach Unwissenheit und Ignoranz im Zusammenhang mit der freien Online-Enzyklopädie Wikipedia erlaubt mehrere Interpretationen. Am nächstliegenden ist es wohl, sie als eine Frage nach der Qualität der Inhalte der Wikipedia zu verstehen. Wenn die Frage eine polemische Unterstellung zu suggerieren scheint, so ließe sich diese aus einem begründeten Misstrauen gegenüber einer Enzyklopädie verstehen, deren Redaktionsprozesse so anders gestaltet sind, als man es von eingeführten Nachschlagewerken gewohnt ist. Hier sind nicht allein ausgewiesene Experten am Werke, sondern jeder kann am Aufbau des enzyklopädischen Korpus mitwirken. Ungenauigkeiten und Fehler im Text werden hier nicht, wie sonst üblich, vor der Veröffentlichung identifiziert und korrigiert, sondern ausdrücklich zunächst zugelassen. Dies geschieht in der Annahme, dass sich aus dem großen Kreis der Leser schnell jemand findet, der solche Qualitätsprobleme erkennt und beseitigt. Inwieweit diese Annahme zutrifft, kann nur durch empirische Untersuchungen geklärt werden. Wir werden auf diesen Aspekt zurückkommen. Zunächst soll gezeigt werden, wie grundsätzlich das Verhältnis von Autoren und Lesern durch das Redaktionskonzept der Wikipedia tangiert wird. Aus diesen Überlegungen können weitere Lesarten der im Titel dieses Beitrags gestellten Frage abgeleitet werden. Die übliche Nutzungssituation eines Lexikons zeigt einen uninformierten bzw. unwissenden Leser, der dieses Defizit durch Nachschlagen zu beseitigen sucht. In dieser Situation der Ignoranz ist er auf das Funktionieren des »Expertensystems« Enzyklopädie1 angewiesen. Grundsätzlich bleibt ihm nur Vertrauen in die Richtigkeit der Angaben, das allerdings durch Plausibilitätsannahmen gestützt werden kann, welche aus Kontextwissen gewonnen werden. Würde dieses Vertrauen durch ungenaue oder unwahre Ausführungen erschüttert, käme es zu einer nachhal1
Vgl. Hubert Knoblauch: Wissenssoziologie, Konstanz: UVK 2005, S. 277ff.
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tigen Entwertung der entsprechenden Werkzeuge der Wissenskommunikation. Das bestehende Vertrauen in bestimmte Nachschlagewerke dürfte nicht allein aus der Qualität des häufig intransparenten Editionsprozesses resultieren, sondern auch aus der langen Tradition der sie tragenden Institutionen. Wo liegen im Gegenzug die Meriten der Wikipedia? Befreit von langwierigen Redaktionsprozessen und aufgrund der Flexibilität des Trägermediums kann sie zumindest aktueller sein. Zusätzlich sind Handhabungs- und Kostenvorteile zu verzeichnen. Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen traditionellen Enzyklopädien und der Wikipedia ist jedoch noch auf einer anderen Ebene zu erkennen. Während auf der einen Seite Vertrauen aus Verlässlichkeit begründet wird, wird auf der anderen Seite dem Leser ein höheres Maß an Autonomie eröffnet. Rott beleuchtet den Zusammenhang von Vertrauen und Autonomie in einer Debatte um den Wert der Wahrheit im Gegensatz zur Lüge.2 Die Lüge stellt sich hier als eine Verletzung sowohl des eine erfolgreiche Kommunikation ermöglichenden Vertrauens als auch der informationellen Autonomie des Hörers dar. Im Fall der Wissensvermittlung jedoch kommt es zu einem Widerstreit von Vertrauen und Autonomie. Komplexe und verlässliche Redaktionsprozesse erfordern vorgezogene Überprüfungen und Relevanzentscheidungen, die damit der Autonomie des Lesers entzogen sind. Dieser hat auch nicht die Möglichkeit der Stellungnahme. Die Wikipedia entscheidet sich zu Gunsten der Autonomie der Leser um den Preis, dass ein unkritisches Vertrauen in dieses Medium, wenn es denn überhaupt erwünscht sein sollte, nicht möglich ist. Im Gegenzug bieten sich dem Leser andere Optionen, die, soweit sie das Wechselspiel von Ignoranz und Wissen betreffen, im Weiteren zu erläutern sind. Gardner/Benjamin/Pettingill untersuchen in einer Studie das Vertrauen von Personen in die ihnen zur Verfügung stehenden Informationsquellen.3 Sie unterscheiden dabei mehrere Stereotype. Während sich der Professionalist eher auf etablierte Organisationen und Autoritäten verlässt, setzt der Informationssucher auf die Integration von Information aus zahlreichen Quellen. Die Wikipedia scheint nur für den letzteren eine angemessene Informationsquelle darstellen zu können.
2 3
Vgl. Hans Rott: »Der Wert der Wahrheit«, in: Mathias Mayer (Hg.), Kulturen der Lüge, Köln/Weimar: Böhlau 2003, S. 7-34. Vgl. Howard Gardner/Jessica Sara Benjamin/Lindsay Pettingill: An examination of trust in contemporary American society. Center for Public Leadership, Harvard University/Working Papers 2006, http://www.ksg. harvard.edu/leadership/research/publications/paper/index.php?itemid=994 vom 16. August 2007.
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Von Beginn an wurde Enzyklopädien nicht nur die Funktion des Informierens, sondern auch diejenige des Bewahrens zugewiesen.4 Dabei ist in frühen Enzyklopädien ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den Gedächtnisräumen der Mnemotechnik und einer als räumlich vorzustellenden Ordnung des Wissens gegeben.5 Diese räumliche Interpretation der Wissensordnung verlor sich zu Gunsten einer begrifflichen auch in dem Maße, wie die alphabetische Ordnung des Wissens sich als primäres Prinzip – allein schon aus Gründen der Effizienz – durchzusetzen begann.6 Ein Anschluss an Theorien des kollektiven Gedächtnisses, wie sie von Halbwachs zunächst formuliert wurden7, ist für die digital vernetzten Medien generell und damit auch für die Wikipedia über die Arbeiten von Winkler vermittelt unschwer möglich8. Dieser Gedankengang soll hier jedoch nicht weiter verfolgt werden. Von Interesse ist jedoch die Rückbesinnung auf die sachbezogene Ordnung des enzyklopädischen Materials, die in der Einführung eines Kategoriensystems9 in die Wikipedia zu erkennen ist. In manchen Publikationen – etwa Kittur u. a.10 – wird ein Zusammenhang zwischen der Wikipedia und Phänomenen kollektiver Intelligenz in Analogie zur Wisdom of the crowd hergestellt.11 Kern dieser Überlegungen ist, dass Gruppen unter bestimmten Bedingungen zu Erkenntnisleistungen in der Lage sind, die denjenigen von einzelnen Exper-
4
Vgl. Anette Selg/Rainer Wieland: Die Welt der Encyclopédie, Frankfurt am Main: Eichborn 2001, S. 68ff. 5 Vgl. Ulrich Johannes Schneider/Helmut Zedelmaier: »Wissensapparate«, in: Richard von Dülmen/Sina Rauschenbach (Hg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Köln: Böhlau 2004, S. 349-363. 6 Vgl. Peter Burke: Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin: Wagenbach 2001. 7 Vgl. Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006. 8 Vgl. Hartmut Winkler: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, München: Boer 1997, S. 81ff. 9 Im Folgenden wird die Bezeichnung Kategoriensystem häufig verkürzend für Kategoriensystem der Wikipedia verwendet 10 Vgl. Aniket Kittur u. a.: »Power of the few vs. wisdom of the crowd: Wikipedia and the rise of the bourgeoisie«, in: 25th Annual ACM Conference on Human Factors in Computing Systems (CHI 2007), 2007 April 28 - May 3, San Jose, CA. 11 Vgl. James Surowiecki: The Wisdom of the Crowds. Why the Many are Smarter than the Few and How Collective Wisdom Shapes Business, Economics, Societies, and Nations, New York: Doubleday 2004.
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ten überlegen sind. Surowiecki nennt folgende Voraussetzungen für ein hochwertiges kollektives Urteil: 1. Diversität der Meinungen und Kompetenzen garantieren, dass das zu lösende Problem aus verschiedenen Perspektiven gesehen wird. 2. Unabhängigkeit des Urteils führt dazu, dass alle Meinungen zur Geltung kommen können. 3. Dezentralisierung ermöglicht die Verwendung zahlreicher verschiedenartiger Informationsquellen. 4. Ein Algorithmus zur Integration der aus dem Kollektiv gewonnenen Urteile ermöglicht die Ableitung eines Urteils aus den vielfältigen Meinungen des Kollektivs. Surowiecki zeigt anhand eines reichen Fundus von Fallbeispielen, wie Probleme der Mustererkennung, der Ressourcenallokation etc. durch angemessen strukturierte Gruppen besser gelöst werden können, als durch einzelne Experten bzw. Expertengremien. Es wird sich im Folgenden zeigen, dass im Fall der Wikipedia die Kriterien 2 und 4 als problematisch angesehen werden können und dass hier der Aufbau des Kategoriensystems anders zu beurteilen ist als die übrigen redaktionellen Prozesse. Die Untersuchung der Struktur des Kategoriensystems ist aus informationswissenschaftlicher Sicht ein besonderes Desiderat allein schon deshalb, weil der Aufbau und die Nutzung von Ordnungssystemen zu den Kerngebieten des Fachs zählen. Traditionell wird der Aufbau eines Ordnungssystems als ein aufwendiger Prozess begriffen, der von Experten nach einer wohl definierten Methodik vollzogen wird12, so dass die Ergebnisse einer so völlig abweichenden Vorgehensweise mit Interesse zur Kenntnis genommen werden müssen. Wir beginnen unsere Überlegungen mit einer Einführung in den Aufbau der Wikipedia in Hinblick auf die hier relevanten Fragestellungen. Diese Einführung wird durch statistisches Material ergänzt, das aus der Auswertung jüngst erhobener Textstichproben resultiert.
Die Wikipedia Ziel des Wikipedia-Projekts ist die Bereitstellung freier enzyklopädischer Information für jedermann. Methodische Grundlage ist die Beteiligung einer offenen Nutzergemeinschaft an diesem Projekt – jeder kann mit-
12 Vgl. Wilhelm Gaus: Dokumentations- und Ordnungslehre, Berlin: Springer 1995.
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wirken. Die Nutzung der von Ward Cunningham konzipierten WikiSoftware ist die technische Voraussetzung für die Umsetzung dieses Ansatzes. Im Rahmen dieses Gesamtprojekts ist eine Vielzahl untereinander vernetzter elektronischer Enzyklopädien entstanden, die jeweils in einer Sprache verfasst sind. Jede dieser Enzyklopädien wird von einer eigenen mehr oder minder großen Nutzergemeinschaft getragen, die sich eigene Regeln der Zusammenarbeit setzt. An dieser Stelle kann nicht auf die Eigenheiten spezifischer Wikipedia-Projekte eingegangen werden. Es wird deshalb nur das gemeinsame Modell erläutert. Darüber hinaus finden einige innovative Ansätze Berücksichtigung, die in den großen Wikipedias eingeführt wurden.
Die Mitarbeiter Grundsätzlich darf jeder an einer oder mehreren Wikipedias mitarbeiten. Dies kann in weitgehender Anonymität – Identifizierung nur durch IPNummern – oder in einer durch Zugangsmechanismen kontrollierten Pseudonymität geschehen. In der Mitarbeit an der Wikipedia nehmen die Nutzer verschiedene Rollen ein. Als Autoren verfassen sie neue Artikel oder überarbeiten ältere. Im Sinne der Qualitätssicherung übernehmen sie Verantwortung für einzelne oder mehrere Artikel. Grundsätzlich darf jeder Nutzer derartige Tätigkeiten ausführen. In manchen Fällen wird jedoch die Überarbeitung von Artikeln auf authentifizierte Nutzer beschränkt. Bestimmte Aufgaben, wie etwa das Löschen von Artikeln, bleiben einem engeren Kreis von Administratoren vorbehalten, die aus dem Kreis der Nutzer gewählt werden.
Die Artikel Die Artikel der Wikipedia werden in einer einfachen Auszeichnungssprache verfasst, welche die Definition eines Satzbildes sowie die Integration von Abbildungen und von Hypertext-Verweisen erlaubt. Obschon die Autoren durch keine Richtlinien für bestimmte Artikelformate eingeschränkt werden, haben sich mit der Zeit Konventionen für die Struktur von Biographien, Städtebeschreibungen u. Ä. ausgeprägt. Durch die verwendete Basissoftware ist festgelegt, dass jede Änderung, die an einem Artikel vorgenommen wird, in einem Versionsraum so protokolliert wird, dass sie dem jeweiligen Autor zurechenbar ist. Zudem sind frühere Fassungen eines Artikels unter Zugriff auf den Versionsraum wieder herstellbar.
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Tabelle 1:
Länge von Artikeln der englischen Wikipedia (Anzahl der Worte). Jedem Artikel ist eine Diskussionsseite zugeordnet, auf der die Autoren sich über Defizite des Artikels austauschen können und Meinungsverschiedenheiten beilegen können. Auffällig ist, dass in der deutschen Wikipedia nur etwa einem Drittel aller Artikel eine Diskussion zugeordnet ist, während dies in der englischen Wikipedia bei etwa zwei Dritteln aller Artikel der Fall ist (Stichprobenumfang jeweils 1000). Dies ist darauf zurückzuführen, dass in der englischen Wikipedia ein anderer Gebrauch von den Diskussionsseiten gemacht wird, indem hier etwa auch Kurzvermerke über die Zugehörigkeit zu Portalen etc. zu finden sind, die in der deutschen Wikipedia weniger auftreten. Dies zeigt an einem einfachen Beispiel, dass die Nutzung der gemeinsamen Software in den einzelnen Wikipedias auf eine unterschiedliche Weise erfolgen kann. Untersuchungen zu einer Wikipedia lassen sich deshalb nur in engen Grenzen auf eine andere übertragen. Festzustellen ist, zumindest für die englische Wikipedia, dass die Mehrzahl der Artikel einen größeren Umfang aufweisen dürfte als ein durchschnittlicher Artikel eines gedruckten Nachschlagewerks (s. Tabelle 1). Die Mehrzahl der Artikel ist von einer größeren Anzahl authentifizierter Autoren in Augenschein genommen worden (s. Tabelle 2).
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Tabelle 2:
Anzahl der authentifizierten Autoren pro Artikel einer Zufallsstichprobe aus der englischen Wikipedia. Die Beschriftungen geben jeweils die obere Intervallgrenze wieder. Der beiden äußeren Balken repräsentieren das 5% und das 95% Quantil. Die Datenfelder enthalten Stichprobengröße, Durchschnittswert, Standardabweichung, Median, 25% und 75% Quantil. Diese Angaben sind in weiteren Grafiken, die, soweit es nicht eigens vermerkt ist, auf der gleichen Stichprobe beruhen, analog zu verstehen. Von großer Bedeutung für die Einschätzung eines Artikels ist auch seine Bearbeitungsfrequenz. Tabelle 3 zeigt, dass mehr als 10% der Artikel weniger als einen Tag alt waren, dass aber auch längere Latenzzeiten vorkommen, in denen Artikel unbearbeitet bleiben. Dass Artikel lange nicht verändert werden, heißt jedoch nicht zwingend, dass sie unbeachtet umgeschrieben werden können. Eine eigene Studie, die auf der Auswertung der Versionshistorie von 1496 Artikeln beruhte, in der 75 Fälle von Vandalismus – mutwillige Verfälschung von Artikeln – zu identifizieren waren, zeigte, dass 30% der Fälle innerhalb von 8 Minuten, 60% innerhalb einer Stunde und 95% innerhalb von 2 Tagen bereinigt waren. 2 Fälle allerdings blieben unentdeckt.13
13 Vgl. Karin Grimm/Lukas Feuerstein: Vandalismus in der Wikipedia. Ausarbeitung zum Projektseminar Hypermedia, Informationswissenschaft/Universität Regensburg 2006.
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Tabelle 3:
Alter der aktuellsten Artikelversion in Tagen.
Strukturen der Wissensorganisation in der Wikipedia Jeder Artikel der Wikipedia ist über seinen Titel, der den Lexikoneintrag bezeichnet, eindeutig identifizierbar und über eine Zugriffsfunktion erreichbar. Diese Form des Zugriffs erweist sich für das Nachschlagen von Begriffen in den meisten Fällen als zulänglich. Für komplexere inhaltliche Anfragen und für die Verwaltung und Qualitätssicherung der Enzyklopädie sind jedoch elaboriertere Formen der Wissensorganisation erforderlich. Alphabetischer Index Der alphabetische Index erlaubt einen Zugriff auf die Inhalte der Enzyklopädie, der demjenigen traditioneller Printmedien weitgehend analog ist. Der gegenüber der Titelsuche bestehende informationelle Mehrwert ist hier jedoch gering – etwa zum Aufsuchen von Titeln mit unklarer Schreibung. Themenportale Themenportale fassen thematisch verwandte Artikel zusammen. Sie leisten damit eine systematische Erschließung der Inhalte der Enzyklopädie. Sie sind nützlich für Nutzer, die sich über ein Themengebiet informieren wollen. Themenportale werden häufig von einer eigenen Nutzergruppe 236
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im Rahmen eines Projekts betreut. Sie sind damit auch ein Instrument der Qualitätssicherung. Sowohl in der englischen wie auch in der deutschen Wikipedia gibt es Portale, die ein differenzierteres Qualitätsmodell nutzen als die Gesamtenzyklopädie. Im Portal Biologie der deutschen Wikipedia etwa werden validierte Artikel zusätzlich zu den anderen Qualitätsstufen unterschieden. Derzeit (Stand 04/2007) werden in der deutschen Wikipedia 379 Portale zur Verfügung gestellt.14 Portale können hierarchisch durch Unterportale gegliedert sein. Einzelne Lemmata oder auch Unterportale können in mehreren Portalen enthalten sein. Kategoriensystem Ein weiteres Instrumentarium der systematischen Erschließung der größeren Wikipedias sind Kategoriensysteme. Das Kategoriensystem der deutschen Wikipedia ist seit 2004 in Entwicklung befindlich.15 Das Kategoriensystem stellt ein kontrolliertes, strukturiertes Vokabular zur Verschlagwortung der Wikipedia-Artikel zur Verfügung (s. Tabelle 4). Tabelle 4:
Anzahl der Schlagworte (Kategorien), die den Artikeln der Stichprobe zugeordnet wurden.
14 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Portal:Wikipedia_nach_Themen vom 10. Mai 2007. 15 Vgl. Jakob Voss: Collaborative thesaurus tagging the Wikipedia way, Wikimetrics research papers, volume 1, issue 1, 2006, http://arxiv.org/abs/ cs.IR/0604036 vom 06. Juli 2007.
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Der Aufbau dieses Vokabulars erfolgt nach dem gleichen offen kooperativen Verfahren, das auch der Erstellung der Artikel zugrunde liegt. Hier besteht eine erhebliche Diskrepanz zur Sicht der Dokumentationslehre, die den Aufbau von Ordnungssystemen als einen komplexen, aufwendigen Prozess begreift, der planvoll zu erfolgen hat.16 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Kategoriensystem erfolgt im weiteren Verlauf dieses Beitrags. Listen Vor der Einführung des Kategoriensystems waren Artikellisten das einzige Instrument zur systematischen Erschließung der Wikipedia. Auch heute noch werden zahlreiche Listen geführt17, die Artikel unter einem bestimmten Merkmal sammeln – z. B. Listen der einer Stadt zuzurechnenden Persönlichkeiten oder Publikationsorgane, Kunstwerke einer Epoche etc. Diese Listen werden intellektuell zusammengestellt und ausgewertet. Weitere Listen werden von der MediaWiki-Software automatisch generiert. Dies sind z. B. die Listen mit zuletzt geänderten, nicht kategorisierten, besonders langen oder kurzen Artikeln. Es ist offensichtlich, dass derartigen Verzeichnissen für das Qualitätsmanagement eine große Bedeutung zukommt. Dies trifft auch auf die Beobachtungslisten zu. Hier kann jeder authentifizierte Nutzer diejenigen Artikel eintragen, von deren Änderungen er automatisch durch die MediaWiki-Software informiert werden will. Namensräume Die Wikipedia ist in mehrere Namensräume aufgeteilt. Innerhalb eines Namensraums muss ein Artikelname eindeutig sein. Jeweils ein Namensraum ist für Enzyklopädieartikel, für die Diskussionen zu diesen Artikeln, für Bilder, für Diskussionen zu den Bildern, für Kategorien, Diskussionen zu den Kategorien usw. vorgesehen. Hypertext-Verknüpfungen Als Hypermediasystem verfügt das MediaWiki über die Möglichkeit, interne Dokumente durch Verweise sowohl unter einander als auch mit anderen elektronischen Dokumenten aus dem Internet zu verknüpfen. Interne Verweise dienen – wie in anderen Enzyklopädien auch – zur referentiellen Vernetzung der Lemmata. Externe Verweise führen zumeist zu Quellen, welche die Information aus dem Lexikonartikel absichern. Im Gegensatz zu anderen Hypertexten ist es in der Wikipedia nicht grundsätzlich als Fehler anzusehen, wenn eine interne Verknüpfung auf einen 16 Vgl. W. Gaus: Dokumentations- und Ordnungslehre, S. 165ff. 17 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Listen vom 24. März 2007.
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nicht existierenden Artikel verweist. Sie deutet vielmehr an, dass hier ein Lemma fehlt, für das noch ein Autor gesucht wird. Die Wikipedia geht also sehr offen mit ihren Wissenslücken um (s. Tabelle 5). Tabelle 5:
Dass undefinierte Verknüpfungen (Feature 2) nicht nur als unerwünschter Nebeneffekt zu Beginn der Lebenszeit eines Artikels entstehen, sieht man daran, dass es keine Korrelation zwischen der Anzahl undefinierter Verknüpfungen und dem Alter des Artikels (in Tagen – Feature 1) gibt. Interlanguage-Links Im Gegensatz zu konventionellen Enzyklopädien – dies gilt auch für deren digitalisierte Fassungen – sind in der Wikipedia die Lemmata auch mit ihren Entsprechungen in anderssprachigen Wikipedias verknüpft (Interlanguage-Links), so dass der Leser – entsprechende Sprachkompetenz vorausgesetzt – einfachen Zugang zu kulturbedingt abweichenden Sichten auf einen Gegenstandsbereich hat (vgl. Tabelle 6). Auch InterlanguageLinks können fehlen oder fehlerhaft sein. Im einfachsten Fall liegt eine Fehlschreibung in der Adresse vor. Es gibt aber auch fehlerhafte Zuordnungen von Artikeln, dort etwa, wo Preacher einerseits eine Musikgruppe und andererseits wirklich einen Prediger bezeichnet. Problematisch sind vor allem die Fälle, wo in einer Sprache Sachverhalte zu einem Lemma zusammengefasst werden, die in einer anderen in mehreren Lemmata besprochen werden (Fibrin und Fibrinogen etwa werden in der deutschen Wikipedia getrennt, in der englischen gemeinsam erläutert). Interlanguage-Links sind auch für die Evaluation der Wikipedia nützlich, indem sie, wie es auch in diesem Beitrag geschehen wird, als Grundlage für Sprachvergleiche herangezogen werden können. 239
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Tabelle 6:
Anzahl der Interlanguage-Links pro Artikel. Das Konfidenzintervall für den Mittelwert ist bei D=0.01 5,44 - 7,31. Vorlagen Zur Standardisierung der Struktur ihrer Artikel bietet die Wikipedia mittlerweile eine große Menge von Formatvorlagen, die Musterstrukturen für Biographien, Städtebeschreibungen und viele andere Dinge mehr definieren. Die deutsche Wikipedia stellt derzeit 93 Artikelvorlagen zur Verfügung.18 Diese Formatierungsvorschläge sind eine große Hilfe für Autoren und stellen zusätzlich ein wichtiges Instrument der Qualitätssicherung dar, indem sie eine Vereinheitlichung der Artikelstrukturen befördern. Weitere Textbausteine19 dienen der Vereinheitlichung der Kommentierung von Artikeln, wie etwa Qualitätsurteile, Urheberrechtsvermerke usw.
Das Qualitätsmodell der Wikipedia Die Wikipedia verfügt über ein vergleichsweise elaboriertes, aber nicht geschlossen ausformuliertes Qualitätsmodell. Es können produkt- und prozessorientierte Qualitätsmerkmale unterschieden werden, die in Dokumentationstexten zur Wikipedia definiert werden. 18 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:Wikipedia:Formatvorlage vom 26. März 2007. 19 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:Vorlage:Kategorie vom 26. März 2007.
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Produktorientierte Qualitätsmerkmale Zunächst wird ein Grundverständnis darüber vorausgesetzt, was die Qualität einer Enzyklopädie auszeichnet. Eine Explizierung dieser Qualitätsmerkmale erfolgt fallorientiert erst dann, wenn ein Dissens über bestimmte Kriterien zu beobachten ist. So entstand eine Kollektion von erläuternden Texten zu einigen zentralen Qualitätskriterien20 wie Relevanzkriterien, angemessenem Textlayout etc. Neben dem Ziel, eine Enzyklopädie aufzubauen, werden drei Qualitätsmerkmale in zahlreichen Texten21 besonders hervorgehoben: 1. Neutraler Standpunkt: Die Darstellung von Inhalten soll von einem neutralen Standpunkt aus erfolgen, der konkurrierende Theorien oder Anschauungen berücksichtigt. Eine an der Relevanz des jeweiligen Ansatzes orientierte Gewichtung ist dabei ausdrücklich erlaubt. Diese Forderung soll einerseits einer möglichst objektiven Darstellung dienen, andererseits ist sie eine wichtige Voraussetzung, Konsens in einer großen Autorenschaft herzustellen, in der selbst extreme Meinungen ihre Vertreter finden. 2. Verifizierbarkeit: Alle Inhalte eines Wikipedia-Artikels sollen durch Quellenangaben abgesichert sein. Da die Reputation der Wikipedia nicht durch Verweis auf die fachliche Autorität eines Herausgebergremiums abgestützt werden kann, muss der Nachweis der Korrektheit der Wikipedia-Inhalte durch Referenz auf verlässliche Quellen erbracht werden. 3. Keine Originalforschung: In der Wikipedia soll gesichertes Wissen publiziert werden. Sie ist deshalb kein Ort für die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen. Hinweise auf die konkreten Qualitätsmerkmale, die für wichtig gehalten werden, ergeben standardisierte Bearbeitungshinweise22, die auf Unvollständigkeit oder Unverständlichkeit des Artikels, fehlende Quellenangaben oder Verletzung des Neutralitätsgebots aufmerksam machen. Die englische Wikipedia stellt in gedrängter Form die Kriterien zusammen, welche einen exzellenten Artikel auszeichnen23. Er ist gut geschrieben, umfassend, korrekt, neutral und stabil. Er ist den Richtlinien entsprechend gegliedert, wenn sinnvoll mit Bildern ausgestattet und von ange-
20 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:Wikipedia vom 26. März 2007. 21 Vgl. ebd. 22 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Bewertungsbausteine vom 26. März 2007. 23 Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Featured_article_criteria vom 22. August 2007.
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messenem Umfang. All dies sind keine präzise definierten, exakt im Sinne einer objektiven Evaluation operationalisierbaren Kriterien. Sie dienen jedoch als Argumentationsgrundlage für Entscheidungen im Qualitätssicherungsprozess der Wikipedia. Der Qualitätssicherungsprozess der Wikipedia Der Qualitätsprozess der Wikipedia basiert primär auf der Aufmerksamkeit der Nutzergemeinschaft. Jeder ist angehalten, Artikel zu kommentieren, mit Qualitätsvermerken zu versehen oder – günstigstenfalls – zu verbessern. Die Offenheit dieses Prozesses wird von der Sicherheit getragen, dass jede Version eines Artikels wieder herstellbar ist, wenn eine Änderung mit oder ohne Absicht zu einer Verschlechterung seiner Qualität führen sollte. Um einen Anreiz zur Verbesserung der Artikelqualität zu schaffen und um dem Leser eine Orientierungshilfe zu geben, werden die Artikel der Wikipedia in Qualitätsstufen unterteilt. Neben der Normalstufe werden lesenswerte und exzellente Artikel unterschieden. Manche Portale unterscheiden noch weitere Qualitätsstufen (s. o.). Die Zuweisung einer erhöhten Qualitätsstufe erfolgt auf Vorschlag durch beliebige Nutzer und wird durch einen wohl definierten Abstimmungsprozess bestätigt oder verworfen. Ein ähnlicher Prozess ermöglicht die Löschung besonders schlechter Artikel, insbesondere solcher, die gegen zentrale Auflagen – etwa die Wahrung der Belange des Urheberrechts – verstoßen. Der Vollzug derartiger Maßnahmen bleibt einer eingeschränkten Nutzergruppe – den Administratoren – vorbehalten, die über besondere Rechte verfügen.
Zusammenfassung Aus der ursprünglichen Idee, eine frei verfügbare, von einer offenen Nutzergruppe getragene Enzyklopädie zu schaffen, die durch ein WikiSystem zugänglich wird, ist mittlerweile ein nicht nur umfangreiches, sondern auch sehr komplex strukturiertes Medienprodukt geworden. Während immer wieder festgestellt und kritisiert wird, wo die Wikipedia hinter konventionellen Enzyklopädien zurückbleibt, wird weniger betont, dass sie in manchen Belangen – etwa der Aktualität oder der Interlingualität – schon über diese hinausgeht. Es ist daher nicht offensichtlich, dass die an konventionelle Enzyklopädien anzulegenden Qualitätskriterien allein Maßstab für die Wikipedia sein können. An dieser Stelle wenden wir uns nochmals der Frage zu, ob die Redaktionsprozesse der Wikipedia als wohl strukturierte kollektive Entscheidung im oben genannten Sinne angesehen werden können. Auch
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ohne weitere Nutzerforschung kann man davon ausgehen, dass eine heterogene, dezentral organisierte Gruppe an der Wikipedia arbeitet. Die Frage nach der Unabhängigkeit des Urteils ist aber nicht so einfach zu beantworten. Schließlich dienen die Diskussionsseiten dem Meinungsaustausch und der gegenseitigen Beeinflussung. Schwer ist auch die lenkende Rolle der Administratoren einzuschätzen. Eine neuere Untersuchung24 belegt zumindest für die englische Wikipedia, dass der redaktionelle Anteil der Administratoren derzeit zurückginge. Am problematischsten stellt sich jedoch das vierte Kriterium dar, das die Existenz eines Algorithmus zur Integration der diversen Urteile verlangt. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass die Mittelwertbildung ein geeignetes Verfahren ist, um aus einer Vielzahl von Schätzungen einen integrierten Schätzwert zu ermitteln. Wechselseitiges Umarbeiten eines Textes führt jedoch nicht mit gleicher Selbstverständlichkeit zu einer Integration von abweichenden Meinungen. Zudem wird die Textqualität durch ein derartiges Vorgehen nicht zwangsläufig erhöht. Wahlprozesse innerhalb der Wikipedia – etwa bei der Auswahl exzellenter Artikel – scheinen die Kriterien idealtypisch zu erfüllen, wenn man davon ausgeht, dass die Wahlen nicht von einigen Wortführern beeinflusst werden. Diese Voraussetzung müsste allerdings noch belegt werden. Im Zusammenhang mit dem Kategoriensystem sind, wie wir im Folgenden untersuchen werden, die Dinge nochmals etwas anders gelagert.
Das Kategoriensystem der Wikipedia Einleitung Verschlagwortung von Artikeln gehört zu den traditionsreichen Verfahren der Inhaltserschließung und wird in Lehrbüchern der Informationsund Dokumentationswissenschaft25 mit einiger Aufmerksamkeit behandelt. Es war in den letzten Jahren allerdings eine Entwicklung zu einer automatisierten Texterschließung auf der Basis statistischer Verfahren zu verzeichnen, die zu der Entwicklung leistungsfähiger Volltextsuchverfahren führte. In diesem Zusammenhang ist es überraschend, dass es gerade im WorldwideWeb, einem der größten Datenbestände überhaupt, zu einer Wiederbelebung der intellektuellen Verschlagwortung kommt, die jeweils kooparativ von großen Nutzergemeinschaften getragen werden. Die aus diesen Anstrengungen resultierenden Terminologien werden in 24 Vgl. A. Kittur u. a.: Power of the few vs. wisdom of the crowd. 25 Vgl. W. Gaus: Dokumentations- und Ordnungslehre.
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Anlehnung an den Taxonomie-Begiff Folksonomies genannt26. Dabei sind zwei unterschiedliche Ansätze zu beobachten: 1. Der Inhaltserschließung wird ein offenes, unstrukturiertes Vokabular zugrunde gelegt. Jeder Nutzer kann Dokumente frei verschlagworten. Die Häufigkeit, mit der bestimmte Deskriptoren einem Dokument zugewiesen werden, wird als Indiz für ihre Relevanz angesehen. Dieser Ansatz wird von Systemen wie del.icio.us oder citeulike 27 verwendet. 2. Die Wikipedia verwendet ein offenes, strukturiertes Vokabular. Jeder Nutzer kann neue Deskriptoren – hier Kategorien genannt – anlegen. Diese werden in eine relationale Struktur eingebettet, die durch eine Ober-/Unterkategorie-Beziehung definiert ist. Jedes Dokument der Wikipedia verfügt im Gegensatz zu den oben erwähnten Systemen nur über einen Deskriptorsatz, so dass es nicht zu Agglomerationseffekten kommen kann. Im Weiteren wollen wir uns ausschließlich mit dem Kategoriensystem der Wikipedia auseinandersetzen. Mit diesem Instrument wird eine Vielzahl disparater Ziele verfolgt: 1. Über die Kategorienstruktur besteht eine weitere, die »normalen« Hypertext-Verknüpfungen ergänzende Navigationsstruktur. Über eine Kategorie Komponisten der Wiener Klassik kann man dann vom Lexikoneintrag Beethoven zu demjenigen von Haydn gelangen. 2. Das Kategoriensystem kann bei der Verarbeitung von Suchanfragen – etwa zu Suchanfrageerweiterung etc. – herangezogen werden. Diese Möglichkeiten des konventionellen Information Retrieval werden in der Wikipedia bislang aber nur in experimentellen Suchwerkzeugen genutzt. 3. Artikel werden nach Bearbeitungsstand (Stub) oder Qualitätsgrad (exzellent, lesenswert) kategorisiert, um die Redaktionsprozesse der Wikipedia effizienter zu gestalten.
Die Zuweisung von Kategorien und die Strukturierung des Kategoriensystems werden innerhalb der Wikipedia von eigenen Bearbei-
26 Vgl. Scott Golder/Bernardo A. Huberman: The structure of collaborative tagging systems, 2005, http://arxiv.org/abs/cs/0508082v1 vom 22. August 2007. 27 Vgl. ebd.
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tungsrichtlinien festgelegt28, die vor allem auf folgende Gesichtspunkte hinweisen: 1. Die Zuweisung von Kategorien zu Artikeln muss durch deren Inhalt gestützt sein. 2. Oberkategorien sollen allgemeinere Begriffe repräsentieren als ihre Unterkategorien. Abweichend von dieser allgemeinen Richtlinie sind jedoch zyklische Strukturen für nicht näher spezifizierte Ausnahmen ausdrücklich erlaubt und in den existierenden Kategoriensystemen auch aufzufinden. Auf der Basis dieser vergleichsweise allgemeinen Hinweise sind in den letzten Jahren große Terminologien entstanden. So umfasst das Kategoriensystem der englischen Wikipedia bereits 2005 über 70.000 Kategorien29, die in einer tief gestaffelten Struktur (vgl. Tabelle 7) angeordnet sind. Tabelle 7:
Kürzeste Pfadlänge zur Hauptkategorie für Kategorien einer Stichprobe aus dem Kategoriensystem der englischen Wikipedia. Es ist nahe liegend, dass sich allein aus der Größe des Kategoriensystems und den daraus resultierenden Schwierigkeiten, einen Überblick zu ge-
28 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Hilfe:Kategorien vom 31. März 2007. 29 Vgl. Todd Holloway/Miran Božiþeviü/Katy Börner: Analyzing and visualizing the semantic coverage of Wikipedia and its authors, http://arxiv. org/ftp/cs/papers/0512/ 0512085.pdf vom 22. August 2007.
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winnen, Handhabungsprobleme ergeben. Mit derartigen, eher ergonomischen Fragestellungen wollen wir uns hier aber nicht befassen, sie sind an anderer Stelle besprochen.30 Hier soll es allein um strukturelle Aspekte des Kategoriensystems gehen.
Ist das Kategoriensystem ein Thesaurus? Als durch Begriffsrelationen strukturiertes Vokabular weist das Kategoriensystem offenkundige Ähnlichkeiten zu traditionellen Ordnungssystemen auf – Klassifikationen und Thesauri. Als erster hat Voss die Frage nach einer Einordnung dieses neuen Systems in das bekannte Inventar der Ordnungslehre gestellt.31 Während allein wegen der möglichen Mehrfachkategorisierung auch von Kategorien ein großer Unterschied zu Klassifikationen besteht, sind strukturelle Ähnlichkeiten zu Thesauri gegeben. Ein Thesaurus32 weist folgende zentrale Eigenschaften auf: 1. Der Thesaurus wird durch eine Menge von Termen gebildet, die – im Sinne einer Synonymiebeziehung – zu Äquivalenzklassen geordnet sind. Jeder Äquivalenzklasse ist eine Vorzugsbezeichnung zugeordnet. 2. Hierarchische Relationen verbinden allgemeinere Begriffe mit ihren Unterbegriffen und umgekehrt. 3. Verwandte Begriffe werden durch nicht-hierarchische Beziehungen verbunden.
Weiterhin werden Anforderungen an eine systematische Dokumentation von Thesauri gestellt, die, das kann unmittelbar festgestellt werden, vom Kategoriensystem der Wikipedia allenfalls partiell erfüllt werden. Voss kommt zu dem Schluss, dass das Kategoriensystem der Wikipedia als ein Thesaurus anzusehen sei. Dafür sprächen zunächst strukturelle Gründe: 1. Die Kategorienbezeichner bilden den Deskriptorenraum des Thesaurus. Begriffliche Äquivalenzklassen können durch Adressum-
30 Vgl. Rainer Hammwöhner: »Qualitätsaspekte der Wikipedia«, in: Christian Stegbauer/Jan Schmidt/Klaus Schönberger (Hg.), Wikis. Diskurse, Theorien und Anwendungen, Sonderausgabe von kommunikation @ gesellschaft 8, Online-Publication 2007: http://www.soz.uni-frankfurt.de/K.G/B3 _2007_Hammwoehner.pdf. 31 Vgl. J. Voss: Collaborative thesaurus tagging the Wikipedia way. 32 Vgl. W. Gaus: Dokumentations- und Ordnungslehre, S. 150ff.
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leitungen abgebildet werden, die einer Kollektion von Bezeichnern das gleiche Dokument zuordnen. 2. Die Beziehung zwischen Ober- und Unterkategorie ist mit der hierarchischen Begriffsrelation eines Thesaurus gleichzusetzen. 3. Konventionelle Hypertext-Verknüpfungen repräsentieren die nichthierarchischen assoziativen Relationen zwischen einem Begriff und seinen verwandten Begriffen (related terms). Es kommt jedoch nicht allein darauf an, ob die Struktur eines Thesaurus von der Auszeichnungssprache der Wikipedia nachgebildet werden kann. Dies ist nahe liegend, da es sich in beiden Fällen um Netzwerkstrukturen handelt. Entscheidend ist, ob die existierenden Kategoriensysteme de facto wie Thesauri aufgebaut sind. Voss argumentiert hier mit Modellierungsbeispielen – etwa aus dem MeSH Thesaurus (Medical Subject Heading), welche zeigen, dass eine zufrieden stellende Ähnlichkeit zwischen den Strukturen des Thesaurus und des Kategoriensystems besteht. Hier sind unmittelbar Einwände anzumelden: 1. Zyklische Relationen zwischen Ober- und Unterkategorien sind nicht konform zu den hierarchischen Thesaurus-Relationen. 2. Die Verknüpfung von verwandten Begriffen über konventionelle Hypertext-Verknüpfungen kommt in der Wikipedia zwar vor, spielt aber so gut wie keine Rolle (s. Tabelle 8). Vielmehr werden häufig Ober-/Unterkategoriebeziehungen dort eingesetzt, wo eigentlich nicht-hierarchische Verknüpfungen sachgerecht wären. Wir werden dies im nächsten Abschnitt anhand eines umfangreicheren Beispiels verdeutlichen. Die Debatte darum, ob das Kategoriensystem ein Thesaurus sei oder nicht, mutet zunächst vielleicht formalistisch an. Ihr Resultat ist aber nicht ohne Konsequenzen. Schon die Ausgestaltung konventioneller Retrievalprozesse (spreading activation, up-/downposting) wird sich danach richten müssen, ob die Relationen innerhalb des Kategoriensystems als Thesaurusrelationen in einem strikten Sinne anzusehen sind. Für weitergehende inferentielle Prozesse wären die Auswirkungen noch gravierender. Plant man, wie von Auer/Lehmann33 oder Völkel u. a.34 vorgeschla-
33 Vgl. Sören Auer/Jens Lehmann: What have Innsbruck and Leipzig in common? Extracting Semantics from Wiki Content, accepted at ESWC 2007, http://www.informatik.uni-leipzig.de/~auer/publication/ExtractingSe mantics.pdf vom 20. Mai 2007. 34 Vgl. Max Völkel u. a.: »Semantic Wikipedia«, in: Proc. 15th Int. Conf. on World Wide Web, WWW 2006, Edinburgh, May 23-26, 2006. http://
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gen, die Auswertung von Wikipedia-Inhalten durch semantische Verfahren, so ist eine genaue Kenntnis der formalen Gegebenheiten von Bedeutung. Tabelle 8:
Verwendungshäufigkeit des Konstrukts »verwandte Begriffe« in der englischen Wikipedia.
Von der Aeneis zur Demographie – wenn alles mit jedem zusammenhängt Das folgende Beispiel soll verdeutlichen, welche Konsistenzprobleme in den Kategoriensystemen der Wikipedia derzeit auftreten. Es wird dann ein Ansatz vorgeschlagen, wie sie erkannt und ausgeglichen werden können. Ausgangspunkt ist eine mehr oder minder beliebige Kategorie von niederem Abstraktionsgrad. Die Auswahl der Kategorie Aeneis nehmen wir als dem kulturwissenschaftlichen Kontext dieses Sammelbandes geschuldet an. Von dieser Kategorie wählen wir eine Oberkategorie von dieser eine weitere usw. Es entsteht eine Kette von Begriffen, die eigentlich zu immer höherer Abstraktion führen sollte. Mitunter entsteht jedoch etwas wie die folgende Sequenz ( denotiert die Relation von der Unterzur Oberkategorie):
www.aifb.uni-karlsruhe.de/WBS/hha/papers/SemanticWikipedia.pdf vom 20. Mai 2007.
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Aeneis Poetry by Virgil Poems by author Works by author Literature Arts Aesthetics Perception Psycholoy Behavioural sciences Behavior Nature Knowledge Information Physical quantity Physics Science Academic disciplines Academia Education Personal development Social psychology Crowd psychology Public opinion Group processes Anticipatory thinking Futurology Future Time Metaphysics Reality Philosophical concepts Philosophical terminology Terminology Vocabulary Language Human communication Communication design Advertising campaign Advertising Media by interest Mass media Information science Applied sciences Technology Humans Apes Primates Mammals Cynodonts Mesozoic animals Mesozoic life Prehistoric life Prehistory Anthropology Museology Cultural studies Critical theory Contemporary art Art history Cultural history Cultural heritage Ethnicity Demography … Bei Demography ist die Reise zur Hauptkategorie erst knapp zur Hälfte bewältigt. Wer sie zur Gänze bestehen will, kann – vorausgesetzt er wählt den richtigen Pfad – noch illustren Begriffen wie Planets of the Solar System, Science fiction und (sic!) Communication of falsehoods begegnen. Offensichtlich funktioniert das Kategoriensystem hier eher wie ein Assoziationsgenerator als wie eine geordnete Terminologie. Ähnliche Beispiele lassen sich zumindest in der englischen Wikipedia leicht finden. Erklären lässt sich das Entstehen solcher hypertropher Strukturen daraus, dass die Autoren einerseits nicht zwischen verwandten und untergeordneten Begriffen unterscheiden und andererseits keinen Überblick über mögliche Fernwirkungen von Eingriffen in das Kategoriensystem haben. Für weitere Schlussfolgerungen sind derartige Strukturen – wenn überhaupt – dann nur mit großer Vorsicht zu verwenden. Begriffsbeziehungen besitzen allenfalls eine lokale Gültigkeit und sind nicht als transitiv anzusehen.
Sprachübergreifender Strukturabgleich von Kategoriensystemen Die oben demonstrierten Konsistenzprobleme in Kategoriensystemen können als Folge schlecht strukturierter Gruppenprozesse angesehen werden. Hier wird es der Wikipedia zum Nachteil, dass sie einerseits mehr will als andere Systeme des Social Tagging – nämlich ein struktu-
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riertes Vokabular – und andererseits kein Instrument zur Verfügung stellt, verschiedene Vorschläge zur Strukturierung des Kategoriensystems gegeneinander zu gewichten und zu bewerten. Dort, wo andere Tagging-Systeme Deskriptorengewichte aus einer Vielzahl von Nutzerentscheidungen ableiten können, steht in der Wikipedia zunächst nichts Gleichwertiges zur Verfügung. Man kann jedoch die mehr als 200 verschiedenen Sprachversionen der Wikipedia als eine Metagruppe auffassen, deren Kategoriensysteme als Vorschläge zu einem noch zu integrierenden Gesamtkategoriensystem zu begreifen sind. Ein entsprechender Algorithmus kann an dieser Stelle noch nicht vorgeschlagen werden. Hier soll anhand des obigen Beispiels nur die Plausibilität dieser Überlegung verdeutlicht werden. Tabelle 9:
Interlanguage-Links in der englischen Wikipedia. Das Konfidenzintervall für den Mittelwert ist bei D=0.01 8,45 - 9,36. Die einzelnen Kategorien aus denen die Kategoriensysteme aufgebaut sind, sind, wie alle anderen Lemmata der Wikipedia35, durch Interlanguage-Links mit ihren Entsprechungen in anderen Sprachen verbunden. Folgende Kriterien können dann überprüft werden:
35 Die Vernetzung durch Interlanguage-Links ist sogar signifikant dichter als die der normalen Lemmata, wie aus den Daten aus Tabelle 6 und 9 und den dort zu beobachtenden Konfidenzintervallen für die Mittelwerte hervorgeht.
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1. In wie vielen Kategoriensystemen ist eine Kategorie präsent? 2. Ist sie mit den gleichen Ober-/Unterkategorien unmittelbar oder durch transitive Begriffsbeziehungen verbunden? Diese Kriterien wurden für die Kategorien des obigen Beispiels anhand von 12 weiteren Kategoriensystemen überprüft. Die Analyse ist im Detail im Anhang dieses Beitrags dargestellt. Zusammenfassend können wir folgende Ergebnisse feststellen: 1. Da die englische Wikipedia über das mit Abstand größte Kategoriensystem verfügt, war zu erwarten, dass eine größere Anzahl von Kategorien nicht bestätigt werden konnte. Als sinnvolle Verschlankung kann der Wegfall der sehr speziellen Kategorien 1, 2 und 50-53 angesehen werden. Die Kategorien 3, 4 und 41 erfüllten ohnehin nur eine gliedernde Funktion innerhalb des englischen Kategoriensystems. 2. Als erstaunlich erscheint die inhaltliche Lücke im Bereich Sprache und Kommunikation, der nur von der englischen Wikipedia berücksichtigt zu sein scheint. In Wirklichkeit liegt hier eine Modellierungsinkonsistenz zwischen den Wikipedias vor. Die englische Wikipedia unterscheidet die Kategorien language und languages. Diese Unterscheidung wird nur von 5 Wikipedias nachvollzogen. Mehr als 100 andere, darunter auch die deutsche Wikipedia, sehen nur eine Kategorie für das Phänomen Sprache vor, die durch Interlanguage-Links mit der englischen Kategorie languages verbunden sind. 3. Auffällig ist, dass bei zahlreichen Paarungen Unklarheit hinsichtlich der Richtung der Begriffshierarchie besteht. Während bei der Paarung 44-45 (Applied sciences Technology) die englische Wikipedia von den anderen schlicht »überstimmt« wird, entsteht bei abstrakten Begriffen wie Nature, Information und Knowledge kein klares Bild. 4. In Einzelfällen wird ein Begriff sowohl als Oberbegriff als auch als Unterbegriff kenntlich gemacht (z. B. Position 46-48 der französischen Wikipedia). Hier liegen zyklische Begriffsrelationen vor. Folgende einfache Heuristiken erscheinen im Lichte dieser Ergebnisse als sinnvoll: 1. Terminologische Inferenzen sind nur dann zulässig, wenn eine Ober-/Unterkategoriebeziehung durch eine weitgehende Mehrzahl der Kategoriensysteme gestützt wird. Dabei muss auch eine klare Mehrheit hinsichtlich der Richtung der Relation bestehen. Auf die-
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se Weise lassen sich in vielen Fällen auch zyklische Verweise sinnvoll auflösen. 2. Besteht Unklarheit hinsichtlich der Richtung der Verknüpfung oder generell über das Bestehen einer hierarchischen Relation, so ist diese Beziehung wie eine nicht-hierarchische Beziehung zu einem verwandten Begriff zu behandeln, soweit die beteiligten Kategorien in der Mehrzahl der Kategoriensysteme präsent sind. 3. In allen weiteren Fällen ist die in Frage stehende Kategorienbeziehung zu ignorieren. Es sind natürlich weitere umfangreiche und detaillierte Studien erforderlich, um die obigen Heuristiken, die hier nur durch ein einfaches Beispiel motiviert wurden, genauer auszuarbeiten und zu bestätigen. Sollte dies gelingen, könnte die Qualität der Kategoriensysteme für automatische Auswertungsprozesse erheblich angehoben werden, ohne dass eine stärkere Kontrolle der Autoren erforderlich würde. Dies ist vor allem deshalb wichtig, weil ein zu rigides Reglement dem Grundkonzept der Wikipedia zuwider liefe. Die Fragestellungen, die hier angesprochen sind, fallen in den Bereich des Ontology-Mapping/Matching – eine Übersicht geben Kalfoglou/Schorlemmer36. Anders als in der typischen Situation des Ontology-Mapping liegt hier mit den Interlinguage-Links aber schon eine, wenn auch nur bedingt verlässliche, Zuordnung vor. Hier besteht eine gewisse Verwandtschaft zum community driven ontology matching37. Der Hauptunterschied liegt in der Einfachheit der hier vorgestellten Heuristiken, die keine intellektuellen Eingriffe, aber auch keine komplexen Inferenzprozesse erfordern.
Fazit Die eingangs formulierte Frage, ob die Wikipedia ein Medium der Ignoranz sei, haben wir in diesem Beitrag so verstanden, dass die Wikipedia anders als andere Medien mit ihrem eigenen Unwissen umgeht. Sie gibt ihre Wissenslücken preis. Die Weiterentwicklung des Korpus – hier lag ein Schwerpunkt dieses Beitrags – unterliegt wenig kontrollierten Gruppenprozessen, kann also durchaus als ignorant bezeichnet werden. Wir
36 Vgl. Yannis Kalfoglou/Marco Schorlemmer: »Ontology mapping: the state of the art«, in: The Knowledge Engineering Review 18/1 (2003), S. 1-31. 37 Vgl. Anna Zhdanova/Pavel Shvaiko: »Community driven ontology mapping«, in: Proc. ESWC 2006, http://www.dit.unitn.it/~p2p/RelatedWork/ Matching/eswc06_ontology_matching.pdf vom 23. August 2007.
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haben eine besondere Klasse von Konsistenzproblemen aufgezeigt, die aus dieser Vorgehensweise resultieren, und haben Heuristiken formuliert, die – so sie sich als erfolgreich erweisen sollten – die gleichen Gruppenprozesse für den Ausgleich dieser Inkonsistenzen ausnutzen. Ignoranz des Mediums kann natürlich auch als mangelnde Qualität der Beiträge verstanden werden. Hier kann mittlerweile auf eine Kollektion von Studien verwiesen werden – eine Übersicht gibt Hammwöhner38 –, die sich mit diesem Thema befassen. Der Wikipedia wird in diesen Studien ein durchweg positives Qualitätsurteil ausgestellt, wenngleich auch Qualitätsprobleme eingeräumt werden. Als Folge der ungesteuerten Weiterentwicklung des Korpus entwickelt die Wikipedia ein ganz eigenes Verständnis von Relevanz. Beiträge über fiktive, einem Film oder Comicreihe entstammende Personen erreichen mitunter eine erheblich höhere Bearbeitungstiefe als solche, die sich mit »wirklich wichtigen« Personen befassen.39 Die Ignoranz des Mediums liege also, so die Kritiker, in seiner Unfähigkeit, das Wichtige zu erkennen. Lassen wir die nicht triviale Frage beiseite, wer denn diesen Kanon der Wichtigkeit bestimmen soll. Auch dieses Problem ist einer sprachübergreifenden Heuristik zugänglich. Sucht man die Lemmata heraus, die in den meisten der Wikipedias40, die über einen solchen Auswahlmechanismus verfügen, als exzellent eingestuft wurden, so finden sich unter den ersten zehn Nennungen Lemmata wie: Schach, Albert Einstein, William Shakespeare, Urknall, Byzantinisches Reich und Napoleon, aber auch Fußballweltmeisterschaft 2006 – hier kann auch der Kritiker der größeren Gruppe einen Sinn für Relevanz nicht absprechen.
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38 Vgl. R. Hammwöhner: Qualitätsaspekte der Wikipedia. 39 Vgl. Konrad Lischka: Wikipedia liebt Paris Hilton & Co, SpiegelOnline: http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,479548,00.html vom 22. August 2007. 40 Stand Mai 2007.
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Anhang Die folgende Tabelle enthält den im Abschnitt »Das Kategoriensystem der Wikipedia« beschriebenen Auszug aus dem Kategoriensystem der englischen Wikipedia. Von Position 1 bis zur Position 64 bestehen jeweils unmittelbare Unter-/Oberkategoriebeziehungen zwischen den benachbarten Einträgen. In der Tabelle sind die Zellen einfach markiert (u), bei denen Interlanguage-Links vom Kategoriensystem der englischen Wikipedia zu demjenigen der jeweiligen Sprache (Tschechisch, Dänisch, Deutsch, Finnisch, Französisch, Italienisch, Niederländisch, Norwegisch, Polnisch, Portugiesisch, Schwedisch und Türkisch) führt. Da auch der Prozess der Definition von Interlanguage-Links fehlerhaft ist, ist es möglich, dass in manchen Sprachen vorhandene Kategorien nicht berücksichtigt wurden. Die weiteren verwendeten Symbole bedeuten: Die Begriffsrelation zum Folgebegriff entspricht derjenigen der englischen Wikipedia. Hier ist der Vorgänger der Oberbegriff, statt umgekehrt. p Die Begriffsrelation ist nur transitiv über Zwischenbegriffe nachvollziehbar. n Über Zwischenbegriffe lässt sich eine Beziehung in Gegenrichtung konstruieren.
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Längere Pfeile bedeuten, dass in der Zielsprache unmittelbare Begriffsrelationen zwischen Begriffen bestehen, die in der englischen Wikipedia nur über transitive Beziehungen verknüpft sind.
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AUTORINNEN
UND
AUTOREN
Daiber, Jürgen, geb. 1961, lebt und arbeitet in Regensburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Gegenwartsliteratur, Literatur und Neue Medien, Romantik und Wissenspoetologie. Dotzler, Bernhard J., geb. 1963, lehrt Medienwissenschaft an der Universität Regensburg und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Fragen der Archäologie des (Medien-)Wissens am Schnittpunkt der Geschichte der Schrift (Literaturgeschichte), der Medien für Bild und Ton (klassische Mediengeschichte) und der Digitalisierung (History of Computing/New Media). Emig, Rainer, geb. 1964, lebt in Frankfurt und lehrt und forscht in Regensburg. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der britischen Literatur und Kultur ab dem 19. Jahrhundert, sowie in der Kriegs- und Genderforschung. Geisenhanslüke, Achim, geb. 1965, ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Regensburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Literaturtheorie und die europäische Literatur vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hammerl, Marianne lehrte an der Universität Regensburg am Institut für Psychologie. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassten die Untersuchung der Mechanismen des Lernens, den Bereich des Affektiven Konditionierens und die Entwicklung von Trainingsverfahren und Techniken zu Teamarbeit und Coaching. Hammwöhner, Rainer, geb. 1956 in Westfalen, ist seit 1996 Inhaber des Lehrstuhls für Informationswissenschaft der Universität Regensburg. Seine Forschungsgebiete sind Hypermedia und Mensch-MaschineInteraktion. In diesem Rahmen befasst er sich auch mit elektronischen Enzyklopädien, insbesondere der Wikipedia.
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Mecke, Jochen, geb. 1956, lebt und forscht in Regensburg, Die Schwerpunkte seiner Arbeitsgebiete liegen in Literatur, Film und Medien in Frankreich und Spanien. Rott, Hans, geb. 1959, lebt, lehrt und forscht in Regensburg. Seine Arbeitsgebiete liegen vor allem in der Philosophischen Logik, Sprachphilosophie, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Sauerland, Martin, geb. 1976, lebt in Regensburg und forscht an der Universität Regensburg. Seine Forschungsinteressen liegen primär im Bereich der Evolutionären Sozialpsychologie. Wolff, Christian, geb. 1966, lehrt und forscht an der Universität Regensburg. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen auf den Gebieten Texttechnologie, Design und Evaluierung web-basierter Informationssysteme, Software Engineering und Information Retrieval.
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ZfK - Zeitschrift für Kulturwissenschaften Birgit Althans, Kathrin Audehm, Beate Binder, Moritz Ege, Alexa Färber (Hg.)
Kreativität. Eine Rückrufaktion Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2008 März 2008, 138 Seiten, kart., 8,50 €, ISSN 9783-9331
ZfK - Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.
Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen die Ausgaben »Fremde Dinge« (1/2007), »Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft« (2/2007) und »Kreativität. Eine Rückrufaktion« (1/2008) vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
www.transcript-verlag.de
Literalität und Liminalität Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.) Medien des Wissens Interdisziplinäre Aspekte von Medialität Juni 2008, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-779-0
Bernhard J. Dotzler, Henning Schmidgen (Hg.) Parasiten und Sirenen Materielle Kulturen der Produktion von Wissen Mai 2008, ca. 220 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-870-4
Achim Geisenhanslüke, Hans Rott (Hg.) Ignoranz Nichtwissen, Vergessen und Missverstehen in Prozessen kultureller Transformationen April 2008, 262 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-778-3
Oliver Kohns Die Verrücktheit des Sinns Wahnsinn und Zeichen bei Kant, E.T.A. Hoffmann und Thomas Carlyle 2007, 366 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-738-7
Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Schriftkultur und Schwellenkunde Mai 2008, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-776-9
Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Grenzräume der Schrift Mai 2008, 292 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-777-6
Achim Geisenhanslüke Das Schibboleth der Psychoanalyse Freuds Passagen der Schrift April 2008, 158 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-877-3
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de