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German Pages 527 Year 1982
Begründet von Karl Engisch, H. L. A. Hart, Hans Kelsen, Ulrich Klug, Sir Karl R. Popper Herausgegeben von Mikhail Antonov, Francesco Belvisi, Wilfried Bergmann, Harold J. Berman Antonis Chanos, Juan Antonio García Amado, María José García Salgado Athanasios Gromitsaris, Thomas Hoeren, Sergej Korolev, Werner Krawietz Raul Narits, Andrey Polyakov, Jürgen Schmidt, Rainer Schröder Martin Schulte, Boris N. Topornin, Dieter Wyduckel
Beiheft 4
Ideologiekritik und Demokratietheorie bei Hans Kelsen Herausgegeben von
Werner Krawietz / Ernst Topitsch Peter Koller
Duncker & Humblot · Berlin
Ideologiekritik und Demokratietheorie bei Hans Kelsen
RECHTSTHEORIE Zeitschrift für Logik, Methodenlehre, Kybernetik und Soziologie des Rechte
Beiheft 4
Ideologiekritik u n d Demokratietheorie bei Hans Kelsen
Herausgegeben von Werner Krawietz / Ernst Topitech Peter K o l l e r
D U N C K E R
&
H U M B L O T
/
B E R L I N
Zitiervorschlag: Ernst Topitsch, Hans Kelsen — Demokrat u n d Philosoph, in: RECHTSTHEORIE Beiheft 4 (1982), S. 11 - 27.
Alle Rechte vorbehalten © 1982 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1982 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Printed In Germany ISBN 3 428 05063 0
V orwort Aus Anlaß von Hans Kelsens 100. Geburtstag ( M l . Okt. 1881) fand auf Schloß Retzhof bei Leibnitz vom 15. bis 17. Mai 1981 das Symposium „Ideologiekritik und politische Theorie bei Hans Kelsen" statt. Bedeutende Wissenschaftler feiert man, indem man sich ihrem Streben, die Welt zu verstehen und durch dieses Verständnis eine Leitlinie des Lebens zu finden, anschließt. Die Feiern bezwecken in keiner Weise, eine Gefolgschaft zu demonstrieren, sondern es geht nur darum, einerseits die markante Persönlichkeit des Wissenschaftlers und Denkers zu verstehen, und andererseits darum, an der Problematik, die Gegenstand seiner Arbeit war, weiter zu forschen — gleichgültig ob i n seinem Geiste oder auf anderen Wegen. I n diesem Sinne sollte das Symposium eine Ehrung von Hans Kelsen sein. Die wissenschaftlichen Ergebnisse dieses Treffens sind in diesem Sammelband zusammengefaßt. Kelsen war Jurist, einer der bedeutendsten Strukturtheoretiker des Rechts. I n diesem Bereich ist sein Standpunkt vor allem durch die Forderung nach Objektivität und Wertfreiheit der juristischen Erkenntnisse charakterisiert. Vorbedingung der objektiven Erkenntnis des Rechts und einer rein kognitiven, unpolitischen und nicht-wertenden Rechtswissenschaft, ist die strikte Trennung der Fr^ge nach dem, was — in einem gewissen Rechtssystem — rechtens gilt, von der Frage, was rechtens sein sollte. Kelsens Rechtswissenschaft geht also von der Unterscheidung von Überlegungen de lege lata und Überlegungen de lege ferenda aus, oder um mit Bentham zu sprechen: von der Unterscheidung der darlegenden (expository) und beurteilenden (censorial) Jurisprudenz aus, wobei Kelsen nur die darlegende Jurisprudenz als echte Wissenschaft ansieht. De-lege-ferenda-Argumentationen, also rechtspolitische Überlegungen, die inhaltliche Wertungen des Rechts sind, stellen keine Erkenntnisaufgabe dar und sind daher keine echte Wissenschaft im Kelsenschen Sinne, sondern ein Versuch des Denkers, i m Sinne seiner eigenen Konzeptionen für Stellungnahmen zu plädieren. Es wäre meines Erachtens unrichtig, würde man diese Forderung Kelsens nach einer Ausklammerung der rechtspolitischen Überlegung aus der Jurisprudenz so deuten, als betrachte er den aktuellen Inhalt des Rechts für rein w i l l k ü r l i c h und als wäre er nicht bereit, sich für inhaltliche Rechtskonzeptionen, d. h. sich rechtspolitisch zu engagieren.
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Vorwort
Er ist i m Gegenteil davon überzeugt, daß der Inhalt des Rechts von gesellschaftlichen und ideologischen Strukturen abhängig ist, und er engagiert sich als Mensch und Forscher mit voller Intensität für eine demokratische Weltanschauung und Lebensform. Kelsen t r i t t aber immer — i m Geiste seines Objektivitätspostulates — für eine scharfe Trennung zwischen der Strukturtheorie des Rechts und der rechtsdogmatischen Analyse auf der einen Seite und rechtspolitischen Überlegungen auf der anderen Seite ein. Während der mehr als 60 Jahre, i n denen Kelsen als Rechtstheoretiker tätig war, hat er eine Strukturtheorie des Rechts entwickelt — in Zusammenarbeit mit Adolf Merkl und Franz Weyr —, die in der dynamischen Konzeption des Rechtssystems gipfelt. Er hat eine juristische Methodenlehre dargelegt, die man gewöhnlich als 'Reine Rechtslehre' bezeichnet und die allgemein bekannt, wenn auch heiß umstritten ist. Ich wage die Behauptung, daß Kelsens Strukturtheorie des Rechts wohl die umfassendste Lehre dieser A r t ist. Diese hohe Anerkennung w i r d durch meine Überzeugung, daß Kelsen viele strukturtheoretische Probleme i n unangemessener Weise konzipiert und insbesondere in seiner Spätlehre zu unhaltbaren Auffassungen gelangt 1 , kaum geschmälert. Die wissenschaftliche Bedeutung von Hans Kelsen beschränkt sich keineswegs auf den Bereich der Strukturtheorie des Rechts; sein Beitrag zur Demokratietheorie und seine Arbeiten zu Problemen der Ideologiekritik, die i n der philosophischen Forschung zur Weltanschauungsanalyse ausgebaut wurde, sind von gleichrangiger Bedeutung. Die Veranstalter des Symposiums, die Österreichische Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie, das Bildungshaus Retzhof des Landes Steiermark und das Institut für Rechtsphilosophie der Karl-Franzens-Universität Graz, haben sich entschlossen, gerade die Probleme der Ideologiekritik und der Demokratietheorie zum Gegenstand des Symposiums zu machen. Dieser Entschluß war unter anderem auch durch die Überzeugung motiviert, daß Kelsens Anregungen i n diesem Bereich auch heute noch fruchtbar sind und daß für unser demokratisches Leben eine ausführliche Forschung i n diesen Bereichen und Diskussionen über diese Fragen von großer Wichtigkeit sind. Kelsens Beitrag zu den beiden erwähnten Problemkreisen sollte einerseits unter dem hermeneutischen Horizont unserer Zeit betrachtet werden, andererseits sollte i n diesen Bereichen neue Forschungsarbeit 1 Siehe O. Weinberger, Normentheorie als Grundlage der Jurisprudenz u n d E t h i k . Eine Auseinandersetzung m i t Hans Kelsens Theorie der Normen, B e r l i n 1981.
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Vorwort
geleistet werden, die sich mit Kelsen kritisch auseinandersetzt und gegebenenfalls auch solche Konzeptionen erbringen sollte, die von Kelsen unabhängig entstanden sind. Es besteht meiner Meinung nach kein Zweifel, daß Kelsen noch immer einen tiefen Einfluß, insbesondere auf die österreichische Jurisprudenz und die Auffassung der Rechtspolitik ausübt, soweit diese von Rechtswissenschaftlern betrieben wird. Dieser Einfluß macht sich auch noch bei den ausdrücklichen Kelsen-Gegnern bemerkbar. Man richtet sich dabei vielfach stillschweigend nach Kelsens Ratschlägen oder man akzeptiert oft das, was mir problematisch erscheint, und lehnt das ab, worin Kelsen i m wesentlichen recht hat. W i r wollten durch die Arbeit bei unserem Symposium eine neue Einstellung zu Kelsens Werk gewinnen und zu ideologiekritischen sowie insbesondere demokratietheoretischen Analysen anregen. W i r wollten keine KelsenRenaissance hervorrufen, sondern i m Geiste seiner Ideen, der kritischen Analyse, der wissenschaftlichen Redlichkeit und der demokratischen Toleranz die Forschung auf diesem gesellschaftlich so wichtigen Gebiet fortsetzen. Ich hoffe, die vorgelegten Arbeiten werden den Leser davon überzeugen, daß w i r ein Stück Arbeit in dieser Richtung geleistet haben. Graz, i m Juni 1981 Ota Weinberger
Inhaltsverzeichnis Ernst Topitsch: Hans Kelsen — Demokrat und Philosoph
11
I . Geschichte und Bedeutung der Ideologiekritik Michael W. Fischer : Ideologische Wurzeln des zeitgenössischen Terrorismus
31
Clemens Jäbloner: Bemerkungen zu Kelsens „Vergeltung u n d Kausalität", besonders zur Naturdeutung der P r i m i t i v e n
47
Friedrich Lachmayer : Ideologiekritik u n d Deutungskampf
63
Kazimierz Opalek: Kelsens K r i t i k der Naturrechtslehre
71
Peter Römer : Die K r i t i k Hans Kelsens an der juristischen Eigentumsideologie
87
Peter Strasser: A u f k l ä r u n g über die Aufklärung? Bemerkungen zur A u f k l ä r u n g als Ideologiekritik u n d zur K r i t i k an der Ideologie der A u f k l ä r u n g 103 Robert Walter: Kelsens neue Ideologiekritik i n der „Allgemeinen Theorie der Normen" 125 I I . Demokratie und Rechtssystem Norbert Achterberg: Rechtsnorm u n d Rechtsverhältnis i n demokratietheoretischer Sicht . . 133 Dieter Grimm: Z u m Verhältnis von Interpretationslehre, Verfassungsgerichtsbarkeit u n d bemokratieprinzip bei Kelsen 149 Vladimir KubeS: Demokratie u n d Rechtssystem i n philosophischer Sicht
159
Wolf gang Manti: Hans Kelsen u n d Carl Schmitt
185
Theo Mayer-Maly: K o d i f i k a t i o n u n d Rechtsklarheit i n der Demokratie
201
Inhaltsverzeichnis
10
Theo Öhlinger: Repräsentative, direkte u n d parlamentarische Demokratie
215
Heinz Schaff er: Verfassung als Tabu
231
Robert Weimar: Der Bedeutungswandel des Gesetzes
241
Gerhart Wielinger: Demokratisches Hans Kelsen
Prinzip,
Parteienstaat
und
Legalitätsprinzip
Jerzy Wróblewski: Democracy and Procedural Values of L a w - M a k i n g
bei
263 275
I I I . Demokratie und politische Theorie Klaus Adomeit: Piaton und Kelsen über Wesen und Wert der Demokratie
293
Ossip K. Flechtheim: Kelsens K r i t i k am Sozialismus
309
Peter Koller: Z u einigen Problemen der Rechtfertigung der Demokratie
319
Werner Krawietz: Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?
345
Norbert Leser: Kelsens Verhältnis zum Sozialismus und Marxismus
423
Erhard Mock: Hans Kelsens Verhältnis zum Liberalismus
439
Gerald Mozetiö: Hans Kelsen als K r i t i k e r des Austromarxismus
445
Manfred Prisching: Formale und soziale Demokratie
459
Leo Reisinger: Der Staatsbegriff Kelsens und Luhmanns Theorie sozialer Systeme . . 483 limar Tammelo: V o m Wert u n d Unwert der Demokratie
491
Ota Weinberger: Rechtspositivismus, Demokratie und Gerechtigkeitstheorie
501
Verzeichnis der Mitarbeiter
525
HANS KELSEN — DEMOKRAT UND PHILOSOPH Von Ernst Topitsch, Graz Während Hans Kelsen als „Jurist des Jahrhunderts" verdienten Weltruhm genießt, hat er als politischer Mensch und Denker bisher keine vergleichbare Würdigung erfahren und als Philosoph ist er noch immer weithin unentdeckt. Doch war er Philosoph in doppelter Hinsicht: als Forscher und Denker, der tief in Grundmuster menschlicher Weltauffassung und Selbstdeutung eingedrungen ist, und — in geradezu antikem, exemplarischem Sinne — als Verkörperung der moralischen und intellektuellen Haltung des geistigen Menschen gegenüber den Mächten und den Mächtigen. Daher darf ich zunächst versuchen, dem Philosophen Kelsen hier wieder ein wenig von meiner Dankesschuld abzustatten; ihm, nicht dem Juristen, bin ich zuerst begegnet. Wenn ich dabei auf einige persönliche Erinnerungen zurückgreife, so erscheint dies aber vor allem dadurch gerechtfertigt, daß sie in das Bild einer kulturpolitischen Landschaft eingefügt sind, die sich seit Kelsens Fortgang aus Österreich an wichtigen Punkten nicht entscheidend verändert hatte. Als ich i m Herbst 1937 an der Universität Wien als Erstsemester immatrikulierte, war der Einfluß der aufklärerisch-liberalen Traditionen i m akademischen wie im öffentlichen Leben weitgehend geschwunden. Das war kein Zufall. Schon auf dem Katholikentag i m November 1907 hatte der christlichsoziale Bürgermeister von Wien, K a r l Lueger, die Parole ausgegeben: „Ich hoffe, daß w i r auch jene Universitäten zurückerobern, die unsere Kirche gegründet hatte" 1 , und diese Politik wurde dann i m christlich-autoritären („kleriko-faschistischen") Ständestaat der Jahre 1934 - 1938 verstärkt fortgesetzt. Außerdem war in der nationalliberal-großdeutschen Bewegung die nationalistische Komponente immer einflußreicher geworden. Mehr und mehr wurden die Liberalen zurückgedrängt, und Sozialdemokraten waren an den Universitäten ohnedies weiße Raben. Den Nationalsozialisten blieb nur mehr der letzte Schritt zu tun. Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß dann eine Reihe bürgerlich-konservativer Professoren die Gewaltherrschaft vorsichtig oder mitunter sogar recht offen und mutig kritisierten. 1 Zit. n. W. M . Johnston , Österreichische K u l t u r - und Geistesgeschichte, Wien - K ö l n - Graz 1974, S. 75.
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Ernst Topitsch
I m Zuge dieser Entwicklung war Kelsen schon 1930 aus Österreich verdrängt worden. Das Problem der Dispensehen hatte zu einem Konflikt um den Verfassungsgerichtshof geführt und Kelsen wurde durch die Verfassungsreform von 1929 aus jenem Gerichtshof entfernt. Dieser Affront, aber auch zahlreiche öffentliche und inneruniversitäre Anfeindungen veranlaßten ihn dann, einen Ruf nach Köln anzunehmen. Wenige Jahre später wurde Heinrich Gomperz mit gekürzten Bezügen zwangspensioniert, da er nicht der „Vaterländischen Front" des autoritären Ständestaates beitreten wollte. Auch er wanderte ins Ausland ab. Moritz Schlick wurde 1936 — allerdings nicht aus politischen Motiven — ermordet. Der „Wiener Kreis" zerfiel, viele seiner Mitglieder wanderten aus, K a r l Popper ging nach Neuseeland. Auch Sigmund Freud war i m Ständestaat bloß geduldet und mußte nach dem gewaltsamen Anschluß Österreichs emigrieren. Die Folgen dieser schweren Verluste haben weit über das Ende des Zweiten Weltkrieges hinaus fortgewirkt. Sie wurden noch dadurch verstärkt, daß sich nach der Beseitigung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft abermals klerikal-restaurative Kräfte der ministeriellen Hochschulverwaltung bemächtigen und die Politik der administrativen Verchristlichung der Universitäten fortführen konnten. Was in der Welt als repräsentative und richtungweisende geistige Leistung Österreichs anerkannt, ja bewundert wurde, blieb i m Lande selbst unerwünscht. Stattdessen verbreitete sich — auch gefördert durch die wirtschaftliche Lage — eine Atmosphäre selbstgenugsamer provinzieller Dumpfheit und schleichender intellektueller Unredlichkeit. So war das geistige Klima, als ich — damals Assistent am Philosophischen Institut in Wien — begann, mich aus dem dogmatischen Schlummer zu lösen und Illusionen den Abschied zu geben. Es war eine ernüchternde Zeit. Unter dem Eindruck der Schrecken des Krieges und der Diktatur sehnten sich viele Menschen — und ich schäme mich nicht, auch zu ihnen gehört zu haben — nach einer besseren Welt, doch wie zum Hohn auf diese naiven Sehnsüchte zeigte uns die Geschichte abermals ihr grimmiges Antlitz. Neue Probleme und Gefahren tauchten am Horizont auf. Überdies hatte meine Generation schon mehrfach den Zugriff ideologischer Mächte erlebt, deren rasche Abfolge i n schneidendem Widerspruch zu ihren oft mit äußerster Härte vertretenen Absolutheitsansprüchen stand. Das führte mehrfach zu der bitteren Alternative, entweder sich opportunistisch den jeweiligen Verhältnissen anzupassen oder — meist unter Inkaufnahme von Nachteilen und notfalls mit dem Rücken zur Wand — um die Integrität und Selbstachtung als Mensch und Wissenschaftler zu kämpfen. Wer die letztere Haltung wählte, mußte auf den Gedanken kommen, sich mit einem radikalen,
Hans Kelsen — Demokrat und Philosoph
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bis zu den Wurzeln vordringenden Gegenangriff auf das ideologische Denken zumindest ein wenig Luft zu verschaffen. Unter diesen Voraussetzungen ging ich daran, entsprechende Literatur aufzustöbern, wobei ich auch auf Kelsen stieß, von dem ich bisher kaum etwas gehört hatte. Dieser damals geringe Bekanntheitsgrad hatte seine Gründe. I m christlich-autoritären Ständestaat war Kelsen persona non grata gewesen, die Nationalsozialisten hatten ihn als Ausbund zersetzender jüdischer Intellektualität betrachtet, und die Matadore der Nachkriegsrestauration waren i m Grunde froh, daß ihnen die vorangegangenen Machthaber diesen unbequemen Geist zunächst einmal vom Halse geschafft hatten. Aus den Schriften dieses Denkers sprach eine Gesinnung, die später Rudolf A. Métall treffend charakterisierte, wenn er es als „eines der bleibenden Verdienste Hans Kelsens" bezeichnete, daß dieser „unbeirrt durch Zeit und Umstände, seine gesamte Tätigkeit als Gelehrter der Reinheit der Wissenschaft, als einer Erkenntnis frei von politischen Einflüssen, gewidmet hat" 2 . Diese Gesinnung spricht auch aus den m i r damals noch unbekannten Sätzen, die Kelsen i n seiner Autobiographie der Erklärung seiner Sympathie für die Sozialdemokraten folgen läßt: „Stärker als diese Sympathie war und ist mein Bedürfnis nach parteipolitischer Unabhängigkeit in meinem Beruf. Was ich dem Staat nicht zubillige: das Recht, die Freiheit der Forschung und Meinungsäußerung zu beschränken, kann ich auch einer politischen Partei, durch freiwillige Unterwerfung unter ihre Disziplin, nicht einräumen 3 ." Diese Gesinnung unbedingter und unbestechlicher intellektueller Redlichkeit angesichts der Bedrohung oder Verlockung durch die jeweiligen Machthaber ließ mir Kelsen — abgesehen von seinen wissenschaftlichen Leistungen — als Philosophen i m Sinne eines Vorbildes für den geistigen Menschen erscheinen. Doch Kelsen hatte auch als Ideologiekritiker und Weltanschauungsanalytiker viel zu bieten. Besonders aktuell war seine K r i t i k an den Naturrechtslehren, denn zumal von katholischer Seite wurde damals die Behauptung verbreitet, das christliche Naturrecht sei der einzig wahre, weil metapysisch begründete Rückhalt gegen die totalitären Mächte, vor allem gegen den gottlosen Bolschewismus. So war denn auch i m damaligen Österreich ein rückhaltloses Bekenntnis zu diesem Naturrecht der akademischen Karriere förderlich. Die Tatsache, daß seinerzeit prominente Vertreter des scholastischen Naturrechts dieses auch benützt hatten, um den Nationalsozialismus 2
3
R. A. Métall , Hans Kelsen. Leben und Werk, Wien 1969, S. 112.
Oers., ebd., S. 33.
Ernst Topitsch
oder wenigstens die zeitweilige Kollaboration der Kirche mit jenem Regime metaphysisch zu begründen 4 , wurde damals ängstlich vertuscht und war auch m i r noch unbekannt. Dennoch fühlte ich mehr als ich wußte, daß irgendwie ein Falschspiel im Gange war. Zusammen mit den Schriften ihm geistesverwandter Denker verschafften m i r Kelsens Werke mehr Klarheit. Die Ideologiekritik Kelsens war ja selbst bereits in der Auseinandersetzung mit jener Renaissance des Naturrechts entstanden, die sich seit dem Ende des Ersten Weltkriegs i m Rahmen der allgemeinen Tendenz zu einer neuen Metaphysik und Religiosität besonders in bürgerlichen Kreisen durchgesetzt hatte. Diese Entwicklung erreichte nach dem Zweiten Weltkrieg in der Restaurationsatmosphäre Westdeutschlands und zumal Österreichs einen zweiten Höhepunkt, aber wer gegenüber den Restaurationsideologien seine geistige Selbständigkeit wahren wollte, fand bei Kelsen einen wertvollen Rückhalt. Das zentrale Motiv des gesamten Wirkens dieser außerordentlichen Persönlichkeit lag jedoch noch tiefer. Es war die Verteidigung der Freiheit, besonders der geistigen Freiheit, gegen jede Form der Unterdrückung, von welcher Seite auch immer. Dieses höchste Ziel war für den demokratischen Politiker wie für den ideologiekritischen Philosophen Kelsen gleichermaßen richtungweisend. Das ist vielleicht nirgends deutlicher geworden als in der durch ihre Klarheit und Prägnanz klassischen Schrift „Staatsform und Weltanschauung" und dem Aufsatz „Verteidigung der Demokratie". Diese Arbeiten entstanden, als nicht nur die Weimarer Republik unter der Wucht der Wirtschaftskrise und des Ansturms totalitärer Kräfte von „rechts" und „links" zusammenzubrechen begann, sondern vielerorts in Europa neue autokratische Mächte i m Vordringen waren. Angesichts dieser Bedrohung ist Kelsen nicht den bequemen Weg der Anpassung gegangen, vielmehr für die gefährdete Demokratie mit einem Mut, einer Entschiedenheit und einer bei allem Engagement kühlen geistigen Souveränität eingetreten wie nur wenige seiner Zeitgenossen. I n diesem Zusammenhang ist auch die Verwandtschaft von Demokratie und Ideologiekritik deutlich zum Ausdruck gekommen, insoferne nämlich „ i n der Demokratie mit der rationalistisch-kritischen Grundstimmung eine gewisse antiideologische oder nicht sehr ideologiefreundliche Haltung verbunden ist, während die Autokratie gerade mit größter Energie darauf bedacht ist, sich mit spezifisch religiös-mystischen Ideologien zu umgeben, und gegen den Versuch, diese ihre Macht stützenden Vorstellungen anzutasten, mit noch viel größerer Härte 4 Vgl. A. M. Knoll, Katholische Kirche und scholastisches 2. Aufl., Neuwied - B e r l i n 1968.
Naturrecht,
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vorgeht als gegen die Verletzung ihrer unmittelbaren und realen Herrschaftsinteressen" 5 . So ist der Kampf gegen die Ideologien, die nicht an die nüchterne Klarheit der Erkenntnis, sondern an die dunklen, irrationalen Kräfte der menschlichen Seele appellieren, zugleich ein Kampf für Demokratie und Geistesfreiheit. Allerdings operieren auch Demokratien — oder richtiger: die Machthaber in diesen — mit ideologischen Argumenten, die selbstverständlich von der K r i t i k nicht ausgenommen werden können. Doch sind es rationalere und daher schwächere Ideologien als jene der Autokratie, da diese als viel intensivere Form der Herrschaft einen dichteren Schleier braucht, um ihre wahre Natur zu verhüllen. Wenn aber die Demokratie mitunter versucht, dieselben ideologischen Vorstellungen zu benützen wie die autokratischen Systeme, so begibt sie sich in eine wenig vorteilhafte Position: „Was als Charisma eines einzigen Führers der Masse suggeriert werden kann, das läßt sich nicht gut auf die Vielen, die Allzuvielen, auf Herrn Jedermann übertragen: die höchstpersönliche Beziehung zum Absoluten, zur Gottheit, als deren Bote, Werkzeug, Nachkomme der Autokrat sich darstellt. Wollte die i n ihrem innersten Kern rationalistische Demokratie sich so legitimieren, sie käme der Fabel vom Esel in der Löwenhaut bedenklich nahe 6 ." Diese und ähnliche Passagen sind angesichts jener antidemokratischen und irrationalistischen Grundwelle geschrieben, die damals über Europa aufschäumte. Kelsen gab sich über den Ernst der Lage nicht den geringsten Illusionen hin. „ A n dem dunklen Horizont unserer Zeit steigt ein neues Gestirn auf, dem sich die Hoffnung nicht nur des Bürgertums, sondern auch eines Teiles der proletarischen Massen um so gläubiger zuwendet, je blutiger sein Glanz über ihnen leuchtet: die Diktatur 7 ." Während damals die Massen, aber auch viele sogenannte Intellektuelle diesem unheilvollen Gestirn i n einer A r t von selbstzerstörerischer Trance folgten, verhallten Kelsens Kassandrarufe ungehört, und doch muten sie heute i n vielem prophetisch an, ja vieles ist von beklemmend unveränderter Aktualität. Die Freiheit „ist in jeder anderen als der demokratischen Staatsform unrettbar verloren. Vor allem i n der Diktatur, mag das nun eine sozialistische oder nationalistische sein. Mit der politischen Selbstbestimmung muß aber zwangsläufig — das lehrt jedes Blatt der Geschichte — die geistige Freiheit verschwinden. Die geistige Freiheit: das bedeutet die Freiheit 5 H. Kelsen, Staatsform u n d Weltanschauung, Tübingen 1933, zit. n. H. Kelsen, Demokratie u n d Sozialismus. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. v. N. Leser, Wien 1967, S. 49. 6 Ders., ebd., S. 50. 7 H. Kelsen, Verteidigung der Demokratie, „Blätter der Staatspartei", A p r i l 1932, neu abgedr. in: ders., Demokratie und Sozialismus. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. v. N. Leser, Wien 1967, S. 60.
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Ernst Topitsch
der Wissenschaft, die Freiheit der sittlichen, künstlerischen und religiösen Überzeugung. Die Intellektuellen, die heute gegen die Demokratie kämpfen und damit den Ast absägen, auf dem sie sitzen, sie werden die Diktatur, die sie rufen, wenn sie erst unter ihr leben müssen, verfluchen, und nichts mehr ersehnen als die Rückkehr zu der von ihnen so verlästerten Demokratie" 8 . Geistige Freiheit kann — wie Kelsen zu betonen nicht müde w i r d — nur in einer demokratischen Ordnung existieren, der eine anti-ideologische, kritisch-relativistische, auf objektiv-wertfreie Erkenntnis gerichtete Sozialtheorie entspricht, während die Autokratie ihre Rechtfertigung durch politisch-religiöse, absolutistische und i m Wesen theologische Gesellschaftslehren zu gewinnen sucht. „Alle großen Metaphysiker haben sich gegen Demokratie und für Autokratie entschieden; und die Philosophen, die der Demokratie das Wort gesprochen, sie haben fast immer einer empirisch-relativistischen Grundauffassung zugeneigt 9 ." Den Ahnherrn der autokratischen Metaphysik hat Kelsen in seiner etwa gleichzeitig entstandenen, klassischen Untersuchung „Die platonische Gerechtigkeit" behandelt. Hier zeigt er, wie der griechische Denker mit der Frage nach der absoluten Gerechtigkeit verfuhr, indem er sie immer wieder von einer Ebene auf eine andere verschob, dort aber immer wieder unbeantwortet ließ. Durch dieses ständige Hinausschieben w i r d schließlich das absolut Gute zur Gottheit emporgehoben, die nicht mehr einer allgemeinen rationalen Erkenntnis, sondern nur der überrationalen Schau einzelner Auserwählter zugänglich ist. Die übrigen Menschen können dem so Begnadeten auf seinem Heilsweg nicht folgen, sondern ihr Heil nur in der vollkommenen Unterwerfung unter seine Autorität finden. So bleibt für das Volk „als einer Masse politisch Rechtloser, nur der Glaube — nicht eigentlich unmittelbar an Gott, den zu schauen ihnen nicht vergönnt ist, sondern an das Wissen des Regenten, an sein Charisma. Dieser Glaube ist die Grundlage des unbedingten Gehorsams der Untertanen, auf dem die Autorität des platonischen Staates aufgebaut ist. Die Mystik Piatons, dieser vollkommenste Ausdruck des Irrationalismus, ist eine Rechtfertigung seiner antidemokratischen Politik, ist die Ideologie jeder Autokratie" 1 0 . Immer wieder ist im Namen des absolut Guten oder des Heiles ein politischer Absolutismus vertreten worden, mochte es nun jener eines 8
H. Kelsen, Demokratie und Sozialismus, S. 67. H. Kelsen, Staatsform u n d Weltanschauung, S. 55. 10 H. Kelsen, Die platonische Gerechtigkeit, „Kant-Studien" 38 (1933), neu abgedr. in: ders., Aufsätze zur Ideologiekritik, hrsg. v. E. Topitsch, Neuwied - B e r l i n 1964, S. 230. 9
Hans Kelsen — Demokrat und Philosoph
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Monarchen oder eines Diktators, einer Priester- oder einer Kriegerkaste, einer Klasse oder einer Partei sein. Wer überzeugt ist oder sich die Überzeugung verschafft, ein Wissen um das Heil schlechthin zu besitzen, w i r d sich berechtigt fühlen, „seinen Willen, als den Willen des absoluten Guten, auch gegen die Majorität, ja gegen eine Welt von Ungläubigen, Verblendeten, weil anders Wollenden, durchzusetzen" 11 . Gerade das aber ist „der Standpunkt des Gottesgnadentums einer Autokratie, die i m vergangenen Jahrhundert zum Angriffsziel für alles geworden ist, was für geistige Freiheit, für dogmenbefreite, auf dem menschlichen Verstände und dem Zweifel der K r i t i k gegründete Wissenschaft, politisch aber für Demokratie w a r " 1 2 . Kelsens K r i t i k richtet sich aber nicht nur gegen die älteren Formen des Gottesgnadentums, sondern mit gleichem Nachdruck auch gegen dessen sozialistische und zumal marxistische Ausgestaltungen. Es ist ihr keineswegs entgangen, daß das Denken von Marx und vielen seiner Anhänger auf gleichen oder ähnlichen Grundmodellen beruht wie jenes der traditionellen autokratischen Ideologien der „Rechten" und daher an den gleichen Fehlern leidet. Es fehlt hier wie dort die Unterscheidung von Sein und Sollen, von empirischer Wissenschaft, moralischer Wertung und politischer Programmatik oder Agitation. So erweist sich der Marxismus als verkapptes Naturrecht, aber er trägt auch wichtige Züge eines autokratischen und theologischen Systems. Kelsen zitiert mit Zustimmung auch Gerlichs Buch „Der Kommunismus als Lehre vom Tausendjährigen Reich" (1920), wo dieser den religiöschiliastischen Charakter des kommunistischen Sozialismus nachzuweisen versucht: Ähnlich wie die platonischen Philosophenkönige sind die revolutionären Proletarier (oder deren Führer) „Erleuchtete", deren Erlöserkraft sie zur Diktatur berechtigt 13 . Dementsprechend weist der Ideologiekritiker auf die aristokratischautokratische Natur des Sowjetsystems h i n und betont mit beißender Ironie, daß jede herrschende Klasse ihren Klassencharakter zu tarnen versucht, indem sie mit dem Anspruch auftritt, „die ,Gesellschaft' schlechtweg zu sein oder doch kraft ihrer besonderen Qualifikationen die ganze Gesellschaft zu repräsentieren" 14 . Das hat die sogenannte bürgerliche Gesellschaft getan und die Sozialisten haben diese Fiktion erbarmungslos zerpflückt, doch nun bedient sich der Sozialismus bei seiner Apologie des proletarischen Klassenstaates ebenderselben Fiktion. Diese marxistische Behauptung ist keine stichhaltige Rechtfertigung, „nein, das ist die dogmatische Verabsolutierung des politischen 11 12 13 14
H. Kelsen, Staatsform u n d Weltanschauung, S. 57. Ders., ebd., S. 57 f. H. Kelsen, Sozialismus und Staat, 2. Aufl., Leipzig 1923, S. 37 f. Ders., ebd., S. 189.
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Ernst Topitsch
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Ideales einer bestimmten Gesellschaftsanschauung, das ist die typische Fiktion jedes aristokratischen und autokratischen Regimes, das ist vor allem die Ideologie der Theokratie" 1 5 . Ein solcher politischer Mystizismus spielt auch i n der marxistischen Lehre vom Absterben des Staates und von der klassen- und staatslosen Zukunftsgesellschaft eine entscheidende Rolle, wobei es Kelsen natürlich nicht entgeht, daß Marx und seine Nachfolger darüber kaum irgendwelche greifbaren Aussagen gemacht haben. Man müsse die Naivität bewundern, „mit der die Vernichtung des Staates i n ein politisches Programm aufgenommen wird, bevor man weiß oder auf Grund w i s senschaftlicher' Erkenntnis wissen zu können glaubt, welch weiterer Schritt zu erfolgen h a t " 1 6 . Wie man ohne Staatsfunktionen, also ohne Zwang und Herrschaft, i n einer sozialistischen Planwirtschaft „die in einen höchst komplizierten, nur bei weitestgehender Arbeitsteilung funktionierenden Wirtschaftsplan eingeordnete A r b e i t " 1 7 der Menschen koordinieren w i l l , bleibt vollends ein Rätsel. So sehen sich die Sozialisten mitunter zu der Behauptung genötigt, in der neuen, solidarischen Gesellschaft werde ein neuer Mensch entstehen, was einer Flucht in das „Nebelland der Utopie" 1 8 gleichkommt. Für den nüchternen Betrachter aber bleibt es „mehr als paradox, daß der Staat, der bei seiner Umwandlung aus dem bürgerlichen in den proletarischen Zwangsapparat in ungeahnter Weise an Machtfülle und Kompetenz zunimmt, gerade in dem Augenblicke, da er den Gipfelpunkt dieser Entwicklung erreicht, verschwinden, sich auf rätselhafte Weise i n nichts auflösen" soll. „Hier schlägt die zu sich selbst gekommene Idee in ihr Gegenteil um? Nein, hier ist ein Wunder, glaubet nur! Aber es ist vielleicht vorsichtiger, sich auf dem Gebiete empirischer Politik — zumal wenn es sich um eine Prophetie handelt — nicht auf die Spekulation der Dialektik, sondern auf die nüchterne Erfahrung zu stützen 19 ." Dieses „Wunder" läßt sich auch auf etwas andere Weise bewerkstelligen. Es ist nämlich leicht, die von „Ausbeutung", „Unterdrükkung", „Zwang" und „Gewalt" freie Gesellschaft herzustellen, wenn man etwa die Sprachregelung trifft, daß die Maßnahmen der revolutionären Autokraten, die im Namen der Revolution gesetzt werden, per definitionem keine Ausbeutung, Unterdrückung usw. sind — sogar die Errichtung von Zwangsarbeitslagern und die Ausmordung ganzer 15 16 17 18 19
Ders., Ders., Ders., Ders., Ders.,
ebd., ebd., ebd., ebd., ebd.,
S. 190. S. 70. S. 93. S. 111, vgl. S. 148. S. 49, vgl. S. 107 ff.
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Bevölkerungsteile. Ähnlich haben übrigens audi revolutionäre Anarchisten argumentiert, und Kelsen fügt m i t bitterem Sarkasmus hinzu: „Da müßte man doch wohl erst das Urteil der i n der anarchistischen Gesellschaft Gefolterten, Eingesperrten, zu Tode Bestraften abwarten 2 0 ." Freilich hat es oft auch gläubige Revolutionäre gegeben, die jene Ausdrücke i n der üblichen Bedeutung verstanden und so naiv waren, die Erfüllung der Befreiungsversprechungen einzumahnen. Das wurde allerdings von den i m Namen der Herrschaftsfreiheit Herrschenden im günstigsten Falle als Geistesschwäche, i m weniger günstigen als Ausdruck konterrevolutionärer Gesinnung betrachtet und mit entsprechenden „gewaltlosen" Maßnahmen beantwortet. Mit Recht hebt Kelsen immer wieder hervor, daß die anarchistischen Vorstellungen vom Absterben des Staates und der Ablösung der Herrschaft über Menschen durch die Verwaltung von Sachen aus der verständlichen Opposition gegen den kapitalistischen Staat hervorgegangen sind, und er weist auf die Sachzwänge hin, welche die siegreichen Revolutionäre zur schrittweisen Aufgabe dieser Vorstellungen, ja zu einer massiven „Staatsfrömmigkeit" veranlassen. Doch die Wendung von der anarchistischen zur etatistischen Auffassung erscheint auch i n hohem Maße ideologisch vorprogrammiert. Wer sich den Rang eines „Erleuchteten", zur autokratischen Heilsherrschaft Berufenen anmaßt, der w i r d kaum bereit sein, sich nach dem Siege allen Ernstes auf die Rolle eines an ein imperatives Mandat gebundenen, jederzeit ab wählbaren und durch jeden beliebigen Genossen ersetzbaren „Volksbeauftragten" zu beschränken. So lange es gilt, i m Namen der Emanzipation die Herrschenden zu stürzen, stehen die anarchistischen Parolen i m Vordergrund; hat man aber selbst die Macht errungen, dann haben Etatismus und Autokratie, ja Theokratie das Wort. Doch hat Kelsen die Machtpolitik zumal des marxistischen Sozialismus nicht nur durchschaut und kritisiert, sondern sich ihr auch praktisch widersetzt. So tauchte 1919 die Frage auf, ob die Universität an den Wahlen zum lokalen Arbeiterrat teilnehmen sollte, wobei i n dem Wahlstatut ein Bekenntnis zum Marxismus oder eine ähnliche Formel vorgesehen war. I n der Diskussion darüber wies Kelsen temperamentvoll darauf hin, „daß die Verfassung der Arbeiterräte mit dem Grundsatz der Freiheit der Wissenschaft unvereinbar sei" 2 1 , obwohl er wußte, daß er sich damit bei dem damals sozialdemokratisch geführten Unterrichtsministerium kaum beliebt machen würde. Es ist m i r nicht bekannt, ob er sich noch zu den Versuchen der Studentenrevolte der späten sechziger und frühen siebziger Jahre geäußert hat, die Univer20 81
Ders., ebd., S. 102 A n m . R. A. Métall, Hans Kelsen, S. 37.
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sitäten auf dem Wege der sogenannten Mitbestimmung von innen her einer marxistischen oder sonstigen linksradikalen Ideologie zu unterwerfen, doch kann ich m i r nicht vorstellen, daß er i n diesem Falle anders geurteilt hätte. Gegenüber den marxistischen Ideologen hat Kelsen ferner mit Recht betont, in wie hohem Maße die i m wesentlichen vom Bürgertum erkämpfte Demokratie auch den Aufstieg der Arbeiterklasse gefördert hat, „der unvergleichlich rascher vor sich ging, als der, den das Bürgertum i m Feudal- und Polizeistaat auf Kosten des Adels vollzog" 2 2 . Dennoch steht er auch der Ideologie des bürgerlichen Wirtschaftsliberalismus keineswegs unkritisch gegenüber. So hat er sich gegen die Behauptung gewandt, Sozialismus und Demokratie seien miteinander unvereinbar, während Demokratie und Kapitalismus notwendig zusammengehörten 23 . Es lassen sich vielmehr zahlreiche Argumente dafür anführen, daß das Privateigentum an Produktionsmitteln allein als solches keine Garantie für eine freiheitlich-demokratische Ordnung bietet, und Kelsen hätte noch darauf hinweisen können, daß dieses Eigentum den Nationalsozialismus und den italienischen Faschismus, aber auch zahlreiche andere Diktaturen nicht verhindert hat und von den betreffenden Machthabern auch nicht abgeschafft worden ist. Umgekehrt führt die Kollektivierung des wirtschaftlichen Lebensbereiches nicht notwendig zum Untergang der geistigen Freiheit — also der Freiheit der Religionsausübung, der wissenschaftlichen Lehre und Presse. Auch i n diesem Punkte w i r d man Kelsen zustimmen dürfen, obwohl er offenbar die Tatsache unterschätzt, daß die Zusammenballung der Wirtschaftsmacht bei einer einzigen Zentralstelle sehr leicht zum Mißbrauch verleiten kann und daß eine solche Machtzusammenballung den von ihm so scharfsichtig charakterisierten Heilsherrschern ein zusätzliches, höchst gefährliches Instrument in die Hand gibt. Man sollte meinen, daß die Gedanken dieses scharfsinnigen und mutigen Verteidigers der Demokratie i m geistigen Widerstand Europas gegen die Diktaturen eine Schlüsselrolle gespielt haben, doch das war keineswegs der Fall. Zwar gibt es noch keine Untersuchung zu diesem Thema, doch wäre es überraschend, wenn sich eine solche als ergiebig zeigen sollte 24 . Diese geringe Wirksamkeit ist jedoch wahrscheinlich kein Zufall. Der konservative Widerstand gegen die Diktaturen ging 22
H. Kelsen, Demokratie u n d Sozialismus, S. 63. H. Kelsen, Demokratie u n d Sozialismus, in: ders., Demokratie u n d Sozialismus. S. 170 ff. 24 Der Sammelband „Der Einfluß der Reinen Rechtslehre auf die Rechtstheorie i n verschiedenen Ländern", Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Bd. 2, W i e n 1978, bietet i n dieser Hinsicht n u r sehr wenige A n h a l t s punkte, am ehesten noch für Italien (S. 158). 23
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von aristokratischen, bürgerlichen und an christlichen Traditionen orientierten Kreisen aus, während der linke Antifaschismus vorwiegend marxistisch orientiert war. Alle diese Gruppen konnten mit Kelsen nicht viel anfangen. Dazu kommt ferner die Tatsache, daß der Mensch, der angesichts brutaler Bedrohung und Unterdrückung seine wirtschaftliche und nicht selten auch seine physische Existenz riskiert, meist ein intensives ideologisches Bedürfnis entwickelt. Er sucht nach einem „absoluten" Rückhalt, sei es in einem göttlichen Gebot, i n ewigen sittlichen Werten oder in einem unverbrüchlichen Geschichtsgesetz, das i h m oder doch seiner Sache den Endsieg garantiert. Genau das aber sind Vorstellungen, die Kelsen einer vernichtenden K r i t i k unterworfen hatte. Anders lagen die Dinge i n Japan. Hier haben nicht nur die rechtstheoretischen, sondern auch und vor allem die ideologiekritischen Gedanken Kelsens i m intellektuellen Widerstand gegen Gottkaisertum und Militärdiktatur eine beachtliche Rolle gespielt. Leider ist dieser Einfluß i m Zusammenhang der geistigen und politischen Geschichte jenes Landes noch nicht eingehend genug behandelt worden, doch erscheinen hier wenigstens einige diesbezügliche Bemerkungen angezeigt. Die japanische Theokratie und Autokratie, die i n den dreißiger und frühen vierziger Jahren ihren Höhepunkt erreichte, hatte sich schon seit dem Ende des Schogunats durch die sogenannte Meiji-Restauration i m Jahre 1868 vorbereitet. I m Mittelalter hatten die Militärbefehlshaber, die Schogune, den Kaiser entmachtet und auf rein religiöse und symbolische Funktionen beschränkt. So waren politische Macht und geistiggeistliche Autorität auseinandergefallen. Dieser Zustand dauerte viele Jahrhunderte, doch da sich das Schogunat als unfähig erwies, mit den durch den europäisch-amerikanischen Einfluß entstandenen Schwierigkeiten fertig zu werden, gelang es Kaiser M e i j i (reg. 1867 -1912), sich von der Bevormundung zu befreien und die volle Herrschergewalt an sich zu reißen. Damit war — wenn diese der abendländischen Geschichte entstammenden Ausdrücke statthaft sind — die Einheit von „geistlicher" und „weltlicher" Autorität wiederhergestellt. Diese wiedergewonnene Einheit war mit einem Rückgriff auf die uralten japanischen Überlieferungen des Shinto-Glaubens verbunden. Ursprünglich eine polytheistische Naturreligion m i t starkem Ahnenkult, hatte der Shinto schon i m 18. und frühen 19. Jahrhundert eine ausgesprochen theokratisch-dynastische und scharf nationalistische Ausprägung erfahren. Diese Politisierung hat sich dann besonders i n der Meiji-Periode zu einem Staats-Shinto verfestigt, dessen Mittelpunkt der Kaiser und das Kaiserhaus als Nachkommen der Sonnengöttin Amaterasu bildeten. Die Kultübung, i n welcher der selbst göttliche
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Kaiser mit seinen göttlichen Ahnen Umgang pflegt, schließt aber das gesamte Volk mit ein. „Das ist der ,Weg des Kaisertums', Kòdò, die unverrückbare Grundlage, auf der das jeden Japaner verpflichtende Kokutai, d.h. das japanische Reich als ideale Wesenheit, abstrakter: der japanische Staatsgedanke, ruht 2 5 ." Es ist klar, daß eine solche Kaiser- und Staatsmythologie eine ausgesprochen autokratische und theokratische Ideologie darstellt. I n weiterer Folge haben sich diese Gedanken besonders i n militärischen Kreisen noch verschärft, wobei wohl auch Einflüsse des zeitgenössischen europäischen Nationalismus und Faschismus mit i m Spiel waren; sie zählen auch zum geistigen Hintergrund jener Expansionspolitik, die i m Zweiten Weltkrieg ihren Höhepunkt und schließlich ihre vernichtende Niederlage erfahren hat. Doch zugleich wurde unter Kaiser Meiji auch die Rezeption der modernen Wissenschaft und Technik bewußt i n die Wege geleitet. Japanische Gelehrte wurden auf Staatskosten nach Europa und Amerika geschickt und die neugegründete Universität von Tokio stützte sich zunächst weitgehend auf ausländische Gastprofessoren. Aber mit dem Wissen und Können des Westens drangen auch dessen weltanschaulich-politische Vorstellungen i n Japan ein, darunter die Gedanken des Individualismus und Liberalismus, der Menschenrechte und der Demokratie. Sie standen i n einem Gegensatz zu der offiziellen Staatsideologie, den auch ein eher zum Eklektizismus als zum Ausfechten von Prinzipienfragen geneigtes Volk wie die Japaner nicht ohne weiteres überbrücken konnte. So kam es immer wieder zu Konflikten, von denen hier nur der Fall des Professors Minobe erwähnt werden soll. Dieser Gelehrte, der an der Universität von Tokio wirkte, vertrat — durchaus i m Sinne Kelsens — die Auffassung, der Kaiser sei lediglich ein Organ des Staates. Das wurde als Angriff auf die göttliche Autorität des Herrschers empfunden und Minobe wurde schließlich abgesetzt. I n dieser Atmosphäre fanden die liberalen Kräfte an Kelsens K r i t i k der verschiedensten Formen von Staatsmythologie, Staatsmetaphysik und Herrschaftsideologie einen starken Rückhalt. Schon aus der Generation der u m die Jahrhundertwende Geborenen schlossen sich nicht wenige bedeutende Köpfe dem österreichischen Denker an, so Kisaburo Yokota, der später Vorsitzender des Obersten Gerichtshofes wurde, Toshiyoshi Miyazawa, Tomoo Otaka, Shiro Kiyomiya und nicht zuletzt 15 W. Gundert, Japanische Religionsgeschichte, Tokyo - Stuttgart 1935, S. 146 — Für informative Gespräche über die Thematik dieses Abschnitts b i n ich auch Prof. Junichi A o m i und Prof. Noriyoshi Tamaru v o n der University of Tokyo zu Dank verpflichtet.
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Nobushige Ukai, der den ideologiekritischen Gedanken des Meisters besondere Aufmerksamkeit widmete. Inzwischen sind längst ihre Schüler und Enkelschüler herangewachsen, von denen hier nur Junichi Aomi und Ryuichi Nagao genannt werden sollen. Leider sind nur wenige Arbeiten dieser Autoren in westlichen Sprachen zugänglich. Die ältere Generation dieser Denker hatte harte Zeiten durchzustehen, als sich seit dem Ausgang der zwanziger Jahre die autokratischen und militaristischen Kräfte immer mehr durchsetzten. Die Eroberung der Mandschurei (1931/32) und der Austritt Japans aus dem Völkerbund (1933) bildeten die ersten Marksteine dieser verhängnisvollen Entwicklung, und nach dem Militärputsch von 1936 verstärkte sich der politische Druck noch wesentlich. Angesichts dieser steigenden Schwierigkeiten haben sich die japanischen Anhänger Kelsens auf juristischem, politischem und philosophischem Gebiet mit bemerkenswertem Mut gehalten. So ist Yokota gegen die militärische Expansionspolitik und den Abbau demokratischer Institutionen, dementsprechend aber für die Respektierung des Völkerrechts und das Verbleiben Japans i m Völkerbund eingetreten. Ähnliche Auffassungen, aber mit stärkerem philosophischem Akzent, vertrat auch Miyazawa. Er „war ein tiefschürfender K r i t i k e r der metaphysischen, absoluten Weltauffassung und legte mit einem hohen Grad von Beharrlichkeit die praktischen Aspekte von Kelsens Aktivitäten als eines Bannerträgers und Verteidigers der Demokratie i m Widerstand gegen den Nazismus dar. Seine Seminararbeiten aus den Jahren 1933 und 1938 mögen gerechterweise als Widerstand gegen den japanischen Militarismus i n Erinnerung bleiben" 2 6 . Leider hat es damals bei den Deutschen keinen Miyazawa gegeben. Doch Kelsens Bedeutung erschöpft sich nicht i n seinem Engagement für eine freiheitliche und soziale Demokratie und seinen wichtigen Beiträgen zur Theorie des Rechts und der Politik. Vielmehr greifen seine philosophischen Arbeiten weit über diesen Bereich hinaus und dringen Schritt für Schritt bis zu wichtigen Einsichten i n Grundstrukturen unserer Weltauffassung vor. Noch durchaus i m Rahmen einer Theorie der Politik bewegen sich die schon erwähnten sprachkritischen Apergus über jene linguistischen Tricks, mit denen man versucht hat, Zwang, Gewalt und Herrschaft als Nicht-Zwang, Nicht-Gewalt und Nicht-Herrschaft zu deklarieren. Kelsen hat auch klar erkannt, daß auf diese Weise der negative Wertakzent jener Ausdrücke vermieden und der Eindruck erweckt werden soll, die sozialistischen Machthaber hätten tatsächlich die zwang-, gewalt- und 26 H. Hara, Hans Kelsen u n d das Studium des Rechts i n Japan, i n op. cit. A n m . 24, S. 103.
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herrschaftsfreie Gesellschaft verwirklicht. Damit erscheint bereits das Orwellsche Motiv des „Zwiedenkens" vorweggenommen: Krieg bedeutet dort Frieden, Freiheit ist Sklaverei, das Wahrheitsministerium besorgt die Propaganda, das Liebesministerium ist für Folterungen und Hinrichtungen zuständig und das Ministerium für Überfluß verfügt die Rationierungen. Doch finden sich bei Kelsen beispielsweise auch schon viele Gedanken von T. D. Weldons „Vocabulary of Politics" und zwar besonders i n der Schrift „The Political Theory of Bolshevism". Hier w i r d etwa gezeigt, daß die oft mit so hochgespannten Ansprüchen auftretende Dialektik ebenso eine beliebig manipulierbare, für beliebige moralisch-politische Positionen einsetzbare Leerformel darstellt wie die verschiedenen Formeln der absoluten Gerechtigkeit, also des Naturrechts 27 . Die bedeutendste Leistung des ideologiekritischen Philosophen Kelsen ist jedoch wohl sein Werk „Vergeltung und Kausalität", dem leider bisher kein glückliches Schicksal beschieden war. Sein Erscheinen wurde durch die Kriegsereignisse um sechs Jahre verzögert und es hat bis heute kaum die verdiente Beachtung gefunden. Diese ungemein materialreiche Arbeit, der übrigens mehrere Aufsätze zu dieser Themat i k vorangegangen sind, sucht zu zeigen, daß die menschliche Weltauffassung von den primitiven Mythen bis zur neuzeitlichen Metaphysik, ja bis zum mechanistischen Glauben an ein „unverbrüchliches Kausalgesetz" durch das Vergeltungsprinzip als Deutungsschema bestimmt ist und so einen anthropozentrischen oder richtiger: soziozentrischen Charakter trägt. Auf solchen Deutungsmustern, besonders auf einer soziomorphen Interpretation der Natur, beruht auch der Gedanke des Naturrechts, denn er „ist wesenhaft verbunden m i t der Vorstellung, daß die Natur eine Schöpfung Gottes ist, die Gesetze ihres Geschehens Emanationen des göttlichen Willens, die Naturgesetze also Normen und daher den sozialen, d.h. Rechtsgesetzen wesensgleich sind, deren richtiger Inhalt aus der Ordnung der Natur sich ergibt" 2 8 . Doch auch der Seelenglaube ist völlig durch das Vergeltungsprinzip bestimmt, die Seele gilt als Subjekt oder Objekt der Vergeltung, als Rächer oder bestrafter Büßer bzw. als Empfänger jenseitigen Lohnes. M i t der Entwicklung der modernen Wissenschaft, besonders der Naturwissenschaften, und der Loslösung der Kausalität vom Vergeltungsprinzip sind diese Formen werthaft-normativer Deutung der Welt und der Seele schließlich hinfällig geworden. 27 H. Kelsen, The Political Theory of Bolshevism, B e r k e l e y - L o s Angeles 1948, S. 14 ff. — Vgl. E. Topitsch , Die Sozialphilosophie Hegels als Heilslehre u n d Herrschaftsideologie, 2. Aufl., München 1981, S. 64 ff. •»MEI. Kelsen, Vergeltung u n d Kausalität, Den Haag 1946, S. 281 — Eine unveränderte Neuauflage dieses Werkes erscheint demnächst i m Verlag Böhlau, Wien - K ö l n .
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Man darf „Vergeltung und Kausalität" heute ohne weiteres als klassisches Werk betrachten, freilich auch i n dem Sinne, daß i n den mehr als vierzig Jahren seit seiner Drucklegung manches daraus veraltet ist. Auch gibt es neben den soziomorphen Deutungsmustern mehrere andere, kaum weniger wichtige, die Kelsen zwar gelegentlich gestreift, aber nicht näher behandelt und vielleicht auch nicht in ihrer ganzen Bedeutung erkannt hat. Aber das Buch ist doch eine wahrhaft erhellende Leistung, der ihr Platz i n der Geschichte der Weltanschauungsanalyse nicht streitig gemacht werden kann 2 9 . Kelsen war Philosoph auch durch seine souveräne Unbefangenheit angesichts der Wertirrationalität des Weltlaufes. Es fehlt bei ihm jede Nostalgie nach den durch die Erkenntnis beseitigten Illusionen, jede bewußte oder unbewußte Sehnsucht nach einem Religionsersatz. Die meisten seiner Geistesverwandten sind nicht bis zu dieser Haltung durchgedrungen — weder Feuerbach noch Marx, weder Nietzsche noch Max Weber, ja nicht einmal Freud. Damit sollen die Leistungen dieser hervorragenden Männer nicht herabgesetzt werden. Doch Feuerbach und Marx waren vor allem über Hegel von gnostischer Theologie abhängig geblieben und glaubten an die Heraufkunft des neuen, „nicht entfremdeten" Menschen, eine Vorstellung, die Kelsen mit Recht als nebulose Utopie kennzeichnete. Auch ein so scharfsinniger, sarkastischer, ja geradezu hellsichtiger K r i t i k e r der platonisch-christlichen Traditionen wie Nietzsche blieb doch wieder unter deren Einfluß; er konnte sozusagen die Nabelschnur nicht völlig durchschneiden, die ihn mit dem väterlichen protestantischen Pfarrhaus verband. Trotz seiner wütenden Angriffe auf das Christentum ist er etwas wie ein „Prädikant des Antichrist" geblieben und der Gedanke „Gott ist tot" war für ihn ein erschütterndes Erlebnis. Max Weber hat sich zwar als religiös unmusikalisch bezeichnet, aber in seiner schweren teutonischen A r t empfand er es doch als schicksalhafte Last, daß w i r nicht mehr in intellektueller Redlichkeit glauben können. Selbst Freud dürfte zumindest indirekt durch religiöse Motive beeinflußt gewesen sein und seine berühmte Theorie vom Ödipuskomplex scheint inspiriert durch das Ringen mit dem Vatergott seiner Väter. Nur etwa David Hume und — als älterer Zeitgenosse — Vilfredo Pareto waren in dieser Hinsicht von ähnlich souveräner Gelassenheit wie Kelsen. Dessen Geistesverwandtschaft mit dem schottischen Philosophen ist natürlich längst bemerkt worden. So urteilte etwa ein Autor: „Kelsen 29 Z u m gegenwärtigen Stand der Weltanschauungsanalyse vgl. etwa E. Topitsch , Erkenntnis u n d Illusion. Grundstrukturen unserer Weltauffassung, Hamburg 1979.
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is a positivist of positivists, whose real spiritual father is Hume, rather than Kant 3 0 ." Doch diese geistige Abstammung ist meines Wissens noch nie eingehender untersucht worden. Jedenfalls hat Kelsen i n seiner aus dem Nachlaß herausgegebenen „Allgemeinen Theorie der Normen" mit Recht bemerkt, daß in bezug auf das Verhältnis von Sein und Sollen Hume konsequenter ist als Kant, da es für ihn keine praktische Vernunft gibt 3 1 . Auch in „Vergeltung und Kausalität" w i r d der schottische Denker mehrfach zitiert, doch i m wesentlichen nur i m Zusammenhang mit seiner K r i t i k am Kausalprinzip. Ob und in welchem Ausmaß Kelsen durch Humes Religionsphilosophie beeinflußt ist, mit der sich seine Ansichten vielfach berühren, bedürfte noch einer näheren Untersuchung 32 . Jedenfalls aber ist beiden die Überzeugung gemeinsam, daß es keinen wertrationalen Kosmos, keine „sittliche Weltordnung" gibt, welche uns moralisch befriedigen und die Geltung absoluter Normen begründen könnte. Vielmehr ist die Welt oder der Weltgrund gegenüber unseren Wertvorstellungen durchaus indifferent, wie denn auch Hume formuliert hat, „daß die ursprüngliche Quelle aller Dinge gegen all diese Prinzipien vollkommen gleichgültig ist und das Gute nicht mehr dem Übel vorzieht, als Wärme der Kälte, Trockenheit der Feuchtigkeit oder Leichtigkeit der Schwere" 33 . Weder Hume noch Kelsen hat diese Sachlage irgendwie dramatisiert. War Kelsen dem großen Schotten weit tiefer geistesverwandt als dies den eher spärlichen Zitierungen entspricht, so werden die grundlegenden Übereinstimmungen mit Pareto in seinen Schriften — so weit ich sie überblicke — nicht erwähnt. Doch gibt es nicht nur wichtige Berührungspunkte zwischen seiner Auseinandersetzung mit dem Sozialismus und den „Systemès socialistes" des Franko-Italieners, sondern auch seine K r i t i k an den Naturrechtsspekulationen ist durch die Lehre von den derivazioni i m „Trattato di sociologia generale" i n vieler Hinsicht vorweggenommen. Vor allem aber steht Pareto der Entzauberung der Welt, der Verabschiedung der Illusionen, mit völliger Unbefangenheit gegenüber, mit der disinvoltura jenes romanischen Edelmannes, der Nietzsche so gerne gewesen wäre. Doch der Sohn eines galizischen Juden steht als ebenbürtiger Geistesverwandter neben dem Nachkommen genuesischer Adeliger. Freilich hat Kelsen die Entzauberung der Welt durch Wissenschaft, die Zurückdrängung der mythisch-religiösen und metaphysischen I l l u sionen, ganz i m Sinne einer folgerichtigen Aufklärung als Gewinn be30
D. Lloyd, Introduction to Jurisprudence, rev. ed. 1965, S. 187. Η . Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, Wien 1979, S. 68 f. 32 Dafür wäre auch das i n Kelsens Nachlaß vorhandene, aber noch u n publizierte religionsphilosophische Manuskript v o n Bedeutung. 33 D. Hume, Dialogues concerning Natural Religion, c. 11. 31
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trachtet, da jene altehrwürdigen Gedankengebilde vor allem dazu gedient haben, dem Anspruch auf absolute Macht den Schein einer Rechtfertigung zu erschleichen. Doch fehlte ihm der naive Optimismus, wie er in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts so verbreitet gewesen war, der Glaube an die Perfektibilität des Menschen und den notwendigen Zusammenhang zwischen dem Fortschritt der Erkenntnis und jenem der Moral. Entsprechend zurückhaltend war auch seine Einschätzung der Erfolgsaussichten seines eigenen Denkens: „Das Ideal einer objektiven Wissenschaft von Recht und Staat hat nur in einer Periode sozialen Gleichgewichts Aussicht auf allgemeine Anerkennung", sonst aber entscheiden die übermächtigen Interessen, welche die schon i n der Herrschaft Sitzenden als auch die noch zur Herrschaft Drängenden an einer ihren Wünschen gefälligen Theorie, das heißt an sozialer Ideologie haben 34 . Ja, manchmal klingt ein düsterer Pessimismus durch, etwa wenn Kelsen meint, keine rationale Erwägung könne das Bedürfnis nach dem Glauben an einen absoluten Wert erschüttern, jenem Glauben, auf den sich stets der Wille zur absoluten Macht gestützt hat. „Und darum w i r d auch die Menschheit sich vermutlich niemals mit der Antwort der Sophisten zufriedengeben, sondern immer wieder — und sei es auch durch Blut und Tränen — den Weg suchen, den Piaton gegangen, den Weg der Religion 3 5 ." So war Kelsen alles eher als ein naiver Aufklärer. Doch das realistische und daher ernste Bild der Wirklichkeit, auf dessen Hintergrund er seine Gedanken entwickelte, hat ihn nicht entmutigt. Auch als die Gewalten des Irrationalismus und der Tyrannei zu triumphieren schienen, ist er mit der Unerschütterlichkeit eines wahren Philosophen für das eingetreten, was er als richtig erkannt hatte — i n der Hoffnung, die Macht werde den Geist nicht auf die Dauer zu unterdrücken vermögen und i n fernerer Zukunft werde man wieder die Bedeutung einer freien Rechtswissenschaft erkennen. Wir haben allen Grund, ihm dafür dankbar zu sein.
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H. Kelsen, Reine Rechtslehre, W i e n 1934, S. V I I I . H. Kelsen, Aufsätze zur Ideologiekritik, S. 231.
I. Geschichte und Bedeutung der Ideologiekritik
IDEOLOGISCHE WURZELN DES Z E I T G E N Ö S S I S C H E N T E R R O R I S M U S * V o n M i c h a e l W . Fischer, S a l z b u r g D e n T e r r o r als M i t t e l p o l i t i s c h e r P r a x i s g i b t es g e w i ß e r h e b l i c h l ä n ger als seine m o d e r n e B e g r i f f s b e d e u t u n g , die i m Gefolge der F r a n z ö sischen R e v o l u t i o n entstand. E i n B l i c k i n die einschlägigen L e x i k a zeigt, was das Wort T e r r o r u m r e i ß t : Seine lateinische W u r z e l h e i ß t zunächst e i n „ A n g s t u n d Schrecken bereitendes Geschehen" u n d e r w e i t e r t sich gegen E n d e des 18. J a h r h u n d e r t s ü b e r d e n französischen B e g r i f f „ l a t e r r e u r " z u r B e d e u t u n g „Schreckensherrschaft, G e w a l t herrschaft, rücksichtsloses V o r g e h e n , U n t e r d r ü c k u n g " 1 . Ü b e r b l i c k t m a n das Tagesgeschehen des l e t z t e n J a h r z e h n t s , w i r d d e u t l i c h , daß sich der T e r r o r als K a m p f m e t h o d e p o l i t i s c h e r G r u p p e n w e l t w e i t ausgebreitet h a t 2 . Es g i b t d e n T e r r o r v o n u n t e n u n d d e n * A u f g r u n d der gebotenen Kürze mußte das Vortragsthema genau abgegrenzt werden. Hiebei ist die Kehrseite, daß wesentliche Problemfelder unbehandelt bleiben: etwa Typologieversuche, der Zusammenhang des Terrors m i t der allgemeinen Frage der Gewaltanwendung gegen Unrechtsherrschaft, das Verhältnis Terrorismus-Widerstandsrecht oder Fragen, die der diffuse Begriff der „strukturellen Gewalt" provoziert, der zusehends Legitimationsfunktion für die sogenannte „Gegengewalt" übernimmt. Auch beschränken sich die Ausführungen auf die „kognitive" Ebene, die „soziale" bleibt unberücksichtigt. Als wesentliche L i t e r a t u r zu letzterer seien n u r genannt Y. Alexander / R. A. Kilmarx (Hrsg.), Terrorism and Business. The Threat and Response, New Y o r k 1979 oder Politischer Protest i n der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zur sozialempirischen Untersuchung des E x tremismus. Eine A r b e i t der Infratest Wirtschaftsforschung GmbH., Stuttgart B e r l i n - K ö l n - Mainz 1980. Für ergänzende Aspekte b i n ich den Diskussionsteilnehmern dankbar, etwa W i l f r i e d Bauernfeind, der Terrorismus i n die sozialpsychologische Dimension der allgemeinen Todesproblematik einordnete oder Werner Krawietz, der strukturanalytische Parallelen meiner Ausführungen i m Verhältnis zu staatlich organisierten Rechtssystemen aufwies. Besonders w e r t v o l l w a r jedoch der Einwand von Theo Mayer-Maly, die „subjektive Bedingung des guten Gewissens" betreffend. Folgendes sei zur Präzision dieses vielleicht zu saloppen Ausdrucks angeführt. „Gutes Gewissen" umreißt i n meinen Ausführungen zweierlei: 1. die absolute subjektive Uberzeugtheit v o m Wahrheitsanspruch einer Ideologie (Weltanschauung), die Handlungsdruck b e w i r k t ; 2. das handlungsorientierende Wissen, das einer „gesinnungsethischen" Erkenntnistheorie entspringt. Obwohl theoretisch streng zu unterscheiden, können beide Aspekte des „guten Gewissens" i n der Praxis zusammenfallen. 1 Vgl. die Stichwörter „Terror" u n d „Terrorismus" i n den neuesten Ausgaben des Brockhaus, des Meyer-Lexikons, des Katholischen Soziallexikons und anderen.
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Michael W. Fischer
Terror von oben: Es gibt den Terroristen, der zur Macht strebt, und den, der die Macht mit allen Mitteln behaupten w i l l . Es gibt den blindwütig i n die Menge schießenden und den kaltblütig Völkermord verhängenden Terroristen. Für beide gilt: Terror ist die Manifestation äußerster Gewalt — sei es durch Ausübung oder durch Androhung von Gewalt oder — was regelmäßig der Fall ist — durch beide: durch Anwendung und Androhung körperlicher wie seelischer Gewalt. Der politische Ernst des Terrors besteht darin, daß man ihn nicht mit den Kategorien fassen kann, mit deren Hilfe w i r unpolitische Kriminalität zu beschreiben suchen. Den Zugang zum Phänomen Terror verschließt sich, wer nicht wahrhaben w i l l , daß es eine Kriminalität gibt, deren Wurzel die Intensität einer politischen Gesinnung ist. Was — so müssen w i r fragen — setzt den Terroristen instand, i n Haifa, Belfast, Bologna oder München Bomben in der Absicht zu legen, daß sie mit Sensationswirkung unbekannte, unbeteiligte Menschen zerreißen? Ich möchte vorweg thesenhaft drei Punkte formulieren, die geeignet sind, einige ideologische Elemente des Terrorismus zu umreißen 3 : 1. Der Terror ist eine politische Praxis, die ihre Legitimität unmittelbar aus höchsten Zwecken bezieht. I n der terroristischen A k t i o n verschwindet die Einzelheit individueller Interessen i n der Universalität höchster Zwecke. 2. Die subjektive Bedingung der Möglichkeit des Terrors ist das gute Gewissen. Nur in der „Reinheit der Gesinnung" erträgt man, was i m Vollzug des Terrors nackte, grausame Faktizität ist. 3. Die terroristische Praxis ist revolutionäre Praxis. Sie ist ungeteilte, schlechthin durchgreifende Gewalt. Gegen die Sprüche, die die terroristische Praxis vollstreckt, gibt es ebenso wenig wie gegen die Sprüche des Jüngsten Gerichts eine Berufung. Sie haben ihren Geltungsgrund nicht i n verfahrensmäßig korrekter Entscheidung kompetenter Instanzen, sondern unmittelbar in ihrer Wahrheit und Gerechtigkeit. „Entweder die Tugend oder der Terror" war Saint Justs Parole i n der Französischen Revolution 4 . In der terroristischen Praxis sind Legalität 2 Vgl. Blutspur der Gewalt. Bilanz eines Jahrzehnts des Terrorismus. Hrsg. v. der Redaktion der Neuen Zürcher Zeitung, Zürich 1980. 3 Die folgenden Überlegungen haben ihren Ursprung i n einem Seminar zur Hegeischen Dialektik, das ich gemeinsam m i t Hermann Lübbe über zwei Semester 1975/76 am Philosophischen Seminar der Universität Zürich hielt. Etliche Problemartikulierungen sind i h m zu danken. Vgl. etwa H. Lübbe, Freiheit u n d Terror, in: Merkur, H. 9, 1977, S. 819 - 829. 4 Vgl. Saint Just am 13. November 1972 „Uber die Verurteilung Ludwigs X V I " oder am 31. März 1794 „Gegen Danton und die Partei der Milde", in: Reden der Französischen Revolution, hrsg. v. P. Fischer, München 1974, S. 217 - 225 u n d S. 399 - 415.
Ideologische Wurzeln des zeitgenössischen T e r i s m s
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und Legitimität verschmolzen. Um es i n Anlehnung an eine Formulierung von Hermann Lübbe zu sagen: Die Instanzen des Terrors haben kein Gewissen; sie sind es5! Um diese Punkte verständlich zu machen, lohnt der Rückgriff auf die Geschichte. Aus dem komplexen Zusammenhang möchte ich einige Wurzeln des zeitgenössischen Terrorismus aufgreifen und zwar: (1) Die Hegeische Analyse des Terrors der Jakobinerherrschaft während der Französischen Revolution. Wie kein anderer politischer Theoretiker lehrt uns Hegel den Terror als ein moralisches Phänomen zu verstehen, als eine Praxis der Tugend. (2) Die Rechtfertigungsideologie des fanatisch guten Gewissens , der Gesinnungsethik, wie sie sich im Gefolge des deutschen Idealismus entwickelt hat. Sie besagt i n Kürze, daß, wo eine durch freien Willen und eigene Erkenntnis gewonnene Überzeugung vorliegt, dem davon Überzeugten alle Mittel gestattet sind, auch wenn sie dem allgemeinen Sittenkodex widersprechen. (3) Die handlungsiegitimierenden Theorien des Fortschritts , welche behaupten, man habe die Einsicht in den notwendigen Gang der Geschichte. Es gilt zu zeigen, daß gerade diesen „aufgeklärten" über ein „richtiges Bewußtsein Verfügenden" die gnadenlose Aggressivität der guten Sache eignet. Die unheimlichste Zuspitzung dieser Theorie findet sich in den Aussagen des Sergej Gennadjewisch Netschajew, der das unmittelbare und aktuelle Vorbild für den Terroristen und Nihilisten Pjotr Werchowjensky in Dostojewskis „Dämonen" war. I. Hegels Analyse des Terrors Das Thema des Terrors hat Hegel Zeit seines Lebens intensiv beschäftigt. „Die absolute Freiheit und der Schrecken" lautet die Überschrift eines berühmten Kapitels i n Hegels Phänomenologie des Geistes zur Französischen Revolution und näherhin zur Herrschaft der Jakobiner 6 . I n diesem Abschnitt lehrt uns Hegel den Terror als ein moralisches Phänomen zu verstehen — als eine Praxis der Tugend. Die Hegelsche Analyse des Terrors enthält Elemente, die zum Verständnis auch seines gegenwärtigen Daseins nützlich, ja unentbehrlich sind. So schreibt Hegel zur Charakteristik des politischen Zustands in Frankreich vor dem 9. Termidor des Jahres I I neuer Zeitrechnung: 5
Lübbe, Freiheit, S. 821. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (Glöckner-Jubiläumsausgabe i n 22 Bänden, Stuttgart - Bad Cannstatt 1964), Bd. 2, S. 449 - 459. 6
3 RECHTSTHEORIE, Beiheft 4
Michael W. Fischer Es herrschen n u n die abstrakten Prinzipien — der Freiheit und wie sie i m subjektiven W i l l e n ist — der Tugend. Diese Tugend hat jetzt zu regieren gegen die vielen, welche m i t ihrer Verdorbenheit u n d m i t ihren alten I n t e r essen . . . der Tugend ungetreu sind. Die Tugend ist hier ein einfaches Prinzip und unterscheidet n u r solche, die i n der Gesinnung sind, u n d solche, die es nicht sind. Die Gesinnung aber k a n n n u r von der Gesinnung erkannt u n d beurteilt werden. Es herrscht somit der Verdacht; die Tugend aber, sobald sie verdächtig w i r d , ist schon verurteilt . . . V o n Robespierre wurde das Prinzip der Tugend als das höchste aufgestellt und man k a n n sagen, es sei diesem Menschen m i t der Tugend ernst gewesen. Es herrschen jetzt die Tugend u n d der Schrecken; denn die subjektive Tugend, die bloß von der Gesinnung aus regiert, bringt die fürchterlichste Tyrannei m i t sich. Sie übt ihre Macht ohne gerichtliche Formen und ihre Strafe ist ebenso nur einfach — der Tod 7 .
Hegel zeigt mit dieser Analyse der Französischen Revolution, daß in den Konsequenzen eben dieser Revolution die Freiheit selber tyrannisch werden konnte. So sehr sich auch der Terror unserer Gegenwart technisch perfektionieren konnte, ohne Rekurs auf die legitimierende Kraft der politisierten Tugend, wie sie Hegel beschrieb, kann er nicht verstanden werden. Was uns Hegel verdeutlicht, ist, daß es sich beim Terror der Jakobiner wie beim aktuellen Terror um einen Zusammenschluß der Subjektivität des guten Gewissens mit der Objektivität des absoluten Zwecks der Freiheit handelt. Exemplarisch ist wohl der Fall, der sich vor bald einem Jahrzehnt auf dem Flughafen von Tel A v i v ereignete: Der Maschinengewehrschütze, der das Massaker anrichtete, war kein Palestinenser und kein Bewohner irgendeines Flüchtlingscamps, vielmehr ein Japaner aus Hondo 8 . W i r erinnern uns an Piaton , wo er in seinem Dialog Gorgias den Satz „Der Tod ist das größte aller Übel" ziemlich ausführlich diskutiert und zu dem Schluß kommt, daß er politisch verderblich sein könne. Er läßt Sokrates sagen, es sei schlimmer Unrecht zu tun, als Unrecht zu leiden, und daher sei ein unschuldig erlittener Tod nicht das schlimmste. Nicht die Erhaltung des Lebens u m jeden Preis, sondern die Verwirklichung des Guten ist das höchste Ziel 9 . Für die moralisch sensibilisierte Subjektivität ist also Töten ein schwierigeres Werk als sich töten zu lassen. Es ist daher ein „Mehr" an sittlicher Identifikation mit dem universal legitimierenden Endzweck der Freiheit gar nicht zu denken, als wenn jemand eben für jenen Endzweck und aus keinem anderen Grund mit gutem Gewissen zu töten vermag. Grausame Fernstenliebe und ein eiskalt-abstrakter 7
Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Bd. 11, S. 571. Vgl. dazu die Berichterstattung i m „Spiegel" v o m 5. J u n i 1972 (Nr. 24), S. 82 ff. 9 Des näheren M. Rassem, Wahrnehmung des Terrors, in: Criticón 46, 1978, S. 65 - 69. 8
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Humanitarismus waren Grundlagen des Flughafenmassakers. Über die ungeheuren regionalen, historischen und politischen Distanzen hinweg, die das japanische Meer vom Toten trennen, verbleibt als identitätsstiftende Instanz einzig und allein noch das transzendentale Bewußtsein übrig. Es ist dieses Bewußtsein, mit welchem der Terrorist sich i n eins setzt und, indem er exekutiert, exekutiert er absolut und abstrakt nichts als die Normen, deren apriorische Geltung die Menschheit als Gemeinschaft aller sprach- und handlungsfähigen Wesen konstituiert. Der Mechanismus: Man braucht große Ziele einerseits und ein fanatisch gutes Gewissen andererseits, das am Recht seiner Sache nicht zweifelt. Dann und nur dann ist man, von pathologischen Fällen abgesehen, i n der Lage, in Rom, Tel A v i v oder anderswo mit Maschinenpistolen i n die Menge zu feuern. Der klassische Terrorist ist insofern ein „Idealist". Hegel kommentiert solche Vorgänge philosophisch, wenn er schreibt: Es handle sich darum, „daß das Allgemeine zu einer Tat komme". Dazu nehme „es sich i n das eine der I n d i v i d u a l i t ä t zusammen", die, indem sie handelt, nichts als das Allgemeine der Freiheit, i n deren Namen sie handelt, zum Gegenstand hat. I n der „ A b s t r a k t i o n " dieser praktischen Orientierung — fährt Hegel fort — zerfällt das handelnde Subjekt „ i n die einfache, unbiegsame, kalte Allgemeinheit" seiner universalistischen Orientierung einerseits und i n die „absolute, harte Sprödigkeit u n d eigensinnige Partik u l a r i t ä t " seines „Selbstbewußtseins" andererseits. Was zwischen beiden zu v e r m i t t e l n hätte, die besonderen Verhältnisse u n d Existenzen, deren Dasein zum Anspruch des universellen Freiheitszwecks sich nicht unmittelbar fügt, w i r d Gegenstand unmittelbarer „Negation" 1 0 . „Das einzige W e r k und Tat der allgemeinen Freiheit ist daher der Tod, und zwar ein Tod, der keinen inneren Umfang u n d E r f ü l l u n g hat . . . Es ist also der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers 11 ."
I n genau dieser Beziehung befindet sich auch der Terrorist gegenüber den Flugplatztoten. Er kennt sie nicht und er haßt sie nicht und sie taten ihm auch nichts. Ihr Tod ist nichts als die Liquidation von Faktizität, soweit sie der Universalität höchster Zwecke entgegensteht. Der Tod der terroristischen Opfer ist in diesem Sinn absolut zufällig, eben wie der Hegeische Schluck Wasser, und es w i r d deutlich, daß es nichts als theoretische Hilflosigkeit wäre, wenn w i r i m Anblick dieses Todes versuchen wollten, seinen Ursprung i n der Verrohung oder in der Renaissance irgendeiner Barbarei zu suchen. Der treffende Kommentar Hegels lautet: „Der Schrecken" dieses „Todes ist die Anschauung" der „absoluten Freiheit" in ihrem „negativen Wesen", „welches allen Unterschied und alles Bestehen" eines „Unterschiedes i n sich vertilgt hat"12. 10 11
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Hegel, Phänomenologie, S. 452 ff. Ders., ebd., S. 454.
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Nochmals: Hegel lehrt uns durch seine Analyse der Französischen Revolution den Terror als ein moralisches Phänomen zu verstehen, als eine Praxis der Tugend. Hegel, der sich selbst als Parteigänger des Fortschritts bezeichnete, mußte sich jetzt die Frage stellen: Kompromittiert nicht der Terror den politischen Fortschritt? Die Antwort der deutschen politischen Philosophie von Kant bis Hegel war die: Der Terror kompromittiert die Revolution, nicht aber deren Prinzipien. Daher attackiert Hegel scharf das abstrakte Freiheitsdenken. Dieses Denken ist „etwas so Bestimmungsloses als die Veränderlichkeit überhaupt", es ist „ohne Zweck u n d Ziel". Durch derartige Anschauungen degradiert man das Heute, u m sich auf ein Morgen einzustimmen, das sich ins Unendliche verflüchtigt; „Das Höchste scheint das Verändern zu sein" sagt Hegel, ohne daß man einen Maßstab für diese Veränderung besitzt, denn, so führt Hegel immer wieder aus, wer eine andere Z u k u n f t anstrebt, „wolle nur eine andere Gegenwart", und w e r das Sollen gegen die W i r k lichkeit ausspiele, verfehle diese selbst. Moralische Postulate, deren E r f ü l lung zugegebenerweise i n der Unendlichkeit liegen, machen aus der W i r k lichkeit ein bloßes Provisorium, einen „Zwischenzustand". Die Moralität zehrt davon, daß „Fortschreiten zur Vollendung, wenigstens sein soll", aber damit zeige sich nur, daß es „ i n der W i r k l i c h k e i t nicht i s t " 1 3 .
Hegel w i l l dagegen den Fortschritt in seinem Vollzug begreifen, Geschichte als „Fortschreiten i m Bewußtsein der Freiheit", als einen Prozeß also, bei dem sich die Menschen mit zunehmendem Bewußtsein ihrer Freiheit versichern und die Welt danach einrichten. Hegel zeigt, daß die politische Theorie aufgeklärter Reformen die einzige Antwort auf die Frage ist, wie man den Prinzipien politischer und wirtschaftlicher Modernisierung, also dem Fortschritt Geltung verschaffen kann, wenn dies nicht auf revolutionärem Weg geschehen soll 1 4 . Soweit Hegels Analyse des Terrors. II. Gesinnungsethik und Terror Eine weitere Wurzel des zeitgenössischen Terrorismus entwickelte sich i m Gefolge des deutschen Idealismus, näherhin seiner Erkenntnistheorie. Welch totalitäres Potential der deutsche Idealismus enthält, 12
Ders., ebd., S. 455. Ders., ebd., S. 477; auch: Grundlegung der Philosophie des Rechts, Bd. 7, S. 35; Die Vernunft i n der Geschichte, hrsg. v. J. Hoffmeister , 5. Aufl., H a m burg 1955, S. 149 f. 14 Des näheren vgl. M. W. Fischer, Aufklärung? Z u m Praxisgehalt eines politischen Zielbegriffs, in: Ius humanitatis. Festschrift zum 90. Geburtstag von A l f r e d Verdross, hrsg. v. H. Miehsler, u. a., B e r l i n 1980, S. 67 ff., bes. S. 71 ff.; ders., Historische u n d theoretische Voraussetzungen des Hegeischen Klassenbegriffs, in: Hegel-Jahrbuch 1975, Frankfurt a. M. 1976, S. 108 ff. Hier vor allem die Zusammenhänge zwischen der Hegeischen politischen Theorie und der preußischen Reformpolitik. 13
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wissen w i r ja nicht erst seit den „Neuen Philosophen" Frankreichs 15 . Heinrich Heine beweist seinen scharfen Blick, wenn er i n seiner Arbeit Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland schreibt: „Es werden bewaffnete Fichteaner auf den Schauplatz treten, die i n ihrem Willens-Fanatismus weder durch Furcht noch durch Eigennutz zu bändigen sind; denn sie leben i m Geist, sie trotzen der Materie." Untangierbar sei der „Transzendental-Idealist" „ i n der Verschanzung des eigenen Gedankens". Daraus werde er m i t revolutionärer K r a f t eines Tages „hervorbrechen u n d die Welt m i t Entsetzen und Bewunderung e r f ü l l e n " 1 8 .
Diese eindrucksvollen Passagen Heines kommen nicht von ungefähr. Ein Ereignis erschütterte Preußen weit über seine Grenzen hinaus und hatte dann in nahezu ganz Europa die Phase der Restauration zur Folge. Die Rekonstruktion dieses Ereignisses ist lehrreich für das Verstehen des zeitgenössischen Terrorismus und verdeutlicht uns, daß eine der wesentlichen subjektiven Bedingungen des Terrors das gute Gewissen ist. Nur in der Reinheit der Gesinnung erträgt man, was im Vollzug des Terrors nackte Faktizität ist. A m 23. März 1819 erdolchte der Theologiestudent Karl Ludwig Sand „aus schwärmerischer Freiheitsliebe", wie es in den Journalen hieß, den Schriftsteller von Kotzchue, den er für einen Hauptvertreter der Reaktion hielt. Seine Hinrichtung fand am 20. Mai 1820 in Mannheim statt 1 7 . Diese Tat erfüllte die Welt, wie Heinrich Heine schreibt, „mit Entsetzen und Bewunderung". Die Bewunderung galt dem Willen zur Freiheit und das Entsetzen der Tat, die man nicht anders als eine Konsequenz eben dieses Willens begreifen konnte. Es war um 1800 eine Generation herangewachsen, die vom Sturm und Drang einen phrasenhaften Despotenhaß gelernt hatte und eine abstrakte Freiheitsliebe. Man begeisterte sich für Teil, Hermann und Brutus, schrie ständig „ I n tyrannos!" 1 8 . Jena, wo Sand studierte, war das Zentrum der radikalen Burschenschaften, die sich die Schwarzen Brüder oder die Unbedingten nannten 1 9 . Der radikalste 15 Vgl. etwa A. Glucksmann, Die Meisterdenker, Reinbek b. Hamburg 1978; B.-H. Lévy, Das Testament Gottes. Der Mensch i m K a m p f gegen die Gewalt u n d Ideologie, Wien - München - Zürich - Innsbruck 1980; J. Thomas, Engel und Leviathan. Neue Philosophie i n Frankreich als nachmarxistische P o l i t i k u n d K u l t u r k r i t i k , Wien - München 1979. 16 H. Heine, Zur Geschichte der Religion u n d Philosophie i n Deutschland (1834), in: H. Heine, Beiträge zur deutschen Ideologie. M i t einer Einleitung von H. Mayer, F r a n k f u r t a. M. - B e r l i n - W i e n 1971, S. 108; vgl. dazu G. Tonelli, Heinrich Heines politische Philosophie (1830 - 1875), Hildesheim New Y o r k 1975. 17 Vgl. als zeitgenössische Reaktion die A r b e i t des Hegel-Schülers F. W. Carové, Uber die Ermordung Kotzebues, Eisenach 1819. 18 Vgl. dazu die gute Textsammlung von J. Hermand (Hrsg.), Von deutscher Republik. 1775 - 1795. Theoretische Grundlagen, Frankfurt a. M. 1968.
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Flügel der Burschenschaften vertrat eine Theorie individuellen Terrors , indem der politische Mord als Krieg einzelner gegen einzelne gutgeheißen wurde. Die philosophischen Wortführer und Rechtfertigungsideologen dieser Burschenschaften waren der Kant-Schüler Jakob Friedrich Fries und der protestantische Theologe de Wette. Fries hatte vor allem mit seinen Abhandlungen System der Philosophie als evidente Wissenschaft von 1804 und Wissen , Glaube und Ahndung von 1805 insofern dem Terrorismus der Burschenschaften ideologische Hilfestellung geleistet, da für ihn das Gefühl höher zu bewerten ist als die Erkenntnisprinzipien des Denkens 20 . Die Burschenschaften vertraten den Friesianischen Grundsatz, daß, wo eine durch den freien Willen und eigene Erkenntnis gewonnene Überzeugung vorliegt, dem davon Überzeugten alle Mittel gestattet sind, auch wenn sie dem allgemeinen Sittenkodex widersprechen. Die Tat muß lediglich vor der eigenen Überzeugung verantwortet werden 2 1 . Aus dieser Gesinnungsethik hatte der Führer der Jenenser „Unbedingten" Karl Folien revolutionäre Konsequenzen gezogen und eine Theorie individuellen Terrors entwickelt. Der politische Mord sei „la guerre des individues, der Krieg einzelner gegen einzelne" 22 . Die politisch-terroristische Brisanz wurde in der Folge der Ereignisse um K a r l Ludwig Sand noch deutlicher. So schrieb der Theologe de Wette am 31. März 1819 i n einem Brief an die Mutter Sands: „ E i n jeder handle n u r nach seiner Überzeugung, u n d so w i r d er das Beste t u n . . . So w i e die Tat geschehen ist, durch diesen reinen frommen Jüngling, m i t diesem Glauben, dieser Zuversicht, ist sie ein schönes Zeichen unserer Zeit 2 3 ." I n dem Brief eines Studenten v o m 20. A p r i l 1819 fand man die Nachricht, de Wette habe i n einer Studenten ver Sammlung geäußert: „Wenn Sand einen unwiderstehlichen Trieb zu der Tat gefühlt habe, so habe er recht getan, sich als Werkzeug Gottes zu betrachten u n d als M ä r t y r e r Gottes für eine gute Sache zu sterben 2 4 ."
Es gibt wohl keinen stärkeren Rechtfertigungsgrund für das fanatische gute Gewissen 25. Auch zu diesen Formen von Gesinnungsethik liefert Hegel einen angemessenen Kommentar: 19 Z u den Burschenschaften u n d ihren politischen Absichten vgl. die einschlägigen, kenntnisreichen Stichworte bei E. Lennhoff / O. Posner, I n t e r nationales Freimaurer-Lexikon, Nachdruck der Ausgabe 1932, Wien 1975. 20 Vgl. M . Hasselbladt, Jakob Friedrich Fries, München 1922, S. 32 - 52. 21 K . G. Faber, Student u n d P o l i t i k i n der ersten deutschen Burschenschaft, in: Geschichte i n Wissenschaft u n d Unterricht, Bd. 21, 1970, S. 77. 22 Κ . A . v. Müller, K a r l L u d w i g Sand, 2. Aufl., München 1925, S. 172 u n d 195; des näheren R. Pregizer, Die politischen Ideen des K a r l Folien. E i n Beitrag zur Geschichte des Radikalismus i n Deutschland, Tübingen 1912, S. 79. 23 Briefe von u n d an Hegel, hrsg. v. J. Hoffmeister u n d F. Nicolin, 3. Aufl., Hamburg 1969, 4 Bde., Bd. 2, S. 449. 24 M. Lenz, Geschichte der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Halle 1910, 4 Bde., Bd. 2, S. 65.
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„Es ist vorzüglich eine der verderbten M a x i m e n unserer Zeit", daß man sich „bei unrechtlichen Handlungen für die sogenannte moralische Absicht" interessiert. Hegel k r i t i s i e r t vielmehr, daß „die innere Begeisterung u n d das Gemüt . . . zum K r i t e r i u m dessen" w i r d , „was recht, v e r n ü n f t i g u n d v o r trefflich" ist, „so daß Verbrechen u n d deren leitende Gedanken, wenn es die plattesten, hohlsten u n d törichsten Meinungen seien, darum rechtlich, vern ü n f t i g u n d vortrefflich wären, w e i l sie aus dem Gemüt u n d der Begeisterung k o m m e n " 2 6 . Diese Sätze r i c h t e n sich gegen alle F o r m e n der G e s i n n u n g s e t h i k , besonders aber gegen Sand, Folien u n d i h r e L e h r e r Fries u n d de Wette. H e g e l l e h n t Sands T a t , d e n p o l i t i s c h - t e r r o r i s t i s c h e n M o r d , d e u t l i c h ab, v e r u r t e i l t die i h r z u g r u n d e l i e g e n d e T h e o r i e , v e r u r t e i l t das, w a s de W e t t e e i n „schönes Zeichen u n s e r e r Z e i t " n a n n t e . H e g e l sah v o r a l l e m die G e f a h r d a r i n , daß die burschenschaftlichen V e r b i n d u n g e n n u n m e h r „ d e n R e g i e r u n g e n A n l a ß u n d V o r w a n d " gaben, „ d i e d e m o k r a t i s c h e B e w e g u n g als eine demagogische zu v e r f o l g e n " 2 7 . U m so s t ä r k e r w e n d e t sich n u n m e h r H e g e l gerade gegen d i e j e n i g e n , die das Bestehende v e r w e r f e n , ohne es e r k a n n t zu haben, gegen eine P h i l o s o p h i e , die sich i m A u f s t e l l e n w i l l k ü r l i c h e r I d e a l e erschöpft.
I I I . D i e Rolle des Terrors i n Fortschrittstheorien E i n w e i t e r e r F a k t o r , ohne d e n der zeitgenössische T e r r o r i s m u s n i c h t v e r s t a n d e n w e r d e n k a n n , s i n d die h a n d l u n g s l e g i t i m i e r e n d e n , geschichtsphilosophischen Theorien des Fortschritts 28. Es h a n d e l t sich 25 Ist Fries und de Wette uns heute fern? Finden w i r nicht ganz ähnliche Passagen, w e n n Herbert Marcuse 1965 i n seiner „ K r i t i k der reinen Toleranz" über das Demonstrationsrecht v o n Studentengruppen schrieb: „Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette v o n Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte. Da man sie schlagen w i r d , kennen sie das Risiko und w e n n sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat k e i n Dritter, u n d am allerwenigsten der Erzieher u n d Intellektuelle das Recht, ihnen Enthaltung zu predigen." Vgl. auch H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied und B e r l i n 1967, S. 26 ff. u n d 60 ff. 26 Hegel, Rechtsphilosophie, S. 184 f. 27 K. Rosenkranz, Hegel als deutscher Nationalphilosoph, Leipzig 1870, S. 150. 28 Vgl. dazu u. a. H. Lübbe, Fortschritt als Orientierungsproblem. A u f k l ä rung i n der Gegenwart, Freiburg i. Br. 1975, S. 7 ff. u n d 32 ff.; R. Spaemann, Zur K r i t i k der politischen Utopie, Stuttgart 1957, S. 57 ff. und 104 ff.; L. Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung, E n t w i c k lung, Zerfall, 3 Bde., München - Zürich 1977- 1979, Bd. 1, S. 155 ff., Bd. 3, S. 489 ff.; F. H. Tenbruck, Wahrheit u n d Mission, in: Freiheit u n d Sachzwang. Festschrift für H e l m u t Schelsky, Opladen 1977; M. Bock, Soziologie als Grundlage des Wirklichkeitsverständnisses, Stuttgart 1980, S. 176 ff.; M . W. Fischer, Entscheidung, Tradition u n d Weltbild. Bemerkungen zu den Problemen des wissenschaftlichen Rationalismus, i n : Entscheidung, Argumentation, Auslegung. Hrsg. v. I. Tammelo u n d R. Weimar, F r a n k f u r t a. M. 1981.
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dabei zumeist u m Theorien, die vorgeben, auf alle Fragen nach unserem gesellschaftlichen Woher und Wohin Antwort geben zu können. Die Berufung auf den nach Herkunft und Zukunft angeblich durchschauten Gang der Geschichte gehört zu den wichtigsten ideologischen Herr schaftsmitteln. Wer seine Politik aus der behaupteten Kenntnis des weltgeschichtlichen Ziels der Menschheit zu begründen vermag, hat ideologisch jegliches Recht auf seine Seite gebracht. Leicht ist man dann in der Lage, i n der Feinderklärung des Gegners diesen zum Menschheitsfeind zu stempeln. Es gilt, gegen den altbösen Feind zu kämpfen, der sich dem eschatologischen Anbruch der neuen Welt entgegenstellt. Für den gegen den geschichtsnotwendigen Fortschritt zur totalen Humanität sich Sträubenden gibt es kein Pardon: Er w i r d liquidiert, seine Vernichtung ist ein A k t der „Säuberung". Das Bewußtsein, die Avantgarde totaler Menschlichkeit zu verkörpern, ist imstande, mörderische Aggressivität zu entfesseln. Die aufgeklärte Elite, die über das Monopol verbindlicher Einsicht i n die geschichtliche Notwendigkeit verfügt, erklärt m i t souveräner Macht, wer als „Mensch" und was als „Menschlichkeit" zu gelten hat. Das Gute fällt mit dem Wahren und dem geschichtlich Notwendigen zusammen. Einsicht i n die Notwendigkeit ist Freiheit, heißt es dann. Wer zu dieser Einsicht nicht fähig ist, beweist damit weniger intellektuelle Schwäche als moralisches Versagen: Er denkt nicht nur falsch, er ist auch falsch, weil er sich weigert, für die Erlösung der Menschheit Partei zu ergreifen. Gegenüber dem Weltgeschichtlich-Universalen vertritt er partikulare Interessen, gegenüber der guten Zukunft die schlechte Vergangenheit, gegenüber der Aufklärung den Obskurantismus. I m Dienst des geschichtlichen Fortschritts, der wie ein werdender Gott ist, erscheint alles erlaubt — auch der revolutionäre Exzess und Terror, auch die Liquidierung reaktionärer Klassen und Völker. Der mit dem Telos der Geschichte sich i n Übereinstimmung wissende revolutionäre Terrorist als Agent und Exekutor des Weltgeistes ist das Schaf i m Wrolfspelz, er mordet i m Dienste des Lebens, er versklavt u m der Freiheit willen, er verbreitet Entsetzen als reinigendes Vorspiel überschwenglicher Freude. „Die Zukunft ist unser", hatte 1825 der Fortschrittsdenker Saint Simon auf dem Sterbelager ausgerufen 29 und so dachten viele andere. Gleichwohl verließen sie sich nicht allein auf den unwiderstehlichen Gang des als Fortschritt interpretierten Geschichtsprozesses. Das Gottesurteil, das die Geschichte in letzter Instanz spricht, kann und muß durch radikale politische A k t i v i t ä t nicht nur ausgelegt, sondern auch exekutiert werden. Karl Marx sieht den revolutionären Terroristen 29
Z i t i e r t nach G.-K. Kaltenbrunner,
I m Ernstfall, München 1979, S. 104.
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als sozialemanzipatorische Hebamme, wenn er sagt, „daß es nur ein Mittel gibt, die mörderischen Todeswehen der alten Gesellschaft, die blutigen Geburtswehen der neuen Gesellschaft abzukürzen, den revolutionären Terrorismus" 3 0 . Bereits Saint Juste hat ausgerufen: „Entweder die Tugend oder der Terror!" und ebenso Robespierre: „Der Terror ist kein besonderes Prinzip für sich, sondern nur ein Ausfluß der Tugend 3 1 ." I m Marxismus w i r d dieser Tugendpathos dynamisiert, denn die revolutionäre Avantgarde versteht sich als die Spitze des Geschichtsprozesses selbst, als bewaffneter Weltgeist 3 2 . Der aufgeklärten, über ein „richtiges Bewußtsein" verfügenden Vorhut der gesellschaftlichen Dialektik eignet die gnadenlose Aggressivität der guten Sache. Deutlich kommt diese Aggressivität bei Netschajew zum Ausdruck 3 3 , der finstersten und unheimlichsten Gestalt der anarchistischen Szene i n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der in vielem als unmittelbarer Vorläufer des aktuellen Terrorismus erscheint: Der von i h m entworfene B u n d der Terroristen „hat keinen anderen Zweck, als die vollständige Emanzipation u n d das Glück des Volkes, das heißt der arbeitenden Menschen. Aber v o n der Überzeugung ausgehend, daß diese Emanzipation u n d dieses Glück n u r durch eine Volksrevolution, die alles zerstört, erreicht werden kann, w i r d der B u n d alle M i t t e l u n d Kräfte anwenden, u m die Übel u n d Leiden zu erhöhen u n d zu vermehren, die endlich die Geduld des Volkes zerreißen und einen Massenaufstand entfachen werden" 3 4 .
Netschajew hatte eine solche terroristische Geheimgesellschaft gegründet; als er bei einem ihrer Mitglieder Opposition und Mißtrauen bemerkte, ließ er ihn durch die Mitverschworenen umbringen. Als wenig später der Mord entdeckt wurde, floh er in die Schweiz zurück, ohne auch nur zu versuchen, seine Komplizen zu warnen. Unmittelbar nach Netschajew schuf Dostojewski in seinen Dämonen das Bild des Pjotr Werchowjensky. I n seinem Katechismus der Revolution beschreibt Netschajew den Terroristen:
30 K. Marx, Neue Rheinische Zeitung v o m 7. November 1848 (Marx-EngelsWerke i n 39 Bde., 1 Ergbd. i n zwei Teilen, 2 Registerbde., B e r l i n 1956 ff.) Bd. 5, S. 457. 31 Vgl. Robespierre am 5. Februar 1795 „Über die Prinzipien der politischen Moral" i n Reden der Französischen Revolution, S. 341 - 362. 32 Die Analysen v o n Kolakowski, Haupt Strömungen des Marxismus. Entstehung, Entwicklung, Zerfall. 3 Bde., München 1977 - 1979. 33 Z u Netschajews Leben u n d Werk vgl. J. Cattepoel, Der Anarchismus, München, 3. A u f l . 1979, S. 53 - 55 u n d S. 90 - 95. 34 S. G. Netschajew, Katechismus der Revolution, in: Social-politischer Briefwechsel m i t Alexander I. W. Herzen u n d Ogarjow, hrsg. v. T. Schiemann, Stuttgart 1895, S. 371 - 380; S. 379.
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„Er hat gebrochen m i t der ganzen bürgerlichen Ordnung und der ganzen zivilisierten Welt, m i t den Gesetzen, Sitten, m i t der Moral u n d m i t allen allgemein anerkannten Konventionen. Er ist i h r unversöhnlicher Feind, und w e n n er fortfährt, i n dieser Welt zu leben, dann nur, u m sie umso sicherer zu vernichten." Alles betreibt der Terrorist n u r zum Zweck der Revolution: Mechanik, Chemie lernt er, u m zerstören zu können. Für i h n gibt es n u r eine Moral: den Nutzen der Revolution; alles, was dies hindert, ist verbrecherisch. „ A l l e Gefühlsregungen, die verweichlichenden Gefühle der Verwandtschaft, Freundschaft, Liebe, Dankbarkeit müssen ausgelöscht sein, i n i h m durch die einzige Leidenschaft für sein revolutionäres A m t . " Der Terrorist kennt auch keine Gefühlsregungen bei seiner Tätigkeit: v i e l mehr handelt er nach kalter Überlegung, ohne Haß oder Begeisterung für das allgemeine Interesse der Revolution. Gegenüber den zu bekämpfenden politischen Systemen ist alles erlaubt, u m das Ziel der „Pandestruktion" zu verfolgen 3 5 . E i n e ä h n l i c h e t o t a l i t ä r - t e r r o r i s t i s c h e G r u n d l a g e des g u t e n G e w i s sens w i e b e i N e t s c h a j e w s p r i c h t auch aus e i n e r N u m m e r des ersten o f f i z i e l l e n Organs d e r Tscheka v o m 18. A u g u s t 1919, also der V o r l ä u f e r o r g a n i s a t i o n des späteren K G B , des K o m i t e e s f ü r Staatssicherheit, die Rotes Schwert h i e ß : „Unser ist ein neuer Moralkodex. Unsere Humanität ist absolut; denn sie gründet sich auf das glorreiche Ideal der Beseitigung der Tyrannei und Unterdrückung. Uns ist alles erlaubt; denn w i r sind die ersten i n der Welt, die das Schwert nicht ziehen, u m zu unterdrücken, zu versklaven, sondern i m Namen der Freiheit und zur Abschaffung der Sklaverei 3 ·." Lenin h a t j a i m m e r , z u m T e i l u n t e r a u s d r ü c k l i c h e r B e r u f u n g auf Marx u n d Engels , G e w a l t t ä t i g k e i t u n d T e r r o r i s m u s b e j a h t . Schroff l e h n t e er a l l e H a l b h e i t e n ab u n d eben d a r i n besteht die h e r a u s r a g e n d e E i g e n t ü m l i c h k e i t d e r O k t o b e r r e v o l u t i o n , m i t der v e r g l i c h e n a l l e f r ü h e r e n R e v o l u t i o n e n — v o n d e n b e i d e n englischen i m 17. J a h r h u n d e r t bis zu den französischen v o n 1789, 1830 u n d 1848 u n d d e n m i t t e l e u r o p ä i schen i m J a h r e 1918 — n u r h a l b e , u n v o l l e n d e t e , m i t K o m p r o m i s s e n endende R e v o l u t i o n e n sind. B e r e i t s i n d e r f r ü h e n S c h r i f t Womit beginnen? h ä l t L e n i n e i n Plädoyer für den Terror 37. O b als E m i g r a n t i n G e n f oder nach der M a c h t e r g r e i f u n g , Terror ist ein fixer Bestandteil der leninistischen Praxis. A m 5. D e z e m b e r 1918 e r k l ä r t L e n i n v o r d e m V I I . gesamtrussischen S o w j e t k o n g r e ß , daß „ T e r r o r u n d Tscheka" (also die G e h e i m p o l i z e i ) „ a b s o l u t n o t w e n d i g e D i n g e " s e i e n 3 8 . 35
Ders., ebd., S. 375 - 377. Z i t i e r t nach B. D. Wolfe, M a r x und die Marxisten, B e r l i n 1968, S. 324. 37 W. I. Lenin, W o m i t beginnen? M a i 1901, in: L. W. (Werke, 40 Bde., 3 Ergbde., 2 Registerbde., B e r l i n 1955 ff.), Bd. 5, S. 1 - 13. 38 Lenin, V I I Gesamtrussischer Sowjetkongreß. Schlußwort zum Bericht des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees und des Rats der Volkskommissare vom 6. Dezember 1919. L W . Bd. 30, S. 222 ff. 38
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Da die bei weitem überwiegende Mehrzahl aller Menschen zu allen Zeiten der Selbsterhaltung — dem „suum essere conservare" , wie sich Spinoza ausdrückt — den höchsten Rang vor sämtlichen anderen Zielen einräumt, besteht die wirksamste A r t , Macht auszuüben, in der Fähigkeit, anderen risikolos das Leben zu nehmen. Ein derartiges Machtverhältnis weist einen extrem einseitigen Charakter auf, und deshalb reagieren die meisten Menschen auf die i n i h m enthaltene Bedrohung willfähriger als auf andere Druck- und Zwangsmittel 3 9 . Die Reaktion darauf ist Schrecken, der — wenn kein Fluchtweg mehr offen bleibt — in lähmendes Entsetzen, totale Unterwerfung und Heuchelei übergeht. Terroristische Gewalt ist innappelabel. Lenin war sich der Bedeutung dieses Herrschaftsmittels wohl bewußt, er und nicht erst Stalin hat terroristische Gewalt i m Sowjetstaat zugelassen und schließlich sogar dekretiert. Der Terror soll gemäß der Marxschen Verheißung die Geburtswehen der neuen Gesellschaft abkürzen. Das klassenlose Reich der Freiheit w i r d durch terroristische Diktatur erzwungen. Was Diktatur ist, umreißt Lenin zynisch: „Der wissenschaftliche Begriff der D i k t a t u r bedeutet nichts anderes als eine durch keinerlei Gesetze oder absolute Regeln behinderte uneingeschränkte Herrschaft, die sich u n m i t t e l b a r durch Gewalt erhält. Nichts anderes ist die Bedeutung des Begriffs ,Diktatur' 4 0 ."
Von Marx und Lenin führt also eine direkte Linie zum linksradikalen Terrorismus der Roten-Armee-Fraktion und ähnlichen Gruppen. Es gehört zu den schlimmsten politisch-theoretischen Fehlurteilen, wenn derartige Terrorgruppen pauschal dem Bereich des Anarchismus zugeordnet werden. Denn der Anarchismus ist nicht notwendig mit einer gewaltbejahenden Haltung verbunden. Es gibt seit jeher einen Anarchismus der Gewaltfreiheit, der ganz anders als der Marxismus, föderalistisch, pluralistisch, spontaneitätsfreundlich sowie land-, erdund naturliebend ist. Bakunin und Netschajew, die den Terror bejahen 4 1 , sind bei weitem nicht die bedeutendsten Theoretiker des Anarchismus. Proudhon, Tolstoi, Landauer und Buber sind Anarchisten, die den Terror stets verworfen und, jeder auf seine Weise, nach friedlichen Wegen zur sozialen Befreiung gesucht haben 42 . Gewiß nicht ihnen 39 Dieses Problem w i r d eindrücklich dargestellt am Beispiel des nationalsozialistischen Terrorismus i n den autobiographischen Notizen v o n J. Améry, Jenseits von Schuld u n d Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, 2. Aufl., Stuttgart 1977. 40 Lenin, Staat u n d Revolution, L W Bd. 25, S. 393 ff., bes. S. 413 ff. 41 Cattepoel, S. 47 - 99. 42 Vgl. ebd., S. 18 ff., 100 ff. u n d 120 ff.; vgl. M. Buber, Pfade i n Utopia, in: Werke Bd. 1: Schriften zur Philosophie, München - Heidelberg 1962, S. 833 bis 1002.
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folgen die mit fünfzackigem Stern und Maschinengewehr oder anderen Emblemen sich drapierenden terroristischen Folterknechte und Mörder. Die Mitglieder der RAF müssen beim Wort genommen werden, wenn sie auf die Frage, ob sie sich zu den Anarchisten oder Marxisten zählen, klar und eindeutig mit einem Bekenntnis zu Marx und Lenin antworten. I n diesem Sinne äußerte sich auch Klaus Croissant , der einer der juristischen Betreuer der westdeutschen Terrorszene war, in einem 1977 gegebenen Fernsehinterview: „Es ist ein zutiefst sozialistisches, ein kommunistisches Ziel, das die M i t glieder der R A F verfolgen. Für die radikalen L i n k e n gibt es keinen anderen Ausweg, als m i t der Waffe gegen ein Regime zu kämpfen, das bereits zum Faschismus übergegangen ist 4 3 ."
So eigenartig die Behauptung anmutet, die BRD sei unter der sozialdemokratisch-liberalen Regierung des Kanzlers Schmidt ein faschistischer Staat geworden, so wenig kann in Abrede gestellt werden, daß Marx und Lenin ebenfalls zu den historischen Wurzeln des zeitgenössischen Terrorismus zählen. Stalinismus und Terrorismus seien Karikaturen der authentischen Marxschen Lehre, heißt es. M i t Leszek Kolakowski ist darauf zu entgegnen, daß man von einer Karikatur nur insofern sprechen kann, als sie an das Original erinnert 4 4 . Gleichzeitig werden aber die ideologischen Grenzen zwischen linkem und rechtem Terror unscharf, und die Kooperation i n der terroristischen Praxis verdeutlicht dies. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß man in den Delirien der „Baader-Meinhoff-Bande" gleichzeitig die greulichsten Bilder des Stalinschen Familienalbums und das neubelebte Gespenst von Auschwitz auftauchen sah. Ulrike Meinhoff bestätigt dies: „Dort sind 6 M i l l i o n e n Juden für das, was sie waren, getötet u n d auf den Misthaufen geworfen worden: Geldjuden . . . Die Deutschen waren A n t i semiten, darum unterstützen sie jetzt die RAF. Sie haben das noch nicht erkannt, w e i l sie v o m Faschismus u n d v o m Judenmord noch nicht losgesprochen worden sind. M a n hat ihnen noch nicht gesagt, daß der A n t i semitismus i n Wahrheit der Haß gegen den Kapitalismus ist 4 5 ."
Welch unglaubliche Koalition w i r d hier angedeutet? Indem ich diese Frage offen lasse, kehre ich zu den eingangs erwähnten Überlegungen zurück und fasse zusammen: Die keineswegs erschöpfenden und w i l l kürlich gewählten Beispiele der ideologischen Wurzeln des zeitgenössischen Terrors verdeutlichen uns erstens , daß der Terror eine politische Praxis ist, die ihre Legitimität unmittelbar aus den höchsten 43
Z i t i e r t in: Das Parlament, Nr. 46, 19. November 1957, S. 11. L. Kolakowski, Leben trotz Geschichte, München - Zürich 1977, S. 257 ff. 45 Zitiert nach dem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung v o m 15. Dezember 1972. 44
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Zwecken bezieht. Zweitens, daß die subjektive Bedingung der Möglichkeit des Terrors das gute Gewissen ist — und drittens, daß die terroristische Praxis eine revolutionäre Praxis ist. I n dieser Praxis sind Legalität und Legitimität versöhnt und verschmolzen. Der Ursprung totalitärer Herrschaft aus der Befolgung dieser drei genannten Gesichtspunkte, die w i r als terroristischen Imperativ zusammenfassen können, ist, wie man erkennt, kein Zufall, sondern theoriekonsequent. Ein handliches Vademecum gegen den Terrorismus gibt es nicht, wenn man den Boden der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht unter den Füßen verlieren w i l l . Gerade die Schriften Hans Kelsens verdeutlichen dies 46 . Gleichwohl: Der terroristische Angriff auf die Grundlagen eines politischen Systems ist dann aussichtsreich, wenn er auf ein Publikum stößt, das bis zur intellektuellen Selbstaufopferung bereit ist, für einen Beweis produktiven, kritischen Geistes zu nehmen, was in Wirklichkeit latent totalitär, aggressive Verachtung freiheitlichpolitischer Ordnung ist 4 7 . Es geht nicht an, daß man sich jede politische Provokation bieten läßt, weil man nicht wahrhaben möchte, daß es Leute gibt, deren politische Feindschaftserklärung wirklich, ernst und total gemeint ist.
46 A m eindrücklichsten w o h l H. Kelsen, V o m Wesen u n d Wert der Demokratie, 2. Aufl., Tübingen 1929. 47 Vgl. die Beiträge v o n P. Koller, H. Schäffer, W. Krawietz, Th. öhlinger, O. Weinberger u. a. i n diesem Band.
BEMERKUNGEN Z U KELSENS .VERGELTUNG UND K A U S A L I T Ä T " , BESONDERS ZUR NATURDEUTUNG DER P R I M I T I V E N Von Clemens Jabloner, Wien I. Einleitung Vergleicht man die beiden Auflagen von Kelsens zentralem Werk „Reine Rechtslehre" aus den Jahren 1934 und 1960, so sticht als eine bedeutende Erweiterung der späteren Fassung das Kapitel „Recht und Wissenschaft" hervor 1 . Dieses Kapitel stellt eine Verbindung zwischen dem rechtstheoretischen und dem ideologiekritischen Oeuvre Kelsens dar: Die Abschnitte 17-22 dieses Kapitels behandeln das Thema „Kausalität und Zurechnung". Nun handelt es sich dabei u m eine Form jenes fundamentalen Dualismus von „Sein und Sollen", der dem gesamten Denken Kelsens zugrunde liegt. I n der Gegenüberstellung „Kausalität und Zurechnung" w i r d dieser Dualismus als jener der die Natur- von den Normwissenschaften unterscheidenden Ordnungsprinzipien behandelt 2 . Die besondere historische Dimension und Stellung dieser Ordnungsprinzipien i m Rahmen einer Geschichte der menschlichen Weltanschauungen war Kelsen schon von Anfang an bewußt 3 . I n der ersten Auflage der „Reinen Rechtslehre" führt er sehr knapp aus, daß auch die Kausalität „nur einen spezifischen Zusammenhang der Elemente" bedeute, besonders, „wenn man sie von dem magischmetaphysischen Sinne befreit, der ihr ursprünglich anhaftet, da man — noch ganz animistisch — i n der Ursache irgendeine geheime Kraft vorstellt, die die W i r k u n g aus sich heraus erzeugt" 4 . Eine nähere Aufhellung dieser Zusammenhänge hat Kelsen vor allem i n dem Werk „Vergeltung und Kausalität" und i n mehreren Schriften ähnlichen Titels und knapperen Inhalts versucht 5 . 1
2 3
Hans Kelsen , Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, S. 72 ff.
Ders., ebd., S. 79.
Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1911, S. 4. Kelsen, Reine Rechtslehre, W i e n 1934, S. 23. 5 Kelsen, Vergeltung und Kausalität — Eine soziologische Studie, Den Haag 1941 (ausgeliefert 1946); Englische Fassung: Society u n d Nature — A Sociological I n q u i r y , Chicago 1943 (In dieser Fassung fehlen die „Exkurse" der deutschen Ausgabe). Weiters: Die Entstehung des Kausalgesetzes aus dem Vergeltungsprinzip, The Journal of Unified Science (Erkenntnis), Vol. 4
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Die von Kelsen in diesen Schriften vertretene Position läßt sich — in einer gewissen Vergröberung — in folgenden Thesen darstellen: (1) Die Menschen deuten die „Natur" normativ nach dem Prinzip der Zurechnung (somit als Gesellschaft) oder naturwissenschaftlich nach dem Prinzip der Kausalität (somit als Natur) 6 . (2) I n der Entwicklung des menschlichen Denkens t r i t t die normative vor der kausalen Methode auf. Kelsen versucht, dies anhand einer Analyse der Mentalität der Naturvölker zu belegen 7 . (3) Die Vorstellung der „Kausalität" löst sich, geschichtlich nachweisbar, von jener der „Vergeltung" 8 . (4) I m Maße der „Emanzipation der Kausalitätsvorstellung von jener der Vergeltung durch Aufgabe des Anspruches auf absolute Notwendigkeit kann der Dualismus zugunsten einer — auch i m sozialen Bereich möglichen — einheitlichen Wissenschaft überwunden werden" 9 . These (1) ist der Kelsens ganzes Werk beherrschende ursprünglich neukantianische Dualismus der Kategorien „Sein" und „Sollen" 1 0 . Die Besonderheit der hier behandelten Schrift liegt darin, daß Kelsen diesen Dualismus auf die Weltanschauungskritik anwendet. These (2) ist im Zusammenhang mit der Ethnologie zu sehen (vgl. die Ausführungen unter III.). These (3) ist Gegenstand des zweiten und dritten Teiles von „Vergeltung und Kausalität" und i m Zusammenhang mit der WissenschaftsV I I I , No 1 - 3 , 1939, S. 69 ff.; Causality and Retribution, The Journal of Unified Science (Erkenntnis), Vol. I X , 1939, S. 234 ff.; Causality and Retribution, Philosophy of Science, Vol. 8, No. 4, 1941, S. 533 ff.; Causality and Imputation, Ethics, Vol. L X I , No 1, 1950, S. 1 ff.; Kausalität u n d Zurechnung, Osterr. Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. 8, 1955, S. 125 ff. Uber „Vergeltung u n d Kausalität" allgemein vgl. E. Topitsch, Kelsen als Ideologiekritiker, i n : S. Engel i. V. m. R. A . M e t a l l (Hrsg.), Law, State and International Order — Essays i n Honor of Hans Kelsen, K n o x v i l l e 1964, S. 329 ff.; E. Topitsch, Hans Kelsen als Ideologiekritiker, in: Topitsch, Gottwerdung und Revolution, Pullach bei München 1973, S. 218 ff.; E. Topitsch, Hans Kelsen — Demokrat und Philosoph, i n diesem Band, S. 24 f.; J. Aomi, Ideologiekritik i n the T w e n t i e t h Century: Russell, Kelsen, Popper and Topitsch, in: K . Salamun (Hrsg.), Sozialphilosophie als A u f k l ä r u n g — Festschrift für Ernst Topitsch, Tübingen 1979, S. 14 ff. 6 Kelsen, Vergeltung und Kausalität, z. B. S. 43. 7 Ders., ebd., S. 7 ff. 8 Ders., ebd., S. 236 ff., S. 259 ff. 9 Ders., ebd., S. 281 f. 10 Vgl. z. B. G. Wielinger, Rechtstheorie i n Österreich: Hans Kelsen u n d die Wiener Rechtstheoretische Schule, in: J. C. Marek u. a. (Hrsg.), Österreichische Philosophen und i h r Einfluß auf die analytische Philosophie der Gegenwart, Bd. I, Conceptus, Sonderbd., X I (1977), S. 373,
Bemerkungen zu Kelsens „Vergeltung u n d Kausalität"
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geschichte und mit der Wissenschaftssoziologie zu sehen. Diesen Verbindungen w i r d hier nicht weiter nachgegangen, doch ist zu erwähnen, daß die Forschungen Zilsels (vgl. II.) Kelsen i n vielem bestätigen und ergänzen 11 . These (4) führt zur Kausalitätsdiskussion i m Rahmen der Wissenschaftstheorie 12 . Auch dies w i r d i m folgenden nur so weit behandelt, als es u m den Ansatz der „Reinen Rechtslehre" geht (vgl. II.). II. „Vergeltung und Kausalität" — ein Beitrag zur Einheitswissenschaft? I n einer 1977 erschienenen Würdigung Hans Kelsens w i r d der Wert seines Werkes vor allem in der Nutzbarmachung der Wissenschaftsund Erkenntnistheorie für die Rechtswissenschaft gesehen 13 . A n anderer Stelle dieses Beitrages w i r d allerdings der eigenartig geringe Kontakt Kelsens mit den Philosophen des Wiener Kreises festgestellt und als Ursache vermutet, daß bei diesen die Fragen der Erkenntnistheorie vor allem i m Hinblick auf die Naturwissenschaften von Interesse waren 1 4 . Diese Vermutung t r i f f t nun auch so weit zu, als die Leistungen der Philosophen des Wiener Kreises rückblickend vor allem i m Zusammenhang mit der Theorie der Naturwissenschaften zu sehen sind 1 5 . Die Intentionen des Wiener Kreises gingen aber zunächst viel weiter, i n die Richtung einer Eroberung aller Wissenschaften durch die auf der Basis des Physikalismus 16 stehende Einheitswissenschaft 17. Die Ein11 Vgl. E. Zilsel, Die Entstehung des Begriffs des physikalischen Gesetzes, in: W. K r o h n (Hrsg.), Edgar Zilsel — Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft, F r a n k f u r t a. M. 1976, S. 66 ff. Vgl. auch die Bezugnahme Kelsens auf Zilsel, in: Kelsen, Vergeltung und Kausalität, S. 505. 12 Vgl. z. B. W. Stegmüller, Probleme u n d Resultate der Wissenschaftstheorie u n d Analytischen Philosophie, Bd. I, Wissenschaftliche E r k l ä r u n g und Begründung, B e r l i n - Heidelberg - New Y o r k 1974, S. 428 ff. u n d jüngst W. Leinfellner, Kausalität i n den Sozialwissenschaften, in: G. Posch (Hrsg.), Kausalität, Stuttgart 1981, S. 221 ff. 13 G. Wielinger, Rechtstheorie, S. 375. 14 Ders., ebd., S. 371. 15 Dies deshalb, w e i l die v o m Wiener Kreis angestrebte Uberwindung der Trennung der Wissenschaften eben nicht w i r k s a m geworden ist. Uber den Wiener Kreis vgl. ζ. Β . V. Kraft, Der Wiener Kreis, 2. Aufl., Wien - New Y o r k 1968; W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, 4. Aufl., Stuttgart 1969, S. 351 ff. 16 Uber den „Physikalismus" u n d seine Entwicklung vgl. V. Kraft, S. 149 ff., 5. 192 f. 17 Vgl. R. Carnap / Η . Hahn / Ο. Neurath, Wissenschaftliche Weltauffassung — Der Wiener Kreis, in: R. Hegselmann (Hrsg.), Otto Neurath —
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heitswissenschaft verstand alle wissenschaftlichen Aussagen als kohärente Sätze über physikalische, d.h. i n Raum und Zeit existierende, beobachtbare Tatbestände 18 . Die angestrebte „Reinigung" aller Wissenschaften — überhaupt aller Lebensbereiche schlechthin — wurde besonders vom „linken Flügel" des Wiener Kreises programmatisch und mit nicht geringem Pathos verkündet 1 9 . Für den gegebenen Zusammenhang sind nun vor allem jene Überlegungen wesentlich, die sich auf eine Begründung der Soziologie und Geschichte i m Rahmen der Einheitswissenschaft bezogen; hier sind vor allem Neuraths „Empirische Soziologie" 20 und die Schriften von Zilsel 21 zu nennen. Neurath versuchte, die Soziologie als Realwissenschaft zu begründen: soziologische Aussagen haben als Aussagen über räumlichzeitliche Ordnung aufzutreten 22 . Die Gesetze dieser physikalischen Theorie sind freilich nicht die Gesetze der Physik, sondern soziologische 23 . Die Schrift Neuraths besteht zum großen Teil aus Ausführungen über die Einheitswissenschaft, denen wiederum ein historisierender Zug eigentümlich ist 2 4 . I n einer A r t „Sozialgeschichte des Denkens" — bei Neurath unter der signifikanten Überschrift „Von der Magie zur Einheitswissenschaft" — w i r d die Geschichte der menschlichen Denkformen — und somit auch der Wissenschaft — rekonstruiert, wobei nach Neurath diese „nicht abgesondert, sondern nur als Geschichte bestimmter Werkzeuge i m Rahmen einer Geschichte des gesamten menschlichen Denkens" behandelt werden könnte 2 5 . Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus u n d Logischer Empirismus, Frankfurt a. M. 1979, S. 81 ff. 18 Vgl. R. Hegselmann, Otto Neurath — Empirischer A u f k l ä r e r u n d Sozialreformer, in: R. Hegselmann, S. 41. Dieser radikale Standpunkt ist später wesentlich modifiziert worden — vgl. V. Kraft , S. 167. Diese weitere E n t wicklung bleibt hier außer Betracht. 19 Z u r politischen Dimension des Wiener Kreises vgl. R. Hegselmann, S. 53 ff. und kritisch V. Kraft , S. 3; Der letzte Satz der Gemeinschaftsarbeit v o n Carnap - H a h n - Neurath lautet: „Die wissenschaftliche Weltauffassung dient dem Leben u n d das Leben n i m m t sie auf." 20 O. Neurath, Empirische Soziologie — Der wissenschaftliche Gehalt der Geschichte u n d Nationalökonomie, W i e n 1931. E i n teilweiser Nachdruck dieser A r b e i t findet sich bei R. Hegselmann, S. 145 ff., doch fehlen die für den gegebenen Zusammenhang wesentlichen Kapitel 1 . - 5 . 21 Vgl. die bei W. Krohn gesammelten Aufsätze Zilsels. 22 O. Neurath, S. 59. 23 Ders., S. 76 f. 24 Vgl. schon die sog. „Drei-Stadien-Theorie" von A . Comte, Die Soziologie — Positive Philosophie, hrsg. von F. Blaschke, 2. Aufl., Stuttgart 1974, S. 172 ff. 25 O. Neurath, S. 4.
Bemerkungen zu Kelsens „Vergeltung und Kausalität"
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Als solche Werkzeuge erscheinen je nach dem Entwicklungsstand etwa die Magie, aber auch die neuzeitliche Wissenschaft 26 . Die „wissenschaftliche Weltauffassung" und ihr Instrument „Einheitswissenschaft" werden in dieser Rekonstruktion als das bisher höchste Stadium i n der Entwicklung des menschlichen Denkens vertreten 2 7 . Diese A r t der Reflexion ist jedoch selbst nicht schon Produkt der Einheitswissenschaft 28 . Zilsel hat später konkreter versucht, die Methode der Einheitswissenschaft auf die Geschichte zu übertragen, u m auf der eher programmatischen Linie Neuraths zu „historisch-soziologischen Gesetzen" zu gelangen 29 . Zilsel formuliert auch solche Gesetze, sie haben allerdings nur i m „Vorfeld" wirklicher Wissenschaft Geltung und sollen als „vorläufige und mehr oder weniger wahrscheinliche Behauptungen", als Beispiele, die illustrieren, welche Formen annäherungsweise historische Gesetze annehmen würden, dienen. Da man in der Geschichte keine Experimente machen könnte, bleibt als einziger Weg der Gesetzfindung „der Vergleich verschiedener Länder und K u l t u r e n " 3 0 . I n diesem Kontext kann Kelsens „Vergeltung und Kausalität — Eine soziologische Studie" — erschienen i m Rahmen der von Neurath u. a. herausgegebenen „Bibliothek der Einheitswissenschaft" — auch i n einem nicht trivialen Sinne als Beitrag zur Einheitswissenschaft verstanden werden 3 1 ' 3 2 : I n „Vergeltung und Kausalität" geht es Kelsen zunächst darum, auf der Grundlage seines i h m eigenen dualistischen Ansatzes (These 1) (s)einen Beitrag zu dieser „Sozialgeschichte des Denkens" zu liefern. Da nun Kelsens für die Rechtswissenschaft sonst vertretene rein normative Methode mit der physikalistischen Grundlage der Einheitswissenschaft in einem evidenten Widerspruch steht, geht es ihm dann weiter darum, den Ort zu bestimmen, an dem die normative Wissen2
* Ders., S. 11 ff. Ders., S. 17 f. 28 Nach W. Stegmüller, Hauptströmungen, S. 422 ff., hat m a n allgemein die positive Arbeit der einzelnen Vertreter des Empirismus an logischen u n d wissenschaftstheoretischen Fragen v o n ihrer Polemik gegen die überkommene Metaphysik zu trennen. 29 Vgl. E. Zilsel, Die Physik u n d das Problem der historisch-soziologischen Gesetze, in: W. Krohn, S. 200. 30 E. Zilsel, S. 208. 31 „Vergeltung u n d Kausalität" ist als Volume I I der „ L i b r a r y of Unified Science, Book series (Ο. Neurath - Editor i n chief; R. Carnap / P. Frank / J. Jorgensen / C. W. Morris — Associate editors) erschienen. Z u r „Bibliothek der Einheitswissenschaft" vgl. R. Hegselmann, S. 42. 32 Nach allgemeiner Darstellung ist Kelsen m i t Mitgliedern des Wiener Kreises nicht i n persönlichem K o n t a k t gestanden. Vgl. z. B. G. Wielinger, S. 371. 27
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schaft — besonders die Rechtswissenschaft — i m Rahmen dieser Entwicklung steht. Hier muß Kelsen dem Ideologievorwurf von positivistischer Seite begegnen 33 . I n „Vergeltung und Kausalität" nimmt Kelsen zu dieser Frage den i n der Entwicklung seines Denkens radikalsten Standpunkt ein: „Auch der Dualismus von Natur und Gesellschaft ist keineswegs das letzte W o r t der Erkenntnis. Auch dieser Dualismus w i r d überwunden, u n d zwar durch die Auflösung des Normbegriffes. Der Anspruch des Sollens: als ein v o m Sein v ö l l i g verschiedener Sinn, der Anspruch auf Normativität: als eine gegenüber der Kausalität selbständige, von der Gesetzlichkeit der Natur verschiedene Gesetzlichkeit der Gesellschaft zu gelten, w i r d als bloße »Ideologie' durchschaut, h i n t e r der sich als Realität konkrete Interessen von Individuen u n d Gruppen verbergen, die, zur Herrschaft gelangt, i h r Wollen als Sollen u n d dessen Ausdruck als N o r m hinstellen. A n die Stelle des Dualismus von Natur und Gesellschaft t r i t t der von Realität u n d Ideologie 3 4 ."
Auf dem Boden dieser Feststellung Kelsens ist eine Rechts „Wissenschaft" wohl nicht mehr möglich. Zwar ist „Vergeltung und Kausalität" auf der anderen Seite eben auch ein Angriff auf die die Naturwissenschaften traditionell beherrschende Kausalitätsvorstellung, deren metaphysische Residuen Kelsen aufzeigt, aber mit den von ihm in Aussicht gestellten einheitlichen sozialen Gesetzen über „statistische Wahrscheinlichkeit" (vgl. These 4) ist die Rechtswissenschaft jedenfalls überholt. Dieses erstaunliche Schlußwort von „Vergeltung und Kausalität" ist freilich nicht Kelsens letztes Wort zum Ideologieproblem der Rechtswissenschaft. I n der zweiten Auflage der Reinen Rechtslehre greift Kelsen im Abschnitt „Die Leugnung des Sollens; das Recht als Ideologie" den Faden wieder auf. Er gebraucht einen doppelten IdeologieBegriff. Ideologie kann einmal verstanden werden als all das, „was nicht kausalgesetzlich bestimmte Wirklichkeit oder eine Beschreibung dieser Wirklichkeit ist". Insoweit w i r d „das Recht als Norm, das heißt als der von kausal bestimmten Seins-Akten verschiedene Sinn dieser Akte, eine Ideologie". Ganz anders als i n „Vergeltung und Kausalität" w i r d eine einheitliche Sozialwissenschaft, die die Rechtswissenschaft entbehrlich machen würde, nicht mehr i n Aussicht gestellt. Es bleibt der Reinen Rechtslehre die Aufgabe, den Weg zu jenem Standpunkt frei zu machen, „von dem aus das Recht als eine Ideologie i n diesem Sinne — das heißt als ein von der Natur verschiedener Systemzusammenhang — verstanden werden kann" 3 5 . 33 O. Neurath, S. 111, nennt Kelsen, den er als Uberwinder theologischer Restbestände i n der Staatslehre erwähnt, „nicht ganz metaphysikfrei". 34 Kelsen, Vergeltung u n d Kausalität, S. 281.
Bemerkungen zu Kelsens „Vergeltung und Kausalität"
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Gänzlich aufgelöst ist die Problematik des Finales von „Vergeltung und Kausalität" bei Anlegung des zweiten Begriffes von „Ideologie". In diesem Sinn bedeutet Ideologie bloß „eine nichtobjektive, von subjektiven Werturteilen beeinflußte, den Gegenstand der Erkenntnis verhüllende, sie verklärende oder entstellende Darstellung" eines Gegenstandes, der auch das positive Recht sein kann. So verstanden bewährt sich die Reine Rechtslehre als eine radikal realistische Rechtstheorie 3 6 . I I I . „Vergeltung und Kausalität" als Beitrag zur Ethnologie 1. Kelsen behauptet, daß eine Analyse „primitiver Gesellschaften und der Eigenheit primitiver Mentalität" zeige, daß die Deutung der Natur durch den Primitiven nicht nach dem Prinzip der Kausalität, sondern nach dem der Zurechnung erfolge. „Zurechnung" bedeutet hier die Verknüpfung zweier Tatsachen durch einen Soll-Satz 37 . Das hat zur Folge, daß es für den Primitiven gar keine Natur in unserem Sinne gibt, sondern ausschließlich Gesellschaft. Als „Grundnorm" dieser Gesellschaft — so Kelsen wörtlich — fungiere eben die „Vergeltung" 3 8 . Das Vergeltungsprinzip w i r d so zu dem der Kausalität analogen Erklärungsprinzip, (Die weiteren „Entsprechungen" sind: UrsacheWirkung-Beziehung/Zurechnung, Naturgesetz/Normsatz). Wenn überhaupt Bedürfnis nach einer Erklärung der Phänomene bestehe, erfolge diese nach folgendem Prinzip: „Wenn ein Ereignis als Übel empfunden wird, w i r d es als Strafe für ein schlechtes Verhalten, ein Unrecht, wenn es als Wohltat empfunden wird, als Belohnung für 35
Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., S. 111. Ders., ebd., S. 111 f. Dieser Gedanke eines doppelten Begriffs von Ideologie findet sich bereits i n einer gegen den marxistischen Materialismus gerichteten Abhandlung (Allgemeine Rechtslehre i m Lichte materialistischer Geschichtsauffassung, nachgedruckt in: H. Kelsen, Demokratie u n d Sozialismus, hrsg. von N. Leser, W i e n 1967, S. 8 f., u n d verkürzt auch in: Reine Rechtslehre, 1. Aufl., S. 34), erhält aber i m Lichte v o n „Vergeltung u n d Kausalität" einen neuen Akzent. Vgl. auch H. Mayer, Das Ideologieproblem und die Reine Rechtslehre, nachgedruckt in: R. A . Métall (Hrsg.), 33 Beiträge zur Reinen Rechtslehre, Wien 1974, S. 218 ff. 37 „Zurechnung" w i r d i n der Rechtstheorie — u n d auch v o n Kelsen selbst — verschieden gebraucht: „Zurechnung" bedeutet nämlich auch die V e r knüpfung zwischen dem Verhalten eines Organes u n d einer Gemeinschaft, indem dieser das Verhalten eines Organes „zugerechnet" oder „zugeschrieben" w i r d . Diese Verknüpfungsart nennt Kelsen (Reine Rechtslehre, 2. Aufl., S. 154) daher nunmehr „Zuschreibung". Keine Neuerung ergibt sich für Kelsen bei jener Konstruktion, die der Rechtswissenschaft als Zurechnungsfähigkeit bekannt ist, da hier eine Verknüpfung zwischen Unrechtshandlung u n d Unrechtsfolge, also von Tatsachen, erfolgt (Reine Rechtslehre, S. 85). 38 Kelsen, Vergeltung und Kausalität, S. 66. 36
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ein gutes Verhalten gedeutet 39 ." Der Primitive fragt also nicht nach der Ursache — und wäre sie auch mystischer A r t — sondern nach dem Verantwortlichen. Diese Deutung der Natur nennt Kelsen „soziale Deutung der N a t u r " 4 0 . Durch die Vorherrschaft des Fühlens und Wollens, also der „emotionalen Komponente" beim Primitiven, sei sein Bedürfnis nach rationaler objektiver Erkenntnis sehr schwach entwickelt 4 1 . Von entscheidender Bedeutung für das Verständnis Kelsens ist, daß er einen notwendigen und historisch-ethnologisch nachweisbaren Zusammenhang zwischen dem Vergeltungsprinzip und dem Animismus sieht 42 . Unter „Animismus" versteht man eine primitive Weltanschauung, der zufolge nicht nur der Mensch, sondern auch alle anderen Lebewesen und auch unbelebte Gegenstände Persönlichkeit haben 43 . Alle Dinge sind somit Personen und verhalten sich wie Menschen. „Daß man etwa an einem Tier Vergeltung übt, setzt voraus, daß man es als Mensch, d. h. als Glied der eigenen Gesellschaft betrachtet, und das ist soziologisch der Sinn der Vorstellung, daß ein verstorbener Mensch sich i n einem Tiere reinkarniert" 4 4 . Kelsen spricht auch vom Seelenglauben als von der „Ideologie der Vergeltung" 4 5 . Die soziale Deutung der Natur t r i t t für Kelsen besonders deutlich dort hervor, wo Totemismus herrscht, d. h. die soziale Gliederung auf die Natur übertragen w i r d 4 6 . Das, was die Ethnologen als „Magie" bezeichneten, sei schließlich i m wesentlichen auch nichts anderes als ein System zur sozialen Deutung der Natur. A n diesem Vorgang sei, vom Standpunkt des Primitiven aus gesehen, nichts „Magisches" oder „Übernatürliches" 4 7 . Zur Stützung seiner Erwägungen zieht Kelsen ein umfangreiches ethnographisches Material heran, aus dem er immer wieder zitiert. A n Hand einer Fülle von Beispielen zeigt Kelsen, daß die Primitiven Lebenssachverhalte, wie Tod, Krankheit, reiche Beute, Naturkatastrophen usf. entweder als Bedingungen für eine Sanktion 39
Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 1955, S. 130. Kelsen, Vergeltung u n d Kausalität, S. 7; i n dem i n A n m . 39 zitierten Aufsatz: „sozionormative Deutung der Natur". 41 Ders., ebd., S. 7. 42 Ders., ebd., S. 55, S. 83 ff. 43 Vgl. z. B. E. E. Evans-Pritchard, Theorien über p r i m i t i v e Religionen, F r a n k f u r t a. M. 1968, S. 58, u n d Kelsen, Vergeltung u n d Kausalität, S. 26, S. 40. Die Theorie des Animismus geht auf E. B. Tylor zurück (Religion i n P r i m i t i v e Culture, Ν . Υ. - Evanstone - London 1958). 44 Kelsen, Vergeltung u n d Kausalität, S. 86. 45 Ders., ebd., S. 177. 46 Ders., ebd., S. 48 f., S. 332 f. 47 Ders., ebd., S. 38. Z u r Magie vgl. weiters den Exkurs I „Das Wesen der Magie" (S. 335 ff.). 40
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oder selbst schon als Sanktionen deuten. Kelsen betont besonders, daß der Wilde in einem vollständig synallagmatischen System denke, so daß ihm die Schenkung, aber auch die Dankbarkeit unbekannt seien 48 . Noch ein wichtiger Gesichtspunkt ist hervorzuheben: Ein besonderes ideologiekritisches Element liegt darin, daß Kelsen die Verknüpfung des Vergeltungsprinzipes mit der Rechtfertigung positiver gesellschaftlicher Institutionen über die Garantie der Moralordnung hinaus aufzeigt 40 . 2. Bei den oben dargestellten Deutungen beschränkt sich Kelsen nun nicht darauf, zur Stützung seiner Ansichten Belege aus der ethnologischen Literatur zu zitieren, vielmehr setzt er sich, namentlich in den „Belegen und Exkursen", eingehend mit den zu seiner Zeit maßgebenden Theorien über die primitive Mentalität auseinander. Von besonderer Bedeutung erscheinen hier einmal die scharfe Ablehnung der damals maßgebenden Ansicht, daß es in der Entwicklung des menschlichen Denkens eine Phase der „praeanimistischen Magie" gegeben habe und weiters die Auseinandersetzung mit den subtilsten Theoretikern des Denkens der Naturvölker, Cassirer und Lévy-Bruhl. Die Vertreter der Lehre von der „praeanimistischen Magie" behaupteten, daß die Menschen zunächst durchaus kausal gedacht hätten und erst später durch animistische Vorstellungen zu einem „falschen Denken" gelangt seien. Der Begründer dieser Lehre war Frazer, der die Magie als Wissenschaft, wenn auch als „falsche", kennzeichnet. Diese Auffassung vertraten in verschiedenen Nuancen etwa auch Mauss, Freud und Neurath 50. Kelsen hält i n seinem Exkurs I Frazer entgegen, daß es nicht auf die Ergebnisse, sondern auf die Methode ankommen müsse, wolle man nicht die Grenze zwischen Magie und Wissenschaft überhaupt verwischen. Außerdem impliziere die These der praeanimistischen Magie die seltsame Auffassung einer A r t „Sündenfall" (Lehre vom goldenen Zeitalter)51'52. 48
Ders., ebd., S. 61 ff. Ders., ebd., S. 80. 50 Vgl. J. G. Frazer, The Golden Bough, Part I, The Magic A r t and the Evolution of Kings, Vol. I, London 1963, S. 220 ff., M. Mauss (in Zusammenarbeit m i t H. Hubert), E n t w u r f einer allgemeinen Theorie der Magie, in: M. Mauss, Soziologie u n d Anthropologie, Bd. I, F r a n k f u r t a. M. - B e r l i n Wien, 1978, S. 97, O. Neurath, S. 6, S. Freud, Totem u n d Tabu, I I I (Animismus, Magie und Allmacht des Gedankens), F r a n k f u r t a. M. - Hamburg 1956, S. 90. 51 Kelsen, Vergeltung u n d Kausalität, S. 349. 52 Für Kelsen besteht zwischen „Magie" u n d „Religion" k e i n prinzipieller Unterschied (vgl. den A n g r i f f auf die „theologische" Ethnologie, S. 324 ff., S. 353). I n seinem Exkurs I I (S. 353 ff.) befaßt sich Kelsen weiters eingehend m i t der für die Lehre v o n der präanimistischen Magie wesentlichen Behauptung über eine beim Frühmenschen vorhandene Vorstellung v o n 49
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Cassirer charakterisiert die Magie i n der Nachfolge Freuds als „ A l l macht des Gedankens" und somit als einen Ausfluß einer A r t von übersteigertem Ich-Gefühl des Primitiven 5 3 . Die Kategorie des „Ich" wiederum entstehe — i n der animistischen Phase — aus der Kategorie der „Seele", wie Cassirer an anderer Stelle ausführt 5 4 . Kelsen w i r f t Cassirer die innere Widersprüchlichkeit der „Allmacht des Gedankens"Theorie vor, die ja eben gerade auf der bereits entwickelten Ich-Vorstellung aufbaue 55 . I n Lévy-Bruhls einflußreichem Werk „Das Denken der Naturvölker" w i r d die Naturdeutung der Primitiven durch den Begriff der „Partizipation " bestimmt. Diese soll das gemeinsame Fundament für die vom Primitiven angenommenen „mystischen Zusammenhänge" darstellen. Die Partizipation stammt aus dem Bereich der kollektiven Vorstellungen, i n denen „die Gegenstände, Wesen, Erscheinungen . . . sie selbst und zugleich etwas anderes als sie selbst sein können". Weiter meint Lévy-Bruhl, die von uns wahrnehmbaren „natürlichen Zusammenhänge" seien von diesen mystischen Partizipationen verdrängt. Die Mentalität der Primitiven könne deshalb als „prälogisch" gekennzeichnet werden. Eine Natur i n unserem Sinne bestehe für den i n seinen Vorstellungen gefangenen Primitiven nicht 5 6 . Die skizzierte Lehre Lévy-Bruhls weist wohl eine große Nähe zur Position Kelsens auf: Kelsen wie Lévy-Bruhl bekämpfen die Theorie einer Kausalitätsvorstellung des Primitiven, beide betonen, daß das Denken der Naturvölker qualitativ verschieden vom modernen Denken sei. Doch erscheint Kelsen konsequenter und plausibler als Lévy-Bruhl : Was dieser mit den Attributen „prälogisch" und „mystisch" eben letztlich nicht positiv erklärt, macht uns Kelsen durch die Heranziehung des uns bekannten normativen Prinzips verständlich. Allerdings zahlt Kelsen für die höhere Plausibilität auch einen Preis: Wenn es zutrifft, daß die innovatorische Leistung Lévy-Bruhls gegenüber der älteren Sozialanthropologie darin liegt, daß — wie Evans-Pritchard meint — „Magie und Religion nicht (mehr) durch eine Theorie über ihre mögliche Entstehung, ihre Ursache oder ihren Ursprung" erklärt werden, sondern als kohärente fremde Systeme 57 , dann muß Kelsen eben wieder zu einer i m Grunde individualpsychologischen Erklärung zu„unpersönlichen Kräften" (Durkheim) u n d v e r w i r f t diese Theorie als I m p u tation des modernen abstrakten Kraftbegriffes. 53 E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, Das mythische Denken, 6. Aufl., Darmstadt, 1973, S. 188. 54 Ders., S. 198. 55 Kelsen, Vergeltung u n d Kausalität, S. 338. 56 L. Lévy-Bruhl , Das Denken der Naturvölker, W i e n - Leipzig, 1921, S. 57 ff. 57 So Evans-Pritchard, Theorien, S. 130.
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rückkommen, die er durch den Vergleich mit der Mentalität eines entwickelten Individuums findet. IV. Kelsen und Evans-Pritchard 1. Die Erkenntnisse von Evans-Pritchard gelten für die moderne Sozialanthropologie als paradigmatisch 58 . Obwohl der britische Ethnologe seine wichtigen Schriften schon in den Dreißiger jähren veröffentlicht hat, kennt ihn Kelsen offensichtlich nicht. Es erscheint angebracht, im Rahmen dieses Beitrages auf EvansPritchard hinzuweisen, nicht um Kelsen wegen der Vernachlässigung eines Zeitgenossen zu kritisieren, sondern weil die Einsichten EvansPritchards gerade für das Thema von „Vergeltung und Kausalität" — die Struktur der Naturdeutung der Primitiven — so bedeutend sind: Die besondere Stellung Evans-Pritchards liegt zunächst i n der Tatsache, daß er nicht wie Cassirer, Lévy-Bruhl oder Kelsen ein „Schreibtischtäter" war, der auf das von anderen gesammelte ethnographische Material zurückgreifen mußte, sondern Feldforscher. A u f der anderen Seite war er aber auch an theoretischen Zusammenhängen interessiert und i n der Lage, sein eigenes Material auf hohem Niveau zu diskutieren. Der Angriff Evans-Pritchards richtet sich daher verständlicherweise zunächst gegen die sogenannte „vergleichende Methode" eines Lévy-Bruhl und somit auch eines Kelsen (den Evans-Pritchard übrigens nicht kennt) 5 9 . Dies sollte Anlaß für einen kritischen Blick auf Kelsens Methode in „Vergeltung und Kausalität" sein: I n der Tat kann man die Methode Kelsens einigermaßen treffend mit der musikalischen Form eines Rondos vergleichen: Kelsen formuliert seine These „Der Primitive deutet nach dem Vergeltungsschema", zitiert sodann aus einer ethnographischen Quelle, interpretiert diese nach dem Vergeltungsschema usf. Die methodischen Bedenken liegen hier auf der Hand: Einmal stammt die ältere Literatur zum größeren Teil von Missionaren, Abenteuern etc., deren Zeugnissen zu mißtrauen ist und deren Interesse nur allzu sehr auf das vermeintlich „Exotische" gerichtet war. Außerdem ist gerade eine Ausforschung religiöser Vorstellungen besonders problematisch, da i n diesem Bereich schwerwie58 Vgl. H. G. Kippenberg, Einleitung: Zur Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens, in: H. G. Kippenberg / B. Luchesi (Hrsg.), Magie — Die sozialwissenschaftliche Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens, Frankfurt a. M. 1978, S. 31. 59 E. E. Evans-Pritchard, Theorien, S. 36: „Der Laie weiß vielleicht nicht, das das meiste v o n dem, was i n der Vergangenheit voller Selbstvertrauen über Animismus, Totemismus, Magie . . . veröffentlicht wurde, . . . sich als falsch oder zumindest zweifelhaft erwiesen hat."
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gende Kommunikationsschwierigkeiten auftreten, die aber als solche nicht i n das Bewußtsein des Forschers treten 6 0 . Wenn Kelsen nun Belege aus der ethnographischen Literatur zitiert, so liegt die Gefahr nahe, daß er nicht belegt, wie die Wilden die Welt nach dem Vergeltungsschema deuten, sondern daß sich zeigt, daß Kelsen seinerseits das Denken der Wilden nach dem λ/ergeltungsprinzip deutet. Daneben liegt in der Auswahl von Belegstellen aus einer derart umfangreichen Literatur an sich schon ein Gefahrenmoment. Die angedeutete methodische Problematik t r i t t übrigens am Ende des I I I . Kapitels von „Vergeltung und Kausalität" gelegentlich ganz deutlich hervor, wenn Kelsen meint: „Es kann nicht geleugnet werden, daß viele Flutsagen das Vergeltungsm o t i v nicht aufweisen . . . Das mag gar nicht selten darauf zurückzuführen sein, daß die Verletzung eines religiösen Tabu i m Spiele ist. Der i n diesem P u n k t ohnehin sehr zurückhaltende P r i m i t i v e ist leicht geneigt, dem i h n nach seinen M y t h e n ausfragenden Forscher gegenüber jene Teile der Sage zu übergehen, die seine Eigenliebe verletzen . . . Auch ist zu beachten, daß ein ursprünglich vorhandenes Vergeltungsmotiv i m Laufe der Zeit verblassen oder ganz verloren gehen kann 61 » ®2."
Man sollte sich indessen vor vorschnellen Urteilen hüten: Auch wenn man das gesamte von Kelsen gebrachte Material als ungeeignet ansähe, die Grundposition zu belegen, könnten die gewonnenen Einsichten i m Ergebnis doch durch das kritischer aufgearbeitete Material anderer Forscher zu unterstützen sein. 2. I n seiner Monographie „Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande" w i l l Evans-Pritchard 63 mit einer realistischen Haltung an die Interpretation des primitiven Denkens herangehen 64 . Er kritisiert ja, daß die Ethnographen sich stets nur das Ungewöhnliche und „Exotische" gemerkt hätten, aber in der Realität spiele sich das Leben der Wilden zum ganz überwiegenden Teil i n „normalen" und technischen Kategorien ab 6 5 . Evans-Pritchard meint an einer berühmten Stelle seines Buches: „Aus den Gesprächen, die ich m i t Zande führte u n d aus ihren Reaktionen auf Unglückssituationen ging hervor, daß sie nicht etwa versuchten, die eo
E. E. Evans-Pritchard, Theorien, S. 37. Vgl. dazu auch O. Neurath, S. 111. Kelsen, Vergeltung und Kausalität, S. 173, vgl. weiters auch S. 402. 02 Eine sehr scharfe methodische K r i t i k an „Vergeltung u n d Kausalität" übt T. Parsons i n einer Rezension (Harvard L a w Review, Vol. 58, S. 140 ff.). Parsons vernachlässigt allerdings die komplexen Zusammenhänge, i n denen „Vergeltung u n d Kausalität" gelesen werden muß. 83 E. E. Evans-Pritchard, Hexerei, Orakel u n d Magie bei den Zande, F r a n k f u r t a. M. 1978. 64 Ders., ebd., S. 326 ff. (zur Methodenfrage). 65 E. E. Evans-Pritchard, Theorien, S. 40. 61
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Existenz oder auch n u r die W i r k u n g von Phänomenen allein m i t mystischer Verursachung" — i n der Terminologie Kelsens: „Zurechnung" — „zu erklären. Was sie m i t Hexerei erklärten, waren n u r die besonderen Umstände einer Kausalkette, die ein I n d i v i d u u m m i t Naturereignissen i n Verbindung brachte, daß es Schaden davontrug . . . W i r w ü r d e n die Philosophie der Zande falsch darstellen, w e n n w i r sagten, daß ihrer Meinung nach Hexerei die einzige Ursache der Erscheinungen sei. Der Glaube der Zande an Hexerei widerspricht i n keiner Weise dem empirischen Wissen v o n Ursache und W i r k u n g . Die für die Sinne erfahrbare W e l t ist für sie genauso real wie für uns . . . Der Glaube an Tod als Folge v o n natürlichen Ursachen und als Folge von Hexerei schließen einander nicht aus. I m Gegenteil, sie ergänzen einander: der eine erklärt was der andere nicht e r k l ä r t " β β .
Hier t r i t t deutlich der Aspekt des Determinismus in den Vordergrund: Für Levy-Strauss* 1 ist dieser Glaube an einen totalen Determinismus gerade die spezifische Differenz zwischen „Magie" und Wissenschaft. Lévy-Strauss bezieht diesen Determinismus aber nicht auf existentielle Situationen, sondern sieht ihn als Ausdruck eines allgemeinen Klassifikationsbedürfnisses 68 . Luhmann betont unter Berufung auf die wiedergegebene Stelle aus „Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande", daß magische Erklärungen konkrete Begründungen existentieller Tatsachen liefern könnten 6 9 . Die Zurechnungsstruktur erschiene hier geradezu als die „Feineinstellung" eines existentiell bezogenen Determinismus. Die oben zitierte Stelle aus „Zande" spricht nun wohl insoweit gegen „Vergeltung und Kausalität", als die vollständige Beherrschung der primitiven Mentalität durch das normative Zurechnungsprinzip, wie dies Kelsen behauptet, einem Nebeneinander von Strukturen zu weichen hat. Allerdings leugnet Kelsen ja nicht die Gegebenheit eines empirisch richtigen Denkens beim Primitiven, vielmehr fehle diesem nur die Denkform — also die Vorstellung des Kausalgesetzes 70 . Dies mag nun zutreffen, kann als Argument aber auch gegen Kelsen gewendet werden: Auch ein „Vergeltungsprinzip" i m Sinne einer abstrakt formulierten Vorstellung scheint dem Wilden fremd zu sein. Was diesem Denken fehlt, ist die abstrakte wissenschaftliche Sprache, vielmehr muß jeder Gedanke konkret formuliert werden. ββ E. E. Evans-Pritchard, Hexerei, S. 63 ff., 68: Besonders einprägsam ist die von den Zande gebrauchte Metapher v o m „zweiten Speer" für die mystische Verursachung (S. 69). 67 C. Lévy-Strauss, Das w i l d e Denken, 2. Aufl., F r a n k f u r t a. M. 1977, S. 23. 68 Ders., ebd., S. 27. 69 N. Luhmann, Rechtssoziologie 1, Hamburg 1972, S. 57. Vgl. auch E. Topitsch, V o m Ursprung u n d Ende der Metaphysik — Eine Studie zur W e l t anschauungskritik, München, 1972, S. 37, u n d I. C. Jarvie / J. Agassi, Das Problem der Rationalität v o n Magie, in: Kippenberg / Luchesi, S. 148. Kelsen, Vergeltung und Kausalität, S. .
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I m Grunde w i r d dies auch durch Kelsens These (3) bestätigt: I n jenem Augenblick, als sich in der griechischen Naturphilosophie ein „Vergeltungsprinzip" als abstrakte Vorstellung herausbildet, steht auch die Vorstellung der Kausalität gleichsam schon „vor dem T o r " 7 1 . M i t h i n scheint der entscheidende Schritt i n der Gewinnung einer allgemeinen Begriffsstruktur zu liegen 72 . Das Vergeltungsprinzip als „Grundnorm" ist die Antwort auf die Frage nach dem Geltungsgrund, und das ist eine „wissenschaftliche" Frage. 3. Es bleibt nun noch zu beantworten, wie Evans-Pritchard die Struktur der von ihm behandelten mystischen Verknüpfungen — Hexerei, Orakel und Magie — sieht. Obwohl die Zande sich die Hexerei als von einer bestimmten Person abgelöst denken, ist die Vorstellung von Hexerei „nicht die einer unpersönlichen Kraft, die m i t Personen verbunden werden kann, sondern die einer persönlichen Kraft, die in der Rede verallgemeinert w i r d " 7 3 . Diese Umschreibung läuft wohl genau auf das hinaus, was Kelsen als „Zurechnung" bestimmt, nämlich die Verknüpfung zweier Tatsachen durch einen Soll-Satz, mit dem „Wollen" des Hexers als Imperativ. Noch deutlicher t r i t t die normative Struktur bei der Magie hervor, das ist hier die Technik, derer sich ein Zauberer oder der die Hexerei bekämpfende „weiße Magier" bedient: Der magische Ritus w i r d meist von einer Anrede der Medizinen durch den Hexer begleitet, der ihnen einen „Auftrag" erteilt 7 4 . Dies stimmt genau mit Kelsens Magie-Definition „Wunschausdruck, gerichtet an die übermenschliche Instanz" überein 7 5 . Der Vergleich von „Vergeltung und Kausalität" mit der „Zande"Monographie von Evans-Pritchard zeigt, daß das Denken der Wilden, soweit es „mystisch" ist, aus „Zurechnungen" besteht. Ein Indiz für das Bestehen einer „Vergeltungs"-Vorstellung als Deutungsschema — gleichsam als „gemeinsamer Nenner" der mystischen Systeme — kann freilich nicht gewonnen werden.
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Ders., ebd., S. 241. Vgl. E. E. Evans-Pritchard, Hexerei, S. 75, der meint, daß die Zande zweifellos einen Unterschied wahrnehmen „zwischen dem, was w i r für das W i r k e n der Natur halten, u n d dem W i r k e n von Magie, Geistern u n d Hexerei, obgleich dadurch, daß sie keine formulierte Lehre v o m Naturgesetz haben, sie diesen Unterschied nicht w i e w i r ausdrücken können". Vgl. auch B. Barnes, Glaubenssysteme i m Vergleich: falsche Anschauungen oder Anomalien?, in: Kippenberg / Luchesi, S. 220. 73 Evans-Pritchard, Hexerei, S. 55. 74 Ders., ebd., S. 247. 75 Kelsen, Vergeltung u n d Kausalität, S. 40, S. 335 ff. 72
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V. „Vergeltung und Kausalität" heute Eine unmittelbare Rezeption hat der i n Rede stehende Teil von „Vergeltung und Kausalität" — soweit ersichtlich — nur i n den ideologiekritischen Arbeiten von Topitsch gefunden. I n „Vom Ursprung und Ende der Metaphysik" 76 werden die von Kelsen gesammelten Beispiele als Belege für eine „soziomorphe Weltauffassung" eingebaut. Der Ansatz von Topitsch zur Beschreibung der vorwissenschaftlichen Mentalität ist allerdings weiter als jener von Kelsen („intentionale Weltauffassung") 77 . Kelsen selbst hat sich später nicht mehr mit dem sozialanthropologischen Thema von „Vergeltung und Kausalität" befaßt, sondern den Ertrag dieser Forschung i n die entsprechenden Kapitel seiner rechtstheoretischen Schriften eingebaut 78 . Es hat daher i m Rahmen dieses Beitrages wenig Sinn, „Vergeltung und Kausalität" mit der eindrucksvollen — und für den Laien unüberschaubaren — Literatur zu konfrontieren, die nach dem II. Weltkrieg über das Denken der Naturvölker entstanden ist. Nun steht in dieser Literatur zwar die Frage nach der Struktur des „wilden Denkens" geradezu i m Mittelpunkt des Interesses, doch geht besonders der Strukturalismus eines Lévy-Strauss so sehr andere Wege, daß eine Gegenüberstellung kaum möglich erscheint 79 . Viel näher den von Kelsen diskutierten Positionen steht die angloamerikanische Diskussion in der Nachfolge von Evans-Pritchard, obwohl auch hier eine Kelsen nicht bewußte Problematik, nämlich jene des „Ethnozentrismus" — die Fragwürdigkeit der Übersetzung fremden Denkens —, eine Hauptrolle spielt 8 0 . Aus dieser Diskussion sei abschließend auf zwei Positionen hingewiesen, die die fortdauernde Aktualität der von Kelsen behandelten Fragen zeigen: Horton 81 sieht zwischen Magie und Wissenschaft keinen qualitativen Unterschied, da es i n beiden Fällen um theoretische Modelle gehe, die der Weltbeschreibung dienen. Der Unterschied liege darin, da es sich 7β
E. Topitsch, V o m Ursprung, S. 37 f. Ders., ebd., S. 30. 78 Vgl. ζ. B. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., S. 79 ff. 79 Vgl. allgemein G. Schiwy, Der französische Strukturalismus, Hamburg 1969, S. 45 ff. 80 Vgl. die bei Kippenberg / Luchesi gesammelten Beiträge u n d R. Horton, African Traditional Thought and Western Science, in: Africa 37, 1967, S. 50 ff., S. 155 ff. 81 R. Horton, S. 155 ff. 77
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bei diesen Systemen um mehr oder weniger „offene" — d. h. im Sinne Poppers der Falsifikation zugängliche — Modelle handle. Horton liegt damit auf der von Frazer ausgehenden Linie einer prinzipiellen Gleichsetzung von Magie und Wissenschaft. Demgegenüber nimmt Tambiah 82 eine interessante Nähe zur Position Kelsens ein: Magie dürfe i n keinem Fall als gescheitertes kausales Denken verstanden werden — auch nicht in der anspruchsvollen Umschreibung Poppers als „geschlossenes Denksystem". Vielmehr habe man magische Riten als performative Akte i m Sinne der Sprechakttheorie von Austin zu interpretieren 8 3 . Sie könnten daher nicht als „ i m Sinne der Logik der Verursachung" verstanden werden. Die spezielle performative Wirkung leite sich aus der Verwendung von Befehlen, Anordnungen usf. her. Derartige Akte könnten nicht wahr oder falsch sein, aber „mißglücken", würden sie zum Beispiel von nicht ermächtigten Personen vorgenommen werden 8 4 . Das entspricht der Auffassung Kelsens von der normativen Struktur dieser Akte, wenn man zwischen dem „Gelingen" performativer Akte und der Geltung von Normen eine Analogie herstellt 8 5 .
82 S. J. Tambiah, Form u n d Bedeutung magischer A k t e . E i n Standpunkt, in: Kippenberg / Luchesi, S. 283. 83 S. J. Tambiah, S. 285; Z u r Sprechakttheorie vgl. allgemein J. L. Austin , Zur Theorie der Sprechakte (How to do things w i t h Words), Stuttgart 1972. 84 S. J. Tambiah, S. 289. 85 Wie dies neuerdings — m i t ausdrücklicher Diskussion von Austin und Kelsen - St. Paulsen, Neue Grundlagen für einen Begriff der Rechtsgeltung, ARSP L X V / 1 (1979), S. 1 ff. unternimmt. Die Lektüre v o n Tambiah legt nahe, daß mehr vorliegt, als eine oberflächliche Analogie. Das von Paulsen i m besonderen behandelte Problem der „vermutungsweise gültigen Norm" läßt sich allerdings auch ohne Heranziehung der Sprechakttheorie m i t dem rein rechtstheoretischen Modell des „Fehlerkalküls" befriedigend lösen (vgl. A. Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien - B e r l i n 1927, S. 191 ff.).
I D E O L O G I E K R I T I K UND DEUTUNGSKAMPF Von Friedrich Lachmayer, Wien Die Märkte der Wissenschaftler und der Deuter sind hierarchisch strukturiert. Den Grenzwissenschaftlern und Grenzdeutern stehen die entsprechenden Gruppen der Grenzkonsumenten gegenüber. Eine Technik des Absetzens von der Konkurrenz liegt in der Qualitätskonkurrenz, also darin, daß Produkte mit tatsächlichen oder vermeintlichen neuen Eigenschaften angeboten werden. Gelingt es, wissenschaftliche Informationen mit neuen Methoden und mit neuem Image herzustellen und verlangen die Nachfrager nach den neuen Gütern, dann geraten i m selben Maße die bisherigen Anbieter unter das inzwischen gestiegene Anspruchsniveau. Während der Markt der wissenschaftlichen Informationen idealtypisch gesehen eine Qualitätskonkurrenz sein sollte, zeichnet sich der Markt der Deuter durch eine Imagekonkurrenz der Anbieter aus. Es besteht die Neigung, Deutungskonkurrenten imagemäßig gleichsam versinken zu lassen. Um den Wettbewerb der Informationsanbieter zu beeinflussen und zu entscheiden, werden Maßnahmen angewendet, welche aus dem wirtschaftlichen Wettbewerb bekannt sind. Da der Nutzen der Deutungen ein nicht so leicht beweisbarer ist, bedarf es zusätzlicher Deutungen, welche sich auf den Konsum selbst, auf den Konsumenten, auf den Produzenten und auf die Abwehr von Konkurrenten beziehen. Für die massenwirksame Nachfrage im Deutungsbereich sind das positive Image des Deutungsproduzenten und seines Produktes sowie das negative Image der Konkurrenten und deren Angebote entscheidend. Gelingt es dann noch, anknüpfend an eine „Befruchtung" mit Deutungsschemata bei den Konsumenten eine Haltung der Treue, der Loyalität zu erzielen, dann ist der Informationskonsum in einer Weise pragmatisch stabilisiert, daß auch die semantischen und syntaktischen Schwächen der einmal eingetretenen Fixierung auf einen Deuter nicht mehr viel anhaben können.
Friedrich Lachmayer Freilich ist es nicht auszuschließen, daß solche Ausschließlichkeitsansprüche und solche der Abwehr anderer Informationsproduzenten dienenden Tendenzen auch bei Wissenschaftlern auftreten. Der Deutungskonsument w i r d gegen konkurrenzierende Deutungsanbote immunisiert. Der angestrebte Immunisierungsgrad entspricht dem Ideologiegrad der Information und verhält sich umgekehrt zum Grad der Wissenschaftlichkeit. Gerade die Transparenz der Wissenschaftlichkeit soll dem Konkurrenten eine Chance geben. Bei der Immunisierung hingegen t r i t t bei dem Konsumenten an die Stelle der logischen Evidenz die Deutungsevidenz, der Glaubensakt. Die Kraft des Konsumenten, der erhöhte Energieaufwand, diesen Widerspruch zwischen logischer und semantischer Evidenz einerseits und Deutungsevidenz andererseits i m Sinne der letzteren zu entscheiden, w i r d selbst wieder gedeutet und zwar als Tugend. Werden Produkte anderer Deuter konsumiert, dann führt dies beim bereits zugeordneten Konsumenten zur personalen Schuld, zum Abfluß von Charismen, zur angenommenen Stigmatisierung. Eine bestimmte A r t der Informationsverarbeitung (Verleihen von Deutungsevidenz) entscheidet so über den charismatischen, ja oft sogar über den kosmischen Stellenwert des Konsumenten. Deutungen überlagern die Realität. Zu dem Kern des Seins t r i t t die Maske des Scheins, deckt diesen ab, verhüllt ihn, verklärt oder diffamiert ihn. I m Deutungskampf werden Gegendeutungen produziert, die die Wirksamkeit der Deutungen beim Konsumenten aufheben sollen. Es handelt sich dabei um maßgeschneiderte, wertmäßig umgepolte Gegeninformationen. Solche Gegendeutungen verbinden sich i m Bewußtsein
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der Konsumenten mit den anzugreifenden Deutungen, neutralisieren ihre Wirkung, kehren sie ins Gegenteil. Derartige Gegeninformationen weisen gewisse Parallelen mit Fragen der i m Bereich der Medizin auftretenden Immunisierung auf. Gegendeutungen können sowohl offensiv als auch defensiv eingesetzt werden, sie können unterliegen, sie können auch die gegnerische Immunabwehr überwinden, sich durchsetzen. Propaganda und Gegenpropaganda, beides sind Formen des Deutungskampfes. Von den Gegendeutungen zu unterscheiden ist die wissenschaftliche Ideologiekritik. Es handelt sich dabei nicht um jene extrem wertbesetzten Projektionen, die sich durch eine rhetorische Massenwirkung auszeichnen, sondern vielmehr um wissenschaftliche Analysen über Deutungen und Gegendeutungen. Die Ideologiekritik zeigt die Differenz auf zwischen dem Schein der Maske und dem Kern; weiters die Differenz zwischen der Deutung und der Gegendeutung. Die Ideologiekritik legt sämtliche semiotische Zusammenhänge, also die semantischen, die syntaktischen und die pragmatischen bloß. Der Ideologiekritik soll jedoch das dezeptionelle Element fehlen, welches i m Deutungskampf nicht ausgeschlossen ist. Die Ideologiekritik durchbricht die Deutungen und legt gegebenenfalls den pragmatisch manipulativen Zusammenhang dar. Ideologiekritik ist selbst nicht Kampf der Deutungen, doch kommt ihr im Deutungskampf eine nicht zu unterschätzende Rolle zu. Indem sie die gegnerischen Deutungen, insbesondere die Deutungslügen, zu durchbrechen und zu zerbrechen vermag, ist der eine Schritt getan. Der weitere ist dann der, mit einer neuen Ideologie das freigemachte, von Deutungen gesäuberte Gebiet zu besetzen. Ideologiekritik läßt sich daher als Waffe i m Deutungskampf gebrauchen, insbesondere dann, wenn sie nicht universell sondern nur einseitig, instrumentell zur Beseitigung ganz bestimmter Deutungen eingesetzt wird. Die Manipulation t r i t t nicht bei der einzelnen, möglicherweise wissenschaftlich durchaus abgesicherten, ideologiekritischen Aussage ein, sondern vielmehr im Bewußtsein des Konsumenten, dem der Stellenwert dieser einzelnen kritischen Aussage im Feld des Kritisierbaren nicht bekannt ist. I n einem solchen Fall findet die ideologische Auseinandersetzung unter der Maske der Wissenschaft statt. Die zumindest zeitweilige Überlegenheit i m wissenschaftlichen Bereich kann der Vorbereitung und der Verankerung der Deutungsherrschaft dienen. Sowohl Wissenschaft als auch Deutung können den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen instrumentell und arbeitsteilig untergeordnet werden. Eine besondere A r t der Ideologiekritik ist das bei Kelsen wiederholt erwähnte Bloßstellen, das Demaskieren, das Aufzeigen der tatsäch5 R E C H T S T H E O R I E , Beiheft 4
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liehen Gegebenheiten. Dieses das „ K i n d beim Namen Nennen" ermöglicht den Zugriff durch den Schein auf die Realität. I m Deutungskampf etwa des „Gestiefelten Katers" bringt die in den Verwandlungen des Scheins plötzlich auftretende reale Situation die Wende, auch i m Märchen vom „Rumpelstilzchen" eröffnet die Information über die wahre Identität, das Demaskieren, ebenso den Zugang zur Aktion. Es stellt sich die Frage, wieweit jede Herrschaft notwendigerweise mit Deutungen verbunden ist und ob diese zumindest zum Teil als etwas Arkanes angesehen werden. Deutungen können sich ja nicht nur auf Sachen, sondern auch auf Personen beziehen. Das gesamte Organisationsrecht etwa kann als Deutungsrecht angesehen werden, indem die Organwalter kollektiv verbindlich als Organe juristischer Personen zu betrachten sind. Freilich sind diese Deutungshüllen des Organisationsrechtes durch Zeichen markiert, abgesichert, doch können sie — so kollektiv verbindlich sie auch vorher noch sein mögen — psychisch durchbrochen werden. Kelsens Demaskierungsanliegen, die von i h m erwähnte erkenntnistheoretische Anarchie sowie auch Andersens Märchen über des Kaisers neue Kleider weisen i n diese Richtung. Eine bewertungsmäßige Demontage des Organisationsrechtes ist besonders dann wahrscheinlich, wenn bereits neue Deutungshüllen darauf warten, charismatisch oder stigmatisch ihre noch anders bekleideten Träger zu umfassen. Es macht einen Unterschied, ob ein Deutungskampf innerhalb desselben Kollektivs stattfindet, indem es gleichsam u m die Position des Deutungsbefruchters geht, oder zwischen verschiedenen Kollektiven. Die kognitive Herrschaft ist mit der normativen Herrschaft eng verbunden. Bei einer Kolonialisierung, wenn also die Herrschaft von außen herangetragen wird, t r i t t die motorische, die normative Herrschaft zuerst auf, um dann die kognitive Herrschaft i n die Wege zu leiten. Es gibt auch die umgekehrte Abfolge, etwa bei Auseinandersetzungen innerhalb des Kollektivs. Der motorischen Revolution geht dann die Überlegenheit i m Deutungsbereich voraus. Zu beachten ist, daß es innerhalb jedes Kollektivs einen sogenannten Traditionskern gibt, der insbesondere die maßgeblichen Identifikationsschemata enthält und von Generation zu Generation, freilich mit Abwandlungen, weitergegeben wird. Ein Deutungsanbot kann sich nun innerhalb oder außerhalb eines solchen Traditionskernes bewegen. Liegt das Deutungsanbot außerhalb, dann kommt es i m Falle seiner massenwirksamen Verbreitung zu einem Wechsel der kollektiven Identifikationsschemata, zu einem Ideologietransfer dann, wenn Identifikationsschemata aus einem anderen Traditionskern übernommen wer-
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den. Die damit verbundenen Probleme der Identität werden derzeit etwa i m Rahmen der UNESCO erörtert. Bei einem Deutungsanbot ist also die Zielhöhe maßgeblich, ob sich diese nur gegen andere Deutungsanbieter oder gegen den Traditionskern selbst richtet. Daß Deutungen kollektivbezogen sind, zeigt sich daran, daß der Besitz situationsbezogener Deutungsschemata ein Überlebensvorteil ist. Wie sehr ein veralteter Deutungsbestand das Verhalten negativ beeinflussen vermag, ergibt sich aus dem Beispiel der Australneger, bei denen durch traditionelle Prägungen eine Anpassung an die geänderte Situation verhindert wird. W i r d der Traditionskern abgelöst, so ist er vorher aufzulösen, ein anderer Deutungsbestand als Alternative oder gegebenenfalls als Surrogat anzubieten. Nicht nur die Inhalte, auch die Funktionen des alten und des neuen Traditionskernes können verschieden sein. Die Produzenten von Deutungsinformationen sind aber selbst auf Realinformationen angewiesen, also auf Informationen, die den Kern dessen betreffen, was dann mit Deutungen belegt wird. Insoferne ist die wissenschaftliche Information ein Investitionsgut der Deutungsproduktion. Die Inhalte der Deutungen sind je nach den Zielgruppen verschieden, an die sie sich richten. Dem eigenen Konsumenten, dem Gegner, dem Dritten kann verschieden gedeutet werden. Eine wissenschaftliche Methode ist nicht so ohne weiteres auf andere Bereiche der Informationsverarbeitung, etwa auf den Deutungsbereich oder den der Willensbildung übertragbar. Mag die methodische Isolation, wie sie i n der Reinen Rechtslehre vorkommt, für ganz bestimmte erkenntnistheoretische Versuchsanordnungen ganz zielführend sein, als ausreichende Basis für eine juristische Willensbildung ist sie wegen ihres reduktionistischen Charakters, wegen der Kontextarmut, nicht verwendbar. Andernfalls werden Praktiker in Theoretiker entfremdet, ohne daß sich für sie ihre praktische Situation i n eine theoretische verwandeln würde. Was i m Erkenntnisbereich eine Tugend sein mag, muß es nicht auch bei der Willensbildung sein. Die Methoden sind nicht so ohne weiteres übertragbar. Das Anwendungsdefizit der Reinen Rechtslehre w i r d i n der juristischen Praxis auch nicht durch einen angenommenen purifikatorischen Charakter ersetzt. Aufklärung ist insofern instabil, als es auf die Dauer zu anstrengend ist, ohne Deutungen auszukommen. Nach der Reinigung von den alten Deutungen kommt es um so sicherer zur Neubesetzung mit Projektionen. 5*
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Die Illusion des befreiten Bewußtseins hält nicht lange an. Bei der Reinigungs- und Deutungsarbeit kann eine Arbeitsteilung eintreten: Reinigungsspezialisten treten neben Deutungsspezialisten. Auch bei dem instrumenteilen Einsatz der Ideologiekritik ist zu unterscheiden, ob sich die K r i t i k nur gegen Gegner oder universell gegen jede dezeptionelle Information richtet. Die Dialektik zeigt die Produktionsregeln des kollektiven Scheins auf, nicht unbedingt die des kollektiven Seins. Die Dialektik als Struktur der Deutungsabfolge, als Dreischritt, als Rhythmus des Deutungskampfes sowie als Projektion prozessualer und säkularisierter Trinität ist von der Struktur des deutungsfreien Kerns zu unterscheiden. Der Deutungskampf ist dann vollendet, die neue Deutungsherrschaft dann gesichert, wenn der Identifikationswechsel durchgeführt ist, wenn also die Träger ihre alten Deutungshüllen und Identifikationsmuster als fremd ansehen und mit Haß zur Handlung schreiten, wenn gleichsam wie bei Insekten die gehäuteten früheren Hüllen aufgefressen, vernichtet werden. Kelsen ist jedoch nicht nur i m Zusammenhang mit der von ihm erklärten Beseitigung traditioneller Deutungsreste zu sehen, sondern auch i m Hinblick auf neue Projektionen. Hier ist insbesondere auf den bei ihm auftretenden Parallelismus von Sein und Sollen aufmerksam zu machen. Zurecht wurde wiederholt darauf hingewiesen, daß die gesellschaftlichen, organisatorischen Strukturen i n die Natur projiziert werden. Kelsens Strukturierung des Sollens führt jedoch zu dem sonderbaren Ergebnis, daß der Bereich des Sollens parallel zum Bereich des Seins strukturiert wird. Anstelle von organisatorischen Projektionen von der Gesellschaft in die Natur treten bei ihm i m Sollen Kausalitätsanalogien auf, nämlich die Zurechnung als tragendes Verknüpfungsprinzip des Sollens.
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Kausal ι tat
Sein
Durch einen derartigen Systemparallelismus i m Sollen kommt es aber ebenso wie bei den umgekehrten Projektionen zu einem Erklärungsdefizit der Theorie. Gerade weil eben der gesellschaftliche Bereich wesensmäßig organisatorisch strukturiert ist, vermag ein Theorieanbot, welches die Organisation auf normative Steuerungsimpulse reduziert, dem Gegenstand nicht gerecht zu werden. Dieser Parallelismus der Reinen Rechtslehre vervollständigt nur das Spektrum möglicher Projektionen und theoretischer Einseitigkeiten, setzt jedoch nicht den entscheidenden Schritt zur semantisch orientierten Wissenschaft. Wenngleich sich auch das Informationsanbot Kelsens markant von den Informationsanboten seiner Vorgänger und Konkurrenten abgrenzt und somit auf dem Markt der rechtswissenschaftlichen Informationen nicht ohne Grund mit einer eigenen Firma auftritt, w i r d dadurch das semantische Defizit und der eingeschränkte Nutzen beim Konsumenten nicht wettgemacht. Es darf nicht übersehen werden, daß das B i l d des Staates in rechtswissenschaftlichen Informationen nicht nur einen wissenschaftlichen Stellenwert hat, sondern darüber hinaus auch als praktisches Deutungsschema maßgeblich ist. Wird der Staat seines Organisationscharakters entkleidet, als Menge von Normen „demaskiert", dann verliert der Konsument solcher Informationen einen Brennpunkt kollektiver Identifikation. Mit einer Normenmenge kann man sich nicht identifizieren, mit einem personal aufgefaßten Staat sehr wohl. Das Staatsbewußtsein ist aber wiederum für die Motivation höchst wichtig und somit
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für die Leistungsfähigkeit des Kollektivs. Bei einem als Normenmenge aufgefaßten Staat hat man zwar die Teile i n seiner Hand, fehlt leider nur das — für die kollektive Identität so wichtige — geistige Band. Die Reduktion des Erkenntnisgegenstandes auf Normen ist bei Kelsen nicht rein wissenschaftlich motiviert, sondern — wie seine ideologiekritischen Ausführungen zeigen — auch mit Anliegen der Ideologiekritik. Nimmt man einen normativen Monismus ernst und verwirklicht man den Ausschließlichkeitsanspruch, dann geht es einem wie einem normativen Midas, dem alles, was er anfaßt, zu Normen wird. Vom Semantischen her gesehen ist die Reine Rechtslehre reduktionistisch, besitzt i m Syntaktischen manierierte Züge, was sich i n einer charakteristischen Rhetorik ausdrückt, und w i r k t auf ihre Schüler i m Pragmatischen suggestiv. I m Hinblick auf die Weiterentwicklung der Wissenschaft und insbesondere unter Berücksichtigung des semantischen Defizits der Reinen Rechtslehre nimmt ihr Gebrauchswert ständig ab. Dennoch ist kein gleichermaßen rückläufiger Tauschwert zu erkennen. Das Gegenteil ist der Fall. Wie bei einem Oldtimer aus den Ζ wanziger jähren, der zwar bei keinem Rennen mehr Erfolgschancen hätte aber möglicherweise einen höheren Preis erzielt als ein modernes Gefährt, nimmt das Ansehen nicht ab. Das Eingedrungensein i n diese A r t von Rechtslehre mag zum Statussymbol werden. Dabei würde es sich u m eine neue Nutzungskomponente handeln, die die Wertanomalie erklären könnte. Sowohl die Nutzung der Reinen Rechtslehre als Statussymbol als auch eine Apotheose ihres Gründers sind freilich wiederum der Ideologiekritik zugänglich.
KELSENS K R I T I K DER NATURRECHTSLEHRE Von Kazimierz Opalek, Krakow 1. Die kritische Betrachtung der Naturrechtslehre, und zwar sowohl im Hinblick auf ihre allgemeinen Probleme wie auch i m Hinblick auf einzelne ihrer Doktrinen, gehört zu wichtigen Themen in Kelsens Werken. Sie w i r d von thematisch verwandten Erwägungen über Gerechtigkeit und die sog. praktische Erkenntnis begleitet. Die erwähnten Probleme hat Kelsen entweder in besonderen Studien oder in hauptsächlich anderen Fragen gewidmeten Schriften erörtert. Kelsens K r i t i k der Naturrechtslehre ist teilweise eine immanente und teilweise eine transzendente — vom Standpunkt der Annahmen und Thesen der reinen Rechtslehre; i n bedeutendem Maß bedeutet sie eine K r i t i k der Naturrechtslehre als Ideologie, verbunden mit dem Versuch, die Wurzeln und sozialen Funktionen dieser Lehre zu erklären. Frühere Arbeiten Kelsens (bis zum Anfang der zwanziger Jahre) enthalten noch nicht eine tiefere Einsicht i n die Naturrechtslehre. So kennzeichnet Kelsen z. B. in den „Hauptproblemen der Staatsrechtslehre" die Naturrechtslehre als eine unter den Bedingungen des Absolutismus entstandene Doktrin des politischen Widerstands gegen die damalige Staatsdoktrin und betrachtet sie eher i n ihrem materiellethischen als in ihrem formal-juristischen Charakter 1 . I n dem Werk „Der soziologische und der juristische Staatsbegriff" befaßt sich Kelsen nur mit der Begründung des Staates durch den Sozialvertrag als einer typischen Doktrin der Naturrechtslehre 2 . Von größerer Bedeutung sind die Bemerkungen i m Werk „Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts", wo Kelsen den Standpunkt des Rechtspositivismus (den er einnimmt) von der Selbständigkeit des Rechts gegenüber anderen normativen Ordnungen dem Standpunkt der Naturrechtslehre entgegensetzt: die letztere sei auf der Suche nach einer „höheren" Begründung der Geltung des positiven Rechts durch „Vernunft", „Natur" oder Moral, indem das positive Recht als eine irgendwie qualifizierte Teilordnung i m Rahmen einer höheren Ordnung angesehen w i r d 3 . Dies 1 Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre. Entwickelt aus der Lehre v o m Rechtssatze, Tübingen 1911, S. 569 f. 2 Hans Kelsen, Der soziologische u n d der juristische Staatsbegriff. K r i tische Untersuchung des Verhältnisses von Staat u n d Recht, Tübingen 1922, S. 140 f.
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ist der Ausgangspunkt der Erwägungen, die Kelsen Ende der zwanziger Jahre über das Verhältnis zwischen Naturrecht und positivem Recht sowie zwischen Naturrechtslehre und Rechtspositivismus anstellte. In demselben Werk stellt Kelsen auch K. Bergbohms Auffassung des Naturrechts als eines „bloß gedachten Rechtes" i n Frage 4 ; dies ist deswegen von Interesse, weil Kelsen später das Naturrecht als „bloß gedachte Normen" auffaßte. Die ersten bedeutenden Studien Kelsens über die Naturrechtslehre stammen aus dem Ende der zwanziger Jahre, und gerade diese Arbeiten sind besonders gedankenreich — und zugleich diskussionswürdig 5 . A m intensivsten hat sich Kelsen mit der Naturrechtslehre indessen in der Zeit nach seiner Emigration befaßt, insbesondere in den Jahren nach dem II. Weltkrieg 6 . I n zahlreichen Arbeiten dieser Periode hat Kelsen die Liste seiner Argumente gegen die Naturrechtslehre erweitert und abgerundet. Diese Arbeiten sind durch größere Reife und Klarheit als die vorhergehenden gekennzeichnet. Die kritischen A k zente wurden i n ihnen verschärft, was zweifellos mit den Angriffen auf die Position Kelsens i m Zusammenhang stand 7 . I n dieser Arbeit werden die Hauptpunkte der Kelsenschen K r i t i k der Naturrechtslehre herausgestellt: sie werden nicht chronologisch, nach der Zeit ihrer Entstehung, sondern nach ihrer A r t und Bedeutung gruppiert. I n einzelnen Punkten w i r d jedoch angemerkt, wie sich die Ansichten Kelsens i n den gegebenen Problemen entwickelten. Zuerst 3
Hans Kelsen, Das Problem der Souveränität u n d die Theorie des V ö l k e r rechts. Beitrag zu einer reinen Rechtslehre, Tübingen 1920, S. 87. 4 Kelsen, Hauptprobleme, S. 89. 5 Hier sind insbesondere folgende Schriften von Kelsen zu erwähnen: Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre u n d des Rechtspositivismus, B e r l i n 1928; Die Idee des Naturrechts, in: Zeitschrift für öffentliches Recht, V I I , 2, 1928; Naturrecht u n d positives Recht. Eine Untersuchung ihres gegenseitigen Verhältnisses, in: Internationale Zeitschrift für Rechtstheorie, I I , 2, 1928. 6 Vgl. insbesondere die gesammelten Aufsätze in: Hans Kelsen, What is Justice?, 1. A u f l . Berkeley - Los Angeles 1957, 2. A u f l . 1960; ders., Aufsätze zur Ideologiekritik, hrsg. v o n E. Topitsch, Neuwied - B e r l i n 1964, und außerdem: ders., Justice et droit naturel, in: Le droit naturel, Paris 1959, S. 1 - 123; ders., Die Grundlage der Naturrechtslehre, in: Das Naturrecht i n der politischen Theorie, W i e n 1963, S. 1 - 37. I n d i r e k t ist hier von Bedeutung auch Kelsens Buch: Society and Nature. A Sociological I n q u i r y , London 1946. Beachtenswert sind auch die Erwägungen über Naturrecht i n dem posthum veröffentlichten W e r k Kelsens; Allgemeine Theorie der Normen, W i e n 1979. Zahlreiche andere Arbeiten, i n denen Kelsen Bemerkungen zum Problem des Naturrechts macht, können hier nicht erwähnt werden. 7 Vgl. E. Topitsch, Hans Kelsen als Ideologiekritiker, in: Gottwerdung u n d Revolution, Pullach / München 1973, S. 221, 227. Topitsch unterstreicht K e l sens Verdienste i n der K r i t i k der Naturrechtslehre u n d betont die Schärfe dieser K r i t i k , i n der Kelsen auch „da u n d dort über das Ziel hinausgeschossen" hat (S. 218).
Kelsens K r i t i k der Naturrechtslehre
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(unter 2) werden die Hauptpunkte der immanenten und transzendenten K r i t i k der Naturrechtslehre dargestellt, dann (unter 3) die Hauptpunkte der K r i t i k der Naturrechtslehre als einer Ideologie behandelt, zusammen mit Kelsens Versuch, ihre Wurzeln und sozial-politischen Funktionen zu erklären. Dann w i r d (unter 4) eine Reihe von Zweifeln hinsichtlich gewisser Thesen Kelsens über die Naturrechtslehre vorgebracht und schließlich w i r d (unter 5) die Bedeutung der K r i t i k Kelsens vor dem Hintergrund der K r i t i k der Naturrechtslehre in der zeitgenössischen rechtsphilosophischen Literatur erörtert. 2.1. I m Rahmen der K r i t i k der Thesen der Naturrechtslehre hat vom Standpunkt der reinen Rechtslehre der Einwand eine fundamentale Bedeutung, daß die Naturrechtslehre den durch das logisch-rationale Denken aufgezwungenen Dualismus von Sein und Sollen, von W i r k lichkeit und Wert, von Norm und Aussage aufhebt. Vorschreibende Normen werden in der Naturrechtslehre aus beschreibenden Sätzen (über die „Natur") deduziert. Die verborgene Voraussetzung dieser Vorgangsweise ist jedoch die Annahme, daß der Wirklichkeit („Natur") Werte inhärent sind, wobei Kelsen den Wert als „das der Norm Entsprechen" definiert. Daher setzt die Naturrechtslehre eigentlich die Normen schon voraus, die sie scheinbar aus der „Natur" deduziert. Es fällt auf, daß dieser grundlegende Einwand von Kelsen deutlich erst in den Arbeiten der Emigrationszeit formuliert wurde. I n einigen dieser Studien analysiert Kelsen von seinem Standpunkt aus verschiedene Versionen der Naturrechtslehre, um zu beweisen, daß alle diesen Fehler enthalten 8 . 2.2. Jede Norm ist Sinn eines Willensaktes, jede positive Norm ist Sinn eines realen Willensaktes. Außer den positiven gibt es auch bloß gedachte Normen, aber es wäre ein Irrtum, sie als Sinn der Denkakte aufzufassen. Sie sind Sinn der vorgestellten (fingierten) Willensakte. Auf eine solche Fiktion werden eben die bloß gedachten Normen des Naturrechts gestützt. Diese Bemerkung macht Kelsen mit Bezug auf das Vernunftrecht, aber sie betrifft letztlich auch andere Arten des Naturrechts. Diese Auffassung t r i t t erst i n den letzten Werken Kelsens auf 9 . Es ist interessant, daß diese Auffassung gewissermaßen auf die Annahme der von Kelsen Jahre zuvor kritisierten Konzeption K. Bergbohms hinausläuft 1 0 . 8 Vgl. insbesondere: H. Kelsen, Justice et droit naturel, Kap. 31, 33 ff., S. 67 f., 74 - 102. 9 Siehe besonders: Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, S. 4 f. und passim. 10 Vgl. K. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, Leipzig 1892, S. 52.
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2.3. Das positive Recht und das Naturrecht schließen sich i m Grunde gegenseitig aus. Die auf „arbiträre" menschliche Willensakte und auf Zwang gestützte normative Ordnung schließt die Möglichkeit einer Regulierung aus, die sich auf dieselbe Sphäre des menschlichen Verhaltens bezieht und die Merkmale der „Natürlichkeit" und Zwangslosigkeit hat. Andererseits macht die Annahme des „reinen Naturrechts" als einer zwangslosen Ordnung ohne Staat (die „ideale Anarchie") die positivrechtliche Regulierung überflüssig und sinnlos. I n Wirklichkeit jedoch nehmen die Doktrinen des Naturrechts in der Regel die Koexistenz des Naturrechts und des positiven Rechts an, wobei sie — ohne Rücksicht auf die Konsequenzen dieser verschiedenen Auffassungen — entweder das Naturrecht „positivieren" oder dem positiven Recht die Merkmale des Naturrechts verleihen (hier besteht ein Zusammenhang mit den Erwägungen i n Kelsens Werk „Das Problem der Souveränität") 1 1 . Die Möglichkeit des Naturrechts w i r d ferner deswegen in Frage gestellt, weil jedes Recht der Konkretisierung und Aktualisierung i n einzelnen Anwendungsakten bedürfe, diese Akte jedoch positivrechtlichen Charakter haben müßten, da sie i m Grunde nur in rechtsetzenden Akten des realen menschlichen Willens bestehen könnten. Diesen Standpunkt hat Kelsen schon Ende der zwanziger Jahre ausgearbeitet und ihn in den Arbeiten der Emigrationszeit aufrechterhalten — obwohl er die angeführten Thesen zunächst nicht so ausführlich entwickelte 1 2 . 2.4. Der These vom absoluten Wert des Naturrechts zufolge sollte nur ein solches Recht existieren. Ein Überblick über die Doktrinen des Naturrechts vom A l t e r t u m bis zur Gegenwart erweist jedoch, daß es viele widersprechende Auffassungen des Inhalts des Naturrechts gibt. Dieser Verschiedenheit war sich Kelsen natürlich schon i n den früheren Arbeiten bewußt, aber den diesbezüglichen Einwand formulierte er erst i n der Zeit seiner Emigration, wobei er diesen Einwand durch verschiedene Beispiele illustrierte (z. B. mit Hinweis auf den als „natürlich" ausgegebenen Charakter der absoluten Monarchie wie auch der Demokratie, auf den „natürlichen" oder aber „naturwidrigen" Charakter des Privateigentums 13 ). 11
Kelsen, Das Problem der Souveränität, S. 87. Dieser P u n k t der K r i t i k wurde besonders ausführlich ausgearbeitet in: Die Idee des Naturrechts (vgl. Fn. 5). Hier w i r d die englische Übersetzung zitiert: The Idea of Natural Law, in: H. Kelsen, Essays i n Legal and M o r a l Philosophy, hrsg. v o n O. Weinberger, Dordrecht - Boston 1973, vgl. S. 30 f., 39 ff. Vgl. auch: Naturrecht u n d positives Recht, S. 81 ff. 13 H. Kelsen, The N a t u r a l - L a w Doctrine Before the T r i b u n a l of Science, in: The Western Political Quarterly, Dez. 1949, ferner in: What is Justice?, S. 151 ff. 12
Kelsens K r i t i k der Naturrechtslehre
2.5. Unter der Annahme der Koexistenz des Naturrechts und des positiven Rechts behaupten die naturrechtlichen Doktrinen i n der Regel, daß die dem Naturrecht widersprechenden Normen des positiven Rechts keine Geltung haben. Dies ist die unvermeidliche Konsequenz der Konzeption, derzufolge das positive Recht eine dem Naturrecht untergeordnete normative Ordnung ist. Diese Konsequenz w i r d jedoch de facto entweder abgewiesen oder auf verschiedene Weisen abgeschwächt. Dieser Argumentation begegnen w i r bei Kelsen erst i n der Emigrationszeit. Wieder konnte er sie am Beispiel verschiedener Doktrinen untermauern 1 4 . 3.1. Den Hauptpunkt von Kelsens K r i t i k der Naturrechtslehre als Ideologie bildet die an den oben unter 2.1. angeführten Einwand anknüpfende These, daß die vom Naturrecht vertretene Annahme der Inhärenz von Werten i n der Natur auf die Konzeption der Natur als göttlicher Ordnung zurückzuführen ist. Daher habe jede Naturrechtslehre metaphysisch-religiösen Charakter. Die Geschichte dieses Einwands bei Kelsen ist deswegen interessant, weil er ihn schrittweise — seit Ende der zwanziger Jahre — verstärkte und letztlich verallgemeinert hat. I n den früheren Schriften betonte Kelsen noch die Unterschiede zwischen dem religiösen und weltlichen Naturrecht, obwohl man hier von einer Inkonsequenz sprechen kann, da schon i n der A r beit „Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus" der metaphysisch-religiöse Dualismus als allgemeine Grundlage der naturrechtlichen Doktrinen bezeichnet w i r d 1 5 . Noch in der Studie „The Natural-Law Doctrine Before the Tribunal of Science" erscheint die oben erwähnte These ein wenig eingeschränkt, wenn Kelsen schreibt: „As a matter of fact, there is no natural-law doctrine of any importance which has not a more or less religious character 16 ." Erst i n den letzten Arbeiten Kelsens hat diese These starken und ausnahmslosen Charakter 1 7 . 3.2. Die metaphysisch-religiöse Begründung der Normen des Naturrechts verleihe ihnen den Anschein des absolut Gerechten und zugleich des Wahren. I m Grunde sei es jedoch nur ein Versuch der objektiven Rechtfertigung von subjektiven Werturteilen, die i n den naturrechtlichen Doktrinen zum Ausdruck kommen. Es soll hinzugefügt werden, daß Kelsen unter subjektiven Werturteilen solche Werturteile ver14
Ders., ebd., S. 144 ff. Vgl. ders., The Idea of Natural Law, S. 29 f., u n d ders., Die philosophischen Grundlagen, § 25 ff. 10 Ders., The N a t u r a l - L a w Doctrine, S. 138. 17 Ders., Die Grundlage der Naturrechtslehre, S. 1, 4 und passim; siehe auch: Recht und Logik, in: Forum X I I , 142, 143, 1965, S. 422 f. 15
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steht, die Wünsche als Akte der emotionalen Reaktion auf gegebene Objekte ausdrücken, i m Unterschied zu objektiven Werturteilen, die Aussagen über das Entsprechen/Nicht-entsprechen des Normobjekts (des Verhaltens) sind 1 8 . Dieser Einwand wurde erst in den Studien der Emigrationszeit formuliert 1 9 . 3.3. I m Anschluß an die Konzeption der Naturrechtsnormen als bloß gedachter Normen, die Sinn von fingierten Willensakten sind (vgl. oben unter 2.2.), behauptet Kelsen, daß diese Konzeption der Naturrechtslehre religiös-metaphysische Wurzeln hat, die i n der Auffassung bestehe, daß das Denken zugleich Wollen sei. Das letztere könne nur mit Bezug auf das göttliche Wesen angenommen werden, was „den Aufstieg von Mensch zu Gott" bedeutet. Diese Betrachtungsweise t r i t t erst in späteren Werken Kelsens auf 2 0 . A m Ende der zwanziger Jahre unterschied Kelsen noch die Doktrinen, die das Naturrecht aus der göttlichen Vernunft, von jenen, die es aus dem göttlichen Willen deduzieren; er nahm also nicht an, daß diese Doktrinen die Identität des Denkens und Wollens i m göttlichen Wesen voraussetzen 21 . 3.4. Die Konzeption des Dualismus von Naturrecht und positivem Recht ist nach Meinung Kelsens auf die metaphysisch-religiöse Erkenntnistheorie mit ihrem psychologischen Ursprung zurückzuführen. Für diese ist die Verdoppelung des Gegenstandes und die Abbildtheorie der Erkenntnis charakteristisch. „Der Wunsch" — so schreibt Kelsen — „das Wesen der Dinge zu ergründen, drängt ihn [den Menschen] zu fragen, was ,hinter' den Dingen liegt", und „ [ . . . ] zu der kühnen Annahme eines jenseits seiner Erfahrung liegenden Bereiches". Und weiter: „Diese grandiose Hypothese, mit der der Mensch die Illusion erzeugt, über sich selbst hinauszuwachsen [. ..] bildet den wesentlichen Kern aller Metaphysik und Religion". Diese Hypothese hat, der Meinung Kelsens zufolge, ihren Ursprung in einem merkwürdigen Mißtrauen des Menschen zu sich selbst: „Nur weil der Mensch offenbar kein rechtes Vertrauen zu den eigenen Sinnen, zu dem eigenen Verstände hat, kann er keine Ruhe finden i n der von i h m selbst geschaffenen, von ihm selbst bestellten Welt der Erkenntnis 2 2 ." Kelsen unterscheidet die Stufe des primitiven Denkens, das mit Bezug auf das Recht durch die Ansicht von der Göttlichkeit des Rechts gekennzeichnet ist, und die Stufe der metaphysisch-religiösen Konzeption des Dualismus 18
Ders., Allgemeine Theorie der Normen, S. 47 f. Ders., The N a t u r a l - L a w Doctrine, S. 159. 20 Ders., Die Grundlage der Naturrechtslehre, S. 4; ders., Allgemeine Theorie der Normen, S. 5 f. 21 Ders., The Idea of Natural Law, S. 29. 22 Ders., Die philosophischen Grundlagen, S. 41 - 42. 19
Kelsens K r i t i k der Naturrechtslehre
von Naturrecht und positivem Recht 23 . Den allgemeinen Problemen des primitiven Denkens mit seinem „Prinzip der Retribution" als Grundlage der Interpretation der Natur i m Unterschied zu der später erfolgenden Trennung von Natur und Gesellschaft, von Naturgesetzen und Normen, hat Kelsen manche spätere Arbeiten, insbesondere sein Buch „Society and Nature" gewidmet 2 4 . I m Rahmen des Dualismus des Naturrechts und des positiven Rechts hat Kelsen drei Idealtypen unterschieden: den pessimistischen Dualismus, der sich i m „idealen Anarchismus" und i m revolutionären Naturrecht manifestiert, den optimistischen Dualismus, dessen Ausdruck der Konservatismus des formalen Naturrechts ist (die inhaltlosen Formeln dieses Naturrechts passen zu jeder beliebigen positiven Rechtsordnung), und den vermittelnden Dualismus mit reformistischer Tendenz, dem das relative Naturrecht entspricht 25 . Es ist interessant, daß Kelsen, der die angeführten Thesen am Ende der zwanziger Jahre formuliert hat, diese später nie wieder vorgebracht hat; in der Folge betonte er nur in allgemeiner Weise den metaphysisch-religiösen Charakter der naturrechtlichen Doktrinen und machte auch Bemerkungen über das formale und relative Naturrecht 2 6 . 3.5. Dagegen vertrat Kelsen stets die Auffassung der politischen Bedingtheit der naturrechtlichen Doktrinen und behauptete, daß sie fast ausschließlich den Charakter einer konservativen Ideologie haben, indem sie der Legitimierung des positiven Rechts dienen. Diese These w i r d den älteren Ansichten, insbesondere der Ansicht von K. Bergbohm über den revolutionären Charakter der Naturrechtslehre entgegengesetzt. Kelsen verstieg sich sogar zu der Behauptung — die er jedoch später nie wiederholte —, daß, als die naturrechtlichen Doktrinen der Mitte des X V I I I . Jahrhunderts ihrer eigentlichen Funktion, „der Stütze von Thron und A l t a r " untreu geworden sind, die ganze Naturrechtslehre grundsätzlich in Frage gestellt wurde. „ A n Stelle einer Ideologie", — so Kelsen — „die ihre Funktion als Verteidigung des positiven Rechts, das ist der gegebenen staatlichen Ordnung, nicht mehr zuverlässig erfüllt, t r i t t eine andere: die Ideologie der historischen Rechtsschule" (die jedoch seiner Ansicht nach ein verborgenes Naturrecht enthielt) 2 7 . Eine einfache Zusammensetzung der Texte Kelsens 23
Ders., ebd., §§ 24, 25. Siehe auch ders., Causality and Retribution, in: Philosophy of Science, Okt. 1941, und ders., Causality and Imputation, in: Ethics, Okt. 1950, beide auch in: What is Justice?, S. 303 - 323, 324 - 349. 25 Ders., Die philosophischen Grundlagen, §§ 26, 27, 28, 29, 30, 31 und 32. 28 Vgl. z. B. ders., Justice et droit naturel, Kap. 46 ff. 27 Ders., Die philosophischen Grundlagen, S. 40. 24
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zeigt, daß seine Differenzierung von drei Idealtypen des Naturrechts nicht ganz mit seiner These übereinstimmt, wonach „the natural-law doctrine has, on the whole, a strictly conservative character" 28 . 3.6. Kelsen vertritt allgemein den Standpunkt, daß die Naturrechtslehre als bloße Ideologie auf metaphysisch-religiöser Grundlage im Widerspruch zur wissenschaftlichen Auffassung des Rechts i n Gestalt der „kritisch positivistischen" reinen Rechtslehre steht. Die eigene, wissenschaftliche Auffassung bezeichnet Kelsen als eine „realistische" Rechtstheorie i m Gegensatz zur Naturrechtslehre, die er als eine idealistische Rechtstheorie ansieht 29 . Hiermit w i r d die Vieldeutigkeit der Termini „Realismus" und „Idealismus" bestätigt: die Behauptung, daß die reine Rechtslehre eine realistische Theorie ist, kann von manchen Autoren, die dem Terminus „Realismus" eine andere Bedeutung zuschreiben, schwerlich akzeptiert werden. Den metaphysischen, unwissenschaftlichen Charakter der Naturrechtslehre sieht Kelsen u. a. darin, daß sie Bewertungen enthält. Kelsen unterscheidet ausdrücklich Wissenschaft als wertfreies Unternehmen von der Ideologie, die ihrem Wesen nach bewertend ist 3 0 . 4. I m folgenden möchte ich einige kritische Bemerkungen zu den Thesen Kelsens i m Rahmen seiner K r i t i k der Naturrechtslehre machen. Ich werde insbesondere untersuchen: die Konzeption der bloß gedachten Normen; die Auffassung des Naturrechts als Recht ohne Zwang; die These über den religiösen Charakter jeder Naturrechtslehre; die von Kelsen unterschiedenen Idealtypen des Dualismus mit Bezug auf das Verhältnis von Naturrecht und positivem Recht; und die These über den zumeist konservativen Charakter der Naturrechtslehre. 4.1. Die Norm w i r d von Kelsen als Sinn des realen (empirischen) Willensaktes aufgefaßt, eine Konzeption, die eine Reihe von bekannten, i n der Literatur mehrfach vorgetragenen Einwänden hervorruft. Die Gegenüberstellung von positiven und bloß gedachten Normen hat beschränkte Anwendbarkeit; sie ist nur vom rechtsdogmatischen Standpunkt aus plausibel. Diese Konzeption führt auf der Ebene der logisch-linguistischen Erwägungen zu Schwierigkeiten und zur Ver28 Ders., The N a t u r a l - L a w Doctrine, S. 150; vgl. auch ders., Justice et droit naturel, S. 110 f. 29 Ders., Justice et droit naturel, § 28, 29; vgl. auch ders., Law, State, and Justice i n the Pure Theory of Law, in: The Yale L a w Journal, Jan. 1948, ferner auch i n ders., What is Justice?, S. 288 - 302. 30 Vgl. insbesondere: ders., Science and Politics, in: American Political Science Review, Sept. 1951, auch ders., Value Judgements i n the Science of Law, in: Journal of Science, Philosophy, and Jurisprudence, J u l y 1942, beide auch in: What is Justice?, S. 209-230 und 350-375. Früher schon in: Die philosophischen Grundlagen, S. 70 f.
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mengung verschiedener Probleme, wie ich i n einer anderen Arbeit gezeigt habe 31 . Kelsen selber scheint mit seinen Lösungen auf diesem Gebiet nicht zufrieden gewesen zu sein, da er schließlich meinte: „Daß Normen der Sinn von Willens- und nicht von Oerik-Akten sind, ist vom Standpunkt der Logik aus irrelevant", und da er unterstrich, daß in der Normenlogik die bloß gedachten Sollsätze (strikt: Normen ohne Rücksicht darauf, ob sie Sinn von realen Willensakten sind) der Analyse unterzogen werden 3 2 . Die Unterscheidung ist auch auf der psychologischen Ebene unwesentlich, wenn w i r die Überzeugung von der bindenden Kraft der Normen und der Akte, welche die Grundlage der bindenden Kraft der Normen bilden, ins Auge fassen. Denn auch bloß gedachte Normen können als bindend i m Sinne der vorgestellten normativen Akte (z. B. i m Sinne göttlicher Befehle) erlebt werden 8 3 . Ferner ist für uns hier noch ein weiteres Problem von Interesse. Die Grundlage der Normentheorie Kelsens bilden psychologische Erwägungen über den Unterschied zwischen den Willens- und Denkakten. Man kann zwar annehmen, daß Denken ohne Wollen durchaus möglich ist, aber es ist psychologisch fraglich, ob Wollen als vom Denken völlig getrennt wie bei Kelsen aufgefaßt werden kann. Daher erscheint Kelsens Behauptung, die naturrechtliche Annahme „des Wollens, das zugleich Denken ist" sei metaphysisch notwendig und setze ein göttliches Wesen voraus, als nicht hinreichend begründet. 4.2. Die These, daß das „reine Naturrecht" zwangsloser Natur sei, während das positive Recht Zwangscharakter habe, führt Kelsen zu tiefgreifenden Schlußfolgerungen der gegenseitigen Unverträglichkeit dieser beiden Arten des Rechts und zur Auffassung, daß jede Annahme ihrer Koexistenz falsch und inkonsequent sei. Das Hauptargument Kelsens ist, daß, wenn die Quelle des Naturrechts — wie die Naturrechtslehre behauptet — die ihrem Wesen nach gute menschliche Natur darstellt und das Naturrecht die offensichtlich gerechte Regulierung der sozialen Beziehungen ist, dann das Naturrecht keinen Zwang zu seiner Befolgung brauche. Doch wenn sich das Naturrecht — wie Kelsen meint — auf einen metaphysisch-religiösen Dualismus stützt, dann erstreckt sich dieser Dualismus auch auf die Betrachtung der menschlichen Natur, also einerseits auf die empirische und andererseits auf die überempirische („wesentliche") Natur. Daher kann, wie die Analyse der konkreten naturrechtlichen Doktrinen zeigt, auch das Naturrecht als eine normative Zwangsordnung aufgefaßt werden; der Zwang ist 81 K. Opalek, Überlegungen zu Hans Kelsens „Allgemeine Theorie der Normen", Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Bd. 4, Wien 1980, S. 34 f. 32 Kelsen , Allgemeine Theorie der Normen, S. 202 f. 33 Das hat Kelsen selber i n seiner K r i t i k der Ansichten K . Bergbohms betont, vgl.: Das Problem der Souveränität, S. 91 f. und die i n Fn. 1 angeführte Arbeit, S. 92.
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hier „a real but supersensual, metaphysical compulsory p o w e r " g e richtet auf die empirische menschliche Natur. Auch w i r d das positive Recht damit gar nicht überflüssig, da es der empirischen Realisierung dieses metaphysischen Zwanges dient. Gewisse Vertreter der Naturrechtslehre sprechen denn auch — einigermaßen naiv, wie ich zugebe — von den „natürlichen Sanktionen" des Naturrechts in einem nicht metaphysischen Sinne in Gestalt der dem Menschen real drohenden Nachteile i m Falle der Verletzung der Normen des Naturrechts 35 . Nebenbei möchte ich zu Kelsens These von der Identität von Naturrecht und Moral bemerken, daß — wie die Analyse der Doktrinen zeigt — das Naturrecht sich ebenso wie das positive Recht von der Moral gerade durch ihren Zwangscharakter unterscheidet 30 . Auch ohne von der erwähnten dualistischen Konzeption Gebrauch zu machen, können die naturrechtlichen Doktrinen auf konsequente Weise die These vom Zwangscharakter des Naturrechts und den Hilfscharakter des positiven Rechts begründen, wie etwa dann, wenn das Naturrecht als Inbegriff der Gebote und Verbote Gottes auffaßt, die an das unvollkommene menschliche Wesen adressiert sind. Ebenso auch dann, wenn man den Kontrast zwischen der menschlichen Vernunft und den von ihr diktierten naturrechtlichen Grundsätzen einerseits und den wirklich den Menschen beherrschenden Leidenschaften hervorhebt (Hobbes). Auch dann, wenn das Naturrecht als in der Natur der sozialen Ordnung (Fuller) oder i n der „Natur der Sache" begründet aufgefaßt wird, ist die Annahme keineswegs inkonsequent, daß die so begründeten Normen des Naturrechts der Nichtbefolgung durch die Menschen ausgesetzt und der Sicherung durch empirischen positivrechtlichen Zwang bedürftig sind 3 7 . Daher muß man — ungeachtet der sonstigen Voraussetzungen solcher Doktrinen, die per se schwer akzeptierbar sind — zugeben, daß das sog. reine Naturrecht keineswegs als eine Ordnung der „idealen Anarchie" aufgefaßt werden muß und daß die Behauptung der Koexistenz des Naturrechts und des positiven Rechts bei solchen Voraussetzungen konsequent begründet werden kann. 34 Vgl. dazu A. Ross, Towards a Realistic Jurisprudence. A Criticism of the Dualism i n Law, Copenhagen 1946, D. 21 ff., insbesondere S. 30. 35 Vgl. dazu Κ. Opalek, Prawo natury u polskich fizjokratów [Das Naturrecht bei den polnischen Physiokraten] , Warszawa 1953, S. 25 f., 80 f. 36 H. Kelsen, The Idea of Natural Law, S. 34 f.; A. Ross, op. cit., Kap. I I e; K. Opalek, Hugona K o l l ^ t a j a pogl^dy na pahstwo i prawo [Ansichten über Staat u n d Recht von Hugo K o l l ^ t a j ] , Warszawa 1952, Kap. V I I , S. 150 ff. 37 Uber Hobbes siehe J. Lande, Studia ζ filozofii prawa [Rechtsphilosophische Studien], Warszawa 1959, S. 543 ff.; über L. L. Fuller siehe K. Opalek, J. Wróblwski, Wspólczesna teoria i socjologia prawa w U. S. A . [Gegenwärtige Rechtstheorie und Rechtssoziologie i n den U . S . A . ] , Warszawa 1963, S. 63 - 86.
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4.3. Kelsens These (in der starken Version seiner letzten Arbeiten), daß jede Doktrin des Naturrechts die Auffassung der Natur als einer göttlichen Ordnung voraussetzt, scheint übertrieben zu sein. Besonders scharf formuliert und ausgearbeitet hat Kelsen diese These in seiner Studie „Die Grundlage der Naturrechtslehre" 38 . I n dieser Arbeit fällt — wie auch in anderen späteren Arbeiten — die Labilität zwischen einer induktiven Beweisführung (auf dem Wege der Analyse verschiedener Doktrinen) einerseits und einer deduktiven Begründung dieser These durch die Idee des Naturrechts selbst andererseits auf. Der induktive Beweis kann jedoch angesichts der Doktrinen des weltlichen Naturrechts, in welchen die Auffassung der Natur als göttlicher Ordnung nicht auftritt, leicht erschüttert werden. Dagegen würde Kelsen sicher einwenden, daß in allen solchen Doktrinen diese verborgene Voraussetzung auf dem Wege der Analyse enthüllt werden kann. Kann man dies aber mit Bezug auf jene Doktrinen, die das Naturrecht aus der Vernunft oder anderen psychischen Vorgängen des Menschen (z. B. dem „Empfinden der Ungerechtigkeit") 3 9 abzuleiten versuchen, Doktrinen, die einfach in der Verabsolutierung bestimmter sozial bedingter Intuitionen darüber bestehen, wie das Recht sein sollte, wirklich sagen? Kann man die obenerwähnte Voraussetzung in jenen Doktrinen finden, die das „natürliche" als das „normale" Verhalten betrachten, d. h. als dasjenige Verhalten, welches i n der betreffenden sozialen Gemeinschaft in bestimmten Situationen als üblich gilt, i m Unterschied zu einem „unnatürlichen", d.h. „von der Norm abweichenden" Verhalten 4 0 ? Kelsen hat zwar recht, wenn er diesen Doktrinen die Deduktion des Sollens aus dem Sein vorwirft, aber von der Voraussetzung einer göttlichen natürlichen Ordnung kann hier wohl kaum die Rede sein. 4.4. Kelsens These über den metapysisch-religiösen Dualismus und seine Erscheinungsformen i n der Naturrechtslehre ist originell und interessant. Die Begründung dieser These enthält auch viele zutreffende Beobachtungen. Die Darstellung der psychologischen Wurzeln der Metaphysik ist jedoch ziemlich unbefriedigend, wenn man Kelsens Ansichten, die er zu diesem Thema gegen Ende der zwanziger Jahre formulierte, mit späteren Überlegungen von Autoren wie E. Topitsch und A. Ross vergleicht 4 1 . Auch die Typologie der Dualismen mit ihrer 38
I n dieser Studie schreibt Kelsen über die notwendige Voraussetzung jeder Naturrechtslehre: „Diese Voraussetzung ist, wie ich zu zeigen versuchen werde, der Glaube an eine gerechte Gottheit, deren W i l l e der von i h r geschaffenen Natur nicht transzendent, sondern auch immanent ist. Über die Wahrheit dieses Glaubens zu diskutieren, ist v ö l l i g aussichtslos". (S. 1) 39 E. Cahn, The Sense of Injustice. A n Anthropocentric V i e w of Law, New Y o r k 1949, S. 24 f., 186, u. a. 40 Siehe hierzu Kelsen , Justice et droit naturel, S. 80 ff. 41 E. Topitsch, V o m Ursprung u n d Ende der Metaphysik, Wien 1958; A. Ross, On L a w and Justice, London 1958, Kap. 10. 6 R E C H T S T H E O R I E , Beiheft 4
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Anwendung auf die Doktrinen des Naturrechts erscheint zweifelhaft. Die Kriterien der Beziehung zur bestehenden sozialen Ordnung („Optimismus", „Pessimismus", vermittelnder Typus) sind rein psychologisch und haben keinen Bezug zum jeweiligen sozialen Hintergrund. Die Typologie widerspricht teilweise auch den historischen Tatsachen: der Pessimismus soll alle sich dem positiven Recht widersetzenden Doktrinen kennzeichnen, während manche dieser Doktrinen (z. B. die Doktrinen, die am Beginn des neuzeitlichen Liberalismus stehen) einen kräftigen Optimismus aufweisen. Plato, der in Wirklichkeit Schöpfer einer rückschrittlichen Utopie war, die von der Negation der bestehenden sozialen Ordnung ausging, ist nach Kelsens Meinung ein gerade diese Ordnung gutheißender Optimist 4 2 . Man kann Kelsen zwar zustimmen, wenn er die Auffassung in Frage stellt, daß es eine Gesetzmäßigkeit i n Richtung auf eine progressive soziale Entwicklung gibt 4 3 ; auf der Grundlage einer solchen Auffassung würde die Typologie der Doktrinen einen bewertenden Charakter erhalten (z. B. konservativ — reaktionär — progressiv). Es scheint jedoch, daß auch ohne eine solche Grundlage eine befriedigendere Typologie gebildet werden kann als die von Kelsen getroffene. Und zwar kann man Doktrinen mit positiver und negativer Einstellung gegenüber der jeweils bestehenden sozialen Ordnung unterscheiden, und unter den letzteren wiederum solche, die auf die Rückkehr zur alten Ordnung orientiert sind, und solche, die einen neuen, bisher nicht existierenden Zustand projektieren. I n einer derartigen Typologie könnte auch ein gemischter reformistischer Typus, der dem „vermittelnden" bei Kelsen entspricht, angenommen werden. 4.5. Es ist Kelsens Verdienst, daß er die unbegründeten Ansichten über den grundsätzlich revolutionären, oder „revolutionär-destruktiven" Charakter der Naturrechtslehre zurückgewiesen hat 4 4 . Allerdings ist Kelsen mit der Behauptung, daß die naturrechtlichen Doktrinen in überwiegendem Maße konservativ seien, ins entgegengesetzte Extrem verfallen. Tatsächlich findet man in der Geschichte eine ganze Reihe „vermittelnder" Doktrinen mit reformistischer Einstellung vor, von Doktrinen, die zwar die existierende soziale Ordnung nicht ablehnen, aber dennoch oft weitgehende Reformen der bestehenden Ordnungen postulieren. Doktrinen, die einen grundsätzlich neuen Zustand projektieren, treten eher selten i n Erscheinung, obgleich ihre Bedeutung keineswegs so gering ist, wie Kelsen meinte. Die diesbezüglichen Ansichten Kelsens scheinen durch seine These beeinflußt zu sein, daß 42
Vgl. Kelsen, Die philosophischen Grundlagen, S. 49 ff. u n d 74 f. Ders., The N a t u r a l - L a w Doctrine, S. 159 ff.; siehe auch ders., A „ D y namic" Theory of Natural Law, in: Louisiana L a w Review, J u n i 1956, ferner in: What is Justice?, S. 175 ff. 44 Ders., Die philosophischen Grundlagen, § 21. 43
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naturrechtliche Doktrinen inkonsequent die Koexistenz des Naturrechts und des positiven Rechts annehmen, eine These, die tatsächlich entweder zur Positivierung des ersteren oder aber zur Rechtfertigung der letzteren als des jeweils „natürlichen" Zustands führt. Diese These erscheint jedoch zweifelhaft, wie schon oben (unter 4.2.) ausgeführt wurde. 4.6. Obwohl Kelsens Überlegungen zur Naturrechtslehre i n jedem Punkte interessant und anregend sind, enthalten sie dennoch in ihrer immanenten und transzendenten K r i t i k der Behauptungen der Naturrechtslehre eine Reihe strittiger Thesen und gewisse Übertreibungen in ihrer K r i t i k des ideologischen Aspekts der Naturrechtslehren. Wenn auch Kelsens K r i t i k i m Grunde genommen zutreffend ist, so weist sie doch eine gewisse Tendenz zur übermäßigen Generalisierung auf, z. B. was die Thesen über den religiösen und konservativen Charakter der Naturrechtslehre betrifft. 5. Wie ist die Position Kelsens i m Rahmen der K r i t i k des Naturrechts i m X X . Jahrhundert insgesamt zu beurteilen? U m diese Frage zu beantworten, gilt es, die Situation in der Rechtsphilosophie i n unserem Jahrhundert kurz zu überdenken. Diese Situation läßt sich einerseits durch zwei Wellen der Wiederbelebung der Naturrechtslehre (am A n fang des Jahrhunderts und nach dem II. Weltkrieg) und andererseits durch die Entstehung und Entwicklung der von der empirischen Rechtssoziologie unterstützten realistischen Theorie des Rechts kennzeichnen. Die analytischen Richtungen sind dabei von geringerer Bedeutung, wie ich i n einer anderen Studie nachzuweisen versucht habe 15 . Man gewinnt leicht den Eindruck, daß der relativ starken Position der Naturrechtslehre i n unserem Jahrhundert eine starke Opposition, hauptsächlich seitens der realistischen Rechtstheorie, gegenübersteht. Ein Überblick der Rechtstheorie des X X . Jahrhunderts bestätigt aber diesen Eindruck nicht. Von den realistischen Theorien war die der Uppsala-Schule am schärfsten von kritischem Geist durchdrungen. Diese Schule hatte jedoch nicht so sehr Interesse an der Naturrechtslehre als an der ganzen „traditionellen Rechtswissenschaft", die gewisse Relikte der primitiven, magisch-mystischen Vorstellungen von Recht noch immer an sich trage (A. Hägerström) 46 . Die Äußerungen der Vertreter dieser Schule, vor allem die von V. A. Lundstedt, enthielten 45 K. Opalek, Sprachphilosophie u n d Jurisprudenz, in: Rechtstheorie, Beiheft 1, Argumentation u n d Hermeneutik i n der Jurisprudenz, B e r l i n 1979, S. 153 - 161. 46 Vgl. A . Hägerström, Der römische Obligationsbegriff i m Lichte der a l l gemeinen römischen Rechtsanschauung, Bd. I, Uppsala 1927, Bd. I I , Uppsala 1941.
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scharfe Akzente der Ideologiekritik, doch handelte es sich um eine K r i t i k der sog. „rechtlichen Ideologie", von der die Rechtswissenschaft befreit werden sollte 47 . I m Zuge der weiteren Entwicklung dieser Schule haben einige ihrer Vertreter auch an der Naturrechtslehre K r i t i k geübt. Eine besonders tiefgehende K r i t i k findet sich i n den späteren Werken von A. Ross und t r i t t auch bei K. Olivecrona in Erscheinung 48 . Andere realistische Richtungen behandelten entweder das Problem des Naturrechts nur oberflächlich oder befaßten sich ausschließlich mit ihren eigenen Problemen oder neigten sogar zu Konzessionen gegenüber der Naturrechtslehre. Das letztere gilt auch für manche analytische Theorien, wie z. B. für H. L. A. Hart 4 9 . Interessant ist, daß einige Doktrinen des Naturrechts i m X X . Jahrhundert mitunter eine gewisse Kompromißbereitschaft zeigen, was i n verschiedenen abgeschwächten Versionen der Naturrechtslehre zum Ausdruck kommt, und daß andere Richtungen dieser Haltung entgegenkommen. So w i r d eher eine Tendenz zum Ausgleich als zur Verschärfung der Meinungsunterschiede deutlich. Eine solche Tendenz zeigt sich auch bei manchen Rechtsdogmatikern. Kelsen meinte, daß verschiedene abgeschwächte Versionen der Naturrechtslehre hauptsächlich dem konservativen Bestreben nach Legitimierung des positiven Rechts entspringen. Es scheint aber, daß hierin vor allem das Streben der Naturrechtler zum Ausdruck kommt, sich den neuen Ergebnissen in den Sozialwissenschaften anzupassen und solche Versionen der Naturrechtslehre zu erarbeiten, welche den früheren Einwänden der Gegner, mit K. Bergbohm an ihrer Spitze, entgehen 50 . Diese Kompromißbereitschaft — einerseits i n Form einer abgeschwächten K r i t i k und andererseits in der Suche nach „akzeptablen" Versionen des Naturrechts — kommt i n der Sammlung von Arbeiten deutscher Autoren unter dem Titel „Naturrecht oder Rechtspositivismus?" deutlich zum Ausdruck. Dasselbe gilt auch von der vortrefflichen Studie von F. Wieacker „Zum heutigen Stand des Naturrechts" 5 1 . Vor diesem — wenn auch notwendigerweise nur skizzenhaft dargestellten — Hintergrund kommt die Bedeutung der von Kelsen durchgeführten K r i t i k der Naturrechtslehre zum Vorschein. Kelsen, der sich 47 V. A . Lundstedt, Superstition or Rationality i n A c t i o n for Peace, London 1925; Die Unwissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft, Bd. I, B e r l i n 1932, Bd. I I , B e r l i n 1936; Legal T h i n k i n g Revised, Stockholm 1956. 48 A . Ross, Towards a Realistic Jurisprudence, ferner: On Law and Justice; K. Olivecrona, Law as Fact, 2. Aufl., London 1971, Kap. 1. 49 Η . L. A. Hart , The Concept of Law, Oxford 1961, Kap. I X . 50 Vgl. Κ. Opalek , Problemy metodologiczne n a u k i prawa [Methodologische Probleme der Rechtswissenschaft], Warszawa 1962, S. 56 f. 51 Naturrecht oder Rechtspositivismus?, hrsg. v o n W. Maihof er, Bad H o m burg 1962; F. Wieacker, Z u m heutigen Stand des Naturrechts, K ö l n u. Opladen 1965.
Kelsens K r i t i k der Naturrechtslehre
selber für einen Realisten hielt, der aber allgemein als Idealist der formalistischen Abart erachtet wurde, und damit in ein Naheverhältnis zum Idealismus des „materiellen Sollens", zu welchem die Naturrechtslehre gehört, gerückt erscheint, erwies sich als der tiefste und konsequenteste K r i t i k e r dieser Lehre, der an ihr eine „totale" K r i t i k , auch in ideologischer Hinsicht, übte. Als Idealist wurde er dennoch beschuldigt, daß auch seine Lehre verborgene Elemente des Naturrechts enthalte, wozu gewisse Interpretationen der Grundnorm und Kelsens Äußerungen über „transzendentallogisches Naturrecht" Anlaß gaben 52 . Solche unbegründeten Einwände erinnern an K. Bergbohms Fanatismus in seiner Bekämpfung aller Symptome des Naturrechts 53 . Kelsens K r i t i k dringt bis zu den philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre vor, enthüllt ihre verborgenen Voraussetzungen und ihre innere Inkonsequenzen. Die K r i t i k w i r d veranschaulicht durch Analysen konkreter Doktrinen, welchen Kelsen manchmal auch besondere Studien gewidmet hat 5 4 . Die K r i t i k , die von anderen zeitgenössischen Autoren unternommen wurde, erscheint dagegen meist nur als skizzenhaft und nicht tiefgehend. Manchmal kommt in dieser K r i t i k auch der Gedanke zum Ausdruck, daß der „Kern" der Naturrechtslehre nach Beseitigung ihrer Fehler und Übertreibungen aufrechtzuerhalten ist. Diese Haltung entspricht auch der oben charakterisierten Situation in der Rechtstheorie. Darüber hinaus hat Kelsen seine K r i t i k der Naturrechtslehre als Bestandteil seiner Ideologiekritik verstanden, der er sich auch in vielen anderen Arbeiten gewidmet hat. Kelsens K r i t i k ist außerdem mit dem inspirierenden und originellen Versuch verbunden, die Wurzeln und die Funktionen der naturrechtlichen Ideologie zu erklären. Andere Autoren haben neben der K r i t i k der Naturrechtslehre sehr selten auch den Versuch unternommen, gleichzeitig deren Entstehen zu erklären. Der einzige andere Autor, der der Naturrechtslehre tiefgehende Erwägungen (auch vom Aspekt der Ideologiekritik) gewidmet hat, ist A. Ross, dem Kelsen jedoch i n der Vielfalt und in der Gründlichkeit seiner Überlegungen sicherlich überlegen ist.
52 H. Kelsen, Die philosophischen Grundlagen, S. 66; K r i t i k von A. Ross, V a l i d i t y and the Conflict Between Positivism and Natural Law, in: Revista Juridica de Buenos Aires, I V , 1961, S. 68 f., 78 ff.; ähnliche K r i t i k i n Polen von J. Lande, Norma i zjawisko prawne [Rechtsnorm u n d Rechtsphänomen], 1925, in: Studia ζ filozofii prawa, S. 300 f. 53 Vgl. J. Llambias de Azevedo, Betrachtungen über Bergbohms K r i t i k an der Naturrechtslehre, in: Archiv für Rechts- u n d Sozialphilosophie, Beiheft 41, Neue Folge 4, 1965, Latein-amerikanische Studien zur Rechtsphilosophie, S. 163 - 194. 54 So ζ. Β.: A „Dynamic" Theory of Natural L a w ; ferner seine Studien über Gerechtigkeit i n der Heiligen Schrift, bei Plato, Aristoteles u. a.
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Das Studium der Kelsenschen K r i t i k der Naturrechtslehre muß uns daher — ungeachtet dessen, daß Kelsen hie und da „die Saite überspannt hat" — zur Ansicht führen, daß Kelsen alle rationalen Argumente gegen das Naturrecht ins Feld geführt hat und daß sich die Naturrechtslehre i m Lichte dieser Argumente nicht aufrecht erhalten läßt. Wenn sie sich trotzdem behauptet, so kann dies nur durch außerrationale Gründe erklärt werden.
DIE KRITIK HANS KELSENS A N DER JURISTISCHEN E I G E N T U M S I D E O L O G I E V o n Peter R ö m e r , M a r b u r g
Hans K e l s e n h a t k e i n e systematische I d e o l o g i e k r i t i k des P r i v a t e i g e n tumsrechts v o r g e n o m m e n . A b e r i n z a h l r e i c h e n i d e o l o g i e k r i t i s c h e n A n a l y s e n 1 der z e n t r a l e n B e g r i f f e des P r i v a t r e c h t s w i r d der Schutz des P r i v a t e i g e n t u m s u n d seine V e r k l ä r u n g als vorstaatliches, n a t ü r l i c h e s Recht als Z w e c k der h e r r s c h e n d e n B e g r i f f s b i l d u n g beschrieben u n d k r i t i s i e r t . A u s g a n g s p u n k t f ü r die K r i t i k Kelsens ist also die ü b e r k o m m e n e herrschende L e h r e i n der Z i v i l r e c h t s d o g m a t i k . Gerade i n s o f e r n diese p o s i t i v i s t i s c h u n d also a n t i - n a t u r r e c h t l i c h z u sein b e h a u p t e t , setzt die I d e o l o g i e k r i t i k Kelsens an u n d v e r s u c h t nachzuweisen, daß i n dieser rechtspositivistischen B e g r i f f l i c h k e i t n a t u r r e c h t l i c h e s D e n k e n e n t h a l t e n ist. 1 Vgl. zur Ideologiekritik Kelsens: H. Mayer, Das Ideologieproblem u n d die Reine Rechtslehre, in: R. A . M é t a l l (Hrsg.), 33 Beiträge zur Reinen Rechtslehre, Wien 1974, S. 213 ff.; H. H. Holz, Hans Mayers Beitrag zur Ideologietheorie, in: I. Jens (Hrsg.), Über Hans Mayer, F r a n k f u r t / M . 1977, S. 39 ff., S. 47 ff.; H. Tadic, Kelsen et M a r x , Contribution au problème de l'idéologie dans la »Theorie pure du droit' et dans le marxisme, Archives de philospohie du droit, Tome X I I , M a r x et le droit moderne, 1967, S. 243 ff.; P. Römer, Die Reine Rechtslehre Hans Kelsens als Ideologie u n d Ideologiekritik, PVS 1971, S. 579 ff.; E. Topitsch, Einleitung zu H. Kelsen, Aufsätze zur Ideologiekritik, Neuwied 1964, S. 22 ff. Die ideologiekritischen Analysen Kelsens werden von denjenigen Autoren, die Kelsen den gängigen V o r w u r f der Inhaltsleere u n d des Formalismus machen, nicht hinreichend beachtet. So neuestens wieder U. K. Preuss, Die Internalisierung des Subjekts, Z u r K r i t i k der Funktionsweise des subjektiven Rechts, F r a n k f u r t / M . 1979, S. 108, A n m . 108, der befremdlicherweise Kelsens spätere Äußerungen zum Begriff u n d vor allem zur F u n k t i o n des subjektiven Rechts u n d des Eigentumsrechts ignorierend u n d auf die Ausführungen Kelsens i n den „Hauptproblemen der Staatsrechtslehre", i n denen Kelsen noch nicht Rechtsnorm u n d Rechtssatz unterschied, verweisend, K e l sen vorhält, rein k o n s t r u k t i v zu verfahren. H. Klenner, der v o n einem so distanzierten Beobachter der marxistischen Rechtstheorie wie R. Dreier zutreffend als der „ w o h l wichtigste, jedenfalls aber brillanteste Staats- u n d Rechtstheoretiker der DDR" bezeichnet w i r d (R. Dreier, Zur Problematik u n d Situation der Verfassungsinterpretation, in: R. Dreier / F. Schwegmann, Probleme der Verfassungsinterpretation, Dokumentation einer Kontroverse, Baden-Baden 1976, S. 13 ff., S. 40), hat in: Rechtsleere. Verurteilung der Reinen Rechtslehre, F r a n k f u r t / M . 1972 u n d in: Rechtsphilosophie i n der Krise, B e r l i n 1976, insbes. S. 44 ff. unter diesem seinem Niveau gegen Kelsen polemisiert u n d dessen ideologiekritischen Beitrag vernachlässigt.
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I. Hans Kelsens Reinigung des überkommenen Begriffs des Eigentumsrechts Das Eigentumsrecht ist das typische Privatrecht, es ist das typische subjektive Recht und es ist das typische dingliche Recht; die rechtsgeschäftliche Verfügung über das Eigentum geschieht i m Rahmen der Privatautonomie und ist somit typisches Gegenbeispiel zur politischen Rechtsetzung. Die von Kelsen vorgenommene Auflösung der Trennung von öffentlichem und privatem 2 , subjektivem und objektivem 3 , dinglichem und persönlichem Recht 4 , von Rechtssetzung und Rechtsanwendung 5 beinhaltet deshalb zugleich eine K r i t i k am überkommenen Begriff des Eigentumsrechts. Das Recht ist nach Kelsen ein System von Normen, die vorschreiben, erlauben, ermächtigen oder derogieren 6 . Das Recht ist eine Zwangsordnung in dem Sinne, daß es ein bestimmtes Verhalten gebietet, indem an das entgegengesetzte Verhalten ein Zwangsakt geknüpft wird. Es ist dieses Zwangsmoment, welches das Recht von anderen Normsystemen unterscheidet 7 . Die Trennung des Rechts i n öffentliches und privates Recht gemäß der Mehrwerttheorie 8 scheitert am Zwangscharakter der Rechtsordnung. Nach der Mehrwerttheorie normiert das Privatrecht die Rechtsverhältnisse zwischen gleichgeordneten Individuen, das öffentliche Recht diejenigen zwischen einem übergeordneten und einem un2 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. A u f l . Wien 1960, S. 284 ff.; ders., Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre v o m Rechtssatze, 2. Aufl., Tübingen 1923, unveränderter Neudruck, Aalen 1960, S. 629 ff., S. 655 ff.; ders., Allgemeine Staatslehre, B e r l i n 1925, unveränderter Nachdruck Bad Homburg v. d. H. 1966, S. 80 ff.; ders., Zur Lehre v o m öffentlichen Rechtsgeschäft, AöR 1913, S. 53 ff., S. 190 ff. 3 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 130 ff. 4 Ders., ebd., S. 135 ff. 5 Ders., ebd., S. 239 ff. β Ders., ebd., S. 15 ff.; ders., Allgemeine Theorie der Normen. I m A u f t r a g des Hans-Kelsen-Instituts aus dem Nachlaß hrsg. v o n K . Ringhofer und R. Walter, Wien 1979, S. 76 ff. 7 Z u m Zwangscharakter des Rechts vgl.: P. Römer, Der Zwangscharakter des Rechts i n der Rechtslehre Hans Kelsens u n d i n der marxistischen Rechtstheorie, in: Reine Rechtslehre u n d marxistische Rechtstheorie, Schriftenreihe des Hans-Kelsen-Instituts, Bd. 3, W i e n 1978, S. 147 ff. 8 Z u den verschiedenen Theorien zur Unterscheidung v o n öffentlichem und privatem Recht vgl. m i t weiteren Literaturhinweisen: P. Römer, Die Reine Rechtslehre als Ideologie u n d Ideologiekritik, PVS 1971, S. 583 ff.; Η . P. Rill, Z u r Abgrenzung des öffentlichen v o m privaten Recht, ÖZÖR 1961, S. 457 ff.; D. Grimm, Zur politischen F u n k t i o n der Trennung v o n öffentlichem u n d privatem Recht i n Deutschland, in: Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, hrsg. v. W. Wilhelm, F r a n k f u r t / M . 1972, S. 224 ff.; N. Achterberg, Die Reine Rechtslehre i n der Staatstheorie der Bundesrepublik Deutschland, in: Der Einfluß der Reinen Rechtslehre auf die Rechtstheorie i n verschiedenen Ländern, Schriftenreihe des Hans-Kelsen-Instituts, Bd. 2, W i e n 1978, S. 7 ff.
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tergeordneten Rechtssubjekt. Alle Rechtsnormen, auch die sogenannten privatrechtlichen, nehmen — in welch abgeleiteter und vermittelter Form auch immer — am Zwangscharakter der Rechtsordnung teil. Ein Zwangsakt darf aber lediglich aufgrund des Rechtes gesetzt werden; die Bindung aller an das Recht macht die Annahme von juristischen Überordnungs- und Unterordnungsverhältnissen unmöglich. Die Trennung des öffentlichen vom privaten Recht hat deshalb nach Kelsen auch die Neigung, „die Bedeutung eines Gegensatzes zwischen Recht und nichtrechtlicher oder doch halbrechtlicher Gewalt . . . anzunehmen" 9 . Kelsen stellt fest, daß es für die rechtliche Betrachtung nur Rechts-, aber keine Gewaltverhältnisse geben könne und daß eine rechtliche Bindung an einen obrigkeitlichen Befehl nur eintreten könne, wenn eine Rechtsnorm eine solche Bindung statuiert. Auch die Interessentheorie ermöglicht nach Kelsen keine Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht. Diese Theorie stellt darauf ab, ob eine Rechtsnorm dem Individualinteresse oder dem Kollektivinteresse dient. Ein Individualinteresse wird, so Kelsen, durch das Recht nur dann geschützt, wenn ein kollektives Interesse an diesem Schutz besteht; andererseits werde immer ein Einzelner existieren, der an einer Norm, die ein öffentliches Interesse schützt, ein privates Interesse hat. Die Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht ist also nach Kelsen keine Wesensunterscheidung, die eine Zweiteilung des gesamten Rechtes bewirkt. Sie kann nur eine Unterscheidung sein, die das positive Recht selbst normiert, z. B. bei der Abgrenzung von Rechtswegen. Kelsen wendet sich auch gegen die Auffassung, subjektives Recht und objektives Recht seien zwei einander ausschließende Rechtsbegriffe, die unter keinem gemeinsamen Begriff des Rechts zusammengefaßt werden könnten. Für Kelsen gibt es nur eine Rechtsordnung, die des — in der herkömmlichen Terminologie — „objektiven" Rechts. Da nach Kelsen eine Handlung rechtlich nur insofern geboten ist, als das gegenteilige Verhalten Bedingung einer Sanktion ist, w i r d „die Rechtspflicht als die allein wesentliche Funktion des objektiven Rechts erkannt" 1 0 . Rechtsnormen können nach Kelsen zwar ermächtigen und erlauben, indes können sie nicht berechtigen. Kelsen wendet sich hier ausdrücklich gegen die herrschende Lehre, die der Rechtspflicht für gewöhnlich die Berechtigung als subjektives Recht gegenüberstellt. Er verkennt allerdings nicht, daß eine Rechtsnorm inhaltlich so ausgestaltet sein kann, daß ein bestimmtes Individuum rechtlich verpflichtet ist, „sich unmittelbar gegenüber einem bestimmten anderen, dem 0
H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 284. H. Kelsen, Allgemeine Rechtslehre i m Lichte materialistischer Geschichtsauffassung, in: ders., Demokratie u n d Sozialismus. Ausgewählte A u f sätze, herausgegeben u n d eingeleitet von N. Leser, Wien 1967, S. 69 ff., S. 109. 10
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berechtigten Individuum in bestimmter Weise zu verhalten" 1 1 . Diese Berechtigung ist aber lediglich ein Reflexrecht; es ist ein subjektives Recht i m technischen Sinne, das auch Kelsen anerkennt. Dieses subjektive Recht i m technischen Sinne ist seinem Wesen nach i m objektiven Recht gegründet. Als Reflexrecht besteht dieses subjektive Recht i m technischen Sinne nur in der Pflicht eines Anderen. Die Berechtigung des Inhabers eines subjektiven Rechts i m technischen Sinne besteht also lediglich in der Rechtsmacht, „dieses Reflexrecht, das heißt also: die Nichterfüllung der Pflicht, deren Reflex dieses Recht ist, durch Klage geltend zu machen" 12 . Und nur „ i n der Ausübung dieser Rechtsmacht ist das Individuum ,Subjekt' eines von der Rechtspflicht verschiedenen Rechtes" 13 . Das Eigentumsrecht ist auch kein dingliches Recht. Die Unterscheidung von dinglichen und persönlichen Rechten lehnt Kelsen ebenfalls ab 1 4 . Das Recht an einer Sache ist ein Recht gegenüber Personen. Das Recht regelt ausschließlich menschliches Verhalten und zwar das Verhalten von Menschen in bezug auf andere Menschen 15 . Es ist noch immer umstritten, ob das Wesen des Eigentums darin zu sehen ist, mit der Sache nach Belieben zu verfahren — sogenannte Sachherrschaftstheorie — oder ob das Eigentumsrecht nur das Recht ist, alle anderen Menschen von der Verfügung über eine Sache auszuschließen, so die Ausschließungstheorie 16 . Kelsen hält nur die Ausschließungstheorie für rechtstheoretisch haltbar. Bereits aus seinen Äußerungen über das subjektive Recht ergibt sich, daß auch für das Eigentumsrecht gelten muß, daß es lediglich der Reflex der Pflichten eines Anderen ist. Es ist nur sekundär eine Beziehung zu einer Sache, nämlich insofern, als alle anderen Rechtsunterworfenen den Eigentümer an der Verfügung über eine bestimmte Sache nicht hindern dürfen. Die Sache selbst dient der Vermittlung der Beziehung aller Anderen zu dem Eigentümer 1 7 . Kelsen hat nicht nur den Begriff des subjektiven Rechts und des Eigentumsrechts kritisch analysiert und i m Gegensatz zur herrschenden Lehre neu bestimmt, sondern auch die Entstehung des subjektiven Rechts. Der Vertrag ist der typische Tatbestand, durch den subjektive 11
H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 131. Ders., ebd., S. }39. 13 Ders., ebd., S. 139. 14 Ders., ebd., S. 135. 15 Ders., ebd., S. 32 ff.; S. 135 ff. 18 Vgl. zu diesen Theorien m i t weiteren Nachweisen: P. Römer, Entstehung, Rechtsform u n d F u n k t i o n des kapitalistischen Privateigentums, K ö l n 1978, S. 218 ff. 17 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 135, 136. 12
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Rechte begründet und insbesondere Eigentumsrechte übertragen werden. Aus der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung folgt, daß jede Rechtsanwendung zugleich Rechtserzeugung ist und daß Rechtserzeugung ausschließlich durch Anwendung höherrangigen Rechts möglich ist; dies gilt jedenfalls dann, wenn lediglich eine geltende staatliche Rechtsordnung ins Auge gefaßt wird. Die überkommene Lehre neigt demgegenüber dazu, rechtserzeugende Gesetzgebung und Verwaltung als öffentliches Recht dem angeblich nur rechtsanwendenden Rechtsgeschäft als Sphäre des privaten Rechts und der Privatautonomie entgegenzusetzen 18 . II. Die ideologische Analyse der überkommenen Begrifflichkeit durch Hans Kelsen Kelsen versteht unter Ideologie die „nicht-objektive, von subjektiven Werturteilen beeinflußte, den Gegenstand der Erkenntnis verhüllende, sie verklärende oder entstellende Darstellung dieses Gegenstandes" 19 . Eine Ideologie habe ihre Wurzel i m Wollen, nicht i m Erkennen und entstehe durch die Verfolgung von Interessen, indes wissenschaftliches Interesse lediglich auf die Erkenntnis der Wahrheit gerichtet sei. Das Interesse an der Erhaltung des Privateigentums ist nach Kelsen die Ursache für die begriffliche Bestimmung des Privatrechts, des subjektiven Rechts und des Eigentumsrechts. Diese Rechte sollen als natürlich dem gesamten Recht vorgegeben gelten und damit als dem Gestaltungswillen des Gesetzgebers entzogen betrachtet werden, und zwar dann, wenn „die Erzeugung der Rechtsordnungen i n einem, demokratischen Verfahren vor sich geht" 2 0 . Eine normative Ordnung, die diese Rechte niclit enthält, solle überhaupt nicht als Rechtsordnung anerkannt werden. Diese Rechte sollen unpolitisch sein und deshalb nicht zur Sphäre politischer Herrschaft gehören. I m einzelnen wendet Kelsen gegen die überkommene Lehre ideologiekritisch ein: Durch den Dualismus von öffentlichem und privatem Recht, von Rechtserzeugung und Rechtsanwendung w i r d „die Einsicht verhindert, daß das i m rechtsgeschäftlichen Vertrag erzeugte ,subjektive', ,private' Recht nicht minder der Schauplatz der politischen Herrschaft ist wie das in Gesetzgebung und Verwaltung erzeugte ,objektive', ,öffentliche 4 Recht; daß — wie Karl Renner treffend bemerkt — das Recht des Kapitalisten nichts anderes ist, als ,delegierte öffentliche Gewalt, blind delegiert zum eigenen Vorteil des Gewalthabers'; daß 18 H. Kelsen, Allgemeine Rechtslehre i m Lichte materialistischer schichtsauffassung, S. 111 ff.; ders., Reine Rechtslehre, S. 261 ff., S. 286 ff. 19 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 111. 20 Ders., ebd., S. 175.
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speziell das Arbeitsverhältnis »mittelbares Herrschaftsverhältnis' ist" 2 1 . Demgegenüber machen es die aus dem Stufenbau der Rechtsordnung gewonnenen Erkenntnisse unmöglich, „die subjektiv-privatrechtliche Sphäre der vertraglichen Rechtserzeugung als eine unpolitische oder politisch indifferente der politisch-öffentlich-rechtlichen, der Gesetzgebung und Verwaltung, entgegenzusetzen" 22 . Die Vorstellung ist falsch, so Kelsen, nur der Bereich des öffentlichen Rechts sei die Domäne der politischen Herrschaft, indes sie aus dem Gebiet des Privatrechts völlig ausgeschlossen sei. Die herrschende Lehre w i l l , so Kelsen, die Einsicht „ i n den unmittelbaren Zusammenhang von Staat und Eigentum, von politischer Herrschaftssphäre und subjektivem Privatrecht verhindern" 2 3 . Dieses Interesse begründet den Dualismus von objektivem und subjektivem, von öffentlichem und privatem Recht. I n seiner Auseinandersetzung mit Paschukanis stellt Kelsen deshalb die rhetorische Frage: „Aber sollte es vielleicht nicht doch so sein, daß das Kapital, weil es beides: Staatsautorität und Eigentum braucht, eben an jenem ideologischen Dualismus festhält, der zugleich mit der omnipotenten, objektiv-staatlichen Ordnung das ihr Schranken setzende subjektive Recht behauptet 24 ?" Die Scheidung des subjektiven vom objektiven Recht ist mit der des öffentlichen vom privaten vielfach verschlungen. Kelsen führt die traditionelle Anschauung, dergemäß das Recht ein von der Pflicht verschiedener Gegenstand der Rechtserkenntnis sei, auf die Naturrechtslehre zurück und auf die beherrschende Rolle, die das subjektive Recht des Eigentums in dieser Lehre gespielt habe. Er kritisiert die Vorstellung, das subjektive Recht könne unabhängig vom objektiven existieren. Insbesondere wendet er sich gegen den Ausspruch Dernburgs: „Rechte i m subjektiven Sinne bestanden geschichtlich schon lange, ehe sich eine selbstbewußte staatliche Ordnung ausbildete. Sie gründeten sich i n der Persönlichkeit der Einzelnen u n d i n der Achtung, welche sie für ihre Person und ihre Güter zu erringen u n d zu erzwingen wußten. Erst durch A b s t r a k t i o n mußte man allmählich aus der Anschauung der vorhandenen subjekt i v e n Rechte den Begriff der Rechtsordnung gewinnen. Es ist daher eine ungeschichtliche u n d eine unrichtige Anschauung, daß die Rechte i m subjekt i v e n Sinne nichts seien als Ausflüsse des Rechts i m objektiven Sinn 2 5 ."
21 H. Kelsen , Allgemeine Rechtslehre i m Lichte materialistischer Geschichtsauffassung, S. 111, 112. 22 Ders., ebd., S. 112; ders., Reine Rechtslehre, S. 286, 287. 23 H. Kelsen, Allgemeine Rechtslehre i m Lichte materialistischer Ge* schichtsauffassung, S. 116, 117. 24 Ders., ebd., S. 116. 25 Vgl. H. Kelsen , Reine Rechtslehre, S. 135; ders., Allgemeine Rechtslehre i m Lichte materialistischer Geschichtsauffassung, S. 105.
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Demgegenüber betrachtet Kelsen die Normierung subjektiver Rechte im technischen Sinne lediglich als eine mögliche, aber nicht als eine notwendige Gestaltung des objektiven Rechts. Die Statuierung von subjektiven Rechten ist nur „eine besondere Technik, deren sich das Recht bedienen kann, aber durchaus nicht bedienen muß. Es ist die spezifische Technik der kapitalistischen Rechtsordnung, sofern diese die Institution des Privateigentums garantiert und daher das Individualinteresse besonders berücksichtigt ist" 2 6 . Die ideologische Funktion dieser Lehre vom subjektiven Recht besteht nach Kelsen darin: „Der Gedanke eines v o m objektiven Recht verschiedenen und i n seiner Existenz von i h m unabhängigen Rechtes, das aber nicht weniger, j a vielleicht sogar mehr Recht ist als jenes, soll die I n s t i t u t i o n des Privateigentums vor seiner Aufhebung durch die Rechtsordnung schützen. Es ist nicht schwer zu verstehen, weshalb die Ideologie des subjektiven Rechts an den ethischen Wert der individuellen Freiheit, der autonomen Persönlichkeit anknüpft, w e n n i n dieser Freiheit immer auch das Eigentum m i t eingeschlossen ist. Eine Ordnung, die den Menschen nicht als freie Persönlichkeit i n diesem Sinne anerkennt, d . h . aber eine Ordnung, die nicht das subjektive Recht gewährleistet, eine solche Ordnung soll überhaupt nicht als Rechtsordnung gelten 2 7 ."
Kelsen sieht den Begriff des subjektiven Rechts i m engsten Zusammenhang mit dem des Rechtssubjekts oder der „Person". Das Rechtssubjekt als Träger des objektiven Rechts ist „ i m wesentlichen zugeschnitten auf den Eigentümer" 2 8 . Kelsen wendet sich wiederum dagegen, daß, ähnlich wie beim subjektiven Recht, das Rechtssubjekt als etwas dem objektiven Recht vorgegebenes angesehen wird, als etwas, das vom objektiven Recht sozusagen vorgefunden wird. Die Rechtssubjektivität bedeute nach der überkommenen Lehre nichts anderes als die Möglichkeit des Menschen, sich selbst zu bestimmen; der Mensch sei Subjekt des Rechts, wie Puchta sage, weil i h m jene Möglichkeit, sich zu bestimmen zukomme, weil er einen Willen habe 29 . Dieses Rechtssubjekt, das in der Sphäre der Privatautonomie seine abstrakte Möglichkeit, sich zu etwas zu bestimmen, betätigt und i m subjektiven Recht seine abstrakte Willensmacht konkretisiert, ist nach Kelsen eine Fiktion 3 0 ; denn niemand könne sich selbst Rechte einräumen und deshalb 26
H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 141. H. Kelsen, Allgemeine Rechtslehre i m Lichte materialistischer Geschichtsauffassung, S. 107; ferner die fast gleichlautenden Ausführungen i n der Reinen Rechtslehre S. 175, 176. 28 H. Kelsen, Allgemeine Rechtslehre i m Lichte materialistischer Geschichtsauffassung, S. 105. 29 Vgl. die Auseinandersetzung von Kelsen m i t Puchta, in: Allgemeine Rechtslehre i m Lichte materialistischer Geschichtsauffassung, S. 106. 3Ü J. Schmidt, Zur F u n k t i o n der subjektiven Rechte, ARSP 1971, S. 383 ff., geht dezidiert von einem Begriff von Freiheit u n d subjektivem Recht aus, demgemäß der Einzelne als von den anderen isoliertes, als ungesellschaft27
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gründe die Fähigkeit, Rechtsperson zu sein und subjektive Rechte zu haben, sich autonom privatrechtlich zu betätigen, i m objektiven Recht. Kelsen betont die antidemokratische Funktion der Lehre vom Rechtssubjekt und subjektivem Recht. „Der Begriff eines dem objektiven Recht gegenüber unabhängigen Rechtssubjektes als des Trägers des subjektiven Rechts w i r d u m so wichtiger, wenn die die I n s t i t u t i o n des Privateigentums gewährleistende Rechtsordnung als eine wandelbare u n d sich stetig wandelnde, durch menschliche W i l l k ü r geschaffene und nicht auf dem ewigen W i l l e n der Gottheit, auf der Vernunft oder auf der Natur beruhende Ordnung erkannt w i r d : zumal dann, w e n n die Erzeugung dieser Ordnung i n einem demokratischen Verfahren vor sich geht 3 1 ." U n d an anderer Stelle heißt es: „Das objektive Recht ist, i m Grunde genommen, n u r das positive Recht, i n dem v o m objektiven Recht w i r k l i c h verschiedenen, w e i l auf das objektive Recht nicht zurückführbarem subjektiven Rechte t r i t t dem positiven Recht eine andere Rechtsordnung entgegen 32 ." liches Wesen betrachtet w i r d . „Dem Inhaber des subjektiven Rechts k o m m t hier (in dem durch das moderne deutsche Recht geregelten Gesellschaftssystem, P. R.) eine gewisse gesellschaftsfreie Stellung zu, die m a n als ,outgroup-Stellung' bezeichnen könnte." Ebd., S. 388. Unter konsequenter Nichtbeachtung der Realität des gesellschaftlichen u n d rechtlichen Handelns w i r d deshalb festgestellt, das subjektive Recht als Entscheidungsbefugnis habe m i t Normsetzungsbefugnis nichts zu tun. Bei dieser Entscheidungsbefugnis geht es „nicht darum, für Andere Normen zu setzen oder für den Betroffenen selbst Normen zu setzen, die i h m nach der Setzung objektiviert entgegentreten (: Privat autonomie), sondern darum, dem Einzelnen, dem Subjekt, eine eigene Gestaltungsbefugnis über sein Leben einzuräumen, ganz unabhängig von jeder Frage der Normsetzung u n d der Geltung der Normen". Ebd., S. 390; vgl. auch: J. Schmidt, E i n soziologischer Begriff des „Subjektiven Rechts", in: Jahrbuch für Rechtssoziologie u n d Rechtstheorie, Bd. 1, S. 300 ff., S. 318: „Subjektive Rechte (Bräuche, Sitten) als Herrschafts- u n d Persönlichkeitsrechte umschreiben Stellungen v o n Handelnden außerhalb eines konkreten sozialen Systems. Z u den Grundbedingungen, bei deren Vorliegen man von s u b j e k t i v e n Rechtsstellungen' sprechen kann, gehören also: eine Gruppe (mit dem dazugehörigen sozialen System), eine Person oder eine andere Gruppe und eine Relation zwischen beiden derart, daß v o n der zweiten Kategorie die Aussage der Nichtzugehörigkeit zur ersten gemacht werden kann." 31 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 175. 32 H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 55 ff., S. 59; K . Adomeit fehlinterpretiert H. Kelsen offenkundig, wenn er Kelsen unterstellt, die Vertragsfreiheit m i t deutlich positivem Akzent zu versehen. „ E i n Satz wie ,Eine Ordnung, die den Menschen nicht als freie Persönlichkeit anerkennt, das heißt aber . . . , die nicht das subjektive Recht des Eigentums gewährleistet, . . . soll überhaupt nicht als Rechtsordnung betrachtet werden' (Rechtslehre, S. 175 f.) ist ebenso w a h r wie unrein". K. Adomeit, Jurisprudenz u n d Politologie, ARSP 1980, Beiheft Nr. 13, S. 120 ff., S. 123. M i t der von Adomeit zitierten Äußerung wendet sich Kelsen ganz eindeutig gegen die überkommene Lehre und benennt die „ideologische F u n k t i o n dieser ganzen i n sich w i d e r spruchsvollen Begriffsbestimmung des Rechtssubjekts"; der vor dem zitierten Satz stehende Satz lautet: „Es ist nicht schwer zu verstehen, weshalb die Ideologie der Rechtssubjektivität an den ethischen Wert der individuellen Freiheit, der autonomen Persönlichkeit anknüpft, w e n n i n dieser Freiheit immer auch das Eigentum m i t eingeschlossen ist. Eine Ordnung . . . " usw.;
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Es ist dies eine andere Rechtsordnung, weil sie die Rechtsordnung des Privateigentums ist; sie ist Gegen-Rechtsordnung zu einer Rechtsordnung, an deren Erzeugung auch die Nichteigentümer von Produktionsmitteln beteiligt sind und in der auch deren Interessen rechtlichen Schutz erlangen. Gegen die Sachherrschaftstheorie wendet Kelsen ideologiekritisch ein, daß die Bestimmung des Eigentums als eines Verhältnisses zwischen Person und Sache die ökonomisch entscheidende Funktion des Privateigentums verhülle: „die Funktion der Ausbeutung, die ja gerade in der Beziehung des Eigentümers zu allen anderen vom Zugriff auf seine Sache ausgeschlossenen, vom objektiven Recht zur Respektierung der ausschließlichen Verfügungsgewalt des Eigentümers verpflichteten Subjekten besteht 33 ." I I I . Zur Kritik an Kelsens Ideologietheorie Kelsen verkennt, daß Ideologie nicht nur durch bewußte Interesserlverfolgung, die den Gegenstand der Erkenntnis unzutreffend widerspiegeln w i l l , entsteht. Ideologie i m engeren Sinne ist vielmehr das mit Notwendigkeit aus den gesellschaftlichen Verhältnissen selbst erwachsende falsche Bewußtsein. Ein falsches Bewußtsein, das insofern auch ein richtiges Element enthält, weil der Schein, den es für die Wahrheit hält, realer Schein ist. Ideologie ist also sowohl korrekte Abbildung des falschen Bestehenden, „als auch existente Unwahrheit" 3 4 . Die Sachherrschaftstheorie des Privateigentums ist ein sehr gutes Beispiel, um diesen Zusammenhang aufzuzeigen. Sie ist adäquate j u ristische Widerspiegelung der verkehrten Widerspiegelung des gesellschaftlichen Zusammenhangs, wie er sich den Mitgliedern einer auf dem Privateigentum 3 5 beruhenden Gesellschaft darstellt. Von der SachH. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 175. Allerdings führt Kelsen — worauf K. Adomeit i n anderem Zusammenhang zutreffend hinweist, K. Adomeit, Heteronome Gestaltungen i m Zivilrecht? (Stellvertretung, Weisungsbefugnis, Verbandsgewalt), in: A . J. M e r k l , R. Marcie, Α. Verdroß, R. Walter (Hrsg.), Festschrift für Hans Kelsen zum 90. Geburtstag, Wien 1971, S. 9 ff. — auch aus, der privatrechtliche Vertrag stelle eine ausgesprochen demokratische Methode der Rechtsschöpfung dar, H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 285; hierbei handelt es sich jedoch nicht u m eine wertende Feststellung, sondern u m eine analytische, es soll der Unterschied von Verwaltungsbefehl und Vertrag dargestellt werden. 33 H. Kelsen, Allgemeine Rechtslehre i m Lichte materialistischer Geschichtsauffassung, S. 107, 108. 34 J. Habermas, Theorie u n d Praxis, Sozialphilosophische Studien, Z u r philosophischen Diskussion u m M a r x und den Marxismus, Neuwied 1963, S. 314. 35 Z u m marxistischen Eigentumsbegriff vgl.: W. Sellnow, Gesellschaft — Staat — Recht. Zur K r i t i k der bürgerlichen Ideologien über die Entstehung
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herrschaftstheorie w i r d der Fetischcharakter der Waren, den Marx herausgearbeitet hat, zutreffend widergespiegelt. I n einer Gesellschaft, die auf Arbeitsteilung und auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln beruht, in der also nicht bewTußt gemeinschaftlich produziert wird, vollziehen sich die Gesetze, die den Austausch der Produkte regeln, gleichsam hinter dem Rücken der Produzenten auf dem Markt. Die Arbeitsprodukte werden nicht bewußt aufeinander als Werte bezogen, weil sie die dingliche Form gleichartiger menschlicher Arbeit sind, umgekehrt werden vielmehr die Waren i m Austausch gleichgesetzt und damit vollziehen die Personen, ohne es zu wissen, tatsächlich die Gleichsetzung ihrer verschiedenen Arbeiten als allgemein menschliche Arbeit. Marx faßt zusammen: „Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften diese Dinge zurückspiegeln, daher auch als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen 36 ." Die Eigentümer von Waren müssen sich zueinander in der Formulierung von Marx „als Personen verhalten, deren Wille in den Dingen haust" 3 7 ; und eben diesen Sachverhalt drückt die Sachherrschaftstheorie zutreffend aus. Insofern ist sie die zutreffende Theorie für eine warenproduzierende Gesellschaft; zugleich ist sie ideologisch, weil sie die gesellschaftlichen Verhältnisse, die den Fetischcharakter der Ware erzeugen, nicht erkennt. Die Ausschließungstheorie erkennt zwar den gesellschaftlichen Charakter von Eigentum und Eigentumsrecht, bestimmt diesen aber falsch. Mit der Ausschließung der Anderen w i r d i m Eigentum nur sein Gebrauchswert für den jeweiligen Eigentümer reflektiert, w i r d das Individuum in ein negatives Verhältnis zu den anderen Nichteigentümern gebracht, w i r d es i n seiner Isoliertheit gesehen. I n einer warenproduzierenden Gesellschaft ist aber für den Eigentümer wesentlich das Recht, Andere in den Gebrauch der Sache einzuschließen, das Recht, den Gebrauchswert, den die Sache für Andere hat, dazu benutzen zu können, die Sache auszutauschen 38 . I n der kapitalistischen Gesellschaft existiert von Gesellschaft, Staat u n d Recht, B e r l i n 1963, S. 738 ff.; P. Römer, Entstehung, Rechtsform u n d F u n k t i o n des kapitalistischen Privateigentums, insbes. S. 9 ff.; E. Altmann, Zur politischen Ökonomie der Arbeiterklasse, B e r l i n 1974, S. 147 ff.; J. Becher, Eigentum i m Zerrspiegel der bürgerlichen Ideologie, B e r l i n 1978, S. 17 ff.; O. W. Jakobs, Eigentumsbegriff u n d Eigentumssystem des sowjetischen Rechts, K ö l n 1965, S. 3 ff. 36 K . Marx, Das Kapital, M E W 23, S. 86. 37 Ders., ebd., S. 99. 38 Nicht akzeptabel ist die These von J. Schmidt, E i n soziologischer Begriff des „subjektiven Rechts", S. 300 ff., S. 302: „Das Eigentum bekommt als sub-
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der Reichtum in der Form von Waren 3 9 . Waren haben einen Doppelcharakter, sie haben Tausch- und Gebrauchswert. Das Recht, den Tauschwert einer Ware realisieren zu können, also das Recht, sich durch Austausch andere Eigentumsobjekte aneignen zu können, gilt dem Warenbesitzer zutreffend als der eigentliche Inhalt seines Eigentums. Die Ausschließungstheorie kann allenfalls die ökonomische Funktion des kleinen, persönlichen Eigentums und bis zu einem gewissen Grad die des Grundeigentums widerspiegeln. Von dieser Theorie w i r d verdeckt, daß durch das Eigentumsrecht Aneignungsprozesse organisiert werden. Das Privateigentum in einer kapitalistischen Gesellschaft muß also die Möglichkeit eröffnen, Andere nicht nur von dem Eigentumsobjekt auszuschließen sondern sie i m Gegenteil in das Eigentum „einzuschließen". Die Lohnarbeiter sind zwar vom Eigentum an den Produktionsmitteln ausgeschlossen, sie sind aber insofern mit den Produktionsmitteln verbunden, als sie mit diesen produzieren und sie i m Produktionsprozeß produktiv konsumieren. Für den Kapitalisten ist also wesentlich, die Produktionsmittel und die unmittelbaren Produzenten zusammenzubringen, um sich das Produkt aneignen zu können. Diese neben der Gebrauchs- und Tauschfunktion grundlegende Aneignungsfunktion 4 0 w i r d ebenfalls von der Ausschließungstheorie ausgeblendet. Noch weniger allerdings ist die Sachherrschaftstheorie i n der Lage, auch nur die durch den Tausch vermittelten Aneignungsverhältnisse in der Zirkulationssphäre zu erfassen, geschweige denn die Aneignungsverhältnisse, die sich i n der Sphäre der unmittelbaren Produktion einer warenproduzierenden kapitalistischen Gesellschaft vollziehen. Beide Theorien stellen gleichermaßen auf die Gebrauchswerteigenschaften einer Sache ab und isolieren den Eigentümer von den anderen Mitgliedern der Gesellschaft. Sie widerspiegeln beide lediglich die entfremdeten, verdinglichten gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus. Die Ausschließungstheorie vermag zwar noch den ideologischen Schein insoweit aufzulösen als sie zutreffend das Eigentum als ein gesellschaftliches Verhältnis auffaßt. Aber die durch das Privateigentum vermittelte Herrschaft über fremde Arbeitskraft und über die Produkte, die mit dieser Arbeitskraft hergestellt werden, w i r d durch beide Begriffe des Privateigentums ausgeklammert. jektives Recht keinen anderen Inhalt, wenn es unveräußerlich und auch sonst unübertragbar ist." 39 K. Marx, Das Kapital, M E W 23, S. 49: „Der Reichtum der Gesellschaften, i n welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine »ungeheure Warensammlung', die einzelne Ware als seine Elementarform." 40 Vgl. dazu zusammenfassend P. Römer, Entstehung, Rechtsform u n d F u n k t i o n des kapitalistischen Privateigentums, S. 99 ff., insbes. S. 123 ff. 7 R E C H T S T H E O R I E , Beiheft 4
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Kelsen irrt, wenn er der Ansicht ist, nach der marxistischen Theorie sei der Ausschluß der Nichteigentümer von den Produktionsmitteln das Merkmal der Ausbeutung. Der Ausschluß ist Voraussetzung für die Ausbeutung; diese selbst aber ist die i m Produktionsprozeß — i n dem Produktionsmittel und Arbeit unter der Kommandogewalt des Eigentümers zusammengeschlossen sind — sich realisierende Aneignung des Mehrwerts, den der Arbeiter schafft, durch den Eigentümer der Produktionsmittel. IV. Versuch einer Neudefinition des Eigentumsrechts auf der Grundlage der Reinen Rechtslehre Es stellt sich die Frage, worin denn die Besonderheit des juristischen Begriffs des Privateigentums besteht, wenn weder die Sachherr schaf tsnoch die Ausschließungstheorie haltbar ist. Der juristische Begriff des Privateigentums muß in der Lage sein, die verschiedenen Formen des Privateigentums, also insbesondere die des persönlichen und des kapitalistischen Privateigentums, zutreffend widerzuspiegeln. Diese Widerspiegelung muß sich sowohl auf die positiven Rechtsnormen, die das Privateigentum betreffen, beziehen, als auch auf die ökonomischen Funktionen, die das Privateigentum hat und die ihrerseits durch die Rechtsnormen widergespiegelt werden. Rechtstheoretische Begriffe besitzen somit doppelte Widerspiegelungsfunktion. Das Objekt des Privateigentumsrechts ist, wie die Ware, „zunächst ein äußerer Gegenstand, ein Ding, daß durch seine Eigenschaften menschliche Bedürfnisse irgendeiner A r t befriedigt" 4 1 . Der Gebrauchswert, den das Eigentumsobjekt besitzt, „aber verwirklicht sich nur i m Gebrauch oder der Konsumtion" 4 2 . Das Recht, den Gebrauchswert einer Sache für sich zu nützen, das von den positiven Rechtsnormen gewährt wird, ist, wie zutreffend in der rechtstheoretischen Bestimmung des Begriffs des Privateigentums durch die Sachherrschaftstheorie zum Ausdruck gebracht wird, ein umfassendes Herrschaftsrecht i n bezug auf die Sache. Ein umfassenderes Herrschaftsrecht als das, die Sache zu konsumieren und damit zu vernichten, ist nicht denkbar. Aber, wie ausgeführt, ergibt sich aus diesem Sachverhalt keine rechtliche Beziehung des Privateigentümers zur Sache, die in seinem Privateigentum steht. Der zutreffende Kern der Sachherrschaftstheorie läßt sich vielmehr dann ideologiefrei wiedergeben, wenn das Recht, mit der Sache nach Belieben zu verfahren, als eine Erlaubnis angesehen wird. Die Erlaubnis i m Kelsenschen Sinne ist allerdings mehr als die bloße nega41 42
K. Marx, Das Kapital, M E W 23, S. 49. Oers., ebd., S. 50.
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tive Tatsache des Nichtverbotenseins. Das Wesen der als Berechtigung bezeichneten Erlaubnis besteht vielmehr darin, daß eine an sich verbotene Handlung durch einen besonderen A k t erlaubt w i r d 4 3 . Darin unterscheidet sich die Erlaubnis von dem Erlaubtsein eines Verhaltens, das den Gegenstand keiner Norm bildet, z. B. atmen, denken. „Daß ein bestimmtes Verhalten erlaubt ist, kann aber auch bedeuten, daß die Geltung einer Norm, die ein bestimmtes Verhalten verbietet (oder, was dasselbe bedeutet: das Unterlassen dieses Verhaltens gebietet), durch eine andere degorierenden Norm aufgehoben wird, so daß dieses Verhalten nicht mehr verboten (bzw. nicht mehr geboten) ist 4 4 ." Nach der Definition von Kelsen liegt dann ein Erlauben i n einem positiven Sinne vor. Die Sachherrschaftstheorie stellt zurecht darauf ab, daß das Recht, mit einem Gegenstand i n einer bestimmten Weise umzugehen, einen ganz anderen Inhalt hat als das Recht, andern die Einwirkung auf eine Sache zu verbieten. Insofern unterscheidet § 903 BGB zutreffend das Recht des Eigentümers, mit der Sache nach Belieben zu verfahren, von dem Recht, andere von jeder Einwirkung auszuschließen. Es ist rechtslogisch nicht gerechtfertigt, vom Recht auf Ausschluß anderer von der Einwirkung auf die Sache zu schlußfolgern, daß derjenige, dem dieses Recht zusteht, zugleich das Recht habe, mit dieser Sache nach Belieben zu verfahren. Dieser Schluß wäre allenfalls dann gerechtfertigt, wenn man davon ausginge, daß der Gebrauch einer Sache ein Verhalten ist, das die Eigenschaft des Erlaubtseins i m Sinne der Kelsenschen Unterscheidung von Erlaubnis als positiver Norm und Erlaubtsein erfüllt. Kelsen sagt dazu, „ i n diesem rein negativen Sinne ist Erlaubtsein eines bestimmten Verhalten jedoch nur dann gegeben, wenn überhaupt keine Norm i n Geltung steht, die dieses Verhalten oder sein Unterlassen gebietet" 4 5 . Bereits die Tatsache, daß jede positive Rechtsordnung zahlreiche Vorschriften darüber enthält, wie der Eigentümer mit seinem Eigentum umzugehen berechtigt ist, verbietet es, in diesem Sinne von einem Erlaubtsein bei der Nutzung der Gebrauchswerteigenschaften einer Sache auszugehen. 43 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 142, 143: „ M i t der Aussage, daß ein I n d i v i d u u m das Recht habe, sich i n bestimmter Weise zu verhalten, insbesondere: eine bestimmte Tätigkeit auszuüben, k a n n nicht n u r gemeint sein, daß dem I n d i v i d u u m diese Tätigkeit rechtlich nicht verboten ist oder daß andere verpflichtet sind, diese Tätigkeit nicht zu verhindern, oder daß das zu dieser Tätigkeit berechtigte I n d i v i d u u m die Rechtsmacht hat, i m Falle einer Verletzung der korrespondierenden Pflicht das Rechtsverfahren zu initiieren, das zur Sanktion führt. Der als Berechtigung oder subjektives Recht bezeichnete Sachverhalt k a n n auch darin bestehen, daß die Rechtsordnung eine bestimmte Tätigkeit, z. B. die Ausübung eines bestimmten Gewerbes, an die Bedingung einer als »Konzession* oder »Lizenz* bezeichneten Erlaubnis knüpft 44 H. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, S. 78. 45 Ders., ebd., S. 78.
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D e r G r u n d , w e s h a l b v o n der Rechtswissenschaft i n der B e f u g n i s z u m G e b r a u c h der Sache k e i n E r l a u b n i s t a t b e s t a n d gesehen w i r d , d ü r f t e i n d e m B e s t r e b e n liegen, die V o r s t e l l u n g aufrecht z u e r h a l t e n , daß der G e b r a u c h des P r i v a t e i g e n t u m s eine ebenso selbstverständliche, „ n a t ü r liche" H a n d l u n g s e i 4 6 , w i e z. B. das A t m e n . W i r d i n d e r B e f u g n i s z u r H e r r s c h a f t ü b e r die Sache eine E r l a u b n i s gesehen, so ist, nach der h i e r v e r w a n d t e n , v o n K e l s e n ü b e r n o m m e n e n D e f i n i t i o n d e r E r l a u b n i s dav o n auszugehen, daß erst d u r c h p o s i t i v e N o r m e n die N u t z u n g der E i g e n t u m s o b j e k t e f ü r d e n E i n z e l n e n freigegeben w i r d 4 7 . Es ist also v o n der g r u n d s ä t z l i c h e n V e r f ü g b a r k e i t des Rechtes u n d d a m i t des Staates, der dieses Recht setzt, ü b e r die gesamte Sachenwelt auszugehen. Diese Konsequenz, die sich b e i e i n e m s t r i k t d u r c h g e h a l t e n e n P o s i t i v i s m u s ohnedies als s e l b s t v e r s t ä n d l i c h e r g i b t , w i l l die ü b e r k o m m e n e besitzi n d i v i d u a l i s t i s c h e T h e o r i e n i c h t ziehen. I n der Sachherrschaftstheorie soll v i e l m e h r der v o r s t a a t l i c h e n a t ü r l i c h e C h a r a k t e r des P r i v a t e i g e n tums aufbewahrt bleiben u n d jene v o n Hans Kelsen i n anderem Begründungszusammenhang formulierte Erkenntnis verschleiert werden, dergemäß das p r i v a t e E i g e n t u m s r e c h t n u r b l i n d d e l e g i e r t e ö f f e n t l i c h e Gewalt darstellt48. Das P r i v a t e i g e n t u m s r e c h t erschöpft sich n i c h t i n d e m Recht, die Sache z u g e b r a u c h e n 4 9 . F ü r das k a p i t a l i s t i s c h e P r i v a t e i g e n t u m ist, w i e 46 So neuerdings wieder: J. M. Sontis, Strukturelle Betrachtungen zum Eigentumsbegriff, in: G. Paulus, U. Diederichsen, C. W. Canaris (Hrsg.), Festschrift für K . Larenz, München 1973, S. 981 ff., S. 990: „Das Recht, m i t der Sache nach Belieben zu verfahren, ist, wie gesagt, die natürliche Freiheit selbst, die Sache lediglich ein Bezugspunkt ihrer Betätigung. Diese Freiheit aber als menschliche Eigenschaft — als »Qualität des empirischen Charakters' — ist unentziehbar u n d unteilbar." 47 Der Staat ist also dem „ersten Eigentümer" aller Dinge vergleichbar; er gibt die Sachen i n einem durch die Rechtsordnung bestimmten Umfang zur Benutzung für bestimmte Rechtssubjekte frei. H. M. Pawlowski, Substanzoder Funktionseigentum, A c P 1965, S. 395 ff., S. 415 schließt daraus: „Das Recht, die F u n k t i o n der Sache zu bestimmen, gibt dem Eigentümer also eine Rechtssetzungs- bzw. Gesetzgebungsbefugnis. Er k a n n für seinen Bereich entscheiden, wie die U m w e l t — die j a auch immer U m w e l t der anderen ist — i n Z u k u n f t sein soll." Der faktische Gebrauch der Sache hat selbstverständlich Auswirkungen auf die U m w e l t u n d damit auf die Gesellschaft, die i n dieser U m w e l t lebt, aber der Gebrauch der Sache ist deshalb nicht als E r mächtigung zur Rechtsetzung zu qualifizieren, denn es werden keine normat i v e n A k t e gesetzt, vielmehr w i r d von einer Erlaubnis Gebrauch gemacht, auf körperliche Gegenstände einzuwirken. 48 Vgl. H. Kelsen , Allgemeine Rechtslehre i m Lichte materialistischer Geschichtsauffassung, S. 111; dort zitiert Kelsen zustimmend die These K a r l Renners, daß das Recht des Kapitalisten nichts anderes sei als „delegierte öffentliche Gewalt, b l i n d delegiert zu eigenem Vorteil des Gewalthabers." 49 Auch J. Schmidt geht davon aus, daß die Berechtigung und das subjektive Recht aus der Verbindung zweier Normen bestehe, einer Freiheitsermächtigung und einem General verbot; die Norm, die ein Dürfen ausspricht, w i r d als „privilege-Norm", diejenige, die das Verbot an alle anderen ausspricht, als „ r i g h t " - N o r m bezeichnet. Vgl. J. Schmidt, Aktionsberechtigüng
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ausgeführt, die Tauschwerteigenschaft des Eigentums von herausragender ökonomischer Bedeutung. Um den Tauschwert, den ein Eigentumsobjekt besitzt, realisieren zu können, muß der Privateigentümer befugt sein, das Eigentumsrecht an einen anderen zu übertragen. Diese allseitige Veräußerungsmöglichkeit kennzeichnet das Privateigentum und unterscheidet es z. B. vom feudalen Grundeigentum, das nicht allseitig frei veräußerbar war. Die Einigung über den Übergang des Eigentums an einem körperlichen Gegenstand an einen anderen, der dingliche Vertrag, § 929 BGB, ist, wie jeder Vertrag, ein A k t nicht nur der Rechtsanwendung, sondern auch der Rechtserzeugung 50 ; insoweit ist der Kelsenschen Stufenbaulehre zuzustimmen. Das subjektive Recht des Privateigentums enthält als wesentlichen Bestandteil also nicht nur die Erlaubnis, die Sache zu gebrauchen, sondern auch die Normsetzungsbefugnis, das Eigentumsrecht zu übertragen. Diese Übertragung ist eine Normsetzung durch Private, weil die von der Rechtsordnung gewährte Erlaubnis zum Gebrauch der Sache nunmehr durch private Verfügung einem anderen Rechtssubjekt gewährt wird. Nicht nur der Kaufvertrag also ist, weil Rechte und Pflichten begründend, ein Normsetzungsakt, sondern auch der dingliche Vertrag, mit dem über das Eigentum verfügt wird. Die Normen des positiven Rechts haben indes nicht nur die Funktion, die Realisierung des Gebrauchs- und Tauschwertes des Privateigentumsobjektes zu ermöglichen. Sie müssen auch die ökonomische Funktion der Aneignung, die das Privateigentum auszeichnet, normativ erund Vermögensberechtigung, E i n Beitrag zur Theorie des subjektiven Rechts, K ö l n usw. 1969, insbes. S. 32 ff. Vgl. zu diesen Thesen auch: J. Aicher, Das Eigentum als subjektives Recht, B e r l i n 1975, S. 45 ff. Jedoch w i r d vorstehend, i m Gegensatz zu J. Schmidt u n d i n A n l e h n u n g an Kelsen, die Erlaubnis nicht als bloßes Dürfen u n d als Freiheitsermächtigung aufgefaßt; ferner w i r d das Eigentum nicht auf die Verbindung v o n privilege und right beschränkt, sondern i m Eigentumsrecht werden auch Ermächtigungsnormen gesehen; siehe dazu weiter unten i m Text. 50 Ausdrücklich w i r d von N. Aliprandis die Verfügungsmacht als ein Ausschnitt aus der Gesamtheit der Gestaltungsmacht (Privatautonomie) als Normsetzungsbefugnis bezeichnet. Vgl. N. Aliprandis, Subjektives Recht und Unterwerfung, Rechtstheorie, 1971, S. 129 ff., S. 134. E. Bucher, Das subjektive Recht als Normsetzungsbefugnis, Tübingen 1965, sieht die Normsetzungsbefugnis zu eng „ i m Sinne der Befugnis zur A b w e h r aller denkbaren Einw i r k u n g e n durch D r i t t e " , s. S. 164, und erfaßt die Austausch- und Aneignungsfunktion des Eigentums nicht. M i t seiner Theorie macht Bucher darüber hinaus eine Entwicklung rückgängig, die für die Theorie des P r i v a t rechts seit Windscheid bestimmend war: die Trennung des materiellen Rechts von der actio. Zur K r i t i k an Bucher vgl. J. Aicher, Das Eigentum als subjektives Recht, insbes. S. 45 ff.; F. Kasper, Das subjektive Recht — Begriff sbildung u n d Bedeutungsmehrheit, Karlsruhe 1967, S. 143 ff.: J. Schapp Das subjektive Recht i m Prozeß der Rechtsgewinnung, B e r l i n 1977, S. 91 ff., K. Larenz, Zur S t r u k t u r „subjektiver Rechte", in: F. Baur, K . Larenz, F. Wieacker (Hrsg.), Beiträge zur europäischen Rechtsgeschichte und zum geltenden Zivilrecht, München 1977, S. 129 ff.
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fassen. Privateigentum w i r d einerseits auf dem Markt durch Austausch angeeignet; bevor aber Objekte des Privateigentums i n der Form des Austauschs angeeignet werden können, müssen sie produziert werden. Für das Recht einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft ist selbstverständlich, daß als Eigentumserwerbsgrund nicht die Arbeit, sondern ausschließlich das Privateigentum Geltung erlangen kann, obwohl § 950 BGB seinem Wortlaut nach das Gegenteil aussagt, denn er normiert, daß derjenige, der durch Verarbeitung oder Umbildung eines oder mehrerer Stoffe eine neue bewegliche Sache herstellt, das Eigent u m an dieser Sache erwirbt. Mit „strengster bürgerlicher Parteilichk e i t " 5 1 hat die Rechtslehre diesen Paragraphen umgedeutet und den Eigentümerfabrikanten zum Eigentümer des neuen Produktes erklärt. Dabei wurde zunehmend auf den Versuch einer dogmatischen Begründung verzichtet 5 2 und schlicht erklärt, dies Ergebnis entspreche „der Lebensanschauung, wie sie der arbeitsteiligen Wirtschaftsweise i n den nichtkommunistischen Staaten gemäß ist" 5 3 . Dieses dem Privateigentümer zustehende Recht, das Arbeitsprodukt i n sein Privateigent u m zu überführen, ist ebenfalls ein privates Normsetzungsrecht. Der Privateigentümer w i r d durch die Rechtsordnung ermächtigt, Tatbestände zu setzen, aufgrund derer er eine neue Erlaubnisnorm schafft, nämlich die, i n bezug auf eine neue Sache für sich die Rechtsstellung eines Privateigentümers zu begründen. I m Recht des Privateigentums werden also mehrere Rechte zusammengefaßt 54 : einmal die Erlaubnisnorm, das Eigentum zu gebrauchen, zum anderen zwei Ermächtigungsnormen: erstens die Ermächtigungsnorm, über das Eigentum durch Übertragung zu verfügen und ein anderes Rechtssubjekt zum Inhaber der Erlaubnis, über die Sache zu verfügen, zu machen und zweitens die Ermächtigungsnorm, neue Eigentumsrechte an Sachen, die mittels des Privateigentumsobjektes geschaffen worden sind, zu begründen.
51 H. Wagner , Recht als Widerspiegelung u n d Handlungsinstrument. Beitrag zu einer materialistischen Rechtstheorie, K ö l n 1976, S. 146. 52 Vgl. die Nachweise bei H. Wagner , Recht als Widerspiegelung, S. 144 ff. 53 M. Wolff / L. Raiser , Sachenrecht. E i n Lehrbuch, 10. Aufl., Tübingen 1957, S. 273. 54 Auch K . Adomeit sieht i n den absoluten Rechten „einen K o m p l e x v o n Erlaubnissen, sekundären Ansprüchen, Gestaltungsrechten" u n d h ä l t die Nutzungsbefugnis des Eigentümers normlogisch für „eine Mehrheit v o n Erlaubnissen", vgl. K. Adomeit, Zivilrechtstheorie u n d Zivilrechtsdogmatik, S. 503 ff., S. 515. Vgl. dazu auch die frühere Position v o n K. Adomeit, in: Gestaltungsrechte, Rechtsgeschäfte, Ansprüche. Z u r Stellung der P r i v a t autonomie i m Rechtssystem, B e r l i n 1960, S. 17 ff., S. 26, sowie ders., Rechtsquellenfragen i m Arbeitsrecht, München 1969, S. 87 ff.
A U F K L Ä R U N G ÜBER DIE AUFKLÄRUNG? Bemerkungen zur Aufklärung als Ideologiekritik und zur K r i t i k an der Ideologie der Aufklärung Von Peter Strasser, Graz „Gleichsam als Theorem gilt: es gibt nur einen reinen Mythos — den vom Wissen, das von allem Mythos rein ist. E i n anderer ist m i r nicht bekannt, so sehr sind alle M y t h e n voller Wissen u n d das Wissen voller Träume u n d Illusionen." ( Michel Serres : Hermès I I I . L a Traduction, 1974; Übersetzung des Zitats: Ulrich Raulff.)
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I. Ideologiekritik im Ursprung Das Ideologische hat es nicht immer gegeben. Es mußte erfunden werden, und dazu bedurfte es einer Gewißheit, von der Michel Serres sagt, sie sei der einzige reine Mythos, den es je gegeben hat — der Mythos vom Wissen, das von allem Mythos rein ist. Erst die Idee eines Wissens, welches, gereinigt von subjektiven Trübungen und lebensweltlichen Verschattungen, nichts anderes repräsentiert als klare, unpersönliche, ewige Wahrheit, erst diese Idee erzeugt als ihr Komplement die Idee des Meinens, das Ideologie ist, und macht so jenes Unternehmen möglich, welches uns heute unter dem Namen ,Ideologiekritik 4 vertraut ist. So gesehen sind alle Lehren, welche eben die Idee eines perspektivelosen, von subjektiven, historischen und Klassenbezügen gereinigten Wissens als neutralistische Ideologie denunzieren, Ideologiekritik nur noch i m übertragenen und prekären Sinne des Wortes. Der Anspruch, den sie als uneinlösbar entlarven wollen, holt sie ein i n dem Maße, in dem sie selber nicht bloß als ein standortgebundenes, und das heißt: mit dem Wechsel des Standortes i n der geschichtlichen Zeit hinfällig werdendes Meinen gelten wollen. Ideologiekritik i m Ursprung hat zur Bedingung ihrer Möglichkeit ein standortungebundenes, exzentrisches Wissen, welches zudem weltimmanent gerechtfertigt werden kann, sich also nicht herleitet aus seiner Verankerung i n einem Weltenthoben-Transzendenten, einer als absolut gedachten Bezugsquelle von Mythos oder Religion 1 .
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Ideologiekritik i m Ursprung ist so der Idee nach K r i t i k einer Subjektivität, welche sich zwischen ein reines, ungeschichtliches Bewußtsein und eine Welt schiebt, die diesem Bewußtsein offen steht. Bacons idolae, teils auf angeborenen seelischen und physiologischen Eigenheiten des Menschen beruhend, teils aus der Verfassung der Gesellschaft, der Sprache und geschichtlichem Erbe herfließend, verunreinigen das Bewußtsein und trüben derart den freien Zugang des Verstandes zur Welt. Um den erkenntnisverderbenden Einfluß der Vorurteile zu bannen, müssen w i r daher „den Verstand reinigen und frei machen, indem ins Reich der Menschen auf Erden, welches in der Wissenschaft begründet ist, Niemand anders eingehen kann als ins Himmelreich, nämlich dadurch, ,daß er werde wie die Kinder"' 2 . Freilich, der Rückgriff Bacons auf das Jesus-Wort, worin die unterstellte »Reinheit' des Kindes als Symbol einer uranfänglichen Unschuld der Menschenseele fungiert, ist vor dem Problematisierungshorizont des Novum Organum bloß noch ein, allerdings systematisch bedeutsamer, Euphemismus. Denn für Bacon steht fest, daß es keinen unschuldigen Verstand gibt, noch geben kann. Vielmehr gleiche dieser seiner natürlichen Beschaffenheit zufolge „einem unebnen Spiegel zur Auffassung der Gegenstände, welcher ihrem Wesen das seinige beimischt und so jenes verdreht und verfälscht"; und von den Bewußtseinsinhalten, ob sinnlich, ob geistig, heißt es überdies i m selben Apho1 ,Ideologiekritik i m Ursprung' meint hier erst sekundär einen historischen, p r i m ä r jedoch einen ideensystematischen Ort. I n dem kleinen Übersichtswerk v o n Ernst Topitsch u n d Kurt Salamun, „Ideologie. Herrschaft des V o r - U r teils" (München u. Wien 1972) lesen w i r den Satz: „Die w o h l ältesten Beobachtungen von Sachverhalten, die für die Ideologiediskussion grundlegend geworden sind, finden sich bei dem englischen Gelehrten u n d Politiker Francis Bacon (1561 - 1626)" (S. 24). Nähme m a n dies als schlichte historische Feststellung, dann stellte sich natürlich die Frage, was die K r i t i k anthropomorpher u n d ethnozentrischer Göttervorstellungen bei Xenophanes i m 6. vorchristlichen Jahrhundert sein soll, w e n n sie nicht Ideologiekritik ist (vgl. Oiels-Kranz , B, Fragmente 15 u. 16, auch 11, 12 u. 13). Selbstverständlich ist Rezeptionsgeschichte nicht m i t der Geschichte des Auftretens v o n Ideen zu verwechseln. Aber dies ist für Topitsch u n d Salamun an der angegebenen Stelle w o h l auch nicht wesentlich. Wesentlich scheint zu sein, daß Bacon die K r i t i k der idolae i m Rahmen einer systematischen Gesamtorientierung betreibt, die sich unschwer als das Bemühen u m eine wissenschaftliche Perspektive der Weltzuwendung i m neuzeitlichen Sinne des Wortes charakterisieren läßt. Freilich, daß diese Perspektive, w i e sie v o n Bacon i n seiner I n stanzenlehre entfaltet w i r d , selbst ideologisch i n dem Sinne ist, daß sie i m Dienste eines übersteigerten Sicherheitsbedürfnisses u n d eines auf bloße technologische Ausbeutbarkeit von Erkenntnissen abstellenden Methodenverständnisses die neuzeitliche Wissenschaft geradezu verhindert hätte, wäre sie jemals zum Tragen gekommen, w i r d von Topitsch u n d Salamun nicht eigens hervorgehoben. 2 Francis Bacon, N o v u m Organum, 1. Buch, Aphorismus 68; zitiert nach der Übersetzung v o n A n t o n Theobald Brück, Leipzig 1830 (unveränderter Nachdruck Darmstadt 1974), S. 49.
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rismus, sie seien der Beschaffenheit des Subjekts, „nicht dem Weltall analog" 3 . Die Inkohärenz der Bilder, welche derart den epistemologischen Raum Bacons erfüllen, weist deutlich auf die Schwierigkeiten hin, denen die Versuche, Ideologiekritik philosophisch zu untermauern, noch begegnen werden. In dem Maße, in dem die Subjektivität des Menschen sich dem analytisch geschulten Blick als allüberall wirksame Stördimension reinen Erkennens darbietet, in dem Maße wächst auch der Verdacht, Subjektivität sei ein Konstituens der Erkenntnis selbst und als solches für Erkenntnis unabdingbar. Dies impliziert dann, daß das Verhältnis des Bewußtseins zur Welt von Grund auf gestört, jedenfalls aber kein solches ist, welches durch die Bilder des ungetrübten Bewußtseinsspiegels oder des hellen, klaren Verstandeslichtes angemessen zur Darstellung gebracht werden könnte. I n jedem Falle erscheint von hier aus die Idee einer perspektivelosen Wahrheit, die rein ist und ewig, und die es gilt, dem menschlichen Bewußtsein zu erschließen, um es aus dem Bann der Vorurteile zu befreien, selbst noch als eine mythische Konstruktion, die der Ideologiekritik, die sie ermöglichen sollte, ihrerseits geopfert werden muß. Von Bacons Novum Organum bis zum Historismus und Relativismus des 19. und 20. Jahrhunderts ist freilich ein weiter Weg. Dazwischen liegen all die Versuche, das Bewußtsein doch noch als einen ,Spiegel der Natur' 4 , seine Trübungen als methodisch beseitigbare Kontingenzen zu behandeln und so der Ideologiekritik einen epistemologisch sanierten Aktionsraum zu eröffnen. Daß das 18. Jahrhundert hierbei eine Schlüsselstellung einnimmt, w i r d man kaum bestreiten wollen, zumal dann nicht, wenn man sein Augenmerk auf das selhstdestruktive Potential der Aufklärungsphilosophien richtet. II. Aufklärung als Ideologiekritik zwischen Theodizee und Glücksverlangen Daß jede Geschichtsschreibung selektiv verfahren muß, ist ein Gemeinplatz, der auch für die Ideengeschichte des 18. Jahrhunderts gilt. Wer Ernst Cassirers Werk über die Philosophie der Aufklärung liest — eine gewiß materialreiche und luzide Studie —, dem w i r d auffallen, daß dort vom Glück des Menschen, das doch der Aufklärung so sehr 3
Bacon, S. 32 (Aphorismus 41). Zur ideengeschichtlichen und systematischen Bedeutung der SpiegelMetapher i n der abendländischen Philosophie vgl. neuerdings Richard Rorty, Philosophy and the M i r r o r of Nature, Princeton 1979; dt. Frankfurt am M a i n 1981. 4
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am Herzen lag, nur marginal die Rede ist; dies ganz i m Gegensatz zu Paul Hazards Herrschaft der Vernunft, worin dem Glücksstreben der Aufklärung ein ganzes Kapitel gewidmet w i r d und wo es heißt, daß das Glück der Gral der neuen Zeit gewesen sei 5 . Was uns Cassirer zeigen möchte, das ist die evolutionäre Entfaltung einer neuen und autonomen Rationalität i m Theoretischen wie im Praktischen. War i m Mittelalter bis weit über die Scholastik hinaus die Vernunft des Menschen die Dienerin der Offenbarung geblieben, so hat die Aufklärung, anknüpfend an die Präliminarien der Renaissance, den endgültigen Bruch zwischen lex divina und lex naturalis vollzogen. „Neben die Wahrheit der Offenbarung" — so Cassirers Formulierung — „ t r i t t jetzt eine eigene und ursprüngliche, eine selbständige Wahrheit der Natur" 6 . Daß es dem menschlichen Geist möglich ist, diese Wahrheit zu erkennen, dafür war dem 18. Jahrhundert Newton der wichtigste Gewährsmann. Und Cassirer läßt keinen Zweifel daran, daß der machtvolle Aufstieg einer autonomen Menschenvernunft wesentlich i n den Erfolgen der empirisch-mathematischen Naturtheorie seit Kepler, Galilei und Newton gründete. Diese Erfolge symbolisierten eine weltimmanente Mächtigkeit des Menschen: eine Mächtigkeit gegen die Zumutungen der Religion, des Aberglaubens, der Dogmen; eine Mächtigkeit, welche dem Selbstbehauptungswillen des erstarkenden Bürgertums, der sich ebensosehr gegen die Dummacherei von oben wie gegen die Dummheit des furchtsam-ergebenen Volkes richtete, zum stärksten Argument wurde. Der Kampf, den die geistige Elite Europas i m Zeitalter der Aufklärung kämpft, ist solcherart ein Kampf gegen jede Autorität, welche die Vernunft des Menschen unter Imperative und Gesetze zwingen möchte, die nicht die der Vernunft selbst sind. Und es ist auch ein Kampf gegen die dunklen Kräfte, welche aus der Unvollkommenheit des Menschen, seiner Täuschbarkeit und seinem Hang zur Idolatrie, resultieren und das Licht der Vernunft trüben. A l l diese Kämpfe sind ihrem Wesen nach Ideologiekritik. Das Ziel ist dabei stets das gleiche: die Wahrheit möge ans Tageslicht treten, u m der Verblendung und Unterdrückung des Menschen ein Ende zu bereiten. Die Rekonstruktion des Autonomisierungssyndroms i m 18. Jahrhundert jedoch, welche — wie bei Cassirer — exklusiv am Leitfaden der sich ihrer selbst vergewissernden Vernunft betrieben wird, nimmt nun allerdings ein Verständnis von Aufklärung zum Ausgangspunkt, das erst denen vollends zum Selbstverständnis wird, die sich als aufgeklärt verstehen, nachdem der metaphysische Hintergrund der Aufklärung 5 Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, 3. A u f l . ( = unveränd. Nachdruck der 2. Aufl.), Tübingen 1973; Paul Hazard , Die Herrschaft der Vernunft, Das europäische Denken i m 18. Jahrhundert, Hamburg 1949. • Cassirer, S. 56.
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bereits zerbrochen ist. Dieser hatte nicht bloß mit der Vernunft, er hatte gleichermaßen m i t dem Glück des Menschen zu tun, und er hatte vor allem auch zu tun mit dem Bedürfnis, Vernunft, Glück und Natur jenseits christlicher Transzendierungen weltimmanent zu versöhnen. Ein solches Bedürfnis ist uns Heutigen nicht mehr ohne weiteres verständlich. Es entstammt einem Problemfeld, welches die Antike vorbereitete, das Christentum in spezifischer Weise tradierte und i m Prozeß der Säkularisierung sich weitgehend verlor. „Das Problem, das die Antike ungelöst hinterließ", schreibt Hans Blumenberg an einer Stelle seiner Legitimität der Neuzeit, „war die Frage nach dem Ursprung des Übels in der Welt" 7 . Daß das Christentum dieses Problem letzten Endes auch nicht bereinigen konnte, ist eine Feststellung, die geeignet erscheint, die krisenhafte Ausgangslage des christlichen Gott-Welt-Verständnisses zu untertreiben. Das Christentum hatte seinen Gott durch die maßlose Zuschreibung von Vollkommenheitsattributen nicht so sehr vor kritischen Anwürfen gerettet — Anwürfen, denen die ,unmoralischen' Gottheiten der Antike durch die griechische Philosophie zur Genüge ausgesetzt waren —, als vielmehr Gott mit Verantwortung für die Welt und den Menschen überbelastet. Hatte sich die Gnosis bemüht, auf das Problem des Übels eine Antwort zu geben, indem sie den himmlischen Heilsgott durch die Bereitstellung eines dämonischen Demiurgen, der das Unglück i n die Welt bringt, moralisch entlastete, so w i r d der christlichen Orthodoxie Gott in einer Weise zur Quelle aller Vollkommenheiten und zur höchsten Machtpotenz, so daß das Übel in der Welt, wie sehr man es auch an die Existenz des sündigen Menschen binden mag, zur großen kosmischen Anomalie wird. Diese erfordert eine Theodizee, welche das Unmögliche leisten soll: den schlecht gedachten Gott gut zu denken, ohne — wie die Gnosis — der Häresie zu verfallen. Schon Aurelius Augustinus hatte Gott, den Gründer aller Dinge und Allgerechten, nur auf aporetische Weise zu rechtfertigen vermocht, indem er das Elend der Welt als strafende Folge freier menschlicher Willensentschlüsse zur Sünde, Gott aber, den Allwissenden, nicht als Urheber dieser Entschlüsse, wiewohl gleichzeitig als denjenigen begriff, der alle Sündenfälle zum voraus weiß 8 . Bei Augustinus muß Gott wissen können, was er, der dem Menschen einen freien Willen gewährt, 7 Hans Blumenberg, Säkularisierung u n d Selbstbehauptung (erweiterte u n d überarbeitete Neuausgabe v o n „Die L e g i t i m i t ä t der Neuzeit", 1. u. 2. Teil), F r a n k f u r t am M a i n 1974, S. 146. — Überhaupt ist Blumenbergs W e r k „Die Legitimität der Neuzeit" für das hier zu behandelnde Thema i n vielerlei Hinsicht von außerordentlicher Bedeutung; eine Reihe v o n Aspekten der neuzeitlichen Selbstbehauptungs- u n d Legitimationsproblematik, die hier n u r angedeutet werden, findet sich i n Blumenbergs Werk entfaltet. 8 Vgl. Aurelius Augustinus, De libero arbitrio, 3. Buch, Abschnitte 9, 10, 11.
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gerade i n d e m er dies t u t , n i c h t m e h r wissen k a n n 9 . Stets w i r d die christliche Theodizee i n der Nachfolge des A u g u s t i n u s verschleierte Widersprüche hervortreiben, u m Gott, den nicht entlastbaren, zu entl a s t e n — bis h i n zu d e m V e r s u c h v o n L e i b n i z , Gottes S c h ö p f u n g s w e r k zu r e t t e n , i n d e m die Théodicée (1710) das massenhafte U n g l ü c k der W e l t als n o t w e n d i g e s M i t t e l z u r R e a l i s i e r u n g des g r ö ß t m ö g l i c h e n Glücks h e r v o r t r e t e n l ä ß t 1 0 . Diese F o r m der R a t i o n a l i s i e r u n g des U n glücks e r z w a n g es geradezu, die Theodizee i m 18. J a h r h u n d e r t gegen den S t r i c h zu lesen, sie zu e n t l a r v e n als eine zynische V e r s c h l e i e r u n g des B a n k r o t t s der c h r i s t l i c h e n Gottesidee. V o l t a i r e , w i e dessen h o h n t r i e f e n d e r Candide bezeugt, u n d v i e l e andere h a b e n sie d e n n auch so gelesen 1 1 .
9 Als unproblematisch unterstelle ich hier, der liberum arbitrium sei n u r dann geeignet, Gott zu entlasten, w e n n er dadurch, daß er den Zufall i n eine Welt der gottgewollten Notwendigkeiten bringt, Gottes Allwissenheit einschränkt. Denn was Gott, der Allmächtige, zum voraus wissen kann, das muß er, der Allgütige, nach dem Grundsatz der besten aller möglichen Welten einrichten. 10 Dies läuft der Tendenz nach auf eine widerspruchsvolle Begrenzung der Allmacht des Allmächtigen hinaus und läßt überdies die Frage akut werden, wieso, w e n n Gott das Elend der Welt nicht unterbinden konnte, er diese dann überhaupt erschuf. 11 Voltaire läßt Pangloß, alias Leibniz, i m „Candide" m i t ihrer Habe beraubten Überlebenden des Erdbebens von Lissabon folgendes lehrreiche Gespräch führen: „Denn", so sagte er [Pangloß], „alles dies ist so am besten. Wenn es nämlich bei Lissabon einen V u l k a n gibt, so k a n n das Erdbeben nicht woanders sein, denn es ist j a selbstverständlich, daß sich die Ereignisse dort abspielen müssen, wo sie entstehen. Also ist alles gut." Sein Tischnachbar, ein kleiner Mann m i t schwarzem Haar und dunkler Hautfarbe, der ein Späher der Inquisition war, wandte sich höflich an Pangloß und sagte: „Anscheinend glaubt der Herr nicht an die Erbsünde, denn wenn alles gut ist, so gibt es weder Sündenfall noch Sühne." „Ich bitte Eure Exzellenz alleruntertänigst u m Verzeihung", antwortete Pangloß noch höflicher, „aber Sündenfall u n d Erbfluch gehören j a notwendigerweise zu der besten aller möglichen Welten." — „Also glaubt der Herr nicht an die Freiheit des Willens?" fragte der Spitzel weiter. — „Eure Exzellenz werden entschuldigen", begann Pangloß seine Darlegungen, „Willensfreiheit u n d absolute Notwendigkeit können durchaus nebeneinander bestehen. W i r müssen j a einen freien W i l l e n haben, denn schließlich ist der determinierte W i l l e . . . " Pangloß hatte seinen Satz noch nicht vollendet, als der Spitzel seinem Diener, der i h m gerade ein Glas Portwein oder Oportow e i n einschenkte, m i t dem Kopf ein Zeichen gab. (Zitiert nach der Übersetzung von Ilse Lehmann, insel taschenbuch 11, 1973, S. 31 f.) Bald nach dieser Szene w i r d Pangloß von Schergen der Inquisition festgenommen, i m Rahmen eines prächtigen Autodafés abgeurteilt u n d schließlich gehängt. — Was Voltaire i n der zitierten Passage dem Leser m i t zynischer Schärfe vorführt, das ist die aporetische Grundsituation der Theodizee: Pangloß mag sich, gerüstet m i t Rhetorik u n d Dialektik, drehen u n d wenden w i r er w i l l — am Ende schnappt die Falle der i n den Prämissen angelegten Widersprüche zu.
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Das Problem des Glücks in der Aufklärung ist solcherart auf folgenreiche Weise vorstrukturiert durch das Desaster der christlich-rationalistischen Versuche, Gott außer Frage zu stellen. Der Ausweg, den die Aufklärung wählte, u m die letzten Endes nicht den Menschen, sondern Gott desavouierende Teleologisierung des Unglücks zu unterbinden 1 2 , konnte nur darin bestehen, Gott aus dem belastenden Kontext seiner Verantwortlichkeit für das Unglück der Welt überhaupt zu entlassen. Die gründlichste, freilich nicht die verbreitetste Art, dies zu tun, war, die Welt ohne Gott zu denken. Wie Voltaire in seinem Dictionnaire philosophique portati f aus dem Jahre 1764 bemerkt, gab es zu dieser Zeit in England, wie überall, viele Atheisten, und auch in Frankreich habe er „einige" gekannt, die zugleich hervorragende Physiker gewesen seien. Diese gelangten dazu, die Existenz Gottes zu bestreiten, weil sie an die Ewigkeit der Materie glaubten und es daher für unnötig erachten konnten, Gott als prima causa gelten zu lassen. „ I n der Tat, wenn die Materie unendlich ist, wie so viele Philosophen und sogar Descartes behauptet haben, besitzt sie von sich aus ein A t t r i b u t des höchsten Wesens" 13 — womit Voltaire in der äußeren Form einer Erklärung des Atheismus auf sehr rudimentäre Weise den Legitimationsdruck anzeigt, den die Ausschaltung Gottes aus dem Weltgeschehen nach sich zog: die göttlichen Attribute, die eine Reihe von symbolisch hochbedeutsamen Sicherungsleistungen erbrachten, auf die man so leicht nicht verzichten konnte, begannen sich der Natur anzulagern, wodurch diese, welche der Aufklärung zum großen Symbol eines der autonomen Vernunft zugänglichen Ordnungsraumes wurde, gleichzeitig Züge göttlicher Vollkommenheit zu tragen begann. Gerade indem der Atheismus den Menschen auf die denkbar radikalste Weise in der Welt frei setzte, war er mit größter Schärfe der Frage unterworfen, aus welcher Quelle denn dem Menschen die Rechtfertigung seines Autonomisierungswillens erwachse. Gewiß, mit dem Tod Gottes war der Weg frei, um den Menschen nicht bloß als das für sein Elend verantwortliche Wesen abzukanzeln, sondern ihn vor allem auch — was zwar logisch, aber nicht unbedingt christologisch dasselbe ist — als das Wesen zu inthronisieren, das für die Optimierung seines 12
Erhellende Bemerkungen über den „ K o n k u r s der Teleologisierung des Unglücks" u n d seine Folgen für die Philosophie des Glücks finden sich bei Odo Marquard, Glück i m Unglück, Zur Theorie des indirekten Glücks zwischen Theodizee u n d Geschichtsphilosophie, in: Die Frage nach dem Glück, hg. v. Günther Bien, Stuttgart u. Bad Cannstadt 1978, S. 93 - 111. 13 Zitiert nach „Voltaire, Aus dem Philosophischen Wörterbuch", hg. u. eingeleitet von Karlheinz Stierle, übersetzt v o n Erich Salewski (Wörterbuchartikel) und K. Stierle (Anhang), Frankfurt am M a i n 1967, S. 55 (Stichwort: Atheisten II).
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Glücks auf Erden die Verantwortung trägt. Daß die Aufgabe umfassender Glücksbeförderung durch die Betätigung der autonomen Vernunft, und nur solcherart, zu bewältigen war, schien dem Hauptstrom des 18. Jahrhunderts, der keineswegs atheistisch gesinnt war, ohnedies fraglos. Noch i m letzten Drittel des Jahrhunderts formulierte Johann Georg Schlosser, Goethes Schwager, bündig: „Die Aufklärung soll also den Menschen darüber erleuchten; was ist das Glück des Menschen" 14 — womit die Fragmente, über die Aufklärung resümierten, worüber sich vorher schon viele Abhandlungen emphatisch ausgebreitet hatten. A l lerdings — und hier lag eine weitreichende Fragestellung vor —, woher bezog die autonome Vernunft ihre Legitimation als Erkenntnisorgan menschlicher Glücksmöglichkeiten und des rechten Daseinsvollzugs? I I I . Vernunft und Natur Daß die Erkenntnismittel der Menschenvernunft „Jammerwaffen" seien, hatte einst Montaigne behauptet (worauf sich später Rousseau gerne berief). I n der Apologie des Raimundus Sebundus war der Wissenschaft zwar attestiert worden, sie sei etwas sehr Nützliches und Großes, dies aber nur um hinzuzufügen, daß der Mensch für den Aufstieg der autonomen Vernunft einen immens hohen Preis bezahlen müsse. Die Wissenschaft, weit entfernt, uns weise und glücklich zu machen, habe uns von Grund auf verdorben, uns unserer wahren Natur entfremdet und uns auf fatale Weise begehrlich gemacht. Kurz: „Die Pest des Menschen ist, daß er zu wissen vermeint" 1 5 . Montaigne, der christliche Skeptiker, verdammt die autonome Vernunft, welche ihm zum Inbegriff der bodenlosen Anmaßung des Menschen wird, der sich anschickt, den unauflösbaren Zusammenhang zwischen wahrem Wissen und Unterwerfung unter das Gnadenwort Gottes zu zerbrechen. I m Gegenzug dazu w i r d von Montaigne die vernunftlose Natur i n den Rang einer bergenden Urheimat des Menschen erhoben: „Die Natur hat ganz allgemein und insgesamt ihre Geschöpfe ans Herz geschlossen, und es ist keins darunter, das sie nicht aufs Reichlichste mit allen Mitteln, sein Dasein zu erhalten, versehen hätte" 1 8 . Hier liegt die systematische Nahtstelle eines Problems, m i t dem sich die Aufklärung, ob gottlos oder nicht, w i r d immer wieder befassen müssen. Die Skepsis der Antike war niemals widerlegt, sie war dogma14 Ich zitiere die „Fragmente, über die A u f k l ä r u n g " nach Werner Schneiders, Die wahre Aufklärung, Z u m Selbstverständnis der deutschen A u f k l ä rung, München 1974, S. 42. 15 Ich zitiere nach den „Ausgewählten Essais" i n der Übersetzung von Emil Kühn (Straßburg: I. H. Heitz o. J.) — Bd. V , S. 108. 10 Montaigne, Essais V, S. 39.
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tisch überwunden worden. I n der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts w i r d aus diesem Sachverhalt David Hume bedrohliche und, letzten Endes, widersprüchliche Konsequenzen ziehen. „ W i r müssen thierähnlich werden, um weise zu sein", hatte Montaigne gelehrt 1 7 , und Hume, der mit der Geistesart Montaignes nur wenig gemein hat, w i r d diesem doch darin nahe kommen, daß er die grundlegenden Existenzleistungen des Menschen nicht dessen Vernunft, sondern dessen Instinktnatur anvertraut. Allerdings ist Humes Natur kein Kosmos mehr, und Humes Naturphilosophie ist keine Kosmodizee: immer wieder betont er mit großem Nachdruck die Fehlbarkeit der menschlichen Instinktleistungen, und so ist schließlich nicht zu sehen, wodurch der Mensch sich bei Hume gegenüber der Welt und deren Tücken behaupten könnte als eben durch den Einsatz seiner autonomen Vernunft. So sieht sich Hume veranlaßt, die Agnostizismusattitüde der radikalen Skepsis, deren Unwiderlegbarkeit er selbst am eindringlichsten darlegte, unter der Voraussetzung ihrer allgemeinen Anerkennung und Praktizierung als Selbstpreisgabe des Menschen zu verurteilen 1 8 . Das Problem, das Hume nicht lösen konnte, war, woher der autonome Mensch seine Legitimation beziehen sollte, wenn einerseits seine Vernunft keinen epistemologischen Halt hat und wenn andererseits die Wirsamkeit seiner Natur keine Daseinsgarantie, geschweige denn das Versprechen eines glücklichen Daseins i n sich birgt. Die Aufklärung, welche i m Dienste menschlicher Glücksambitionen die Tyrannei der Vernunftlosigkeit und ihrer ideologischen Funktionen brechen wollte, mußte den Menschen i n dem Maße gegen Skepsis und Antiintellektualismus absichern, i n dem ihr der Montaignesche Naturkosmos, worin der Vernunft die Rolle des großen Gegenspielers zur Weisheit der gottgegründeten Instinkte zugekommen war, bestenfalls als ein Hort für glückliche Schafe und Rinder erscheinen konnte 1 9 ; u m dies zu bewerk17
Ders., ebd., S. 117. Hume schreibt i m X I I . Abschnitt seiner Untersuchung über den menschlichen Verstand: „ E i n Anhänger des Pyrrho k a n n aber nicht erwarten, daß seine Philosophie einen bleibenden Einfluß auf unseren Geist haben w i r d oder, w e n n das geschähe, daß i h r Einfluß der Gesellschaft nützlich wäre. Er muß i m Gegenteil zugeben — w e n n er überhaupt etwas zugeben w i r d —, daß alles menschliche Leben zugrunde gehen müßte, w e n n seine Prinzipien allgemein u n d unverrückbar i n Geltung kämen." (Zitiert nach der ReclamAusgabe i n der Ubersetzung von Herbert Herring, Stuttgart 1967, S. 201.) le Vgl. hierzu Kants Rezension des zweiten Teiles von Johann Gottfried Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, A 156, wo K a n t gegen Herder einwendet, daß eine p r i m i t i v e Volkschaft, die „niemals von gesitteten Nationen besucht, i n ihrer ruhigen Indolenz auch Tausende von Jahrhunderten zu leben bestimmt" wäre, das Schöpfungswerk Gottes sogleich m i t der Frage belasten würde, w a r u m gerade sie die Erde besiedelte, u n d nicht statt ihrer glückliche Schafe u n d Rinder. Das Recht des Menschen, i m Schöpfungsplan eine Stelle zu besetzen, geht bei K a n t einher 18
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stelligen, durfte aber der Aufklärung die Natur gerade nicht dominant gewärtig werden als ein Kontingenzenraum, der, wie bei Hume, zu den Operationen der Vernunft keine Affinität, auch keine Gründungsbeziehung erkennen ließ und so der Vernunft das fundamentum in re verweigerte, dessen sie als Basis ihrer weltimmanenten Rechtfertigung bedurfte. Dies erklärt, warum gerade die erbittertsten Gegner jeder Metaphysik im 18. Jahrhundert, die atheistischen Materialisten, die Natur leichten Herzens metaphysisch überhöhen, sie, kurz gesagt, vergöttlichen. So heißt es in La Mettries L'homme machine schlicht, die Natur habe uns alle einzig dazu erschaffen, glücklich zu sein, „ja alle, vom Wurm, der i m Staube kriecht, bis zum Adler, der sich in den Wolken verl i e r t " 2 0 . Warum allerdings der Mensch so oft so glücklos ist, bedarf auch bei La Mettrie dringend einer Erklärung. Die Aufklärung w i r d hier gerne antworten, der Mensch habe seiner Natur, welche die Gesetze der Vernunft ebenso beherberge wie die des guten Lebens, in der Geschichte seiner Gattung bisher nur höchst mangelhaft Rechnung getragen. La Mettrie jedoch, der Christenhasser, läßt Montaigne noch einmal zu Ehren kommen, wenn er nicht ausschließen möchte, daß es gerade der Gelehrte, der Virtuose vernunftgeleiteter Weltzuwendung ist, der, indem er „eine A r t von Mißbrauch unserer organischen Fähigkeiten" in die We It bringt, zum Unglücksstifter aus Eitelkeit w i r d 2 1 . — Bei d'Holbach stoßen w i r auf, i m Sinne des 18. Jahrhunderts, geläuterte Perspektiven. Zuvorderst steht für das Systeme de la nature fest, daß das Unglück der Menschen in deren Irrtümern über die Gesetze, denen sie selbst wie das übrige Naturgeschehen unterliegen, gründet 2 2 . d'Holbachs Realismus' läßt allerdings, bei aller Bereitschaft, die Natur mit theomorphen Attributen auszukleiden, eine Paradiesesvorstellung derart, wonach die penible Beachtung der Naturgesetze das vollkommene Glück jedes Erdenbürgers nach sich zöge, nicht zu. Stattdessen — auch dies typisch für das Panorama-Denken der Aufklärung — w i r d im Système eine A r t stoischer Totalitätsperspektive eingenommen, die auf den Einzelnen als Teil des großen Ganzen, und vor allem als solchen, abstellt. Alle Dinge, welche aus den Händen der Natur kommen, m i t der Pflicht, sich gemäß seinen Vernunftanlagen zu vervollkommnen, und sei es auch, daß der Mensch hierdurch für lange Zeit unglücklich w i r d . (Zitiert nach Kant, Werke, Bd. X I I , F r a n k f u r t am M a i n 1964, S. 805.) 20 De la Mettrie, Der Mensch eine Maschine, übersetzt, m i t einer Vorrede und m i t Anmerkungen versehen von M a x Brahn, Leipzig 1909 (Philosophische Bibliothek Bd. 68), S. 40. 21 Oers., ebd. 22 Paul Thiry d'Holbach, System der Natur oder von den Gesetzen der physischen u n d der moralischen Welt, übersetzt von Fritz-Georg Voigt, Frankfurt am M a i n 1978, S. 20.
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sind demnach zwar „gut, edel und vortrefflich", aber aus ihren Händen kommen auch „Winde, Stürme, Krankheiten, Kriege, Pest und Tod". So w i r d es zwar immer Menschen geben, die leiden, doch es gilt unverbrüchlich der Satz: „das Ganze kann nicht unglücklich sein, aber es kann Unglückliche in sich enthalten" 2 3 . Auf diese Weise vererbt sich die Leibnizsche Theodizee einer mechanizistischen Kosmodizee, deren metaphysischer Elan dem theologischen Optimismus jener in nichts nachsteht. Jenseits atheistischer Anmaßungen ist für die Aufklärung festzuhalten: die Natur war ihr gewiß noch nicht, als was sie ihren kaltblütigen Erben erscheinen w i r d — als ein Raum der Wertirrationalität, dessen Gesetze sich dem Glück des Menschen gegenüber gleichgültig verhalten. A l l die Versprechen, welche die Natur für das 18. Jahrhundert in sich barg, umreißt Paul Hazard, wenn er schreibt: „Ein Wort begeisterte die Kühnen, die sich an das Werk machten, ein Zauberwort, das sich den Worten ,Vernunft' und ,Licht' [. ..] gesellte: das Wort ,Natur'. Sie schrieben ihm eine noch wirksamere Kraft zu, weil die Natur die Quelle des Lichtes und die Bürgschaft der Vernunft war. Weisheit und Güte war die Natur; und wenn der Mensch sich nur dazu verstand, ihr zu folgen, würde er sich niemals mehr täuschen; er brauchte nur ihrem wohltätigen Gesetze zu gehorchen" 24 . IV. Descartes' Schwäche Entlastung Gottes, Belastung des Menschen mit Autonomie sowie Ausstattung der Natur mit Vollkommenheitsattributen, die ehedem der transzendenten Schöpferkraft vorbehalten waren, sind Aspekte ein und desselben Entwicklungszusammenhanges. Das Scheitern der Theodizee hatte nicht nur Gott, es hatte mit diesem auch die menschliche Vernunft in Gefahr gebracht. Wenn Gott das Unglück in der Welt zuließ oder zulassen mußte, wie konnte man wissen, wo die Grenzen der Fehlbarkeit des Menschen lagen, die aus seiner unvollkommenen Natur resultierten? Nicht nur, daß es das Los des Menschen war, den bösen Impulsen, die ihn ständig heimsuchten, allzu oft nicht standhalten zu können; seine vielleicht grundlegendere Schwäche bestand darin, der Täuschbarkeit seiner Vernunft in Fragen des rechten Lebensvollzuges und der Beschaffenheit der Dinge preisgegeben zu sein. Das Böse in der Welt, das Gott nicht ausschalten wollte oder konnte, war nicht nur eine Folge des falschen Tuns, es war noch mehr vielleicht eine Folge des falschen Denkens, Vorstellens, Glaubens. 23 24
d'Holbach, S. 202. Hazard , Die Herrschaft der Vernunft, S. 173.
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Der deus malignus des Descartes war keineswegs bloß eine erkenntnistheoretische Fiktion zum Zwecke ihrer alsbaldigen Widerlegung; er war gleichzeitig radikalisierter Ausdruck des von den Widersprüchen der christlichen Theodizee sich nährenden Verdachtes, Gott selbst habe den Menschen mit Blindheit geschlagen, sie jedenfalls i m Weltgetriebe um dessetwillen zulassen müssen. Descartes' Methode zur endgültigen Beseitigung des Zweifels war nun zwar ein genialer Schachzug gegen den Gott, von dem man nicht wissen konnte, ob er ein trügerischer war, und insofern ein entscheidender Schritt auf dem Wege zur Autonomisierung des Menschen. Die Verankerung untrüglicher Gewißheit in der Immanenz des Bewußtseins und dessen Regelmaschinerie jedoch griff vom Ansatz her zu kurz, da selbst das Cogito Argument aus sich selbst noch den Beweis der Existenz eines nichttrügerischen Gottes herausspinnen mußte, um von daher das Nichtmehrzweifelnkönnen des Philosophen angesichts vollkommen klarer und deutlicher Ideen als gültiges Wahrheitskriterium auszuweisen. „Denn erstlich", heißt es i m Discours de la méthode, „ist selbst das, was ich oben als Regel festgesetzt hatte, daß nämlich die Dinge, die w i r recht klar und deutlich denken, ganz wahr sind, nur darum sicher, weil Gott ist oder existiert, weil er ein vollkommenes Wesen ist und alles, was in uns ist, von ihm kommt. Hieraus folgt dann, daß unsere Ideen oder Begriffe, da sie etwas Reales und von Gott Stammendes sind, in all dem, worin sie klar und deutlich sind, wahr sein müssen" 25 . Hinzu t r i t t ein Weiteres: Wo immer i n der abendländischen Philosophie dem sich selbst transparenten Bewußtsein seine Gewißheiten zum unhintergehbaren und einzig greifbaren Ausgangspunkt aller Erkenntnis werden, w i r d das Problem seiner Beziehung zur Welt, des epistemologischen Status seiner intentionalen Gehalte, die über die Immanenz des bloßen Erscheinens von Inhalten hinausweisen, zur chronischen Notlage. Das Bewußtsein, das ganz i n sich selbst zurückgegangen ist, u m Gewißheit zu finden, läuft stets Gefahr, in der epoché verkümmern zu müssen. Damit Descartes sich vom Cogito bis zu den Feinheiten des Blutkreislaufes herabdeduzieren konnte, bedurfte er eines Gottes, der sicherstellte, daß der Gewißheit der Existenz einer Außenwelt i m Bewußtsein des Philosophen auch eine Welt außerhalb des Bewußtseins korrespondiert. Dies sind nur Andeutungen, doch sie mögen genügen, um das Projekt einer Entlastung Gottes hinsichtlich seiner Folgen für das 18. Jahrhundert umrißhaft deutlich zu machen: damit die Forderung nach Autonomie der Vernunft sich nicht sogleich i m Grundlosen zu verlieren 25 René Descartes, Abhandlung über die Methode, 4. Teil, Abschnitt 10; zitiert nach der Ubersetzung v o n A r t u r Buchenau, Leipzig o. J. (5. A u f l . 1931), Philosophische Bibliothek 26 a, S. 32. Hervorhebung von mir.
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oder in einer Bewußtseinsimmanenz ohne Weltbezug zu erschöpfen drohte, bedurfte sie des Rückhalts eines transsubjektiven Fundaments natürlicher' A r t , das die zeitlosen und ewigen Wahrheiten der Vernunft und des Lebens auf entschlüsselbare Weise beherbergte. Dies war die Natur i m Status ihrer Vergöttlichung. Von hier aus ließ sich dann auch das dringliche Geschäft der Ideologiekritik als eines denken, das durch die Verfügungsmöglichkeit über standortneutrale, ewige Wahrheiten — die Wahrheiten der Natur — zweifelsfrei legitimiert ist. Die theomorphe Überhöhung der Natur i m 18. Jahrhundert war jedoch schon von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Sie litt, von sonstigen Argumentationsdefiziten abgesehen, an denselben strukturellen Mängeln wie einst die Theodizee und sie trug einer Reihe von Evidenzen nicht Rechnung, welche die Aufklärungsmentalität konstitutiv mitprägten. V. Die Diffusion von Vernunft, Glück und Natur Die Bereitschaft zur Vergöttlichung der Natur — die ohnedies nur zum Teil und zum Teil nur als rhetorische Attitüde existierte — belegt zwar einerseits den Willen zur kontrafaktischen Idealisierung i m Aufklärungsdenken. Daran festzuhalten mußte andererseits jedoch schwerfallen unter dem steigenden Druck der realistischen Zumutung, die Welt als das zu sehen, als was sie sich dem tatsachenzentrierten Blick darstellte. Der Schock, den das Erdbeben von Lissabon i m Jahre 1755 bei den Zeitgenossen auslöste, ist auch symptomatisch für die Destabilisierung des kontrafaktischen Elans. Die offensichtlich sinnlose Zerstörung menschlichen Lebens und menschlicher Kulturgüter durch das Wirken der Natur, eine Zerstörung, die es immer schon gegeben hatte, i m Großen wie i m Kleinen, wurde plötzlich überdimensional sichtbar als das, was sie war, ist, sein wird: eben sinnlos und ohne Vernunft und vollkommen gleichgültig gegen das Glück des Einzelnen. Wichtiger vielleicht noch als der zunehmende ,Realismus' des Blicks auf die Natur, von der schließlich der Positivist Comte i n Umkehrung der vormaligen Attributionen behaupten wird, sie sei gänzlich unvollkommen 2 6 , war die Zersetzung der poetisch-totalisierenden Perspektive bei der Erfahrung partikularer Weltgegebenheiten zugunsten einer analytischen, auf die Zerlegung komplexer Naturobjekte abstellenden Beobachterhaltung. Dies läßt sich an den entstehenden Wissenschaften 26 Vgl. Auguste Comte, Discours sur l'esprit positif, 1. Teil, Abschnitt 29; i n der doppelsprachigen Ausgabe v o n I r i n g Fetscher, Hamburg 1956, ergänzte Aufl. 1966 (Philosophische Bibliothek Bd. 244), S. 81.
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vom Leben besonders gut ablesen. Je tiefer das physiolqgiebesessene 18. Jahrhundert i n die Geheimnisse des Lebens eindrang, um so stärker bildete sich ein Erkenntnistyp heraus, dessen Erfahrungsbasis nicht die Totalität unversehrter Lebenseinheiten, sondern der sezierte, zerstückelte, verstümmelte Organismus war. A n die Stelle eines Naturganzen, dem man die Attribute der Vollkommenheit und Weisheit beilegen konnte, traten vom Körper abgetrennte Muskelpartien, zuckende Tier- und Menschenherzen, zerteilte Weichtiere en masse, überhaupt irritable Zellenagglomerate aller A r t , auch Föten i m Todeskampf 27 . Hier erreicht, auch dies sollte nicht unerwähnt bleiben, die Aufklärung jene kritische Schwelle, an der ihre Neugierhaltung aus Menschenliebe immer wieder in Menschenverachtung aus Wissensbegierde umzukippen droht. Um der Natur ihre Geheimnisse zu entreißen, ist es nicht nur erlaubt, gegen die tierische Kreatur rücksichtslos vorzugehen, erlaubt ist es auch, die Menschen, besonders die bösen, den Zwecken der Wissenschaft dienstbar zu machen. „Wenn man hingerichtete Verbrecher", schreibt La Mettrie, der ein sehr herzlicher Mensch gewesen sein soll, „Verbrecher, deren Körper noch warm sind, sezieren würde, würde man an ihren Herzen dieselben Bewegungen sehen, die man an den Gesichtsmuskeln Enthaupteter beobachtet" 28 . Von da aus ist es nicht mehr so weit bis zu dem Vorschlag von Maupertuis, die „Möglichkeit oder Unmöglichkeit verschiedener Operationen, welche die Kunst nicht unternehmen darf" (weil derlei Eingriffe gegen das medizinische Ethos verstießen), am lebenden Verbrecher zu erproben. Das Argument, welches Maupertuis wählt, u m dem Vorwurf der Inhumanität zu begegnen, ist aufschlußreich in Gegenüberstellung zur allgemeinen Humanitätsemphase der Aufklärungsepoche: „un homme n'est rien, comparé à l'espèce humaine; un criminel est encore moins que rien" 2 9 . Hier vollzieht sich i m Aufschwung eines sich ganz dem emotionslosen Experiment überantwortenden wissenschaftlichen Geistes, der auch vor der Herabwürdigung des Menschen zu einem bloßen, vorerst freilich noch weitgehend virtuellen Objekt der Experimentierkunst nicht zurückschreckt, der Niedergang des metaphysischen Naturideals der Aufklärung. Dies bedeutet der Tendenz nach und über alle nachfol27 Z u den philosophisch-anthropologischen Grundlagen dieser E n t w i c k l u n g vgl. Sergio Moravia, Beobachtende Vernunft, Philosophie u n d Anthropologie i n der Aufklärung, aus dem Italienischen v o n Elisabeth Piras, München 1973, erster Teil: Anthropologie. 28 De la Mettrie, Der Mensch eine Maschine, S. 48. 20 Die Zitate aus Maupertuis' „Lettre sur le progrès des sciences" sind übernommen von Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde (erweiterte u n d überarbeitete Neuausgabe von „Die Legitimität der Neuzeit", 3. Teil), F r a n k f u r t am M a i n 1973, S. 225 f.
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genden romantischen Revolten hinweg: Entlastung der Natur von dem Legitimationsdruck, den die Autonomisierung des Menschen hinsichtlich seiner Erkenntnis- und Glücksambitionen nach sich zog. Wie man weiß, werden für die sich als aufgeklärt verstehenden Nachfahren der Aufklärung Vernunft, Glück und Natur auseinanderbrechen. Das Bild der Natur als eines wertirrationalen Raumes sich gesetzmäßig entwickelnder Tatsachenserien, angesichts derer höchstens noch die Ästhetik ihrer inneren Logik an die metaphysischen Evidenzen von einst erinnert, w i r d zur dominanten Gewißheit des wissenschaftlichen Weltverständnisses. Dieses Bild der Natur läßt es als sinnlos erscheinen, die Gesetze der Welt verstehen zu wollen, um ihnen die Maximen des richtigen Lebens zu entnehmen. Vielmehr erscheint Bacons Devise als die wahre: es gilt die Natur zu erkennen, um sie beherrschen und so den Bedürfnissen des Menschen gefügig machen zu können. Wissen ist nicht mehr Weisheit; Wissen ist Macht i m Dienste der menschlichen Selbstbehauptung gegen eine die Existenz und das Glück des Menschen immerfort gefährdende Natur. Glück und Natur sind auseinandergetreten, ja antipodisch geworden. I n dem Maße, in dem Glück und Natur diffundieren, zerbricht auch der, i m Aufklärungszeitalter über den Naturbegriff vermittelte, Zusammenhang zwischen Glück und Vernunft. Glück als Kategorie des moralischen Denkens, als das legitime Glück i m Verband des guten Lebens aller, ist unabdingbar an das Sollen gebunden, welches mit dem Niedergang des rationalen Naturrechts aus der Sphäre des Vernünftigen zunehmend in den Willkürbereich der Dezisionen und subjektiven Präferenzen, gegen die kein kognitives Kraut mehr gewachsen ist, überwechselt. Freilich, die Hoffnung, daß die Erkenntnis der Natur dem Erdenglück des Menschen dienlich sei, besteht weiter in Form eines technophilen Optimismus: wenn das Glück des Menschen das Ziel ist, so gestattet der Fortschritt der Erkenntnis die Konstruktion immer effizienterer Werkzeuge zur Glücksbeförderung und die Durchführung immer differenzierterer Ziel-Mittel-Kalkulationen. Allerdings bleibt dann immer noch die entscheidende Frage, worin denn das rechte Glück des Menschen bestehe; und eben hierauf weiß die wahrhaft autonome Vernunft keine Antwort mehr. VI. Umbesetzung des teleologischen Feldes: Geschichte statt Natur Erst i m Scheitern des Naturideals der Aufklärung w i r d die Menschenvernunft vollends autonom.
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Der Kantischen Transzendentalphilosophie wurde dieses Scheitern auf monumentale Weise zum Ausgangspunkt einer neuen Sicht des Menschen und seines Verhältnisses zur Natur: nicht die Natur birgt die Vernunft, die Vernunft prägt die Natur. Sie prägt sie nach Maßgabe von Kategorien und Regeln, welche zwar die Gesetzesgebundenheit aller Weltereignisse sicherstellen, zum Glück des Menschen aber keinen systematischen Bezug mehr haben. A n dieser Stelle w i r d sich die Aufklärung selbst zum tiefsten Problem: „Denn was hilft's, die Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung i m vernunftlosen Naturreiche zu preisen und der Betrachtung zu empfehlen: wenn [ . . . ] die Geschichte des menschlichen Geschlechts [ . . . ] ein unaufhörlicher Einwand dagegen bleiben soll" 3 0 ? Was Kant hier moniert und was ihn zu seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbiirgerlicher Absicht führte, ist das Unbehagen am Vollzug einer Aufklärung, der, nachdem die Vernunft nicht mehr am Telos einer dem Menschen zugewandten Natur teilhat, selber naturwüchsig zu werden droht, und das heißt: trotz zunehmender Natureinsicht und Naturbeherrschung zur Vervollkommnung des Menschen arbiträr bleibt. Um dieser Gefahr zu entgehen, müssen nun in der Geschichte Vernunft und Fortschritt zusammengeschlossen werden, aber dies ist auf nicht willkürliche Weise nur möglich, wenn die Entfaltung der Vernunft und die Vervollkommnung des Menschen als innerlich zusammenhängende, gleichsinnige Momente der Universalhistorie gedacht werden können. Kants Lösung dieses Problems ist i n mehrfacher Hinsicht richtungweisend. Kant sah mit großer Klarheit, daß die Idee einer Geschichtsphilosophie nicht durchführbar ist, wenn nicht i n den Handlungen der vielen Einzelnen, was immer diese auch tun mögen, sich ein teleonomes Prinzip mit Notwendigkeit realisiert — ein Prinzip, welches den Fortschritt, der die Geschichte und über die Geschichte die Aufklärung rechtfertigen soll, sicherstellt. Da aber, so Kants Argument, der Mensch von Natur aus zur autonomen Entfaltung seiner Vernunft berufen ist — ansonsten Aufklärung gar nicht möglich wäre —, so kann seine Vervollkommnung doch keine unmittelbare Folge des Wirkens von Naturgesetzen, von Instinktleistungen sein, weil sich der Mensch i n diesem Falle höchstens auf das Niveau glücklicher Schafe und Rinder erheben könnte. Damit, obwohl dem so ist, Vervollkommnung dennoch zum unausweichlichen Telos der Menschengattung werden kann, hat bei Kant die Natur dem Menschen einen Antagonismus in die Seele gepflanzt: die „ungesellige Geselligkeit", d.h. den Hang, i n Gesellschaft 30 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte i n weltbürgerlicher Absicht, A 409 (zitiert nach K a n t , Werke X I , F r a n k f u r t am M a i n 1964, S. 49).
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zu treten und aus ihr zu entfliehen, ersteres, um sich „mehr als Mensch" zu fühlen, letzteres, um seinen Bedürfnissen uneingeschränkt leben zu können. Aus diesem Widerspruch in der menschlichen Natur resultiert das Unglück der Einzelnen, die, um dieses zu minimieren, ihren Vernunftgebrauch in der Geschichte zu immer größerer Entfaltung anstacheln müssen, wodurch sie, ob sie dies wollen oder nicht, wissen oder nicht, letztendlich dem Gesamtwohle der Menschheit als der Klasse aller vernünftigen und ihrer Natur nach autonomen Wesen dienen. Kants Idee zu einer Philosophie der Geschichte signalisiert auf unübertreffliche Weise die Malaise einer Aufklärung, welche der Vernunft huldigt u m des Glückes der Menschen willen, den Konnex von Vernunft und Glückseligkeit aber zunehmend nur auf dem Wege metaphysischer Regressionen und kollektivistischer Ausflüchte sichtbar machen kann. Die Loslösung der Verstandesfunktionen aus der Statik eines menschzentrierten Naturideals führt, u m die drohende Legitimationskrise der autonomen Vernunft aufzufangen, zu einer Teleologisierung der historischen Dynamik, welche sogleich die Fragen, die sich an die Teleologisierung des Unglücks in der Theodizee knüpften, wieder wachruft. Und die Antworten sind um nichts weniger niederschmetternd. Damit die Vernunft ihre Herrschaft über die Welt antreten kann, ist es, so wie die Welt nun einmal beschaffen ist, notwendig, daß die Menschen elend werden, „daß die ältern Generationen nur scheinen u m der späteren willen ihr mühseliges Geschäft zu treiben [...], ohne doch selbst an dem Glück, das sie vorbereiteten, Anteil nehmen zu können. Allein so rätselhaft dieses auch ist, so notwendig ist es doch zugleich, wenn man einmal annimmt: eine Tiergattung soll Vernunft haben, und als Klasse vernünftiger Wresen, die insgesamt sterben, deren Gattung aber unsterblich ist, dennoch zu einer Vollständigkeit der Entwickelung ihrer Anlagen gelangen" 31 . Die Vollkommenheit des Ganzen — so das Fazit von Kant — erfordert Hekatomben sinnloser, unglücklicher Leben. Dies ist der Punkt, an dem sich die Verachtung des Individuums in späteren Geschichtsmetaphysiken festmachen wird, allein, es ist auch der Punkt, wo das hartnäckige Erbe der Theodizee an seine äußerste Grenze gelangt: Gott, Natur, Geschichte — alle diese großen Ideen werden schlecht gedacht, solange sie, auf die eine oder andere Weise, m i t Verantwortung beladen werden dafür, daß das menschliche Leben nicht das gute Leben ist.
31
Kant, ebd., A 391 (S. 37).
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Peter Strasser
V I I . Wissen ist Macht Aufklärung minus Kosmodizee ist die Auffassung, Wissen sei Macht, Herrschaft über die Natur und mittelfunktionale Optimierung des sozialen Lebens. Die Gleichung mag nicht ganz aufgehen, dennoch ist sie keine Ungleichung. Wie die Tradition von Bacon bis Comte lehrt, ist die Vorstellung, die Vernunft empfange ihre Legitimation aus dem Beitrag, den sie zur Glücksbeförderung mittels Herrschaftsleistungen über die Kontingenzen der Welt erbringe, die Resultierende aus dem Bedürfnis, Vernunft als autonome Macht menschlicher Selbstbehauptung zu denken, ohne doch ihren Wahrheitsanspruch noch erkenntnismetaphysisch abstützen zu können oder zu wollen. Es läßt sich nicht leugnen, daß eine in diesem Sinne ^ragmatistisch' geschrumpfte Aufklärung letzten Endes dem fortgeschrittenen bürgerlichen Subjekt, welches Wahrheit und ökonomische Macht auf der einen Seite, Glück und Privatheit auf der anderen Seite zusammenschließt, ideologisch entgegenkommt. Die kapitalistische Revolution brachte eine lebensweltliche Orientierung zum Durchbruch, die das Geschäft der Vernunft in den Bezugsrahmen sozialdarwinistischer Normen einspannte. Wissen ist Macht, aber es ist auch Freiheit i n dem Umfange, i n dem es durch die Zersetzung ,metaphysisch* fundierter Hemmungen zur Optimierung einer auf blanke Mittelfunktionalität abstellenden Schlagfertigkeit und Reaktionsgenauigkeit führt. I m Aufstieg des Kapitalismus mögen religiös tradierte moralische Dispositionen eine wichtige Rolle gespielt haben 3 2 ; sie spielten sie jedenfalls nur solange, als sie zu den Funktionsimperativen des Systems nicht grundlegend in Widerspruch gerieten. Das Fundamentalgesetz der aufgeklärten kapitalistischen Mentalität hat das Manifest der Kommunistischen Partei aus dem Jahre 1848 denn auch bekanntlich so formuliert: „Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige w i r d entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen" 33 . Dies ist die eine, die ,realitätstüchtige' Seite der ernüchterten Aufklärung. Die andere, philosophische Seite eröffnet neue metaphysische Räume, und zwar i m Dienste einer sich ideologiekritisch gerierenden Aufklärung über die Aufklärung. 32 Vgl. hierzu Max Webers Abhandlung „Die protestantische E t h i k u n d der Geist des Kapitalismus", zuerst erschienen in: A r c h i v für Sozialwissenschaft u n d Sozialpolitik, Bd. 20 u. 21, Tübingen 1904 u. 1905; wiederabgedruckt i n Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, vierte, photomechanisch gedruckte A u f l . Tübingen 1947, S. 17 - 205. 33 MEW, Bd. 4 (Berlin 1974), S. 465.
A u f k l ä r u n g über die Aufklärung?
I m 19. Jahrhundert zerstörte der Durchbruch des Darwinismus endgültig eine der Grundüberzeugungen der Aufklärungsepoche. Wenn das oberste Gesetz allen Lebens, auch des menschlichen, das der Selbsterhaltung der Arten in einer unbarmherzig auf Vernichtung des Schlechtangepaßten ausgelegten Umwelt ist, dann ist auch die Vernunft des Menschen zuallererst ein Instrument der Selbsterhaltung und nicht ein Organ der Wahrheitserhellung und Glücksbeförderung. Von hier aus war es nur noch ein Schritt zu Nietzsches Verdacht, Konvergenz zu behaupten zwischen dem Gesetz des Lebens und dem Streben des Menschen nach Wahrheit, nach Glück, hieße, sich i n einem Universum dissonanter Lebensregungen, wo das Recht des Stärkeren das Naturrecht schlechthin ist, sich einem sentimentalen Wunschtraum anheimzugeben. Unter dem Stichwort ,Letzte Skepsis4 findet sich i n der Fröhlichen
Wissenschaft
die lapidare Notiz: „Was sind denn zuletzt die
Wahrheiten des Menschen? — Es sind die unwiderlegbaren des Menschen" 34 .
Irrtümer
Für das Verständnis Nietzsches und derer, die auf die eine oder andere Weise in seiner Nachfolge stehen, ist es wichtig zu sehen, wie der Begriff des Lebenskampfes aus seiner empirischen Verankerung gelöst und zu einer metaphysischen Leitidee wird, welche es gestattet, die seit der Aufklärung fraglich gewordene Rolle der Menschenvernunft als eines Teiles der lebenden Natur erkenntnistheoretisch neu zu bestimmen. Hatte sich die Aufklärung bemüht, die Rolle der Vernunft durch die Metapher des Lichtes, das die Wahrheit der Welt dem suchenden Blick des Menschen frei gibt, zu erfassen, so schließen sich nun, um die Stellung der Vernunft ihren Objekten gegenüber zu charakterisieren, i m epistemologischen Feld an die Idee des Lebenskampfes Begriffe 34 Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, Aphorismus 265 (zitiert nach Nietzsche, Werke, hg. v. K a r l Schlechta, Bd. 2, Ullstein-Buch Nr. 2908, S. 433). Besonders wichtig zu diesem Themenkreis sind auch aus Nietzsches „ F ü n f Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern" die Abhandlung „Über das Pathos der Wahrheit" sowie sein Aufsatz „Uber Wahrheit u n d Lüge i m außermoralischen Sinne". I n der zuerst genannten Schrift heißt es i n eindringlicher Verkettung des Skepsis-Motives m i t dem M o t i v des Lebenskampfes: „Dem Menschen geziemt aber allein der Glaube an die erreichbare W a h r heit, an die zutrauensvoll sich nahende Illusion. Lebt er nicht eigentlich durch ein fortwährendes Getäuschtwerden? Verschweigt i h m die Natur nicht das allermeiste, j a gerade das Allernächste, z.B. seinen eignen Leib, von dem er nur ein gauklerisches ,Bewußtsein' hat? I n dieses Bewußtsein ist er eingeschlossen, u n d die Natur w a r f den Schlüssel weg. Ο der verhängnisvollen Neubegier des Philosophen, der durch eine Spalte einmal aus dem Bewußtheits-Zimmer hinaus- und hinabzusehen verlangt: vielleicht ahnt er dann, w i e auf dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Ekelhaften, dem Erbarmungslosen, dem Mörderischen der Mensch ruht, i n der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens u n d gleichsam auf dem Rücken eines Tigers i n Träumen hängend." (Werke, Bd. 3, Ullstein-Buch Nr. 2909, S. 979.)
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Peter Strasser
wie »Herrschaft' und ,Gewalt' an. Indem jene Idee ins Quasi-Transzendentalphilosophische entgleitet, w i r d kehrterhand die Kantische Vernunft scheinhaft wieder auf die Erde herabgeholt: zwischen den allgemeinsten Bestimmungselementen der Vernunft des Menschen und noch den primitivsten Regungen des Lebens besteht hinsichtlich ihres Telos kein prinzipieller Unterschied mehr — stets geht es darum, sich die Welt i m Kampf ums Überleben gefügig zu machen, ansonsten die Welt ihren tödlichen Preis fordern und auch erringen würde. Nietzsches Metaphysik der Macht inaugurierte eine Bilderwelt, die sich von disparaten philosophischen Schulen mit ganz unterschiedlichen Kritikambitionen gegenüber Humanismus und Aufklärung ausbeuten ließ. „ W i r müssen uns nicht einbilden", sagt noch — siebzig Jahre nach Nietzsches Tod — Michel Foucault in seiner Antrittsrede am Collège de France, „daß uns die Welt ein lesbares Gesicht zuwendet, welches w i r nur zu entziffern haben. Die Welt ist kein Komplize unserer Erkenntnis. Es gibt keine prädiskursive Vorsehung, welche uns die Welt geneigt macht. Man muß den Diskurs als eine Gewalt begreifen, welche w i r den Dingen antun; jedenfalls als eine Praxis, die w i r ihnen aufzwingen" 3 5 . I n diesen Sätzen Foucaults ist auch enthalten, daß dem Menschen jene Wahrheit der Welt für immer verborgen bleiben wird, welche die große abendländische Philosophie und eben auch noch die Aufklärung so oft i m Auge hatten, wenn sie vom Wesen der Dinge sprachen. Die Wahrheiten, welche die menschliche Vernunft ans Licht zu zerren vermag, sind demnach stets das Produkt einer vorgängigen Zurichtung der Welt durch Begriffe, Kategorien, Urteilsformen, welche dem Menschen zwar günstigenfalls erlauben, Macht über die Welt zu erringen, jedoch das Wesen der Welt nicht zu fassen vermögen. Man mag derlei ,Überwindungen' der Aufklärung als ihrerseits zutiefst ideologische Spekulationen einstufen 36 . Aber zu welchem Ergeb35 Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses [Inauguralvorlesung am Collège de France, 2. Dez. 1970], Frankfurt am Main, B e r l i n u. Wien 1977, S. 37. 36 Erwähnt sei hier n u r noch die überaus einflußreiche „ D i a l e k t i k der A u f k l ä r u n g " v o n Max Horkheimer u n d Theodor W. Adorno aus dem Jahre 1947. Was die Analyse der neuzeitlichen Rationalität i n der „ D i a l e k t i k der A u f k l ä r u n g " von derjenigen strukturalistischer Denker wie Foucault allerdings i m K e r n trennt, ist der Umstand, daß der i n der Vernunft wirksame W i l l e zur Macht einmal als historisches Phänomen, als Sündenfall des Menschen i n der Geschichte seiner Gattung begriffen w i r d , während er das andere M a l eher als eine unhintergehbare Konstante der conditio humana i n Erscheinung t r i t t . Das ideologische Moment an der A u f k l ä r u n g w i r d folglich die eine, die strukturalistische Seite i n der sich humanistisch gebärdenden Selbstapotheose des Bürgers erblicken, i n dessen autonomem V e r n u n f t gebrauch das dem Menschen zugewandte Wesen der Welt sich selbst transpa-
A u f k l ä r u n g über die Aufklärung?
nis man auch immer gelangen wird, man sollte sich gleichzeitig der Tatsache bewußt bleiben, daß es die Aufklärung war, die ein Problem in die Welt brachte, an dem sich selbst w i r Heutige, ob Freund, ob Feind, noch abarbeiten müssen: das Problem nämlich, was es jenseits aller metaphysischen Unterstellungen für den Menschen bedeuten kann, autonom und vernünftig zu sein, wenn der Mensch ganz und gar von dieser Welt, das heißt aber auch: ein Gefangener der ewigen Gesetze der Natur und des Lebens ist 3 7 .
V I I I . Schlußbemerkung Es scheint m i r unzweifelhaft, daß von der Lösung dieses Problems abhängt, ob Ideologiekritik sich ihrem ursprünglichen Anspruch gemäß epistemologisch zu rechtfertigen vermag. Als zweifelhaft allerdings mag erscheinen, ob dieses Problem ein solches ist, das die Menschenvernunft lösen kann. Wer dieser Vermutung seine Zustimmung erteilt, der w i r d deswegen nicht schon in Kritiklosigkeit versinken müssen. Gerade i n Ansehung des Umstandes, daß das Licht der Vernunft, wo immer es die Bühne der Welt und unseres Lebens erhellt, ein vielfach gebrochenes ist, kann Defätismus nicht die letzte und einzig mögliche Haltung sein. „Die Welt", schrieb Heinrich Heine i n Anspielung auf eine der Arbeiten des Herakles, „ist ein großer Viehstall, der nicht so leicht wie der des Augias gereinigt werden kann, weil, während gefegt wird, die Ochsen drin bleiben und immer neuen M ü l l anhäufen" 3 8 . Was anderes, wenn w i r nicht i m M ü l l der sogenannten Weltanschauungen ersticken wollen, bleibt uns übrig, als die Arbeit zu verrichten, welche eher an die Anstrengungen des Sisyphos erinnert als an die heroischen Taten des Herakles?
rent werden soll; wogegen die andere Seite, die einer Kritischen Theorie der Gesellschaft, i m Autonomieideal der A u f k l ä r u n g gerne die Heiligung der entfesselten instrumentellen Vernunft u n d i m Bürger deren rücksichtslosen Exekutor beklagt. 37 Ansätze zu einer naturalistischen Erkenntnistheorie jenseits von metaphysischer Spekulation scheinen vorerst allerdings i m Programmatischen zu verharren. Sieht m a n einmal v o n W. I. Lenins „Materialismus u n d Empiriokritizismus" und ähnlichen Versuchen, die aus philosophischem Unverstand und ideologischem Ressentiment geboren sind, ab, dann bleiben, soweit ich sehe (und ich sehe hier vielleicht zu kurz), v o r allem vage Andeutungen en passant, Verwechslungen von Erkenntnistheorie m i t Entwicklungspsychologie sowie fragwürdige Harmonisierungen des philosophischen Räsonnements m i t dem naturwissenschaftlichen Gemeinverstand. 38 Heinrich Heine, Aufzeichnungen, in: Sämtliche Schriften, hg. v. Klaus Briegleb, Bd. 6/1, München 1975, S. 627.
KELSENS NEUE I D E O L O G I E K R I T I K I N DER „ A L L G E M E I N E N THEORIE DER NORMEN" Von Robert Walter, Wien I. I n Kelsens Lehre kam das Problem der Ideologie immer wieder — und zwar in einer zweifachen Weise — ins Spiel: 1. Zum einen hatte Kelsen von seiner Lehre den Vorwurf der Ideologie abzuwehren; 2. Zum anderen wendete er sich gegen verschiedene Lehren, um diesen den Vorwurf der Ideologie zu machen. II. Der gegen Kelsens Reine Rechtslehre mehrfach erhobene Ideologievorwurf gründet sich insbesondere auf folgende Punkte: 1. Kelsen verwendet als Grundbegriff das „Sollen". Dieser Grundbegriff w i r d verschiedentlich als „ideologisch" angesehen. Dieser Vorwurf erscheint aus folgenden Gründen unzutreffend: Die Reine Rechtslehre geht von der Annahme aus, daß das Phänomen des Rechts nur dann seinem intentionalen Sinne gemäß gedeutet werden kann, wenn man die Kategorie des Sollens einführt. Dies geschieht explicit. Es steht daher jedem frei, die Grundannahme zu akzeptieren oder eine andere A r t der Beschreibung der Phänomene zu wählen. Mit der klargestellten Einführung des „Sollens" in die Lehre w i r d nichts verhüllt und keine subjektive Wertung eingeführt. Der Vorwurf der Ideologie erscheint daher nicht gerechtfertigt. 2. Kelsen schlägt bekanntlich vor, die zwangsbewehrten effektiven Anordnungssysteme als normative Systeme zu deuten; dies geschieht vermittels der Grundnorm , die — zwecks normativer Deutung solcher Systeme — diesen als Annahme (Hypothese, Fiktion) vorausgestellt wird. Die Systeme werden also so gedeutet, „als ob" sie gelten würden. Die Grundnorm stellt keine Rechtfertigung der effektiven Systeme dar, sondern ermöglicht nur ihre Deutung als Sollsysteme. Da die Frage
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der Geltung (oder: „Wahrheit") der beschriebenen Systeme jedoch offenbleibt, w i r d keine subjektive Wertung eingeführt und nichts im Unklaren gelassen. Obgleich Kelsen selbst die so beschriebene Rechtsordnung als eine „Ideologie der Macht" bezeichnet hat, ist die Qualifikation „Ideologie" unzutreffend. III. Die Lehren, die von Kelsen i m Laufe seines langen Wirkens als nicht objektive, sondern von subjektiven Werturteilen beeinflußte und den Gegenstand der Erkenntnis deshalb verzerrende „Ideologien" bekämpft wurden, sind zahlreich. Eine Reihe von Denkern, mit welchen Kelsen sich ideologiekritisch auseinandergesetzt hatte (z. B. Plato , Aristoteles, Kant), spielt auch in der „Allgemeinen Theorie der Normen" (1979) eine Rolle; es ist aber nicht — jedenfalls nicht in erster Linie — eine ideologiekritische Auseinandersetzung mit diesen Lehren, die dabei i m Vordergrund steht, sondern die Problematik der Erfassung des „Sollens" als Kategorie. Demgegenüber fällt aber eine neue — einer moderneren Lehre gewidmete — ideologiekritische Passage ins Auge: Es ist Kelsens Auseinandersetzung mit Esser; diesem w i r d vorgeworfen, i n seinem bekannten Werk „Grundsatz und Norm i n der richterlichen Fortbildung des Privatrechts" (1956) — unrichtigerweise — Rechts-Grundsätze oder Rechts-Prinzipien als Bestandteile des positiven Rechts anzunehmen. Mit dieser K r i t i k sollen sich die gegenständlichen Überlegungen beschäftigen. (Im folgenden w i r d Kelsen stets mit der „Allgemeinen Theorie der Normen", Esser mit seinem vorerwähnten Werk zitiert.) 1. Man kann vielleicht mit einer „Außerstreitsteilung" beginnen: Kelsen leugnet keineswegs den Umstand — u m den es Esser auch geht — nämlich: daß „die Erzeugung von generellen und individuellen Rechtsnormen" — sprechen w i r vereinfacht von Gesetzen und Urteilen — „durch Prinzipien der Moral, Politik und Sitte beeinflußt" werden (S. 92). I m einzelnen trennen sich aber die Wege. 2. Zunächst kritisiert Kelsen den Esserschen Begriff der „Grundsatzentscheidungen" (S. 26). Zu diesen sagt Esser: „,Grundsatzentscheidungen' gibt es heute in einem doppelten Sinne: einem hergebrachten, als Festlegung eines Maßstabes oder Interpretationsergebnisses in einer bisher uneinheitlich behandelten konkreten Rechtsfrage und einem neuartigen als Ausprägung eines bisher nur i n Einzelfällen für positives Recht erachteten Grundsatzes zum positiven »allgemeinen Rechts-
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gedanken'" (S. 26). Das, was an der Aussage Essers stören muß, ist die — zweimalige — Qualifikation des Grundsatzes als „positives" Recht. War der „Grundsatz", u m den es geht, vorerst nicht „positives Recht" — und dafür sprechen Essers vorausgehende Ausführungen, insbesondere z. B. der Hinweis auf die Herkunft der Prinzipien aus der „Juristenweisheit und Standeskunst" (S. 25 Anm. 73) — dann fragt sich, wie sie zu positivem Recht wurden. Doch wohl nicht dadurch, daß sie — i m zweiten Sinne von Grundsatzentscheidung — in Einzelfällen für positives Recht „erachtet" wurden; positives — also „gesetztes" — Recht ist die Entscheidung, in die der Grundsatz eingeflossen ist. Dadurch wurde aber der Grundsatz selbst nicht positives Recht. Dabei spielt es auch keine Rolle, ob der — vorrechtliche — Grundsatz als nur für bestimmte Einzelfälle gültig angesehen wurde oder als allgemein relevant. Entschieden — und damit positivrechtlich erledigt — wurde nur die jeweilige Entscheidung der Sache, in deren Begründung ein — enger oder weiter angenommener — Grundsatz eine Rolle gespielt hat. Positives Recht ist nur die Entscheidung des Einzelfalles. Die Begründung — und auch ihre speziellere oder allgemeinere Fassung — mag in weiterer Folge, eben wieder als „Rechtsprinzip", faktische Wirkung entfalten, ist aber deswegen nicht positives Recht geworden. Selbst wenn — i n einem case-law-System — eine ständige Judikatur, die einem bestimmten Rechtsprinzip folgt, eine entsprechende generelle Regel erzeugt, dann ist es nicht das Rechtsprinzip als solches, das die generelle Regel bildet, sondern sein Inhalt ist — über die Aufnahme i n die ständige Judikatur — Recht geworden. I n diesem Zusammenhang spielt Essers Transformationstheorie eine Rolle, auf die zurückzukommen ist. 3. Gegen die Sicht Essers wendet Kelsen auch ein, daß zum einen divergierende Rechtsprinzipien auf zu treffende Entscheidungen des Gesetzgebers und des Richters einwirken können. Und daß es auch nicht nur Rechtsprinzipien sind, die auf solche Entscheidungen einwirken, sondern auch Interessen, welchen man den Charakter von Rechtsprinzipien nicht zuerkennt. Jedoch wie immer: Rechtsprinzipien oder Forderungen der Gerechtigkeit — oder besser: einer Gerechtigkeit oder nackte Interessen — bleiben das was sie waren, auch wenn sie den Inhalt positiven Rechts beeinflußt haben. W i l l man manche Teile des positiven Rechts als einem Rechtsprinzip entsprechend hervorheben, andere als diesem Rechtsprinzip nicht entsprechend kennzeichnen, dann nimmt man eine Bewertung des Rechtes vor, setzt also Akte der Bewertung, nicht der (dogmatischen) Erkenntnis. 4. Gegen Essers Vorstellung, daß die Normen des positiven Rechts Grundsätze transformieren, wendet Kelsen ein, daß damit dem Bild
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gefolgt wird, daß Recht „erzeugt'' oder „geschöpft" werde und man daher nach dem Material, aus dem erzeugt oder der Quelle, aus der geschöpft wird, fragen müsse. Man könnte dann meinen, daß positives Recht, wenn aus ethischen Grundsätzen geschaffen, diese gewissermaßen „transformiert" habe. Aber darauf kommt es — wie schon erwähnt — für die Geltung positiven Rechts nicht an. Es fragt sich vielmehr, welchem Prinzip die Rechtserzeugung gefolgt ist. Hier zeigt sich bei Esser, daß er manche Prinzipien „bevorzugt": Diese müssen nämlich u. a. „spezifisch juristischer Argumentation aus den Gesichtspunkten der Gerechtigkeit und Angemessenheit zugänglich sein" (S. 69; vgl. auch S. 69 Anm. 214). Dergestalt erweisen sich die Grundsätze schließlich als Naturrecht, dem das positive Recht entsprechen müsse. Essers Lehre zeigt sich für Kelsen somit letztlich als eine — wenn auch verhüllte — Naturrechtslehre (S. 98). 5. Gegen Kelsens K r i t i k könnte man einwenden, er habe Esser zu sehr „beim Wort genommen", was gerade Essers Buch mit seinen allzu vielen Worten (diese werden auch von wohlwollenden Beurteilern festgestellt: vgl. Wieacker, Gesetzesrecht und richterliche Kunstregel, JZ 1957, S. 701 ff.) wenig vertrage. Aber gerade aus den vielen Worten w i r d — immer wieder — deutlich, worum es Esser zwar nicht nur, immerhin aber auch geht: Um die Rettung eines — wie es Wieacker (S. 706) genannt hat — „Restbestandes von Naturrecht, d. h. zeitloser materialer Gerechtigkeit". Insoferne hat Kelsen ein Anliegen Essers doch treffend und übereinstimmend mit dem zustimmenden K r i t i k e r Wieacker gesehen und daher zu Recht die Frage aufgeworfen, um welches Naturrecht es gehe und ob die oft beschworene „Natur der Sache" nicht nur jene „Natur" ist, die der Betrachter in der „Sache" sehen w i l l . Auch in der Beurteilung durch Larenz (Methodenlehre der Rechtswissenschaft 4 , 1979, S. 133 ff.) w i r d das naturrechtliche Anliegen Essers deutlich, wenn er zur Lehre Essers unter anderem schreibt: „Die Vorstellung, daß das kodifizierte Recht ausschließlich aus sich selbst — sei es aus den Vorstellungen des Gesetzgebers, sei es aus seinem ,immanenten Sinngehalt' — ausgelegt, praktiziert u n d fortgebildet werden könne, dürfte nach dem Buche von Esser i n der Tat nicht aufrechtzuerhalten sein. Der Richter ist auch bei einem kodifizierten Recht oft genötigt, auf außergesetzliche Bewertungsgrundlagen zurückzugreifen, u n d zwar nicht nur dort, wo i h n das Gesetz ausdrücklich auf solche verweist. Das schließt indessen nicht aus, daß er sich soweit als möglich an die den Gesetzen, insbesondere der Verfassung zugrunde liegenden Wertentscheidungen hält, die Jurisprudenz diese zu verdeutlichen u n d weiter zu entwickeln hat. Bei Esser t r i t t dieses ursprüngliche Anliegen der Wertungsjurisprudenz mehr u n d mehr hinter die Verweisung auf die »außerpositiven 4 Wertungen zurück. Jedoch hat Esser auch gezeigt, daß der Richter da, wo i h m das Gesetz keine hinreichende A n l e i t u n g gibt oder geben kann, nicht allein auf sein Rechts-
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gefühl, auf seine subjektive Meinung und Wertung angewiesen ist. Es gibt bis zu einem gewissen Grade objektivierbare, i n der Beurteilung eines konkreten Falles nachvollziehbare Entscheidungsmaximen u n d Bewertungsgrundsätze, an die sich der einzelne Richter ,halten' kann."
I n dieser Beurteilung w i r d einiges an Problemen deutlich: Daß Larenz Esser zugute hält, daß er die Vorstellung einer bloßen Ableitung des Rechts zerstört habe, w i r k t verwunderlich: Die Reine Rechtslehre — und nicht nur sie — hat das längst vor Essers Buch getan. Daß Larenz gegen Esser auf die Wertentscheidungen des Gesetzes verweisen muß, die bei Esser hinter die Verweisung auf die außerpositiven Wertungen zurücktreten, zeigt deutlich, daß Larenz das Naturrechtliche in der Lehre Essers erkennt. 6. Letztlich zeigt also auch die Auffassung der Lehre Essers durch Dritte, daß Kelsen i n seiner Annahme, eine verschleierte Naturrechtslehre vor sich zu haben, recht hatte. Inwieweit man dagegen positive Aspekte des Esser sehen Werkes „aufrechnen" kann, w i l l ich nicht untersuchen. Nicht untersuchen möchte ich auch — und kann es i m gegebenen zeitlichen Rahmen auch nicht — die — dogmatische — Frage nach dem Rechtsquellencharakter der Judikatur i n einem kontinentaleuropäischen Rechtssystem. Diese Frage, die an Essers Ausführungen öfters angeknüpft wurde, bedarf einer eigenen eingehenden Untersuchung.
I I . Demokratie und Rechtssystem
RECHTSNORM UND RECHTSVERHÄLTNIS I N DEMOKRATIETHEORETISCHER SICHT Von Norbert Achterberg, Münster I. Vorbemerkung 1. Die Lage der Demokratietheorie im allgemeinen
Die vor wenigen Jahren gestellte Diagnose „Demokratietheorie i n der Sackgasse?" führte trotz des mit ihr verbundenen Fragezeichens zu dem Ergebnis, daß sich ein „pluralistisch-total-direktes" und ein „pluralistisch-partiell-repräsentatives" Demokratiemodell gegenüberstehen — wobei die Voraussetzungen und Folgen einer Demokratisierung von Subsystemen noch dahingestellt blieben 1 . Die mit Recht konstatierte Unsicherheit — schon i n der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts anzutreffen in dem Gegensatz zwischen dem Wertrelativismus der Neukantianer und der Wertbestimmtheit der Neuhegelianer, die sich bis in die Gegenwart in der Unterscheidbarkeit relativistischer und dogmatistischer Rechtssysteme fortsetzt 2 — drängt zur Besinnung. Kelsens differenzierendes Demokratieverständnis bildet dabei einen Ansatzpunkt, von dem aus Versuche unternommen werden können, Demokratie zu begreifen. Die i m folgenden anzustellenden Überlegungen machen es sich zur Aufgabe, nicht nur die Reine Rechtslehre, sondern auch die Rechtsverhältnistheorie auf demokratietheoretische Aussagen zu prüfen.
1 D. Grosser, Demokratietheorie i n der Sackgasse?, in: öffentliches Recht und Politik, Festschrift für Hans Ulrich Scupin, hrsg. N. Achterberg, 1973, S. 107 ff. (116 ff.). 2 Z u m Thema W. Bauer, Wertrelativismus u n d Wertbestimmtheit i m K a m p f u m die Weimarer Demokratie. Zur Politologie des Methodenstreites der Staatsrechtslehrer, 1968, m i t ausführlicher Darstellung des Wertrelativismus der Neukantianer G. Jellinek, M. Weber, G. Radbruch u n d vor allem H. Kelsen sowie der Wertbestimmtheit der Neuhegelianer E. Kaufmann u n d R. Smend. — Zur Verwendbarkeit der Reinen Rechtslehre i n relativistischen und dogmatistischen Rechtssystemen N. Achterberg, Kelsen und M a r x , P o l i t i k und K u l t u r 1975, Heft 2, S. 40 ff. (abgedr. auch in: ders., Theorie u n d Dogmatik des Öffentlichen Rechts, 1980, S. 73 ff.), sowie Reine Rechtslehre u n d marxistische Rechtstheorie (Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Bd. 3), 1978 (und dazu meine Rezension, in: Der Staat 20 [1981], 119 ff.).
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Norbert Achterberg 2. Die Demokratietheorie Hans Kelsens
I n der Idee der Demokratie — so Kelsen — vereinigen sich Freiheit und Gleichheit als Postulate der praktischen Vernunft, wobei die zwischen beiden bestehenden Antinomien trotz des Rückbezugs auf diesen gemeinsamen Nenner anerkannt werden, obwohl Kelsen — unter Bezugnahme auf Cicero — ihre sich i n der Demokratie vollziehende Synthese weitaus deutlicher hervorhebt, als dies sonst üblich ist 3 . I n der arbeitsteiligen Demokratie, zu der auch die repäsentative zählt, sieht er „notwendigerweise eine Einschränkung der Freiheit" 4 — dies deshalb, weil Freiheit offenbar am sichersten in der Hand des Volkes selbst verbürgt ist, ohne daß er damit jedoch die Unumgänglichkeit seiner Repräsentation i m modernen Staat verkennt. Indessen ist dies nur ein Wesensmerkmal der Demokratie; ein anderes bildet der mit ihr verbundene — und i m Grunde eben aus dieser Freiheit folgende — Wertrelativismus 5 . Ausgangspunkt ist dabei die Überlegung, daß der Glaube an absolute Wahrheit und absolute Werte die Voraussetzung für eine metaphysische, wenn nicht gar mystische Weltanschauung schafft und damit einer autokratischen Haltung zuzuordnen ist, während die Meinung, daß nur relative Wahrheiten und Werte der menschlichen Erkenntnis erreichbar sind, demgegenüber einer demokratischen Einstellung zuzurechnen ist. I n diesem Sinne formuliert Kelsen: „Wer absolute Wahrheit und absolute Werte menschlicher Erkenntnis für verschlossen hält, muß nicht nur die eigene, muß auch die fremde, gegenteilige Haltung zumindest für möglich halten. Darum ist der Relativis3
Vgl. hierzu vor allem H. Kelsen, V o m Wesen u n d W e r t der Demokratie 2. Aufl., 1929 (dort S. 4 die Bezugnahme auf M. T. Cicero); dersZur Soziologie der Demokratie, in: Der österreichische V o l k s w i r t 19 (1926), 209 ff. (abgedr. auch in: Die Wiener rechtstheoretische Schule, hrsg. H. K l e c a t s k y / R. M a r c i c / H . Schambeck, 1968, S. 1729 ff.); ders., Demokratie, in: Schriften der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, I. Serie, V. Bd., Verhandlungen des Fünften Deutschen Soziologentages, 1927, S. 37 ff. (abgedr. auch ebd., S. 1743 ff.). 4 H. Kelsen, V o m Wesen u n d Wert der Demokratie (s. vorige Anm.), S. 29. 5 Z u r inneren Verbundenheit v o n Demokratie u n d Relativismus (sowie Pluralismus als dessen soziologischer Entsprechung) i m deutschen Staatsrecht BVerfGE 5, 85 (135, 204 f.); 12, 113 (125); N. Achterberg, Das rahmengebundene Mandat, 1975, S. 34 f.; E. Fraenkel, Der Pluralismus als S t r u k t u r element der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie, Festvortrag auf dem 45. Deutschen Juristentag, Karlsruhe 1964, Bd. I I / B , 1964, S. Β 8, 17; Κ. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1977, § 18 I I 6 f., S. 465, der dort der These Fraenkels zustimmt, gleichwohl aber § 18 I I 7, S. 467, annimmt, daß das Grundgesetz m i t dem Relativismus der Weimarer Reichsverfassung „ r a d i k a l gebrochen" habe. Diese strikte Gegenüberstellung, v o n der aus K. Stern, § 18 I I 7, S. 469 f., „Gefahren" der Kelsenschen Lehre hervorhebt, ist überzeichnet. Richtigerweise muß m a n — w i e i m folgenden dargelegt — den Wertabsolutismus nicht als Antinomie, sondern als Bedingungsrahmen des Wertrelativismus anerkennen.
Rechtsnorm u n
Rechtsverhältnis i n demokratietheoretischer Sicht
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mus die Weltanschauung, die der demokratische Gedanke voraussetzt. Demokratie schätzt den politischen Willen jedermanns gleich ein . . . Darum gibt sie jeder politischen Überzeugung die gleiche Möglichkeit, sich zu äußern und i m freien Wettbewerb . . . geltend zu machen 6 ." 3. Zwischenergebnis
Als Zwischenbilanz läßt sich festhalten, daß Kelsens Demokratietheorie — die nicht nur aus dem Anlaß dieses Symposiums, sondern auch deshalb in den Vordergrund gestellt werden soll, weil auch neuere Denkansätze nicht wesentlich über sie hinaus gelangt sind (die erwähnte These von der Demokratietheorie i n der Sackgasse erweist dies zur Evidenz) — den Wertrelativismus als mit der Demokratie untrennbar verknüpft erachtet. Der Pluralismus als soziologisches Korrelat des Relativismus entspricht dem durchaus, Partizipation — von sozialwissenschaftlicher Seite zu den Prinzipien der Demokratie gerechnet 7 — ist i m Grunde nur Konsequenz dieses Pluralismus. Wo kein solcher herrscht, besteht auch kein Partizipationsstreben, nicht einmal ein Partizipationsbedürfnis. Dennoch darf nicht übersehen werden, daß Wertbestimmtheit — korrespondierend zum Wertrelativismus auch als „Wertabsolutismus" zu bezeichnen — dessen notwendige Voraussetzung ist. Sie bildet die Grenze, gleichsam die „Kuppel", innerhalb deren sich Wertrelativismus überhaupt zu entfalten vermag 8 . Unter diesem Blickwinkel stellen beide keine Gegensätze dar; vielmehr ist Wertbestimmtheit geradezu Bedingung für Wertfreiheit. Dies klar zu erkennen, ist nicht nur demokratietheoretisches, sondern überhaupt rechtstheoretisches und rechtsphilosophisches Gebot. Die Konsequenz hieraus ist, nicht nur die „Offenheit der Verfassungsordnung" 9 , sondern 8 H. Kelsen, V o m Wesen u n d Wert der Demokratie, S. 101. Vgl. dazu auch den bei N. Achterberg, in: P o l i t i k u n d K u l t u r 1975, Heft 2, S. 40 (abgedr. auch in: ders., Theorie u n d Dogmatik des öffentlichen Rechts, 1980, S. 73), sowie R. A. Métall, Hans Kelsen und seine Wiener Schule der Rechtstheorie, in: Hans Kelsen zum Gedenken (Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Bd. 1), 1974, S. 15 (24) abgedruckten Brief H. Kelsens an F. Weyr, i n dem derselbe Gedankengang wiederkehrt. 7 W. Steff ani, Parlamentarische Demokratie — Z u r Problematik von Effizienz, Transparenz u n d Partizipation, in: ders. (Hrsg.), Parlamentarismus ohne Transparenz ( = K r i t i k Bd. I I I ) , 1971, S. 17 ff. Aus rechtswissenschaftlicher Sicht: R. Walter / W. Schmitt Glaeser, Partizipation an Verwaltungsentscheidungen, V V D S t R L 31, 147 ff., 179 ff. (insb. 149 ff., 209 ff.). Vgl. auch noch W. Manti, Die Partizipation i n der Verwaltung, in: F. Ermacora / G. W i n k l e r / F . K o j a / H . P. R i l l / B.-C. F u n k (Hrsg.), Allgemeines V e r w a l tungsrecht, 1979, S. 485 ff. (der S. 494 ausführlich auf H. Kelsen u n d A . Merkl eingeht). 8 So bereits N. Achterberg (s. o. A n m . 5) unter Abstützung dieser These auf die „wachsame" oder „streitbare" Demokratie. 9 Vgl. i n dieser Richtung aber v o r allem P. Häberle , Öffentlichkeit u n d
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auch deren Geschlossenheit in den Blick zu nehmen. Rechtsnorm und Rechtsverhältnis als Bausteine der Rechtsordnung sollen daher im folgenden auf diese beiden Kriterien geprüft werden. II. Die Rechtsnorm in demokratietheoretischer Sicht 1. Elemente der Offenheit
Als Elemente der Offenheit der Rechtsnormen erweisen sich Öffnungen des Normstufenbaus in rechtlicher und in metarechtlicher Hinsicht, unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen durch ihre fallbezogene Normkonkretisierung sowie die topische Interpretation. a) Öffnung
des Normstufenbaus
in rechtlicher
Hinsicht
Auch demokratietheoretisch relevant ist zunächst die üblicherweise zur Rechtsstaatlichkeit in Beziehung gesetzte Gestaltung des Normstufenbaus 10 . Freiheit als Postulat der Demokratie bedingt eine Offenheit des Rechtserzeugungsprozesses dergestalt, daß m i t ihr auf unterschiedlichste soziale Lagen angemessen reagiert werden kann, solche aber zugleich auch sachgerecht gesteuert zu werden vermögen. Der von der Merkl-Kelsenschen Stufenbaulehre beschriebene Normstufenbau entspricht — wie Kelsen selbst hervorgehoben hat — nur der Rechtswesenhaftigkeit, von der die Rechtsinhaitlichkeit abweichen kann 1 1 . Anders ausgedrückt: Er bildet einen Idealtyp, mit dem der jeweilige Realtyp nicht übereinzustimmen braucht. So kann die idealtypische Stufenfolge Verfassung — Gesetz — Verwaltungsakt — richterliches Verfassung, ZfP 16 (1969), 273 ff.; ders., Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 75, 297 ff. (beide abgedr. auch in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß. Materialien zu einer Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft, 1978, S. 155 ff., 225 ff.; ebd. auch weitere einschlägige Arbeiten); ders., Die Verfassung des Pluralismus. Studien zur Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft, 1980. 10 Vgl. dazu H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, S. 238, 243; A. Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues, in: Gesellschaft, Staat u n d Recht. Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre (Festschrift Hans Kelsen), 1931, S. 252 ff. (275); R. Walter, Der Aufbau der Rechtsordnung. Eine rechtstheoretische Untersuchung auf Grundlage der Reinen Rechtslehre, 2. Aufl., 1974, S. 53 ff. 11 H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 256. Er weist i n diesem Zusammenhang auf den I r r t u m der überkommenen Gewaltenteilungslehre hin, die eine logische Unabhängigkeit der Gesetzgebung v o n der Vollzieh u n g glaubte behaupten zu können, n u r u m die rechtstechnische Unabhängigkeit der Vollziehungs- v o n den Gesetzgebungsorganen begründen zu können. Ä h n l i c h A . Merkl, in: Festschrift Hans Kelsen, S. 272 f., 278, der S. 268 sogar noch hierüber hinausgeht, indem er den Stufenbau nicht als rechtsimmanent, sondern als willkürliches, verwandlungsfähiges Produkt der Rechtsordnung bezeichnet.
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Urteil durch Einschub weiterer Stufen gedehnt werden: Beispiele hierfür bilden diejenige der Verordnung zwischen Gesetz und Verwaltungsakt, aber auch die Verdoppelung der Gesetzesstufe, indem eine Regelung durch Rahmengesetz und ausfüllendes Gesetz erfolgt. Umgekehrt kann der idealtypische Normstufenbau durch Weglassen von Stufen verkürzt werden. Beispiel hierfür ist der — zwar seltene, aber immerhin mögliche — unmittelbare Verfassungsvollzug 12 dadurch, daß ein Verwaltungsakt sich ohne Mediatisierung durch die Gesetzesstufe unmittelbar auf die Verfassung stützt. Darüber hinaus ist die Rolle der Rechtsprechungsorgane einzubeziehen. Begreift man die Rechtserzeugung nicht als linear, sondern als kybernetisch — als einen Regelkreis, in dem die Gerichte als (wenn auch nicht einzige) Regler fungieren 1 3 —, so w i r k t dessen rückkoppelnder Strang, durch den die Gerichte auf die vorgeordneten Normen und Normerzeuger einzuwirken vermögen, abermals als Öffnung des Normstufenbaus i m Sinne erhöhter Reagibilität auf gesellschaftliche Vorgaben. Insgesamt erweist sich hiermit der Rechtserzeugungsprozeß als höchst sensibler Mechanismus, durch den eine wertrelativistische und pluralistische Staatsform wie die Demokratie ihr sachentsprechendes Steuerungsinstrument erhält. b) Öffnung
des Normstufenbaus
in metarechtlicher
Hinsicht
I n dieselbe Richtung zielt die autonome Determinante 1 4 , die jeder Normerzeugungsstufe eigen ist und durch die auf jeder solchen auch metarechtliche Elemente i n die Rechtsordnung induziert werden können. Die autonome Determinante entspricht insoweit dem i n Kelsens „Allgemeine Theorie der Normen" anzutreffenden modal indifferenten 12
Dazu BVerfGE 8, 210 (216 f.); 17, 280 (284); N. Achterberg, Der V e r w a l tungsvorakt, DÖV 71, 397 ff. (404) = ders., Theorie und Dogmatik des Öffentlichen Rechts, 1980, S. 506 ff. (525); ders., Bundesverfassungsgericht und Zurückhaltungsgebote. Judicial, political, processual, theoretical self-restraints, DÖV 77, 649 ff. (652, 654) = ders., Theorie u n d Dogmatik des Öffentlichen Rechts, 1980, S. 396 ff. (404, 409). 13 Zur Rechtserzeugung als Regelkreis N. Achterberg, Rechtsprechung — Desiderat der Wissenschaft, in: ders., Theorie u n d Dogmatik des öffentlichen Rechts, 1980, S. 179 ff. (180, 195); ders., DÖV 77, 654 = ders., Theorie und Dogmatik des Öffentlichen Rechts, 1980, S. 407 f. 14 Z u dieser H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 243, sowie N. Achterberg, Rechtstheoretische Probleme einer Kontrolle der Gesetzgebung durch die Wissenschaft, Rechtstheo rie 1 (1970), 147 ff. (149 ff.) = ders., Theorie und Dogmatik des Öffentlichen Rechts, 1980, S. 41 ff. (43 f.); ders., Hans Kelsens Bedeutung i n der gegenwärtigen deutschen Staatslehre, DÖV 74, 445 ff. (454) = ders., Theorie u n d Dogmatik des Öffentlichen Rechts, 1980, S. 51 ff. (71); J. Behrend, Untersuchungen zur Stufenbaulehre Adolf Merkls und Hans Kelsens, 1977, S. 87 ff.; P. Bernard, Gebundenheit und Ermessen, in: F. E r m a c o r a / G . W i n k l e r / F. K o j a / H . P. R i l l / B.-C. F u n k (Hrsg.), A l l g e meines Verwaltungsrecht, S. 89 ff. (89 f.); F. Eberhard . Grenzen der V e r w a l tungsgerichtsbarkeit, ebd., S. 599 ff. (609, 611).
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Substrat 15 , beide wirken sich gleichsam als Brücken zwischen Sein und Sollen aus. Dies w i r d an anderer Stelle noch vertieft werden, hier mag es zunächst bei dieser Feststellung bewenden. I n diesem Zusammenhang wichtig ist vor allem, daß demgemäß nahezu jede Rechtserzeugungsstufe sowohl rechtlich als auch metarechtlich determiniert w i r d und daß zu den — wegen der Ambivalenz von Normanwendung und Normsetzung 16 — von ihr hervorgebrachten Rechtsnormen Metarechtsnormen als Determinanten hinzutreten. Die Einschränkung durch die Wörter „nahezu alle" bezieht sich dabei darauf, daß sowohl die hypothetische Grundnorm als auch die auf sie folgende nächsthöhere Norm inhaltlich ausschließlich metarechtlich determiniert sind, weil die Grundnorm lediglich den Delegationszusammenhang eröffnet, ohne aber selbst inhaltliche Vorgaben zu machen. Wegen der durch die Erzeugungsstufen hindurch ständig anwachsenden Zahl der determinierenden Rechtsnormen w i r d der Raum für die metarechtliche Determination demgegenüber ständig schmaler. Anders ausgedrückt: Der Pyramide rechtlicher entspricht eine umgekehrte außerrechtlicher Determinanten. Leicht belegbar ist dies am Beispiel der Verfassung, die eine innerhalb des Normstufenbaus verhältnismäßig hoch angesiedelte Normstufe darstellt und selbst nur vergleichsweise geringfügig rechtlich , erheblich mehr sozial determiniert ist 1 7 . Das Zusammenspiel rechtlicher — und über die autonome Determinante einfließender — metarechtlicher Determination verbürgt erneut eine demokratiegerechte Offenheit der Normerzeugung. c) Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen als Elemente fallbezogener Normkonkretisierung
Was für den Normstufenbau gilt, kann auch für die einzelne Norm konstatiert werden. Die Erkenntnis, daß Verfassungsnormen offener 15 H. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, 1979, S. 44 f., u n d dazu K. Opalek, Überlegungen zu Hans Kelsens „Allgemeine Theorie der Normen" ( = Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Bd. 4), 1980, S. 24 ff. 18 A . Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1927, S. 15. So w i r d i n dem Gesetz die Verfassung, i m Zwangsakt das richterliche U r t e i l angewendet, H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 233 f.; vgl. auch: ders., Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, S. 240; A . Merkl, ebd., S. 173; ders., in: Festschrift Hans Kelsen, S. 269, 282. 17 Dies beruht auf dem Umstand, daß — i m gleichstarken Ermächtigungsstrang gedacht — die Breite der rechtlichen Determination zu, die der metarechtlichen abnimmt. Vgl. dazu N. Achterberg, Die Gesellschaftsbezogenheit der Grundrechte, in: Recht u n d Gesellschaft, Festschrift für Helmut Schelsky, hrsg. F. Kaulbach / W. Krawietz, 1968, S. 1 ff. (10) = ders., in: Theorie u n d Dogmatik des Öffentlichen Rechts, 1980, S. 421 ff. (429), unter Bezugnahme auf die Nullsummentheorie (dazu N. Luhmann, Grundrechte als Institution, 1956, S. 42 f., 151; T. Parsons, On the Concept of Political Power, in: Proceedings of the American Philosophical Society 107 [1963], 232 ff. [250 ff.]).
Rechtsnorm un
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sein müssen als unterrangige, wollen sie nicht allzu oft geändert oder gebrochen werden, ist alt. Der Grund hierfür liegt i n der Natur der Verfassung als „Sozialgestaltungsplan" 18, der für eine relativ lange Geltungszeit berechnet ist. Bei i h r stößt i n besonderem Maße Präzisionsbedürfnis auf Prävisionsfähigkeit: Der Verfassunggeber kann die gesellschaftliche Evolution während der angestrebten Geltungsdauer der von i h m produzierten Normen nicht i n vollem Umfang voraussehen. U m m i t dieser nicht i n K o n f l i k t zu geraten, bedarf es daher einer Normoffenheit, die sich auf der Verfassungsebene besonders deutlich zeigt, grundsätzlich aber für die Normen aller Normerzeugungsstufen gilt. Schon allein hieraus folgt, daß das Verhältnis von Offenheit und Geschlossenheit auf jeder Ebene des Normstufenbaus bewältigt werden muß, insoweit also nicht prinzipielle, sondern nur graduelle Unterschiede vorhanden sind. Der Gesetzgeber trägt dem Konkretisierungsbedürfnis — schon Kelsen hat herausgestellt, daß das Wesen der Normerzeugungsstufen eben gerade darin besteht, eine stets weitergehende Konkretisierung zu b e w i r k e n 1 9 — durch Normen Rechnung, die unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten oder Ermessensspielräume eröffnen und damit die Konkretisierungsmöglichkeit i m Einzelfall eröffnen. Daß sie Präzisionsdefizite auf der Gesetzgebungsebene bewirken, ist unverkennbar. Dennoch kann der Auffassung nicht zugestimmt werden, entsprechende Rechtsnormen seien schlechthin verfassungswidrig, da sie nicht der rechtsstaatlich gebotenen Normpräzision entsprächen 20 . Sicherlich v/ird man allerdings nach Rechtsgebieten differenzieren müssen: Strafrecht u n d Steuerrecht beispielsweise stellen höhere A n forderungen an die Normpräzisierung als manche andere Bereiche. I m übrigen sind derartige Bedenken zurückzustellen, w e i l auch insoweit eine der Demokratie entsprechende Normoffenheit vorliegt, die trotz aller Anforderungen an die Rechtsstaatlichkeit hingenommen werden muß — abermals Beleg für Antinomien, wie sie auch sonst unter den verfassunggestaltenden Grundentscheidungen anzutreffen sind 2 1 .
18 N. Achterberg, in: Festschrift für Helmut Schelsky, S. 10 m. Anm. 33 = ders., Theorie und Dogmatik des Öffentlichen Rechts, 1980, S. 430 f. 19 Vgl. dazu H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 233 f.; ders., Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, S. 243. 20 Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Ermessenseinräumung trägt H. H. Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, 1965, S. 179 ff.; ders., Ermessensspielraum und Rechtsstaatlichkeit, NJW 69, 1273 ff., vor. 21 Dazu ausführlich N. Achterberg, Antinomien verfassunggestaltender Grundentscheidungen, in: Der Staat 8 (1980), 159 ff. = ders., Theorie und Dogmatik des Öffentlichen Rechts, 1908, S. 250 ff.
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Norbert Achterberg d) Topische
Interpretation
Auf derselben Linie liegt die topische Interpretation als offene Auslegungsmethode. Ihr Rückbezug auf die Rhetorik ist allgemein bekannt, so daß hierzu nichts weiteres gesagt zu werden braucht 2 2 . Das Grundmuster der rhetorischen Situation — Rede und Gegenrede — ist auch ein solches der Demokratie, in der die Entscheidungen auf Kompromissen beruhen, die sich erst durch Diskussion finden lassen. Das Aufzeigen der Meinungsunterschiede, die allmähliche Annäherung der Standpunkte, die Überwindung klaffender Gegensätze durch Mehrheitsentscheid unter Wahrung von Minderheitenrechten — alles dies geschieht in der Form des Dialogs. Darüber hinaus weist die topische Interpretation deshalb eine Beziehung zur Demokratie auf, weil die — nur durch das Erfordernis der Lösungsrelevanz begrenzte — denkmöglich offene Zahl der Topoi 2 3 gewährleistet, unter Berücksichtigung aller möglichen Blickwinkel dem demokratischen Relativismus Rechnung zu tragen. 2. Elemente der Geschlossenheit
Zu den zuvor genannten Elementen der Offenheit treten solche der Geschlossenheit hinzu. Zu ihnen sind die Disparität von Sein und Sollen, der Rückbezug der Rechtsnormen auf höherrangige Rechtsnormen, die Unabänderlichkeit bestimmter Rechtsnormen sowie die traditionelle Interpretation zu rechnen. a) Dichotomie
von Sein und
Sollen
Die neukantianische und auch kelsenianische These von der Disparität von Sein und Sollen 24 schließt das gesellschaftliche System. Der demokratische Relativismus und Pluralismus findet in dieser Geschlossenheit seine Grenze. Die Frage nach weiteren Möglichkeiten läßt sich leicht beantworten: eine dritte wäre die Kombination von Sein und Sollen, wie sie etwa in dem Phänomen der Natur der Sache als Rechtsquelle oder in der Normativität des Faktischen auftritt. In der Tat ent22
Grundlegend hierzu Th. Viehweg, Topik u n d Jurisprudenz, 5. Aufl., 1974. Das Erfordernis der Fallrelevanz ergibt sich aus der Problemorientiertheit der Topik als „techne des Problemdenkens", vgl. dazu Th. Viehweg, S. 31. 24 Dies ist durchgehalten von H. Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 2. Aufl., 1923, S. 3 ff., insb. S. 5, 7, 9, über ders., Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, 1928, S. 75 ff.; ders., Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, S. 5 ff., bis ders., Allgemeine Theorie der Normen, 1979, S. 44 ff . Vgl. dazu auch W. Schild, Die Reinen Rechtslehren. Gedanken zu Hans Kelsen und Robert Walter, 1975, S. 12 f. 23
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steht die Frage, ob solche Erweiterungen Kelsenscher Demokratietheorie nicht eher entsprechen als die von der Wiener Schule vorgenommene Abgrenzung gegenüber solchen Möglichkeiten. Dennoch kann kein Zweifel daran bestehen, daß gerade die Disparität geeignet ist, einen Methodensynkretismus zu verhindern. Dieses Ziel bildet eine durchaus anerkennenswerte Grenze demokratischer Offenheit. Wo Brücken zwischen Sein und Sollen entstehen können, lassen sich diese nicht durch scheinbar dritte Möglichkeiten wie die erwähnten Rechtsinstitute, sondern nur durch Induktoren bilden, wie sie zuvor mit dem Hinweis auf die autonome Determinante und das modal indifferente Substrat erwähnt wurden. b) Rückbezug
der Rechtsnormen
auf höherrangige
Rechtsnormen
Weiteres Element der Geschlossenheit der Rechtsordnung ist der Rückbezug der Normen auf höherrangige Normen. Der Normstufenbau verbürgt trotz der zuvor erwähnten Offenheit durch seine Verkürzung oder Verlängerung die Geschlossenheit dadurch, daß ein jeweils vorgegebener Kreis höherrangiger Normen die Determination der tieferrangigen vornimmt. Diese werden eben nicht von einer denkmöglich unbegrenzten Zahl von Rechtsnormen bestimmt, sondern nur von dem in der konkreten Normenpyramide — nach Kelsenscher Auffassung bis zur Grundnorm zurückzuleitenden — vorliegenden Zahl von Rechtsnormen. Der Rückbezug auf die Spitze der Normenpyramide — wie auch immer man diese bezeichnen mag — bewirkt dabei die Geschlossenheit der konkreten Normenordnung 2 5 . Daß dabei i m Regelkreis die nachrangige Determination durch die gerichtliche Entscheidung hinzukommt, ändert an diesem Prinzip als solchem nichts. c) Unabänderlichkeit
von
Rechtsnormen
Wiederum erneutes Beispiel für die Geschlossenheit der Rechtsordnung bildet das Institut der Unabänderbarkeit von Rechtsnormen. Kodifiziert ist dieses in Art. 79 Abs. 3 GG: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grund25 Der Sinn der hypothetischen Grundnorm als Verhinderung des regressus ad i n f i n i t u m ist inzwischen nicht mehr umstritten, s. dazu N. Achterberg , Hans Kelsens Bedeutung i n der gegenwärtigen deutschen Staaatslehre, DÖV 74. 445 (453) = ders., Theorie u n d Dogmatik des öffentlichen Rechts, 1980, S. 51 ff. (70); ders., Kelsen u n d M a r x , P o l i t i k u n d K u l t u r 1975, Heft 2, S. 40 ff. (51) = ders., Theorie u n d Dogmatik des Öffentlichen Rechts, 1980, S. 73 ff. (87). — Demgegenüber überzeugt es nicht, w e n n A.-F. Utz, Die Gerechtigkeit, der Prüfstein naturrechtlichen Denkens, in: ders., E t h i k u n d Politik. A k tuelle Grundfragen der Gesellschafts-, Wirtschafts- u n d Rechtsphilosophie. Gesammelte Aufsätze, hrsg. B. Streithofen, 1970, S. 229 ff. (234), dem die Annahme einer unendlichen Kausalitätsreihe gegenüberstellt.
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sätzliche M i t w i r k u n g der Länder bei der Gesetzgebung und die in den A r t i k e l n 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig." Damit sind unter der Geltung des Grundgesetzes — solange also nicht eine, nicht dem pouvoir constitué, sondern dem pouvoir constituant zustehende, Gesamtrevision vorgenommen w i r d 2 6 — die verfassunggestaltenden Grundentscheidungen für die Rechtsstaatlichkeit, die Sozialstaatlichkeit, die Bundesstaatlichkeit und die Demokratie, die Grundrechtsbindung der Staatsfunktionen und die Wahrung der Menschenwürde festgeschrieben. Unweigerlich knüpft sich hieran die Frage nach der demokratischen Natur solcher Unabänderlichkeit. Anders formuliert: Das Problem entsteht, ob Demokratie — zu Ende gedacht — nicht auch die Möglichkeit ihrer eigenen Abschaffung umschließen müßte — moderne und „säkularisierte" Variante des der Theologie geläufigen Unterschieds von potestas absoluta und potestas ordinata: Daß Gott etwas i n sich Widersprüchliches wollen kann (Petrus Damiani), seine Macht von seiner Weisheit und Gerechtigkeit losgelöst wirken könnte (Martin Luther , Johann Calvin), ist nach überwiegender Meinung selbst de potestate absoluta unmöglich 2 7 . Wie dem auch sei: Die Abschaffung der Demokratie ist zumindest de potestate ordinata — und um sie geht es in Art. 79 Abs. 3 GG — ausgeschlossen. Schlaglichtartig zeigt sich hier abermals, daß Offenheit eben nicht einzige Maxime einer Gesellschafts- und Rechtsordnung ist, sondern durch Elemente der Geschlossenheit ergänzt wird. d) Traditionelle
Interpretation
Konnte die topische Interpretation zuvor als hermeneutische Ausprägung des Wertrelativismus ausgemacht werden, so gilt anderes für die traditionelle Auslegung. Die Geschlossenheit des Methodenkanons — philologische, logische, historische, genetische, systematische, komparative, teleologische Interpretation 2 8 — widerspricht einer Offenheit von Auslegungsgesichtspunkten. Einzuräumen ist dabei allerdings, daß gerade die teleologische Interpretation eine Öffnung zum metarechtlichen Bereich bewirkt, durch die alle möglichen Wertungen i n die Aus28 Zur Bedeutung der Unantastbarkeit Η . ν . Mangoldt / F. Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I I I , 1974, A r t . 79 A n m . V I , i n ausführlicher Erörterung des kontroversen Schrifttums; Th. Maunz / D. Dürig / R. Herzog / R. Scholz, Grundgesetz, Bd. I I , 1980, A r t . 79 Rdnr. 22 ff. 27 J. Stöhr, Allmacht (Omnipotenz) Gottes, in: J. Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, 1971, Sp. 193 (194). 28 Der Kanon geht i n seinen wesentlichen Teilen zurück auf F. C. v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, 1840, S. 206 ff.; ders., Juristische Methodenlehre, hrsg. Wesenberg, 1851. — Z u m theoretischen Hintergrund M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, S. 67 ff.; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl., 1979, S. 11 ff.; F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl., 1976, S. 67 ff.
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legung einzufließen vermögen; die Interessen- und Wertungsjurisprudenz hat sich hier ein adäquates Instrument geschaffen, u m ihre Anliegen zu berücksichtigen. Der These, daß Offenheit durch Elemente der Geschlossenheit ergänzt wird, muß demnach hinzugefügt werden, daß auch dort, wo eine scheinbare Geschlossenheit der Normenordnung anzutreffen ist, sehr schnell wiederum Elemente der Offenheit in Erscheinung treten: erneuter Beweis für die — demokratietheoretisch relevante — vielfältige Verflochtenheit beider Maximen, die nicht auf Maximierung, sondern auf Harmonisierung und Optimierung abzielt.
I I I . Das Rechtsverhältnis in demokratietheoretischer Sicht Unter der Voraussetzung, daß die Grundposition der Rechtsverhältnistheorie — Deutung der Rechtsordnung als Beziehungsgefüge von Rechtsverhältnissen und damit als Rechtsverhältnisordnung 29 — hier nicht im einzelnen nochmals entfaltet zu werden braucht, lassen sich weiterhin auch bezüglich der Rechtsverhältnisse Elemente der Offenheit und der Geschlossenheit aufzeigen. 1. Elemente der Offenheit
Als Elemente der Offenheit können die Polytomie der Rechtsverhältnisordnung, die Multidetermination der Rechtsverhältnisse und deren Multipolarität erwähnt werden. a) Polytomie
der
Rechtsverhältnisordnung
Die Polytomie der Rechtsverhältnisse besteht darin, daß solche zwischen unterschiedlichsten Rechtssubjekten bestehen. Früher vorgenommene Dichotomien — wie die Unterscheidung von Außenrecht und Innenrecht, Rechtsverordnung und Verwaltungsverordnung, allgemeines und besonderes Gewaltverhältnis — sind zu pauschal, um die gesamte Komplexität der Rechtsverhältnisordnung erfassen zu können. Rechtsverhältnisse bestehen zwischen Organisationen (beispielsweise zwischen Staaten und zwischen Gemeinden), zwischen Organisation und 29
Vgl. dazu N. Achterberg, Rechtsverhältnisse als Strukturelemente der Rechtsordnung. Prolegomena zu einer Rechtsverhältnistheorie, Rechtstheorie 9 (1978), 385 ff. = ders., Theorie u n d Dogmatik des öffentlichen Rechts, 1980, S. 135 ff.; ders., Grundzüge einer Rechtsverhältnistheorie, Referat auf dem I X . Weltkongreß der I V R „Zeitgenössische Rechtskonzeptionen", Basel 1969 (noch unveröffentlicht); ders., Die analytisch-jurisprudentielle Bedeutung der Rechtsverhältnistheorie, Referat für den X . Weltkongreß der I V R , „Recht als Maßstab für ökonomisches, politisches und kulturelles Leben i n unserer Zeit", Mexico City 1981 (noch unveröffentlicht).
Norbert Achterberg
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Organisationsmitglied (beispielsweise dem Staat und dem Staatsbürger), Organisation und Organ, Organisation und Organwalter, Organ und Organ sowie Organisationsmitglied und Organisationsmitglied — diese in privatrechtlichen Rechtsbeziehungen —, um nur die wichtigsten Beispiele zu nennen 30 . Die Rechtsverhältnisordnung mag dabei auf den ersten Blick keine unbeschränkte Zahl nach den Endsubjekten zu unterscheidender Rechtsverhältnisse kennen. Berücksichtigt man indessen, daß in der Organhierarchie eine denkmöglich unbeschränkte Zahl von Organen und Unterorganen einer Organisation zu bestehen vermag, so kommt man gleichwohl zur Unbegrenztheit von Rechtsverhältnissen. Die Vielfalt der Gesellschaftsordnung, insbesondere der Pluralismus von Verbänden und sonstigen Sozialsubjekten, findet hierin seine rechtliche Entsprechung — immerhin w i r k t wegen der Überwölbung der Rechtsordnung durch die Sozialordnung jede Rechtsnorm auch als Sozialnorm, ist das Rechtsverhältnis ein mit Mitteln des Rechts geregeltes Sozialverhältnis 31 . Die demokratietheoretische Dimension der Rechtsverhältnisordnung zeigt sich gerade unter dem Blickwinkel ihrer Polytomie aber auch darin, daß sie der Effizienz als einer der Leitmaximen der Gesellschaftsordnung 32 entspricht. In der Vielfalt der Rechtsverhältnisse und der an ihnen beteiligten Rechtssubjekte spiegelt sich das Bedürfnis nach Arbeitsteilung wider. Offenheit t r i t t damit zu Effizienz als weiterem demokratietheoretischem Aspekt. b)
Multideiermination
Die Offenheit der Rechtsverhältnisse zeigt sich aber auch i n deren unterschiedlicher Determination. Rechtsverhältnisse können in vollem Umfang heteronom — nämlich durch Rechtsnormen —, können aber auch teilweise autonom — nämlich durch Willensbetätigungen ihrer Endsubjekte bestimmt sein 33 . Die i m zweiten Fall anzutreffende autonome Determinante der Rechtsverhältnisse — nicht zu verwechseln mit derjenigen der Rechtserzeugungsstufen, wie sie von der Wiener Schule herausgestellt wurde — begründet erneut die Offenheit der Rechtsverhältnisordnung. Auch sie führt aber zugleich einen weiteren demokratietheoretischen Aspekt — nämlich die wiederum als sozialwissen30 Ausführlich N. Achterberg, Theorie u n d Dogmatik des öffentlichen Rechts, 1980, S. 149 ff. 31 N. Achterberg, ebd., S. 145, vgl. auch ders., Die Gesellschaftsbezogenheit der Grundrechte, in: Festschrift für Helmut Schelsky, S. 1 ff. (10) = ders., Theorie und Dogmatik des Öffentlichen Rechts, 1980, S. 145. 32 W. Steffani, S. 17. 33 N. Achterberg, Rechtstheorie 9 (1978), 406 = ders., Theorie und Dogmat i k des öffentlichen Rechts, 1980, S. 157 f.
Rechtsnorm u n
Rechtsverhältnis i n demokratietheoretischer Sicht
145
schaftliches Leitbild hervorgehobene Partizipation 3 4 — ein. Auf dem Weg über die so begriffene autonome Determinante partizipieren die als Endpunkte der Rechtsverhältnisse in Erscheinung tretenden Rechtssubjekte an der Rechtsverhältnisordnung und damit an der Rechtsordnung. c)
Multipolarität
Schließlich zeigt sich die Offenheit der Rechtsverhältnisse an ihrer Polarität. Rechtsverhältnisse sind bipolar, wenn an jedem ihrer Endpunkte nur ein einziges Rechtssubjekt, dagegen multipolar, wenn an zumindest dem einen Endpunkt eine Mehrzahl von Rechtssubjekten steht. Dies entspricht der Komplexität der Gesellschaftsordnung. Hochkomplexe Sozialstrukturen können nicht i n Zweierbeziehungen dargestellt werden — solche vermögen allenfalls, aber auch nur begrenzt im mikro-, keinesfalls aber auch i m makrosoziologischen Bereich Abbildungsmaßstab zu sein 35 . Die Beziehungen zwischen mehreren Rechtssubjekten, wie sie durch Anerkennung multipolarer Rechtsverhältnisse in Erscheinung tritt, zeigt m i t h i n wiederum die Offenheit an, i n der Rechtsverhältnistheorie und Demokratietheorie übereinstimmen. 2. Elemente der Geschlossenheit
Wie hinsichtlich der Rechtsnormen lassen sich aber auch hinsichtlich der Rechtsverhältnisse Elemente der Geschlossenheit erkennen. Zu ihnen sind die Rechtsnormdetermination sowie der Widerstreit und damit gegenseitige Ausschluß von Rechtsverhältnissen zu rechnen. a) Rechtsnormdetermination
von
Rechtsverhältnissen
Rechtsverhältnisse werden zwar, wie soeben dargelegt, auch autonom — und damit auch unter Einschluß metajuristischer Determinanten —, vor allem aber heteronom durch Rechtsnormen determiniert. Das bedeutet zumindest den rechtswesenhaft umgrenzten Kreis determinierender Rechtsnormen, der rechtsinhaltlich — um i m Sprachgebrauch Kelsens zu verbleiben — erweitert werden kann, auch dann aber nicht unbegrenzt ist. Unter Außerachtlassung der metajuristischen kommt man unter Berücksichtigung der juristischen Determinanten m i t h i n dazu, daß die Determination von Rechtsverhältnissen ebenso geschlossen ist, wie die Rechtsnormenordnung durch den Rückbezug der Rechtsnormen auf höherrangiges Recht. 84 s. o. A n m . 32, sowie zusätzlich R. Walter / W. Schmitt Glaeser , V V D S t R L 31, 147 ff., 179 ff. 35 N. Achterberg, Rechtstheorie 9 (1978), S. 397 f. = ders., Theorie und Dogm a t i k des Öffentlichen Rechts, 1980, S. 148.
10 R E C H T S T H E O R I E , B e i h e f t 4
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Norbert Achterberg b) Widerstreitende
Rechtsverhältnisse
Die Rechtsverhältnisordnung erweist sich schließlich insofern als geschlossen, als es einander widerstreitende Rechtsverhältnisse gibt 8 6 . Bei ihnen handelt es sich um solche, an denen ein Rechtssubjekt nicht gleichzeitig beteiligt sein kann. Zu unterscheiden sind dabei Rechtsverhältnisse, i n denen ein Rechtssubjekt zu demselben, und solche, in denen es zu einem anderen Rechtssubjekt i n Beziehung stände. I n beiden Fällen sind der Widerstreit und der Ausschluß von Rechtsverhältnissen möglich. Als Beispiel der ersten Gruppe kann die Unvereinbarkeit von Beamtenverhältnis und Richterverhältnis genannt werden. Beide Rechtsverhältnisse weisen dieselben Subjekte auf, nämlich ein Organisationsmitglied — die natürliche Person, die als Beamter oder als Richter i n Erscheinung t r i t t — und den Staat als Organisation. Soweit — wie üblich — die Inkompatibilität zwischen Beamten- und Richteramt angeordnet ist, können beide Rechtsverhältnisse nicht zugleich eingegangen werden. Zur zweiten Gruppe zählt der Widerstreit zwischen mehreren Eheverhältnissen i n Rechtsordnungen, welche die Monogamie vorschreiben. Darüber hinaus w i r d man allgemein solche Fälle hierher zu rechnen haben, in denen nach Abschluß eines Rechtsverhältnisses ein vergleichbares anderes für nichtig erklärt wird. Entgegen der marxistischen Rechtstheorie sind es also — wie sich auch hieran zeigt — nicht tatsächliche Umstände, welche das Rechtsverhältnis und damit seine Zulässigkeit konstituieren, sondern es ist die Rechtsnorm 37 . Tatsächlich möglich sind auch widerstreitende Rechtsverhältnisse; so daß allein die Rechtsnormen sind, welche den Charakter der entsprechenden Rechtsverhältnisse als widerstreitend oder vereinbar konstituieren.
36 Näher N. Achterberg, Die analytisch-jurisprudentielle Bedeutung der Rechtsverhältnistheorie (s. o. A n m . 29), I I I 2 e ee. 37 Ausführlich N. Achterberg, Grundzüge einer Rechtsverhältnistheorie (s. o. A n m . 29), I I 2, i n Auseinandersetzung insb. m i t E. Pasukanis, Allgemeine Rechtslehre u n d Marxismus, 3. Aufl., 1970 ( = A r c h i v sozialistischer Theorie 3), S. 67 ff., 72, nach dem die Entstehung der „juristischen Verhältnisse" sich unmittelbar aus dem ökonomischen Verhältnis ableitet. a.a.O. ist dargelegt, daß m i t der unmittelbaren A b l e i t u n g der Rechtsverhältnisse aus dem ökonomischen Verhältnis nicht erklärt werden kann, daß es ausschließlich i m metajuristischen Raum verbleibende Sozialverhältnisse gibt.
Hechtsnorm und Rechtsverhältnis i n demokratietheoretischer Sicht
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IV. Ergebnis: Die demokratietheoretische Relevanz der Reinen Rechtslehre und der Rechtsverhältnistheorie Während die Reine Rechtslehre den Akzent ihrer Erkenntnisse auf die Rechtsnorm legt — obwohl auch bei ihr das Rechtsverhältnis eine Rolle spielt —, findet er sich i n der Rechtsverhältnistheorie bei dem Rechtsverhältnis — wobei auch bei ihr allerdings, wie dargelegt, die Bedeutung der Rechtsnorm keineswegs unberücksichtigt bleibt. I m Gegenteil: Gerade der Umstand, daß die Rechtsverhältnistheorie nicht in Tatsachen, sondern i n Normen die Determinanten der Rechtsverhältnisse erblickt, erweist deren zentrale Stellung auch i n ihr. Wichtiger ist indessen, daß sich Reine Rechtslehre und Rechtsverhältnistheorie i n der Erkenntnis der Bedeutung von der Offenheit und Geschlossenheit der Rechtsnormen und der Rechtsverhältnisse begegnen. Sie bildet gewissermaßen einen gemeinsamen Nenner. Offenheit der Rechtsnormenordnung und der Rechtsverhältnisordnung ist nicht ohne Elemente der Geschlossenheit möglich; beide bedingen einander. Erst wertabsolutistische Elemente der Geschlossenheit verbürgen, daß sich unter ihnen wertrelativistische Offenheit zu entfalten vermag. Die eingangs gestellte Frage nach der demokratietheoretischen Bedeutung der Rechtsnormen und Rechtsverhältnisse läßt sich nach allem dahin beantworten, daß die Demokratie ein durch die Komplexität der Rechtsnormenordnung und der Rechtsverhältnisordnung gekennzeichnetes Optimierungsmodell heit in ein Verhältnis Freiheit ermöglicht.
d a r s t e l l t , i n d e m Offenheit und Geschlossengesetzt werden müssen, das Regierbarkeit in
Thesen I. Die Demokratietheorie ist auch gegenwärtig von dem Gegensatz zwischen neukantianischer Wertoffenheit u n d neuhegelianischer Wertbestimmtheit gekennzeichnet. Dementsprechend werden ein „pluralistisch-totaldirektes" u n d ein „pluralistisch-partiell-repräsentatives" Demokratiemodell unterschieden (D. Grosser). Insbesondere Kelsens Demokratietheorie stellt den Wertrelativismus i n den Vordergrund. I I . I n Offenheit u n d Geschlossenheit erweist sich die demokratietheoretische Relevanz auch der Rechtsnormen u n d der Rechtsverhältnisse. 1. Bezüglich der Rechtsnormen
ist erkennbar:
a) Elemente der Offenheit bilden die Möglichkeit, den rechtswesenhaft anzutreffenden Normstufenbau rechtsinhaltlich zu verlängern oder zu verkürzen, die autonome Determinante der Rechtserzeugungsstufen, auf der außerrechtliche Wertungen i n den N o r m erzeugungsprozeß einzufließen vermögen, die Normgestaltung 10'
Norbert Achterberg
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durch Einfügung unbestimmter Rechtsbegriffe u n d Ermessenseinräumung zur Eröffnung fallbezogener Normkonkretisierung sowie die topische Norminterpretation als „offene" Auslegungsmethode. b) Elemente der Geschlossenheit sind die Disparität u n d zugleich Dichotomie v o n Sein u n d Sollen, der Rückbezug der Rechtsnormen auf höherrangige, insbesondere auf die Spitze der Normenpyramide als deren oberen Endpunkt, die Unabänderlichkeit bestimmter Normen sowie die traditionelle Interpretation aufgrund ihres, bei der teleologischen Auslegung jedoch gleichwohl relativ offenen, Methodenkanons. 2. Hinsichtlich der Rechtsverhältnisse
zeigt sich folgendes:
a) Elemente der Offenheit sind die Polytomie, also die denkmöglich unbegrenzte Zahl v o n Rechtsverhältnissen i n der als Rechtsverhältnisordnung zu begreifenden Rechtsordnung, die Determination der Rechtsverhältnisse sowohl heteronom durch Rechtsnormen, als auch autonom durch Willensakte der an den Rechtsverhältnissen beteiligten Rechtssubjekte sowie die M u l t i p o l a r i t ä t durch den bestimmten oder unbestimmten Kreis der Endsubjekte der Rechtsverhältnisse. b) Elemente der determination marxistischen das Phänomen
Geschlossenheit sind die prinzipielle Rechtsnormv o n Rechtsverhältnissen — dies entgegen der Lehre von deren Tatsachenbestimmtheit —, sowie einander widerstreitender Rechtsverhältnisse.
I I I . Reine Rechtslehre u n d Rechtsverhältnistheorie stimmen trotz unterschiedlicher Akzentuierung der Bedeutung der Rechtsnormen u n d der Rechtsverhältnisse darin überein, daß die Offenheit der Rechtsnormenordnung und der Rechtsverhältnisordnung nicht ohne Elemente der Geschlossenheit möglich ist. Diese bilden den Rahmen, innerhalb dessen sich Relativismus überhaupt zu entfalten vermag. Demokratie stellt hiernach ein Optimierungsmodell dar, i n dem Offenheit und Geschlossenheit i n ein Verhältnis gebracht werden müssen, das Regierbarkeit i n Freiheit ermöglicht.
ZUM VERHÄLTNIS VON INTERPRETATIONSLEHRE, VERFASSUNGSGERICHTSBARKEIT UND DEMOKRATIEPRINZIP BEI KELSEN Von Dieter Grimm, Bielefeld I. Problematik In der Bundesrepublik Deutschland ist die Verfassungsgerichtsbarkeit zu einem Demokratieproblem geworden 1 . Das Grundgesetz hat i n dem Bestreben, die unbedingte Geltung des Verfassungsrechts auch institutionell zu sichern, das Bundesverfassungsgericht mit einer Kompetenzfülle ausgestattet, die in keiner anderen Verfassung übertroffen wird. Als politisch besonders bedeutsam t r i t t dabei die abstrakte Normenkontrolle hervor. Sie gestattet es dem Verlierer i m parlamentarischen Prozeß, die politische Auseinandersetzung m i t der Behauptung, der Mehrheitsbeschluß verstoße gegen die Verfassung, vor dem Bundesverfassungsgericht fortzuführen. Zwar verengt sich dort die Auseinandersetzung auf die Rechtsfrage. Das ändert aber nichts daran, daß der Willensbildungsprozeß nicht mit der Entscheidung der demokratisch legitimierten Mehrheit endet. Das letzte Wort liegt vielmehr gerade in politisch hoch umstrittenen Fragen bei einer Instanz, die demokratisch schwächer legitimiert ist als das Parlament und aus dem demokratischen Verantwortungszusammenhang gänzlich herausfällt. Eine solche Einrichtung ist nur dann demokratisch unbedenklich, wenn die fehlende demokratische Verantwortlichkeit durch Bindungen anderer A r t kompensiert wird. Von der Existenz einer solchen Bindung ging der Parlamentarische Rat aus. Er war der Überzeugung, daß das Bundesverfassungsgericht ausschließlich eine Rechtmäßigkeitskontrolle vornehme und dafür i n der Verfassung einen hinreichend konkreten oder zumindest hinreichend konkretisierbaren Maßstab vorfinde. Es entscheide daher nicht eigentlich in der Sache, sondern bringe lediglich Vorentscheidungen des Verfassungsgebers zur Geltung. Für die demokratisch legitimierten Staatsorgane ist damit immer noch ein Machtverlust verbunden, aber nur der Verlust der Macht, sich ungestraft verfassungswidrig verhalten zu können. Unter diesen Voraussetzungen 1 Dazu eingehend m i t Nachweisen Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit — F u n k t i o n und Funktionsgrenzen i m demokratischen Staat, in: HoffmannRiem (Hrsg.), Sozialwissenschaften i m Studium des Rechts I I , 1977, S. 83.
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erscheint es i n der Tat möglich, die Verfassungsgerichtsbarkeit nur als Stärkung der Demokratie, nicht als Gefährdung zu betrachten. Wir sehen heute in mancher Hinsicht klarer. Es gehört zu den wesentlichen Erkenntnissen der Methodenlehre, daß die Bindungsfähigkeit von Rechtsnormen prinzipiell begrenzt ist. Für die Verfassung, namentlich für die Staatszielbestimmungen und Grundrechte, die den typischen Maßstab für die Kontrolle des Gesetzgebers bilden, gilt das i n erhöhtem Maße. Kaum je besitzen sie die Eignung zur unmittelbaren Anwendung auf den Fall. Der Rechtsanwender steht vielmehr vor der Notwendigkeit, aus dem vorhandenen Normenmaterial i m Blick auf das jeweilige Lösungsproblem den konkreten Entscheidungssatz erst herzustellen. Insofern enthält jeder A k t der Rechtsanwendung einen mehr oder minder großen Anteil von Rechtserzeugung, und in der richterlichen Wahrung der verfassungsrechtlichen Schranken für den Gesetzgeber liegt zugleich ein Stück richterlicher Schrankenziehung. Aus diesem Grunde ist die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle funktional betrachtet Teilhabe an der Gesetzgebung, ohne freilich den vom Grundgesetz geforderten demokratischen Anforderungen an Gesetzgebung zu unterliegen. Das ist nach einer Periode großer Klagefreudigkeit der Opposition und ausgreifender Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts erneut deutlich geworden. Als Antwort auf diese Erkenntnis fordert die Literatur vom Bundesverfassungsgericht i n der Regel verstärkten judicial self-restraint. Diese Antwort ist allerdings nicht voll befriedigend, weil self-restraint dem Gericht keine juristische Grenze zieht, sondern lediglich an das Berufsethos der Richter appelliert. Die Lösung der Frage gehört daher zu den ebenso dringlichen wie schwierigen Problemen der Gegenwart. Kelsen, dem die Problematik geläufig war 2 , könnte i n dieser Situation hilfreich sein, weil er die Erkenntnis der modernen Methodenlehre vom voluntativen Gehalt jeder richterlichen Entscheidung besaß und doch entschieden für die Verfassungsgerichtsbarkeit eintrat, ohne daß er deswegen einer undemokratischen oder gar antidemokratischen Haltung verdächtigt werden könnte. Die Frage lautet, wie er die verschiedenen Auffassungen miteinander vermittelt hat.
2 Vgl. Hans Kelsen, Wesen u n d Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, i n : Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer ( W D S t R L ) , Heft 5, 1929, S. 69 f.; ders., Wer soll der Hüter der Verfassung sein? 1931, S. 24 ff,
Iiiterpretationslehre, Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratieprinzip
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II. Kelsens Position 1. Interpretation bei Kelsen
Kelsen entwickelt seine Interpretationslehre i m Anschluß an die Theorie vom Stufenbau der Rechtsordnung 3 . Das Recht regelt danach, ausgehend von der hypothetischen Grundnorm, seine eigene Erzeugung bis hin zum Vollzugsakt. Die Verfassung regelt die Erzeugung des Gesetzes, das Gesetz die Erzeugung des Urteils, das Urteil die Erzeugung der Vollstreckungshandlung mit allen möglichen Zwischenstufen. Die höherrangige Norm beherrscht aber die Erzeugung der niederrangigen nicht völlig. Der Grund liegt darin, daß die Norm zum einen die gesamte Fülle realer Fallkonstellationen nicht generalisierend vorwegnehmen kann und zum anderen auf eine Sprache angewiesen ist, die Eindeutigkeit nicht zu erreichen vermag. Die relative Offenheit der Normen kann beabsichtigt oder unbeabsichtigt sein, jedenfalls ist sie unausweichlich. Die höherrangige Norm zieht der Erzeugung der niedrigeren daher lediglich einen Rahmen, innerhalb dessen eigenständige Konkretisierungsleistungen stattfinden. Unterschiede bestehen nur hinsichtlich der Ausmaße des Spielraums. Dieser kann größer oder kleiner ausfallen und verengt sich typischerweise von oben nach unten. Der Gesetzgeber genießt regelmäßig einen großen, dem Vollstreckungsbeamten bleibt gewöhnlich nur ein kleiner, der Richter nimmt eine Mittelposition ein. Die vom Positivismus strikt durchgehaltene Differenz zwischen Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, Rechtsschöpfung und Rechtsanwendung w i r d auf diese Weise relativiert. Jede juristische Entscheidung ist zum Teil Kognition, zum Teil Dezision. Beide Bereiche hält Kelsen aber für unterscheidbar: die Kognition betrifft den Rahmen, den die Norm dem Rechtsanwender zieht, die Dezision seine Ausfüllung. Die Fragwürdigkeit dieser Trennung kann hier dahinstehen. Wichtig ist, daß Kelsen mit der Trennung zugleich die Grenzen von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis absteckt 4 . Wissenschaft definiert sich durch Kognition. Dezision hat per se mit Wissenschaft nichts zu tun. I n bezug auf die Rechtsanwendung kann die rechtswissenschaftliche Erkenntnis nur so weit reichen, wie eine positivrechtliche Vorgabe existiert, und das ist der von der Norm gezogene Rahmen. Innerhalb des normativen Rahmens findet die Selektion unter den verschiedenen 3 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934, S. 90 ff.; i m wesentlichen gleichlautend: Z u r Theorie der Interpretation, Revue internationale de la théorie du droit V I I I (1934), S. 9. 4 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 94 ff.; u n d besonders prägnant ders., Was ist die Reine Rechtslehre? in: Demokratie u n d Rechtsstaat, FS f. Giacometti, 1953, S. 150 f.
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Möglichkeiten nach außerrechtlichen Kriterien statt, also rechtspolitisch. Daher ist die Suche nach der richtigen Entscheidung rechtswissenschaftlich von vornherein vergeblich. Mangels eines positivrechtlichen Rahmeninhalts besitzt die Rechtswissenschaft keine Möglichkeit, über die Ausfüllung des Rahmens Aussagen zu machen. Tut sie es, was regelmäßig geschieht, ja sogar ausdrücklich als ihre Aufgabe gilt, so ist das Ideologie i m Mantel von Wissenschaft. Dagegen hat die Rechtspraxis keinen Erkenntnis-, sondern einen Handlungsauftrag. I m Gegensatz zur Rechtswissenschaft steht sie daher unter dem Zwang, aus den juristisch gleichwertigen Ausfüllungsalternativen eine zu ergreifen, sieht sich dabei indes auf außerrechtliche Vorzugsregeln verwiesen und ist insofern vom rechtswissenschaftlichen Standpunkt aus notwendig Dezision. Als solche entzieht sie sich aber sowohl rechtswissenschaftlicher Hilfe als auch Kontrolle. Die Rechtswissenschaft vermag die Rechtspraxis nur zu falsifizieren, indem sie ihr Rahmensprengung nachweist, kann aber nicht handlungsanleitend wirken. Alle Rechtspraxis, vom Gesetzgeber bis zum Gerichtsvollzieher, ist Politik und daher i m Kern der Rechtswissenschaft unzugänglich. 2. Verfassungsgerichtsbarkeit bei Kelsen
Während Carl Schmitt nun gerade unter Berufung darauf, daß die Normenkontrolle ein gesetzgeberisches Element enthalte und deswegen dem Wesen der Justiz widerspreche, die Bestellung eines Gerichts zum Hüter der Verfassung bekämpft 5 , schlägt Kelsen den umgekehrten Weg ein. Zwar nennt er in seiner Auseinandersetzung mit Schmitt die Forderung nach Garantien der Verfassung eine rechtspolitische, über deren Zweckmäßigkeit man verschiedener Meinung sein könne 6 . Auch die rechtstechnische Frage nach der besten Ausgestaltung solcher Garantien lasse durchaus verschiedene Antworten zu. Doch hatte Kelsen schon in seinem Vortrag bei der Wiener Staatsrechtslehrertagung hinlänglich klar gemacht, daß er Verfassungsgerichtsbarkeit i m Grunde als logische Konsequenz jeder ernstgemeinten Verfassung empfand 7 . Wenn die Verfassung die Erzeugung der Gesetze regelt, indem sie den Gesetzgeber auf ein bestimmtes Verfahren festlegt und ihm womöglich auch bestimmte Inhalte vorschreibt, dann haben diese Vorkehrungen für Kelsen nur unter der Voraussetzung Sinn, daß sie auch gegen einen widerstrebenden Gesetzgeber durchsetzbar sind. Einer Verfassung, die die Gesetzgebung reglementiert, ohne sich u m die Einhaltung ihrer Regeln zu kümmern, mangelt die volle Rechtsverbindδ 6 7
Vgl. Carl Schmitt , Der Hüter der Verfassung, 1931. Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, S. 5. Kelsen, V V D S t R L 5, S. 78 ff.
I t e r p r e t a t i o n l e h r e , Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratieprinzip
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lichkeit. Sie bedeutet rechtstechnisch gesehen nicht viel mehr als einen „unverbindlichen Wunsch" 8 . Genaugenommen betrachtet sie ihre eigenen Vorschriften über die Gesetzgebung nicht als zwingend, sondern stellt sie zur Disposition: „entweder so, aber wenn nicht so, dann auch — beinahe beliebig — anders" 9 . W i r d das nicht allgemein durchschaut und entsprechend gehandhabt, so sind die Gründe nur psychologisch erfaßbar, es handelt sich nicht um einen rechtlich bewirkten Erfolg. Eine Verfassung ohne Durchsetzungsinstanz beraubt sich vielmehr ihres normativen Gehalts und ist vom Standpunkt der Reinen Rechtslehre juristisch ohne Interesse. I n der Entgegnung auf Carl Schmitts Plädoyer, den Reichspräsidenten als Verkörperung der politischen Einheit des Staates zum Hüter der Verfassung gegenüber dem Reichstag als „Spiegelbild der Pluralität organisierter sozialer Machtkomplexe" 1 0 zu machen, präzisiert Kelsen, warum ein gerichtliches Kontrollorgan den Vorzug verdient. Zum Ausgangspunkt wählt er dabei die politische Funktion der Verfassung, die für ihn in der rechtlichen Beschränkung der politischen Machtausübung liegt. Daher wäre es dysfunktional, zu Garanten dieser Schranken die Machthaber selbst zu berufen. Verfassungsrechtliche Garantien haben vielmehr nur dann Aussicht auf Beachtung, wenn ihre Durchsetzung anderen Organen als gerade denjenigen anvertraut wird, deren Akte zu kontrollieren sind. Effektive Kontrolleistungen vermögen nur ausdifferenzierte, unabhängige Kontrollinstanzen zu erbringen. Um diese Leistung geht es Kelsen, und dafür scheint es i h m belanglos, ob das Organ, das sie erbringt, ein „Gericht" und seine Funktion als echte „Justiz" zu qualifizieren ist 1 1 . Außer Frage steht, daß sie von einem Gericht erbracht werden kann, und zwar, wie Kelsen nicht ausdrücklich vermerkt, aber ständig durchblicken läßt, wegen der strukturellen Gleichartigkeit von Verfassungsmäßigkeits- und Gesetzmäßigkeitsprüfungen besonders gut. Schmitts immer wiederkehrendes Gegenargument, daß Verfassungsrechtsprechung die Justiz zum Gesetzgeber erhebe und damit politisiere, verfängt bei ihm nicht, weil er in jedem Rechtsanwendungsakt ein Stück Gesetzgebung entdeckt und die Justiz auf diese Weise ohnehin für politisch halten muß. Von Schmitts Argumentation bleibt daher für Kelsen nur eine grundsätzlich antipluralistisch-autoritäre Staatsvorstellung übrig 1 2 , die die normative Verfassung tendenziell auflöst und in der Verfassungsgerichtsbarkeit folgerichtig einen Störfaktor wittert, während es für Kelsen dieselbe 8
Ders., ebd., S. 78. • Ders., ebd., S. 79. 10 Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 141. 11 Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, S. 12. 12 Ders., ebd., S. 47 ff.
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Verfassungsgerichtsbarkeit ist, die der Verfassung erst ihre eigentliche normative Kraft verleiht. 3. Vermittlung beider mit dem Demokratieprinzip
Führt man beide Gedankenstränge zusammen, den interpretationstheoretischen vom rechtserzeugenden und damit unausweichlich politischen Charakter jeder Rechtsanwendung, dessen Ausmaß dem Stufenbau der Rechtsordnung folgt, und den staatstheoretischen von der Notwendigkeit einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung des Gesetzgebers, die sich folglich auf der höchsten Stufe abspielt und daher einen besonders hohen Politikgehalt aufweist, so stellt sich die Frage nach der Verträglichkeit von Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratie. Kelsens Option für die Demokratie ist eine Konsequenz seines wissenschaftstheoretischen Relativismus 13 . Demokratische Systeme legitimieren sich nicht über Wahrheit, sondern über Konsens. Recht beruht also auf Entscheidung. Um eine demokratische Entscheidung handelt es sich dann, wenn sie von der Mehrheit getragen wird. Die Majorität bewegt sich dabei in einem gewissen Rahmen, der notwendig aus Verfahrens» und fakultativ auch aus Inhaltsnormen besteht und seinerseits von einer größeren Majorität festgesetzt worden ist. Innerhalb des Rahmens genießt die Majorität Freiheit. Falls sie diese Freiheit nicht besäße, wäre das gleichbedeutend mit einer Herrschaft der Minderheit. Eine denkbare Vermittlung zwischen Demokratieprinzip und Verfassungsgerichtsbarkeit könnte nun darin bestehen, daß das Verfassungsgericht nur prüft, ob die Majorität den verfassungsrechtlichen Rahmen, bezüglich dessen für Kelsen ja Erkenntnisgewißheit herrscht, überschritten hat, während alle Entscheidungen, die sich in dem Rahmen halten, als juristisch gleich gültig hinzunehmen sind. Überraschenderweise sucht man aber eine solche Erklärung bei Kelsen vergeblich. Das wäre freilich ohne Bedeutung, wenn sie sich aus dem Kontext ergäbe. Befragt man diesen daraufhin, so findet sich zunächst nirgends die Aussage, daß Rechtsanwendung durch ein Verfassungsgericht unter grundsätzlich anderen Bedingungen stattfände als Rechtsanwendung in der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Kelsen bemüht sich i m Gegenteil um den Nachweis, daß zwischen der traditionellen Justiz und der Verfassungsgerichtsbarkeit kein struktureller Unterschied bestehe 14 . Sie ist ebenso wie diese Rechtspraxis und soll nicht primär erkennen, sondern entscheiden. Die Beschränkung auf die Fragestellung des positivrechtlichen Rahmens, der er die Rechtswissenschaft unterwirft, t r i f f t daher prima facie nicht auf die Verfassungsgerichtsbarkeit zu. Soll für sie 13 14
Kelsen, V o m Wesen u n d Wert der Demokratie, 2. A u f l . 1929, bes. S. 101. Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein? bes. S. 14 ff.
I t e r p r e t a t i o n s l e h r e , Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratieprinzip 155
eine Ausnahme gelten, müßte das deutlich erkennbar sein. A n einem solchen Hinweis fehlt es aber nicht nur, die Exegese der Kelsenschen Schriften zur Verfassungsgerichtsbarkeit legt vielmehr das Gegenteil nahe. Deutlicher als i m Staatsrechtslehrervortrag w i r d das i n der Auseinandersetzung m i t Schmitt. Hier nimmt Kelsen zunächst seine These vom politischen, weil rechtserzeugenden Charakter jeder Rechtsprechung auf und führt anschließend aus, daß der politische Gehalt auch der verfassungsgerichtlichen Urteile unleugbar, ja womöglich noch größer als der sonstiger Gerichtsentscheidungen sei 15 . Das kann i n der Kelsenschen Terminologie nichts anderes als den rechtserzeugenden Gehalt der Urteile meinen. Dieser bezieht sich aber gerade nicht auf den normativ vorgegebenen Rahmen, sondern seine nicht mehr normgeleitete Ausfüllung. Die Bestätigung folgt alsbald, wenn Kelsen die Behauptung Schmitts angreift, daß die Justiz aufhöre, sobald die anzuwendende Norm i n ihrem Inhalt zweifelhaft werde. Er hält dagegen, daß die Justiz meist erst dort anfange, wo der Norminhalt in Zweifel gerate. Auch insoweit macht er keinen Unterschied zwischen Verfassung und Gesetz. Erst recht läßt er nirgends erkennen, daß bei zweifelhaftem Verfassungsinhalt die Interpretation des Gesetzgebers Vorrang habe. Das Verfassungsgericht muß vielmehr eine eigene Entscheidung fällen, und diese ist dann für Kelsen „Festsetzung", nicht etwa Feststellung des Norminhalts 1 6 . Vollends deutlich w i r d Kelsen, wenn er i m Streit um die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes immer auch einen Streit u m die Frage sieht, wie die Rechtsschöpfung i m Verfassungsrahmen am besten vor sich gehen soll, „so daß das Urteil des Verfassungsgerichts i n Wahrheit eine Fortbildung der Verfassung nach einer bestimmten Richtung bedeutet" 1 7 . Daß darin die Gefahr einer von der Verfassung nicht intendierten (also wohl verfassungswidrigen) Machtverschiebung vom demokratisch legitimierten Parlament auf eine außerhalb des demokratischen Legitimationszusammenhangs stehende Instanz liegt, ist Kelsen bewußt. Auch er hat dagegen aber keinen juristischen, sondern nur einen rechtspolitischen Rat: nämlich die Verfassungsnormen, namentlich die Grundrechte, so präzise wie möglich zu formulieren und auf Formeln wie Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit möglichst ganz zu verzichten 18 .
15 16 17 18
Ders., Ders., Ders., Ders.,
ebd., ebd., ebd., ebd.,
S. 16. S. 18. S. 29. S. 24 und V V D S t R L 5, S. 70.
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I I I . Hintergründe Da Kelsen die Wahl der Verfassungsrichter durch das Volk zwar für möglich hält, aber ersichtlich nicht empfehlen mag 1 9 , komme ich zu dem Schluß, daß eine den Erfordernissen des Demokratieprinzips genügende Vermittlung zwischen den Erkenntnissen der Methodenlehre und den Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht stattgefunden hat. Bei der Frage nach den Gründen bin ich auf Spekulationen angewiesen. Die eine: Kelsen verfolgte ein oberstes wissenschaftliches Ziel, die Entideologisierung der Rechtswissenschaft, konkreter die Reinigung der Staatsrechtslehre von allen politischen Beimischungen. Das setzte für ihn eine Beschränkung der Rechtswissenschaft aufs positive Recht und innerhalb des positiven Rechts einen Verzicht auf Aussagen über die richtige Interpretation voraus. Damit rückt freilich die gesamte Justiz einschließlich der Verfassungsgerichtsbarkeit, die Kelsen benötigt, weil sonst der Rechtscharakter von Verfassungen zweifelhaft gewesen wäre, auf die Seite der Politik und entzieht sich auf diese Weise der wissenschaftlichen Kontrolle. Von der Interpretation durch die Rechtsautorität zu sagen, sie sei richtig oder falsch, ist nämlich für Kelsen juristisch sinnlos; „denn selbst wenn sie vom Standpunkt reiner Erkenntnis falsch wäre, ist sie doch Recht" 20 . Falls daher das Gerichtsurteil „keine der vom Standpunkt der Rechtswissenschaft möglichen Deutungen der anzuwendenden Norm darstellt, kann der wissenschaftliche Jurist nur feststellen, daß durch diesen A k t neues Recht . . . erzeugt wurde" 2 1 . Da die Verfassungsgerichtsbarkeit als Garant des ranghöchsten Rechts auch keiner sonstigen Kontrolle unterliegt, ist sie selbst Herr ihrer Grenzen und w i r d in letzter Konsequenz zur unbegrenzten Gewalt. Das ist der Preis für die A r t von Reinheit, die Kelsen der Rechtswissenschaft aufnötigt, ohne daß sie eine Entsprechung i m Gegenstand hätte. Da der Gegenstand der Verfassung gerade i n Politik besteht und auch das Verfassungsrecht immer aus Politik hervorgeht und wieder auf Politik wirken soll, was Kelsen nicht leugnet, w i r d auch der Sinn des Verfassungsrechts von Politik mit konstituiert und kann daher nicht isoliert von Politik erfaßt werden 2 2 . Für die sachwidrig hergestellte Reinheit der Staatsrechtslehre muß Kelsen an die Praxis Konzessionen machen. Eine von ihnen ist die nicht gelungene Vermittlung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit, Methodenlehre und Demokratie. 19
Kelsen , Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, S. 50. Kelsen , in: FS Giacometti, S. 151. 21 Ders., ebd. 22 Vgl. etwa Friedrich Müller, N o r m s t r u k t u r u n d Normativität, 1966; Grimm, Staatsrechtslehre u n d Politikwissenschaft, in: ders. (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften I, 2. Aufl. 1976, S. 53. 20
I t e r p r e t a t i o n s l e h r e , Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratieprinzip
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Die andere: Kelsen verfolgte ein oberstes politisches Ziel. Angesichts der Existenz verschiedener Wahrheits- und Gerechtigkeitsauffassungen und der Nichtentscheidbarkeit von Wahrheitsfragen ging es ihm darum, die friedliche Koexistenz der unterschiedlichen Überzeugungen und Interessen zu ermöglichen. Als dafür besonders geeignete Staatsform erschien ihm die Demokratie 2 3 , die sich von anderen Staatsformen gerade durch ihre Nichtidentifikation mit politischen Inhalten abhebt. Demokratie als bloße Spielregel verstanden vermag diese Leistung allein freilich nicht zu erbringen, weil sie keine Vorkehrung gegen die demokratische Abschaffung der Demokratie oder gegen die Ausübung von Mehrheitsdiktatur besitzt. Daher verlangt Demokratie für Kelsen immer auch Minderheitenschutz 24 . Er ist dann allerdings auf Zusatzvorkehrungen angewiesen, die die demokratischen Fundamentalregeln selbst der demokratischen Disposition entziehen sowie die gesellschaftlichen Voraussetzungen demokratischer Willensbildung sichern. Solche Vorkehrungen findet er insbesondere in Gestalt der Grundrechte und der Verfassungsgerichtsbarkeit. Mit beiden w i r d freilich eine materielle Festlegung getroffen und ein Wahrheitselement in das vermeintlich rein formale System eingeführt, das Kelsen von seinem Standpunkt aus nicht mehr ausreichend zu begründen vermag 2 5 . Wie zuvor die Reinheit stößt hier der Relativismus an seine praktischen Grenzen. Der Preis des Eintretens für die Demokratie sind ungewollte inhaltliche Zugeständnisse, ohne welche sich freilich eine demokratische Ordnung überhaupt nicht begründen ließe.
23
Kelsen, V o m Wesen u n d Wert der Demokratie, bes. S. 98 ff. Ders., ebd., S. 53 ff., bes. S. 56 f.; S. 65 f., S. 101 f.; W D S t R L 5, S. 80 f. 25 Vgl. dazu Peter Koller, Z u einigen Problemen der Rechtfertigung der Demokratie, i n diesem Band. Generell Grimm, Reformalisierung des Rechtsstaats als Demokratiepostulat? JuS 1980, S. 708. 24
DEMOKRATIE UND RECHTSSYSTEM I N PHILOSOPHISCHER SICHT Von Vladimir Kubes, Brno/Wien I. Zur Einführung in den Fragenkomplex und methodologischer Ausgangspunkt 1. Demokratie ist ein Schlagwort in der Politik fast aller Staaten geworden. Es wäre nicht leicht einen Staat zu finden, dessen führende Schicht nicht mit aller Vehemenz behauptet, daß gerade in ihrem Staat die Demokratie und die Menschenrechte voll garantiert sind. Das geheimnisvolle Wort „Demokratie" w i r d immer von neuem und bei jeder Gelegenheit in allen Fällen dekliniert und jeder muß überzeugt werden, daß nur die oder jene Verfassung wirklich demokratisch sei, daß gerade in diesem oder jenem Staat auch die Praxis i n weitestem Sinne demokratisch ist. Dennoch herrscht über die begriffliche Bestimmung der Demokratie immer mehr Unklarheit. Es ist daher angebracht, zuerst zum Begriff der Demokratie etwas zu sagen und den eigentlichen Kern oder das Wesen der Demokratie aufzuzeigen. Es w i r d sich zeigen, daß der Begriff der Demokratie komplex-dialektischer Natur ist und daß die volle Demokratie nicht bloß politisch, sondern auch sozial und wirtschaftlich aufgefaßt werden muß. Zunächst muß man sich vor Augen halten, daß die Demokratie das Prinzip der Mehrheit und das Prinzip der Gleichheit, der gleichen (und vollen) Würde jedes Individuums bedeutet. Es w i r d sich zeigen, daß die sehr umstrittenen Menschenrechte ihren eigentlichen Heimatort in politischer Hinsicht nicht direkt in der Demokratie, sondern im Liberalismus haben. 2. Was das Rechtssystem anbelangt, muß man sich auch hier der komplex-dialektischen Methode bedienen. Das Recht ist nicht nur ein System, eine Einheit, ein Inbegriff von Normen gewisser Qualität, sondern auch, wie dies z. B. Julius Moór klar zeigte 1 , ein System von entsprechenden Handlungen. Man muß zwischen dem Recht (dem In1
Julius Moór, Das Logische i m Recht, Revue internationale de la Théorie du Droit, I I , 1927/1928, S. 158 ff.
V l a d i m i r Kubes
160
begriff von Normen und Handlungen) und der Rechtsordnung Inbegriff nur von Normen) klar unterscheiden.
(dem
Die Rechtsordnung ist in der Terminologie der modernen kritischen Ontologie
der
objektivierte
Rechtsgeist,
der
letztlich
im
objektiven
Rechtsgeist (dem Rechtsbewußtsein des Volkes der betreffenden Rechtsgemeinschaft einschließlich der rechtlichen Weltanschauung) verankert ist. Das Recht und auch die Rechtsordnung sind Phänomene der realen Welt. Die Rechtsordnung als der objektivierte Rechtsgeist gehört in die oberste Schicht des stufenförmigen Aufbaues der realen Welt, nämlich in die Schicht des geistigen Seins. Für die Rechtsordnung sind daher die Kategorien, die in der höchsten Seinsschicht dominant sind, maßgebend. Es handelt sich um die Kategorien der Zeit, der Normativität und der Teleologie im Sinne von Zwecktätigkeit. Das Recht greift jedoch — schon mit Rücksicht auf seinen integrierenden Bestandteil, der im organisierten Zwang i m Durchschnitt besteht — auch in die anderen niedrigeren Seinsschichten ein, also in die Schicht des physisch-materiellen Seins, in die Schicht des organischen Seins und in die Schicht des seelischen Seins. Für das Recht sind daher auch die anderen Kategorien, besonders die Kategorien der Kausalität und der Wechselbeziehung, die in den niederen Seinsschichten dominant sind, maßgebend. 3. Die wirtschaftliche Struktur der Gesellschaft als reale Grundlage hat einen großen, wenn auch nicht den ausschließlichen Einfluß zuerst auf die Philosophie, auf das philosophische Denken. Gerade i m philosophischen Bereich entstehen dann solche Grundbegriffe des menschlichen Denkens, wie die Begriffe der Würde jedes menschlichen Indiv i d u u m s , der Menschenrechte,
der Demokratie
usw.
Erst dann entlehnen aus diesem philosophischen Bereich einzelne politische Strömungen diese Begriffe und verwenden sie als anziehende und mächtige Instrumente für ihren politischen Kampf. Letztlich kommt es zu Objektivationen dieser i m Bereiche des objektiven Geistes sich bewegenden Grundbegriffe. So kommt es insbesondere auch zur juristischen Objektivation und manchmal erscheinen diese Begriffe als ein Teil des objektivierten Geistes (Rechtsgeistes). Sie erscheinen als Rechtsbegriffe (Rechtswesensbegriffe, Rechtsinhaltsbegriffe i m engeren Sinn, also als Rechtsbegriffe der Rechtsordnung selbst, oder als systematische Rechtsbegriffe, daher als Begriffe der Rechtswissenschaften einschließlich der Rechtsphilosophie).
Demokratie und Rechtssystem i n philosophischer Sicht
161
4. Was bedeutet die komplex-dialektische Methode anstelle der einzigen, „reinen" Methode z. B. der Schule der Reinen Rechtslehre? Die Notwendigkeit, zuerst zwar mit aller Schärfe und methodischer Klarheit einzelne „Seiten" des „Gegenstandes", der erkannt werden soll, zu beobachten, zu erkennen und zu fixieren, aber dann doch zu einem einzigen komplex-dialektischen Begriff dieses Gegenstandes zu gelangen. So muß man z.B. wenn man den „Gegenstand", den Begriff der Freiheit erkennen w i l l , zwar zuerst diesen einheitlichen Begriff „zerlegen" und klar einzelne „Seiten", „Flächen" dieses Begriffs herauspräparieren (sc. die politische Freiheit, die wirtschaftliche Freiheit, die juristische Freiheit, die Willensfreiheit usw.), dann aber alle schon methodologisch rein erkannten Seiten (oder — wenn man w i l l — einzelne Begriffe) der Freiheit wieder i n eine komplex-dialektische Einheit des einzigen, „vollen" Begriffs der Freiheit zusammenfassen.
II. Zum Begriff der Demokratie 1. Die einen wollen in der Demokratie gerade das sehen, was nicht richtig ist, was daher überhaupt nicht sein soll 2 . Sicher handelt es sich hierbei um eine Meinungsminderheit. Die anderen identifizieren i m Gegenteil die Demokratie einfach mit dem Richtigen an sich, mit dem, was überhaupt sein soll. Das eigentliche Wesen der Demokratie bleibt dabei aber immer unklar. Nach der Meinung Hans Kelsens ist der Ausgangspunkt und daher auch die Grundlage der Demokratie der Relativismus 3. Dazu zutreffend Gustav Radbruch A: „Der demokratische Staat wäre daher nicht an eine bestimmte Zweckgesinnung gebunden, er wäre gesinnungslos, neutral gegenüber allen Weltanschauungen." Sicher ist, daß zum Wesen der Demokratie die realisierte Idee gehört, daß die Staatsgewalt vom Volke ausgeht, daß hier das Prinzip der Mehrheit gilt und daß der Wert jedes Individuums gleich ist. Schon das bedeutet auch die Garantie der Würde des einzelnen Menschen und daher auch der Menschenrechte. 2. Ausführlicher kann man sagen: a) I n der demokratischen Staatsform kann die Minderheit (auch wenn es sich um eine nationale Minderheit handelt) nicht die Mehrheit überstimmen, obgleich es solche Fälle in der Gegenwart gibt. 2
Vgl. Adolf Lasson, Rechtsphilosophie, 1882, S. 667 f. Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 370 f. 4 Gustav Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, S. 105. 8
1
R E C H T S T H E O R I E , Beiheft 4
2.
Aufl.,
1959,
162
V l a d i m i r Kube
b) Das Prinzip, daß die Staatsgewalt vom Volke ausgeht, bedeutet, daß alle staatlichen Funktionen mittelbar (z. B. bei den Richtern) oder unmittelbar aus Volkswahlen hervorgehen. c) Volksherrschaft bedeutet in gewissem Sinn Parteienherrschaft. Weder Wahlen noch Volksabstimmung noch die notwendigen Vorarbeiten zur Schaffung neuer Gesetze sind möglich „ohne eine Vorgruppierung, die zur Kandidatenaufstellung und zur vorläufigen Klärung der sachlichen Gegensätze dient" 5 . Die Existenz der politischen Parteien ist für die demokratische Staatsauffassung i m heutigen Sinn eine essentielle Vorbedingung. Gerade hier bildet sich — inhaltlich gesehen — der maßgebende Wille, der dann seine Objektivation in den vom Parlament verfaßten Gesetzen findet. Sehr lange lebten die politischen Parteien im juristischen Schatten. Doch scheint es unentbehrlich zu sein, daß die Existenz politischer Parteien schon in der Verfassung ausdrücklich normiert w i r d und daß sich auch die Willensbildung innerhalb der Parteien nach demokratischen Prinzipien richtet 0 . d) Der Gedanke der Menschenrechte war — politisch gesehen — ein essentieller Bestandteil des Liberalismus. Die Demokratie hat allerdings diesen Gedanken übernommen und fest i n ihr Wesen integriert. Es scheint wahr zu sein, daß zwischen dem politischen Liberalismus und der Demokratie nicht nur ein quantitativer, sondern gerade ein qualitativer Unterschied besteht, wie das aus den folgerichtigsten Formen der beiden hervorgeht, nämlich aus dem Anarchismus als der extremen Form des Liberalismus, und dem Sozialismus i m Sinne der folgerichtigen Demokratie, d. i. der Demokratie, welche sich nicht nur auf den Bereich der Politik beschränkt, sondern sich auch auf den Bereich der Wirtschaft erstreckt 7 . Ferner sind die Menschenrechte, die i n der Würde jedes Menschen begründet sind, ein essentieller Bestandteil der Demokratie. Jedenfalls ist die Bedeutung der Menschenwürde und Menschenrechte für die demokratische Auffassung maßgebend. Alexis de Tocqueville hat mit aller Schärfe die höchst unliberale Tyrannei der Majorität dargelegt 8 . Und auch John Stuart Mill hat prophetisch die Gefahr gesehen, i n die die Freiheit durch „Selbstregierung" des Volkes geraten kann 9 . 5
Ders., ebd., S. 105. Vladimir Kubes, Ο novou ùstavu [ U m die neue Verfassung], 1947, S. 112 f. 7 Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl., 1932, S. 62; Vladimir Kubes, Filosoficky zäklad nové ùstavy [Die philosophische Grundlage der neuen Verfassung], 1947, S. 20; ders., P r ä v n i filosofie X X . stoleti [Die Rechtsphilosophie des X X . Jahrhunderts], 1947, S. 38; Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1963, S. 123. β
Demokratie und Rechtssystem i n philosophischer Sicht
163
e) Die v/ahre, die volle Demokratie kann nicht vorhanden sein, wenn die demokratischen Grundprinzipien nur für den politischen Bereich gelten. Die Demokratie muß sich auch i m sozialen und wirtschaftlichen Bereich geltend machen. Mit Recht spricht man von drei Seiten der Demokratie — oder anders und nicht ganz präzis ausgedrückt: von der politischen, der sozialen und der wirtschaftlichen Demokratie —, die allerdings eine Einheit, einen einzigen komplex-dialektischen Begriff der Demokratie bilden. Dann ist aber auch der Sozialismus (nicht dieser oder jener Färbung) nichts anderes als die volle Demokratie, d. h. die politische Demokratie, welche auch i m sozialen und i m w i r t schaftlichen Bereich etabliert und verwirklicht ist. 3. Die Idee dieser vollen Demokratie zusammen mit anderen Ideen, wie mit der realen Idee des Rechts, steht unter der höchsten realen Idee der Humanität 1 0 . Die Idee der Humanität und die Idee des Rechts — eine Gesellschaft ohne Recht ist undenkbar 1 1 — haben den Menschen als solchen i m Sinne und daher den Menschen als den Einzelnen, sowie auch den Menschen als einen Bestandteil des Ganzen. Man kann die Demokratie auch als Autonomie, als ein gewisses normbildendes Prinzip auffassen 12 . Die Demokratie als Volksregierung ist notwendig eine Selbstregierung. Vorn Standpunkt der normativen Theorie kann man sie nur als eine Methode der Schaffung von Normen begreifen. Als demokratische Staatsform w i r d eine solche gelten, i n der der normbildende Prozeß ganz oder zum großen Teil nach dem Prinzip der Autonomie geregelt ist. Der Gedanke der Autonomie als Selbstbestimmung gehört zum Wesen der Demokratie 1 3 . Zwischen der realen Grundlage, welche die wirtschaftliche Struktur der Gesellschaft bildet, und dem Überbau, wozu auch die Politik und das Recht gehören, oder anders ausgedrückt, zwischen der wirtschaftlichen Funktion des Staates und der Rechtsordnung des Staates, besteht eine sehr enge Beziehung, ja Wechselwirkung. Wenn es zu einer Unangemessenheit zwischen der realen Grundlage und dem Überbau kommt, kann dieser Zustand nicht lange dauern und es muß notwendigerweise zum Ausgleich kommen. 8 Alexis de Tocqueville, Die Demokratie i n Amerika, Bd. I, T e i l 2, Kap. 7, Bd. I I , Teil 4, Kap. 6; dazu Reinhold Zippelius, Das Wesen des Rechts, Eine Einführung i n die Rechtsphilosophie, 4. Aufl., 1978, S. 154. 9 John Stuart Mill, Die Freiheit, Kap. 1; Zippelius, S. 154. 10 Vgl. T. C. Masaryk, Ideäly h u m a n i t n i [Die Ideale der Humanität], Ausg. 1946, S. 7. 11 Vladimir KubeS, Das Recht und die Z u k u n f t der Gesellschaft, ARSP, Beiheft N. F. 11, 1979. 12 Frantisek Weyr, Teorie prava [Die Theorie des Rechts], 1936, S. 140. 13 Hans Ryffel, Rechts- und Staatsphilosophie. Philosophische Anthropologie des Politischen, 1969, S. 433 ff., S. 444 ff.
1*
164
V l a d i m i r Kubes
I I I . Rechtssystem als Inbegriff von Normen und Handlungen 1. I n diesem Abschnitt widme ich mich der begrifflichen Bestimmung des Rechtssystems. Bei dieser begrifflichen Bestimmung muß man von der deskriptiven Methode der Bestimmung der Ebene der M i t t e der Phänomene zwischen dem naiven und dem wissenschaftlichen Begreifen und Erkennen des Rechts, besonders auch von der philosophischen Erfahrung des Rechts, also von der Gesamter fahrung, ausgehen. A u f diesem Wege gelangen w i r zu folgender begrifflichen mung des Rechts:
Bestim-
Das Recht ist die Gesamtheit und ein Stufenbau von Normen — und auch der entsprechenden Handlungen —, die von der Grundnorm abgeleitet sind, welche i m objektiven Geist (dem Bewußtsein des Volkes der betreffenden Gemeinschaft einschließlich der Weltanschauung) verankert ist und auf Gerechtigkeit, Freiheit des konkreten Menschen, Sicherheit und Zweckmäßigkeit hinzielt, von Normen, welche i m Durchschnitt m i t organisiertem Zwang und Faktizität ausgestattet sind und einen bedeutenden Teil der Verhältnisse i n der Gemeinschaft i n relat i v dauernder Weise regeln. 2. Das Recht ist daher durch folgende Kennzeichen charakterisiert: a) Es ist eine Gesamtheit von Normen. Das Recht hat normativen Charakter, und zwar den Charakter einer abgeleiteten Normativität. Die Normativität i m reinen Sinn ist nur den Normideen (der Normidee der konkreten Menschlichkeit, der Normidee der Wahrheit und Richtigkeit, der Normidee des Rechts, der Normidee der Sittlichkeit und der Normidee des Schönen) eigen, welche der Welt der Idealität angehören. Die abgeleitete Normativität kommt i n gewissen Sphären des personalen, objektiven und objektivierten Geistes, besonders i n der rechtlichen Sphäre vor. Der Geist, das geistige Sein, bildet die höchste Schicht des stufenförmigen Aufbaues der realen Welt. Die Norm als solche ist eine Bestimmung der Pflicht zu etwas und zugleich ein normatives Urteil, welches eine gewisse abgeleitete normative Feststellung enthält, daß „ A sein soll", und hierdurch einen Maßstab für die Beurteilung gewisser konkreter Tatbestände darstellt. Der Imperativ hingegen ist kein solches normatives U r t e i l u n d hat nicht die Funktion eines Maßstabes. b) Das Recht, die Rechtsordnung, ist kein bloßes Konglomerat einzelner Normen ohne Zusammenhang, sondern als ein Ganzes ist es — wenn man an seinen Hauptbestandteil, der i n das geistige Sein gehört, denkt — ein Inbegriff, eine Einheit, ein System. Es stellt eine Ganzheit
Demokratie und Rechtssystem i n philosophischer Sicht
165
vieler wechselseitig zusammenhängender Normen und normativer Urteile dar; in einer Rechtsordnung als einem System kann nicht gleichzeitig eine Norm „ A soll sein" und eine Norm „Non-A soll sein" gelten. Jede Rechtsordnung bildet eine logische Einheit ihres Inhalts. Julius Moór betont zu Recht, daß es nicht der Wille des Gesetzgebers ist, der die Einheit des Systems der Rechtsordnung schafft, sondern daß es umgekehrt der Standpunkt der logischen Einheit der Rechtsordnung ist, welcher darüber entscheidet, was der Gesetzgeber zum Gesetz machen kann 1 4 . Der Gesetzgeber kann nur eine solche Vielheit von Normen als Recht setzen, die man in eine logische Einheit des Rechts bringen kann. Kein Gesetzgeber kann etwas und gleichzeitig dessen Gegenteil anordnen. Schon bei der Rechtsordnung handelt es sich um etwas, was höchst logisiert ist. Jede Rechtsnorm stellt ein Urteil auf hoher logischer Stufe dar. Das Problem der Einheit des Rechts w i r d mit Hilfe der Konstruktion des stufenförmigen Aufbaues der Rechtsordnung gelöst. Jede niedere Rechtsnorm muß sich, um gültig zu sein, i m Rahmen der diesbezüglichen höheren Rechtsnorm bewegen. Das Recht als ein Inbegriff von Normen muß immer und um jeden Preis logisch mindestens zwei Schichten von Rechtsnormen, und zwar eine delegierende Norm und i n deren Rahmen die Möglichkeit der Schaffung von delegierten Normen, aufweisen. In der Möglichkeit der Anwendung bzw. direkt in der A n wendung besteht die charakteristische Eigenschaft des Rechts. Die empirische Erkenntnis einzelner Rechtsordnungen zeigt allerdings, daß meist nicht nur zwei, sondern eine ganze Reihe von solchen Normenschichten vorliegt. Schon bei Piaton findet man das B i l d des rechtlichen Zusammenhanges als eines Delegationszusammenhanges. Eines der Grundprinzipien, welches die Einheit der Rechtsordnung garantiert, ist der Grundsatz, daß die spätere Rechtsnorm allen Rechtsnormen derselben oder einer niederen rechtlichen Relevanz, die ihr w i d e r s p r e c h e n , d e r o g i e r t („lex
posterior
derogat
legi priori").
Die A n -
sicht von Merkl 1 5 , daß der umgekehrte Grundsatz, nämlich „lex posterior non derogat legi priori", der Rechtsordnung immanent ist und daß, wenn die Rechtsordnung nichts anderes bestimmt, die ältere Rechtsnorm Vorrang vor der neueren hat und das Recht unabänderlich wird, ist ganz und gar unrichtig. Der Grundsatz „lex posterior derogat legi priori" drückt nämlich eine ontologische Notwendigkeit aus. Die Rechtsordnung ist etwas Lebendiges. Das Leben eines solchen Normenkomplexes zu negieren, würde bedeuten, sein eigenes Wesen zu negie14 Moór, Das Logische i m Recht, Revue internationale de la Théorie du Droit, I I , 1927/28, S. 162. 15 Adolf Merkl, Die Lehre von der Rechtskraft, S. 238, 255 ff., 260 ff.
166
V l a d i m i r Kubes
ren. Die Rechtsordnung ist der objektivierte Rechtsgeist, der durch den objektiven Rechtsgeist getragen und bedingt ist. I m Zusammenhang mit dem objektiven Rechtsgeist bildet die Rechtsordnung ein lebendiges Gebilde, das entsteht, sich ändert und stirbt, vergeht. Nicht nur die Rücksicht auf Phänomene, auf uralte Erfahrung, sondern das Wesen der Rechtsordnung als einer besonderen Verbindung des objektivierten Rechtsgeistes mit dem objektiven Rechtsgeist schließt durch ihr Wesen selbst die Geltung des Grundsatzes „lex posterior non derogat legi priori" aus. Jede solche Bestimmung würde schließlich durch die ontologische Lebendigkeit der Rechtsordnung hinweggefegt werden. c) Die Konstruktion der Grundnorm, welche als die Krone der ganzen Kelsenschen Rechtsauffassung gelten sollte, ist für den -positiven Juristen zwar keinesfalls notwendig, aber doch zweckmäßig. Die Grundnorm bildet eine künstliche Spitze des hierarchischen Aufbaues der positiven Rechtsordnung und ist eine „Abkürzung", die i n nucleo den ganzen positivrechtlichen Aufbau der Rechtsnormen einschließlich aller Schichten des Völkerrechts und aller Rechtsordnungen einzelner Staaten enthält, und die logische Einheit dieses ganzen Systems ausdrückt und „garantiert". Für den Rechtsphilosophen ist es aber unbedingt notwendig, diese Grundnorm irgendwo zu verankern. Der Rechtsphilosoph und mit ihm schließlich auch der positive Jurist stellt die Frage: Was liegt hinter dieser Grundnorm? Die Grundnorm mit allem Rechtlichen ist i m objektiven Rechtsgeist verankert. I n dieser Verankerung der Grundnorm i m objektiven Rechtsgeist mit der realen Idee des Rechts und letztlich i n der Normidee des Rechts löst sich die ganze scheinbar unlösbare Problematik der Positivität des Rechts als einer gewissen Realität und des rechtlichen Sollens. d) Der organisierte Zwang ist ein essentieller Bestandteil des Rechts als eines Ganzen und i m Durchschnitt, allerdings nicht jeder einzelnen Rechtsnorm. Dasselbe gilt auch von der Faktizität des Rechts als eines Ganzen und i m Durchschnitt. e) Julius Moór hat vollkommen recht, wenn er behauptet 16 , daß das Recht nicht nur ein großes System der bestehenden Normen bedeutet, sondern auch ein großes System der sich an diese Normen knüpfenden menschlichen Handlungen. Nicht recht hat er allerdings, wenn er von den „rein ideal bestehenden Normen und Regeln" spricht. Es handelt sich u m keine rein idealen Normen und Regeln, sondern u m reale Gebilde. Eine Rechtsnorm ist ein reales Gebilde. 16 Moór , Das Logische i m Recht, Revue internationale de la Theorie du Droit, I I , 1927/1928, S. 158 f.
Demokratie und Rechtssystem· i n philosophischer Sicht
167
f) I n den Begriff des Rechts gehört auch die Tatsache, daß das Recht einen bedeutenden
Teil der Verhältnisse
in der Gemeinschaft
in
relativ
dauernder Weise regeln muß. Dieses Erfordernis sah i n voller Klarheit schon Aristoteles 17 , wenn er feststellte, daß eine Verfassung, die nur ein paar Tage gilt, keine Verfassung ist. Es ist ein großes Verdienst von Felix Somló, wenn er gerade dieses Merkmal scharf betonte 18 . g) Schließlich gehört die Rechtsordnung i m realen Idee des Rechts Freiheit des konkreten schließlich zur idealen wendig tendieren muß. der Freiheit
zum Begriff des Rechts auch die Tatsache, daß objektiven Rechtsgeist verankert ist und zur (zur dialektischen Synthese von Gerechtigkeit, Menschen, Sicherheit und Zweckmäßigkeit) und Normidee des Rechts tendiert und wesensnotDiese Tendenz zu den Ideen der Gerechtigkeit,
des konkreten
Menschen,
der Sicherheit
u n d der
Zweck-
mäßigkeit gehört zum Wesen und daher auch zum Begriff des Rechts. In diesem Gedanken ist auch die Lösung der schwierigen Frage des Rechts oder der Rechtsnorm contra humanitatem verankert. Das Recht muß, um Recht zu sein, das gerechte, friedliche und menschenwürdige Leben in einer Gemeinschaft ordnen und lenken (Alfred Verdross). IV. Der Ursprung der Rechtsbegriffe im Politischen, Philosophischen und Wirtschaftlichen 1. I n der Auffassung des historischen Materialismus listischen Geschichtsauffassung) bildet die wirtschaftliche Gesellschaft
die sog. reale
Grundlage,
während
(der materiaStruktur der
das Politische,
das
Philosophische und das Rechtliche zum sog. Überbau gehören. Die Frage, die uns hier interessiert, findet ihren Ausdruck i n der berühmt gewordenen Problematik des Verhältnisses von Wirtschaft und
Recht.
2. Worin besteht das Verhältnis der Philosophie, der Rechts bzw. der Rechtswissenschaften einerseits und andererseits und worin besteht insbesondere auch die Inbegriffs von Rechtsnormen zu Produktions- und nissen?
Politik und des der Wirtschaft Beziehung des Tauschverhält-
Sind die wirtschaftlichen Verhältnisse ein entscheidender und bestimmender Faktor, so daß die Aufgabe des Rechts in nichts anderem besteht, als mit Hilfe seiner Bestimmungen den existenten Stand zu erfassen, oder ist das Gegenteil der Fall? Ist etwa die Rechtsordnung 17 19
Aristoteles, Politik, V I . Buch, 5. Kap., 1319 b. Felix Somló, S. 97.
168
V l a d i m i r Kube
letzten Endes der entscheidende Faktor und gestaltet als solcher die Produktions- und Tauschverhältnisse, d.h. die wirtschaftlichen Verhältnisse der betreffenden Zeit? Auch hier begegnet man zwei entgegengesetzten Lösungen dieser Problematik, zwei konträren Idealtypen. Die eine Lösung ist die der kompromißlosen Auffassung des marxistischen historischen Materialismus. Die gegensätzliche Lösung w i r d am schärfsten von Rudolf Stammler in dem Werk „Wirtschaft und Recht" formuliert. Für den historischen Materialismus ist die reale Grundlage, d. h. die ökonomische Struktur der Gesellschaft, der letztlich bestimmende Faktor, und das Recht bloß ein Reflex der Ökonomie, wie die anderen Bestandteile des ideologischen „Überbaus". Friedrich Engels selbst hat aber diese Grundauffassung später revidiert, u m eine blinde Konsequenz zu vermeiden. Danach w i r k t das Recht als etwas Spezifisches und i n Beziehung zum materiellen Bereich als etwas qualitativ Anderes, w i r k t auf die reale Grundlage, auf die ökonomische Struktur zurück und steht letztlich mit seiner ökonomischen Grundlage i n einer Wechselwirkung. Freilich auch in dieser revidierten Konzeption bildet die Wirtschaft, also die ökonomische Grundlage, in letzter Instanz das bestimmende Moment. Gegen diese materialistische Auffassung des Verhältnisses der W i r t schaft und des Rechts hat Rudolf Stammler dem Recht die entscheidende Rolle zuerkannt 1 9 . Das Recht ist jener Faktor, der die Wirtschaft gestaltet, ihr eine feste Form gibt, und sie letzten Endes auch bestimmt. Stammler hat den sozial-ökonomischen Begriff der Gesellschaft mit dem juristischen Begriff identifiziert. Der Grundfehler der ganzen Stammlerschen Konzeption besteht darin, daß er vom Schema des isolierten Menschen ausgeht und die Gesellschaft als eine Verbindung von Einzelnen unter bestimmten äußerlich festgesetzten Regeln auffaßt. Das soziale Leben ist für ihn schon i m voraus als „äußerlich geregeltes Leben" gegeben. 3. Heinrich Cunow hat dazu richtig bemerkt 2 0 , daß das soziale Leben jede Wirkung ist, die innerlich eine Beziehung zu anderen hat. Schon mit der ersten bewußten Handlung, durch welche der Mensch bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse in irgendeine Berührung mit anderen Menschen kommt, t r i t t er mit Menschen i n eine sozial gegenseitige Beziehung. Für solche Beziehungen existiert aber nicht gleich von Anfang 19 Rudolf Stammler, Wirtschaft u n d Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung, 1896, 5. A u f l . 1925; ders., Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 1928, 3. Aufl. 1970, S. 109 ff. 20 Heinrich Cunow, Die Marxsche Geschichts-, Gesellschafts- u n d Staatstheorie I, 1920.
Demokratie und Rechtssystem i n philosophischer Sicht
169
an eine Regelung. Diese Regelung setzt sich erst schrittweise durch, und zwar vor allem i n sehr unsicherem, immer sich wiederholenden Leistungen der einzelnen Beziehungen. Es ist nicht so, daß z. B. zuerst das Recht auf Lohn geregelt, und erst nachher die A r b e i t selbst eingeführt würde. Ebenso entsteht nicht zuerst die Regelung des Wechselverkehrs, und erst dann w i r d der Wechsel eingeführt. Erst wenn hier schon soziale Beziehungen existieren, können sie geregelt werden. Diese Regelung realisiert sich dann nicht sofort durch die Festsetzung einzelner Normen von außenher, sondern von innenher, ohne daß die Menschen sich dies zuerst vergegenwärtigen u n d diese Regelung vollkommen verstehen. Erst später werden diese Regeln von außen festgesetzt, sie sind als Regeln anerkannt und formal statuiert, aber auch dann regelt der Staat nicht das ganze Gebiet des sozialen Lebens, sondern nur insoweit, als sich die Regelung für das staatliche Leben als bedeutend erweist; u n d insofern hier die sog. äußerlich formale Regelung existiert, deckt sie sich fast nie vollkommen m i t dem ökonomischen Inhalt der sozialen Regelung i m sozialen Wirtschaftsprozeß. 4. Die große Auseinandersetzung zwischen der materialistischen Geschichtsauffassung und der Auffassung Stammlers, i n die auch so hervorragende Denker wie Max Weber und Heinrich Cunow eingegriffen haben, kann man m i t Hilfe der Lehre vom stufenförmigen Aufbau der realen Welt, dessen höchste Schicht das geistige Sein bildet, lösen. Ich b i n der Meinung, daß der Schlüssel zur ganzen Lösung darin liegt, wenn w i r richtig alle Folgen aus dem Verhältnis des objektiven Geistes und des objektivierten Geistes ziehen. Ich beschränke mich i m folgenden auf einige Andeutungen einer Lösung:
M a n m u ß v o n der Existenz kleiner
Gemeinschaften
ausgehen,
bei denen w i r zu Beginn noch nicht dem Recht i n heutiger Auffassung begegnen; dort existiert noch keine „Rechtsordnung" (kein objektivierter Rechtsgeist). Die Regelung des wechselseitigen Verkehrs zwischen den Mitgliedern der betreffenden Gemeinschaft erfolgt vom Inneren dieses Körpers spontan und ist noch sehr vage. Bald aber bildet sich ein gewisses Rechtsempfinden, Rechtsbegreifen, Rechtsbewußtsein; der objektive Rechtsgeist ist da. Dieser objektive Rechtsgeist, der real ist und auf den besonders der Einzelne „stößt", der sich gegen i h n und dadurch gegen die Gemeinschaft stellt, w i r d sich i n einem langen Prozeß objektivieren. Aus dem bloßen Rechtsbewußtsein des Volkes der betreffenden Gemeinschaft, also aus dem objektiven Rechtsgeist, bilden sich gewisse rechtliche Objektivationen. Der objektive Geist und auch der objektive Rechtsgeist werden wesensnotwendig zu diesen Objektivationen geführt, wodurch sie sich jedoch auf der anderen Seite Fesseln auferlegen, von welchen sie sich wieder i m wei-
V l a d i m i r Kubes
170
teren Prozeß der Entwicklung in dieser oder jener Form befreien müssen. Zu diesen rechtlichen Objektivationen gehören zunächst die Regeln des Gewohnheitsrechtes und erst i m weiteren Prozeß der Entwicklung kommt es zu ausgeprägteren Objektivationen, d.h. zur Herausgabe verschiedener Gesetze und anderer Rechtsnormen i n schriftlicher Form; es entwickelt sich ein geschriebenes Recht. Man muß also nicht nur vom Standpunkt der Entwicklung, sondern auch vom Standpunkt heutiger Auffassung den objektiven Rechtsgeist und den objektivierten Rechtsgeist scharf unterscheiden. Wenn man sich das alles vergegenwärtigt, dann ist es ganz klar, daß, sofern man nicht von einem immanentrechtlichen Standpunkt (von welchem Stammler die ganze Problematik ausschließlich betrachtete und welcher Standpunkt für eine angemessene Bewältigung der Problematik zu eng und daher unannehmbar ist), sondern vom komplexdialektischen Standpunkt ausgeht, der objektivierte Rechtsgeist — gleichgültig, ob er sich in Gewohnheitsrecht oder i n geschriebenem Recht manifestiert — überhaupt nichts Primäres ist, und zwar weder zeitlich noch logisch oder ontologisch. Er löst auch keineswegs die ganze Problematik des sozialrechtlichen und wirtschaftlichen Lebens. Die staatliche Rechtsordnung ist eine Objektivation dessen, was in gewissem Sinn unter ihm steht, nämlich des objektiven Geistes, d. h. des Begreifens der sozialrechtlichen und wirtschaftlichen Problematik durch das Volk der diesbezüglichen Gemeinschaft. I n dieser Hinsicht hat daher die sozialwirtschaftliche Ordnung als ein wesentlicher Bestandteil des objektiven Geistes „eine höhere Kraft" oder „Macht". Die sozialwirtschaftliche Ordnung lebt unter der rechtlichen Schale ihrer Objektivationen nach ihren eigenen Gesetzen weiter, wenn auch die Rechtsordnung als objektivierter Rechtsgeist im Riickreflex mächtig auf sie wirkt.
Bei der Lösung dieser Problematik ist es von Vorteil, zweierlei Aspekte zu unterscheiden, und zwar den statischen Aspekt und den dynamischen
Aspekt,
der i n d e n soziologischen
Aspekt
übergeht.
Wenn w i r den Staat, der gerade in diesem Augenblick da ist, beobachten, sehen w i r eine Rechtsordnung, die in normativer Weise das Verhalten der Menschen einschließlich ihrer Produktions- und Tauschverhältnisse, also ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse, regelt und sich auch i m Durchschnitt durchzusetzen weiß und daher eine gültige Rechtsordnung ist. Von der sozial-wirtschaftlichen Seite sehen w i r i n teleologischer Perspektive eine große Menge von Produktions- und Tauschverhältnissen, also von wirtschaftlichen Verhältnissen, die durch die Rechtsordnung geregelt sind. Vom statischen Standpunkt kann man die entscheidende Rolle
der Rechtsordnung
beobachten. V o m
dynami-
Demokratie und Rechtssystem i n philosophischer Sicht
171
sehen Standpunkt, wenn w i r also das Ganze der Rechtsordnung in ihrer langfristigen Entwicklung i m Auge haben, ist es unbestritten, daß die Produktions- und Tauschverhältnisse, also die wirtschaftlichen Verhältnisse, einen sehr mächtigen, wenn auch keinen ausschließlichen Einfluß auf die Gestaltung der Rechtsordnung, auf den Inhalt ihrer Rechtsnormen haben. Von diesem dynamisch-soziologischen Standpunkt kann man die große Rolle beobachten, welche die wirtschaftliche Struktur der Gesellschaft in ihrem Verhältnis zum Recht spielt, und oft die Auflösung der nicht mehr passenden gesetzlichen Norm oder anderer Rechtsnorm zur Folge hat, oder wenigstens bei Beibehaltung der bisherigen Rechtsinstitution eine Veränderung ihrer sozialen Funktion, worauf so nachdrücklich zu Beginn dieses Jahrhunderts Karl Renner aufmerksam gemacht hat. 5. Man kann aber beobachten, daß die Wirkung der realen Grundlage auf den Überbau meistens nicht eine solche ist, daß die Wirtschaft unmittelbar auf das Recht w i r k t , sondern daß sich zuerst entsprechende Begriffe i m philosophischen Bereich, dann i m politischen Bereich und erst zuletzt im rechtlichen Bereich bilden. Diese grundsätzliche Beobachtung w i r d sich auch in der uns hier interessierenden Problematik bestätigen, besonders was den Begriff der Demokratie betrifft. Zuerst erschien dieser Begriff i m philosophischen Bereich, wobei die wirtschaftliche Struktur der damaligen Gesellschaft eine große Rolle spielte. D i e B e g r i f f e d e r Menschenwürde, d e r Freiheit heit u n d weiterer Menschenrechte w a r schon b e i
u n d d e r Gleichd e n griechischen
Philosophen und Rechtsphilosophen der Antike, bei Hesiod, Heraklit, Pythagoras, besonders dann in der Sophistik und sicher auch bei Sokrates,
Piaton,
Aristoteles
u n d Epikuros,
d a n n i n der
Philosophie
Ciceros, bei den römischen Juristen, besonders bei Ulpian, i n der Pat r i s t i k v o n Aurelius Augustinus b e i G. W. Leibniz, b e i Pufendorf,
in den Produktionsverhältnissen
ebenso w i e b e i Thomas Thomasius u n d Christian
von Aquino, Wolff s t a r k
dieser oder jener Zeit verankert.
Besonders die Sophistik hat das Grundproblem des moralischen und rechtlichen Denkens präzisiert und die Notwendigkeit betont, zu unterscheiden, was nach der Natur gerecht ist, und was die soziale Tradition oder eine positive Bestimmung für gerecht erklärt. Zum erstenmal wurde hier die Freiheit zu einem unveräußerlichen Recht jedes Menschen proklamiert. Die Idee der Humanität stand hier an der Spitze des hierarchischen Aufbaues der Ideen 21 . 21
Vladimir Kubes, Das Recht u n d die Z u k u n f t der Gesellschaft, ARSP, Beiheft N. F. 11, 1979, S. 8.
172
Vladimir Kubes
I n der Aufklärung werden das Recht und der Staat nicht nur aus der Vernunft deduziert, sondern sie gelten, als ob sie durch einen freiw i l l i g e n Konsens aller Mitglieder der Gesellschaft entstanden wären. Das war, wie Hegel sagte, eine weltgeschichtliche Tat. Der Zweck des Naturrechts w a r letzten Endes, ein gerechtes Zusammenleben zwischen den Menschen zu garantieren. Hier t r i t t die Menschenwürde k l a r herv o r 2 2 . I n der Renaissance verdichteten sich die vom Humanismus der Renaissance entwickelten Bestrebungen nach menschenwürdiger Daseinsgestaltung für alle, i m Verein m i t dem Protest gegen eine als unmenschlich empfundene Gesellschaftsordnung zu einer geschlossenen Theorie der natürlichen Rechte eines jeden auf Freiheit, Gleichheit, Glück u n d
Sicherheit
23
.
6. Später erst sind diese Begriffe i m politischen Bereich und i m juristischen Bereich heimisch geworden. Hierher gehören z. B. der Artikel-Brief
deutscher
Bauern
v o n 1525 u n d Agreement
of the People
von 1647. I n den Befreiungskämpfen der Revolutionen i m 18. Jahrhundert galten die Begriffe wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit als Kampflosungen und als die wichtigsten Menschenrechte. Juristisch k l a r ausgedrückt wurden die Menschenrechte zum erstenmal i m A r t i k e l 1 der B i l l of Rights von 1776 und dann i n der Unabhängigkeitserklärung der dreizehn vereinigten Staaten von A m e r i k a vom 4. Juli 1776, die von Jefferson entworfen wurde. Die französische Revolution wurde von der B i l l of Rights von 1776, von Montesquieu und besonders von Rousseau stark beeinflußt. Für Jean Jacques Rousseau beruht das Recht und die ganze Ordnung der Gesellschaft i n dem Gesellschaftsvertrag 24 . Es handelt sich freilich u m kein historisches Faktum, sondern u m eine „ I d e e D i e zentrale Frage für Rousseau lautet: „Es ist erforderlich, eine gesellschaftliche Form zu finden, die m i t ganzer gemeinsamer K r a f t die Person u n d das Eigentum jedes Mitgliedes schützt und verteidigt und i n der jeder, obzwar er sich m i t allen verbindet, doch n u r sich selbst gehorcht u n d gleich frei bleibt wie früher." „Die Lösung besteht darin, daß jeder seine Person unter die höchste Führung des allgemeinen Willens (volonté générale) stellt, an dessen Konstituierung er selbst teilhaftig ist."
22
Ernst Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, 1961, S. 237; Werner Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde, 1968, S. 7 f.; vgl. aber auch Hans Ryffel, Aspekte der Emanzipation der Menschen, Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie, 52, 1966, S. 10. 23 Georg Klaus / Manfred Buhr, Philosophisches Wörterbuch, Bd. 2., 2. Aufl. 1975, S. 779. 24 Jean Jacques Rousseau, Le Contrat social, I, 3, 1762.
Demokratie und Rechtssystem i n philosophischer Sicht
173
I n der Präambel zur Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (Declaration des droits de l'homme et du citoyen) vom 26. August 1789 werden die Unkenntnis, das Vergessen oder die Mißachtung der Menschenrechte als die alleinigen Ursachen für das öffentliche Unglück bezeichnet und daher „ i n einer feierlichen Erklärung die natürlichen, unveräußerlichen und geheiligten Menschenrechte" niederzulegen für notwendig erachtet. Die erste Revolutionsverfassung von 1791 enthielt ebenfalls diese Menschenrechtserklärung. I n diesem Zusammenhang ist es angebracht, auch die jakobinische Verfassung von 1793 hervorzuheben mit ihren Menschen- und Bürgerrechten wie Gleichheit, Freiheit, Sicherheit, Eigentum, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Recht auf M i t w i r k u n g an der Staatsgewalt und deren Rechenschaftslegung, Gesetzlichkeit, Recht auf Arbeit, Recht auf Revolution usw. Die praktische Philosophie von Immanuel Kant stand unter dem großen Einfluß Rousseaus. Das ganze Recht ist bei Kant i m Gedanken der transzendentalen Freiheit verankert. Das Recht ist ein Erfordernis der praktischen Vernunft und hat i n ihr das Prinzip, welches a priori gilt. Das Recht muß aus der allgemeinen vernünftigen Bestimmung des Menschen, welche die Bestimmung zur Freiheit ist, begriffen werden. Das Recht hat zu seiner Aufgabe, die Bedingungen festzusetzen, unter welchen die W i l l k ü r des einen mit der W i l l k ü r des anderen nach dem allgemeinen Gesetz verbunden werden kann 2 5 . Ein gutes Beispiel für die Betonung der Menschenwürde und damit auch der Menschenrechte findet man auch i m A r t . 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949. Für das Völkerrecht kann man besonders folgende Rechtsquellen erwähnen: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, über die Verhütung und Bestrafung von Völkermord 1948, über die politischen Rechte der Frauen 1954, über die Beseitiung aller Formen von Rassendiskriminierung 1969, über die Nichtverjährung von Kriegsund Menschlichkeitsverbrechen von 1970, besonders zwei Konventionen vom 16. Dezember 1966, und zwar über politische Bürgerrechte und über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.
25 Immanuel Kant, Grundlagen zur Metaphysik der Sitten, 1785, „Einleitung i n die Rechtslehre", para. Β , in: Ernst Cassirer, (Hrsg.), Immanuel Kants Werke V I I , S. 31; Ernst Cassirer, Kants Leben u n d Lehre, 1918, S. 259; E. Vögelin, Das Sollen i m System Kants, in: A l f r e d Verdross (Hrsg.), Gesellschaft, Staat und Recht, Festschrift Hans Kelsen gewidmet, 1931, S. 151.
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V l a d i m i r Kube
V. Rechtsstaat und Menschenrechte; das Recht contra humanitatem; die Unentbehrlichkeit des demokratischen Rechts 1. Der Staat ist nicht Recht ohne weiteres und das Recht ist nicht Staat ohne weiteres, wie die Schule der Reinen Rechtslehre besonders i n d e n F o r m u l i e r u n g e n v o n Hans
Kelsen
u n d Franz
Weyr
m i t großem
Nachdruck betonte. Nur eine Gemeinschaft, in der ein Recht etabliert ist, kann Staat sein. Der Staat ist eine Schöpfung des Rechts. Das Recht war vor dem Staat und w i r d auch dann existieren, wenn der Staat im heutigen Sinn eines Tages vielleicht abstirbt. I m Gegensatz dazu ist das Recht als solches ewig und untrennbar mit dem Menschen und der Gesellschaft verbunden. Solange der Mensch als Mensch und nicht etwa als ein vollkommenes Wesen existieren wird, so lange w i r d das Recht existieren. Wenn man das Recht und den Staat vergleicht, so existiert wirklich kein wesentlicher Unterschied zwischen dem staatlichen Recht und dem Staat. Beide sind komplex-dialektische Gebilde, die alle Schichten der realen Welt durchdringen und durch dieselben Hauptmerkmale charakterisiert sind (objektivierter Rechtsgeist, Menschen, Territorium und die sog. Souveränität). Nur i n der Betonung einiger von diesen Merkmalen kann man den Unterschied finden. Beim Recht akzentuiert man d e n objektivierten
terriorialen
Rechtsgeist,
b e i m Staat
d e n menschlichen
u n d den
Bestandteil; bei beiden die „relative Souveränität".
Das Recht unterscheidet
sich aber
wesentlich
vom
Staat,
wenn
man
nicht das staatliche Recht, sondern das Recht als Phänomen überhaupt mit dem Staat vergleicht. Das Recht bestand als Sippen- und Verbandsrecht schon vor dem Staat. Weiters existiert auch das Völkerrecht und das kanonische Recht. Schon aus diesen Gründen darf man nicht von einer Identität des Rechtes und des Staates sprechen. Es ist zwar richtig, daß das Bestehen des Staates nicht von dem einer Rechtsordnung getrennt werden kann, wie dies auch z. B. Luis Legaz y Lacambra feststellt 20 . I n diesem Sinn ist die Kelsensche Lehre von der Identität des Rechtes und des Staates mindestens grundsätzlich richtig. Ein Staat ohne Recht ist also eine contradictio i n adiecto. Ein Rechtsstaat ist daher ein Pleonasmus. Der Staat, weil eben Staat, ist ein Rechtsstaat. Das bedeutet: beim Staat handelt es sich u m ein komplexes, mehrschichtiges Gebilde, i n welchem gerade die Rechtsordnung die dominante Komponente darstellt. Wenn man trotzdem von einem Rechtsstaat spricht, so w i l l man damit ausdrücken, daß es sich um einen Staat handelt, wo die Rechtsordnung 26
Luis Legaz y Lacambra,
Rechtsphilosophie, 1964, S. 752.
Demokratie und Rechtssystem i n philosophischer Sicht
175
konsequent eingehalten w i r d und die Menschenwürde mit den Menschenrechten respektiert wird; dadurch unterscheidet man den Rechtsstaat von Despotie und Tyrannis. 2. I n diesem Zusammenhang treten drei bekannte Fragen in den Vordergrund, an welchen man den Kern dieser ganzen Problematik demonstrieren kann: A. Die Frage der Selbstbindung des Staates, nämlich die Frage, ob der Staat durch seine Rechtsordnung gebunden ist. B. D i e Frage der Möglichkeit
des Unrechts
des Staates,
n ä m l i c h die
Frage, ob der Staat Unrecht begehen kann. C. D i e Frage des Rechts contra
humanitatem.
Nach meiner Meinung hat die Lösung der Selbstbindung des Staates und des staatlichen Unrechts zwei Seiten: eine positiv-immanentrechtliche und eine rechtsphilosophische. Was die positiv-immanent-rechtliche Seite betrifft, geht es hier um die Frage der gegebenen Rechtsordnung, und zwar in welcher Weise die Verantwortung, die Bindung des Staates durch positive Rechtsnormen geregelt wird. Vom rechtsphilosophischen Standpunkt geht klar hervor, daß die Rechtsordnungen zwar eine gewisse Freiheit besitzen, die Frage der Verantwortung des Staates auf diese oder jene Weise i m Sinne einer größeren oder weniger weitgehenden rechtlichen Verantwortung zu lösen, daß sie aber keine Freiheit besitzen, überhaupt jedwede rechtliche Verantwortung des Staates auszuschließen, da sie dadurch das Wesen des Staates als einer Rechtsorganisation der Menschen auf einem bestimmten Gebiet negieren würden. Erst die rechtsphilosophische Lösung ist adäquat und da sehen wir, daß es notwendig ist, aus der Sphäre des objektivierten Geistes, wohin die positive Rechtsordnung gehört, herauszutreten und in die Sphäre des objektiven Geistes zu gelangen, wohin das Rechtsbewußtsein, welches w i r als eine gewisse A r t des realen Seins mit soziologischen Methoden und Techniken untersuchen können und müssen, gehört. Eine große Rolle w i r d hier die rechtliche Weltanschauung mit der realen Idee des Rechts, als einem Teil des objektiven Rechtsgeistes, spielen. Vielleicht w i r d auch diese Untersuchung nicht genügen, und dann muß man zur Normidee des Rechts selbst gelangen, in welcher letztlich die rechtliche Verantwortung des Staates und die Möglichkeit des staatlichen Unrechts verankert ist. Von diesen Ausführungen her ist es klar, daß die Frage nach der Selbstbindung des Staates durch seine Rechtsordnung und die damit
V l a d i m i r Kubes
176
zusammenhängende Frage des staatlichen Unrechts i m bejahenden Sinn beantwortet werden muß. Hier liegt eben die bedeutende Rolle des lebendigen, immer sich entwickelnden objektiven Geistes, der berufen und auch fähig ist, eine Aufhebung solcher „naturrechtswidriger" Gesetze und Gebote entweder auf dem verfassungsrechtlichen Wege oder auf dem Wege einer Revolution durchzuführen. Zippelius ist zuzustimmen, wenn er meint, daß die ultima ratio, den Konflikt zwischen dem garantierten Recht und außerrechtlichen Normen, in der Ausdrucks weise der kritischen Ontologie: zwischen dem objektivierten und dem objektiven Rechtsgeist, zu lösen, die Revolution ist 2 7 . Der deutsche Bauernkrieg, der nordamerikanische Unabhängigkeitskrieg, die Französische Revolution und schließlich auch die Oktoberrevolution wurden alle i m Namen des fortschrittlichen objektiven Rechtsgeistes, in erster Linie der neuen progressiven rechtlichen Weltanschauung unternommen. Die Frage, ob ein solcher Normenkonflikt sich auf „begrifflich normativem" Wege lösen läßt oder nicht, ist zwar sekundär, trotzdem aber vom rechtlichen Standpunkt bedeutend; es handelt sich nämlich um die Frage, ob die Revolution als solche ein Rechtsmittel ultima ratione ist oder nicht. Sicher ist, daß man erst nachher auf diese Frage eine reale Antwort geben kann, trotzdem aber muß man grundsätzlich an der „ L e g a l i t ä t " der R e v o l u t i o n , insofern
sie ein Ausdruck
des
objek-
tiven Rechtsgeistes ist, festhalten. Die innerste Begründung dafür ist die Tatsache, daß der objektivierte Rechtsgeist (die positive Rechtsordnung) i m objektiven Rechtsgeist verankert ist. I n solchen Fällen muß man ein Widerstandsrecht anerkennen. M a n k a n n also feststellen, daß der Staat durch seine gebunden ist und für das verübte Unrecht haftet, w e i l :
Rechtsordnung
a) das dem heutigen Stand des objektiven Rechtsgeistes voll entspricht und das Gegenteil einen krassen Widerspruch zu ihm bedeuten würde; b) aus diesem Grunde selbst der objektivierte Rechtsgeist (ius scriptum oder ius non scriptum des betreffenden Staates als Objektivationen des objektiven Rechtsgeistes) ausdrücklich diese Verantwortung und Haftung des Staates enthalten soll und muß. Dem steht der Umstand keineswegs entgegen, daß Persönlichkeit i m ontologischen Sinne nur der Mensch besitzt, nicht jedoch die juristische Person; vom Standpunkt der Zweckmäßigkeit kann die Rechtsordnung als Pflichtsubjekt oder 27
Zippelius,
S. 51.
Demokratie u n d Rechtssystem i n philosophischer Sicht
177
Rechtssubjekt auch die juristische Person und daher auch den Staat bestimmen; c) von der Normidee des Rechts aus ergibt sich m i t absoluter Notwendigkeit, daß der Staat durch eventuelle Negierung seiner Gebundenheit seinen eigenen wesentlichen Bestandteil, ja sein Wesen selbst, nämlich das Recht keinesfalls negieren kann. 3. D i e b e r ü h m t e F r a g e der Rechtsordnung
contra
humanitatem
bil-
det den Kernpunkt, in dem sich alle strittigen Fragen der rechtlichen Geltung und des Rechts überhaupt manifestieren. Einige Beispiele solcher Rechtsordnung contra humanitatem werden uns die Problematik besser beleuchten: — für die Tat des einen Menschen soll immer und ausnahmslos ein anderer verantwortlich sein — alle Normen gehen von einer Kollektivschuld aus und ordnen eine Kollektivbestrafung an 2 8 — Normen, die den Betroffenen einer Behandlung unterwerfen, welche ihm jegliche Selbstbestimmung vorenthält oder entzieht, wie etwa die Aberkennung der Rechts- oder Geschäftsfähigkeit aus politischen, religiösen, weltanschaulichen, ideologischen Gründen, aus Rassengründen usw. — Normen, die Zwangsversuche an Menschen oder Anwendung der Folter mit dem Ziel der Selbstbelastung der Betroffenen anordnen — Normen, die eine Eröffnung reiner W i l l k ü r i m Verfahren gegen Beschuldigte bedeuten. Interessant ist die Auffassung von Julius Moór 2 9 , der die Frage aufwirft, ob die Veränderlichkeit des positiven Rechtsinhaltes nicht ihre Grenzen habe. Er vertritt die Ansicht, daß der wandelbare Rechtsinhalt seine unwandelbaren logischen, physischen, soziologischen und ethischen Grenzen hat. Wenn w i r nun zur Lösung der Frage der Geltung der Rechtsordnung bzw. der Rechtsnorm contra humanitatem übergehen, müssen w i r uns folgendes vergegenwärtigen: 28 Dazu Heinrich Henkel, Einführung i n die Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1977, S. 564; Welzel, Naturrecht u n d Rechtspositivismus, in: Werner M a i hof er, Naturrecht oder Rechtspositivismus, S. 338; German, Z u r Problematik der Rechtsverbindlichkeit u n d der Rechtsgeltung, Revue Hellénique de Droit International, 1965, Sonderabdruck, S. 4 ff.; Julius Moór, Reine Rechtslehre, Naturrecht u n d Rechtspositivismus, in: A l f r e d Verdross (Hrsg.), Gesellschaft, Staat u n d Recht, Festschrift für Hans Kelsen, 1931, S. 107. 29 Julius Moór , Festschrift für Hans Kelsen, 1931, S. 103 ff.
12 R E C H T S T H E O R I E , B e i h e f t 4
178
V l a d i m i r Kube
I m Kern der gesamten Auffassung, die durch die Worte „Gesetz ist Gesetz" ausgedrückt und der absoluten Mehrheit der „positivistischen" Lösungen dieses Problems eigen ist, liegt — meiner Meinung nach — die grundfalsche rechtlich-kognitiven
V o r s t e l l u n g v o n der absoluten Zäsur zwischen und rechtlich-volitiven Sphäre zugrunde.
der Die
Rechtswissenschaft — qua Wissenschaft — soll nur erkennen (und daher auch in ein System einreihen), was die Laien als Gesetzgeber in Form von Gesetzen erlassen hatten. Die Verantwortlichkeit derer, die zwar mit bestem Willen, aber doch nur mit scheinwissenschaftlichen Gründen lehrten, es bestehe eine absolute Zäsur zwischen der rechtlichkognitiven und rechtlich-volitiven Sphäre, und daß die Setzung von richtigen Rechtsnormen, i n erster Linie von Gesetzen, daher Sache derer sei, die alles Mögliche nur nicht das Rechtliche kennen, daß also die Ignoranten die Gesetze machen sollen und die Fachjuristen sie nur erkennen sollen, ist unermeßlich. Alle, die in solcher Weise argumentieren, wissen nicht, daß es sich hier überhaupt nicht um einen qualitativen, sondern höchstens nur um einen quantitativen Unterschied handelt — nur i m Grade der Sicherheit der Feststellung des Inhalts der Rechtsnorm. Es ist zwar leichter, den Inhalt eines Gesetzes oder einer Gesetzesbestimmung als eines Teiles des objektivierten Rechtsgeistes festzustellen, als den Inhalt eines dieses Gebiet behandelnden Teiles des Rechtsbewußtseins der betreffenden Rechtsgemeinschaft einschließlich der rechtlichen Weltanschauung, also den Inhalt des objektiven Rechtsgeistes mit seiner primär abgeleiteten Normativität. Man kann aber m i t rechtssoziologischen Methoden und Techniken auch den betreffenden Inhalt des objektiven Rechtsgeistes feststellen, klarlegen und also erkennen. Der Kern dieses Grundfehlers liegt i n der Unkenntnis des objektiven Geistes, besonders seiner Sphären, welche die abgeleitete Normativität aufweisen. Leider ist die ganze Entwicklung in dieser Richtung von Hegel bis Nicolai Hartmann fast unbekannt oder w i r d ignoriert. Sonst würde man wissen, daß der objektive Geist mit seiner abgeleiteten Normativität ebenso real und, wenn auch mit etwas größerer Schwierigkeit, erkennbar ist wie der objektivierte Geist (bzw. Rechtsgeist) oder auch die niedrigeren Schichten des stufenförmigen Aufbaues der realen Welt. I n den Sollsätzen, in den normativen Urteilen erkennen w i r den objektiven Geist (bzw. Rechtsgeist) abgeleiteter normativer Provenienz, ganz analog wie w i r in den Seinsurteilen (in den Aussagen) das physisch materielle Sein, das organische Sein und das seelische Sein erkennen. Es ist also nicht richtig, die Normen, die Sollsätze, die normativen Urteile als Gebilde zu begreifen, bei denen man nach ihrer Wahrheit
Demokratie und Rechtssystem i n philosophischer Sicht
179
überhaupt nicht fragen darf und kann und bei welchen es sich u m etwas wesentlich anderes handelt, als wenn man die Seinsurteile verifizieren w i l l 3 0 . Erst die auf das Rechtliche angewandte und weiterentwickelte k r i tische Ontologie hat gezeigt, daß ein objektiver Geist, welcher real und erkennbar ist, existiert und daß i m Rahmen dieses objektiven Geistes Sphären (besonders die moralische und rechtliche Sphäre) mit abgeleiteter Normativität existieren. Es handelt sich also u m die Erkenntnis dieses objektiven Rechtsgeistes. Die Antworten, die diesbezüglichen normativen Urteile, in welchen w i r zur Erkenntnis des objektiven Rechtsgeistes kommen, sind verifizierbar. Sie können als wahr oder unwahr charakterisiert werden. Aber auch die wissenschaftliche rechtliche Weltanschauung, dieser Stufenbau der einzelnen für das Rechtliche entscheidenden Ideen mit der realen Rechtsidee an der Spitze, gehört i n die reale Welt, und zwar auch in ihre höchste Spitze, i n den objektiven Geist (Rechtsgeist); auch hier handelt es sich also um ein Erkennen, auch hier erkennt der Rechtsnormenschöpfer. Auch hier sind seine normativen Urteile verifizierbar; sie können als wahr oder unwahr charakterisiert werden. Es fällt also die ganze Argumentation der „Rechtspositivisten" mit ihrem Dictum „Gesetz ist Gesetz", weil man nicht nur Gesetze, also nicht nur den objektivierten Rechtsgeist, sondern auch den objektiven Rechtsgeist erkennen kann. Weiter müssen w i r uns vergegenwärtigen, daß man diese Frage als die Frage der Geltung des Rechts i m Sinne ihres Einfügens in den objektiven Rechtsgeist, in die reale Idee des Rechts und letztlich i n die ideale Normidee des Rechts nicht vom immanent rechtlichen, positiv rechtlichen Standpunkt adäquat und in letzter Instanz lösen kann. Aber auch wenn man noch i m Rahmen der immanent-positiv-rechtlichen Konzeption bleibt, wenn man die Frage löst, ob die betreffende Staatsrechtsordnung gültig ist, ist es unmöglich, diese Frage von der Basis dieser Staatsrechtsordnung selbst zu lösen, sondern w i r müssen uns über die betreffende Staatsrechtsordnung erheben und diese Frage auf der Grundlage der den Staatsrechtsordnungen übergeordneten Rechtsnormen des Völkerrechts lösen. Dasselbe gilt, wenn man die Frage der Geltung des Völkerrechts selbst, oder einer Norm dieses Völkerrechts lösen w i l l . Auch i n diesem Falle kann man die Frage der Geltung nicht vom völkerrechtlichen Standpunkt lösen, sondern w i r müssen hinauf und noch höher aufsteigen und von dieser höheren Ebene über die völkerrechtliche Geltung einer Norm entscheiden. Kei30 Vladimir KubeS, Die Logik i m rechtlichen Zeitschrift für Öffentliches Recht, 27, 1976, S. 284 ff.
12*
Gebiet,
österreichische
V l a d i m i r Kubes
180
nesfalls genügt es, mit der „Grundnorm" zu operieren. I n solchem Falle würde ein solches Operieren mit der Grundnorm nichts anderes bedeuten, als eine gewaltsame Beendigung der ganzen Argumentation und keine Lösung. Es ist daher notwendig, über das positive Recht einschließlich des Völkerrechtes hinaufzusteigen, um ein Kriterium zu finden, welches dem Recht als einem Phänomen überhaupt übergeordnet ist.
Das gesamte System des Rechts muß man i m objektiven Rechtsgeist (einschließlich der wissenschaftlich rechtlichen Weltanschauung mit der realen Idee des Rechts an der Spitze) verankern. I n letzter Instanz tendiert
allerdings
alles Reale
zur idealen
Welt,
z u m Reich der N o r m -
ideen und i n unserem Falle zur Normidee des Rechts, die gemeinsam mit den anderen Normideen (der Sittlichkeit, des Schönen und der Wahrheit und Richtigkeit) einen Bestandteil der höchsten Normidee überhaupt, der Normidee des Guten (der konkreten Menschlichkeit) bildet. Man muß zuerst den Inhalt der Idee und Normidee des Rechts, deren Bestandteile, berücksichtigen, und zwar Gerechtigkeit, Rechtssicherheit, Freiheit des konkreten Menschen und Zweckmäßigkeit. Der Idee der Rechtssicherheit würde vielleicht entsprechen, wenn die Geltung des Rechts überhaupt nicht von etwas so schwer Feststellbarem abhängen würde wie dies jede Wertung einer Rechtsnorm vom Wertmaßstab der Gerechtigkeit und der Freiheit darstellt. Wenn den Inhalt der realen Idee des Rechts und der idealen Normidee des Rechts nur die Rechtssicherheit bildete, dann müßte man sich mit dem Dictum des frühen Gustav Radbruch zufrieden erklären 3 1 : „Wenn nicht festgestellt werden kann, was rechtens ist, so muß festgesetzt werden, was rechtens sein soll, und zwar von einer Stelle, die was sie festsetzt, auch durchzusetzen i n der Lage ist." Es existieren aber zwei Argumente gegen dieses Dictum: Erstens: die Idee der Rechtssicherheit ist keinesfalls die einzige Idee der realen Idee des Rechts und der idealen Normidee des Rechts. Zweitens: der objektive Geist (Rechtsgeist), einschließlich der wissenschaftlich rechtlichen Weltanschauung mit der realen Idee des Rechts, ist doch mit rechtssoziologischen Methoden und Techniken feststellbar. Die reale Idee des Rechts und die ideale Normidee des Rechts haben aber neben der Idee der Rechtssicherheit noch andere Bestandteile, und zwar vor allem die Idee der Gerechtigkeit und die Idee der Freiheit des konkreten Menschen. Beide diese Ideen sind direkte Manifestationen der höchsten realen Idee der Humanität und der idealen Normidee 31
Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl., 1932, S. 18.
Demokratie und Rechtssystem i n philosophischer Sicht
181
des Guten, sowie autorisierte Vermittler zwischen der realen Idee des Rechts und der realen Idee der Moral bzw. zwischen der Normidee des Rechts und der Normidee der Sittlichkeit. Die Stimme dieser zwei realen Ideen bzw. idealen Ideen (der Gerechtigkeit und der Freiheit des konkreten Menschen) als der Bestandteile der Idee bzw. Normidee des Rechts, ist so mächtig, daß sie die Stimme der Idee der Rechtssicherheit übertönt, mindestens insoweit, daß ein krasser Widerspruch zu Regeln
der
konkreten
Menschlichkeit
unvereinbar
mit
Recht
ist.
Das bedeutet, daß so ein grober Widerstreit die Nichtigkeit der Rechtsnorm bzw. der diesbezüglichen Staatsrechtsordnung zur Folge hat. Dabei denkt man zuerst an das Recht als an ein Ganzes, möge es sich u m einzelne Staatsrechtsordnungen oder um das Völkerrecht handeln. Eine Staatsrechtsordnung, die als ein Ganzes i m Durchschnitt ihrer Bestimmungen gegen die Grundsätze der Menschlichkeit verstößt, ist nichtig, stellt keine Rechtsordnung dar, und zwar m i t allen Folgen, die das Völkerrecht kennt. Hier ist es vielleicht möglich, gerade positivrechtlich zu argumentieren und sich auf die allgemein anerkannten Grundsätze und Normen des Völkerrechts zu berufen. I n diesem Sinne denkt man besonders an die Kataloge der Menschenrechte. Was den letzten Bestandteil der Idee bzw. der Normidee des Rechts betrifft, nämlich die Idee der Zweckmäßigkeit, so steht diese Idee nicht im Vordergrund des Interesses und Kampfes. Es würde sich aber doch bei einem genaueren Blick zeigen, daß auch diese Idee den Ideen der Gerechtigkeit und der Freiheit in ihrem Kampf gegen die Idee der Rechtssicherheit hilft. Letzten Endes würde jede Rechtsordnung höchst unzweckmäßig sein, wenn in ihr z. B. eine Bestimmung gälte, daß alle Neugeborenen, die rothaarig sind, hingerichtet werden sollen, oder eine Bestimmung, daß für die Straftaten nicht die Delinquenten selbst, sondern ihre Eltern verantwortlich sind. Viel schwieriger ist ein Entscheiden über die Geltung einer einzelnen Rechtsnorm, z. B. einer gewissen völkerrechtlichen Rechtsnorm oder eines Gesetzes des Staates oder eines Gerichtsurteils, wenn eine solche Rechtsnorm einen Verstoß gegen die Menschlichkeit bedeutet, wenn sie contra humanitatem ist. Der Konflikt zwischen der Idee der Gerechtigkeit und der Idee der Freiheit des konkreten Menschen auf der einen Seite und der Idee der Rechtssicherheit auf der anderen Seite ist hier viel schärfer und die Waage, auf der die Argumente beider Gegenparteien liegen, ist viel ausgeglichener. Wenn man einen solchen Tatbestand beurteilt, muß man vom Grundgedanken ausgehen, welchen Umfang und welche Tragweite jene Rechtsnorm contra humanitatem hat. Man kann sich gewiß ein Gesetz im Rahmen der gesamten Staatsrechtsordnung vorstellen, welches so
182
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tief und weit eingreift, daß es „unmenschlich" für viele Pflichtsubjekte ist u n d i n solcher Weise die Staatsrechtsordnung als ein Ganzes „infiziertIn solchem Falle ist es gewiß notwendig, ein solches Gesetz, eine solche einzelne Rechtsnorm contra humanitatem für n u l l und nichtig zu erklären. A u f der anderen Seite steht man aber vor einem Faktum, daß tatsächlich, z. B. i n der Praxis der Gerichte, eine solche, „Non-Rechtsnorm" i m betreffenden Staat als gültig anerkannt, interpretiert und angewendet sein w i r d . Wenn eine positiv-rechtliche Bestimmung der betreffenden Staatsrechtsordnung über die Nichtigkeitserklärung einer solchen „Non-Rechtsnorm" durch ein besonderes Organ, z. B. durch das Verfassungsgericht existiert, ist eine solche Problematik positivrechtlich gelöst. Wenn nicht, so kann und muß man noch weiter (und noch positiv-rechtlich) argumentieren u n d m i t dem Völkerrecht arbeiten und versuchen, ob hier eine Rechtsbestimmung ist, welche angewendet werden soll. Wenn aber diese ganze positiv-rechtliche A r g u mentation versagt, so fließt die Nichtigkeit einer solchen „Rechtsnorm contra humanitatem" aus dem objektiven Rechtsgeist, besonders aus der wissenschaftlich-rechtlichen Weltanschauung, aus der realen Idee des Rechts und letztlich aus der idealen Normidee des Rechts, aus der Argumentation, daß eine solche „Rechtsnorm" contra humanitatem gegen die beiden ersten Bestandteile der Idee bzw. Normidee des Rechts verstößt, nämlich gegen die Ideen der Freiheit des konkreten Menschen und der Gerechtigkeit. Wahrscheinlich w i r d man eine „immanente" Gegenargumentation hören, und zwar m i t Rücksicht darauf, daß man doch den objektivierten Rechtsgeist (die positive Rechtsordnung) solange i n Geltung läßt, solange diese Objektivation nicht i m legalen Wege oder i m Wege der Revolution aufgehoben w i r d . Gegen diese Argumentation kann man geltend machen: Erstens, daß es sich doch u m eine Objektivation des damaligen objektiven Geistes handelt, und daß m a n dabei von der grundlegenden Voraussetzung ausgeht, daß — schon i n begrifflicher Hinsicht — eine „Rechtsnorm" contra humanitatem i m objektiven Rechtsgeist der damaligen Zeit nicht enthalten sein konnte und es daher zu keiner richtigen Objektivation solcher „Rechtsnorm" kommen konnte. Zweitens kann man einwenden, daß gerade die von der Rechtsordnung berufenen Organe berechtigt und sogar verpflichtet sind, solche „Rechtsnormen" contra humanitatem für n u l l u n d nichtig zu erklären. Anders stellt sich die Sache dann dar, wenn es sich u m eine einzelne Rechtsnorm m i t kleinem Umfang handelt. Hier muß man die ganze Argumentation auf den immanent-positiven rechtlichen Standpunkt
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begrenzen und den Inhalt der betreffenden Staatsrechtsordnung untersuchen. 4. Nach allem, was hier gesagt wurde, entsteht eine interessante Frage: Ist eine antidemokratische Rechtsordnung überhaupt noch eine Rechtsordnung? Anders ausgedrückt: Gehört zum Wesen des Rechts, daß die Rechtsordnung demokratisch entsteht, demokratisch interpretiert und angewendet wird, und daß ihr ganzer Inhalt durch die Idee der Demokratie beeinflußt ist? Wie w i r schon wissen, kann man den Kern der Demokratie i m Prinzip der Mehrheit und i m Prinzip der Autonomie ausdrücken und i n der konsequenten Einhaltung der Menschenrechte sehen. Nehmen w i r jetzt eine Prüfung an einem konkreten Beispiel vor. Es gibt einen Staat (und eine Rechtsordnung), wo die Prinzipien der Mehrheit und der Autonomie nicht respektiert werden, wo bei einem Menschen (oder bei einer ganz kleinen Anzahl der Menschen) die absolute Macht konzentriert wird, die Menschenrechte aber trotzdem grundsätzlich (sc. mit der Ausnahme der Teilnahme der Staatsbürger an der Staatsgewalt) eingehalten werden. Das bedeutet also, daß sonst die Menschenwürde und in ihr fußende grundlegende Menschenrechte, wie Freiheit und Gleichheit, existieren. Ist eine solche Rechtsordnung, ein solches Rechtssystem, i n dem die volle Demokratie nicht herrscht, etwa contra humanitatem und daher keine Rechtsordnung? Ist nur das demokratische Recht ein geltendes Recht? Wenn w i r von der Gesamterfahrung (sc. von der wissenschaftlichen Erfahrung, von der philosophischen Erfahrung, aber auch von der Erfahrung des praktischen Lebens) ausgehen und wenn w i r uns die durchgeführte kritische Analyse der Demokratie des Rechtssystems, besonders die Klärung des Problems des Rechts contra humanitatem vergegenwärtigen, muß man zur negativen Antwort auf die hier aufgeworfene Frage gelangen. Auch ein Recht, das nicht auf dem Prinzip der vollen Demokratie aufgebaut ist, die Menschenwürde und die Menschenrechte aber wenigstens grundsätzlich respektiert, ist geltendes Recht. Das bedeutet allerdings keinesfalls, daß w i r nicht von der überzeugung ausgehen, daß nur ein demokratisches Recht das Recht darstellt. Jedes autoritäre Recht, jeder autoritäre Staat seinem Keim die immanente Tendenz zu seiner Entwertung, menschlichkeit.
Grund„ideale" trägt i n zur Un-
HANS KELSEN UND CARL SCHMITT Von Wolfgang Manti, Graz I. Ausgangslage Die untereinander in heftigen methodologischen und rechtsinhaltlichen Auseinandersetzungen befindlichen Staatsrechtslehrer der Zwischenkriegszeit 1 i m deutschen Sprachraum, Gegner, aber auch Erben 1 Peter Badura, Die Methoden der neueren A l l g . Staatslehre, Erlangen 1959; Wolfram Bauer, Wertrelativismus und Wertbestimmtheit i m Kampf u m die Weimarer Demokratie. Z u r Politologie des Methodenstreites der Staatsrechtslehrer, B e r l i n 1968; Manfred Friedrich, Die Grundlagendiskussion i n der Weimarer Staatsrechtslehre, in: PVS 13 (1972), S. 582 - 598; ders.: Der Methoden- u n d Richtungsstreit. Z u r Grundlagendiskussion der Weimarer Staatsrechtslehre, in: AöR 102 (1977), S. 161 - 209; Volker Hartmann, Repräsentation i n der polit. Theorie u n d Staatslehre i n Deutschland. Untersuchung zur Bedeutung u n d theoretischen Bestimmung der Repräsentation i n der liberalen Staatslehre des Vormärz, der Theorie des Rechtspositivismus u n d der Weimarer Staatslehre, B e r l i n 1979; Hermann Heller, Bemerkungen zur staats- u n d rechtstheoretischen Problematik der Gegenwart, in: AöR 55 (1929), S. 321 - 354; Günther Holstein, V o n Aufgaben und Zielen heutiger Staatsrechtswissenschaft, in: AöR 50 (1926), S. 1 - 40; Werner Kägi, Die V e r fassung als rechtl. Grundordnung des Staates. Untersuchungen über die Entwicklungstendenzen i m modernen Verfassungsrecht, Zürich 1945; Gerhard Leibholz, Zur Begriffsbildung i m ö f f e n t l . Recht, in: Blätter für Deutsche Philosophie 5 (1931/32), S. 175 - 189; Jürgen Meinck, Weimarer Staatslehre u n d Nationalsozialismus: eine Studie zum Problem der K o n t i n u i t ä t i m staatsrechtl. Denken i n Deutschland 1928 - 1936, F r a n k f u r t / M a i n - New Y o r k 1978; Manfred H. Mols, A l l g . Staatslehre oder polit. Theorie? Interpretationen zu ihrem Verhältnis am Beispiel der Integrationslehre Rudolf Smends, B e r l i n 1969; Martin Rhonheimer, Politisierung u n d Legitimitätsentzug. Totalitäre K r i t i k der parlamentar. Demokratie i n Deutschland, Freiburg/Breisgau - München 1979; Martin J. Sattler (Hrsg.), Staat u n d Recht. Die deutsche Staatslehre i m 19. u n d 20. Jh., München 1972; Ulrich Scheuner, Das Wesen des Staates und der Begriff des Politischen i n der neueren Staatslehre, in: Konrad Hesse / Siegfried Reicke / Ulrich Scheuner (Hrsg.): Staatsverfassung und Kirchenordnung. FS f. Rudolf Smend z. 80. Geb., Tübingen 1962, S. 225 bis 260; ders., 50 Jahre deutsche Staatsrechtswissenschaft i m Spiegel der Verhandlungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer. I. Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer i n der Zeit der Weimarer Republik, in: AöR 97 (1972), S. 349 - 374; Wolf gang Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat. Hermann Heller u n d die staatstheoretische Diskussion i n der Weimarer Republik, K ö l n - B e r l i n 1968; Rudolf Smend, Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer u n d der Richtungsstreit, in: Horst Ehmke u.a. (Hrsg.), FS f. Ulrich Scheuner z. 70. Geb., B e r l i n 1973, S. 575 - 589; Kurt Sontheimer, Antidemokrat. Denken i n der Weimarer Republik. Die polit. Ideen des deutschen Nationalismus zw. 191.8 und 1933, 2. A . München 1968.
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der Staatslehre und der Dogmatik des öffentlichen Rechtes der konstitutionellen Monarchie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, fanden in Hans Kelsen (geb. 1881 - gest. 1973) und Carl Schmitt (geb. 1888) zwei Protagonisten, deren wissenschaftliche Positionen und politische Optionen die wohl unversöhnlichsten Punkte auf der Skala der Fachpolemik ausmachten. I n seiner Rezension der „Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts" von Romeo Maurenbrecher in den „Göttingischen gelehrten Anzeigen" vom 21. und 23. September 1837 wandte Wilhelm Eduard Albrecht einen Beurteilungsmaßstab an, der in Abgrenzung von einer umfassenden staatswissenschaftlichen Methode auf die „Idee der j u ristischen Person des Staats" 2 als „Fundament und Ausgangspunkt" 2 der „eigentlich juristischen Auffassung und Construction" 3 des Staatsrechts „ i m Ganzen und in seinen Theilen" 3 abstellt, u m so „die Einmischung fremdartigen, der Staatswissenschaft angehörigen, Stoffes" 4 zu vermeiden „und das eigentlich Juristische fester ins Auge" 4 zu fassen. I n nuce ist in diesem Rezensionsgrundmuster Albrechts jenes Programm angelegt, das Carl Fr. v. Gerber und Paul Laband nach dem Vorbild der Privatrechtswissenschaft zur juristisch-konstruktiven Methode ausbauten und verfeinerten und das der Wissenschaft von Staat und öffentlichem Recht mit den Gipfelleistungen Georg Jellineks und Otto Mayers die positivistischen Grundlagen gab, deren Selbstverständlichkeit nur selten — etwa durch Otto v. Gierke und Albert Hänel — in Frage gestellt wurde. Der Zusammenbruch der mitteleuropäischen Monarchien i m Jahre 1918 brachte, wie aus den Biographien zahlreicher Staatsrechtslehrer — nicht zuletzt auch Kelsens — hervorleuchtet, eine „gewaltige praxisbezogene Aufgabenausweitung für die Staatsrechtslehre" 5 , auf die sich vier Reaktionsweisen 6 herausbildeten: 1. die Fortsetzung der älteren 2 Z i t i e r t nach dem unveränderten Nachdruck Eduard Albrecht, Rezension über Maurenbrechers Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts, D a r m stadt 1962, S. 12. 3 Ders., Rezension, S. 3 (Anm. 2). 4 Ders., Rezension, S. 23 (Anm. 2). 5 Friedrich, Grundlagendiskussion, S. 591 (Anm. 1). β I m allgemeinen werden n u r drei Richtungen unterschieden (so Friedrich, Methoden- und Richtungsstreit, S. 172 / A n m . 1, u n d Scheuner, Jahre, S. 367 / A n m . 1), die sich m i t meinen unter 1. bis 3. genannten Reaktionensweisen decken, der davon verschiedene Carl Schmitt w i r d als gleichsam verstoßener u n d tabuisierter Sonderfall außerhalb der genannten Gruppierung angeführt (Friedrich, Methoden- u n d Richtungsstreit, S. 2 0 6 / A n m . 1, u n d Scheuner, Jahre, S. 367 88 / A n m . 1); die breite Resonanz Schmitts, sein starkes Fortw i r k e n lassen es m i r jedoch gerechtfertigt erscheinen, i h n neben den drei erwähnten als vierte Richtung innerhalb des Spektrums der Staatsrechtslehre der Zwischenkriegszeit zu nennen. Eine Verdrängung käme letztlich einer Verharmlosung gleich.
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positivistischen Tradition der juristisch-konstruktiven Methode (Gerhard Anschütz, Richard Thoma); 2. die „Ablehnung des bis dahin herrschenden formalistischen Positivismus" 7 durch eine, abgesehen von dieser Frontstellung, i n sich keineswegs homogene Gruppe von Neuerern (Erich Kaufmann, Heinrich Triepel, Rudolf Smend, Gerhard Leibholz, Hermann Heller), die eine materiale, wertbestimmte, teleologische, ideengeschichtliche, geistes- und wirklichkeitswissenschaftliche Rechtsbetrachtung anstrebten; 3. die „selbständige Phalanx" 8 der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens, i n dem die Staatsrechtslehrer der Weimarer Republik „schlechterdings den Gegner [sahen], der nicht nur eine neue Schule anführte, sondern zugleich die gesamte ältere, als zu eng abgelehnte Facheinstellung erneuerte und vollendete" 9 und 4. die damals noch einzelkämpferische Sonderposition Carl Schmitts, dessen Ausstrahlung erst ab den dreißiger Jahren schulbildend wirkte. Die für einen Methoden- und Richtungsstreit „typische Zunahme der Verstehens- und Verständnisschwierigkeiten" 1 0 w i r k t bis i n die Gegenwart nach, verschärft durch die Frage nach den Konsequenzen und A u s w i r kungen der einzelnen Lehren auf den Untergang, die Zerstörung der mitteleuropäischen Demokratien 1933/34, wobei freilich bei Beurteilung der Neuerer eine simplifizierende Parallelisierung von wissenschaftlicher Methode und antidemokratischer Haltung (unbestrittene Gegenbeispiele: Hermann Heller und Gerhard Leibholz) der komplizierten Situation nicht gerecht w i r d 1 1 , deren Kompliziertheit nicht zuletzt darin liegt, daß auch Oestruktionswirkung und Destruktionsabsieht keineswegs bei allen Autoren so wie bei Carl Schmitt zusammenfallen. Festgehalten werden muß jedoch, daß die „Positivisten" — und hier gerade auch Hans Kelsen — zu den entschlossenen und mutigen Verteidigern der neuen Demokratie durchaus auch i n ihrer Krise zählten.
II. Kelsen und Schmitt Kelsens „politische" Schriften 1 2 über Probleme der Demokratie und des Parlamentarismus, ja der modernen Staatlichkeit überhaupt lassen 7
Smend, Vereinigung, S. 578 (Anm. 1). Scheuner, Jahre, S. 367 (Anm. 1). 9 Friedrich, Methoden- und Richtungsstreit, S. 199 (Anm. 1). 10 Ders., Methoden- und Richtungsstreit, S. 198 (Anm. 1). 11 I n diesem Sinne nuanciert Friedrich, Methoden- und Richtungsstreit, S. 172 - 177 (Anm. 1). 12 Hans Kelsen, V o m Wesen und Wert der Demokratie, Tübingen 1. A. 1920, 2. A. 1929; Allg. Staatslehre, B e r l i n 1925; Das Problem des Parlamentarismus, Wien - Leipzig o. J. (1925); Demokratie, in: Verhandlungen des 5. Deutschen Soziologentages v. 26. - 29. September 1926 i n Wien, Tübingen 1927, S. 37 - 68 und S. 113-118 (wieder abgedruckt in: Norbert Leser (Hrsg.), Demokratie 8
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sich mit dem Kontrastmittel der Schmittschen Staats- und Politiklehre(n) 13 besonders deutlich analysieren, wobei nach anfänglichen Gemeinsamkeiten immer stärkere Gegensätzlichkeiten der wissenschaftlichen Ergebnisse und mehr noch der politischen Präferenzen zu Tage treten. Die vorliegende Studie kann nicht das gesamte, sich über zumindest drei Jahrzehnte erstreckende Beziehungsfeld zwischen Kelsen und Schmitt rekonstruieren, es soll vielmehr nach einer Problemabsteckung
die Hauptkonfrontation
i m Jahre 1931 skizziert werden, die
sich in Schmitts Monographie „Der Hüter der Verfassung" und Kelsens schneidender K r i t i k „Wer soll der Hüter der Verfassung sein?" niederschlug. Nicht selten w i r d — ein gängiger Nachkriegstopos — anklagend bis denunziatorisch eine Gemeinsamkeit Kelsens und Schmitts in der Wegbereitung für den Nationalsozialismus derart behauptet, daß Kelsens Formalismus und Relativismus die Selbstaufhebung der Demokratie ermögliche, sie wehrlos gegen ihre autokratischen Feinde mache, „da die ,Reine Rechtslehre' unter der Voraussetzung der regelmäßigen Wirksamkeit alle Rechtsordnungen ungeachtet ihres Inhalts legitimiere und auch inhumanen Systemen die Qualifikation als Rechtsstaat nicht versage" 14 . Ein gutes Beispiel für dieses von Norbert Achterberg als „fundamentalen I r r t u m " 1 5 bezeichnete Vorwurfsstereotyp liefert Eleonore Sterling: „Obwohl Kelsen und Schmitt von entgegengesetzten Prinzipien ausgehen und ihre Ideologien grundverschieden sind, droht das Endresultat das gleiche zu werden" 1 6 : es „können beide Instrumente der willkürlichen Macht werden 1 6 ." Und am Ende der Skizze noch einu n d Sozialismus. Hans Kelsen, Ausgewählte Aufsätze, W i e n 1967, S. 11-39); Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, B e r l i n - G r u n e w a l d 1931; Verteidigung der Demokratie, in: Blätter der Staatspartei 2 (1932) H. 3/4 (April), S. 90 - 98 (abgedruckt in: Leser, Demokratie, S. 60 - 68); Staatsform u n d W e l t anschauung, Tübingen 1933 (abgedruckt in: Leser, Demokratie, S. 4 0 - 59). 13 Carl Schmitt (meist mehrere Auflagen), Polit. Romantik, München Leipzig 1919; Die D i k t a t u r . V o n den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletar. Klassenkampf, München - Leipzig 1921; Polit. Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München - Leipzig 1922; Römischer Katholizismus und polit. Form, Hellerau 1923; Die geistesgeschichtl. Lage des heutigen Parlamentarismus, München - Leipzig 1923; Der Begriff des Politischen, in: ASwSp 58 (1927), S. 1 - 33; Verfassungslehre, München - Leipzig 1928; Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931; Legalität und Legitimität, München - Leipzig 1932. 14 Norbert Leser, Hans Kelsen (1881 - 1973), in: Neue Österr. Biographie, X X . Bd. Wien 1979, S. 39. Leser selbst meint dies jedoch nicht als V o r w u r f . 15 Norbert Achterberg, Hans Kelsens Bedeutung i n der gegenwärtigen deutschen Staatslehre, in: DÖV 27 (1974), S. 447. — Z u m Relativismusproblem neuestens differenziert Ralf Dreier, Recht — Moral — Ideologie, F r a n k f u r t / M a i n 1981. 16 Eleonore Sterling, Studie über Hans Kelsen u n d Carl Schmitt, in: ARSP 47 (1961), S. 570, dort auch: „Praktisch w i r k t e sich das ,reine Rechtsdenken' zum Vorteil der emporkommenden nationalsozialistischen Bewegung aus."
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m a l : „ D e r R e c h t s f o r m a l i s m u s , w i e Hans K e l s e n i h n v e r t r i t t , v e r m a g es aber ebenso w e n i g , d e m Chaos eine O r d n u n g a b z u r i n g e n als der E x i s t e n z - A n t h r o p o l o g i s m u s C a r l S c h m i t t s " 1 7 . Ganz abgesehen v o n Vergröberungen — so f i x i e r t u n d v e r e i n s e i t i g t die A u t o r i n C a r l S c h m i t t auf seine existenzialistische u n d nationalsozialistische Phase — u n d Fehlern — K o n f u n d i e r u n g v o n Recht u n d Rechtswissenschaft 1 8 , B e h a u p t u n g , daß „ K e l s e n die G e l t u n g der Rechtssätze v o n j e d e r Gesells c h a f t l i c h k e i t t r e n n t " 1 9 , daß er die „ T r e n n u n g v o n N o r m u n d W e r t " 2 0 v o r n e h m e u n d daß er die D e m o k r a t i e „ w e i t e r h i n m i t der t r a d i t i o n e l l e n L e h r e v o n der G e w a l t e n t e i l u n g " 2 1 i d e n t i f i z i e r e — l e i d e t der A u f s a t z S t e r l i n g s an e i n e r Verkennung 22 der wissenschaftlichen E r k e n n t n i s absicht der R e i n e n Rechtslehre u n d an e i n e r Überspannung 23 der i n Wissenschaft i n v e s t i e r b a r e n E r w a r t u n g e n . B e i a l l e r K r i t i k an i h r ist Hans K e l s e n 2 4 durchaus der Staatslehre des 19. J a h r h u n d e r t s v e r b u n d e n , w i e er selbst 1925 i n der „ V o r r e d e " seiner „ A l l g e m e i n e n Staatslehre" bekennt: 17
Dies., Studie, S. 585 (Anm. 16). Dies., Studie, S. 570 u n d passim (Anm. 16). 19 Dies., Studie, S. 571 (Anm. 16). 20 Dies., Studie, S. 572 (Anm. 16). 21 Dies., Studie, S. 573 (Anm. 16). 22 „Es ist ein großes Mißverständnis, w e n n man der Reinen Rechtslehre unterstellt, durch die normative Deutung der rechtlich vermittelten Beziehungen den I n h a l t der Normen auch zu bejahen oder gar zu rechtfertigen. Die Reine Rechtslehre enthält sich jeder Bewertung des Inhalts der Normen, sondern gibt sich damit zufrieden, die Rechtsordnung m i t Hilfe eines normativen Deutungsschemas als einen dynamischen Erzeugungszusammenhang von Soll-Sätzen zu beschreiben." [Norbert Leser, Wertrelativismus, Grundn o r m und Demokratie. Abgrenzungs- u n d Anwendungsprobleme der „Reinen Rechslehre", in: Felix Ermacora / Hans Klecatsky / René Marcie (Hrsg.), 100 Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit, 50 Jahre Verfassungsgerichtshof i n Österreich, F r a n k f u r t / M a i n - Salzburg 1968, S. 229]. Allerdings hinterläßt auch die rechtfertigungsenthaltsame Beschreibung effektiver, also i m großen und ganzen wirksamer Rechtsordnungen gerade durch diese eine M i t t e l position zwischen Realismus u n d Idealismus markierende denkökonomische Verbindung von Sein u n d Sollen „Rechtfertigungsspuren", läßt sich daraus „ein gewisser allgemeinster Wertvorrang der Ordnung gegenüber der NichtOrdnung ableiten" (Ders., Wertrelativismus, S. 239, ebenso S. 232 und S. 238). 23 „ M a n darf die Wissenschaft nicht überfordern u n d muß sich der Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit bewußt bleiben, selbst w e n n man die Erkenntnis und das Eingeständnis dieser Grenzen als Tragik empfindet." es ist nicht einzusehen, was eine anders begründete Rechtslehre leisten könnte, u m eine Entartung des gesellschaftlichen Wollens zu verhindern". (Leser, Hans Kelsen, S. 39 / A n m . 14). 24 Aus der jüngeren L i t e r a t u r zu Kelsens Person und Werk: Achterberg, Hans Kelsens Bedeutung, S. 445 - 454 (Anm. 15); Badura, Methoden, S. 142 bis 151 (Anm. 1); Bauer, Wertrelativismus, S. 7 9 - 132 (Anm. 1); William Ebenstein, Hans Kelsen, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, Bd. 8, New Y o r k 1968, S. 360 -366; Hartmann, Repräsentation, S. 173 - 199 (Anm. 1); Reinhard Heindler, Die Staatstheorie Hans Kelsens, in: 18
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„Jetzt, da ich, die Resultate meiner monographischen Vorarbeiten zusammenfassend u n d ergänzend, ein System der Allgemeinen Staatslehre versuche, sehe ich deutlicher als früher, w i e sehr meine eigene A r b e i t auf der großer Vorgänger ruht; fühle ich mich inniger als bisher jener Richtung staatstheoretischer Erkenntnis eingegliedert, als deren bedeutendste Vertreter i n Deutschland K a r l Friedrich v o n Gerber, Paul Laband und Georg Jellinek genannt werden müssen. Sie zielt — i n A b k e h r von einer nebulosen Staatsmetaphysik — auf eine Theorie des positiven Staaten, das heißt aber auf eine streng juristische u n d nicht politisch gefärbte Staatslehre 2 5 ."
Das Wort von Kelsen als Liberalen hat jedenfalls so viel an sich, daß er mit dem Liberalismus die wissenschaftliche und politische Herkunft aus Aufklärung, bürgerlicher Revolution und Umwälzung der Philosophie durch Immanuel Kant teilt, daß sein Denken mit Kant und dem Neukantianismus von der Konstituierung des Erkenntnisobjekts durch die Erkenntnismethode, von der Trennung von Sein und Sollen, Inhalt und Form, Denken und Wollen, Wirklichkeit und Wert, Naturgesetz und Rechtsnorm, Kausalität und Normativität, Recht und Politik, Wissenschaft und Leben ausgeht. Methodenbewußtheit 26 und Bemühen um „Reinheit" der Rechtslehre von politischen, ethischen, soziologischen und psychologischen Elementen durchziehen Kelsens Werk, das mit Positivismus, Normativismus, Formalismus, Relativismus und Kritizismus zu charakterisieren Kelsen und seinen Schülern durchaus geläufig war, von den Zeitgenossen der Zwischenkriegszeit jedoch keinesfalls als schmückende Lobrede oder nur wertfreie Beschreibung gedacht war. Allen Anfeindungen zum Trotz hielt Kelsen nicht nur seinen kulturellen,
sondern auch seinen politischen
Liberalismus aufrecht — dem
wirtschaftlichen Liberalismus des Kapitalismus und der Betonung des Privateigentums stand er jedoch kritisch gegenüber. Auch i m existenzbedrohenden totalitären Gegenwind trat er für Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat, Parlament, Verfassungsgerichtsbarkeit, Diskussion, Pluralismus, Kompromiß, Toleranz und Minderheitenschutz ein 2 7 . Auch in JuS 12 (1972), S. 489-496; Leser, Wertrelativismus, S. 225-277 (Anm. 22); ders., Hans Kelsen, S. 2 9 - 39 (Anm. 14); Rudolf A. Métall, Hans Kelsen. Leben und Werk, Wien 1969; Gottfried Salomon-Delatour, Moderne Staatslehren, Neuwied/Rhein - B e r l i n 1965, S. 652-656; Martin J. Sattler, Hans Kelsen, in: ders., Staat, S. 100 - 122, S. 176 - 178, S. 192 f. u n d S. 203 f. (Anm. 1); Henri Thévenaz, Actualité de Kelsen, in: ZSR 98 (1979), 1. Halbbd. S. 93 bis 100. 25 Kelsen, Staatslehre, S. V (Anm. 12). 26 Schon i n der „Vorrede" seiner Habilitationsschrift „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre v o m Rechtssatze" (Tübingen 1911) findet sich die Qualifizierung seiner A r b e i t als „vornehmlich methodologischen Charakters" (S. I I I ) . 27 „Kelsen w a r nicht n u r ein Theoretiker der Demokratie u n d der Toleranz, der sich zeitlebens zu diesen Idealen bekannte, er lebte diese Toleranz auch u n d zog aus einem Relativismus nicht die Konsequenz des Zynismus und der Gleichgültigkeit, sondern die der respektvollen Aufmerksamkeit
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der K r i s e n s i t u a t i o n des Jahres 1932 b l i e b sich K e l s e n t r e u , m e h r t r a u e r n d als r e s i g n i e r e n d u n t e r s t r i c h er m i t durchaus e m o t i v e n W o r t e n seine demokratische w i e seine relativistische Grundhaltung: „ E i n Freund der Demokratie gleicht heute n u r zu sehr einem A r z t am Bett eines Schwerkranken: man setzt die Behandlung noch fort, auch w e n n die Aussicht, den Patienten am Leben zu erhalten, beinahe schon geschwunden ist. — Aber das Bekenntnis zur Demokratie wäre heute auch dann Pflicht jedes Demokraten, w e n n jeder Versuch, sie zu retten, v ö l l i g aussichtslos geworden wäre. Denn es gibt auch eine Treue zur Idee, die unabhängig ist von der Chance, diese Idee zu realisieren; u n d es gibt auch D a n k barkeit für eine Idee, die über das Grab ihrer V e r w i r k l i c h u n g hinausgeht 2 8 ." Diese D a n k b a r k e i t solle sich a m besten i n der V e r t e i d i g u n g der D e m o k r a t i e gegen u n g e r e c h t e V o r w ü r f e v o n l i n k s u n d rechts äußern. U n d K e l s e n schließt diesen a p p e l l a t i v e n Z e i t s c h r i f t e n a u f s a t z : „Eine Demokratie, die sich gegen den W i l l e n der Mehrheit zu behaupten, gar m i t Gewalt sich zu behaupten versucht, hat aufgehört, Demokratie zu sein. Eine Volksherrschaft k a n n nicht gegen das V o l k bestehen bleiben. U n d soll es auch gar nicht versuchen, das heißt, wer für die Demokratie ist, darf sich nicht i n den Widerspruch verstricken lassen und zur D i k t a t u r greifen, u m die Demokratie zu retten. M a n muß seiner Fahne treu bleiben, auch wenn das Schiff sinkt; u n d k a n n i n die Tiefe n u r die Hoffnung mitnehmen, daß das Ideal der Freiheit unzerstörbar ist u n d daß es, je tiefer es gesunken, u m so leidenschaftlicher wieder aufleben w i r d 2 9 . " Sicher r e i z t diese Passage z u m W i d e r s p r u c h u n d w a r auch n i c h t das letzte W o r t z u r D i s k u s s i o n u m die V e r t e i d i g u n g der D e m o k r a t i e , ebenso sicher ist jedoch, daß die schier z u r E v i d e n z gesteigerte Nachk r i e g s ü b e r z e u g u n g v o n der U n r i c h t i g k e i t dieser Kelsenschen A u f f a s sung i n z w i s c h e n die G e w i ß h e i t der S e l b s t v e r s t ä n d l i c h k e i t v e r l o r e n h a t . I n v i e l e m ist C a r l S c h m i t t 3 0 wissenschaftlich u n d noch m e h r p o l i t i s c h der Antipode Hans Kelsens, i n seinem A n t i n o r m a t i v i s m u s , E x i s t e n z i a für die Welt u n d das Denken des anderen." (Leser, Hans Kelsen, S. 35 / A n m . 14). 28 Kelsen, Verteidigung, S. 62 (Anm. 12). 29 Ders., Verteidigung, S. 68 (Anm. 12). 30 Aus der jüngeren L i t e r a t u r zu Schmitts Person und Werk: Badura, Methoden, S. 199 - 203 (Anm. 1); Jürgen Fijalkowski, Carl Schmitt, in: I n t e r national Encyclopedia of the Social Sciences, Bd. 14, New Y o r k 1968, S. 58 60; Hartmann, Repräsentation, S. 199 - 237 (Anm. 1); Hasso Hof mann, Legit i m i t ä t gegen Legalität. Der Weg der polit. Philosophie Carl Schmitts, Neuw i e d / R h e i n - B e r l i n 1964; Wolf gang Manti, Repräsentation u n d Identität. Demokratie i m K o n f l i k t , W i e n - N e w Y o r k 1975, S. 121 - 149; Ingehorg Maus, Bürgerliche Rechtstheorie u n d Faschismus. Z u r sozialen F u n k t i o n und a k t u ellen W i r k u n g der Theorie Carl Schmitts, München 1976; Heinrich Muth, Carl Schmitt i n der deutschen I n n e n p o l i t i k des Sommers 1932, in: Theodor Schieder (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte der Weimarer Republik, Beiheft 1 der HZ, München 1971, S. 75 - 147; Rhonheimer, Politisierung, S. 103 - 134 (Anm. 1); Helmut Rumpf, Carl Schmitt und der Faschismus, in: Der Staat 17
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lismus, Dezisionismus, Okkasionalismus, in seiner methodologischen Nonchalance; in einem Rezensionsaufsatz aus dem Jahre 1926 spricht er geringschätzig von „methodologischer Inflation" 3 1 . Die Brillanz seiner Sprache verleiht i h m über die Fachwelt hinaus Anziehungskraft auf ruhelose, unsichere Zeitgenossen, denen die hämmernde Apokalyptik seiner Verfallstheorien zugleich in dunklen Signalen einen Aufbruch aus den Krisen der Weimarer Republik verspricht. „Er w i r k t wie ein Brennpunkt, in dem sich Wege, Abwege und Irrwege des Zeitgeistes treffen 3 2 ." Seine „Lust am Begriff" 3 3 und sein dualistisch-dichotomisches Denken führen ihn zu Zerreißungen der Wirklichkeit, zu drastischen Gegenüberstellungen von übersteigerten Bildern und — trotz historischer Verweise — ungeschichtlichen Modellen. So entstanden mit durchaus fatalen praktischen Konsequenzen unversöhnliche Begriffspaare wie Freund und Feind, Legitimität und Legalität, Normalität und Ausnahmezustand, Demokratismus und Liberalismus, politischer und rechtsstaatlicher Teil der Verfassung, Repräsentation und Identität. Abgesehen von seinen Anfängen, ging es Schmitt nicht mehr um Rechts- und Rechtswissenschaftsbegriffe, relativierte er Verfahrensweisen und Rechtstechniken. Seine Betonung der politischen Einheit des (deutschen) Volkes in einem starken machtvollen Staat, sein auto(1978), S. 233 -243; Salomon-Delatour, Staatslehren, S. 667- 674 (Anm. 24); Michael Stolleis, Carl Schmitt, in: Sattler, Staat, S. 123 - 146, S. 178 - 182, S. 193 - 196 u n d S. 204 f. (Anm. 1). 31 Carl Schmitt, Z u Friedrich Meineckes „Idee der Staatsräson", in: ASwSp 56 (1926), S. 233. — I n einem Rundfunkgespräch m i t Joachim Schickel am 25. A p r i l 1969: „Ich habe eine Methodologie, die m i r eigentümlich ist: die Phänomene an mich herankommen zu lassen, abzuwarten und sozusagen v o m Stoff her zu denken, nicht von vorgefaßten Kriterien. Das können Sie phänomenologisch nennen, aber ich lasse mich nicht gerne auf solche allgemeinen methodologischen Vorfragen ein. Das würde ins Uferlose führen." Joachim Schickel (Hrsg.), Guerilleros, Partisanen. Theorie u n d Praxis, M ü n chen 1970, S. 11. „Schmitts Verfassungslehre wie seine offener i n die Waagschale des Tages geworfenen verfassungspolitischen Enthüllungsschriften spekulieren normalerweise auf jenen überrumpelnden Uberraschungseffekt, der sich der Nichtaufdeckung des eigentlichen argumentativen Ausgangspunktes und damit der Verschleierung von dessen Angreifbarkeit verdankt." (Friedrich, Methoden- und Richtungsstreit, S. 206/Anm. 1.) 32 Muth, Carl Schmitt, S. 76 (Anm. 30). — Vgl. auch das U r t e i l Josef Piepers (Noch wußte es niemand. Autobiographische Aufzeichnungen 1904 - 1945. München 1976) der Carl Schmitt gegen Ende des Krieges i n privatem Kreis traf: „Es w a r übrigens ein Genuß, seiner funkelnden Konversation zuzuhören. U n d ich begriff sogleich, welche Faszination, i m Guten wie i m Bösen, dieser akademische Lehrer ausgestrahlt haben muß. U m gegen seine geschliffenen Thesen anzutreten, brauchte man vor allem einen beträchtlichen M u t zur Banalität" (S. 197). „Aufs Ganze gesehen aber wurde ich bei all diesen Diskursen nie das Mißbehagen los, daß hier stets dem Interessanten der Vorrang gegeben werde vor dem inhaltlich Wahren. U n d ich dachte an die alte Sentenz, wonach nährende Weisheit und Brillianz der Formulierung einander auszuschließen scheinen" (S. 198). 33 Stolleis, Carl Schmitt, S. 124 (Anm. 30).
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r i t ä r e r n a t i o n a l i s t i s c h e r Etatismus u als „ M a c h t s t a a t s i d e o l o g i e i m Gewände einer T h e o r i e " 3 5 , m i t einer v o n der Konservation bis zur Revol u t i o n reichenden Bandbreite, weist trotz i m m e r wieder erfolgender A n n ä h e r u n g e n a n soziale u n d politische K r ä f t e (Katholizismus, D e u t s c h n a t i o n a l e V o l k s p a r t e i , N a t i o n a l s o z i a l i s m u s ) 3 6 Z ü g e eines Freischärlertums r o m a n i s c h e r 3 7 P r ä g u n g auf — p o i n t i e r t : C a r l S c h m i t t ist so etwas w i e e i n G a b r i e l e d ' A n n u n z i o d e r Staatslehre, d e r Staatslehre u n d n i c h t des Lebens, das i n „ b ü r g e r l i c h e m G l e i c h m a ß " 3 8 v e r b l i e b , j a sogar i n scharfem K o n t r a s t z u S c h m i t t s S c h r i f t e n ausgesprochen p r i v a tistische Phasen a u f w e i s t 3 9 . Das S c h i l l e r n d e , Wechselnde, V i e l f ä l t i g e w u r d e i h m schließlich auch v o n d e n N a t i o n a l s o z i a l i s t e n ( n a m e n t l i c h v o m „ S c h w a r z e n K o r p s " der SS) z u m V o r w u r f gemacht u n d f ü h r t e 1936 z u r Z u r ü c k d r ä n g u n g auf seine B e r l i n e r P r o f e s s u r 4 0 . S c h m i t t s „ P h i l o s o p h i e r e n ü b e r Recht u n d Staat aus d e r F a k t i z i t ä t einer k o n k r e t e n h i s t o r i s c h e n M a c h t l a g e h e r a u s " 4 1 , die „ S i t u a t i o n s b e 34 „Diejenige Gemeinschaft nun, welche fähig ist zu bestimmen, wer Freund u n d wer Feind ist, u n d damit Entscheidungsgewalt hat über Tod und Leben ist das, was Schmitt die »politische Einheit' nennt." (Hofmann, Legitimität, S. 105 f . / A n m . 30.) „ N u r daß politische Einheit besteht, scheint demnach für Carl Schmitt wesentlich, nicht aber die Beschaffenheit eben dieser Einheit" (Ders., Legitimität, S. 106). — „Der K e r n p u n k t i n Schmitts ,Politizismus' ist die Selbstbehauptung der politischen Einheit" (Ders., Legit i m i t ä t , S. 116). „ A u t o r i t ä r e Regierung aber bedeutet: Diskussionslose, k o m promißlose, antiparlamentarische, direkte u n d offene Herrschaft, welche den Einzelnen m i t H i n b l i c k auf den Ernstfall unbedingt i n Anspruch n i m m t , eine Regierung also, die nicht n u r außen-, sondern auch innerpolitisch m i t allen Konsequenzen zwischen Freund u n d Feind zu unterscheiden bereit ist." (Ders., Legitimität, S. 117.) 35 Hartmann, Repräsentation, S. 236 (Anm. 1). 36 Dies arbeitet Muth, Carl Schmitt (Anm. 30), detailreich heraus. 37 Dazu Hof mann, Legitimität, S. 154 l o e (Anm. 30); Muth, Carl Schmitt, S. 77 (Anm. 30). 38 Stolleis, Carl Schmitt, S. 123 (Anm. 30). 39 Offenherzig Carl Schmitt wieder i n einem Rundfunkgespräch, diesmal m i t Dieter Groh u n d Klaus Figge am 26. Feber 1972: „Meine Stimme habe ich nicht abgegeben am 5. März [sc.: 1933] — auch eine Schande sondergleichen; egal, aber was soll ich Ihnen antworten? Ich habe m i r nicht einmal Gedanken darüber gemacht. Wenn ich heute meine Tagebuch-Notizen nachlese, frage ich mich: Was w a r denn das überhaupt für eine Existenz? Da schreibt einer über den ,Begriff des Politischen', da macht einer aus allernächster Nähe die interessantesten Dinge m i t , macht sich Gedanken, findet eine schöne Theorie v o n den ,politischen Prämien auf den legalen Machtbesitz' — u n d f ü h r t dabei solch eine private Existenz! Was ist das eigentlich?" [in: Eclectica, Brüssel 5 (1975), Nr. 21 - 23, S. 104]. 40 Muth, Carl Schmitt, S. 81 17 u n d S. 137 (Anm. 30). — Z u Volker H a r t manns Einwand gegen meine Schmitt-Interpretation, daß i n i h r das W e r k Schmitts „trotz grundlegender K r i t i k schließlich i n komplex-schillernder Vielfältigkeit erhalten bleibt" (Repräsentation, S. 202) ist zu bemerken, daß ich es eben für inadäquat erachte, Schmitt „umzuschminken" oder einen „eigentlichen" Schmitt simplifizierend zu stilisieren.
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dingtheit seines Denkens" 4 1 münden i n einen politischen Aktivismus mit den Mitteln der Wissenschaft, geworfen — wie Schmitt i n einem seiner als Selbstinterpretation dienenden Vorworte sagt — „ i n die Waagschale der Zeit" 4 2 . Der Begriff w i r d zum Eingriff, Objektivität zur Parteilichkeit, Reflexion zur Aktion. Wissenschaft und Politik fließen ineinander. Da aber Politik nach Schmitt durch das Freund-Feind-Kriterium bestimmt, also polemisch ist, w i r d auch die Wissenschaft polemisch. Schmitts schließliche Negation des Status quo von Weimar, Versailles und Genf führt zur Verwerfung der von Kelsen vertretenen Werte als „unpolitisch", unentschieden und schwach: Freiheit, Liberalismus, Rechtsstaat, Parlament, Verfassungsgerichtsbarkeit, Pluralismus, Diskussion, Kompromiß und Toleranz; eben Verwerfung des parlamentarischen Rechtsstaats bürgerlich-liberaler Provenienz und seiner pluralistisch-parteien- und verbändestaatlichen Entwicklungsstufe im 20. Jahrhundert 4 3 . I I I . Beziehungsfeld und Hauptkonfrontation Ausgehend von neukantianischen Denkmustern (Hermann Cohen Kelsen, Heinrich Rickert -> Schmitt) weisen Kelsen und Schmitt am Beginn ihrer Laufbahn i n ihren Habilitationsschriften 44 angesichts der späteren Kontroversen fast frappierende Berührungspunkte und normativistische Gemeinsamkeiten auf. Der jüngere Schmitt zitiert den etwas älteren Kelsen zwar fast nicht, lobt jedoch „die verdienstvolle und bedeutende Arbeit Kelsens" 45 , freilich „unterwandert" er gleichsam die kantianische Unterscheidung von Sein und Sollen hegelianisch, indem er „diese Antithese als ,Antagonismus, als dialektisch zu bewältigende Antinomie" 4 6 und den Staat als Vermittler zwischen Recht und Wirklichkeit begreift. Dezisionismus und Machtstaatsdenken kündigen sich an. Mit gewissem Schwanken (Lob für die juristischen, Zweifel an 41 Hofmann, Legitimität, S. 12 (Anm. 30). — „Die akademische Robe der sogenannten Staatswissenschaftler hat meistens ein politisches Innenfutter, u n d ihre Träger w a r t e n ungeduldig auf den Tag, an dem sie i h r Kleidungsstück wenden können (Franz Blei, Carl Schmitt, in: ders., Zeitgenössische Bildnisse, Amsterdam 1940, S. 24). 42 Carl Schmitt, Verfassungsrechtl. Aufsätze aus den Jahren 1924 - 1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, B e r l i n 1958, S. 8. 43 Dazu auch Hasso Hofmanns Hinweis, „ i n welchem Maße Schmitt geradezu v o n einem horror bewegt w a r angesichts der Methoden indirekter H e r r schaft anonymer gesellschaftlicher Mächte i n dem »Betrieb' eines modernen Industriestaates." (Legitimität, S. 160/Anm. 30.) 44 Kelsen, Hauptprobleme (Anm. 26). — Carl Schmitt , Der Wert des Staates u n d die"Bedeutung des Einzelnen, Tübingen 1914. — Subtile Auseinandersetzung i n den ersten K a p i t e l n v o n Hof mann, Legitimität (Anm. 30). 45 Schmitt, Wert, S. 77 (Anm. 44). 46 Hofmann, Legitimität, S. 52 (Anm. 30).
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d e n p h i l o s o p h i s c h e n A u s f ü h r u n g e n ) rezensiert F r a n z W e y r die S c h m i t t sche M o n o g r a p h i e v o n 1914 i m 1. B a n d der n e u g e g r ü n d e t e n Ö s t e r r e i c h i schen Z e i t s c h r i f t f ü r öffentliches Recht (S. 578 - 581), t a d e l t S c h m i t t s Schweigen ü b e r Kelsensche P r i o r i t ä t e n , s t e l l t „ g e r a d e z u v e r b l ü f f e n d e " 4 7 Ü b e r e i n s t i m m u n g e n fest u n d b e g r ü ß t es „ m i t F r e u d e n . . . , daß die neue, von Kelsen inaugurierte Richtung unter den Schriftstellern an Boden gewinnt"47. S c h m i t t g i n g j e d o c h e i n e n a n d e r e n W e g , er w a n d t e sich i n d e n z w a n ziger J a h r e n i n der Phase seines p o l i t i s c h e n Existenzialismus nicht n u r v o m Normativismus ab, s o n d e r n scharf gegen i h n 4 8 : „ D i e F r a g e nach d e r n o r m a t i v e n G ü l t i g k e i t h a t sich i n die F r a g e nach d e m e m p i r i s c h b e weisbaren Bestand v o n Normvorstellungen, v o n grundlegenden Glaub e n s ü b e r z e u g u n g e n v e r w a n d e l t 4 9 . " Es k o m m t f ü r s erste j e d o c h n u r z u g e l e g e n t l i c h e m „ S c h l a g a b t a u s c h " : k n a p p , k ü h l K e l s e n a m E n d e seiner „ A l l g e m e i n e n S t a a t s l e h r e " 5 0 , schärfer S c h m i t t i n seiner „ V e r f a s s u n g s l e h r e " , w e n n er Kelsens Rechtstheorie die p e j o r a t i v e E t i k e t t e eines „ l e t z t e n A u s l ä u f e r s " 5 1 e i n e r „ l e e r e n H ü l s e " 5 2 des L i b e r a l i s m u s g i b t . H ä r t e r e Töne als K e l s e n selbst schlagen seine Schüler M a r g i t K r a f t F u c h s 5 3 u n d S i g m u n d R o h a t y n 5 4 a n u n d f ü h r e n d e n S c h m i t t der H a b i l i 47
Franz Weyr, in: ÖZÖR 1 (1914), S. 579. Hofmann, Legitimität, S. 14, S. 23 und S. 81 39 (Anm. 30). 49 Ders., Legitimität, S. 87 (Anm. 30). Kelsen, Staatslehre, S. 359 u n d S. 415 - 417 (Anm. 12). 51 Schmitt, Verfassungslehre, S. 8 (Anm. 13). 52 Ders., Verfassungslehre, S. 55 (Anm. 13). 53 Prinzipielle Bemerkungen zu Carl Schmitts Verfassungslehre, in: ZöR 9 (1930), S. 511 - 541, z. B.: „ . . . das Vokabularium der Staatstheorie von Schmitt . . . ist das Vokabularium jeder nationalistisch-imperialistischen Staatslehre" (S. 539 f.). „Hätte Schmitt sich aber die Mühe genommen, v o n den vielen Büchern [Kelsens] n u r die Staatslehre genau zu lesen, dann wäre es i h m erspart geblieben, eine Verfassungslehre zu schreiben, deren wesentlichste Grundlagen bereits 3 Jahre vorher widerlegt worden sind" (S. 529 f. 3 ). „ W e n n man aber, wie Schmitt, auf die E l i m i n i e r u n g aller Begriffe v o n Normativität, d. h. aber aller Rechtsbegriffe i n einer Verfassungslehre abzielt . . . , dann muß allerdings die fehlende Rechtstheorie durch rechtsgeschichtlicli-politische Betrachtungen einerseits, durch philologisch-literarische andererseits geschaffen werden, deren mangelnde systematische Einheit auch eine noch so üppig wuchernde Produktion w i l l k ü r l i c h e r Nominaldefinitionen nicht ersetzen kann" (S. 522). 54 Die verfassungsrechtliche Integrationslehre. Kritische Bemerkungen, in: ZöR 9 (1930), S. 261 -284 (über Schmitt, S. 275-284), z.B.: „ . . . politische Irrationalitätsphilosophie" (S. 277), „das bewußte Hineintragen der P o l i t i k i n die Staatslehre" (S. 279). — Scharf später auch Josef L. Kunz i n einer Rezension der „Völkerrechtlichen Großraumordnung": „Carl Schmitt, professor of law, has, of course, never been a jurist, but a politician; and, from his point of view, this is by no means a reproach but a compliment. This book is therefore, not a study i n international law, but a political thing." [In: A J I L 34 (1940), 176.] 48
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tationsschrift von 1914 gegen den Schmitt der „Verfassungslehre" von 1928 ins Treffen. A m krisenhaften Beginn der dreißiger Jahre stehen Kelsens und Schmitts Demokratiebegvifie einander i n tiefer Gegensätzlichkeit gegenüber: Kelsens prozeduraler und relativistischer Demokratiebegriff, an der Freiheit als politischer Selbstbestimmung orientiert, als eine Technik des gewaltlosen, kompromissarischen Interessenausgleichs ohne den „Glanz der Rousseauschen I d y l l i k " 5 5 auf das Majoritätsprinzip angewiesen. „Denn die Demokratie ist die politische Form des sozialen Friedens, des Ausgleichs der Gegensätze, der gegenseitigen Verständigung auf einer mittleren L i n i e " 5 6 . I n der arbeitsteiligen Realität ist Demokratie notwendig parlamentarisch, das Parlament Ort der Parteien, von Mehrheit und Minderheit. Schmitts Vorstellungen von Demokratie dagegen sind nicht auf eine in seinen Augen unpolitisch-liberalistische Freiheit, sondern auf die substanzielle Gleichheit, Artgleichheit, Homogenität des Volkes gerichtet, worin er die — keineswegs als Staatsstruktur- und Organisationsproblem aufgefaßte und schon gar nicht den Abbau von Herrschaft anstrebende — Identität von Regierenden und Regierten erblickt, die es dem Volk (realiter: der sich erfolgreich mit dem Volk identifizierenden Führung) ermögliche, sich als Einheit gegen die i h m ungleichen Feinde abzugrenzen. Immer bleibt die politische Einheit und die Freund-Feind-Unterscheidung i m Visier. Schmitt lehnt das Majoritätsprinzip, geheime Wahlen und Abstimmungen, Parlament, Pluralismus und Parteien ab und setzt an ihre Stelle die verfahrenslose Akklamation und deren moderne Form die öffentliche Meinung. „Die natürliche Form der unmittelbaren Willensäußerung eines Volkes ist der zustimmende oder ablehnende Zuruf der versammelten Menge, die Akklamation 5 7 ." Sein illiberaler Etatismus läßt Schmitt bei qualitativer Gleichartigkeit von Regierenden und Regierten in d # Diktatur durchaus eine Vollform der Demokratie sehen 58 . I n das Jahr 1931 fällt die Hauptkonfrontation zwischen Kelsen und Schmitt. Schon 1924 hatte Schmitt in seinem Vortrag 5 9 vor der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Jena die Diktatur des Reichspräsidenten nach A r t . 48 WRV „mit einem gewissen extensiven Wohlwollen" 6 0 behandelt. Einen Aufsatz 6 1 aus dem März 1929 baute er 1931 55
Leser, Wertrelativismus, S. 265 (Anm. 22). Kelsen, Verteidigung, S. 64 (Anm. 12). 57 Schmitt, Verfassungslehre, S. 83 (Anm. 13). 58 Ders., Verfassungslehre, S. 236 f. (Anm. 13). 59 Carl Schmitt, Die D i k t a t u r des Reichspräsidenten nach A r t . 48 der Reichsverfassung (Bericht), in: V V D S t R L , H. 1, B e r l i n - Leipzig 1924, S. 63 104. 60 Smend, Vereinigung, S. 577 (Anm. 1). 56
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zur Monographie „Der Hüter der Verfassung" aus, jener Schrift, die m i t ihrer neuerlichen Betonung der politischen Einheit bis heute das B i l d des Pluralismus und des Parteienstaats m i t den negativen Akzenten der Zerstörung der politischen Einheit belastet hat. Viele Topoi aktueller Parteienkritik finden sich hier vorformuliert. M i t umfangreichem Material bewegt sich Schmitt auf seinen Zielpunkt zu, den Reichspräsidenten „ i n der heutigen abnormalen Lage Deutschlands" 6 2 als „labiler Koalitions-Parteien-Staat" 6 3 m i t einem mehrheits- und handlungsunfähigen Reichstag zum Hüter der Verfassung zu erklären. I m ersten Kapitel werden Argumente gegen „die Juridifizierung der Politik durch eine Verfassungsgerichtsbarkeit" 6 4 , gegen die als politisch qualifizierte Verfassungshüterrolle der Justiz zusammengetragen, die nicht für diese politische Aufgabe demokratisch-plebiszitär legitimiert sei. I m zweiten K a p i t e l findet sich die folgenreiche Parteien-, Wahlund Parlamentskritik unter dem Stichwort „Pluralismus" als einheitszerstörendem Phänomen: „ . . . statt eines staatlichen Willens kommt n u r eine nach allen Seiten schielende Addierung von Augenblicks- und Sonderinteressen zustande" 6 3 . Neben dem Pluralismus werden noch die Polykratie („eine Mehrheit rechtlich autonomer Träger der öffentlichen Wirtschaft, an deren Selbständigkeit der staatliche W i l l e eine Grenze findet" 6 5 ) und der Föderalismus als „Gegensatz gegen eine geschlossene und durchgängige staatliche Einheit 165 behandelt. Nach Erörterung u n d Ausscheidung verschiedener A b h i l f e n und Gegenbewegungen gegen die genannten Faktoren wendet sich Schmitt über die Brücke des A r t . 48 W R V schließlich i m dritten und letzten K a p i t e l unter Republikanisierung und Erneuerung der konstitutionellen D o k t r i n vom „pouvoir neutre" des Staatsoberhaupts dem vom ganzen V o l k (Art. 41 WRV) gewählten Reichspräsidenten als „einer neutralen, vermittelnden, regulierenden und bewahrenden G e w a l t " 6 6 , als dem den Pluralismus überwindenden Repräsentanten der politischen Einheit, als „Hüter der Verfassung" zu. Schmitt schließt: „Daß der Reichspräsident der Hüter der Verfassung ist, entspricht aber auch allein dem demokratischen Prinzip, auf welchem die Weimarer Verfassung beruht. Der Reichspräsident w i r d v o m ganzen deutschen V o l k gewählt, und seine politischen Befugnisse gegenüber den gesetzgebenden I n stanzen (insbesondere Auflösung des Reichstags und Herbeiführung eines Volksentscheids) sind der Sache nach nur ein ,Appell an das Volk'. Dadurch, daß sie den Reichspräsidenten zum M i t t e l p u n k t eines Systems plebiszitärer wie auch parteipolitisch neutraler Einrichtungen und Befugnisse macht, sucht 61 62 63 64 65 66
Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, in: AöR 55 (1929), S. 161 - 237. Schmitt, Hüter, S. 13 (Anm. 13). Ders., Hüter, S. 88 (Anm. 13). Hof mann, Legitimität, S. 20 (Anm. 30). Schmitt, Hüter, S. 71 (Anm. 13). Ders., Hüter, S. 137 (Anm. 13).
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die geltende Reichsverfassung gerade aus demokratischen Prinzipien heraus ein Gegengewicht gegen den Pluralismus sozialer u n d wirtschaftlicher Machtgruppen zu bilden u n d die Einheit des Volkes als eines politischen Ganzen zu wahren. Vielleicht k a n n man daran zweifeln, ob es auf die Dauer möglich sein w i r d , die Stellung des Reichspräsidenten dem parteipolitischen Betriebe zu entziehen u n d i n einer v o m staatlichen Ganzen her bestimmten, unparteilichen O b j e k t i v i t ä t u n d Neutralität zu halten; vielleicht k a n n man befürchten, daß das Schicksal des Staatshauptes i m republikanischen Europa dem Schicksal des Monarchen, u n d das Schicksal des plebiszitären Reichspräsidenten dem bisherigen Schicksal des Volksentscheids auf Volksbegehren folgen werde, der j a auch unschädlich gemacht worden ist. Die Weimarer Verfassung u n t e r n i m m t ihren Versuch jedenfalls sehr bewußt u n d zwar m i t spezifisch demokratischen M i t t e l n . Sie setzt das ganze deutsche V o l k als eine Einheit voraus, die unmittelbar, nicht erst durch soziale Gruppenorganisationen vermittelt, handlungsfähig ist, die ihren W i l l e n zum Ausdruck b r i n gen k a n n u n d sich i m entscheidenden Augenblick auch über die pluralistischen Zerteilungen hinweg zusammenfinden u n d Geltung verschaffen soll. Die Verfassung sucht insbesondere der A u t o r i t ä t des Reichspräsidenten die Möglichkeit zu geben, sich unmittelbar m i t diesem politischen Gesamtwillen des deutschen Volkes zu verbinden u n d eben dadurch als Hüter und Wahrer der verfassungsmäßigen Einheit u n d Ganzheit des deutschen Volkes zu handeln. Darauf, daß dieser Versuch gelingt, gründen sich Bestand und Dauer des heutigen deutschen Staates 67 ." K e l s e n e r ö f f n e t seine S c h m i t t - K r i t i k i n der S c h r i f t „ W e r soll der H ü t e r der V e r f a s s u n g sein?" m i t der F e s t s t e l l u n g , daß Verfassungsg a r a n t i e w i e j e d e K o n t r o l l e nicht d e m zu k o n t r o l l i e r e n d e n O r g a n ü b e r t r a g e n w e r d e n d ü r f e , w e i s t d a n n d e n ideologischen C h a r a k t e r d e r v o n S c h m i t t r e a k t i v i e r t e n Constantschen L e h r e v o m „ p o u v o i r neutre " des M o n a r c h e n auf, u m i n der Folge e i n g e h e n d die T a u g l i c h k e i t eines z e n t r a l i s i e r t e n Gerichts als H ü t e r der V e r f a s s u n g u n d die bloß q u a n t i t a t i v e D i f f e r e n z zwischen Verfassungsgesetzgebung u n d - g e r i c h t s b a r k e i t d a r z u t u n . I n diesem Z u s a m m e n h a n g u n t e r s t r e i c h t K e l s e n die O b j e k t i v i e r u n g s - u n d R a t i o n a l i s i e r u n g s f u n k t i o n d e r p a r t e i m ä ß i g gestalt e t e n J u s t i z f ö r m i g k e i t des V e r f a h r e n s : „Den eigentlichen Sinn der sogenannten »Justizförmigkeit' und ihrer Brauchbarkeit für das Verfahren vor einer als ,Hüter der Verfassung' fungierenden Behörde muß man allerdings verkennen, w e n n m a n die soziologische Grundtatsache nicht sieht, v o n der die Einrichtung eines parteimäßig gestalteten Verfahrens ausgeht: die Tatsache, daß, wie an einer bestimmten Rechtsgestaltung überhaupt, so auch an der Entscheidung eines Gerichts und insbesondere auch eines ,Hüters der Verfassung' entgegengesetzte Interessen i n einem entgegengesetzten Sinne beteiligt sind, daß jede ,Dezision' zwischen Interessengegensätzen, d . h . zugunsten des einen oder des anderen oder i m Sinn einer V e r m i t t l u n g zwischen beiden, entscheidet; so daß ein parteimäßig gestaltetes Verfahren, w e n n schon zu nichts anderem, so dazu gut ist, die tatsächliche Interessenlage deutlich herauszustellen. A l l das k a n n m a n aber nicht sehen, w e n n der gegebene Gegensatz der Interessen durch die F i k t i o n eines Gesamtinteresses oder einer Interesseneinheit v e r h ü l l t w i r d , die etwas 67
Ders., Hüter, S. 159 (Anm. 13).
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wesentlich anderes und wesentlich mehr sein soll, als sie bestenfalls sein kann: ein Interessenkompromiß. Es ist eine typische Fiktion, deren man sich bedient, wenn man m i t der »Einheit' des Staats,willens' oder der »Totalität' des Kollektivums i n einem anderen als bloß formalen Sinne operiert, um damit eine inhaltlich bestimmte Gestaltung der staatlichen Ordnung zu rechtfertigen 68 ."
Kelsen verteidigt auch i n dieser Schrift den Pluralismus gegen die unitarischen Bestrebungen Schmitts und lehnt es ab, dem Reichspräsidenten m i t der Verfassungshüterrolle einen M e h r w e r t i n der Verfassungsordnung zu verschaffen, i h n als Gegengewicht gegen das Parlament einzusetzen, dieses Unterfangen sei immer v o n der Tendenz gestützt, „die Möglichkeit einer Verletzung der Verfassung durch das Staatsoberhaupt bzw. die Regierung zu ignorieren" 6 9 . Kelsen beendet seine K r i t i k m i t einem seiner Grundanliegen, der hier als V o r w u r f gegen Schmitt gewandten Warnung vor „geradezu mystischer Dialekt i k " 7 0 , vor „ M y t h o l o g i e " 7 1 und „Vermengung von Wissenschaft u n d Politik" als „typischer Methode moderner Ideologiebildung" 7 1 . I V . Fortwirken Hans Kelsens Eintreten für Parlamentarismus und Parteienstaatlichkeit, für einen Interessenausgleich i n relativ zentralisierter Rechtserzeugung m i t einer Prävalenz des parlamentarisch erzeugten Gesetzes als abstrakt genereller Rechtsnorm, das am besten bürokratisch durch Berufsbeamte vollzogen werden soll, hat W i r k u n g e n bis i n die Gegenwart entfaltet. Dies t r i f f t auch auf Carl Schmitts Werk zu, dessen politiseli besonders kompromittierte Partien zwar nach 1945 ihre A t t r a k t i v i t ä t über einen engeren Anhängerkreis verloren, aber seine Parlaments-, Pluralismus- u n d Parteienkritik behielt ihre Strahlkraft nach rechts und links. Die Rechte (Ernst Forsthoff, Werner Weber) folgte vor allem seinem Etatismus, die Linke (Johannes Agnoli) seiner identitären Demokratietheorie. I n den sechziger Jahren erlebte die Konfrontation zwischen Kelsen und Schmitt ihre Renaissance, als die Verfechter der liberal-rechtsstaatlichen parlamentarischen Demokratie auch m i t Kelsenschen Argumenten der auch m i t Schmittschen Waffen angreifenden Neuen L i n k e n entgegentraten. Diese A k t u a l i t ä t Kelsens und Schmitts verblaßte i m folgenden Jahrzehnt, als Partizipationskonzepte diskutiert wurden, die häufig m i t Dezentralisierungsentwürfen verbunden sind, gegen die i n Kelsens wie Schmitts Lehrgebäude Skepsis überwiegt. 68 69 70 71
Kelsen, Hüter, S. 30 (Anm. 12). Ders., Hüter, S. 51 (Anm. 12). Ders., Hüter, S. 551 (Anm. 12). Ders., Hüter, S. 56 (Anm. 12).
K O D I F I K A T I O N UND RECHTSKLARHEIT I N DER DEMOKRATIE Von Theo Mayer-Maly, Salzburg Hans Kelsen hat sehr viel über die Bedeutung nachgedacht, die der politischen Entscheidung für eine demokratische Verfassung für die Ausgestaltung einer Rechtsordnung zukommt 1 . Dabei sind jedoch zwei Fragen kaum i n sein Blickfeld geraten, die uns heute lebhaft beschäftigen 2 : Ist die Gesetzesflut 3 eine unentrinnbare Begleiterscheinung der Demokratie (zumal, wenn sie sich einerseits dem Sozialstaatsprinzip verschreibt und andererseits am Legalitätsprinzip festhält)? Ist das Bemühen, das Recht durch Kodifikation besser durchschaubar zu machen, der heutigen Zeit noch angemessen? Zu diesen beiden Fragen sind zwei erregende Thesen formuliert worden. Friedrich Kübler 4 hat gesagt, man solle sich eingestehen, daß die Krise der Gesetzgebung nichts anderes als die Normalität einer demokratisch verfaßten Industriegesellschaft ist. Esser 5 stellt unsere Zeit einer vergangenen Kodifikationszeit gegenüber. Der Rationalitätsbegriff von heute sei ein gänzlich anderer als der damalige. Gesetzesflut müsse nicht die Kraft zur Planung vermissen lassen, die Kodifikationen oft zu Unrecht nachgesagt werde 6 . Wer heute noch nach Vereinfachung des Rechts rufe, stelle eine „anachronistische Forderung romantischer Art"7. Ehe i n die Auseinandersetzung mit diesen beiden Thesen eingetreten wird, ist es von Interesse, sich einer Aussage von Kelsen zuzuwenden, 1 Vgl. etwa Hans Kelsen , V o m Wesen und Wert der Demokratie 2 , Tübingen 1929; ders., General Theory of L a w and State, New Y o r k 1961, S. 284 ff. 2 Vgl. Friedrich Kübler, JZ 1969, S. 645 ff.; Josef Esser, Gesetzesrationalität i m Kodifikationszeitalter u n d heute, in: Vogel / Esser, 100 Jahre oberste deutsche Justizbehörde — V o m Reichsjustizamt zum Bundesministerium der Justiz, Tübingen (1977), S. 13 ff. 3 Z u i h r aus neuester Zeit Heinrich Honsell, V o m heutigen Stil der Gesetzgebung, Salzburg 1979; Maassen, N J W 1979, S. 1473 ff.; Vogel, JZ 1979, S. 321 ff.; Heldrich, Festschrift Zweigert, Tübingen (1981), S. 811 ff. 4 JZ 1969, S. 645, 651. 5 Esser, Gesetzesrationalität, S. 19. β Ders., ebd., S. 31. 7 Ders., ebd., S. 38 gegen Mayer-Maly, Rechtskenntnis u n d Gesetzesflut, Salzburg 1969, S. 81.
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die auf eine funktionale Erfassung des Gesetzes hinausläuft. Die Diskussion dieser Aussage h i l f t zwar zu den zwei aktuellen Fragen, die ich zu artikulieren suchte, nicht viel weiter, w i r f t aber doch ein Schlaglicht auf ein Problem, mit dem sich die österreichische Rechtsdogmatik erst kürzlich auseinandergesetzt hat. Kelsen 8 sagt, das Gesetz sei die notwendige Form des Rechtssatzes. Was bedeutet diese Aussage? Versteht man sie dahin, daß der Rechtssatz auf das Gesetz im formellen Sinn als Erscheinungsform angewiesen sei, so gerät dieses Konzept sowohl gegenüber einem judiziell geprägten case law wie gegenüber dem Gewohnheitsrecht in Schwierigkeiten, genauer: in die Versuchung, das eine wie das andere nicht gelten zu lassen. Und in der Tat: Zwei Bestimmungen des österreichischen Rechts, von denen die eine (§ 10 ABGB) das Gewohnheitsrecht sehr limitiert und die andere (Art. 4 der 4. EVHGB) es recht großzügig anerkennt, sind vom angesehensten heutigen Wortführer der Reinen Rechtslehre 9 in Frage gestellt worden. Dabei stand zwar die (durchaus anfechtbare) Annahme i m Vordergrund, das B - V G regle die Rechtserzeugung abschließend, weshalb es das Gewohnheitsrecht als Rechtsquelle ausschließe, indem es von ihm schweigt. Doch wurde daneben jene Reserve gegen die Anerkennung von Gewohnheitsrecht als Rechtsquelle greifbar, die bei Öffentlichrechtlern so häufig wie bei Zivilisten 1 0 selten ist. Kelsens Rechtslehre hat, das zeigt sich gerade an diesem Thema, für Rechtsordnungen mit Dominanz des Gesetzesrechts und für Rechtsordnungen mit viel Richter- und Gewohnheitsrecht unterschiedlich starken Erklärungswert. Insofern besteht eine gewisse Entsprechung zu den gerade von der Reinen Rechtslehre immer wieder k r i t i sierten Naturrechtslehren des 18. und des frühen 19. Jahrhunderts. So wie diese Naturrechtslehren den historisch-positiven Rechten ihrer Entstehungszeit ungleich näher standen als älteren oder jüngeren Ordnungen, so ist die Reine Rechtslehre in vielen Fragestellungen, aber auch in einigen Erklärungsentwürfen vor allem dem gewaltenteilenden Gesetzesstaat des kontinentaleuropäischen Parlamentarismus, wie er sich i m ausgehenden 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert ausgeprägt hat, verpflichtet. Bezeichnet man das Gesetz als die notwendige Form des Rechtssatzes, so führt man entweder über eine theoretische Behauptung eine eminent politische Entscheidung (die Zurückdrängung von Gewohnheitsrecht 8
Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1923, S. 541. Robert Walter, ÖJZ 1963, S. 224 ff. 10 Franz Gschnitzer, Verhandlungen des 3. österreichischen Juristentages, W i e n 1967/1969, I I / 6 , S. 24 ff.; Franz Bydlinski, in: Klangs Kommentar zum A B G B 2 , I V / 2 , Wien 1978, S. 167 f.; den Ausführungen v o n B y d l i n s k i stimme ich zu. 9
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und Richterrecht) herbei oder man muß den Gesetzesbegriff vom formellen zum materiellen ausweiten. Kelsens persönliches Verständnis dürfte der ersten Möglichkeit gegolten haben, richtig erscheint m i r jedoch die zweite. Gewohnheitsrecht und Richterrecht kommen dann — je nach dem Ausmaß ihrer Anerkennung durch die Rechtserzeugungsregeln 1 1 einer Rechtsgemeinschaft — als Gesetze i m materiellen Sinn in Betracht. Auf das Gesetz im materiellen Sinn ist der Rechtssatz in der Tat verwiesen, um artikuliert zu werden. Auch das Gesetz im materiellen Sinn — dies ist ein nicht uninteressanter Nebenaspekt — wäre demnach Form, freilich in einem viel beweglicheren Verständnis als das Gesetz im formellen Sinn. Die Notwendigkeit i m Satz vom Gesetz als der notwendigen Form des Rechtssatzes hat Kelsen unverkennbar i m strikt philosophischen Sinn, das heißt: als Unmöglichkeit jeder Alternative 1 2 gemeint. Der Satz bleibt aber auch dann nachdenkenswert, wenn man die philosophisch exakte Terminologie seines Autors durch jene unscharfe der Umgangssprache ersetzt, die von Notwendigkeit spricht und bloße Erforderlichkeit meint. Wir betreten damit eine rechtssoziologisch-rechtspolitische Diskussionsebene. Das Gesetz stellt sich oft genug als die erforderliche Form des Rechtssatzes dar. Man mag die Lebenskraft, die sich im Gewohnheitsrecht manifestiert, preisen, so viel man w i l l ; man mag die Adaptierungskunst und den Sinn für Fallgerechtigkeit, die das Richterrecht auszeichnen, bewundern. Jene Rationalität 1 3 , in der sich das Recht als Ordnung bewährt, vermittelt regelmäßig erst das Gesetz. Gewohnheitsrecht und Richterrecht können sich nicht so geordnet darbieten und damit auch nicht so ordnend wirken wie das Gesetz. Die Rechtsgeschichte ist überreich an Beispielen für eine klärende Ordnung durch gesetzliche Regelung eines zunächst durch Judikaturgruppen oder durch gewohnheitsrechtliche Maximen beherrschten Bereichs. Als Exempel für eine gelungene gesetzgeberische Aufarbeitung nenne ich das österreichische Dienstnehmerhaftpflichtgesetz, das eine weitverzweigte Rechtsprechung bewältigt hat, während solche Kanalisierung in der Bundesrepublik Deutschland bisher nicht gelungen ist. Als Beispiel für eine bisher legistisch noch nicht gelungene Stoffbewältigung nenne ich die Produzentenhaftung. 11 Als Beispiel einer gesetzgeberischen Anerkennung richterlicher Rechtsfortbildung nenne ich § 45 Abs. 2 des deutschen Arbeitsgerichtsgesetzes. 12 Z u dieser Bedeutung von Notwendigkeit vgl. Mayer-Maly, Topik der necessitas, in: Etudes Macqueron, Aix-en-Provence (1970), S. 477 f. 13 Uber juridische Rationalität als Aufgabe einer rechtswissenschaftlichen Gesetzgebungslehre Schelsky, Die Soziologen u n d das Recht, Opladen (1980), S. 58 f.
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Um seine Ordnungswirkung entfalten zu können, muß das Gesetz auch in sich Ordnung tragen. Es darf nicht als bloßer Kompromißkatalog stehen bleiben, sondern muß einer Ordnung nach einem inneren System zugänglich sein und ihr auch unterworfen werden. Damit ist es aber nicht genug. Die Gesetze bedürfen ihrerseits der Ordnung. Ordnung der Gesetze unter der Herrschaft eines Systems darzubieten, ist der Anspruch von Kodifikationen. Kodifikation 1 4 kommt von codicem facere. Damit verbindet sich eine Revolution des antiken Buchwesens, auf deren juristische Tragweite Franz Wieacker 15 aufmerksam gemacht hat. Die lateinische Sprache kennt zwei Worte für das Buch: liber und codex. Der liber ist eine Rolle, meist aus Papyrus als Beschreibstoff, daher billiger und kurzlebiger. I m codex kann man umblättern wie i n einem modernen Buch, er w i r d zumeist auf das teure, aber auch besser haltbare Pergament geschrieben. Die Kommentare und Monographien der klassischen römischen Juristen waren auf Papyrusrollen geschrieben. Daher sind uns unmittelbar nur wenige Fragmente erhalten, ohne Justinians Gesetzgebung wüßten w i r von ihnen herzlich wenig. Die Kaisergesetze aber, i n denen man öfter nachschlagen mußte, hielt man i n Pergamentcodices fest. Es ist bezeichnend, daß religiöse, vor allem liturgische Texte neben den Sammlungen der Kaisergesetze die ersten Literaturgruppen waren, die von den Pergamentcodices erobert wurden. So handelt es sich regelmäßig u m eine nach einer gewissen Handlichkeit strebende Sammlung von Kaisergesetzen, wenn ein juristischer Text Codex genannt wird. Justinians beide Codices (der Codex vetus von 529 und der Codex repetitae praelectionis von 534) waren nicht die ersten Sammlungen von Gesetzen, die man Codices nannte. Vor ihnen liegen der amtliche Codex Theodosianus von 438 und zwei ältere Privatarbeiten, der Codex Gregorianus und der Codex Hermogenianus 16 . 14 Zur Geschichte des Kodifikationsgedankens vgl. Franz Wieacker, Festschrift Böhmer (1954), S. 34 ff.; Fritz Pringsheim, Gesammelte A b h a n d l u n gen, Bd. 2, Heidelberg 1961, S. 107 ff.; Jacques Vanderlinden, Le concept de e code en Europe occidentale du X l l l e au X I X siècle, Bruxelles, 1967; Paolo Ungari, in: Quaderni Fiorentini 1972 (Milano), S. 207 ff.; Giovanni Torello, Storia della cultura giuridica moderna I : Assolutismo e codificazione del diritto, Bologna, 1967; Heinz Hübner, K o d i f i k a t i o n u n d Entscheidungsfreiheit des Richters i n der Geschichte des Privatrechts, Königstein/Ts., 1980. 15 Textstufen klassischer Juristen, Göttingen, 1960, S. 93 ff.; i n den Aussagen zur Entwicklung des antiken Buchwesens orientiert sich Wieacker an Birt, Antikes Buchwesen, B e r l i n 1882; Schubart, Das Buch bei den Griechen u n d Römern 2 , 1921; Roberts, The Codex, in: Proceedings of the B r i t i s h Academy 10 (1954), S. 169 ff. 16 Z u r Geschichte der Sammlung von Kaisergesetzen vgl. Fritz Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, Weimar 1961, S. 390 ff.; bemerkenswert ist, daß die Privatarbeit als Präsentation v o n Gesetzessammlungen auch heute wieder Bedeutung erlangt, wie „der Schönfelder", n u n auch der „ B y d l i n s k i " und eine bezeichnenderweise Kodex genannte Saram-
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Kodifikationen i m modernen Sinne waren alle diese Codices nicht. Die systematische Durchdringung des Stoffes blieb bescheiden und folgte i m großen und ganzen dem Vorbild der Stoffanordnung in den Juristenschriften. Der Ausdruck Kompilation kennzeichnet die Leistung am besten — sowohl für Justinians Corpus iuris civilis wie für die kirchenrechtlichen Sammlungen des Mittelalters („Corpus iuris canonici"). Die erste ernsthafte Artikulierung des Kodifikationsgedankens stammt aus dem 16. Jh. Der juristische Humanismus dieser Zeit war nicht nur Historismus, sondern auch Rationalismus. Die historischphilologische Analyse des justinianischen Corpus iuris hatte das Auge für dessen Defekte geschärft. Die dogmatische Autoritätsgläubigkeit der Autoren war dahin. I n diesem Klima publizierte Hotomanus 1567 anonym seinen „Antitribonianus" (sive dissertatio de studio legum), der fordert, man möge für Frankreich eine neue Privatrechtskodifikation schaffen. I m nova methodus discendae docendaeque iurisprudentiae (§§ 12, 22) fordert Leibniz 1667 ein „novum juris corpus". Wir sehen: Die naturrechtlich orientierten Kodifikationen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert beruhen nicht allein auf den uns heute etwas kurios scheinenden Konzepten und Ansprüchen des Vernunftsrechts der aufgeklärt-absolutistischen Monarchien, sondern haben in der europäischen Geistesgeschichte erheblich tiefer greifende Wurzeln. Überhaupt wäre es verfehlt, den Kodifikationsgedanken allein einer bestimmten Philosophie oder einer einzigen politischen Konzeption zuzuordnen. Er w i r k t auf der Grundlage des wissenschaftlichen Positivismus zu Ende des 19. Jhs. (BGB, ZGB, Codex iuris canonici) ebenso wie auf der Grundlage des rationalistischen Naturrechts zu Ende des 18. Jhs. (ALR, Code civil, ABGB). Ihm sind Vertrauensleute absoluter Monarchen ebenso ergeben wie Mitglieder von Parlamentskommissionen. Zeitweise hat er sogar auf England übergegriffen 17 . Der Anspruch, mit dem der Kodifikationsgedanke allenthalben auftritt, bleibt i m großen und ganzen gleich. Was für einen bestimmten Rechtsbereich maßgeblich ist, soll in einem einzigen Gesetzbuch zusammengefaßt werden und dort auffindbar sein. Die Kodifikation soll dem Bürger so etwas wie Orientierungssicherheit geben 17a . Gewohnheitsrecht, Präjudizienketten und Nebengesetze müssen daher intelung des Orac-Verlages zeigen; zu diesem Phänomen Peter Noll, Gesetzgebungslehre, Reinbek bei Hamburg, 1973, S. 218. 17 Dazu Werner Teubner, K o d i f i k a t i o n u n d Rechtsreform i n England, B e r l i n 1974. 17 a Vgl. Schilcher, in: W i n k l e r / Schilcher, Gesetzgebung (1981), S. 43 f. (im Anschluß an Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 1970, S. 102 f.).
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griert werden. Die weitere Rechtsentwicklung soll sich innerhalb dieses Gesetzbuches vollziehen: durch dessen Novellierung oder durch Veränderungen seiner Interpretation. Die Kodifikation soll zum einen die Zugänglichkeit des Rechtsstoffs gewährleisten, zum anderen seine Ordnung in einem System. Dessen Aufgabe 1 8 erschöpft sich nicht i n Übersichtlichkeit der Gliederung, sondern zielt vor allem auf den Nachweis der Folgerichtigkeit, der Widerspruchsfreiheit und damit der Überzeugungskraft einer Rechtsordnung. Die Ansprüche, an denen eine Kodifikation zu messen ist, hat der letzte Redaktor des ABGB, Zeiller 1 9 , sehr präzise umrissen. Nach ihm muß eine Zivilgesetzgebung, um Gerechtigkeit zu verwirklichen, nicht nur Freiheit und Gleichheit achten, sie muß auch a) vollständig b) eigentümlich c) einförmig d) angemessen sein. Die Kenntnis der Gesetze hängt für Zeiller von ihrer Deutlichkeit und Bestimmtheit ab. Der Legist hat also eine Informationsaufgabe. Vollständigkeit — in der richtigen Mischung von Abstraktion und Anschaulichkeit — reicht nicht. Eine Kodifikation soll — das meint „eigentümlich" — von anderswo hingehörenden Bestimmungen 20 frei sein. Sie soll in sich widerspruchsfrei sein: Das meint „einförmig". Die Vollständigkeit erreicht man nach Zeiller 2 1 nicht durch noch so ausgedehnte Kasuistik, sondern durch Forschung nach dem Allgemeinen i m Einzelnen und durch Vereinfachung der Vorschriften. Es w i r d noch darauf zurückzukommen sein, daß gerade dieses Streben nach Vereinfachung heute bestritten wird. Zur Zeit der Kodifikationsarbeit von Zeiller 2 2 — sie galt nicht nur dem Privatrecht, sondern auch dem Strafrecht und dem Zivilprozeß — mußte sich der Redaktor mit einer Kommission und mit den Ständen, nicht aber mit Parteien, Verbänden und einem Parlament herumschlagen. Als das deutsche BGB vorbereitet wurde, gab es zwar schon 18 Vgl. Claus-Wilhelm Canaris, Systemdenken u n d Systembegriff i n der Jurisprudenz, Berlin, 1969. 19 Julius Of Tier, Der U r e n t w u r f u n d die Protokolle zum A B G B , Bd. 1 (Wien, 1889), S. 8; zu Zeillers Konzept vgl. Mayer-Maly, in: Forschungsband Franz von Zeiller (hrsg. Selb / Hofmeister, W i e n 1980), S. 12. 20 Wie z. B. dem Nettopreissystem i m österreichischen Kartellgesetz. 21 Zeiller, (Fn. 19), S. 21 f. 22 Z u i h r vgl. den 1980 von Walter Selb u n d Herbert Hofmeister herausgegebenen „Forschungsband Franz von Zeiller" (Wien).
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einen etablierten Parlamentarismus, doch w i r k t e n sich dessen Strukturen und Probleme erstaunlich wenig auf die Ausarbeitung der Z i v i l rechtskodifikation aus 23 . Bemerkenswert ist der Unterschied i n den grundsätzlichen Festlegungen bei Beginn der Kodifikationsarbeit. Während Zeiller substantielle Maximen für die A r t der Gesetzgebung aufzustellen suchte, bemühten sich die Väter des BGB vor allem um die Ausarbeitung von Regeln für das bei der Kodifikationsarbeit zu beobachtende Verfahren 2 4 . Die damals fixierten Richtlinien könnten allerdings auch heute noch mancher Gesetzgebungskommission gute Dienste leisten. Sowohl neben die vernunftrechtlichen Kodifikationen wie neben die um 1900 geschaffenen, i m großen und ganzen dem Rechtspositivismus verpflichteten Gesetzbücher sind schon relativ bald, dann immer zahlreicher Einzelgesetze und Neuordnungen für Teilbereiche getreten. Schwerpunkte dieser oft beobachteten Entwicklung waren im Privatrecht die Wohnungsmiete, das Arbeitsleben und der Kraftfalirverkehr — um nur einige Hauptfälle des Ausbrechens aus den kodifikatorischen Ordnungen zu nennen. Ein zweiter Einbruch i n das kodifikatorische Integrationskonzept ist durch die Rechtsprechung erfolgt. Sie ist zu auffällig vielen Problemen zu Fragestellungen und Lösungsentwürfen der vorkodifikatorischen Ära zurückgekehrt. Dies gilt besonders für die Judikatur des deutschen Bundesgerichtshofs — etwa zum Deliktsschutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes, zur Teilnichtigkeit von Rechtsgeschäften und zum I r r t u m über das Recht. Sogar ein verstärkter Rückgriff auf die laesio enormis und eine neuerliche Unterscheidung zwischen Nutzungs- und Substanzeigentum stehen heute zur Diskussion. Es konnte daher füglich die Frage gestellt werden, ob die Kodifikationen die von ihnen vorgefundene, gemeinrechtliche Entwicklung überhaupt zum Abschluß gebracht haben 25 oder ob sie nur eine Phase dieser Entwicklung darstellen. Seit etwa 12 Jahren steht aber eine andere Frage i m Vordergrund der Diskussion: Sind Kodifikationen heute überhaupt noch möglich? Werden sie den speziellen Erfordernissen unserer Zeit gerecht? Fikentscher 26 sagt zwar: „Der Kodex als das Gesetz der Gesetze, als die nach Möglichkeit jedem zugängliche Quelle allen Rechts für eine 23 Vgl. Thomas Vormbaum, Sozialdemokratie u n d Zivilrechtskodifikation, B e r l i n 1977. 24 Z u r Entwicklung der Geschäftsordnung für die Kommissionsberatungen vgl. Werner Schubert, Materialien zur Entstehungsgeschichte des BGB, B e r l i n 1978, S. 266 ff. 25 Dazu Mayer-Maly, JZ 1971, S. 1, 3. 26 Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 4, Tübingen 1977, S. 132.
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gegebene Gemeinschaft, verkörpert ein kontinentales Ideal der Rechtsmethodologie". Aber ist dieses Ideal noch zeitgemäß? Ist das „Kodifikationszeitalter" nicht schon vorbei? Die Artikulierung des Zweifels beginnt bei Friedrich Kübler 2 7 . Er verweist auf die Erschwerung jeder Kodifikationsarbeit durch die Mechanismen des heutigen Parlamentarismus, behauptet ein steigendes Bedürfnis der Gesellschaft nach Schaffung von neuem und nach fortgesetzter Anpassung bestehenden Rechts und notiert, daß die langfristigen Ordnungsaufgaben zunehmend von Maßnahmen des Krisenmanagements in der krisenanfälligen Industriegesellschaft verdrängt werden. Dazu kommt der Hinweis auf gescheiterte und langfristig verzögerte Kodifikationsbemühungen. Recht sei nicht mehr kodifizierbar, „weil die Ökonomie unseres politischen Systems den Aufwand einer abschließenden kasuistischen Regelung unerschwinglich macht" 2 8 . Die seit langem schwelende Krise der Gesetzgebung gehöre zur Normalität einer demokratisch verfaßten Industriegesellschaft. Unter den in der Bundesrepublik Deutschland gegebenen Bedingungen sei die Kodifikation als Instrument rechtlicher Ordnung und Gestaltung nicht mehr verfügbar. Kübler verbindet zutreffende Beobachtungen mit zweifelhaften Annahmen. Ob „die Gesellschaft" überhaupt noch ein steigendes Bedürfnis nach neuem und nach unausgesetzt anpassendem Recht hat, müßte erst geprüft werden. Die wachsende Übersättigung großer Bevölkerungsschichten mit Normen, die man gar nicht zur Kenntnis nehmen kann oder w i l l , sollte nicht übersehen werden. Für das Arbeitsrecht hat Eckhardt Heinz 2 9 den Anpassungsgedanken i n einer Weise konkretisiert, die nachdenklich stimmen sollte. Er meint, eine Kodifikation des Arbeitsrechts sei „niemals als abgeschlossen zu betrachten, sondern muß dauernd den aktuellen, durch neue Gesichtspunkte bewirkten Veränderungen offengehalten werden". Die Kodifikationstätigkeit verbleibe daher „als ständige organisatorische Aufgabe dem Minister i u m " 3 0 . Das ist zwar gut gemeint, verträgt sich aber nicht mit jenem Mindestmaß an Gewaltenteilung, auf das uns unsere Verfassungen nach wie vor verpflichten. Auch das Streben nach einer „kodifikationsgerechten Rechtsprechung" 31 darf nicht daran vorbeigehen, daß jede kodifikatorische Ordnungsaufgabe Sache der Legislation ist und nicht anderswohin verlagert werden darf. 27 28 29 30 31
1979.
Kübler, JZ 1969, S. 645 ff. Ders., ebd., S. 650. Heinz, RdA 1972, S. 341 ff. Ders., ebd., S. 345. Vgl. Dietrich Rethorn, Kodifikationsgerechte
Rechtsprechung,
Berlin,
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Das Arbeitsrecht stellt überhaupt einen guten Prüfstein für viele Aussagen zum Kodifikationsproblem der Gegenwart dar. 1969 meinte Kübler 3 2 , es sei um die Pläne, dieses zu kodifizieren, still geworden. I m Jahr darauf wurde von der Bundesregierung die Kommission zur Schaffung eines Arbeitsgesetzbuches eingesetzt, die ihren E n t w u r f 3 3 — eine sehr respektable Leistung — 1977 vorgelegt hat. Allerdings ist es seither um diesen Entwurf still geworden. Liegen die Dinge also doch so, daß für eine von Verbandsinteressen dominierte Materie in pluralistischen Demokratien keine Kodifikation gelingen kann? Der Blick in die Nachbarländer, den deutsche Rechtswissenschaftler zu oft unterlassen, lehrt das Gegenteil. Der Schweiz ist eine kodifikatorische Neuordnung des Individualarbeitsrechts und eine Festlegung von Grundzügen der kollektiven Rechtssetzung i m Rahmen der Privatrechtskodifikation — des Schweizerischen Obligationenrechts — gelungen. Diese war modern genug, um ein Problem zu beseitigen, mit dem Österreich und die Bundesrepublik Deutschland noch immer kämpfen: die Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten. Österreich hat sein kollektives Arbeitsrecht i m Arbeitsverfassungsgesetz kodifikatorisch geregelt, am Individualarbeitsrecht w i r d — wenngleich mit Unterbrechungen — wenigstens gearbeitet. Die Erfahrungen aus Arbeiten in einer Kommission zur Arbeitsrechtskodifikation, wie ich sie auch selbst gesammelt habe, lehren, daß die Verbändedemokratie eine Kodifikationsarbeit nicht unmöglich macht, aber verändert. Der nach Systematik und Konsequenz strebende Legist hat es gewiß schwerer als seine Vorgänger i n früheren Kodifikationskommissionen. Das liegt aber meines Erachtens vor allem daran, daß w i r die legistische Arbeit noch nicht genug an die veränderten Bedingungen angepaßt haben. Solche Anpassung ist aber möglich und geboten. Es empfiehlt sich, die Beratungen mit ausformulierten Entwürfen der beteiligten Gruppen einzuleiten. Dann muß eine lange und mehrschichtige Phase des Austausches von Argumenten, des Abwägens und Nachgebens, der Suche nach Kompromissen folgen. Sind diese einmal gefunden, bedarf es noch einmal einer längeren legistischen Arbeit, die die Bindung an die politisch erzielten Lösungen zu respektieren hat. Für diese Schlußphase ist derzeit nicht vorgesorgt. Gegen Ende der politischen Auseinandersetzung über ein Gesetzesvorhaben pflegt Zeitdruck erzeugt zu werden (in Österreich zuletzt für das Mieten- und für das Mediengesetz). Noch immer verwechseln Minister Gesetze mit Denkmälern für ihre Amtszeit, noch immer bildet 32
Kübler, JZ 1969, S. 648. Vgl. zu i h m Pulte, B B 1978, S. 816 ff.; Söllner, (1978), S. 91 ff.; Mayer-Maly, N J W 1978, S. 1566 ff. 33
14 R E C H T S T H E O R I E , B e i h e f t 4
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das Ende von Legislationsperioderi eine Bedrohung für die Durchschaubarkeit von Rechtsordnungen. Über den Großteil der als schlecht bezeichneten Gesetze aus neuerer Zeit läßt sich aber sagen, daß man aus ihnen ohne wesentliche Veränderungen der gefundenen Kompromisse in wenigen Wochen verständliche, verhältnismäßig knappe und systematisch saubere Regelungen hätte machen können. W i r haben es — und das muß gegen Kübler gesagt werden — nicht mit unausweichlichen Konsequenzen der heute gegebenen Bedingungen, sondern mit den etwas tristen Resultaten von Hast, Gedankenlosigkeit, Unvermögen und Schlamperei zu tun. Diesen sollte man — das sage ich nicht mehr zu Kübler, aber schon zu Esser — nicht als Apologet dienen. Daß auch unsere Zeit kodifizieren kann, lehrt die Entwicklung der Gesetzgebung seit Küblers Aufsatz. I n Österreich ist mit dem Strafgesetzbuch ein großer Wurf gelungen. Auch die neue Gewerbeordnung verdient eine positive Bewertung. Von den österreichischen und schweizerischen Leistungen auf dem Gebiet der Arbeitsrechtskodifikation war schon die Rede. I n der Bundesrepublik Deutschland erweisen das Sozialgesetzbuch und das Verwaltungsverfahrensgesetz die Kodifikationsfähigkeit der heutigen Demokratie. Daß neben gelungenen auch gescheiterte Vorhaben stehen, war nie anders. Entgegen Kübler kann gesagt werden, daß die Ökonomie unserer politischen Systeme Kodifikationen nicht unerschwinglich, ja nicht einmal besonders teuer macht. Daß diese keine „abschließende kasuistische Regelung" bringen sollen, kann man schon bei Zeiller nachlesen. Zu einer ausgewogenen Einschätzung der Problematik ist Peter Noll in seiner ausgezeichneten „Gesetzgebungslehre" 34 gelangt. Richtig versteht er (S. 315) Kodifikationen als Teilbereinigung der Rechtsordnung. Seiner Ansicht, daß das „Zeitalter der spektakulären Monumentalkodifikationen vorüber" sei (S. 316), w i r d auch der Kodifikationsanhänger zustimmen müssen. Noll trifft das Wesentliche, wenn er sagt (S. 217), es komme besonders auf die Vermittlung von Rechtsgewißheit an. Um so entschiedener muß Josef Esser 35 widersprochen werden, der einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen der Gesetzesrationalität des Kodifikationszeitalters und unserer Zeit behauptet, um i m Ergebnis bei einer Verteidigung der Einzel- und Maßnahmengesetze, auch der Novellierungsfreude zu enden. Essers Thesen, die er just zur Jubelfeier des deutschen Justizministeriums vorgetragen hat, sind zwar nicht alle unrichtig, aber zu einem guten Teil gefährlich, wenn man sie simplifizierend als Ermunterung zur Weiterarbeit an der Normenflut und als 34 35
1973, Reinbek bei Hamburg. Esser, Gesetzesrationalität, S. 13 ff.
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Rechtfertigung für einen Verzicht auf neue kodifikatorische Bemühungen versteht. Dies wurde sogleich von dem erfahrenen Praktiker Konrad Redeker 36 gesehen. Ein junger Autor, Harald Kindermann 3 7 , ist zwar zunächst der Faszination einiger modernistischer Formulierungen 33 von Esser erlegen, hat aber im Lauf seiner Überlegungen dann ganz richtig erfaßt, daß es „nach wie vor Rechtsmaterien gibt, i n denen eine Kodifikation sinnvoll und gewinnbringend ist" 3 9 . Wie ein konkretes Programm einer kodifikatorischen Überarbeitung des deutschen Schuldrechts aussehen müßte, hat kürzlich Eberhard Schwark 4 0 gezeigt und dabei auch die Meinung von Esser abgelehnt 41 , ein solches neues Kodifikationsprojekt würde i n romantischer Verkennung der Möglichkeiten heutiger Gesetzgebung an die Kodifikationsidee des 19. Jahrhunderts anknüpfen. Esser 42 meint, w i r sollten uns „zunächst einmal von einem weit verbreiteten nostalgischen Bewußtsein des Epigonentums freimachen, von der Bedrückung des schöpferischen Ungenügens, des Versagens vor Aufgaben . . . " . Er w i l l dem Vergleich mit dem vermeintlichen Glanz einer vergangenen Zeit entgegentreten. Damit gelangt er aber zu einer Grundhaltung, die als verfehlt bezeichnet werden muß. Die Legisten der Ministerien sind öfter mit zu wenig als mit zuviel Selbstk r i t i k am Werk 4 3 . Der bange Rückblick — etwa vor Novellierungen eines kodifikatorischen Stammgesetzes — kann nicht schaden. Er mag übrigens öfter, als es die N u r - K r i t i k e r meinen, positiv ausfallen. So ist der neue § 612 a des BGB gut gelungen, von der Regelung des Versorgungsausgleiches dagegen kann dies nicht gesagt werden. Von emanzipatorischen Befreiungstaten (dies muß zu Esser noch gesagt werden), die nur bei einer Reduktion der Bereitschaft zur K r i t i k enden, ist jedenfalls nichts zu halten.
3f l
Redeker, N J W 1977, S. 1183 ff. Kindermann, Überlegungen zu einem zeitgemäßen Verständnis der K o difikation, in: RECHTSTHEORIE 1979, S. 357 ff. 38 Es muß hier eine Textprobe genügen, die ich allerdings nicht für faszinierend, sondern für bestürzend halte: „Es gibt keinen ideologischen Normaln u l l p u n k t für die Abtragung v o n Innovationsvorschlägen, keinen status quo, der nicht i n sich problematisch wäre, sobald er als Basiskonsens für A l t e r nativbildungen dienen soll" (Esser, Gesetzesrationalität, S. 15). 39 Kindermann, S. 370. 40 Schwark, N J W 1980, S. 741 ff. 41 Gegen die Position von Esser auch Heinrich Honseil, V o m heutigen Stil der Gesetzgebung, Salzburg 1979, S. 21. 42 Esser, Gesetzesrationalität, S. 13. 43 Vgl. Helmut Koziol, Juristische Blätter 1976, S. 169 f.; Schönherr, ÖJZ 1980, S. 537 f. 37
14*
Theo M a y e r - M a l y
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Esser 44 meint, w i r müßten „ständig neue Rechtsfiguren wagen, um die Ordnungsinstrumente zu optimieren, mit denen w i r rechtsstaatlich unsere wirtschaftliche und soziale Problematik in den Griff bekommen". Naiver kann Fortschrittsgläubigkeit — oder Bereitschaft zur Anpassung an den Zeitgeist — kaum formuliert werden. Unsere w i r t schaftliche und soziale Problematik ist wahrlich ein weites Feld. Sie in den Griff zu bekommen, w i r d frommer Wunsch bleiben. Vor allem aber muß die Frage gestellt werden: Ist es gut, dem Publikum unausgesetzt neue Rechtsfiguren vorzusetzen? Wäre es nicht besser, sich darum zu bemühen, etwas mehr Ruhe in eine ohnedies reichlich ungeordnete Entwicklung zu bringen? Wahrscheinlich muß man von der Rechtsdogmatik mehr halten als Esser 45 , um sich für das zweite zu entscheiden. Für Esser 46 beruhen die Klagen über die Zersplitterung der Gesetzgebung und die Vielgeschäftigkeit der Gesetzgebungsbürokratie „auf einem Wunschdenken, das die neue Komplexität gesetzlicher Regelungsaufgaben in der Leistungs- und Wohlfahrtsgesellschaft nicht zur Kenntnis nehmen w i l l " . So macht man Schuld zum Schicksal. Abgesehen davon, daß schon die alten Aufgaben nicht gar so einfach waren, verführt der ehrfürchtige Schauer vor der neuen Komplexität nur dazu, handfestes Ungenügen zu verdecken. Wer einmal hochgestellten Ministerialreferenten zugehört hat, die zwar einen maßgebenden Einfluß auf die Weiterbildung unserer großen Kodifikationen haben, aber die Muttersprache nicht korrekt zu beherrschen vermögen, der muß Essers Apologie ablehnen. Es sind nicht die Aufgaben so komplex, sondern die Bemühungen um ihre Lösung so kläglich. Dies hat viele Gründe. I n den Ministerien sitzen gewiß viele Idealisten, aber auch nicht wenige Karrieristen. Für Bemühungen um bessere Systembildung, um Verbesserung des sprachlichen Ausdrucks und u m Vereinbarkeit neuer Entwürfe mit bestehenden Gesetzen haben nur wenige Minister ein geduldiges Ohr. Zum legistischen Qualitätsverlust trägt eine neuerdings immer häufiger begegnende Unsitte bei: Man präsentiert zunächst einen Entwurf, der legistisch zwar ganz gut ausgearbeitet ist, politisch aber einen Maximalkatalog darstellt. Von dem läßt man sich dann dies und jenes abhandeln. Was bleibt, mag konsensfähig sein, ist aber legistisch so schlecht, daß man es zu jenen Mißbildungen rechnen muß, von denen Esser meint, sie würden zu Unrecht beklagt. Esser 47 meint, die Rationalität in der Kodifikation des 19. Jhs. sei „ i m idealistischen Sinne als Systemperfektion" verstanden worden, der 44 45 46 47
Esser, Esser, Esser, Ders.,
Gesetzesrationalität, S. 15. AcP 172 (1972), S. 97 ff. Gesetzesrationalität, S. 16. ebd., S. 19.
K o d i f i k a t i o n und Rechtsklarheit i n der Demokratie
213
moderne Rationalitätsbegriff sei anders. Diese Antithese übertreibt. Auch von den Autoren der „klassischen" Kodifikationen sind politische, ja sogar soziale Dimensionen gesehen worden 4 8 . Vor allem aber wäre es falsch, dem Bemühen um Ordnung und Folgerichtigkeit einer Kodifikation gesellschaftliche Relevanz zu bestreiten. Es ist systemstabilisierend und daher einem Interesse verpflichtet, das zwar professionellen und professoralen Veränderern 4 9 unsympathisch sein mag, dem aber nicht vorweg der Nachrang zugewiesen werden darf. I m Gegensatz zur strukturellen Rationalität imponiere, so heißt es i n Essers Apologie 50 , „das moderne Einzelgesetz nicht durch seinen Aufbau, die Prägnanz seiner abstrakten Sprache und die lehrhafte Klarheit seiner Modelle, sondern durch die Schlüssigkeit von Maßnahmen in ihrem politischen und sozialen Zweckbezug". Läßt sich das aber i m Ernst von der mißglückten Regelung des deutschen Versorgungsausgleiches oder von der halbherzigen Entdinglichung der gesetzlichen Vorkaufsrechte im Bundesbaugesetz behaupten? Gewiß kann man dem neuen österreichischen Adoptionsrecht oder dem § 1319 a ABGB kein so hohes Lob singen. Und über die Mietengesetzentwürfe eines sozialistischen Justizministers hat der Obmann einer sozialistischen Mietervereinigung kürzlich gesagt, das Gesetz könne nur von Juristen kapiert werden. Deshalb könnten die Juristen, die jetzt studieren, i n Hosianna ausbrechen. Ihre Zukunft ist gesichert 51 . Die Instrumentalität des modernen Einzelgesetzes, in der seine Rationalität liegen soll, bleibt gerade dann Illusion, wenn man meint, sich von den Postulaten der klassischen Legistik, vom Streben nach Klarheit und Prägnanz lösen zu dürfen. Esser 52 stellt die Dinge auf den Kopf, wenn er sagt: „Eine sog. Gesetzesflut und Gesetzeszersplitterung muß keineswegs die Kraft zur Planung vermissen lassen, die man einer Kodifikation oft zu Unrecht nachsagt." Auf planende Kraft, die sich nicht besser manifestieren kann als durch Gesetzesflut (warum sogenannte?) und Gesetzeszersplitterung, kann man getrost verzichten. Der Unsitte eine höhere Weihe zu geben, ist überflüssig und gefährlich. Kodifikation ist auch heute möglich. Ihre Vorbedingungen sind natürlich anders als 1800 und 1900, aber gar nicht so viel schwerer. Was 48 Schon Zeiller nahm auf die Lage der „untersten Bürgerklassen" Bezug, vgl. Ofner, Protokolle I 6 und dazu Mayer-Maly, in: Forschungsband, S. 10. 49 Verwahrung muß der Freund der Marktwirtschaft einlegen, w e n n Esser, Gesetzesrationalität, S. 27 sagt, unsere „proklamierte Wertordnung" könne nicht „Objekt marktwirtschaftlicher Opportunität" sein. 50 Ders., ebd., S. 24. 51 Salzburger Nachrichten v o m 8. 5.1981, S. 2. 52 Gesetzesrationalität, S. 31.
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der Kodifikationsgedanke anzubieten hat und was für ihn spricht, ist noch immer dasselbe: Ein Beitrag zur Rechtsbereinigung, ein Schritt zur Rechtsklarheit, ein Dienst am vielberufenen Zugang zum Recht. Kodifikation ist kein Wert an sich, sondern Dienst an einem Anliegen. Sie ist nützlich — nicht mehr und nicht weniger. Bei manchen Materien kann sie verhältnismäßig leicht erreicht werden, bei anderen ist sie unwahrscheinlich. Über all das sind realistische Kalküle möglich. Energischen Widerspruch aber verlangt jeder Ansatz zur Beschönigung legistischer Insuffizienz.
R E P R Ä S E N T A T I V E , D I R E K T E UND PARLAMENTARISCHE DEMOKRATIE* Von Theo Öhlinger, Wien I. Ideal und Realität der Demokratie bei Hans Kelsen Hans Kelsen hat i n seiner Schrift „ V o m Wesen und Wert der Demokratie" (1929) das System der rechtsstaatlichen Demokratie i n geradezu klassischer Weise beschrieben. Wenn ich eingangs ein persönliches Werturteil abgeben darf: ich halte diese Schrift für jenes Werk Kelsens, das alle seine anderen Arbeiten einschließlich der „Reinen Rechtslehre" überdauern w i r d . Das ist nicht als A b w e r t u n g der Reinen Rechtslehre zu verstehen. Kelsen hat m i t der Reinen Rechtslehre Grundlagen gelegt, auf denen jedoch weitergearbeitet werden kann und muß. Diese Weiterentwicklung entfernt sich aber zwangsläufig immer mehr von ihrem Ausgangspunkt. Eine Rechtstheorie ist m i t anderen Worten entwicklungsfähiger als eine Schrift v o m Stil des „Wesens und Werts der Demokratie". Hans Kelsen geht von einem Rousseau'schen Demokratieverständnis aus. Demokratie i n ihrer reinen Form ist für i h n Herrschaftslosigkeit oder zumindest Identität von Herrschern und Beherrschten 1 . I h r Grundgedanke ist die individuelle Freiheit. Dieses Ideal muß sich jedoch in der sozialen Realität eine Reihe von Abstrichen — „Metamorphosen des Freiheitsgedankens" 2 — gefallen lassen. Aus der Idee der Demokratie
w i r d so die Wirklichkeit
der Demokratie 3.
Sie f ü h r t
zum
Parlamentarismus als „die einzige reale Form . . . , i n der die Idee der Demokratie innerhalb der sozialen W i r k l i c h k e i t von heute erfüllt v/erden k a n n " 4 . Noch ein Zitat: „Damit, daß die natürliche Freiheit zur politischen Selbstbestimmung durch Majoritätsbeschluß, daß der Idealbegriff des Volkes zu dem viel engeren Inbegriff der politisch Berechtigten und i h r Recht Gebrauchenden zusammenschrumpft, ist die Reduktion noch keineswegs vollendet, die sich die * Die Vertragsform wurde i m wesentlichen beibehalten und lediglich m i t Anmerkungen ergänzt. 1 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 1929, S. 3 ff. 2 Ders., ebd., S. 8, 14. 3 Ders., ebd., S. 14. 4 Ders., ebd., S. 27.
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Theo Öhlinger
Idee der Demokratie i n der sozialen W i r k l i c h k e i t gefallen lassen muß. Denn n u r i n der unmittelbaren Demokratie, die m i t Rücksicht auf die Größe des modernen Staates u n d die Vielfältigkeit seiner Aufgaben keine mögliche politische F o r m mehr darstellt, w i r d die soziale Ordnung tatsächlich durch den Beschluß der Mehrheit der politisch Berechtigten, i h r Recht i n der Volksversammlung Ausübenden erzeugt. Die Demokratie des modernen Staates ist die mittelbare, die parlamentarische Demokratie, i n der der maßgebende Gemeinschaftswille n u r von der Mehrheit jener gebildet w i r d , die von der Mehrheit der politisch Berechtigten gewählt werden. So daß hier das politische Recht — u n d das ist die Freiheit — sich i m wesentlichen zu einem bloßen Stimmrecht abschwächt. V o n allen bisher erwähnten, die Idee der Freiheit u n d sohin die Idee der Demokratie einschränkenden Elementen ist der Parlamentarismus vielleicht das Bedeutendste. I h n gilt es vor allem zu verstehen, w e n n das reale Wesen jener Gebilde begriffen werden soll, die heute als Demokratien angesehen werden 5 ."
Der Parlamentarismus als reale Demokratie enthält eine zweifache Reduktion der Idee der Demokratie:
a) Zum einen die Übertragung der Entscheidungsgewalt vom Volk auf das Parlament als Repräsentativorgan.
Dies entspricht dem „ u n -
verzichtbaren Bedürfnis nach Arbeitsteilung" als Bedingung jedes „sozialtechnischen Fortschritts" 6 . I n einer hochgradig spezialisierten arbeitsteiligen Gesellschaft muß auch die Politik Spezialisten überlassen werden. Ohne gewisse Professionalisierung wäre auch Politik nicht ohne sachlichen Qualitätsverlust machbar 7 . Das hindert Kelsen freilich nicht, die Repräsentation als Fiktion zu qualifizieren 8 . b) Eine weitere Reduktion der Idee der Demokratie, die von Kelsen allerdings nicht als solche gesehen wird, liegt i n der Beschränkung des Parlaments auf die Beschlußfassung besonders wichtiger Angelegenheiten, die Kelsen
der m i t generellen
m i t der Erlassung
Normen
von Gesetzen
u n d diese w i e -
gleichsetzt 9 . Das Parlament, auf das die
Entscheidungsfähigkeit des Volkes reduziert wird, ist selbst nicht allzuständig, sondern auf die Gesetzgebung beschränkt. So wie schon die Reduktion des Volkes auf das Parlament begründet Kelsen auch diese Beschränkung des Parlamentes pragmatisch, nämlich m i t der N o t w e n d i g k e i t der Arbeitsteilung.
Daß sie i h m aber
nicht weiter problematisch erscheint, hat noch einen anderen Grund. Zum einen identifiziert Kelsen den Prozeß der sozialen Willensbildung mit dem der staatlichen Willensbildung 1 0 . Staat ist aber für ihn be5
Ders., ebd., S. 24 f. Ders., ebd., S. 29. 7 Ders., ebd., S. 31. 8 Ders., ebd., S. 30 f. 9 Ders., ebd., S. 30 - 36. 10 Ders., ebd., S. 34 f. 6
Repräsentative, direkte und parlamentarische Demokratie
217
kanntlich ident mit Recht, staatliche bzw. soziale Willensbildung somit für ihn begrifflich ein Prozeß der Rechtsetzung und Rechtsanwendung 11 . Dieser Prozeß hat — und zwar für Kelsen „logisch", „zwingend" — die Gestalt eines Stufenbaues, in dem generell-abstrakte Normen über eine variable Anzahl von Rechtsformen zu individuell-konkreten Entscheidungen werden bzw. in der umgekehrten Richtung gesehen, jede konkrete Entscheidung sich notwendigerweise, über mehrere Stufen vermittelt, auf eine generell-abstrakte Norm zurückführen läßt 1 2 . Kelsen verknüpft also sein organisatorisches Demokratiemodell, den Parlamentarismus, mit einem bestimmten entscheidungstheoretischen Modell: dem Stufenbau der Rechtsordnung, wobei für ihn diese Verknüpfung eine theoretische Gesetzmäßigkeit darstellt. Während nun aber in seiner Rechtstheorie Kelsen mit dem Stufenbaumodell gerade die Relativität des Gegensatzes von Rechtsetzung und Rechtsanwendung deutlich macht und demonstriert, daß Gesetzgebung ebensowenig reine Rechtserzeugung, sondern partiell auch Rechtsanwendung ist, wie gerichtliche Urteile oder verwaltungsbehördliche Entscheidungen nie reine Rechtsanwendung darstellen, sondern stets auch ein schöferisches Moment der Rechtserzeugung enthalten 1 3 , dient in seiner Demokratietheorie das Stufenbaumodell gerade umgekehrt dazu, eine scharfe Zäsur innerhalb jenes Prozesses der Konkretisierung und Individualisierung 1 4 zu setzen, den der Prozeß der sozialen ( = staatlichen) Willensbildung darstellt. I n seiner Demokratietheorie ist der Unterschied zwischen generell-abstrakten Normen und individuell-konkreten Verfügungen 1 5 wesentlich. Dieser hier wesenhafte Unterschied dient dazu, das Parlament auf die Bildung generell-abstrakter Normen — eben Gesetze — zu beschränken. Das politische Programm des Liberalismus des 19. Jhdts., nämlich die Beschränkung der Gesetzgebung auf allgemeine Normen 1 6 , und das 11
Ders., ebd., S. 35; ders., Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 16 ff. Ders., Wesen u n d Wert, S. 35; vgl. auch ders., Staatslehre, S. 231 ff. 13 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre 2 , 1960, S. 228 ff., insbes. S. 240 ff.; ders., Staatslehre, S. 233 f., 249 f.; Merkl, Das doppelte Rechtsantlitz, JB1. 1918, S. 425; ders., Prolegomena zu einer Theorie des rechtlichen Stufenbaus, in: Verdross (Hrsg.), Gesellschaft, Staat u n d Recht, 1931, S. 252; dazu Öhlinger, Der Stufenbau der Rechtsordnung, 1975. 14 Kelsen , Wesen u n d Wert, S. 35. 15 Ders., ebd., S. 35. Schon die Terminologie ist bemerkenswert: während Kelsen i n seiner Stufenbautheorie gerade die Normqualität individueller Rechtsakte gegen die herrschende Lehre betont, kehrt er hier zu der t r a ditionellen Unterscheidung v o n genereller „ N o r m " und individueller „Verfügung" zurück. 16 Siehe etwa v. Mohl, Politik, Bd. I, 1862, S. 428; siehe dazu auch etwa Böckenförde, Entstehung u n d Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: ders. (Hrsg.), Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 65 (69 f.). 12
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Theo Öhlinger
politische Programm des Konstitutionalismus, nämlich die Beteiligung des Parlamentes an der Gesetzgebung 17 , erfahren hier eine theoretische, geradezu logisch-zwingende Rechtfertigung. Kelsen w i r d damit zum konsequentesten Theoretiker der rechtsstaatlichen Demokratie, i n der die Herrschaft des Volkes identisch ist mit der Herrschaft des Rechts 18 . Daß Kelsen in seiner Demokratietheorie von so wichtigen Einsichten seiner Rechtstheorie, nämlich der Relativität des Gegensatzes von Gesetzgebung und Rechtsanwendung und der rechtsschöpferischen Funktion auch der Vollziehung, abgehen kann, liegt daran, daß, bei aller Relativität der Unterscheidung von Gesetzgebung und Gesetzesanwendung, in der allgemeinen Norm des Gesetzes — und zwar wegen dieser Allgemeinheit — bereits alle wesentlichen politischen Momente des weiteren Entscheidungsablaufes vorweggenommen sind. Jedenfalls muß Kelsen voraussetzen — und tut dies auch 19 —, daß Gesetze in der Tat sowohl das Verhalten des Einzelnen als auch das der die Gesetze zur Anwendung bringenden Organe (Gerichte, Verwaltungsbehörden) relativ präzise vorausbestimmen. Ich werde darauf noch zurückkommen. Daß Kelsen diese von ihm nicht weiter reflektierte und einer Grundeinsicht seiner Stufenbautheorie geradezu widersprechende Voraussetzung in der Tat mit gewisser Berechtigung machen kann, hat eine entscheidungstheoretische Analyse Luhmanns deutlich gemacht. Von Luhmann stammt bekanntlich die Unterscheidung zwischen konditionaler und finaler Strukturierung arbeitsteiliger Entscheidungsprogramme. Für Kelsen ist das Gesetz nicht nur durch die Beteiligung des Parlamentes definiert. Das Gesetz hat vielmehr eine besondere, innere entscheidungstheoretische Struktur: die des Rechtssatzes20. Dieser Rechtssatz hat wiederum die — für Kelsen: logische — Form eines hypothetischen Urteils oder, in der Terminologie Luhmanns, die Form 17 Siehe etwa L. v. Stein, Die Verwaltungslehre, Bd. I, 1865, S. 53; Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht, Bd. I, 1868, S. 431, 438; weiters auch Laband, Das Staatsrecht des deutschen Reiches, Bd. I, 1888, S. 517 ff.; vgl. dazu auch Böckenförde, Gesetz u n d gesetzgebende Gewalt, 1958, S. 129 ff.; ders., Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat u n d Gesellschaft i m demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 185 (190 f.). 18 Kelsen selbst begründet die Identität von Demokratie und Rechtsstaat teils wissenschaftstheoretisch, teils pragmatisch. I h r ideologisches Pathos erhält sie erst bei einigen seiner Nachfolger; siehe insbes. Marcic, Die Würde des Rechts und die Freiheit des Menschen, in: Otto B. Roegele (Hrsg.), Die Freiheit des Westens, 1967, S. 129 (168 ff.); ders., Der Richter i n der Demokratie, JB1. 1968, S. 393 (402); vgl. auch Kriele, Das demokratische Prinzip i m Grundgesetz, V V D S t R L 29, S. 49. 19 Siehe Kelsen, Wesen u n d Wert, S. 70 ff.; dazu noch unten bei A n m . 34 ff. 20 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 73 ff.; ders., Hauptprobleme der Staatsrechtslehre 2 , 1923, S. V I f.
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eines Konditionalprogramms: immer wenn der Tatbestand Τ in einem konkreten Sachverhalt S verwirklicht ist, dann gilt für diesen Sachverhalt die Rechtsfolge R. Eine spezifische Eigenart und Leistungsfähigkeit der konditionalen Programmstruktur, die aber an diese Programmstruktur gebunden ist und vom Finalprogramm nicht erbracht wird, besteht nun gerade darin, daß sie eine fast vollständige und präzise Determinierung der Einzelentscheidung ermöglicht, die als solche als „bloße Durchführung von etwas, was bereits anderswo entschieden ist" 2 1 , erscheint. Das Konditionalprogramm, und nur das Konditionalprogramm, gewährt damit tendenziell Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit der Entscheidung, Gesetzmäßigkeit und Übersetzung von Unregelmäßigkeit in Regelmäßigkeit 2 2 . Die konditionale Programmstruktur des Rechts ist damit notwendige Voraussetzung der Beschränkung des Parlaments auf die Gesetzgebung. Denn nur in der entscheidungstheoretischen Form des Konditionalprogramms determinieren Gesetze ihre Anwendung in einem Ausmaß, daß diese als bloßer „Vollzug" qualifiziert werden kann und keiner weiteren zusätzlichen „Demokratisierung" bedarf. Die parlamentarische Demokratie kann eben aus diesem Grund auf die Funktion der Gesetzgebung beschränkt bleiben. Die entscheidungstheoretische Analyse zeigt darüber hinaus, daß das Recht, das Kelsen als begrifflich konditional strukturiert sieht, nicht die zwingende Form der „staatlichen ( = sozialen) Willensbildung" ist. Es ist, worauf ich noch zurückkommen werde, nicht einmal die mögliche Form aller staatlichen und noch weniger aller gesellschaftlichen Entscheidungen. II. Partizipatorische Demokratie 1. Das zeitgenössische „Unbehagen" an der Realität der Demokratie
Kelsen hat seine demokratietheoretischen Arbeiten zu einer Zeit geschrieben, in der der Parlamentarismus in Zentraleuropa heftigen Angriffen ausgesetzt war. Nach der Niederlage des Faschismus und Nationalsozialismus wurde dagegen dieses Modell der realen Demokratie mit — oder besser gesagt: trotz — seiner reduktionistischen Implikationen auch in Zentraleuropa zum unangefochtenen Ideal. Erst seit etwa eineinhalb Jahrzehnten artikuliert sich wiederum K r i t i k an dieser Form der Demokratie, die sich jedoch — anders als in der Z w i 21 22
Luhmann, Lob der Routine, Verwaltungsarchiv 1964, S. 1 (10). Ders., ebd., S. 8 ff.
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Theo Öhlinger
schenkriegszeit — nicht gegen ihren demokratischen Gehalt, sondern gegen die in ihr enthaltenen Beschränkungen des Ideals der Demokratie richtet 2 3 . (Auch schon in der Zwischenkriegszeit erfolgte die K r i t i k des Parlamentarismus vielfach im Namen der „wahren Demokratie", war aber, was gerade Kelsen kompromißlos aufgezeigt hat, in Wahrheit antidemokratisch 24 .) Diese K r i t i k w i r d vielfach als „Unbehagen" 2 5 am Parlamentarismus gedeutet, als Unbehagen an der organisatorischen Reduktion der Demokratie also. Demokratie soll nicht auf periodische Wahlen beschränkt und in der Zwischenzeit der Bürger auf eine bloße Zuschauerrolle reduziert bleiben. Als Therapie w i r d daher empfohlen: mehr direkte im Sinne plebiszitärer Demokratie in den Formen von Volksbegehren (Volksinitiative) und Volksabstimmung (Referendum). I n der Tat haben diese beiden Institutionen der direkten Demokratie in den letzten Jahren sowohl in der Theorie als auch in der Praxis eine gewisse Aufwertung erfahren. Die Forderung nach Ausbau der direkten Demokratie in diesen Formen läßt das mit dem Parlamentarismus verbundene Entscheidungsmodell — das Schema Gesetzgebung und Gesetzesvollziehung — prinzipiell unberührt. Diese Formen beziehen sich jedenfalls in Österreich auf der staatlichen Ebene (Bund, Land) überhaupt nur auf Gesetzesbeschlüsse der Parlamente 2 6 und auch auf der Ebene der Gemeinde in aller Regel auf grundsätzliche, in Verordnungsform (d. h. als generelle Normen) ergehende Beschlüsse des Gemeinderates als Repräsentationsorgan 27 . Meine These ist es nun, daß das sich in der zeitgenössischen K r i t i k artikulierende, wenn auch oft begrifflich ungeklärte Unbehagen an der Realität der Demokratie gar nicht so sehr durch die Verkürzung der direkten Demokratie auf die Repräsentation als vielmehr durch das mit dem Repräsentationsmodell verknüpfte und von diesem — wie gerade Kelsen belegt — unreflektiert vorausgesetzte Entscheidungsmodell ausgelöst wird. 23 Siehe dazu Manti, Repräsentation und Identität, 1975, S. 199 ff.; Crozier / Huntington / Watanuki, The Crisis of Democracy, New Y o r k 1975. 24 Dazu besonders scharf Kelsen, Der Staat als Integration, 1930, S. 82. 25 Als Beleg für diesen Terminus siehe etwa Kopp, Unbehagen m i t der Demokratie u n d Stabilität des rechtstaatlich-demokratischen Systems, FS für Klecatsky Bd. I, 1980, S. 461. 28 Für die Bundesebene siehe A r t . 41 Abs. 2, A r t . 43 ff. B - V G ; für die Landesebene z. B. die K ä r n t n e r Landesverfassung, LGB1. 190/1974 i. d. F. LGB1. 48/1979, A r t . 30 Abs. 2 u n d A r t . 32; ferner A r t . 16 u n d 26 der V o r arlberger Landesverfassung, LGB1. 1/1970. 27 Vgl. z. B. die § 63 ff. der Niederösterreichischen GemeindeO 1973, i. d. F. LGB1. 73/1981.
Repräsentative, direkte und parlamentarische Demokratie
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Eine einfache Beobachtung kann dies belegen: Bürgerinitiativen, um die spektakulärste Artikulation dieses „Unbehagens" zu nennen, richten sich in aller Regel nicht an Gesetzgebungsorgane, sondern fordern Beteiligung an Entscheidungen, die gar nicht in Gesetzesform ergehen und dies i n aller Regel auch gar nicht können 2 8 , oder aber, die, wenn sie dennoch zu einem Gesetz führen, die Gesetzesform denaturieren (Beispiel: die österreichische „lex Zwentendorf" 2 9 , die von Vertretern der Staatsrechtslehre 30 als verschleierter Vollzugsakt in Gesetzesform, als Individual- oder Maßnahmegesetz kritisiert und wegen dieser Denaturierung des Gesetzesbegriffes sogar als verfassungswidrig angeprangert wurde, ob zu Recht oder zu Unrecht, möchte ich hier offen lassen.) Die These, daß Bürgerinitiativen jedenfalls nicht prinzipiell auf Beteiligung an der Gesetzgebung abzielen, läßt sich m. E. für jene in unserer Zeit artikulierten Forderungen nach mehr Demokratie verallgemeinern, für die ich den Begriff Partizipation verwenden möchte 31 . Die Richtung solcher Forderungen geht in aller Regel auf Beteiligung an Entscheidungsprozessen, die, sofern sie überhaupt im staatlichen Raum fallen, auf der Ebene der Verwaltung (d. h. nach Kelsen : der Gesetzesvollziehung) zu treffen sind. Es ist aber m. E. auch falsch, Partizipation begrifflich auf Beteiligung an der (staatlichen) Verwaltung zu beschränken, weil damit unreflektiert schon wieder jenes Entscheidungsmodell der Differenzierung von Gesetzgebung und Gesetzesvollziehung unterstellt wird, das gerade als solches von Partizipationsforderungen in Frage gestellt wird. Das w i r d im Kontrast zu Kelsens Demokratietheorie, der dieses entscheidungstheoretische Modell am konsequentesten seiner Demokratietheorie unterlegt hat, besonders deutlich.
28 Problembereiche, die am häufigsten Bürgerinitiativen auf den Plan rufen, sind: Umweltschutz, Städtebau/Verkehr, Wohnwesen und Erziehung/ Bildung. Sie sind i n der Regel single-purpose-movements, beziehen sich also auf ein bestimmtes Vorhaben. (Gunnar Folke Schuppert, Bürgerinitiat i v e n als Bürgerbeteiligung an staatlichen Entscheidungen, AöR 1977, S. 369 (372 f.)). 29 BGBl. 1978/493. 30 Nowak, Rechtswirkungen einer Volksabstimmung, konkretisiert am Beispiel Zwentendorf, ÖJZ 1980, S. 36 (42); Welan, Volksgesetz und Verfassungsgesetz, Der Staatsbürger 1978, S. 70. 31 A u f eine exakte Begriffsdefinition von „Partizipation" k a n n hier verzichtet werden. I m K o n t e x t dieser Untersuchung werden damit Formen der M i t w i r k u n g an konkreten Entscheidungen — i m Gegensatz zu allgemeinen Regelungen — verstanden. Der Terminus „Partizipation" drängt sich dafür insofern auf, als die unter diesem Stichwort artikulierten Forderungen i n der Gegenwart regelmäßig auf eine derartige A r t der Beteiligung an der „sozialen Willensbildung" (Kelsen) abzielen.
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Theo Öhlinger 2. Das Gesetz als Ausdruck der volonté générale
In der Demokratiekonzeption Kelsens hat Partizipation, auch in dem bereits eingeengten Sinn einer Beteiligung an der Verwaltung, keinen Platz. Diese Unvereinbarkeit von Demokratie und Partizipation 3 2 folgt jedoch nicht etwa aus dem Repräsentationsmodell. Auch Kelsen kann mit der Repräsentation Formen direkter Demokratie verbinden und sogar ihren Ausbau i m Sinne einer Reform des Parlamentarismus fordern 3 3 . I n dem von ihm vorausgesetzten entscheidungstheoretischen Modell muß aber diese Forderung konsequenterweise auf die Beteiligung an der Gesetzgebung i m Sinne von Volksinitiative und Referendum beschränkt bleiben. Denn dieses Gesetz ist wegen seiner Allgemeinheit Ausdruck des Gesamtwillens. Mit ihm sind bereits alle wesentlichen politischen Momente auch seiner Vollziehung vorweggenommen. Politik ist daher i m wesentlichen Gesetzgebung, alle anderen Akte der sozialen Willensbildung sind „Vollziehung" des „ i m Gesetz geoffenbarten Volkswillens" 3 4 und stehen dadurch „wesenhaft unter der Idee der Gesetzmäßigkeit"^ 5 . Jeder weitere A k t der „sozialen Willensbildung" 3 6 ist begrifflich „Vollziehung" des Gesetzes·*7. Würde man auch die Gesetzesvollziehung demokratisieren, so würde sich das auf der Vollzugsstufe demokratisch artikulierte Partikularinteresse zwangsläufig in Widerspruch zu dem im Gesetz zum Ausdruck kommenden Gesamtinteresse stellen und damit in einen Gegensatz zum Prinzip der Demokratie geraten. Deshalb kommt Kelsen zu dem prima facie paradox erscheinenden Schluß, daß ein hierarchisch organisierter, streng weisungsgebundener Verwaltungsapparat von Berufsbeamten die einzig demokratische Form der Verwaltung sei, weil sie die unparteiische, von Partikularinteressen ungetrübte Anwendung der im Gesetz zum Ausdruck kommenden volonté générale garantiere 3 -. Die Bürokratie w i r d somit zu einem 32 Diese geht besonders deutlich aus den Ausführungen Kelsens und Merkls über Demokratie und V e r w a l t u n g hervor. Siehe etwa Kelsen, Staatslehre, S. 361 ff.; ders., Wesen und Wert, S. 69 ff.; Merkl, Demokratie und Verwaltung, 1923. 33 Kelsen, Wesen u n d Wert, S. 38 ff. 34 Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1927, S. 339. 35 Kelsen, Wesen und Wert, S. 70. 36 Ders., ebd., S. 69. 37 Ders., ebd., S. 70. 38 Ders., ebd., S. 73; ders., Staatslehre, S. 366 f.; Merkl, Verwaltungsrecht, S. 339 ff.; dazu Öhlinger, Demokratie u n d V e r w a l t u n g als verfassungsrechtliches Problem, ÖZPW 1975, S. 445; Pauger, Partizipation i m Umweltschutzrecht, in: Reformen des Rechts, 1979, S. 969 (988); Wittmann, Gedanken zu einem Reformkonzept für die österreichische Verwaltung, in: W i t t m a n n / Berner, Verwaltungsreform i n Österreich, S. 9 (27 ff.).
Repräsentative, direkte und parlamentarische Demokratie
essentiellen Element der Demokratie — jene Bürokratie, an der sich partizipatorische Demokratieforderungen zu häufig entzünden! Mit dem Verständnis des Gesetzes als allgemeine Norm korrespondiert — bei Kelsen nicht explizit, wohl aber in der liberalen Staatsrechtstheorie, aus der er kommt — auch ein bestimmtes Staatsverständnis: nicht nur die Gesetzgebung, der Staat selbst ist auf die Setzung allgemeiner Normen und die Vollziehung dieser Normen beschränkt. Das Gesetz als allgemeine Norm markiert damit zugleich die Grenze des Staates gegenüber der Gesellschaft, ist demnach essentielles Element der Theorie der „Trennung von Staat und Gesellschaft" so . 3. Die Politisierung des Konkreten
Die in der Gegenwart artikulierten Forderungen nach Partizipation beruhen demgegenüber auf der Erfahrung, daß nicht das GenerellAbstrakte, sondern das Konkrete kontrovers und damit „politisch" geworden ist. Strittig ist nicht der Bau einer Straße oder Autobahn überhaupt, strittig ist ihre konkrete Trassenführung. Oder wenn selbst dieses Beispiel für die Gegenwart nicht mehr eindeutig ist: strittig sind nicht die in den Raumordnungsgesetzen proklamierten Zielsetzungen wie: gesunde Umwelt, genügend Arbeitsplätze . .., strittig ist aber ihre konkrete Realisierung. Diese eigentümliche „Verschiebung der ,eigentlichen' politischen Entscheidungen vom Allgemeinen und Abstrakten auf die besonderen und konkreten Konfliktsfälle" 4 0 ist auf der Ebene des Staates eine Folge des Wandels der Staatsaufgaben vom liberalen Ordnungsstaat zum Sozial-, Leistungs- und Wirtschaftsstaat der Gegenwart, oder wie immer clie diesen Wandel charakterisierenden Formeln lauten. Der Staat von heute beschränkt sich bekanntlich nicht nur auf die Schaffung von Normen als Begrenzung und Rahmen einer autonomen Gesellschaftsentwicklung, er gestaltet vielmehr diese Gesellschaftsentwicklung selbst. Diese vom Staat der Gegenwart übernommenen Gestaltungsaufgaben lassen sich aber nicht mehr in das entscheidungstheoretische Schema von genereller Norm und ihrem Vollzug einfügen. I n manchen Fällen mag dies noch möglich sein, wie etwa das Beispiel des Sozialversicherungsrechts belegt. I n vielen Fällen sprengen aber diese neuen Staatsaufgaben das entscheidungstheoretische Schema von genereller Norm und ihrem Vollzug. Bewußt ist dies an der Planung geworden, 39 Vgl. etwa C. F. Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit 2 , 1979, S. 121; Böckenförde, Gesetz u n d gesetzgebende Gewalt, S. 132 ff. 40 Grauhan, Modelle politischer Verwaltungsführung, 1969, S. 17; vgl. auch Pelinka, Bürgerinitiativen — gefährlich oder notwendig?, 1978, S. 37 f.
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die von ihrer entscheidungstheoreiischen Struktur her etwas essentiell anderes ist als bürokratischer Gesetzesvollzug 41 . I m Planungsprozeß verlagert sich ebenso theoretisch „notwendig" das politische Schwergewicht des arbeitsteilig organisierten Entscheidungsablaufes auf die „untere", konkrete Ebene, während die höhere „abstrakte" Ebene eigentümlich blaß bleibt, wie im Stufenbau der Rechtsordnung das Schwergewicht auf der generell-abstrakten Ebene der Normen angesiedelt ist und die Vollziehung dieser Normen relativ unpolitisch bleibt. I n der Planung, in den Gestaltungsaufgaben des Gegenwartsstaates überhaupt 4 2 , verliert daher die — von Kelsen zwar in seiner Stufenbautheorie bereits relativierte, in seiner Demokratietheorie aber wieder „rehabilitierte" — scharfe Unterscheidung von Gesetzgebung und Gesetzesvollziehung ihren Stellenwert. Damit läßt sich mit dieser Unterscheidung die Beschränkung der Demokratie auf die Gesetzgebung nicht mehr überzeugend legitimieren. Hinzuzufügen ist, daß parallel zur Aufweichung der funktionalen Differenzierung von Gesetzgebung und Vollziehung auch die organisatorische Trennung von Parlament und Exekutive — Stichwort: Gewaltentrennung — ihre Schärfe verliert und nahezu bis zur Unmerklichkeit eingeebnet w i r d — und zwar überwiegend auf Kosten des Parlamentes, was eine zusätzliche demokratie-theoretische Problematik mit sich bringt 4 3 . 4. Die entscheidungstheoretische Eigenart von Partizipation
Partizipationsforderungen sind die Antwort auf diese Entwicklung. Sie lösen sich von dem entscheidungstheoretischen Modell des Stufenbaus, in dem das Bedürfnis nach demokratischer Legitimation mit dem höheren Rang und damit der Allgemeinheit und Abstraktheit der Norm wächst und mit der Konkretheit der Entscheidung abnimmt. Nur nebenbei sei erwähnt, daß in dieser Konzeption die höchste Stufe des Rechts, das Verfassungsrecht, zugleich die demokratischste Stufe bildet. Die für die Erzeugung von Verfassungsrecht erforderliche qualifizierte Mehrheit gibt dem Verfassungsrecht eine höhere demokratische Legitimation. Das ist eine bei Kelsen selbst noch nicht so eindeutig, und eher 41 Oberndorfer, Strukturprobleme des Raumordnungsrechts, Die V e r w a l tung 1972, S. 257. 42 Dazu Brohm, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung, V V D S t R L 30, S. 245. 43 Auch das w i r d i n besonderer Weise i m Planungsprozeß deutlich; vgl. E.-H. Ritter, Theorie u n d Praxis parlamentarischer Planungsbeteiligung, Der Staat 1980, S. 413 (435 f.); allgemein dazu etwa Breuer, Selbstverwaltung u n d M i t v e r w a l t u n g Beteiligter i m Widerstreit verfassungsrechtlicher Postulate, Die V e r w a l t u n g 1977, S. 1 (9).
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widersprüchlich 44 begründete These 45 , die aber dann i n der österr. Staatsrechtslehre unter ausdrücklicher Berufung auf Kelsens Demokratietheorie sehr nachdrücklich vertreten w i r d 4 6 . Partizipationsforderungen lösen sich von diesem entscheidungstheoretischen Schema und knüpfen gerade nicht am Begriff des allgemeinen Gesetzes, sondern an der konkreten Entscheidung an. Der zentrale Begriff partizipativer Demokratiekonzeption ist nicht das allgemeine Gesetz, sondern die unmittelbare (konkrete) Betroffenheit. Demokratie wird in dieser Konzeption nicht wie die repräsentative Demokratie „von oben", vom abstrakten Gesetz her konzipiert, sondern gewissermaßen „von unten", vom Alltag her aufgebaut. Begriffe wie „Alltagsdemokratie" 4 7 oder „Graswurzeldemokratie" (grass-root-democracies) 48 illustrieren plastisch diese Tendenz. Ich meine, daß i n dieser Konzeption nicht einfach das Schema Gesetz/Vollziehung auf den Kopf gestellt wird, sondern daß dieses Schema hier überhaupt keinen Platz hat. Darin liegt eine qualitative Eigenart von Partizipation auch gegenüber den herkömmlichen Form e n der direkten
(plebiszitären)
Demokratie ,
die j a , w i e schon gezeigt,
an das Schema Gesetzgebung/Vollziehung anknüpfen. I n der entscheidungstheoretischen Analyse ist Partizipation etwas qualitativ anderes nicht nur als repräsentative, sondern auch als plebiszitäre Demokratie im herkömmlichen Sinn. 5. Konsequenzen aus der Einsicht in die qualitative Eigenart von Partizipation
Was ist mit dieser Einsicht i n die qualitative Eigenart von Partizipation gewonnen? Zum einen läßt sich damit erklären, daß das in Partizipationsforderungen zum Ausdruck kommende Unbehagen an der Realität der Demokratie nicht mit dem Ausbau der direkten Demokratie i m herkömmlichen Sinn — durch Volksinitiative und Referendum — behebbar ist. Gerade das ist aber die übliche Richtung von 44
Siehe dazu den Beitrag von Peter Koller i n diesem Band. Kelsen, Wesen u n d Wert, S. 54 f. 46 Siehe etwa Korinek, Das Gesetzesprüfungsrecht als K e r n der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Salzburger Symposium zum Jubiläum 60 Jahre Bundesverfassung, 1980, S. 108 (109: „Die Bindung des einfachen Gesetzgebers an die verfassungsrechtlich intendierte Grundentscheidung ist daher gleichzeitig eine Bindung an einen A k t von erhöhter demokratischer Legitimation."); Wenger, Gedanken zur Reform der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1978, S. 10 f. 47 Vgl. etwa Freudenschuß, Probleme u m die Rechtsstellung des österreichischen „Staatsbürgers i n U n i f o r m " , NZ W e h r r 1980, S. 89 (90, 103). 48 Pelinka, Bürgerinitiativen, S. 37; Hollihn, Partizipation u n d Demokratie, 1978, S. 87. 45
15 R E C H T S T H E O R I E , B e i h e f t 4
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Theo
hlinger
Reformvorschlägen 49 . Der häufig getroffene Einwand gegen solche Reformen, daß sich damit in Wahrheit „nicht viel ändere" 5 0 , ist durchaus richtig und die Bedenken gegen eine Ausweitung der plebiszitären Demokratie sind wohl auch heute noch durchaus gültig und berechtigt 5 1 . Nur treffen diese Formen direkter Demokratie von vornherein nicht das Anliegen, das sich in Partizipationsforderungen artikuliert, so daß es falsch wäre, daraus auch einen Schluß auf die Belanglosigkeit oder mangelnde Berechtigung solcher Forderungen zu ziehen. Auf der anderen Seite kann aus der Einsicht in die qualitative Eigenheit von Partizipation der Schluß gezogen werden, daß sich die Realisierung der hier mit diesem Stichwort bezeichneten Forderungen nicht in einer Kopie repräsentativ-demokratischer Institutionen erschöpfen kann. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Die aktuelle Forderung nach Mitbestimmung der Arbeitnehmer i m Unternehmen w i r d i n verschiedener Weise begründet. Eine Begründung besteht darin, daß dadurch die Fremdbestimmung im Unternehmen gemildert werden soll. Das ist ein typisch partizipatorisches Anliegen. Gerade dieses Anliegen w i r d aber verkürzt, wenn man es ausschließlich über eine Beteiligung von Arbeitnehmervertretern i m Aufsichtsrat, gewissermaßen als parlamentarisches Organ des Unternehmens, realisieren w i l l . Denn Entscheidungen des Aufsichtsrates berühren den unmittelbaren A r beitsplatz nur ähnlich indirekt wie allgemeine Gesetze. Das partizipatorische Anliegen der Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Unternehmen muß daher zu Überlegungen führen, wie neben der Beteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat Mitbestimmung auch am individuellen Arbeitsplatz realisiert werden kann 5 2 . Partizipatorische Demokratie bedarf, um dies zu verallgemeinern, anderer organisatorisch-verfahrensmäßiger Pendants als das Repräsentationsmodell. Die Vielfalt und jeweils spezifische Eigenheit der das Verlangen nach Partizipation auslösenden konkreten Problemlagen läßt jedoch die Entwicklung eines bestimmten Partizipationsmodells gar nicht zu. Für die Organisation von Partizipation „sind grundsätz49 Siehe z. B. Ucakar t Politische Legitimation u n d Parlamentarismus, ÖZPW 1980, S. 421 (430): „ Z u m Abbau des . . . Legitimationsdefizites (des Parlamentarismus, T. ö.) bietet sich der Einbau u n d die Praktizierung direktdemokratischer Verfahrensweisen i n das bestehende Repräsentativsystem an."); vgl. auch S. 439. 50 Vgl. etwa Blilmel, Gemeinden u n d Kreise vor den öffentlichen A u f gaben der Gegenwart, V V D S t R L 36, S. 171 (229 f., 273), m. w . N. 51 Vgl. den Bericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform, Beratungen u n d Empfehlungen zur Verfassungsreform I, Zur Sache 3/1976, S. 48 f., 51. 52 Auch i n diesem Bereich sind somit, wie auf der staatlichen Ebene (siehe unter III.), verschiedene Organisationsmodelle zu kombinieren.
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lieh unzählige Möglichkeiten denkbar" δ 3 . Die Einsicht, daß Partizipation nicht prinzipiell nach dem Repräsentationsmodell organisierbar ist, kann daher nur eine Verengung des Blickwinkels beseitigen, nicht aber auch schon Gegenrezepte bereitstellen. Hier bedarf es noch vieler Überlegungen und vor allem mehr Phantasie, als bisher zumindest die Praxis gezeigt hat. Mit der Lösung vom Begriff des allgemeinen Gesetzes löst sich eine partizipatorische Demokratiekonzeption zugleich auch von der begrifflichen Beschränkbarkeit auf den Staat. Partizipationsforderungen werden bekanntlich auch in Bereichen erhoben, die nach der Konzeption der Trennung von Staat und Gesellschaft zur Gesellschaft gehören, von den eben erwähnten Unternehmen bis h i n zur Familie 5 4 (was hier nur beschreibend registriert, nicht aber bewertet werden soll). Damit ist nicht das hinter der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft stehende Anliegen obsolet geworden; es bedarf aber einer anderen Legitimierung. Μ. E. ist die Notwendigkeit eines staatsfreien Raumes von den Grundrechten her zu begründen und ich meine, daß das gerade unter einem demokratietheoretischen Aspekt — Stichwort: individuelle Freiheit — notwendig ist. Was aber hier zu zeigen war, ist, daß sich partizipatorische Demokratieforderungen von ihrem Ansatz her nicht mehr gewissermaßen begrifflich auf den Staat beschränken lassen. Gleichermaßen ist aber auch der Schluß berechtigt, daß solche Forderungen nicht einfach mit einer Kopie der auf der staatlichen Ebene entwickelten Demokratiemodelle eingelöst werden können. 6. Ein spezifisches Problem: Die Verrechtlichung von Partizipation
Die Loslösung der Partizipationsgedanken vom Begriff des Gesetzes weist auf eine spezifische Schwierigkeit von Partizipationsforderungen hin: sie lassen sich nicht in ähnlicher Weise verrechtlichen wie ein Demokratiekonzept, das die „soziale Willensbildung" ausschließlich i m Raster von Gesetz und Gesetzesvollziehung sieht. Gesetze können für Partizipation bestenfalls einen Rahmen abgeben, sie können sie aber nicht in ihrem Kern — der Erfahrung der unmittelbaren Betroffenheit und des dadurch ausgelösten Engagements — erfassen, ja sie sind in Gefahr, dieses für Partizipation charakteristische Engagement zu zerstören 55 ' 5 6 . Andererseits zielen Partizipationsforderungen häufig gar 53
Hollihn, S. 120. Pelinka, P o l i t i k u n d moderne Demokratie, 1976, S. 128 ff. 55 D. Bernfeld, Sagten Sie „Mitsprache"?, F o r u m Europarat 3/1980, S . X V I f . 56 Z u m „Engagement" als zentralen Begriff der Demokratie vgl. insbes. auch J. P. Müller / P. Saladin, Das Problem der Konsultativabstimmung, Berner Festgabe zum Schweizerischen Juristentag 1979, S. 405 ff. 54
15'
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nicht auf formale M i t w i r k u n g an der rechtlich verbindlichen formalen Entscheidung, sondern auf Beteiligung am „materiellen", „eigentlichen" — und das heißt vielfach: auf den außerhalb der formalen Entscheidungskompetenz ablaufenden — Entscheidungsproze/?. Partizipationswünsche können sich insofern vielfach mit Informations-, Anhörungsund (unverbindlichen) Mitspracherechten begnügen 57 , deren Effizienz nicht von einer gesetzlichen Garantie, sondern von einer Offenheit und Bereitschaft der Verwaltung abhängt, die sich ihrerseits nicht einfach gesetzlich anordnen läßt 5 8 . Die besondere Schwierigkeit einer auch auf den Rahmen beschränkten gesetzlichen Regelung von Partizipation liegt darin, den Kreis der Betroffenen richtig abzugrenzen. Denn diese Betroffenheit läßt sich gerade nicht verallgemeinern, sondern wächst und fällt mit dem individuellen Interesse und der individuellen Bereitschaft zum Engagement. Daß hier allerdings die Gefahr von Verzerrungen und Manipulation gegeben ist, liegt auf der Hand und ist bekannt. Das führt zur Kernfrage einer partizipatorischen Demokratiekonzeption: inwieweit kann unmittelbare Betroffenheit zur M i t w i r k u n g an gesellschaftlichen Entscheidungen überhaupt legitimieren? Unmittelbare Betroffenheit schärft den Blick und das Interesse für ein bestimmtes Problem. Das unmittelbar berührte eigene Interesse kann aber zugleich den Blick für die ebenfalls betroffenen Interessen anderer und das aus dieser Summe von Einzelinteressen resultierende Gesamtinteresse verzerren. Hier zwischen dem konkreten und dem allgemeinen Interesse zu vermitteln, bedarf es wahrscheinlich sogar der Rechtsnormen. I I I . Schlußbemerkung Partizipatorische Demokratie ist, wenn man von gesellschaftlichen Utopien absieht, keine Alternative zur parlamentarischen Demokratie 59 * 6 0 > C 1 . Die Gegenwart kann auf Recht und damit auf seine demo57 Einen kritischen Uberblick über die vielfältigen Grade und Abstufungen von Partizipationsforderungen gibt Hollihn, S. 28 ff. 58 Als „ A r t der nicht förmlichen Beteiligung von Betroffenen und/oder Engagierten an staatlichen Entscheidungen" versteht Schuppert, AöR 1977, S. 380, Bürgerinitiativen (als Unterfall von Partizipation). 59 I n diesem Sinn offenbar auch Schmitt Glaeser, Stärkung der politischen Mitwirkungsrechte der Bürger, DÖV 1977, S. 544 ff.; siehe auch T. Oppermann, Das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes, V V D S t R L 33, S. 8 (59); Hans Meyer, ebd., S. 115. 60 Auch aus der Sicht des demokratieinteressierten Bürgers schließen einander Partizipation und repräsentative Demokratie i m Allgemeinen nicht aus, sondern ergänzen einander. Das belegt eine empirische Untersuchung über das Parlamentsverständnis i n Österreich (s. Ucakar, ÖZPW 1980, S. 437:
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kratische Form, das parlamentarische Gesetz, in substantiellem Ausmaß nicht verzichten 62 , davon gibt allein schon der Umfang unserer Gesetzblätter beredtes Zeugnis. Die Grenze der parlamentarischen Demokratie liegt aber i n der — entscheidungstheoretisch erklärbaren — beschränkten Reichweite des Gesetzes. Jenseits des Bereiches, der durch Gesetze nicht gestaltbar ist, liegt der legitime Platz für partizipatorische Demokratiekonzeptionen auch innerhalb eines prinzipiell repräsentativen Demokratiekonzepts à la österreichische Bundes-Verfassung oder Bonner Grundgesetz 63 . Eine zeitgemäße Demokratiekonzeption läßt sich daher nicht auf ein bestimmtes „Modell" reduzieren. Sie muß vielmehr offen sein für verschiedene Formen der Demokratie: repräsentative, plebiszitäre und partizipatorische. Alle diese Formen sind i m übrigen i n der Realität kombinierbar und auch nicht immer exakt voneinander abgrenzbar. Die idealtypische Analyse, wie ich sie hier — von der m i r gestellten Frage her zwangsläufig — vorgenommen habe, darf daher nicht darüber hinwegtäuschen, daß nicht i n der Realisierung eines reinen Modells, sondern i n der Offenheit für verschiedene Ansätze wahrscheinlich die Zukunft der Demokratie liegt.
„Wer mehr Partizipation möchte, dem ist es i n den allermeisten Fällen auch „sehr wichtig", daß er den Nationalrat wählen darf. Besonders ausgeprägt ist diese Parallelität bei jenen Personen, die sich bereits i n irgendeiner Form an Basisinitiativen beteiligt haben."). 61 V ö l l i g absurd u n d unverständlich die Behauptung Ermacoras, Der K o n f l i k t zwischen P o l i t i k und Verwaltung, in: Engelmayer (Hrsg.), Die Diener des Staates (1977), S. 64, ich würde den repräsentativen Grundcharakter der österreichischen Demokratie leugnen, w e i l ich (ÖZPW 1975, S. 445) w i e hier auf bestimmte immanente Grenzen des Repräsentationsmodells aufmerksam gemacht habe. 62 Dazu öhlinger, Das Gesetz als Instrument gesellschaftlicher Problemlösung u n d seine Alternativen, in: Theo ö h l i n g e r (Ges. Red.), Planung der Gesetzgebung, 1981. 63 Ebenso Schuppert, AöR 1977, S. 399 ff.
VERFASSUNG ALS
TABU
V o n H e i n z Schäffer, S a l z b u r g
Vorbemerkung Angesichts des gewählten Themas sind gewiß einige Worte der E r k l ä r u n g von Nutzen, u m zu zeigen, wie sich dieser Beitrag i n den Rahmen des Sektionsthemas „Demokratie und Rechtssetzung" einfügen soll. Der T i t e l ist bewußt pointiert formuliert, u m ein Problemfeld des Verfassungs- u n d Demokratieverständnisses anzureißen. M i t dem Tabubegriff w i r d natürlich keineswegs auf die Begriffe der Völkerkunde oder der Psychoanalyse abgestellt, wie w o h l sich durchaus nachweisen läßt, daß Hans Kelsen die Psychoanalyse Sigmund Freud's nicht n u r über den allgemeinen Zeitgeist kennengelernt hat, sondern m i t Freud i n näheren persönlichen K o n t a k t gekommen ist 1 , und daß die Beschäftigung m i t der Psychoanalyse i n seinem W e r k an mehreren Stellen Niederschlag gefunden hat 2 . Hier w i r d vielmehr v o n dem heute allgemein eingebürgerten weiteren Sprachgebrauch ausgegangen, etwas als tabuisiert (bzw. tabuiert) zu bezeichnen, w e n n es — gewissermaßen als nicht hinterfragbar — v ö l l i g außer Frage gestellt ist. Ideologiekritik h i n gegen sieht ihre Aufgabe gerade darin zu hinterfragen, wo etwas v ö l l i g unkritisch außer Frage gestellt w i r d . Der vorliegende Beitrag geht daher zwei verschiedenen Fragestellungen nach: Z u m einen soll untersucht werden, inwiefern Kelsen m i t seiner Verfassungs- u n d Demokratietheorie enttabuierend gewirkt hat. Z u m anderen soll gefragt werden, welche neuen Tabuierungen sich aus einem vulgarisierten oder zu formalen Verfassungsverständnis bzw. Demokratieverständnis ergeben haben.
I . I n w i e f e r n hat Kelsen enttabuierend gewirkt? Hans Kelsen's V e r d i e n s t ist die E n t h ü l l u n g e i n e r Reihe v o n F i k t i o n e n u n d H y p o s t a s i e r u n g e n i n der Rechtslehre d u r c h eine n ü c h t e r n e u n d d i f f e r e n z i e r t e B e t r a c h t u n g der Rechtsphänomene. 1. Zum Verfassungsbegriff U m noch e i n m a l i m B i l d zu b l e i b e n , k a n n f e s t g e h a l t e n w e r d e n , daß auch T a b u s n i c h t w i r k l i c h u n u m s t ö ß l i c h oder u n a n t a s t b a r sind. G e n a u so v e r h ä l t es sich m i t der Verfassung. A u f der e i n e n Seite w i r d auch 1
Aladar Métall, Hans Kelsen's Leben und Werk, W i e n 1969, S. 40 f. Insbesondere i n seinen Werken: Der soziologische u n d der juristische Staatsbegriff, V o m Wesen und Wert der Demokratie, Gott u n d Staat. 2
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heute noch die Grundidee, eigentlich die Fiktion aufrecht erhalten, daß die Verfassung eine einheitliche und unabänderliche Grundlage, die „lex fundamentalis" des Staatslebens sei, dem Tageshader und Tagesgeschäft entzogen. Auf der anderen Seite pflegt man aber bei den verschiedenen Formen des Ringens um neue Grundentscheidungen durchaus von „Verfassungskampf" zu sprechen. Dieser Verfassungskampf kann je nach Rigidität der Verfassung auf verschiedenen Ebenen geführt werden: i m Parlament, i m Falle des Referendums bzw. Verfassungsplebiszites durch Mobilisierung der Öffentlichkeit oder dann, wenn die Abänderung der Verfassung überhaupt sehr erschwert oder ausgeschlossen ist, durch Verdrängung der verfassungspolitischen Diskussion in die Verfassungsanwendung, die dann unter Umständen zu einer „broad construction" gedrängt sein kann. Klarheit und Entmythologisierung hat Kelsen auf dem Gebiete des Verfassungsbegriffes gebracht, indem er die Verfassung ganz allgemein als Rechtsform der Rechtserzeugung deutete 3 . Sieht man einmal von der als transzendental-logische Bedingung postulierten und später von Kelsen selbst als Fiktion 4 vorausgesetzten Grundnorm ab, so beginnt der Aufbau der Rechtsordnung bzw. der Prozeßrechtserzeugung mit der Einsetzung eines Organs der Rechtserzeugung durch die Rechtsordnung; dies ist die von Kelsen sogenannte „Verfassung i m rechtslogischen Sinn". Die von dem einmal eingesetzten Organ geschaffenen Regeln für das Normerzeugungsverfahren seien dagegen die Verfassung i m positiv-rechtlichen Sinn 5 . Insofern sei jede höhere Norm, die das Verfahren der Erzeugung der niedrigeren regelt, Verfassung im Verhältnis zum Verfahren der rechtsanwendenden Organe. Damit ist der Verfassungsbegriff völlig relativiert 6 , die spezifische Verfassungsfunktion w i r d — bei dieser Formulierung und Sicht der Dinge — jedenfalls i n der Geltungsbegründung gesehen. Da die Verfassung als Dokument aber außer der grundsätzlichen Ermächtigung zumeist auch andere Bestimmungen enthalte, müsse zwischen Verfassung i m formellen und Verfassung i m materiellen Sinn, besser zwischen Verfassungsform und Verfassung unterschieden werden. „Verfassungsform ist ein bestimmtes Verfahren, i n dem eine irgendwie zustandegekommene Verfassung i m materiellen Sinn erzeugt, bzw. abgeändert werden kann. Dieses Verfahren unterscheidet sich von dem gewöhnlichen Gesetzgebungsverfahren i m wesentlichen, wenn auch nicht immer al3 Hans Kelsen , Allgemeine Staatslehre, B e r l i n - Heidelberg - New Y o r k 1925, S. 320 f. 4 Hans Kelsen, Die F u n k t i o n der Verfassung (Schlußvortrag), Verh. 2. ÖJT, Wien 1964, I I / 7 , S. 65 ff. (70 f.). 5 Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 249. 6 Hans Kelsen, in: Verh. 2. ÖJT I I / 7 , S. 70 f.
233
Verfassung als Tabu
lein, dadurch, daß das Zustandekommen eines gültigen Beschlusses, d. i. des verfassungserzeugenden verfassungsändernden Willensaktes an erschwerende Bedingungen geknüpft ist 7 ." So wie die Vorstellung von der Verfassung als Vertrag von Kelsen als naturrechtliche Vorstellung enthüllt worden ist 8 , so ist auch die damit zusammenhängende und aus dieser Vorstellung herleitbare Forderung nach einer einheitlichen abschließenden Verfassungsurkunde nur eine Auswirkung dieser Vorstellung 9 . Sogar die Zweckmäßigkeit einer einheitlichen Urkunde w i r d von Kelsen i m Hinblick auf die i m Laufe der Zeit sich ändernden Bedürfnisse bezweifelt. Auch der gelegentlich i n Verfassungen vorkommenden Ewigkeitsentscheidung oder Unabänderlichkeitsklausel w i r d völlig nüchtern der ihr gebührende Platz zugewiesen: Änderungen solcher Bestimmungen seien dann eben von Rechts wegen nicht zulässig, aber die faktische Abänderungsmöglichkeit steht für Kelsen von vornherein außer Zweifel 1 0 ; damit w i r d jede derartige Verfassungsänderung klar auf dem Wege des Verfassungsbruchs verwiesen. Normalerweise aber sind Verfassungsänderungen bloß erschwerten Erzeugungsbedingungen unterworfen. Typische Formen hierfür sind bekanntlich 1 1 : a) qualifizierte Mehrheiten und/oder b) qualifizierte Anwesenheitserfordernisse; c) manchmal das übereinstimmende organe;
Tätigwerden mehrerer
Staats-
d) eine Sonderform stellt die mehrmalige Beschlußfassung, unter Umständen i n aufeinanderfolgenden Funktionsperioden eines Legislativkörpers dar (vgl. z. B. Kap. V I I I § 15 der Schwedischen Verfassung 197412, wonach für eine Verfassungsänderung übereinstimmende Beschlüsse durch zwei Reichstage erforderlich sind, zwischen denen eine Wahl liegen muß, sowie das Aufschubverfahren bei grundrechtseinschränkenden Gesetzen) ; e) schließlich kann — freilich nur positiv-rechtlich — die entscheidende Willensbildung hinsichtlich einer Verfassungsrevision auch einer besonderen verfassunggebenden Versammlung oder dem Volk überlassen sein. Hingegen ist die Auffassung, daß Verfassungsnormen nur mit Zustimmung der Normunterworfenen abgeändert 7
Ders., ebd., S. 68. Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 250. ö Ders., ebd., S. 253. 10 Ders., ebd., S. 254. 11 Ders., ebd., S. 253. 12 Z i t i e r t nach der v o m schwedischen Reichstag herausgegebenen öffentlichung „Die Grundgesetze Schwedens", Stockholm 1975. 8
Ver-
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werden könnten (Theorie des pouvoir constituant) mangels positivrechtlicher Begründung von Kelsen als eine „naturrechtliche" Behauptung qualifiziert worden. Kelsen hat auch die wesentlichen verfassungspolitischen Motive für die Unangreifbarkeit der Verfassung dargelegt. Sie ist nur relative Unangreifbarkeit nach Maßgabe der Revisionsvorschriften. Vordergründig geht es darum, Stabilität bzw. Stetigkeit der Rechtsentwicklung zu gewährleisten. Der innere Grund — wenngleich er ihn nicht als solchen bezeichnet — liegt entweder in der Festigung der Herrschaft einer bestimmten Gruppe oder aber i m Schutze bestimmter (z. B. nationaler, religiöser oder sonstiger) Minderheiten, wenn deren Interessen einmal verfassungskräftig verankert sind 1 3 . I m Falle als eine Verfassungsänderung an mehrere Beschlüsse, wenn auch nicht unbedingt mit qualifizierter Mehrheit gebunden ist, liegt der Sinn offenbar darin, daß über längere Zeit hinweg ein Basiskonsens für eine solche Regelung vorhanden sein muß. Die politische Funktion der Verfassung (eigentlich des materiellen Verfassungsbegriffs) liegt also, insoweit sie über das rechtslogische Minimum der Einsetzung der zentralen Rechtserzeugungsautorität hinausgeht, in der besonderen Legitimierung oder Determinierung der Machtausübung. Beschränkung der Machtausübung heißt aber vom Standpunkt der Rechtserzeugung: Statuierung von inhaltlichen Schranken für die Rechtserzeugung. 2. Kelsens Demokratietheorie
Hans Kelsen's Demokratietheorie 14 basiert auf den elementaren Ideen und menschlichen Urinstinkten der Freiheit und Gleichheit. Da diese Prinzipien nicht absolut zu verwirklichen seien, stelle die nach dem Majoritätsprinzip organisierte Willensbildung i n der Demokratie die relativ größte Annäherung an die Idee der Freiheit dar. I n diesem Rahmen w i r d auch die Repräsentationsidee als Fiktion entlarvt, die den Parlamentarismus vom Standpunkt der Volkssouveränität legitimieren soll. I m Gegensatz zur seinerzeit herrschenden Auffassung sah Kelsen aber schon am Anfang der 20er Jahre die Demokratie als Parteienstaat, in dem der Gemeinschaftswille als Resultante der Parteiwillen entsteht. Die Parteien erscheinen ihm damit entgegen älteren Auffassungen durchaus als den Staatswillen präformierende Kräfte und folglich nicht mehr als illegitime Phänomene.
13
Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 252. Ders., Allgemeine Staatslehre und insbesondere: Kelsen, und Wert der Demokratie, 2. Auflage, Tübingen 1929. 14
V o m Wesen
Verfassung als Tabu
Wieder liegt das Verdienst der Staatslehre und hier der Demokratietheorie Hans Kelsen's i n der entpersonalisierenden und entmythologisierenden Sicht der Dinge. Denn nur aus der Identifikation des Monarchen m i t dem Staat konnte konsequenterweise die monarchische Unverantwortlichkeit begründet werden. A u f derselben Linie liegt es, wenn heute noch aus der Verkörperung der Volkssouveränität i m Parlament (sogenannte Parlamentssouveränität) i n vielen Staaten die Kontrollfreiheit der Parlamentsakte begründet w i r d . A l l dies sind letztlich nichts anderes als staatsrechtliche Tabuierungen. Wie schon mehrfach hervorgehoben, beruht Kelsen's Demokratievorstellung — die von i h m übrigens ausdrücklich i m Sinne einer Konkur τenzdemokratie m i t der Möglichkeit politischen Wandels verstanden w i r d — des weiteren auf einer grundsätzlich relativistischen Einstellung i m Bereich der Erkenntnis und Moral. E i n Zitat mag dies belegen: „Demokratie schätzt den W i l l e n jedermanns gleich ein, wenn sie auch jeden politischen Glauben, jede politische Meinung, deren Ausdruck j a nur der politische W i l l e ist, gleichermaßen achtet. Darum gibt sie jeder politischen Uberzeugung die gleiche Möglichkeit, sich zu äußern und i m freien Wettbewerb u m die Gemüter der Menschen sich geltend zu machen. Darum hat man nicht zu Unrecht das dialektische, i n Rede und Gegenrede sich entfaltende, die Normerzeugung vorbereitende Verfahren der Volks- wie Parlamentsversammlung als demokratisch erkannt. Die für die Demokratie so charakteristische Herrschaft der Majorität unterscheidet sich von jeder anderen Herrschaft dadurch, daß sie eine Opposition — die Minorität — ihrem innersten Wesen nach nicht n u r begrifflich voraussetzt, sondern auch politisch anerkennt und i n den Grund- und Freiheitsrechten, i m Prinzip der Proportionalität schützt 15 ."
Willensbildung i m parlamentarischen, damit i m weiteren Sinne öffentlichen Prozeß ist bei Kelsen kein höherer, absoluter Wert, sondern steht i m Dienste der Erzielung des für die Demokratie so wichtigen Kompromisses 1S. Ein grundlegendes Problem der Demokratie ist j a die Frage, ob durch Mehrheitsentscheid alles und jedes verfügt werden kann. Kelsen hat eine wesentliche politische F u n k t i o n der Verfassung i m Minderheitenschutz gesehen. U m die F i k t i o n der politischen Identität i n der repräsentativen Demokratie aufrecht erhalten zu können, bedarf es offenbar auch bei Akzeptierung des Mehrheitsprinzips der Außerstreitstellung
bestimmter
Grundwerte
u n d geschützter Posi-
tionen. Dies ist die notwendige Grundlage eines dauerhaften Verfassungskonsenses, ohne welchen auf längere Sicht keine effektive Rechtsordnung möglich ist. Effektivität der Rechtsordnung, wenn auch n u r eine solche i m großen und ganzen (und nicht notwendigerweise h i n 15 10
Ders., Allgemeine Staatslehre, S. 371. Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 63 ff.
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Heinz S c h f f e r
sichtlich jeder einzelnen Norm), ist bekanntlich i m Kelsen'schen Lehrgebäude notwendige Voraussetzung einer positiven Rechtsordnung. Bemerkenswerterweise kennt also Kelsen nicht nur formale, sondern durchaus kratie 17:
materiale
Vorbedingungen
einer
funktionierenden
Demo-
— Er spricht zwar ganz allgemein von den Grund- und Freiheitsrechten, meint aber offensichtlich jene politischen Freiheiten, die — wenngleich Errungenschaften des politischen Liberalismus — verfahrensrechtliche Vorbedingung für rationale politische Argumentation und damit für eine demokratische Meinungs- und Willensbildung sind; er postuliert ferner — eine gewisse soziale Homogenität
und
— schließlich ein Stück politischer Kultur bzw. grundsätzlicher Werthaltung: nämlich Verständigungsbereitschaft (damit sind Grundwerte wie: Toleranz 18 , Fairneß, Solidarität 1 9 , ganz allgemein also Humanität 2 0 angesprochen) — hingegen sei die Klassenkampftheorie keine erkenntnismäßige Einsicht, sondern Ausdruck eines — rational nicht rechtfertigbaren — Willens 2 1 . Kelsen begründet freilich nicht, warum in einem Teilbereich die Grund- und Freiheitsrechte dem einfachen Majoritätsprinzip vorgehen sollen. Dies kann eben nur i m Hinblick auf die zuletzt genannten Grundwerte als Existenzbedingungen einer realen Demokratie, die den Staat letztlich vor dem politischen Zerfall bewahren, begründet werden. Letztlich ist in diesem Zusammenhang auf eine merkwürdige Inkonsequenz in Kelsen's Demokratietheorie hinzuweisen. Grundsätzlich folgt für Kelsen aus der Entscheidung für das Majoritätsprinzip auch die Entscheidung für das Proportionalwahlsystem als stärkste Annäherung an den wahren Volkswillen. Kelsen hat gewisse Gefahren des Proportionalwahlsystems durchaus erkannt: „Hat die Parteibildung innerhalb der politisch Berechtigten eine gewisse Festigkeit erreicht, so daß größere Verschiebungen i n den Stärkeverhältnissen der politischen Gruppen i n absehbarer Zeit nicht mehr zu erwarten 17 Siehe insbesondere: Hans Kelsen, V o m Wesen und Wert der Demokratie, S. 64 ff. 18 Vgl. Otto Busch, Toleranz u n d Grundgesetz. Z u r Geschichte des Toleranzdenkens, Bonn 1967. 19 Vgl. Dieter Grimm, Solidarität als Rechtsprinzip, F r a n k f u r t / M a i n 1973. 20 Karl Wolff, V o m Wesen der Demokratie, Akademische Rundschau 1946/19, S. 2; neuerdings Otfried Höffe, Strategien der Humanität. Zur E t h i k öffentlicher Entscheidungsprozesse, Freiburg - München 1975. 21 V o m Wesen und Wert der Demokratie, S. 66 ff.
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sind, u n d hat sich — was wieder durch das parlamentarische Majoritätsprinzip begünstigt w i r d — direkt oder i n d i r e k t ein Zwei-Parteien-System gebildet, dann birgt das Proportionalverfahren die Gefahr einer gewissen Erstarrung des politischen Systems. Jene politische Gruppe, die über eine, wenn auch n u r geringe M a j o r i t ä t verfügt, bleibt dauernd i n der Regierung, während die andere, trotz ihres starken Einflusses zu dauernder Opposition verurteilt ist. Es fehlt an der Möglichkeit jenes wohltätigen Wechsels i n der Regierung, jenes Schaukelsystems, demzufolge die beiden großen Gruppen einander i n der Leitung des Staates und sohin i n der Verantw o r t u n g ablösen . . , 2 2 ."
Dennoch hält er an der These fest, daß das Proportionalwahlsystem am besten mit dem demokratischen Gedanken harmoniert, denn: „ I m Idealfall der Proportionalwahl gibt es keinen Besiegten, weil es keine Majorisierung gibt 2 3 ." Dies ist leider ganz und gar unhistorisch und unpsychologisch gesehen, und insofern kann man Kelsen auch den Vorwurf nicht ersparen, in eigenen Fiktionen verhaftet zu bleiben.
II. Welche neuen Tabuierungen haben sich aus Kelsens Auffassung und aus der unkritischen bzw. vulgarisierten Übernahme seines Gedankenguts in die Staatspraxis ergeben? 1. Verfassungstheorie und Verfassungspraxis
Hat man bei der Verfassung nur den rechtstheoretischen Aspekt der Ermächtigung i m Auge, so übersieht man die grundlegende Funktion, daß sie den Ansatzpunkt für staatliche Problemlösungen bildet, sei es teils dadurch, daß sie bestimmte Entscheidungen festschreibt, sei es dadurch, daß sie inhaltliche Schranken aufrichtet. Die Verdrängung des Problemlösungsaspektes führt häufig zu einer Blockierung des Aktualitätsbezuges in der Rechtsanwendung und des Reformbewußtseins in der Rechtsvorbereitung. Ein sehr formales Verfassungsverständnis führt so zu ambivalenten Haltungen. Auf der einen Seite entsteht die Tendenz, Beliebiges verfassungskräftig festzuschreiben, also die Tendenz zur Auslieferung der Verfassungsform an das politische Tagesgeschäft. Auf der anderen Seite gibt es gewissermaßen „heilige Kühe", Regelungen, die auch bei evidentem Neuerungsbedarf aus einem falschen Bewußtsein heraus für offenbar unantastbar angesehen werden 2 4 . Letzteres ist nichts anderes als der bekannte Verdrängungsmechanis22
Hans Kelsen, V o m Wesen und Wert der Demokratie, S. 116. Ders., Vom Wesen u n d Wert der Demokratie, S. 59. 24 Heinz Schaff er, Die Interpretation, in: Schambeck (Hrsg.), Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, Wien - Berlin 1980, S. 79. 23
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Heinz S c h f f e r
mus. Bei der Verdrängung von Problemen, die bis zur Tabuierung von Fragesiellungen gehen kann, w i r d meist übersehen, daß i n einer solchen Situation auch das Nichtentscheiden des Verfassungsgesetzgebers de facto eine Entscheidung darstellt. Auf der Ebene der Rechtsanwendung entspricht dem als Analogon die gelegentlich besonders deutlich werdende „Berührungsangst" eines Höchstgerichtes (des österreichischen Verfassungsgerichtshofes) vor Wertungen 2 5 . 2. Zur Kritik am Demokratieverständnis als reines Mehrheitsprinzip 26
Eine K r i t i k am Demokratieverständnis als reines Mehrheitsprinzip ist in neuerer Zeit in der Kollektiventscheidungstheorie 27 und auch innerhalb der modernen Sozialphilosophie 28 entstanden. Die hauptsächlichen Gesichtspunkte können in diesem Zusammenhang bloß referiert werden. Schon Condorcet hat im 18. Jahrhundert gezeigt, daß die Methode der Mehrheitsentscheidungen nicht immer zu konsistenten Kollektiventscheidungen führt. Die neuere Theorie hat darüber hinaus vor allem folgendes herausgefunden: Es gibt das Paradoxon, daß bei entsprechender Präferenzstruktur das Ergebnis eines Mehrheitsentscheides unter Umständen von der Reihenfolge der Abstimmung abhängt. Es ist aber auch denkbar, daß es aus Gründen strategischen Abstimmungsverhaltens zu Präferenzverfälschungen kommt. Schließlich darf man nicht verkennen, daß immer auch ein „Kuhhandel" möglich ist. A l l dies sind gewiß keine Gründe, die Demokratie vom sozialphilosophi*chen Standpunkt grundsätzlich abzulehnen, doch müßten für die genannten Konstellationen besondere Verfahrensvorkehrungen gefunden werden, die eine Verfälschung bzw. Irrationalität der Entscheidungen verhindern. Ein schwerer wiegender Einwand gegen die Demokratie scheint in folgendem zu liegen. Insoweit bei demokratischen Entscheidungen Entscheidungsträger und Träger der Entscheidungsverantwortung auseinanderfallen, kann es dazu kommen, daß sich eine Mehrheit von Gruppen auf Kosten einer Minderheit einigt. Schwächen i m Hinblick 25 Z u m Begriff: Sigmund Freud, Totem u n d Tabu, S. 37. Zur österreichischen Judikatur: Bernd-Christian Funk, Das System der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung. Schriftenreihe des IFÖ Band 17, W i e n 1980, S. 18. 26 Z u diesem ganzen Bereich Christian Seidl, Plädoyer für eine Enttabuierung des Demokratieverständnisses, Wirtschaftspolitische Blätter 1981/1, S. 86 ff., bei welchem die wesentlichen Argumente zusammengetragen sind. 27 Kenneth Arrow, Social Choice and I n d i v i d u a l Values, 2. Auflage, New Haven - London 1963. 28 Friedrich Hayek, The Constitution of Liberty, London 1960.
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auf die Rationalität des demokratischen Entscheidungsprozesses können sich vor allem aus folgenden Gründen ergeben: — Wenn die eigene Position des Entscheidungsträgers kaum tangiert wird, werden Entscheidungsgrundlagen unter Umständen nicht mit der nötigen Sorgfalt erarbeitet. — Es können Entscheidungsprobleme auftreten, die eine intellektuelle oder fachliche Überforderung darstellen. — Oft fehlt eine Repräsentanz der Betroffenen oder ihrer Argumente i m Entscheidungsprozeß. — Auch in einer grundsätzlich funktionierenden Demokratie gibt es — soziologisch betrachtet — Bereiche, in denen sich dem Demokratiegedanken widersprechende Strukturen erhalten (z. B. Klubzwang, autoritäre Enklaven). — Wenn Mehrheitslegitimation statt Qualifikation als Auswahlkriterium der Entscheidungsträger dominant wird, besteht die Gefahr des Leerlaufens der Verantwortung. Es ist letztlich die Rousseausche Vorstellung von der Identität der Entscheidungsträger und der Träger der Entscheidungskonsequenzen, die zu der vulgarisierten Vorstellung führt (führen kann), daß demokratische Entscheidungen keinerlei Kontrollen bedürfen. Dies ist auch die eigentliche Wurzel der heute gängigen Tabuierung demokratischer Entscheidungsfindung. Ideologiekritisch ist der Berufung auf das Mehrheitsprinzip entgegenzuhalten, daß es eben für sich allein keine Begründung dafür abzugeben vermag, daß die Vorteile der Majorität die Nachteile der Minorität überwiegen. Dezision enthebt in der Demokratie nicht von der Notwendigkeit der Diskussion, denn: „Das Ausfindigmachen der fundamentaleren Interessen ist das Grundprinzip der materialen Rationalität, das die Geschichte des demokratischen Verfassungsstaates bestimmt 2 9 ." Als Abhilfen gegen die erwähnten Schwachstellen werden u. a. besonders empfohlen: — verstärkter Minderheitenschutz, — differenzierte Zusammensetzung von Entscheidungskollegien, — Stärkung der Rolle der Argumentation bei demokratischer scheidungsfindung,
Ent-
— Aufhebung des Klubzwangs und insbesondere — (deutlichere) Trennung von verfassungsgebender und einfacher Gesetzgebung. 2a
S. 46.
Martiri
Kriele,
Einführung i n die Staatslehre, Reinbek / Hamburg 1975,
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Heinz S chaffer
A l l dies können 3 0 nur instrumentale Verbesserungen sein, mit denen eine grundlegende Enttabuierung des auf die reine Majoritätsentscheidung reduzierten Demokratieverständnisses einhergehen müßte. Dies aber hängt letztlich wieder mit jenen Werthaltungen zusammen, die bei Kelsen's Demokratietheorie in sehr sublimer Form anklingen, und die bereits oben als Existenzbedingungen einer nicht bloß formalen Demokratie gekennzeichnet worden sind.
30
Auch nach der Auffassung von Christian
Seidl, Plädoyer.
DER BEDEUTUNGSWANDEL DES GESETZES Von Robert Weimar, Siegen I. Rechtsnormwandel: Gegenstand oder Fremdelement der Rechtstheorie? Eine rechtstheoretische Analyse des für den gesamten Bereich des Rechts und der Rechtspraxis zentralen Phänomens des „Bedeutungswandels des Gesetzes" sieht sich — wenn ich dies richtig deute — zunächst mit einem Hindernis konfrontiert. Gemeint ist die vor allem bei Hans Kelsen und i n seiner Nachfolge bei einigen Vertretern der Wiener Rechtsschule zu beobachtende Einstellung, daß das Recht i n seiner „Anwendung" — zumal die mit dem Argumentationstyp des Bedeutungswandels ebenso vielfältig wie uneinheitlich operierende Rechtspraxis — als eine rechtstheoretisch nicht interessierende Erscheinung zu betrachten und damit weitgehend, wenn nicht ausschließlich, als Problem außerhalb der Theorie des Rechts zu behandeln sei. Daß es sich dabei insoweit um einen getrennter Untersuchung zugänglichen Aspekt handelt, w i r d niemand bestreiten. Dieser Aspekt kann indes nicht i n einer Weise verabsolutiert werden, daß der Bedeutungswandel der Norm und der ihm zugrunde liegende Prozeß praktischer Rechtsfindung der rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung und damit der Rechtstheorie als legitimes Erkenntnisobjekt entzogen sei. Nur so läßt sich jedenfalls erklären, daß bestimmte Erscheinungsweisen des rechtlichen Normenwandels schon bislang und sogar überwiegend von rechtswissenschaftlicher Seite untersucht und i n einer Fülle von Veröffentlichungen insbesondere zivil- und verfassungsrechtlicher A r t dargestellt wurden 1 , wenngleich dieser Wandel selbst und seine Impli1
Aus der k a u m noch überschaubaren Fülle der Stellungnahmen seien einige wenige angeführt, die jeweils weiterführende Hinweise geben: Bettermann, Die Unabhängigkeit der Gerichte u n d der gesetzliche Richter, in: Bettermann / Nipperdey / Scheuner, Die Grundrechte, Bd. 3 2. Halbband, B e r l i n 1959, S. 523 ff.; Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem, B e r l i n 1960; Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, Darmstadt 1975. Vgl. auch den Sammelband v o n Sonnemann, Wie frei ist unsere Justiz? München 1969, insbes. dort den Beitrag von Rottleuthner, S. 48 ff. Umfassend auch Maihof er, Die Bindung des Richters an Gesetz u n d Recht, A n n . Univ. Sarav. 8 (1960), S. 5 ff. Zusammenfassend u n d kritisch gegenüber „modernen" Ansätzen Lorenz, Richtiges Recht, München 1980, S. 150 ff. Rechtstheoretisch grundlegend Harenburg / Podlech / Schlink (Hrsg.), Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung, Darmstadt 1980. 16 R E C H T S T H E O R I E , B e i h e f t 4
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Robert Weimar
kationen i m wesentlichen vor dem Hintergrund des herkömmlichen juristischen Entscheidungsverständnisses — nämlich der Entscheidung „aus dem Gesetz" — gesehen werden, bisher nirgendwo aber zu einem weiterführenden theoretischen Ansatz entwickelt worden sind. Dieser Befund, der angesichts der inzwischen zunehmend etablierten Rechtssoziologie einerseits wie auch der Fortschritte der Rechtslogik andererseits einigermaßen erstaunlich ist, überrascht allerdings eher weniger als die von rechtstheoretischer Seite selbst bisher nicht einmal nahegelegte Forderung nach einer weiterführenden Untersuchung des Wandels der Rechtsnorm als Folge der veränderten Funktion des Gesetzes und der richterlichen Tätigkeit, deren Erforschung — weil angeblich metajuristischer A r t — nicht oder doch nur weniger zu den (traditionellen) Erkenntnisinteressen der Rechtswissenschaft gerechnet wird. M i t dieser Feststellung, die i m Grunde nur einen Fall des sehr viel allgemeineren Tatbestands beinhaltet, daß nämlich ein Problemkreis kaum auf die von einem einzigen Wissenschaftsbereich gezogenen Reviergrenzen 2 beschränkt bleibt, erscheint indes wenig gewonnen. Wichtiger sind folgende Gesichtspunkte: daß die Perspektive einer Wissenschaft, die immer eine primär arbeitsteilige ist, zwar niemals die Ganzheit einer Realität erfaßt, daß aber die Untersuchung eines Phänomens, wie das des Normenwandels, mit Unterstützung auch durch Kategorien anderer Wissenschaften, wie z. B. der Gesellschafts-, Politik» oder der Wirtschaftswissenschaften, legitim oder gar notwendig ist, und weiter, daß der Rechtswissenschaft die Analyse des Normenwandels nur gelingen kann, wenn die Bedingungen konkreter gesellschaftlicher Konstellationen, insbesondere die entscheidungssteuernden Determinanten richterlichen Handelns, aus dieser Analyse nicht eliminiert werden und die Aussagen nicht auf dogmatisch-normative Gehalte verkürzt werden, Fragen also, für die eine das traditionelle juristische Feld transzendierende Untersuchung des richterlichen Umgangs mit dem Gesetz unter den Prämissen sozialen Wandels offen sein muß und die eine grundlagenorientierte Rechtstheorie nicht abweisen oder gar ignorieren darf. A n dieser Kennzeichnung rechtstheoretischer Erkenntnismöglichkeit des rechtlichen Normenwandels zeigt sich bereits, daß dieser primär 2 Weinberger, Logische Analyse i n der Jurisprudenz, B e r l i n 1979, S. 108 hält bereits jede Betrachtung des Rechts für „juristisch", die zum Verständnis des Rechts, zur E r k l ä r u n g seines Wesens und seiner gesellschaftlichen Rolle führe. Die Beziehungen zwischen Recht u n d Gesellschaft seien „ j u r i s t i sche Fragen" (S. 109). — Es wäre zu wünschen, daß sich die rechtswissenschaftlichen Forschungsbemühungen dabei so spezialisieren, daß die Zusammenarbeit, die für die Problemlösungen jeweils erforderlich ist, i m Rahmen der Rechtswissenschaft selbst erhalten bleibt; so Noll, Gesetzgebungslehre, Reinbek 1973, S. 67.
Der Bedeutungswandel des Gesetzes
243
nur aus seiner Entstehung erklärt werden kann, die ihrerseits von Wechselbeziehungen zwischen gesellschaftlichen Strukturen einerseits, Gestaltung und Funktion des Rechtsstabs andererseits abhängt. Es geht dabei i m wesentlichen u m die Frage, welche Bedingungen es sind, die ohne ausdrückliche Änderung der Vorschriftenbasis — also des herkömmlichen Handlungsfeldes der „Gesetzesanwendung" — eine A n passung des Rechts an die sich wandelnden Verhältnisse zulassen und konstituieren. Dabei bietet sich — soviel sei vorweggenommen — i n erster Linie nicht der von der Inhaltlichkeit des Rechts und seines Kontextes abstrahierende Reduktionismus der Reinen Rechtslehre an, sondern ein weniger selbstgenügsamer Ansatz, der letztlich nicht ohne Bezug auf eine soziologisch informierte Theorie des Rechts den intendierten Erkenntnisfortschritt auch für den hier anvisierten Untersuchungsgegenstand zu liefern vermag. I I . Gesellschaftlicher Wandel, richterliche Normanpassung und Rechtstheorie Bevor ein solcher Ansatz aufgegriffen werden kann, sei kurz dargestellt, wie die Hervorbringung von durch gesellschaftlichen Wandel induziertem Richterrecht und damit gewissermaßen als Prototyp: der richterlichen Innovationen gesehen und thematisiert werden kann. Dies wiederum kann nicht geschehen, ohne auf den Zusammenhang und die Funktion von „Gesetz" und „Gesetzesanwendung" i m richterlichen Entscheidungsprozeß als maßgeblichen Basisfolien für die Analyse der Wandlungsphänomene i m Recht einzugehen. Die Vorstellung, der Richter sei allein dem „Gesetz" und dessen Entscheidungsregeln „unterworfen", enthielt von Anfang an auch den Gedanken, daß der Richter andere als gesetzliche Weisungen nicht befolgen dürfe. Diese Wendung der Formel verdeutlicht, daß die bürgerliche Gesellschaft in ihrer staatstheoretischen Konzeption das „Gesetz" zum Potentaten bestellt hatte — nicht etwa den Richter 3 . Konnte man hiervon ausgehen, dann schien die Rechtsanwendung vor „Verunreinigungen" sowohl durch externe Einflüsse als auch durch die Subjektivität des Entscheiders und die Gefahren seiner Emanzipation gesichert. Die so angeleitete Entscheidungsfindung durch gesetzliche Determinierung des Entscheidungsinhalts schien die unmittelbare Herrschaft des Gesetzes zu garantieren. Dieser Schein trog. Wenigstens tendenziell gehört zu den Effizienzbedingungen des damit angesprochenen Justizsyllogismus auch ein möglichst „lücken3
16*
Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S. 68.
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loses" Rechtssystem4. Kann ein solches System, an dessen Etablierung der Positivismus des 19. Jahrhunderts vergeblich arbeitete, nicht geschaffen werden, muß bei Änderung gesellschaftlicher Verhältnisse nach konsequentem „Bindungs"-Denken entweder das Gesetz mit seinem herkömmlichen Regelungsinhalt bemüht oder auf den Gesetzgeber gewartet werden. Eine auf diese Prämissen gegründete Handlungsanleitung fungiert angeblich als sicherer Garant dafür, daß der Richter das Gesetz nicht erfindet, sondern findet. Gegen die durch Gesetzesbindung abgesegnete „Objektivität" richterlicher Rechtsfindung inszenierte die Freirechtsbewegung u m die Jahrhundertwende gewissermaßen eine erste juristische „Fachrevolution", die inmitten einer scheinbar uneingeschränkten Herrschaft von Gesetzespositivismus und Begriffsjurisprudenz gegen die resignierenden Überzeugungen den langverdrängten Gedanken an die weder durch Gesetz noch durch den formalisierten Einfluß der Methode aufhebbare Freiheit des Rechtsanwenders wieder hervorholte 5 . Das Freirecht konnte die Fundamente von Gesetzespositivismus und Begriffsjurisprudenz zwar weitgehend relativieren, nicht jedoch überwinden oder gar beseitigen. Der Justizsyllogismus überstand alle Krisen des abstrakt-generellen Gesetzes ebenso wie den Zusammenbruch der positivistischen Ideologie vom „geschlossenen" Rechtssystem und die zunehmende Einsicht, daß es eine verbindliche Handlungstheorie nicht geben könne. Doch lebt der Justizsyllogismus noch heute und muß sich — inzwischen allerdings eher verzagt — vom Mythos der Gesetzesbindung nähren. Prüfstein in dieser Auseinandersetzung ist der Bedeutungswandel des Gesetzes. Er scheint das „Gesetz" über weite Strecken nicht nur ergänzt, sondern abgeändert, ins Gegenteil gedreht oder schlicht verschluckt zu haben. Die frühe Erkenntnis Wieackers, daß das heute geltende Privatrecht, insbesondere seine allgemeinen Lehren und das Schuldrecht, aus dem Gesetz nicht mehr ablesbar seien 6 , ist heute fast schon eine Binsenweisheit 7 , die freilich immer noch nicht allerorts ein4
Ders., ebd., S. 69. Vgl. dazu u. zum Folgenden Simon , ebd., S. 70. 8 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1952, S. 307 f. — Die Umgestaltung des staatlichen Rahmens v o m liberalen zum sozialen Rechtsstaat scheint (auch) eine vorgefundene Neuorientierung darzustellen, die durch die Verfassung (Art. 20 I, 28 I GG) lediglich legitimiert wurde; i n entsprechender Weise w i l l Wieacker, Willenserklärung u n d sozialtypisches Verhalten, in: Göttinger Festschrift für das O L G Celle, Göttingen 1962, S. 263 ff. (284 f.) die Rechtsprechung zu den Vertragsverhältnissen aus sozialtypischem Verhalten an der Sozialstaatsklausel legitimieren (um sie zugleich durch diese zu begrenzen). 7 Vgl. dazu bereits Llewellyn, Eine realistische Rechtswissenschaft — der nächste Schritt, in: Hirsch / Rehbinder, Studien u n d Materialien zur Rechts3
Der Bedeutungswandel des Gesetzes
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gestanden wird. Die „objektive" Auslegungsdoktrin hatte nämlich suggerieren können, daß die vom Richter dem Gesetz „entnommenen" Wertungen und Regeln in diesem bereits — in geheimnisvoller V/eise — „enthalten" seien 8 . Der Hermeneutik nahestehende Juristen pflegen diesen Sachverhalt mit dem „überschließenden Sinn eines Geisteswerkes" (z. B. Coing) zu erklären. Aber auch wer Deutungen, die an einer Entfaltung der Rechtsidee orientiert sind (z. B. Larenz), bevorzugt, greift immerhin zu der Vorstellung, daß das Gesetz nicht nur klüger sein könne als seine jeweiligen Ausleger, sondern sogar als diejenigen, die das Gesetz geschaffen haben (statt allein auf die Klugheit der Gesetzesanwender zu rekurrieren). Mußte es schon bei diesem Stand der Dinge schwerfallen, den „gefundenen" Regeln die Qualität einer richterlichen Eigenschöpfung abzusprechen, blieb allerdings bis heute einigermaßen unklar, wie die nun in den Rang von „Rechtskonstitution" erhobene Rechtspraxis und deren Handeln i m einzelnen analysiert und erklärt werden können. Daß hier eine genuine, bislang allerdings unerfüllte Aufgabe der Rechtstheorie liegt, sollte von niemand mehr bestritten werden. Wird die gegenwärtige Situation richtig gedeutet, teilen sich heute Gesetz und Richteramt die Funktionen der Rechtsbeschaffung, nachdem sich dies schon längst in der nüchtern geprägten Wendung vom „Richter als (Ersatz-)Gesetzgeber" praktisch manifestiert hat. Damit w i r d wenigstens die wissenschaftlich gebotene Deskription der richterlichen Tätigkeit ermöglicht und darüber hinaus das Problem des i m Grunde gesellschaftsgestaltend handelnden Richters i n einer Weise bezeichnet, daß es sachgemäß analysiert werden kann. Soziologie, K ö l n - O p l a d e n 1967, S. 54 f f. (insbes. S. 66 f., 73 ff.); es handelt sich hierbei u m die Ubersetzung eines erstmals 1930 veröffentlichten A u f satzes. — Eher „populistisch" u n d gewiß auch anders zum „ l a w i n action" Zippelius, Einführung i n die juristische Methodenlehre, 3. A u f l . München 1980, S. 16 ff. — Daß das Gesetz k e i n anlegbarer „Zollstock" ist, ist i m ü b r i gen heute, bei allen Differenzen i m Detail, weitgehend unbestritten; stellvertretend für viele vgl. Larenz, Richtiges Recht, S. 179; Zippelius, Einführung i n die juristische Methodenlehre, S. 28 f. u. 32 ff. Andererseits Evers, Der Richter u n d das unsittliche Gesetz, B e r l i n 1956, insbes. S. 107, der meint, der Richter müsse auch eine „sittenwidrige Norm" seiner E n t scheidung zugrunde legen; die Gesetzesbindung hindere den Richter daran, seine Gewissensentscheidung den Parteien „aufzudrängen". Hiergegen vor allem Marcie, V o m Gesetzesstaat zum Richterstaat, Salzburg 1957, S. 244, der i m übrigen betont, daß der Gesetzgeber „ v o n seiner fachlichen u n d moralischen Qualität v i e l eingebüßt hat, u n d daß die Substanz n u r mehr bei der D r i t t e n Gewalt aufbewahrt ist". Dem Richteramt gehöre die „politische Z u k u n f t " (S. 248). Diese Ansicht w i r d indes n u r vage untermauert, w e n n es heißt: „Der Richter entdeckt, was schon gegeben ist . . . Die Macht geht v o m Rechte aus." Ebd., S. 250. Unerreicht demgegenüber nach w i e vor die Präzisierung des sogenannten Naturrechts als „Recht des Rechts" bei Max Weber, Rechtssoziologie, Neuwied 1960, S. 264 ff. u. passim. 8 Zutreffend Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S. 107.
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Was dabei den Bedeutungswandel der Rechtsnormen angeht, w i r d er — je nach dem Standpunkt der Beurteiler — bald als strukturell notwendig, bald als systemwidriges Übel empfunden, allgemein aber — wie das Richterrecht selbst — als ein wohl unausweichliches Signum zeitgenössischer Rechtspflege angesehen9. Die Brisanz der Thematik w i r d freilich von der juristischen Methodenlehre wie der Rechtstheorie heruntergespielt. Es fällt offensichtlich nicht leicht, einzugestehen, daß das Phänomen des ohne Wortlautänderung eintretenden Normenwandels sämtlichen Vorstellungen, die beim Kampf u m die „Herrschaft des Gesetzes" Pate gestanden haben, zuwiderläuft, wenn das „Gesetz" i n Abhängigkeit zu sozialem, wirtschaftlichem oder kulturellem Wandel steht und erst durch die dieses Faktum berücksichtigenden judiziellen Entscheidungen geformt w i r d 1 0 . Auch eine — damit längst überholte — Gewaltenteilungsdoktrin kann eine „Gewaltenbalance" zwischen judiziellem Gesetzesvollzug und regelgebender Normsetzung nicht mehr aufrechterhalten, wenn Legislative und Judikative sich i n der Person des Richters treffen 1 1 . Von „Bindung" läßt sich hier ebensowenig reden wie von „Anwendung", wenn der subsumierende „Vernunftakt" (Simon) i n der normstiftenden und gesellschaftlich abhängigen Dezision variabel wird. Der Eindruck herrscht vor, daß dem subjektiven Belieben der Richter zu weite Grenzen gezogen sind und daß man dagegen hilflos ist. Schlagworte wie „Justizstaat", „Richterstaat", „Justizialisierung des Staates", „bevormundende Richtermacht" (Esser), „Usurpation" (Forsthoff), „ H y pertrophie der Justizstaatlichkeit" (v. Husen) dienen seit langem dem Ausdruck der Klage, daß die Schranken der Richtermacht sich zunehmend ausweiten. Die Einsicht, dagegen so gut wie ohnmächtig zu sein, verleiht der juristischen Methodendiskussion das Pathos eines verbissen präsentierten „Dennoch" 12 . 9
Ders., ebd., S. 9. Richtig ders., ebd. 11 Vgl. ders., ebd. 12 Vgl. Ehmke, Wirtschaft u n d Verfassung, Karlsruhe 1961, dessen detaillierte Ausbreitung der Rechtsprechung des Supreme Court zur Wirtschaftslenkung i n erster L i n i e den Sinn hat, die Folgen richterlicher Anmaßung u n d die „befreiende W i r k u n g " richterlicher Zurückhaltung zu dokumentieren. A u f deutsche Verhältnisse übertragen fordert er, daß das B V e r f G lediglich einen gewissen äußeren Rahmen abstecken dürfe, sich i m übrigen aber aus den wirtschaftspolitischen Entscheidungen des Parlaments heraushalten solle. Die Forderung nach richterlicher Zurückhaltung dehnt Ehmke i m p l i z i t über den Bereich der Wirtschaftsregulierung aus u n d schränkt sie dann n u r m i t Hilfe der „preferred-position" -Doktrin wieder ein. — Z u m Problem der Richtermacht eingehend Forsthoff, Die U m b i l d u n g des Verfassungsgesetzes, in: Festschrift für C. Schmitt, B e r l i n 1959, S. 35 ff.; ders., Rechtsstaat oder Richterstaat, München 1970; ders., Der Staat der Industriegesellschaft, 2. A u f l . München 1971. — Forsthoff u n d Ehmke stehen repräsentativ für zwei staatsrechtliche Traditionen, die beide aus verschiedenen 10
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Von Interesse ist dabei besonders der — vermeintlich — determinierende Einfluß der einzelnen handlungsanleitenden Vorschläge: deren Ineffektivität auf den Rechtsfindungsvorgang. Der „blinde Fleck" in bezug auf das Soziale, auf die Sachbestimmtheit in der Jurisprudenz hatte uns schon in der Reinen Rechtslehre eine Rechtstheorie sozusagen ohne Recht beschert. Daneben haben w i r jetzt funktionalistische Analysen (z. B. Luhmann) und wissen sogar, woher die Richter kommen (z. B. Kaupen, Peuckert). Ausgespart blieb indessen überall die Frage, wie die Richter auf Wandlungen in der Gesellschaft reagieren und zu ihren Urteilen gelangen und — davon sehr abhängig — ob w i r überhaupt noch mit einem der Rechtswirklichkeit angemessenen Rechtsbegriff heute arbeiten. I I I . Normenwandel zwischen Auslegung und Fortschreibung des Rechts Wenn Rechtsnormen so gestaltet sind, daß ihr Regelungsinhalt sich für die in der Rechtsgemeinschaft vorherrschenden Auffassungen und Wertungen sozusagen von Hause aus offen hält (z. B. Treu und Glauben, unbillige Härte, verkehrserforderliche Sorgfalt), wenn es sich also um unbestimmte Rechtsbegriffe oder generalklauselartige Umschreibungen handelt, bei denen der Rechtsanwender den Norminhalt im einzelnen konkretisieren muß, t r i t t das Problem des Bedeutungswandels der Norm nicht auf. Derartige Normen haben eine die Veränderung der λ/erhältnisse überdauernde Struktur 1 3 . Genauer: Ihr hoher semantischer Allgemeinheitsgrad setzt einen Wandel der technischen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Erscheinungen immer schon voraus. Von solchen Normen, die auf einen Wandel der Verhältnisse geradezu angelegt sind, ihn voraussetzen, von ihm selbst also unabhängig sind, soll hier nicht die Rede sein. Die Frage, ob es einen Bedeutungswandel des Gesetzes gibt, t r i t t vielmehr erst auf, wenn es sich um Rechtsnormen handelt, deren Inhalt der (historische) Gesetzgeber nicht flexibel gestaltet, sondern i n einer Motiven einer Übermacht der Richter mißtrauen. Vgl. auch Lamprecht / Malanowski, Richter machen Politik, F r a n k f u r t / M . 1979; ferner — immer noch beeindruckend — Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, Tübingen 1968. 13 Anders Larenz, Der „Bedeutungswandel" der Rechtsnormen u n d seine Berücksichtigung i n der Rechtsprechung, DRiZ 1959, S. 306. Larenz meint, derartige Normen (Generalklauseln) unterlägen „hinsichtlich der aus ihnen — durch Auslegung u n d K o n k r e t i s i e r u n g ' — zu gewinnenden konkreten Entscheidungsmaximen einem gewissen Bedeutungswandel". Larenz verwechselt hier den Bedeutungswandel m i t dem Faktenwandel. Z u m Wandel der „Normsituation" vgl. auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl. München 1979, S. 338 ff.; zur „ Z e i t s t r u k t u r " des Rechts ebd., S. 124 f., 301, 304 f.
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bestimmten Richtung für „dauernd" festlegt und deren „Anpassungsspielraum" er dem Wandel der Verhältnisse damit gerade zu entziehen oder doch kontrafaktisch zu stabilisieren sucht. Liegt es in der Regelungsaufgabe des Gesetzes als seiner Grundfunktion, Verhältnisse in bestimmter Weise zu ordnen, so scheint ein Bedeutungswandel mit dem „gewöhnlichen" Begriff des Gesetzes nicht nur schwerlich vereinbar, sondern von vornherein durch das Raster dieses Gesetzesbegriffs hindurchzufallen, es sei denn, man beschränkt den Bedeutungswandel darauf, daß sich die i m Normtext verwendeten sprachlichen Zeichen selbst i n ihrer Bedeutung ändern, und geht damit allen übrigen Schwierigkeiten aus dem Wege. Rechtstheorie als Grundlagenforschung des Rechts steht hier folgenden Fragen gegenüber: Kann sich ein Gesetz als solches überhaupt ohne Zutun seines Urhebers ändern? Verbieten nicht Rechtssicherheit, Vertrauen und Kontinuität der Gesetzgebung, einen Wandel des Gesetzes durch außerhalb des historischen Willens des Gesetzgebers liegende Umstände anzunehmen? Wäre hier — bejahendenfalls — nicht die Folge, daß der von dem (historischen) Gesetzgeber intendierte Zweck und damit die „Idee des Gesetzes" letztlich relativiert, wenn nicht preisgegeben würde? Inwieweit kann der Rechtsanwender, insbesondere der Richter, hier eine innovatorische Funktion übernehmen, die — klassischerweise — dem Gesetzgeber zukommt? Wenn eine Rechtsanwendung, deren Richtigkeit bislang als unbestritten gelten konnte, deshalb nicht mehr konsensfähig ist, weil das Gesetz infolge bestimmter, zwischenzeitlich veränderter Umstände anders verstanden w i r d als bisher 1 4 , stellt sich die Frage, ob dieser (zunächst) „außerhalb" der Norm registrierte Wandel diese auch selbst zu ergreifen vermag und — wenn ja — wie ein solcher Mechanismus zu erklären ist. Dieses Problem w i r d i n der Rechtstheorie, soweit sie sich mit dem Phänomen des „Bedeutungswandels" überhaupt befaßt, bisher weitgehend unrichtig gesehen, geschweige zutreffend erklärt, soweit es nicht — der Verdacht liegt immer noch nahe — als „soziologisch" und damit als nicht juristisch implizit abgetan oder jedenfalls beiseite gelassen wird. Der Zugang zum Phänomen des Bedeutungswandels einer Rechtsnorm liegt in einer zweifachen Erkenntnis: einmal darin, daß die Gesetze „nicht isoliert, sondern nur i m Zusammenhang der ganzen 14 Nicht gemeint sind also die Fälle, i n denen die bisherige A n w e n d u n g des Gesetzes aufgrund weiterer juristischer „Erkenntnis", jedoch ohne V e r änderungen i m Normbereich als unrichtig, eine andere Gesetzeshandhabung nunmehr als die (von Anfang an) „richtige" bezeichnet w i r d ; der m i t einer solchen Änderung der Praxis assoziierte „Wandel der (als maßgeblich geltenden) Bedeutung des Gesetzes" (Larenz) ist nicht ein Bedeutungswandel, der das Gesetz betrifft. Hier korrigiert sich der Rechtsstab lediglich selbst. Fälle dieser Praxisänderung sind hier nicht Gegenstand meiner Analyse.
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Rechtsordnung gelten können" 1 5 , zum anderen darin, daß sie „zu ihrer Zeit i m Hinblick auf bestimmte Verhältnisse, die einer Regelung bedurften, geschaffen worden sind" 1 6 , daß sich diese Verhältnisse inzwischen jedoch grundlegend geändert haben. Vorausgesetzt ist dabei, daß eine zunächst verständige Auslegung mit der Zeit sozial inadäquat, sach- oder zweckwidrig usw. und darum unverständig wird. Der damit skizzierte Sachverhalt w i r d gemeinhin m i t „Bedeutungswandel der Norm" etikettiert, was jedoch den Vorgang, um den es geht, eher verdunkelt, als einer Klärung näherbringt. Nicht hinreichend problematisiert w i r d insbesondere die Frage, welches real überhaupt der Gegenstand des Wandels ist: die außerhalb des Gesetzes liegenden, sich ändernden Umstände (sozialer, technischer Wandel usw.), die Anschauung der Rechtsgemeinschaft bzw. des Rechtsanwenders (insbesondere der Rechtsprechung), Sinn oder Bedeutung des Gesetzes selbst, die „Auslegung" des Gesetzes, bestimmte Zusammenhänge zwischen diesen Faktoren oder vielleicht einzelnen von ihnen. Wer als letztes Ziel der Rechtsgewinnung die Erkenntnis des „empirischen" Willens des Gesetzgebers (i. S. einer streng „subjektiv" orientierten Auslegungsdoktrin) ansieht, stößt zum Problem des Normenwandels erst gar nicht vor: der Wille des Gesetzgebers ist hier allein der i n der Vergangenheit liegende und daher später nicht mehr „wandelbare" Gesetzgebungsakt und die in diesem repräsentierte inhaltliche Normierung. Der Bedeutungswandel läßt sich hier allenfalls um den Preis einer Relativierung bzw. Uminterpretation des „historischen" Gesetzgeberwillens unterbringen, womit die subjektive Theorie i m Grunde aber bereits verlassen ist. „Der Inhalt des rechtlichen Wollens", verkündete apodiktisch schon Stammler 1 7 , „aus alter Zeit zu uns gekommen", könne in der Gegenwart nur Geltung beanspruchen „als ein Wollen dessen, der zur Zeit Recht setzt". Eine solche Annahme, die den früheren „wirklichen" Gesetzgeberwillen durch einen hypothetischen Willen des Gegenwartsgesetzgebers ersetzen möchte, ist als Erklärung für einen Bedeutungswandel ungeeignet. Immerhin zeigt ein solcher Versuch, auch aus subjektivistischer Auslegungsperspektive den historischen Willen des Gesetzgebers irgendwie gegenwartsnah zu gestalten. Die „objektive" Auslegungsdoktrin hat es hier nur scheinbar einfacher. Sie versucht, eine „gegenwartsbezogene" Auslegung zu ermöglichen, die den Wandel der Verhältnisse berücksichtigt; sie erklärt aber nicht, inwiefern dem Wandel bestimmter Verhältnisse eine Verände15
Larenz, DRiZ 1959, S. 307. Ders., ebd., S. 306. 17 Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, 2. Aufl. Halle a. d. S. 1923, S. 617. 16
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rung gerade auch der Norm selbst entspricht; auch gibt sie nicht die Voraussetzungen an, unter denen ein Bedeutungswandel anzunehmen ist. Es scheint fast so, als sei der Bedeutungswandel des Gesetzes für die Spielarten der objektiven Auslegungskonzeption i m Grunde nicht einmal ein Problem. Es dürfte sich zunächst empfehlen, i m Anschluß an Larenz danach zu unterscheiden, „was sich jeweils denn gewandelt h a t " 1 8 . Als Wandlungssachverhalte lassen sich folgende Grundsituationen unterscheiden: — Wandel des (allgemeinen oder des juristischen) Sprachgebrauchs — Wandel der Rechtsordnung i. S. eines Wandels der ihr immanenten Grundwerte und Prinzipien — Wandel der allgemeinen Rechtsanschauung — Wandel der Lebensverhältnisse (ζ. Β. Wirtschaft, Technik, ökologische Bedingungen). Ich betrachte hier nur die letzte Gruppe: den Wandel der Lebensverhältnisse. Dabei stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls inwiefern ein solcher Wandel die Bedeutung gerade von Rechtsnormen ändern kann. Larenz erklärt hierzu lapidar, der Wandel der tatsächlichen Verhältnisse könne „nicht schon von sich aus" 1 9 eine Bedeutungsänderung von Rechtsnormen zur Folge haben, sagt aber nicht weiter, wie es denn genau zu der Bedeutungsänderung auf der Normebene kommt. Es mag dahingestellt bleiben, wie der Bedeutungswandel der Norm — diese verstanden als Normtext — rein interpretationstheoretisch zu begreifen ist: ob, wer annimmt, daß sich wandelnde soziale, kulturelle, wirtschaftliche Bedingungen den Sinn eines Textes verändern, davon ausgehen muß, daß das „Ziel" der Interpretation sich bei veränderlichen Bedingungen selbst ändert 2 0 ; ob es neue Sprachspiele sind, die existent werden, während andere veralten 2 1 ; ob die Auslegung ein Teil des Sinns des Textes ist 2 2 ; oder ob — bei einer Unterscheidung von „Sinn" und „Bedeutung" der Rechtsnorm — sich die Bedeutung ändert, während der Sinn als Inhalt der Intention des Gesetzgebers überzeitlich konstant bleibt 2 3 , oder ob veränderte Traditionen die Bedeutung der Normierung verändern 2 4 . Fest steht jedenfalls, daß die Grenzen 18 19 20 21 22 23 24
Larenz, DRiZ 1959, S. 308. Ders., ebd., S. 309. Hirsch, Prinzipien der Interpretation, München 1972, S. 43. Ders., ebd., S. 95. Ders., ebd., S. 114. Ders., ebd., S. 268. Ders., ebd., S. 270.
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zwischen „Auslegung" und der richterlichen Innovation fließend sein können, wobei die Annahme eines Bedeutungswandels regelmäßig eher innovatorische Züge trägt. Damit erweist sich — generell — eine interpretationstheoretische Betrachtung richterlicher Normanpassung von vornherein als unzureichend; nur im Einzelfall kann beurteilt werden, ob von Auslegung wirklich noch die Rede sein kann, ob es sich nicht vielmehr um eine das Gesetz überschreitende richterliche Eigenschöpfung handelt, die mit Auslegung nichts zu tun hat. Unentbehrlich ist jedenfalls die wertende Stellungnahme des Rechtsanwenders, der damit aber die Norm nicht mehr auslegt, sondern eine eigene Rechtsschöpfung i. S. einer Fortschreibung des bisherigen Rechts vornimmt. Hierbei geht es i m Grunde um nichts anderes, als eine nicht mehr für regelungsadäquat gehaltene Rechtsnorm den sich wandelnden sozialen Verhältnissen anzupassen. Diesen Sachverhalt vermag die konventionelle Rechtsdogmatik, die sich als reine „Auslegungsdogmat i k " (Krawietz) versteht, nicht hinreichend zu erfassen. Sie beschränkt sich — wie Krawietz 2 5 richtig gesehen hat — „trotz der überaus vielschichtigen Beziehungen zwischen juristischem Text und politischem, wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Kontext i m Hinblick auf das komplexe soziale Phänomen ,Recht' i m wesentlichen auf die . . . Interpretation juristischer Texte", ein Verfahren, das der auf ihre Prämissen nicht hinreichend reflektierten Setzung den „Nimbus des Logischen" (Ihering) zu geben sucht, anstatt ihre historische, praktische oder ethische Berechtigung zu rechtfertigen 26 . Die den Wandel der Verhältnisse berücksichtigende richterliche Normanpassung beruht — nicht anders als eine aus anderen Gründen veranlaßte Rechtsfortbildung — jedoch weder ausschließlich noch überwiegend auf logischer Deduktion, sondern w i r d vor allem nach Maßgabe weiterer Faktoren getroffen 27 . Die vom Gesetzgeber fixierten Prämissen der Entscheidungsfindung werden hier nicht mehr als vorgegeben hingenommen, nicht mehr als gegenständliche Begrenzung der juristischen Überlegungen behandelt. Die Berücksichtigung des „Bedeutungswandels des Gesetzes" kann rechtstheoretisch daher nicht ohne verstärkte Orientierung an der Rechtswirklichkeit erfaßt werden. Geht man hiervon aus, läßt sich das Phänomen des Bedeutungswandels nicht als „Fortsetzung der Auslegung", wie Larenz dies für die richterliche Rechtsfortbildung annimmt 2 8 , begreifen. Daß es nicht um 25 Krawietz, Was leistet Rechtsdogmatik i n der richterlichen Entscheidungspraxis? ÖZÖR 23 (1972), S. 47 ff., 57. 29 Ders., ebd. 27 Ders., ebd., S. 59. 28 Larenz, Methodenlehre, S. 350 f.; gerade beim „Wandel der Normsituation" bleibt Larenz dem hier unpassenden Schema „weitere Auslegung" —
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ein Auslegungsproblem geht, w i r d selten offen zugegeben; läßt sich doch mit der „Auslegungs"-Ideologie eben recht bequem i m „System" verweilen. Rechtssätze erweisen sich dann trotz des eingetretenen Wandels scheinbar immer noch als verbindliche „Außenweltmodelle mit normativen Umweltentwürfen" 2 9 ; in Wirklichkeit kombiniert der Richter hier die Erwartung von Außenweltmodellen mit einer gesteigerten kognitiven Flexibilität im Hinblick auf eine Wirklichkeitsanpassung, wie dies sonst nur für gesetzliche Generalklauseln typisch ist 3 0 . Die bisherige juristische Methodenlehre vermag durch die von ihr empfohlene dogmatisch-exegetische Methodik Rechtserkenntnis nur im Zusammenhang mit einem als vorgegeben begriffenen Konditionalprogramm zu vermitteln, dessen genauen Sinngehalt festzustellen dem Juristen aufgegeben sei. Ist die juristische Methodenlehre aber schon bei bloßen Rechtsanwendungsproblemen durch ein ziemlich Undefiniertes Nebeneinander historischer, sprachlicher, logisch-systematischer und teleologischer Auslegungskriterien schwer zu handhaben, so versagt sie vor dem Phänomen des Normenwandels vollends. Müßte sie — konsequent — dieses Phänomen eigentlich ausklammern, vermag sie es angesichts der von der Rechtspraxis ständig „praeter legem" vollzogenen Entscheidungen zwar nicht ganz beiseite zu lassen, kann es aber nur — und dies unzutreffend — auf Auslegungsleistungen reduzieren. Die politische Funktion des Richters und seine heute real übernommene Folgenverantwortung kommen ihr dabei erst gar nicht in den Blick. Die Problematik und das Risiko der Annahme eines Normenwandels als Geschäft des Richters werden auf diese Weise heruntergespielt. Daß es i m Falle des Bedeutungswandels noch darum geht, das gegebene Recht nur „anzuwenden", daß der Richter das vom Gesetzgeber Gewollte angeblich nur „vollzieht", kann aber unter keinem Gesichtspunkt festgestellt werden.
„engere Auslegung" verhaftet (insbes. S. 339). Es t r i f f t i m übrigen schon für den Regelfall der Auslegung nicht zu, daß der Interpret den Text n u r „zum Sprechen bringen", „nichts wegnehmen u n d nichts hinzutun" w o l l e (S. 351). Wer sich so verhält, interpretiert nicht; vgl. Weimar, Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, Basel - Stuttgart 1969, S. 16 ff., 69 ff. u. passim. Larenz übersieht, daß Gesetze i m m e r n u r eine Teilmenge der E n t scheidungsprämissen überhaupt bezeichnen können. Damit sind die Prämissen auch einer Auslegung(sentscheidung) n u r vollständig, w e n n weitere Sätze hinzugezogen werden, die das kodifizierte Recht ergänzen. 29 Teubner, Generalklauseln als sozionormative Modelle, in: Lüderssen u. a., Generalklauseln als Gegenstand der Sozialwissenschaften, Baden-Baden 1978, S. 21. 30 Vgl. Teubner, ebd.
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IV. Stabilität oder Flexibilität der Rechtsdogmatik? Da es nicht möglich ist, alle künftigen Anwendungssituationen des Gesetzes vorauszusehen, lassen sich die für die Entscheidung des Richters erforderlichen Erwägungen nicht schon i n die gesetzgeberische Entscheidung selbst einbringen. Deshalb ist der Entscheidungsvorgang zwischen Gesetzgeber und Rechtsanwender nicht nur arbeitsteilig organisiert, er funktioniert auch arbeitsteilig, wobei es sich im realen Entscheidungsprozeß jeweils nur um ein Mehr oder Weniger an wechselseitiger Substitution handelt. Wie jede Positivierung von Recht kann daher auch die Anpassung des Rechts aufgrund sozialen Wandels empirisch-analytisch als ein Zusammenspiel von programmierenden und programmierten Entscheidungen verstanden v/erden. Indes ist dieses Verhältnis durch die herkömmliche Rechtsdogmatik nur unzulänglich vermittelt. Um den Veränderlichkeiten des Sozialen genügen zu können, muß Rechtsdogmatik einerseits selbst „hinreichend stabil", andererseits aber „auch hinreichend flexibel" sein 31 . Die Lösung dieser in sich durchaus widerspruchsvollen Aufgabe ist bisher nicht gefunden, andererseits aber Voraussetzung, um die Stabilisierungsfunktion des Rechts in einer sich wandelnden Gesellschaft überhaupt zu ermöglichen. Es fragt sich daher, auf welche Weise sich die Rechtsdogmatik gegenüber künftigen Entwicklungen offen halten kann und eine gegenwartsnah angepaßte Rechtsfindung auch rechtstheoretisch befriedigend zu vermitteln vermag. Wie Krawietz 3 2 mit einer treffenden Formulierung hierzu festgehalten hat, begegnet die konventionelle Rechtsdogmatik den vielen Ungereimtheiten, die man in methodischer wie rechtssystematischer Hinsicht antreffen kann, „mehr oder weniger unreflektiert mit einer A r t Strategie des »gesunden Menschenverstandes 4, ohne recht zu wissen, worauf diese Gesundheit beruht". Indem sie mit ihren nach Bedarf disponiblen Auslegungsmethoden artistisch jongliere, könne sie alternierende Möglichkeiten des Entscheidens und i n begrenztem Umfang selbst widerspruchsvolle Normprojektionen zulassen. — Die damit ermöglichten variablen Anpassungsleistungen an den fortschreitenden sozialen Wandel beruhen allerdings — soweit ich sehe — bisher auf einer wissenschaftstheoretisch nicht hinreichend kontrollfähigen Grundlage der Rechtsdogmatik. So wünschenswert und auch notwendig es ist, das Recht den sich wandelnden sozialen Gegebenheiten normativ anzupassen, d. h. insgesamt mehr interkurrente Informationen zu verarbeiten, so wenig befriedigend erscheint es aus rechtstheoretisch81 So Viehweg, Z w e i Rechtsdogmatiken, in: Philosophie u n d Recht, Festschrift zum 70. Geburtstag von Carl August Emge, Wiesbaden 1960, S. 106 ff. 32 Krawietz, Rechtsdogmatik, S. 79.
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methodologischer Sicht, wenn die Rechtsdogmatik einigermaßen orientierungslos einen Weg geht, der die A r t und Weise vermissen läßt, in der in Entscheidungsprozessen jene Anpassungsleistungen hinreichend überschaubar vorgenommen werden, so daß sie bislang mehr oder weniger zufällig bleiben müssen. A m Bedeutungswandel der Norm zeigt sich besonders eindringlich, daß die bisher weitgehend „latente" Funktion der Rechtsdogmatik auf die jeweilige Sachbestimmtheit der Norm nicht verzichten kann. Dies w i r d heute insbesondere in der Lehre vom Normbereich und den zugehörigen sachorientierten Konkretisierungsverfahren zutreffend beachtet. Diese Verfahrensweise macht es erforderlich, die Tatsache: Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse und Anschauungen i n die Argumentation explizit einzuführen. Hier scheint mir der Einstieg zu liegen, die Reaktionen der Rechtspraxis auf Wandlungen der Lebensverhältnisse methodisch anzuleiten und zugleich prozedural zu disziplinieren.
V. Normbereich und Normkonkretisierung Führt man — anders als die die Norm überwiegend als Normtext behandelnden Auslegungsregeln — die Kategorie des „Normbereichs" ein, wie sie in der gerichtlichen Praxis zunehmend verwendet wird, läßt sich sagen, daß die Grundstruktur des Normbereichs funktional ein Bestandteil rechtlicher Normativität ist 3 3 . So kann eine verfassungsgemäße Norm verfassungswidrig werden, wenn sie sich „ i m Umfang oder Inhalt ihres Normbereichs ändert" 3 4 . Deshalb rechtfertigt es sich rechtsmethodisch, eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse oder jedenfalls einen grundlegenden Wandel so zu bewerten, daß die nicht nur i n ihrem Wortlaut, sondern nach herkömmlichem Normverständnis auch i m ganzen unverändert gebliebene Norm kraft empirisch festgestellter Veränderung von Fakten beispielsweise verfassungswidrig geworden sein kann 3 5 . Als Voraussetzungen hierfür gibt das Bundesverfassungsgericht 36 an, es müßten sich gerade solche Verhältnisse grundlegend gewandelt haben, auf die sich die Regelung bezieht; wenn diese Änderung nicht nur von vorübergehender Dauer, sondern als „Strukturwandel" anzusprechen sei, könne „als Folge dieses Wandels die ursprünglich gerechtfertigte Regelung offensichtlich sachwidrig geworden" sein.
33 34 35 36
Friedrich Müller, N o r m s t r u k t u r und Normativität, B e r l i n 1966, S. 117. Ders., ebd. Ders., ebd. BVerfGE 12, S. 341, 353 f.
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Der Normbereich ist, auch abgesehen von solchem Normenwandel, ein mehr oder weniger, nie aber ganz entbehrliches Moment der Normkonkretisierung 3 7 ; nur verbirgt sich in den meisten Fällen dieses Moment hinter einem auf die überkommenen Methoden beschränkten Darstellungsmodus. Insbesondere i m Verfassungsrecht ist die Rechtsprechung häufig gezwungen, Fakten offen zu tragenden Bestandteilen der Rechtsfindung zu machen. Und wer könnte z. B. das Schuldrecht in seiner besonders stark ausgeprägten Dynamik anders als ein evolutionäres Faktenrecht zutreffend beschreiben? „Soll die Norm überhaupt Normativität in spezifisch rechtlichem Sinn enthalten, muß sie sachbestimmt sein. Die konkrete Normativität einer Rechtsvorschrift enthält eo ipso Realbestandteile gesellschaftlicher Wirklichkeit in normativer Uberformung" 3 8 . Dies zeigt sich besonders in den Fällen, „ i n denen der Bedeutungswandel einer Vorschrift unmittelbar aus einem Faktenwandel gefolgert w i r d " 3 9 . Der herkömmlichen Normauffassung ist es hier ohne Berücksichtigung eines involvierenden Sachzwangs nicht erklärlich, daß eine Gesetzesbestimmung bei gleichbleibendem Wortlaut „durch Veränderung der Verhältnisse einen Bedeutungswandel erfahren" kann 4 0 . VI. Normenwandel und das Elend des Rechtsbegriffs Sieht man das Problem des Bedeutungswandels der Rechtsnorm in einem etwas weiteren Zusammenhang mit und in seiner Abhängigkeit von der Diskussion um den Rechtsbegriff, so scheinen m i r folgende Gesichtspunkte entscheidend zu sein: Die neueren rechtstheoretischen Ansätze haben den i n der Reinen Rechtslehre vorherrschenden Apriorismus der Rechtskategorien grundlegend kritisiert. Dennoch führen auch die neueren Tendenzen i n ihrer immer noch weitgehend aprioristisch-idealistischen Grundhaltung, aufgrund derer sie die Gesellschaftlichkeit, den Bezugspunkt der Kategorien, als eine nicht-objektive Gesellschaftlichkeit oder als eine aprioristische Objektivität begreifen, die anzustrebende wissenschaftliche Analyse letztlich wieder zu einer normativistischen Betrachtung zurück, der sie die Bewertung der Gesellschaftsstrukturen überlassen. Sie haben wohl auch gar keine andere Möglichkeit, denn diese Strukturen, denen der Bereich der 37
Müller, Normstruktur, S. 118. Ders., ebd., S. 123 f. 39 Ders., ebd., S. 131; zum Wandel der Lebensbedingungen u n d den i n Bezug darauf sprachlich beschränkten Ausdrucksmöglichkeiten des Gesetzgebers s. Krawietz, Juristische Entscheidung u n d wissenschaftliche Erkenntnis, Wien - New Y o r k 1978, S. 218. 4υ BVerfGE 7, S. 342, 351; vgl. auch schon BVerfGE 2, S. 380, 401. 38
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Werte funktionell werden müßte, sind selbst den Werten funktionell, sind nicht etwas von der Idee des Rechts wirklich Unterschiedenes, sondern vielmehr von den Werten abgeleitete Bedeutungen: ideelle Strukturen. Die Gesellschaft konstituiert also nicht jenen von der Idee des Rechts unterschiedenen Pol, an dem es möglich wird, Recht und gesellschaftliche Wirklichkeit festzuhalten. Damit ist aber der Normativismus in den Rechtswissenschaften — wie mir scheint — bisher alles andere als überwunden. I m Gegenteil scheint es beim methodologischen Pluralismus zu bleiben, der das Nebeneinander von wissenschaftlicher und normativistischer Methode weiterhin aufrechterhält: eben die Voraussetzung, von der der Normativismus seinen Ausgang genommen hatte. Hinter der Rechtstheorie der Gegenwart finden w i r also das folgende ungelöste Problem: Um das Recht zu bestimmen und zu begreifen, darf man es nicht mit der Sphäre der Naturhaftigkeit identifizieren; und um es von dieser zu unterscheiden, muß man zugleich sein ideelles Moment anerkennen. Eine Bestimmung des Rechts läßt sich hiernach nur erreichen durch eine Vermittlung von Idee und Wirklichkeit, von Rationalität und Geschichte, nur dann also, wenn das Recht nicht nur als normative, sondern auch als materiale Struktur begriffen wird: als sachbestimmtes Verhältnis. I n der Rechtstheorie war es bislang so, daß dieses Verhältnis der „Einheit" letztendlich immer wieder aufgelöst und die Wirklichkeit vom „Ideellen" sozusagen verschluckt wurde, daß man also, nachdem man von der Idee ausgegangen war und die Empirie „rechtsnormativ" transzendiert hatte, dann die Empirie zum Inhalt der Werte erhob oder daß die Empirie sich selbst mit Zwecken und Werten befrachtet hatte und damit ihre Heterogenität gegenüber der Idee aufgab. Das Ergebnis kann dann nicht wenig überraschen: daß sich nämlich unter diesem Aspekt die methodologische Distanz verringert, die die beiden grundlegenden Richtungen modernen Rechtsdenkens — die klassische „spekulative" und die soziologische „realistische" —, also Rechtsnormativismus und Rechtssoziologismus, zumindest nach herkömmlicher Einschätzung so grundlegend zu trennen scheint. Wenn die „Reinigung" des Rechts in der Kantschen Tradition über Kelsen bis auf unsere Tage zu Luhmann 4 1 in der Tat zu einer Formalisierung der Rechtskategorien führt, so kommt man dann wohl zu den folgenden Feststellungen: Die Faktizität des Rechts w i r d post festum in dem Moment wieder aufgenommen, in dem sich die angeblich autonome Norm der Autorität und ihrer Wirksamkeit unterordnet. Die Geltung, das formelle K r i t e r i u m des Rechts, dessen Grundlage die Transzendierung des Faktums ist, ordnet sich dann diesem unter, insofern es not41 Vgl. die kritischen Ausführungen bei Grimm, Niklas Luhmanns „soziologische A u f k l ä r u n g " oder das Elend der apriöristischen Soziologie, H o m burg 1974, S. 90 u. passim.
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wendig die Wirksamkeit bewerten muß. Und es besteht hier i n der Substanz kein grundlegender Unterschied zum Vorgehen soziologischer, d. h. i m weitesten Sinne realistischer Richtungen, wenn diese zunächst i n antimetaphysischer Absicht der realen Entwicklung der Gesellschaft folgen, u m den Primat des Faktums über die Werte festzustellen, dann aber unversehens doch bei der Forderung eines Teleologismus landen (als eines scheinbaren Surrogats der kausalen Effizienz). So kommt auf der einen Seite die grundlegende Übereinstimmung der modernen Strömungen des Rechtsdenkens i n der Fixierung einer nur scheinbaren Autonomie des Rechts ans Licht, die i n ihrer A m bivalenz fortwährend bestrebt ist, zu einer zwieschlächtigen methodischen Konstruktion zu werden, i n der der Wert sich auf das Faktum gründet oder das Faktum mehr oder weniger kritiklos selbst zum Wert avanciert. Hatte der etatistisch-legalistische Positivismus Staat und Recht identifiziert, so ist die gegenteilige These, die Richter, oder allgemeiner: die Juristen seien stets Vollzugsbeamte der Gesellschaft, also die Identifizierung von Gesellschaft und Recht, letztlich ebensowenig haltbar. Die Ansicht, der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung liege stets und überall in der Gesellschaft selbst, trifft in dieser Pointierung auch auf den demokratischen Staat nicht zu; sie kann auch nicht ohne weiteres als Ausgangspunkt für eine rechtstheoretische Erfassung des Normenwandels dienen. Die Frage, die uns dann aber beschäftigen muß, ist die, ob es überhaupt gelingen kann, in Ablösung der kritisierten herkömmlichen Versuche einen auch an der Realität richterlichen Handelns orientierten Theoriebegriff des Rechts und seines Wandels angemessen zu erarbeiten. V I I . Richterliches Innovationsinteresse: ein Diskurs über den Gesellschaftstyp? Die in dem aufgezeigten Sinne bis heute wohl am wenigsten k r i t i k anfällige Untersuchung zu „Norm", „Normativität" und „Normstruktur" stammt von Friedrich Müller 4 2 , dessen Normanalyse mit dem hier als „faktisch geltend" herausgestellten Normbegriff weitgehend übereinstimmt. Dort w i r d versucht, die dem reinen Normpositivismus wie dem Normsoziologismus — beide Richtungen vermögen, wie gezeigt, die Komplexität des Normenwandels nicht hinreichend zu erfassen ;— vorausliegenden Abstraktionen — indem sie Recht „ohne Abstimmung mit dem konzipieren . . . wollen, um dessentwillen das Recht da ist" — zu vermeiden und die Wirklichkeit als immer neu zu ordnendes und i n Ordnung zu haltendes geschichtliches Zusammenleben der Menschen 42
Müller,
Normstruktur, S. 131.
17 R E C H T S T H E O R I E , B e i h e f t 4
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nicht als Objekt, sondern erstens als Grundlage und zweitens als Bestandteil normativer Struktur zu begreifen 43 . Damit erscheint — i m Konkretisierungsverfahren 44 — die Norm als nach Normbereich und normativen Leitgedanken des Normprogramms differenziert 4 5 . Der Normbereich, der i m Verfahren konkretisierender Rechtsgewinnung nicht isoliert, sondern mit der Hinwendung vom semantischen Substrat der Norm gerade zum Sachverhalt ermittelt wird, ist nicht von der Norm oder vom Normtext erfaßtes Tatsachenmaterial („Stoff liefernder Sektor der Wirklichkeit"), sondern Bestandteil der zu konkretisierenden Rechtsnorm 46 . Als solcher ist der Normbereich realer Entwurf dessen, was i m Einzelfall geregelt werden soll 4 7 . Norm und Normtext sind streng geschieden, um der Gefahr der Verwechslung, der sich die positivistische Gleichsetzung von Norm und „fertigem Befehl" aussetzt, zu entgehen 48 . Die „generelle" Norm w i r d verstanden als gesolltes Ordnungsmodell; es nimmt den Normbereich vorweg und gestaltet ihn gleichzeitig aus, ist also schon von daher mehr als bloßer „ T e x t " 4 9 . Die Bedeutung des Textes für die Normkonkretisierung erweist sich als begrenzt: je genauer und vollständiger Normprogramm und -bereich i m Text sprachlich erfaßt sind, um so mehr kann er Stütze der Entscheidung sein 50 . Andererseits kann ohne Wortlautänderung (und auch ohne formelle Aufhebung der „Norm") der Normbereich „abhanden kommen", so daß von der „Norm" nurmehr der Text, der das Normprogramm enthält, übrig bleibt; es fehlt dann — mangels gesellschaftlicher Vermittlung — an jeder Möglichkeit der Konkretisierung 5 1 . Normtext ohne Verbindung zu Normbereich und Normprogramm bleibt normativ ein „nullum". Der Normtext ist zwar nicht belanglos (insoweit sich Richter daran zumindest zunächst orientieren), die Positivität des Rechts jedoch nicht identisch mit jener der Normtexte 5 2 . Der 43
Ders., ebd., S. 194. Z u m T e i l kritisch zum Konkretisierungsverfahren als juristischer Methode Haverkate, Gewißheitsverluste i m juristischen Denken, B e r l i n 1977, S. 139 ff. 45 Müller, Normstruktur, S. 150. 40 Ders., ebd.; i n der Hereinnahme des Normbereichs i n den Normbegriff sieht Haverkate, S. 140, das bedeutsamste Moment i m Ansatz Müllers. 47 Müller, N o r m s t r u k t u r , S. 152. 48 Ders., ebd., S. 147. 49 Ders., ebd., S. 152. 50 Insofern können T o p i k u n d A x i o m a t i k i n ein Ergänzungsverhältnis treten, vgl. S. 153 u. 162. 51 M ü l l e r verdeutlicht dies an der „ N o r m " Hammurabis, in: Normstruktur, S. 165. 52 Ders., ebd., S. 158 f.; vgl. zu dieser Problematik den Überblick bei Neumann, Der Funktionswandel des Gesetzes i m Recht der bürgerlichen Gesellschaft, in: Franz Neumann, Demokratischer und autoritärer Staat, F r a n k f u r t / M a i n - Wien 1967, S. 31 ff. 44
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Wortlaut hat seine bedeutsamste Funktion darin, tendenziell äußerste Grenze der Auslegung zu sein 53 . Das Verhältnis von Norm und Normtext ist daher als Verhältnis von Normbereich, normativen Leitgedanken und ihrem sprachlichen Ausdruck zu begreifen 54 . Die Einbeziehung der Normbereiche i n den realen Gang konkretisierender Rechtsgewinnung führt dazu, daß die auftretenden Probleme niemals von der Wirklichkeit losgelöst und unvermittelt erscheinen; „Sollen" und „Sache" avancieren zu den Hauptaspekten der Normativität — zu Normbereich und Normprogramm 5 5 . „Wirklichkeit" ist dann konstituiert durch Normbereich (Bereich des Realmöglichen) und normwiderstreitende Fakten innerhalb des Normbereichs, durch rechtlich indifferente Faktoren und nicht erfaßte oder unerfaßbare Sachverhalte 56 . Für das Verständnis der Rechtsnorm folgt daraus, daß diese weder nur als i m Gesetzgebungsverfahren faktisch hervorgebracht noch als (allein) in der Gesellschaft faktisch wirkend anzusehen ist, sondern als Teilentwurf einer Ordnung. Die Rechtsnorm stellt sich dar als ein verbindlich statuiertes, nähere Konkretisierung voraussetzendes Modell einer realmöglichen Teilordnung für bestimmte Sachverhalte, Sachstrukturen, Sachbereiche der sozialen Welt 5 7 . Aus dem „Befehl" w i r d ein Entwurf einer „realmöglichen, weil aus der Analyse der Realität gewonnenen und als einer solchen die normative Aussage der Normvorschrift mitprägenden Struktur", als der der Normbereich bei der Rechtsanwendung m i t w i r k t . Die der Norm zugehörige Teilwirklichkeit w i r k t damit als Teil der Norm 5 8 . Die normative Kraft des Faktischen w i r d damit zweitrangig; soweit die Faktizität normativ wirksam ist, geschieht dies legitim nur unter der Voraussetzung, daß sie i n der Normkonkretisierung Bestandteil rechtlicher Normativität ist. Soweit die Norm als verbindlicher Entwurf einer Teilordnung verstanden wird, ist sie (umgekehrt) mit Faktizitätsgesichtspunkten durchsetzt. Der Normbereich ist Hauptgesichtspunkt der Konkretisierung: die Wirklichkeit w i r d Bestandteil der Norm 5 0 . Dieser Normbegriff, der sowohl herkömmliches soziologisches wie juristisches Rechtsnormverständnis entscheidend relativiert, scheint m i r dem zu entsprechen, was heute i n der richterlichen Praxis de facto längst akzeptiert ist: die Norm w i r d i n einem Konkretisierungsverfahren herausgebildet, sie gestaltet die Wirklichkeit (Sachstruktur), 53 54 55 56 57 58 50
17*
Müller, N o r m s t r u k t u r , S. 160. Ders., ebd., S. 162. Ders., ebd., S. 157. Ders., ebd., S. 163. Ders., ebd., S. 170 ff. Ders., ebd., S. 173. Ders., ebd., S. 188 u. 198.
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w i r d gleichzeitig jedoch auch von der Sachstruktur geprägt. Dabei ist nicht nur die jeweils aktualisierte Rechtsvorschrift „Norm" i n diesem Sinne, sondern auch die erwartete Entscheidung. Wie hiernach das Recht i n einer Relation zu der sachbestimmten Welt der modernen gesellschaftlichen Verhältnisse steht, so erweist diese sich dann nicht nur als Gegenstand richterrechtlich-normativer A n t i zipation, sondern auch als die die rechtliche Normierung tragende Struktur, die nur insoweit antizipieren und ordnen kann, als sie die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht unberücksichtigt läßt. Und so, wie der richterliche Diskurs über die Norm letztlich notwendig ein Diskurs auch über den Gesellschaftstyp ist, so w i r d gleichzeitig der Diskurs über den Gesellschaftstyp ein Diskurs über die Norm als sein ideeller Ausdruck. Der im modernen Richterrecht sich aktualisierende Wandel so mancher herkömmlichen Normkodifikation ist damit nichts anderes als die rechtlich zugespitzte Artikulation eines gesellschaftlichen Verhältnisses. Darin scheint m i r der Zentralpunkt eines Rechtsdenkens zu liegen, das — i m Unterschied zum skandinavischen und amerikanischen Rechtsrealismus — auf einen kritisch-konsequenten Regelskeptizismus zusteuert. Wo Kelsen noch nach der Transzendierung des präjuristischen Faktums dieses als Basis seiner Grundnorm leugnen mußte, so daß man darauf i m folgenden mit dem Ausschluß des Apriorismus der Rechtskategorie reagierte, da muß man jetzt ausschließen, daß das gesellschaftliche Faktum selbst in einen Wert, i n ein Sein-Sollen sich auflösen läßt: daß das gesellschaftliche Faktum allein auf „Verhalten in Gesellschaft" reduziert wird. Auf der einen Seite zeigt das auf sozialen Wandel mit Neuerungsfindung reagierende Richterrecht als „sachbestimmtes" Recht gegen die Auffassung des legalistischen Positivismus, daß die Norm nicht ausschließlich durch ihre Imperativität und Erzwingbarkeit gekennzeichnet ist, die sich auf jeden Gesellschaftstyp anwenden läßt; auf der anderen Seite erweist das erwachte Innovationsinteresse des Richters, daß in Wirklichkeit das bestimmende Moment des Rechts nicht allein den konservierenden Merkmalen, die dem Gesetz und seiner überkommenen Ideengeschichte eigen sind, entspringt, sondern eben aus der Eigenart der modernen offenen Rechtsnorm, deren Grundlage und Bestandteil die gesellschaftlichen Verhältnisse i n ihrem fortwährenden Wandel selbst sind 6 0 . Eine Rechtsordnung, die den „Bedeutungswandel" des Gesetzes — was immer dies nun heißen mag und was als Rechtsänderung oder -erneuerung be60 Zutreffend weist i m übrigen Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, Heidelberg - Karlsruhe 1981, Rdnr. 374 darauf hin, daß die damit aufgeworfenen Fragen schließlich auf „juristisch handhabbare Zusammenhänge" zurückgeführt werden müßten, w e n n man ihnen von der Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und der Methodenlehre her nachgegangen sei.
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zeichnet w e r d e n k a n n — u n v e r m i t t e l t beiseite läßt, v e r m i n d e r t b z w . v e r l i e r t schließlich i h r e Lernfähigkeit 61. O d e r w i e I h e r i n g es anders längst sagte: „ D i e Idee des Rechts ist ewiges W e r d e n 6 2 . "
61 A u f die Erhaltung der Lernfähigkeit der Rechtsordnung und die V e r m i t t l u n g positiver Rechtssetzung m i t dogmatischer Argumentation u n d damit die Erhaltung der Konsistenz der Rechtsordnung w i r d zutreffend hingewiesen von Podlech, Die Entscheidungssequenz — rechtstheoretischer Begriff u n d soziale Funktion, in: Harenburg / Podlech / Schlink (Hrsg.), Rechtlicher Wandel, S. 225 ff. 62 Zit. nach Schelsky, Das I h e r i n g - M o d e l l des sozialen Wandels durch Recht, in: Zur Effektivität des Rechts, Jahrbuch für Rechtssoziologie u n d Rechtstheorie, Bd. 3, Düsseldorf 1972, S. 47 ff., 66.
DEMOKRATISCHES PRINZIP, PARTEIENSTAAT UND LEGALITÄTSPRINZIP BEI HANS KELSEN Von Gerhart Wielinger, Graz I. Kelsens politologische Schriften unterscheiden sich von seinem rechtstheoretischen Werk in einem entscheidenden Punkt: Anders als seine Schriften zur Rechtstheorie, die ausschließlich ein Werkzeug zur Beschreibung von Rechtsordnungen — unabhängig von deren jeweiligem Inhalt — bereiten sollen, legt Kelsen in seinen Studien zu politischen Phänomenen keineswegs nur ein Instrumentarium zu deren Beschreibung dar. Er setzt sich durchaus mit dem Inhalt politischer Konzepte auseinander und nimmt auch Position — freilich nie i n Form einer Vermengung von Aussage und Werturteil. Die folgenden Ausführungen werden ein Thema berühren, mit dem sich Kelsen sehr intensiv befaßt und dem er viel Engagement gewidmet hat: die Demokratie. Kelsen ist dabei bekanntlich nicht auf der Ebene abstrakter Ideen stehen geblieben, sondern hat sich sehr eingehende Gedanken über die Organisation eines Staates auf der Grundlage der „Idee der Demokratie" gemacht. Diesen soll i m folgenden unter dem besonderen Gesichtspunkt „Parteienstaat" und „Legalitätsprinzip" nachgegangen werden. Dabei w i r d für die Darlegung von Kelsens Position i n besonderem Maße auf die 2. Auflage von „Wesen und Wert der Demokratie" zurückgegriffen werden, denn in dieser Schrift hat Kelsen seine grundsätzlichen Aussagen zum Thema Demokratie zusammengefaßt 1 . Π.
Der Begriff „Demokratie" war in der Zwischenkriegszeit genauso vage und schillernd wie heute. Kelsen hat immer wieder darauf hingewiesen, daß nach dem 1. Weltkrieg so ziemlich jede politische Bewe1 V o m Wesen und Wert der Demokratie, 2. Auflage, 1929; (zitiert: Wesen u n d Wert 2 ). I n dieser Schrift hat Kelsen neben Gedanken aus der ersten Auflage v o n Wesen u n d Wert der Demokratie, 1921, solche aus den Studien Demokratisierung der Verwaltung, 1921, Das Problem des Parlamentarismus, 1925, Z u r Soziologie der Demokratie, 1926, u n d seinem Vortrag auf dem 5. Deutschen Soziologentag zum Thema Demokratie, 1927, zusammengefaßt.
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gung bestrebt war, aus dem Prestigewert des Wortes „Demokratie" Nutzen zu ziehen. Daher konnte aus der Selbstbezeichnung als „demokratisch" überhaupt kein Schluß auf den tatsächlichen Charakter der Institution oder des Staates, die sich so bezeichneten, gezogen werden. Kelsen ist sich dieser Problematik voll bewußt und widmet ihr eingehende Überlegungen 2 . Er selbst ist der Auffassung, i n seinen Schriften nicht von einem von ihm gebildeten Begriff der Demokratie auszugehen, sondern „die Idee der Demokratie" erkennen zu können 3 . Für Kelsen steht i m Zentrum dieser „Idee der Demokratie" die Freiheit. Zwar sagt er in beiden Auflagen von „Wesen und Wert der Demokratie", daß die Synthese der Prinzipien der Freiheit und der Gleichheit für die Demokratie charakteristisch sei 4 , die Gleichheit versteht er aber nicht i m Sinne einer tatsächlichen oder materiellen Gleichheit von Menschen, sondern lediglich i m Sinne der Gleichheit in der Freiheit 5 . I m Zentrum seiner Überlegungen zum Thema Demokratie bleibt letztlich allein die Freiheit. Damit setzt er sich entschieden in Gegensatz zu Max Adler, seinem großen Antagonisten i n der demokratietheoretischen Auseinandersetzung, für den das entscheidende K r i t e r i u m der Demokratie die ökonomische Gleichheit ist 6 . Kelsen ist sich dessen bewußt, daß die „Idee der Freiheit" i m Sinne einer Identität von Subjekt und Objekt der Herrschaft, von Herrschenden und Beherrschten i n reiner Form nicht Grundlage einer sozialen Ordnung sein kann, denn Identität von Herrschenden und Beherrschten wäre eine Negation jeder Herrschaft, Ordnung setzt aber begriffsnotwendig Herrschaft voraus. So stellt sich für ihn die Frage, wie eine Ordnung und damit ein Herrschaftssystem organisiert werden kann, bei dem noch ein möglichst hohes Maß an Freiheit gewährleistet ist. Kelsen befaßt sich jedoch nicht mit der Frage, wie ein Zusammenschluß von Menschen zu einem Staat unter dieser Prämisse erfolgen kann, denn „Staatsgründung, Urzeugung der Rechtsordnung oder des Staatswillens kommt ja in der sozialen Erfahrung so gut wie überhaupt nicht i n Betracht. Man w i r d doch zumeist in eine fertige Staatsordnung hin2 Siehe insbesondere die Einleitung zu Kelsens Referat auf dem 5. Deutschen Soziologentag 1927 in: Schriften der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, I. Serie, V. Band, S. 37 ff.; neu abgedruckt in: Die Wiener rechtstheoretische Schule, 1968, S. 1743 ff. 3 Kelsen, Fn. 2, S. 42 bzw. S. 1747. 4 Wesen u n d W e r t 1 , S. 6; Wesen u n d W e r t 2 , S. 4. 5 Wesen u n d W e r t 1 , S. 9; insbesondere u n d ausdrücklich Wesen u n d Wert 2 , S. 93 f. 6 Adler, Die Staatsauffassung des Marxismus, 1922, S. 133 ff.; siehe auch die Diskussion zwischen Kelsen u n d A d l e r auf dem 5. Deutschen Soziologentag, in: Schriften der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, I. Serie, V. Band, S. 91 ff. (Adler), bzw. S. 116 ff. (Kelsen). Kelsens Beitrag ist auch abgedruckt in: Die Wiener rechtstheoretische Schule, S. 1774 ff.
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eingeboren, an deren Entstehung man nicht mitgewirkt hat und die einem daher vom Anfang an als fremder Wille entgegentreten muß. Nur die Fortbildung, die Abänderung dieser Ordnung steht in Frage" 7 . Als Schlüssel für die Lösung des Problems sieht Kelsen die politische Willensbildung nach dem Mehrheitsprinzip. Dieses ist seiner Ansicht nach nur aus der Idee der Freiheit, nicht aber aus jener der Gleichheit abzuleiten. „Nur der Gedanke, daß — wenn schon nicht alle — so doch möglichst viel Menschen frei sein, d. h. möglichst wenig Menschen mit ihrem Willen i m Widerspruch zu dem allgemeinen Willen der sozialen Ordnung geraten sollen, führt auf einem vernünftigen Wege zum Majoritätsprinzip. Daß dabei natürlich die Gleichheit als die Grundhypothese der Demokratie vorausgesetzt wird, zeigt sich eben darin, daß nicht gerade dieser oder jener frei sein soll, weil dieser nicht mehr gilt als jener, sondern daß möglichst viele frei sein sollen 8 ." Dies hat aber wieder zur Konsequenz, daß „angesichts der unvermeidlichen Differenz zwischen dem Willen des einzelnen, der den Ausgangspunkt der Freiheitsforderung bildet, und der staatlichen Ordnung, die dem einzelnen als fremder Wille entgegentritt, selbst in der Demokratie entgegentritt, wo diese Differenz nur näherungsweise auf ein Mindestmaß herabgesetzt ist" . . . „sich ein weiterer Wandel i n der Vorstellung von der politischen Freiheit" vollzieht 9 . „Die, i m Grunde genommen, unmögliche Freiheit des Individuums t r i t t allmählich in den Hintergrund und die Freiheit des sozialen Kollektivums in den Vordergrund 1 0 ." Dieser spezifische Freiheitsbegriff darf nicht übersehen werden. Es wäre aber unzutreffend, aus diesen Ausführungen den Schluß zu ziehen, den Max Adler gezogen hat, nämlich, daß auch für Kelsen die individuelle Freiheit schlechthin unmöglich sei. Die individuelle Freiheit stellt sich für Kelsen als Problem des Inhaltes einer Rechtsordnung und als eines Postulates an diese dar, nicht aber als Frage der Methode der Erzeugung des Rechtsinhaltes. Und Demokratie ist für ihn eine solche Methode. Kelsen läßt aber keinen Zweifel daran, daß er die Demokratie als jene Methode der Erzeugung des Rechtsinhaltes ansieht, die am besten geeignet ist, individuelle Freiheit zu gewährleisten 11 . 7
Wesen und Wert 2 , S. 8 f. Wesen und W e r t 2 , S. 9 f. » Wesen und W e r t 2 , S. 11. 10 Wesen u n d Wert 2 , S. 11. 11 Adler, Die Staatsauffassung des Marxismus, S. 135; Kelsen, Wesen u n d Wert 1 , S. 11: „Die Grundrechte werden zu einem wesentlichen Bestandteil jeder demokratischen Verfassung. Sie dienen vor allem als Schutzwall gegen den Herrschaftsmißbrauch, der seitens eines absoluten Monarchen nicht mehr zu befürchten ist, als seitens der Majorität, dem K ö n i g der Demokratie." Freilich konnten Kelsens Ausführungen über die Grund8
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Allerdings ist für Kelsen das primäre politische Phänomen nicht der isolierte Einzelne, sondern die Gruppe, in der Einzelne — primär nach Interessengesichtspunkten — organisiert sind. Das w i r d sehr deutlich an seinem Begriff des „Volkes". Für Kelsen ist das Volk keineswegs eine aus gleichartigen Individuen gefügte Einheit, sondern ein von Gegensätzen verschiedenster A r t gespaltenes Bündel von Gruppen. „ N u r i n einem normativen Sinne k a n n hier von einer Einheit die Rede sein. Denn als Ubereinstimmung des Denkens, Fühlens und Wollens, als Solidarität der Interessen ist die Einheit des Volkes ein ethisch-politisches Postulat, das die nationale oder staatliche Ideologie m i t Hilfe einer allerdings ganz allgemein gebrauchten und daher gar nicht mehr überprüfbaren F i k t i o n real setzt. Es ist i m Grunde n u r ein juristischer Tatbestand, der sich als Volkseinheit einigermaßen präzise umschreiben läßt: Die Einheit der das Verhalten der normunterworfenen Menschen regelnden staatlichen Rechtsordnung 1 2 ."
Aus diesem Begriff des Volkes ergeben sich einige wichtige Konsequenzen für Kelsens Vorstellung von der Organisation des politischen Prozesses: Für Kelsen ist es klar, daß i m heutigen Massenstaat schon aus rein quantitativen Gesichtspunkten eine „direkte" Demokratie nicht möglich ist, sondern schon das Erfordernis der Arbeitsteilung zu einer indirekten, d. h. parlamentarischen Demokratie zwingt 1 3 . Die Gewählten sieht er nicht als Repräsentanten „des Volkes", sondern als Vertreter der jeweiligen Interessensgruppierung, aus der sie kommen. Die Idee der Repräsentation lehnt er als eine Fiktion ab, gesteht ihr freilich zu, daß sie i m 19. Jahrhundert wesentlich dazu beigetragen habe, der Demokratie zum Durchbruch zu verhelfen 1 4 . Weiters ergeben sich aus dem dargelegten Verständnis des „Volkes" auch Konsequenzen für Kelsens Anschauung über das Wahlrecht und die Praxis des Majoritätsprinzips: D i e M e h r h e i t ist f ü r i h n keineswegs T r ä g e r e i n e r v o l o n t é générale, s o n d e r n eben R e p r ä s e n t a n t der Interessen der g r ö ß e r e n Z a h l der B e rechte i n Wesen und Wert 2 , S. 54, i n denen v o n der parlamentarischen Demokratie gesagt w i r d , „daß der Katalog v o n Grund- u n d Freiheitsrechten aus einem Schutz des Individuums gegen den Staat zu einem Schutz der M i n d e r heit, einer qualifizierten Minderheit, gegen die bloß absolute Mehrheit w i r d " , zu Mißverständnissen Anlaß geben. Eindeutig sind aber wieder Kelsens Äußerungen in: Verteidigung der Demokratie, 1932, abgedruckt in: Kelsen, Demokratie u n d Sozialismus, 1967, hrsg. v o n Norbert Leser, S. 60 ff. 12 Wesen und Wert 2 , S. 15 ff. 13 Wesen und Wert 2 , S. 25, 27, 29. 14 Wesen und Wert 2 , S. 30.
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v ö l k e r u n g . D a h e r k a n n er auch die Rousseauschen F i k t i o n v o n der M e h r h e i t als V e r t r e t e r i n der „ w a h r e n " Interessen des V o l k e s u n d d a m i t auch der Interessen d e r M i n d e r h e i t n i c h t a k z e p t i e r e n 1 5 . D a r a u s e r g i b t sich w i e d e r die A b l e h n u n g des M e h r h e i t s w a h l r e c h t s 1 6 . A l s d e m o k r a t i s c h sieht K e l s e n l e d i g l i c h das r e i n e V e r h ä l t n i s w a h l r e c h t an, also e i n W a h l r e c h t , das eine M a n d a t s z u t e i l u n g nach der Z a h l d e r f ü r eine P a r t e i i m gesamten Staatsgebiet abgegebenen S t i m m e n v o r s i e h t —> W a h l k r e i s e l e h n t er als „organische S t ö r u n g " a b 1 7 . N u r e i n solches W a h l r e c h t sichere m ö g l i c h s t v i e l e n G r u p p e n eine M ö g l i c h k e i t des Einflusses auf das politische Geschehen. Das M a j o r i t ä t s p r i n z i p k a n n u n t e r dieser V o r a u s s e t z u n g n i c h t als L e g i t i m a t i o n z u r b e d i n g u n g s l o s e n D u r c h s e t z u n g des W i l l e n s der M e h r h e i t u n d d e r H e r r s c h a f t ü b e r die M i n d e r h e i t angesehen w e r d e n . K e l s e n e n t w i c k e l t d a h e r eine ganz spezifische Sicht, die auf eine N e g i e r u n g des „ r e i n e n M a j o r i t ä t s p r i n z i p s " h i n a u s l ä u f t . D i e diesbezügliche Schlüsselstelle sei i m W o r t l a u t w i e d e r g e g e b e n : „Daß es bei der Wirksamkeit des Majoritätsprinzips nicht so sehr auf die ziffernmäßige M a j o r i t ä t ankommt, hängt auf das Innigste m i t der Tatsache zusammen, daß es i n der sozialen W i r k l i c h k e i t gar keine absolute Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit gibt, w e i l sich der nach dem sogenannten Majoritätsprinzip gebildete Gemeinschaftswille gar nicht als D i k t a t der M a j o r i t ä t gegen die M i n o r i t ä t , sondern als ein Ergebnis der gegenseitigen Beeinflussung beider Gruppen, als eine Resultante ihrer aufeinanderstoßenden politischen Willensrichtungen ergibt. Eine D i k t a t u r der M a j o r i t ä t über die M i n o r i t ä t ist auf die Dauer schon darum gar nicht möglich, w e i l eine zu gänzlicher Einflußlosigkeit verurteilte Minderheit schließlich auf ihre n u r formale u n d darum für sie nicht n u r wertlose, sondern sogar schädliche Teilnahme an der Gemeinschaftswillensbildung verzichten w i r d ; w o m i t sie der M a j o r i t ä t — die schon begrifflich ohne M i n o r i t ä t nicht möglich ist — ihren Charakter als solche entzieht. Gerade i n dieser Möglichkeit bietet sich der M i n o r i t ä t ein M i t t e l , auf die Beschlüsse der M a j o r i t ä t Einfluß zu gewinnen. Dies g i l t ganz besonders für die parlamentarische Demokratie. Denn das ganze parlamentarische Verfahren m i t seiner dialektisch-kontradiktorischen, auf Rede u n d Gegenrede, Argument u n d Gegenargument abgestellten Technik ist gerichtet auf die Erzielung eines Kompromisses. Darin liegt die eigentliche Bedeutung des Majoritätsprinzips i n der realen Demokratie; man bezeichnet es darum besser als das M a j o r i t ä t s - M i n o r i t ä t s p r i n zip: Indem es die Gesamtheit der Normunterworfenen wesentlich n u r i n zwei Gruppen, M a j o r i t ä t u n d M i n o r i t ä t , gliedert, schafft es die Möglichkeit des Kompromisses bei der B i l d u n g des Gesamtwillens, nachdem es diese letzte Integration durch den Zwang zum Kompromiß vorbereitet hat, durch das allein die Gruppe der M a j o r i t ä t wie die der M i n o r i t ä t gebildet werden kann. Kompromiß bedeutet: Zurückstellen dessen, was die zu Verbindenden trennt, zugunsten dessen, was sie verbindet 1 8 ." 15 18 17
Wesen und W e r t 2 , S. 99. Wesen u n d W e r t 2 , S. 58 f. Wesen und W e r t 2 , S. 59, A n m e r k u n g 31 auf S. 116.
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Kelsen bringt diesen Gedanken mit der Idee Otto Bauers über das Gleichgewicht der Klassenkräfte in Verbindung und sieht die parlamentarische Demokratie als die bestgeeignete Form an, i n einer Gesellschaft, in der sich die „Klassenkräfte" i m Gleichgewicht befinden, eine für alle erträgliche Herrschaft zu organisieren 19 . Freilich zieht er nicht die Konsequenz, typischer Ausdruck dieses „Gleichgewichts der Klassenkräfte" müßte das Zweiparteiensystem sein. I m Gegenteil, das Zweiparteiensystem sieht er als bedenklich an, weil dann das Wechselspiel von Minorität und Majorität unmöglich werden kann 2 0 . Bemerkenswerterweise wehrt sich Kelsen dagegen, seine Aussagen über die zentrale Bedeutung des Kompromisses für die Demokratie als Postulat interpretieren zu lassen. Der diesbezüglichen Äußerung Max Adlers 2 1 t r i t t er schroff entgegen 22 . Er betont allerdings, Demokratie setze voraus, daß man nicht nur die eigene Meinung gelten läßt, sondern auch die gegenteilige zumindest für möglich hält. „Darum ist der Relativismus die Weltanschauung, die der demokratische Gedanke voraussetzt 23 ." IV. Unter diesen Prämissen ist es selbstverständlich, daß Kelsen den Parteienstaat uneingeschränkt akzeptiert. „Daß das isolierte I n d i v i d u u m politisch überhaupt keine reale Existenz hat, da es keinen w i r k l i c h e n Einfluß auf die Staatswillensbildung gewinnen kann, daß also Demokratie ernstlich n u r möglich ist, w e n n sich die Individuen zum Zwecke der Beeinflussung des Gemeinschaftswillens unter dem Gesichtspunkt der verschiedenen politischen Ziele zu Gemeinschaften integrieren, so daß sich zwischen das I n d i v i d u u m u n d den Staat jene Kollektivgebilde einschieben, die als politische Parteien die gleichgerichteten W i l l e n der Einzelnen zusammenfassen: das ist offenkundig 2 4 ."
Er t r i t t dafür ein, die Parteien verfassungsrechtlich zu verankern, „sie auch rechtlich zu dem zu gestalten, was sie faktisch schon längst 18
Wesen u n d Wert 2 , S. 56. Wesen u n d Wert 2 , S. 66 ff., insbesondere aber i n der Diskussion m i t M a x A d l e r auf dem 5. Deutschen Soziologentag, Schriften der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, I. Serie, V. Band, S. 116. 20 Wesen und Wert 2 , S. 63, A n m e r k u n g 32 auf S. 116. 21 Adler, Schriften der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, I. Serie, V. Band, S. 96. 22 Kelsen, Schriften der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, I. Serie, V. Band, S. 117. 23 Wesen und Wert 2 , S. 101. Diesen Gedanken führt Kelsen auch i n seiner Schrift: Politische Weltanschauung und Erziehung aus dem Jahr 1913, abgedruckt in: Die Wiener rechtstheoretische Schule, S. 1501 ff. aus. 24 Wesen und Wert 2 , S. 19 f., S. 42 u n d 63. Die zitierte Passage findet sich auf S. 20. 19
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sind: zu Organen der staatlichen Willensbildung" 2 5 . Parteienfeindlichkeit sei typisch gewesen für die konstitutionelle Monarchie, sie bedeute „nichts anderes als eine schlecht verhüllte Feindschaft gegen die Demokratie" 2 6 . Freilich bedeutet für Kelsen verfassungsrechtliche Verankerung der Parteien auch deren Unterwerfung unter die Rechtsordnung zur Schaffung der Möglichkeit, „die Gemeinschaftswillensbildung innerhalb dieser Sphären zu demokratisieren" 2 7 . Kelsen steht manchen Erscheinungen i n den Parteien seiner Zeit kritisch gegenüber, er bemängelt den „aristokratisch-autokratischen Charakter" des Entscheidungsprozesses in ihnen „und dies auch innerhalb von Parteien mit extrem demokratischen Programmen" 2 7 . Was die Funktion der Parteien anlangt, geht Kelsen sehr weit. Die Parteien sollen neben ihrer Rolle als Artikulationsorgan und Vertreter von Interessen auch Rekrutierungsfeld für politische Führer und Träger der gesamten politischen Bildung sein 28 . Er geht so weit, den Parteien die Verfügung über die Zusammensetzung des Parlamentes zuzugestehen: Bei der Wahl sollte nur abstrakt zwischen Parteien gewählt werden, diese sollten dann je nach ihrer Stärke die Mandatare ins Parlament entsenden 29 . Ebenso t r i t t er für eine „ständige Kontrolle" der Abgeordneten ein. Das imperative Mandat „ i n seiner alten Form" könne wohl nicht wiederkehren 3 0 , es müsse den Parteien jedoch zugestanden werden, Mandatare abzuberufen 31 . 25 Wesen und Wert 2 , S. 19. I n Österreich sollte es freilich noch beinahe 50 Jahre bis zu einer solchen verfassungsrechtlichen Verankerung der politischen Parteien dauern. Sie ist erst i m Jahre 1975 erfolgt. Daß sich gegen einen derartigen Status der politischen Parteien nicht n u r Feinde der parlamentarischen Demokratie u n d des Parteienstaates ausgesprochen haben, w i r d aus folgender Passage aus der Rede Bruno Kreiskys vor dem 22. B u n desparteitag der SPÖ, 1974, deutlich: „ W i r meinen, daß Parteien keine stärkere Verankerung haben sollten, als durch ein m a x i m a l gerechtes W a h l system und ein gutes u n d sehr liberales Vereinsgesetz, denn alles andere schafft ein Bezugssystem zwischen Partei u n d Staat u n d k a n n irgendwann einmal mißbraucht werden." Siehe: Protokoll des 22. Bundesparteitages 1974, S. 63. 26 Wesen und Wert 2 , S. 20. 27 Wesen und Wert 2 , S. 23 f.; Kelsen verweist i n diesem Zusammenhang auf Robert Michels' Schrift Zur Soziologie des Parteiwesens. 28 Kelsen bekennt sich i n Wesen u n d W e r t 2 , A n m e r k u n g 41 auf S. 118, ausdrücklich zu seinen diesbezüglichen Ausführungen i n seiner Schrift Politische Weltanschauung und Erziehung, 1913. 29 Wesen und Wert 2 , S. 44; besonders deutlich formuliert Kelsen dies i m Problem des Parlamentarismus, 1925; abgedruckt in: Die Wiener rechtstheoretische Schule, S. 1661 ff.; hier: S. 1670. 30 Wesen und Wert 2 , S. 40. 21 Wesen und Wert 2 , S. 44.
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Das Parlament ist für Kelsen der Ort der Kompromißfinduiig zwischen den in Mehrheit und Minderheit formierten politischen Parteien. Ausdruck dieses Kompromisses ist das Gesetz. V. Damit ist der dritte Schwerpunkt dieser Überlegungen erreicht: Die Funktion des Gesetzes und das Problem der Vollziehung. Der Kompromiß zwischen den politischen Lagern bezieht sich nicht auf einen Text — zumindest sollte er sich nicht lediglich darauf beziehen —, sondern auf eine Norm. Wenn diese Norm einen Kompromiß wiederspiegelt, kommt konsequenterweise ihrer unverfälschten Vollziehung große Bedeutung zu. Kelsen hat sich mit diesem Problem intensiv befaßt. Aus der ersten Auflage von Wesen und Wert der Demokratie spricht noch Ratlosigkeit, wie diese Frage zu lösen sei 32 . Bürokratie w i r d dort als „größte Gefahr für die Demokratie" bezeichnet, zugleich aber zugestanden, „die Abschaffung des Berufsbeamtentums ist ebenso wie die Ablehnung des Parlamentarismus einfach die Aufhebung der Arbeitsteilung und damit jeder fortschrittlichen Entwicklung, jeder kulturellen Differenzierung innerhalb des politischen Lebens" 32 . I n der 2. Auflage sieht Kelsen die Dinge völlig anders 33 . Seine Überlegungen sind jedoch in eigenartiger Weise gleichzeitig konsequent und inkonsequent: Es liegt auf der Hand, daß immer dann, wenn auf der Ebene der Vollziehungsorgane andere politische Kräfte als auf der Ebene des Parlaments wirksam werden können, die Gefahr einer Verfälschung des i m Parlament erzielten Kompromisses besteht. Kelsen meint, daß eine bis in die individuellen Rechtsakte fortwirkende Wahrung des Kompromisses am besten durch die Vollziehung der Gesetze durch weisungsgebundene Individualorgane bzw. durch Richter erreicht werden könnte 3 4 . Was den Aufbau des Staatsapparates anlangt, ist er sehr stark von Max Weber geprägt (und Kelsens Vorstellungen haben wiederum K a r l Renner beeinflußt 35 ). Kelsen lehnt Kollegialorgane, insbesondere aber Selbstverwaltungskörper ab. Durch sie sieht er die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gefährdet. „Eine radikale Demokratisierung der durch die Dezentralisation gebildeten M i t tel- und Unterinstanzen bedeutet geradezu die Gefahr einer Aufhebung der Demokratie der Gesetzgebung." Es sei „mehr als wahrscheinlich, 82 33 34 35
Wesen u n d Wert 1 , S. 32. Wesen und W e r t 2 , S. 69 ff. Wesen und W e r t 2 , S. 73 f. Renner, Demokratie und Bürokratie, 1946.
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daß diese Selbstverwaltungskörper — sonderlich, wenn ihre politische Zusammensetzung, ihre Majoritätsverhältnisse andere sind, als die der zentralen legislativen Körperschaft — keineswegs die Gesetzmäßigkeit ihrer Akte als ihr höchstes Ziel ansehen, sondern sich allzu leicht in einen bewußten Gegensatz zu den vom Zentralparlament beschlossenen Gesetzen stellen werden" 3 6 . Ebenso kann Kelsen der „klassischen Idee der Gewaltentrennung" wenig abgewinnen. Ein Nebeneinander zwischen Gesetzgebungsapparat und Vollziehungsapparat lehnt er ab, er sieht darin eine Ideologie zur Rettung monarchischer Reservatrechte im 19. Jahrhundert. Gewaltenteilung kann für ihn nur eine Aufteilung der Erzeugung und der Konkretisierung genereller Rechtsvorschriften auf verschiedene Organkomplexe, nicht aber „Minimisierung der Herrschaft" sein 37 . Da für ihn ja ausschließlich das Parlament der Ort der Austragung politischer Auseinandersetzungen sein soll und der dort einmal erzielte Kompromiß unverfälscht bis in individuelle Rechtsakte gewahrt werden soll, kann er auch das klassische englische Konzept von den „checks and balances" nicht akzeptieren. Unter diesen Voraussetzungen ist es naheliegend, daß Kelsen der Gestaltung von Gesetzen i m Sinne einer möglichst exakten Determinierung des Verhaltens der Vollziehung großes Gewicht beimißt. Diesen Aspekt hatte er i n der 1. Auflage von „Wesen und Wert der Demokratie" noch nicht gesehen. Er meinte, „sicherlich kann man sich der Erkenntnis nicht verschließen, daß die Gesetzgebung normalerweise als Fortbildung und Abänderung einer bestehenden Grundordnung keinem permanenten, sondern einem fallweisen Bedürfnis entspricht. Die gesetzgebende Körperschaft eines wohl organisierten Staates sollte eigentlich nur ausnahmsweise in Tätigkeit kommen, wenn es gilt, etwas an den Grundmauern des Gebäudes zu verbessern" 33 . Aber schon 1923 hat er als Referent des Verfassungsgerichtshofes die zentrale Bedeutung der Gesetzesbindung der Verwaltung — und damit der Gestaltung der Gesetze — unterstrichen. Seine diesbezügliche Ansicht findet sich im Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes, Slg. 176. Dort heißt es: „Damit überhaupt von einer näheren Durchführung eines Gesetzes gesprochen werden kann, muß dieses Gesetz nicht n u r die Bestimmung enthalten, daß überhaupt irgendwelche Maßnahmen getroffen werden — i n diesem Falle läge n u r eine formalgesetzliche Delegation vor —, sondern das Gesetz muß auch bestimmen, welche Maßnahmen zu treffen sind, w e n n es auch die nähere Durchführung dieser Maßnahmen der Verordnung über36 37 3ä
Wesen und Wert 2 , S. 72. Wesen und W e r t 2 , S. 81 ff. Wesen und Wert 1 , S. 23.
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läßt. — Damit ein Gesetz durch Verordnung überhaupt durchführbar sei, muß es i m Sinne der Bundesverfassung inhaltlich hinreichend bestimmt sein, müssen schon aus dem Gesetz allein — u n d ohne daß es der Heranziehung der Durchführungsverordnung bedarf — alle wesentlichen Momente der beabsichtigten Regelung ersehen werden. Nicht n u r das ,Ob', sondern auch das ,Wie' der Normierung muß i n Gesetzesform bestimmt sein."
Kelsen lehnt also jegliche Delegation der Festlegung des relevanten Inhalts eines Gesetzes vom Parlament auf die Vollziehung ab 39 . Freilich handelt es sich bei dem zitierten Erkenntnis um keine theoretische Aussage, sondern um eine solche über den Inhalt der österreichischen Bundesverfassung. Ihr Sinn deckt sich aber mit dem, was Kelsen später theoretisch zum Thema Legalitätsprinzip ausgesagt hat. (Bemerkenswert ist, daß Kelsen in seiner Schrift „Zur Lehre vom Gesetz im formellen und materiellen Sinn, mit besonderer Berücksichtigung der österreichischen Verfassung" aus dem Jahr 19 1 3 4 0 i m Hinblick auf die Bestimmung der altösterreichischen Verfassung über die Ermächtigung der Verwaltung zur Verordnungserlassung, die sich von jener der republikanischen Verfassung kaum unterschieden hat, noch eine ganz andere Ansicht vertreten hat.) Bis hieher war alles, was Kelsen zum Thema Vollziehung von Gesetzen gesagt hat, von seinen Prämissen her konsequent. Inkonsequent sind seine Aussagen aber im Hinblick auf seine Interpretationslehre und sein Verständnis vom Parteienstaat. Dies sei im folgenden dargelegt: 1. Kelsen sieht i m Sinne der Stufenbaulehre jede generelle Rechtsvorschrift grundsätzlich als Rahmen für die weitere, diese Rechtsvorschrift konkretisierende Rechtserzeugung an. Nach seiner Interpretationslehre kann Interpretation — als Resultat eines Erkenntnisprozesses — nur die Ermittlung eben dieses Rahmens sein; alle in diesem Rahmen möglichen Deutungen sind gleichwertig. Wenn aber das Gesetz ein Kompromiß zwischen unterschiedlichen Interessen ist und dieser Kompromiß unverfälscht bis in individuelle Rechtsakte erhalten bleiben soll, kann in dem Fall, als ein Gesetz einander ausschließende Interpretationen zuläßt, nicht jede dieser Auslegungen in gleichem Maße als Wahrung des im Gesetz ausgedrückten Kompromisses angesehen werden — (es sei denn, es handelt sich lediglich u m einen For39 Dies ist von entscheidender Bedeutung für die Frage, wie w e i t der Vollziehung Planungsbefugnisse zukommen können. Nach Kelsens i m zitierten Erkenntnis dargelegter Ansicht steht das Legalitätsprinzip dem weitestgehend entgegen. 40 Juristische Blätter, 1913, S. 229 ff.; abgedruckt in: Die Wiener rechtstheoretische Schule, S. 1533 ff. Die Verordnungsermächtigung an die V e r w a l t u n g fand sich i m § 11 des Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung, RGBl. Nr. 141/1867.
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melkompromiß). Es können dann aber nicht alle möglichen Auslegungen gleichwertig sein, sondern es müßte jener Auslegung, die den Kompromiß wahrt, der Vorzug gebühren. Bemerkenswerterweise hat aber Kelsen in seiner Interpretationslehre diesen Schritt nicht getan. 2. Geht man, wie Kelsen, davon aus, daß die gesamte Bevölkerung eines Staates in bestimmte interessenmäßig, weltanschaulich oder sonstwie geschiedene Gruppen zerfällt, und nimmt man an, daß sich diese in einer Demokratie in Parteien organisieren und politisch artikulieren, so w i r d in einem solchen Staat niemand zu finden sein, der nicht Parteigänger ist. Mißt man zudem den Parteien jene Stellung und Funktion zu, die ihnen nach Kelsen zukommen sollen, w i r d dies wohl nicht ohne Folgen für die Beamtenschaft bleiben. Nach Kelsen soll es doch ausschließlich Sache der Parteien sein, die personelle Zusammensetzung des Parlamentes zu bestimmen; Mandatare sollen von den sie entsendenden Parteien jederzeit ausgewechselt werden können. W i r d nun eine Regierung von einem so besetzten Parlament bestellt, so ist es wohl unausweichlich, daß die Entscheidung über die Zusammensetzung der Regierung i n Parteizentralen fällt. Wenn nun die Parlamentsfraktion der Mehrheit, die eine Regierung parlamentarisch stützt und die Regierungsmannschaft von derselben (oder denselben) Parteizentrale(n) berufen sind und von diesen jederzeit wieder abberufen werden können, wie sollte da die Bestellung von Beamten und die Erteilung der entscheidenden Weisungen an Beamte anderswo erfolgen als wiederum in einer Parteizentrale? Selbst wenn versucht werden sollte, dies rechtlich auszuschalten, wäre dies unausweichlich, denn ein Regierungsmitglied, das nicht die Beamten bestellt und die Weisungen erteilt, die der Parteispitze genehm sind, könnte sofort abberufen werden. Und angesichts der von Kelsen selbst als Problem erkannten „aristokratisch-autokratischen Tendenzen" in den Parteien und der üblichen Parteidisziplin 4 1 wäre ein solcher Machteinsatz gegen „Unbotmäßige" gewiß. Wie unter diesen Voraussetzungen erreicht werden soll, i m Namen des Prinzips der Legalität, „jeden parteipolitischen Einfluß auf die Gesetzesvollziehung der Gerichte wie der Verwaltungsbehörden" auszuschließen, ist nicht zu ergründen. Wie sollte eine Verankerung der Parteien in der Verfassung „einer gesetzwidrigen Wirksamkeit der politischen Partei Schranken" ziehen können, wenn alle Vollziehungsorgane, die diese Rechtsordnung wahren sollen, unausweichlich mit Personen besetzt sind, die total in Loyalitätsbeziehungen zu Parteien eingebunden sind? Ist es nicht allzu optimistisch, zu erwarten, Parteien würden von ihren Parteimitgliedern nicht zuerst die Loyalität zur 41
Wesen und Wert 2 , S. 23 f.
18 R E C H T S T H E O R I E , B e i h e f t 4
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Partei erwarten und dann erst fragen, was i m Gesetz steht? Unter diesen Voraussetzungen sieht es aber mit der Vollziehung der Gesetze und mit der unverfälschten Erhaltung des i m Gesetz zum Ausdruck kommenden Kompromisses zwischen den politischen Parteien eher trist aus. Warum sollten die Parteien der Mehrheit nicht versuchen, ihre Machtchancen zu nutzen und auf ihre Parteigänger i m Vollziehungsapparat i m Namen der Parteiloyalität zum Zwecke der Verfälschung des Kompromisses, der i m Gesetz seinen Niederschlag gefunden hat, Einfluß nehmen und die Parteien der Minderheit nicht ebenfalls ersuchen, die Legalität der Vollziehung durch Parteigänger zu „verdünnen"? Was Kelsen als Schwäche einer Vollziehung der Selbstverwaltungskörper diagnostiziert, wäre dann wohl eine unausweichliche Schwäche der Vollziehung überhaupt. Kelsen übersieht augenscheinlich, daß die Bedingung der Möglichkeit einer unverfälschten Vollziehung von Gesetzen neben rechtlichen Absicherungen gegen den Mißbrauch der Weisungsbefugnis die Herausnahme der Beamtenschaft aus der parteienstaatlichen Einbindung, somit aber die Existenz von sozialen Bereichen ist, die nicht von Parteien erfaßt werden. Dies hat aber die Unvereinbarkeit von Beamtenstatus und parteipolitischer Betätigung und eine spezifische soziale Stellung des Beamten zur Voraussetzung. Daß Kelsen dies übersehen hat, ist verwunderlich, denn er hat seine Schriften zur Theorie der Demokratie in einem Staat geschrieben, dessen Beamtenschaft zu dieser Zeit zu einem erheblichen Teil noch nicht i n Parteiloyalität verstrickt und die gerade deshalb zur unparteilichen Vollziehung von Gesetzen befähigt war. Der Grund hiefür war ein Fortwirken der in der konstitutionellen Monarchie begründeten Spezifika des Berufsbeamtentums. Es darf nicht übersehen werden, daß die besondere Stellung und das besondere Selbstverständnis der „Krone" i m franzisko-josephinischen Österreich, als eines außerhalb der sozialen und nationalen Konflikte stehenden Faktors, prägende Auswirkungen auf die Haltung und Berufspraxis der Beamtenschaft gehabt hatte, und daß diese Prägung noch lange Nachwirkungen gehabt hat. Augenscheinlich war für Kelsen die korrekte Funktionserfüllung der Beamtenschaft so selbstverständlich, daß er deren Voraussetzungen übersehen hat.
DEMOCRACY A N D PROCEDURAL VALUES OF L A W - M A K I N G By Jerzy Wróblewski, Lodz I. Kelsen on Democracy and Law-making 1. Democracy appears as one of the top ideas of political thinking and is, at the same time, one of the concepts most loosely defined and used in different, sometimes seemingly contradictory, ways. There are, however, two clusters of ideas, either opposed or linked together, which are referred to by the terms "formal democracy" and "material democracy", or by their synonyms or quasi- synonyms. They are used in many languages for political discourse and for theoretical reflection. I n contemporary political ideology these two concepts are linked w i t h different values of sociopolitical systems and w i t h legal institutions thought of as instruments of their implementation. Kelsen's political ideas are strictly linked w i t h liberalism and his analysis of parliamentary democracy has channelled liberal thought for many years. Kelsen as the founder of normativism dissociated himself from Kelsen as a political thinker and as an active politician 1 . I n legal theory Kelsen proclaimed axiological neutrality: "From the standpoint of science, free from any moral or political judgements of value, democracy and liberalism are only two possible principles of social organization, just as autocracy and socialism are. There is no scientific reason why the concept of law should be defined so as to exclude the latter" 2 . This is a reflection of the general idea of ideological purity of the Pure Theory of Law linked w i t h declared relativistic axiological anticognitivism 3 . 1 Cf. e. g. H. Kelsen, Juristischer Formalismus u n d die Reine Rechtslehre, Juristische Wochenschrift 58, 1929, p. 1724. Kelsen is w e l l aware, however, that „ i n dealing w i t h legal questions the elimination of political issues involved is always relative, never absolute" (H. Kelsen, The Law of United Nations, London 1950, p. X I I I ) . 2 H. Kelsen, General Theory of L a w and State, Cambridge 1949, p. 5. 8 H. Kelsen, Die Philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre u n d des Rechtspositivismus, Charlottenburg 1928, § 36; Idem, Absolutism and Relativ i s m i n Philosophy and Politics, in: H. Kelsen, What is Justice? Berkeley Los Angeles 1957; Idem, Value Judgements i n the Science of Law, ibidem.
18*
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Kelsen's separation of his legal theory from politics does not, however, obliterate relations between the conceptual apparatus of the Pure Theory of Law and political ideas. This is especially the case w i t h the definition of democracy as " . . . the way i n which . . . the legal order is created" 4 and political analysis of the essence and value of democracy 5 . Kelsen's ideas of democracy are paradigmatic for liberal thought from classical Liberalism of the X I X - t h century to Neo-Liberalism of our time. The former is linked w i t h the period of economic prosperity of those who made business in a free-market economy w i t h the threat of social conflicts lurking behind the political arena, the latter form of liberalism, proper for the second half of our century, is fighting for a relevant place in the clash between socialist ideas of changing the sociopolitical system of capitalism as a whole and various interventionist ideas of a "welfare state". Neo-liberalism opposes both these two extremes, naming either "the road to serfdom" and preaching a new "constitution of liberty" 6 . Kelsen expresses the ideas of liberal democracy w i t h some explicitly formulated reservations. The value of democracy is relative: democracy is appraised as the value for safeguarding freedom (the basic value of formal democracy) and not social security (according to Kelsen the basic value of material democracy) 7 . Kelsen is aware that the opposites of democracy and autocracy, capitalism and socialism, are " . . . two decisive problems of justice of our time" 8 and, therefore, are linked w i t h basic choices of Weltanschauung 9. 2. I n any comprehensive construction of democracy problems of law-making play a highly relevant role 1 0 . Especially the making of statutes in continental law appears as the most important activity of parliament thought of as the true representation of political forces operative in society. Democracy of law-making is the most important component of the democratic system as a whole. " I t is of the essence of a democracy that the laws are created by the same individuals who are 4
Kelsen, General . . . , p. 284. H. Kelsen, V o m Wert u n d Wesen der Demokratie, Tübingen 1929; Idem, General . . . part I I chapt. I V ; Idem, Das Problem der Parlamentarismus, W i e n - Leipzig 1925. « Cf. F. A . Hayek, The Road to Serfdom, Chicago 1944; Idem, The Constit u t i o n of Liberty, Chicago 1960. 7 Kelsen, What . . . p. 10. 8 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien I960 2 , p. 429. 9 Kelsen, V o m Wert . . . chapt. X . Cf. Idem, Allgemeine Staatslehre, B e r l i n 1925, § 50. 10 Kelsen, General . . . p. 298 sq. 5
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bound by these laws" 1 1 . The democratic procedure of law-making determines the form of the state 12 . The crisis of parliamentarism discussed by Kelsen and others appears always as a crisis i n the factual hierarchy of the "sources of law" and in a correlative lack of balance between legislative and administrative power. Democracy of law-making has to be linked w i t h a democracy of administration 1 3 . Law-making appears at various levels of norm-creative activity and this goes over the "traditional" dualism of law-making and law-applying behaviour: "The question as to the method of creation, that is, the question whether creation of law is democratic or autocratic, must .. . be formulated for each stage separately" 14 . The crisis of parliamentarism is also linked w i t h liberal and neo-liberal criticism of the ideas of material democracy 15 . 3. The purpose of the present essay is to discuss one of the aspects of democratic law-making. My contention can be summarized in two theses: (1) There are some procedural values of law-making relevant for any democracy w r i t large. Even taking into account the opposition between formal and material democracy and various political ideas defining both concepts, there are some procedural values in question operative in each of them; (2) Formal values are not sufficient either for theory and ideology of democracy or for practical activity w i t h i n its framework; the demonstration of the former is given in the present essay based on the analysis of Kelsen's ideas and the arguments for the latter are only outlined in reference to general philosophy of practical activity. This contention determines the scope of the present essay. The first part outlines briefly essential features of formal and material democracy and their relation w i t h law-making. The second part identifies and analyzes procedural values of law-making.
11 12 13 14 15
Kelsen , Kelsen , Kelsen , Kelsen , Kelsen ,
General . . . p. 36, 88; Idem , Reine . . . p. 143, 283. Reine . . . p. 283. V o m Wert . . . chapt. I I I , V I I . General . . . p. 298. V o m Wert . . . chapt. I V , V ; Idem, Das Problem . . . passim.
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II. Democracy and Law-making 4. Opposition of formal and material democracy appears i n many forms i n various political ideologies of the near past and of the present. Modelling this opposition I would like to stress the fundamental features of each of the concepts in question 16 . Formal democracy is based on the principle of formal equality of liberty. This principle is, roughly speaking, understood i n the following way: the w i l l of the state expressed by the law determines the scope of liberty according to the content of public opinion adequately represented by the law-making authority. This defines the principal form of law-making for statutory law systems, i. d., the making of statutes. A l l other normative acts have to be consistent w i t h the content of statutes and are to be created according to the procedures determined by them. Equality before the law is defined as "formal equality" 1 7 because each individual or group is expected to be treated i n the same way without taking into account real inequalities between them. Making of the w i l l of state expressed i n statutes depends on the opinion of the majority which, however, has to take into account the opinion of the minority according to the principle of tolerance and, then, expresses a compromise 18 . The majority and tolerance principles are based on the already mentioned idea of formal equality. Thus " . . . the principle of majority, and hence the idea of democracy, is the synthesis of the ideas of freedom and equality" 1 9 . This conception of the majority principle forms a formal limitation of the w i l l of this majority. There is also, as a rule, a second limitation of the majority: the rights of individuals which determine the limits of legislative power and are expressed by constitutional rules 20 . The dominant ethos of formal democracy in liberalism is the minimalization of the activities of the state i n any areas w i t h the exception of maintaining internal order and external safety and integrity of the state. The ideology of non-interventionism dominates the functioning of the state-machinery, necessary for liberty which the state has to preserve. I t means primacy of "liberty from" over any forms of "liberty for" or any tendencies to make equality not merely formal. Material democracy is based on the idea of social justice, which requires shaping of an adequate social order i n which there is material 18
Kelsen, V o m Wert . . . chapt. I X . For an analysis of the concept of „formal equality" cf. O. Weinberger, Gleichheitspostulate, Oesterr. Z. f. öff. Recht 25, 1974, p. 27 sq. 18 Kelsen, General . . . p. 288. 19 Ibidem, p. 287. 20 Ibidem, p. 261 sq., and p. 90, 235 sq. 17
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equality of individuals, and which makes formal equality of liberty real. This master idea is understood in the following way: equality of liberty is possible only in a social order which is just, i. e. provides for a basic material equality of individuals in terms of a minimum standard of life, of real chances of participation in political and cultural activities and institutions etc. The degree of toleration of such an order for differences between individuals is differentiated depending on the concrete sociopolitical ideologies and the spheres it is relevant for. Nevertheless, some basic equalities are thought of as necessary for the operation of the sociopolitical mechanisms of the system. Since this type of social order does not exist or cannot be maintained without an intervention of the state, such activity is not thought of as detrimental for liberty but is treated as a necessary factor for shaping this order, for creation of liberty and of other values. The idea of social justice is linked w i t h institutions formulating the w i l l of state. This w i l l should be a representative process based on the principle of majority, like in formal democracy. There are, however, some differences between representative democracy Kelsen deals with, and new forms of participatory democracy which are developed in socialist or capitalist interventionist states of to-day 2 1 . The difference lies in procedures of representation and participation and the extent i n which the w i l l of the minority is taken into account in political compromises. The partisans of the status quo are against new order and in the dichotomic model of society these partisans are, as a rule, a minority. I n this situation the degree of compromise and of tolerance is determined by concrete power structures and by concrete political ideologies. In any case, according to Kelsen, " i f democracy is a just form of government, it is so because it means freedom, and freedom means tolerance" 22 . 5. Law-making seems an important element working in the machinery of democracy, at least in all statutory law systems. Law-making is the factor determining limitations of individual liberty in formal democracy, and is the major instrument for implementing the idea of social justice in material democracy. I n formal democracy there is a basic conflict between the general w i l l of the social order, imposing some restrictions on individual l i berty, and the w i l l of individuals. The problem is how to solve this conflict in the best way. According to the ideas of formal democracy 21 Cf. for discussion selected reports in: Equality and Freedom, ed. Gray Dorsey, New Y o r k - Leiden 1977, vol. 1; K. Opalek, The Concept of Participation; E. Flower , Participatory Equality — an Emerging Model; M . Samu, Participation from some Aspects of Socialist Legal Theory. 22 Kelsen , What . . . p. 23.
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it is through the parliamentary representative system, that the conflict is reduced to a "socially feasible m i n i m u m " 2 3 . So it is also for the partisans of material democracy, provided that the system in question can t r u l y represent the strength of political forces inherent i n society, which is affirmed by some political movements, and is denied by some others. The so-called crisis of parliament can be dealt w i t h by various means, among them either by enforcing its democratic components or by coupling it w i t h other forms of representation 24 ; one can, however, even attack the possibility of improvement by searching for new mechanisms of the forming of the w i l l of state, without preaching anarchistic ideas of its negation. This basic criticism left out, one treats law-making on the parliamentary level as the highly relevant factor for a functioning democratic system w r i t large. This is the level of statutory law-making and typical liberal ideology is centered on statutes as principal acts of parliament. The democratic process of representation is expressed, thus, i n the enactment of statutes. There is, however, a very important level of law-making which is below statutes. This law-making is dealt w i t h i n Kelsen's analysis in the hierarchical dimension and degrees of dynamic decentralization, and in territorial dimension and degress of static decentralization. Hence " . . . democracy is not only method of law-creating whose character is decentralized in a dynamic sense; it has also an immanent tendency towards decentralization in a static sense" 25 . Problems of democracy connected w i t h the dimension of the hierarchy of law-making are based on the fact that law-making by enactment of statutes is not the only form of law-making relevant i n democracy 26 , and the "web of government" is more complex. The sublegislative level of law-making is also important for the implementation of the ideas of formal and material democracy. The accent put on statutory enactments is due to the basic idea of axiological unity of the legal system i n which all sub-legislative law-making is strictly subordinated to the statutes and serves only for their implementation, or — i n other words — is application of statutory norms by creation of lower level norms. The idea of relativity of the opposition of creation and application of law formulated by Kelsen can be also interpreted i n this manner 2 7 . 23 24 25 29 27
Kelsen , Ibidem, Kelsen, Kelsen, Ibidem,
V o m W e r t . . . chapt. I. chapt. V. General . . . p. 311. Reine . . . p. 284. p. 242 sq., Idem, General . . . p. 132 sq.
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For the is thought determine the w i l l of
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ideology of democracy w r i t large the relativity in question of as a guarantee that the statutes, enacted by parliament, the content of sub-legislative law-making so as to preserve the represented society.
This law-making is usually the task of administrative law-making agencies which are, as a rule, professional and bureaucratic bodies and their control through public opinion is rather restricted. The importance, hence, of institutional guarantees that their law-making is determined by statutory enactments is of highest importance for d e m o c r a c y . Because of the limited scope of my essay I w i l l leave out the substatutory administrative law-making. I would like, however, to stress that this area of law-making is very important for democracy and requires a separate analysis. Problems of democracy connected w i t h the territorial dimension are usually discussed i n terms of local autonomy: "So-called local autonomy is a direct and deliberate combination of the ideas of decentralization and democracy" 28 ; local agencies of law-making, e. g. the representative and elective bodies, can enact laws valid on their territory. Central administration and local administration 2 9 have law-making competences and normative acts enacted by them very deeply influence position of individuals and functioning of the state machinery. I n the present essay I w i l l , however, leave out the problems of law-making as an expression of local autonomy. It is a topic widely discussed to-day, but requires a separate analysis 30 . I I I . Procedural Values of Law-making 6. I n the process of law-making there are several values. Lawmaking is axiologically conditioned and a model of rational lawmaking identifies the values operative in this process 31 . A typology of values of law-making, as any typology, is determined by the purposes it is expected to serve. I n the present essay we are interested in the procedural values of law-making adapted to the needs of discussing democracy of law-making on a statutory level. Such a typology concerns the static system of values in question or is 28
Kelsen , General . . . p. 314. Ibidem part I I , chapt. V / C / . 30 Cf. e. g. Tendencje rozwojowe wladzy lokalnej we wspólczesnym swiecie, ed. S. Zawadzki and others, Wroclaw - Warszawa - K r a k o w - Gdansk 1976; International Handbook on Local Government Reorganization, ed. D. C. Rowat, Westport 1980. 31 Cf. J. Wróblewski, A Model of Rational L a w - M a k i n g , ARSP 2, 1979. 29
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applied dynamically to the singled out phases of the process of lawmaking, and the former is the starting point for the latter. To analyze procedural values of law-making i t is, however, necessary to outline a general typology of the material and formal values of law-making in which procedural values are placed. 7. Formal values of law-making can be accepted by the law-maker whatever is a content of his decisions. This is why I use the term "formal" in this context. There are three groups of them: formal values sensu stricto , formal effect-values and formal procedural values. Formal values sensu stricto are rationality or optimality of the lawmaking decision. This decision is internally rational if it is justified by knowledge and axiological preferences of the law-maker. A decision is externally rational if it is internally rational and its premisses are accepted by a person qualifying it in terms of "rationality" 3 2 . Optimal decision is the best decision in a given situation according to the accepted criteria of optimalization. As a rule this is the question of maximalisation of positive values and minimalization of the negative ones provided both are comparable according to accepted measures. Formal effect-values concern the qualification of law-making decision from the point of view of their consequences. There are many consequences of law-making decisions and, hence, many kinds of values in question. The basic value is effectiveness, which from a praxeological point of view means an implementation (or degree of implementation) of the law-maker's purposes. There are various other values such as economization, profitableness etc. Formal procedural values appear as legality and as procedural implementation of remaining values. These values are discussed later i n detail (points 8, 9). A l l formal values can be implemented by law-makers aiming at opposite purposes and, thus "contradictory statutes" can be made rationally, effectively, legalistically and so on. The law-maker cannot act, however, without accepting some material values, because he has to determine what he wants to do, and not only how to do it. Material values sensu stricto are the purposes of the law-maker's activity. These purposes are, as a rule, a realization of determined social states of affairs and shaping of defined social attitudes. The degree of precizeness of these purposes is rather differentiated, their determination, however, is necessary for rational law-making 3 3 . 32 About concepts of internal and external rationality cf. idem , Legal Decision and its Justification, Logique et analyse 5 3 - 5 4 ; 1971; Idem, Justification of Legal Decisions, Revue intern, de philosophie 127 - 128, 1979. 33 J. Wróblewski, A Model . . . p. 191 sq.
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Material procedural values are those values which the law-maker aims at by shaping procedures of law-making. There are two such values consisting in the impact of public opinion and of scientific opinion on the law-making process. The former value is termed shortly "democracy" and the latter "scientism" and are to be dealt w i t h in detail later (point 10). The values outlined above can be discussed, however, from the point of view of their role in the singled out phases of law-making process, viz. during the phase of initiative, drafting and of enactment of law (point 11). 8. Legality is a formal procedural value when the ideology of the law-making accepts legal regulation of the process of making law. This value is, however, common in all ideologies of rational lawmaking because the law-maker cannot rationally reject his compliance w i t h valid rules of procedure. A n implementation of legality depends, of course, on the existence of legal norms regulating the law-making. Not all types of law-making and not all stages of the law-making process are, however, regulated by law. Therefore it is not a paradox to the state, that this formal value can not always be implemented. Legality, as a formal value of law-making, appears either as a formal or material legality 3 4 . The use of the former evaluates law-making positively if it is consistent w i t h valid procedural norms without taking into account the content of the enacted law. The use of the latter depends on the content of enacted law and law-making consistent w i t h norms regulating it is appreciated either positively or negatively depending on the extra-systemic evaluation of its content. Qualification in terms of material legality seems to be, thus, a necessary factor of changing law by evaluation of procedures and contents of its enactment. It is patent that this evaluation transcends the framework of formal procedural values. 9. Formal procedural values serve the implementation of other formal and material values. Procedures of law-making can and ought be regulated stimulating and safeguarding other values, such as rationality, effectiveness, efficiency etc. The procedure can safeguard the internal rationality of law-making if procedural institutions stimulate law-making justified by the premisses accepted by the law-maker. The procedure should single out 34 J. Wróblewski, Wartosci a decyzja s^dowa [Values and Judicial Decision], Wroclaw - Warszawa - K r a k ó w - Gdahsk 1973, chapt. I l l ; Idem , Problems of Legality i n Marxist Theory, ARSP 4, 1978, p. 503 - 507.
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particular phases of the law-making process, guarantee participation of determined types of persons or organizations, and construct controlling mechanisms inside the process. The procedure should determine who participates in the law-making process, when and how. The proper procedure can also support external rationality of law-making by stimulating the law-maker so, that he accepts the premisses of his activity which have relatively good chances to be acknowledged by relevant external criticism. The procedure can be useful for backing the formal effect-values, and especially its effectiveness. This value is in part conditioned by rationality, and partly by efficacy of the law-making process, measured by its duration and its costs. The duration i n question is counted from the beginning of formal initiative for law-making t i l l an enactment of law. It is not easy to assess the time in which one ought to terminate a lawmaking process in a manner guaranteeing the adequate level of its result. This depends on the features of law (e. g. a difference between relatively small statutes and a codification, or an administrative executive regulation) and on the quantity and characteristics of persons or organizations participating in the law-making process. The limits of required time are on the one hand an excessive haste resulting i n poor quality law, and an unjustified delay in satisfying social needs, on the other hand. Effectiveness of the process is measured also by its costs. Among these one counts costs of participation, and costs of gathering and processing of needed information, and so on. 10. Material procedural values of law-making are defined as these material values which the procedure can implement i n high degree independently of the law-maker's purposes. I single out two values of this group: democracy and scientism. By "democracy" in this context I mean participation of public opinion in the law-making process in a manner enabling to influence law-making decisions 35 . The formal measures of democracy as value of lawmaking are: the number of participants, which are thought of representative of the public opinion as a whole; the field of problems which this opinion is dealing with; the number and importance of phases of the law-making process which can be influenced by the opinion in question. The material measure of implementation of democracy as value of law-making is the factual role of public opinion safeguarded by proper procedures. 35 Kelsen restricts his observations to election of parliament and the process i n which parliaments make statutes, cf. Kelsen, Reine . . . p. 143.
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Material values of democracy are put forth in any democratic ideology of law-making, although there are large differences between various ideologies of this type. These differences depend on the axiology of the socio-political system. Public opinion should be taken into account determining the preferences as premisses for rational lawmaking (internal rationality) and as one of the factors influencing its criticism (external rationality). Knowledge of public opinion is necessary for any law-maker for assessing reactions of the population to law which w i l l be enacted even if a law-maker does not accept democracy as a value of law-making: he has to take it into account as one of the factors relevant for effectiveness of law. A fortiori this holds for a rational law-maker who accepts the relevance of this opinion also for shaping the legislative preferences and for supplementing any gaps in the professional scientific knowledge. There is a great variety of forms of participation of public opinion depending on the general sociopolitical and constitutional framework of law-making. Many law-making agencies have democratic character — this is a common feature of parliaments as representative bodies. The existence of monocratic law-making organs, often appearing in administration, does not exclude participation of public opinion in some phases of the law-making process. This participation, provided that it is not an organizational fiction, can appear either as a genuine law-making activity (e. g. initiative, drafting, enactment) or has a controlling function (e. g. evaluation of particular phases of the lawmaking process). These two forms are practically linked, although they can be kept separate by procedural institutions. "Scientism" as procedural material value of law-making in the present essay means participation of scientific opinion i n law-making process in a manner safeguarding its influence. The measures of this influence are the same as those of the influence of public opinion dealt w i t h above. According to the scientific ideology of law-making science is the basis of this activity. This ideology is challenged when one opposes the area of evaluative practical politics and the area of cognitive scientific theory, and when one stresses the controversies in scientific opinions and their inadequacy for law-making purposes. Scientism as a material procedural value of law-making is less politically involved than democracy. Attitudes of law-maker and ruling groups determine the relation toward science and its social role. The period of scientific and technological revolution of our times favours managerial tendencies stressing the importance of science in solving social problems ("sociotechnics"), and is related w i t h serious expectations concerning possibilities of science. The minimal role of science is
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that of a depository of the most t r u t h f u l information which forms the basis of any instrumental knowledge. This type of knowledge is necessary for rational l a w - m a k i n g and is assumed i n concepts of internal and external rationality. I n this way scientism determines the effectiveness of l a w - m a k i n g and, i n general, serves as a necessary instrument for the implementation of all remaining formal and material values. There are different forms of participation of scientific opinion i n the l a w - m a k i n g process. The easiest is a call for scientific experts. To make the influence of scientific opinion real is, however, more complicated. The crucial issue is the existence of scientific opinion i n matters which are needed by the law-maker, and possibility of an instrumental use of such opinion. Only if these two conditions are fulfilled the question of institutional guarantees for the role of science becomes relevant. There are various possibilities of such institutions: use of existing channels of influence, construction of special procedural institutions, stimulation of particular research etc. W i t h i n the ideology of l a w - m a k i n g there can appear some tension between democracy and scientism as procedural values. This occurs when one opposes public and scientific opinion i n v i e w of their content, of the scope of representative persons, of institutionalization, and of role i n the l a w - m a k i n g procedure. The content of scientific opinion can be inconsistent w i t h the content of public opinion, and the law-maker has to choose between them and, eventually, to manipulate one of them to make the controversy less significant. The scope of persons relevant for each type of opinion is different and, as a rule, public opinion is less institutionally organized than the scientific one. Public opinion is "democratic" i n the ethymological sense of the term, because it is formed by demos, although i t can be also not democratic i n its content. Scientific opinion is formulated by scientists, who are identified b y their institutional role or performed functions. Scientific opinions i n matters relevant for l a w - m a k i n g can be more or less different from public opinion depending on several factors, such as e. g. an institutional separation of science from society by barriers of access; links of functions of science i n concrete sociopolitical contexts w i t h very narrow groups of society. The l a w - m a k i n g procedure takes into account the opinions i n question i n rather differentiated forms. This depends on the axiology of the system and on the practice of its functioning. There are two extremes: a neglect of public opinion as not fit to any rational process of l a w making, and a disregard of scientific opinion as ex hypothesi not relevant for any political choices.
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Problems of law-making procedures are linked w i t h the scope and form of law-making. The paradigmatic issue is codification. Firstly, codification requires a highly specialized and usually rather long process of drafting, which can be performed only by highly competent and trained specialists. And, secondly, codification is often thought of as the best form of law-making i n relatively "mature" areas of law, good for uniformization of the application of law and best for an easy access of the general public to this "source of law". For codificational demands science sometimes is thought of as a potential danger to the value of democracy 36 . Conflicts of democracy and scientism as material procedural values of law-making exist in all contemporary developed countries where the impact of the technological revolution is felt. The effects of this revolution deeply influence law, position of the lawyer and the problems of legal decision-making 37 . I n this situation these effects are linked w i t h the relation of bureaucracy and technocracy. Both of them are, roughly speaking, antidemocratic declaring for highly specialized procedures of legal decision-making including decisions of law-making. But there is also a difference between the bureaucratic and technocratic attitudes: the former is norm-oriented and favours a ritualistic incapacity for any innovation; the latter is result-oriented and favours effective action based on adequate instrumental knowledge; the former is not interested in any use of science, whereas the latter uses science as the necessary tool of rational action 3 8 . 11. A l l procedural values of law-making are related w i t h particular phases of the law-making process. There are three principal phases of the process in question: initiative, drafting and enactment. The phase of initiative englobes the following elements: informal initiative, formal initiative, evaluation and selection of formal initiatives. The phase of drafting consists in preparation of alternatives of legal regulation, choice of alternatives, their evaluation, preparation of new drafts and so on. The basic cycle is repeated u n t i l a final draft is prepared. The phase of enactment is the end of the law-making process and consists of a conventional act of transforming the final draft into valid law. 36 Cf. e. g. J. Esser, Gesetzesrationalität i m Kodifikationszeitalter und heute, 1977. 37 E.g. S. Cotta, La sfida tecnologica, Bologna 1968, chapt. V I I - I X ; V. Frosini, I l d i r i t t o nella socità tecnologica, Milano, 1981, part. I I , chapt. 1,4. 38 Cf. J. Wróblewski, Bureaucracy, Technocracy and Democracy, in: L'Educazione giuridica, ed. Α. G i u l i a n i and Ν. Picardi, vol. I V , Perugia 1981, point 9 (in print).
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The procedural values are operative in each phase of the law-making process. I n the present essay I w i l l l i m i t my remarks to the problems of implementation of two material procedural values, i. e. of democracy and scientism. I w i l l only outline the basic issues of these phases related w i t h these values. The phase of initiative contains several stages. The crucial issue is connected w i t h the number of persons (or organizations) having the right of formal initiative and w i t h evaluation and selection of formal initiatives. Enlargement of the circle of participants at these activities implements the value of democracy, whereas its limitation to a selected and qualified few can be treated as an implementation of scientism favouring efficiency of the phase by limiting the bulk and rising the level of information dealt with. Legal institutions, as a rule, determine the participation in question as highly relevant, because they determine targets and shaping of content of the drafting phase. The phase of drafting appears as a collective and complex process, when various bodies participate in preparation, discussion and in bettering of successive alternatives of drafts. The degree of complexity of this phase is rather differentiated for various levels of law-making. There is an obvious interference of the values of democracy and scientism expressed in the number of participants and relevance of their opinions at decisive stages of this phase. There are various institutional possibilities of organizing the participation in question, deeply involved in axiology of the whole sociopolitical system. There are deep differences in that respect even in a given system concerning drafting of statutes and drafting of administrative regulations. The widely known need for highly qualified expertise in dealing w i t h a more and more growing and complicated field regulated by law is contrasted w i t h the role of democratically representative bodies as wielders of political power. Here is the battlefield of democratic and technocratic tendencies in the ideology of the law-making 3 9 . The phase of enactment ends the law-making process. It is a "formal" phase if it means only accepting a final draft of law, as it is often in administrative law-making. It is, however, more complicated for statutory law-making when it means voting of the final draft which can be negative and, hence, can stimulate the starting again of a drafting phase or stopping the process. It seems that here only the material value of democracy is at stake when enactment is made by a collective and representative body 4 0 . 39
Ibidem point 13.
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12. The foregoing analysis demonstrates that the idea of formal democracy defined by procedures of law-making is linked not only w i t h formal procedural values but w i t h material procedural values too. Formal democracy expressed i n law-making institutions is related w i t h a set of values. Some of them are procedural values discussed i n the present essay. The values of law-making proper to formal democracy connected w i t h Kelsen's liberal ideas are in part procedural values. These values are either formal or material. The former are accepted by any lawmaking in our culture, whether connected w i t h democratic systems or w i t h un-democratic ones. The latter, however, are involved i n axiology of a sociopolitical system, and especially this concerns the value called here "democracy". Kelsen's idea of formal democracy seems not, therefore, purely "formal", because it presupposes the implementation of the value of democracy of law-making. This is a procedural value, but not a formal procedural value. Kelsen's ideas express the liberal idea of democracy, and this implies some content of the values implemented by law-making, i. e. the idea of democratically representative majority which takes the decisions in the spirit of tolerance for opinions of the minority. A n d this content can be institutionalized in procedures of law-making or practically implemented in the uses of the law-making process. 13. Links between formal and material procedural values of lawmaking do exist. The present essay demonstrated that Kelsen's idea of formal democracy defined in a procedural manner implies some material procedural values. There is the question whether one can define democracy in a way which would be really formal. Probably one can answer w i t h "yes", but the constructed concept w i l l probably not have any practical relevance. This drawback can be thought of as a reflection of fundamental features of any practical activity. To act rationally one has to answer not only the question „how to act?" but also to have some purpose of the action itself. I n other words: the formal values are not enough to act; even an extreme ritualist assumes that he should behave according to the valid rules whatever their content, and this means that he accepts such kind of behaviour as his purpose. 40 There are special problems of collective K. J. Arrow, Social Choice and I n d i v i d u a l Values, chapt. V I I / 5 / ; O. Weinberger, Abstimmungslogik formen des Rechts, Graz 1979. F. Studnicki, Ο Paùstwo i prawo 2, 1971.
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decision-making cf . e. g. New Y o r k - London 1951, u n d Demokratie, in: Redecyzjach kolektywnych,
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If, therefore, one deals w i t h such a highly ideologically relevant topic as democracy, the impact of own attitude and preferences makes it extremely difficult to maintain the formality of values one deals with. The idea of formal democracy even in its classical elaboration in Kelsen's writings is no exception.
I I I . Demokratie und politische Theorie
P L A T O N UND KELSEN ÜBER WESEN UND WERT DER DEMOKRATIE Von Klaus Adomeit, Berlin Hans Kelsen hat sich in vielen seiner Schriften, am deutlichsten in „Vom Wesen und Wert der Demokratie" (1. Aufl. 1920, 2. Aufl. 1929), zur Demokratie bekannt. Sein Werk enthält eine politologische Theorie der Demokratie, die bis heute wohl nicht eingeholt, keinesfalls überholt ist. Nicht, oder nur selten, oder nur in Randmomenten bringt uns Kelsen eine Theorie der Demokratisierung (Reine Rechtslehre, 2. Aufl., S. 175 Mitte: „... in einem demokratischen Verfahren ..."). Was die demokratisierte Demokratie von der nicht demokratisierten Demokratie unterscheidet —: da läßt er uns allein, zwingt uns, anderswo fragend anzuklopfen, z. B. bei Piaton.
I. Die Unruhe der politischen Welt Einen Anstoß, das B i l d seines Idealstaates zu entwerfen, empfing Piaton offenbar aus der Unruhe der politischen Welt, der wie gehetzt w i r kenden Abfolge verschiedener Regierungen, verschiedener Systeme. Die Vielfalt der griechischen Staaten bot dem philosophischen Beobachter reiche Anschauung, bis h i n zum sizilischen Syrakus, wo Piaton politisch handeln wollte, doch ohne Glück. A l l e i n Athen hatte i m 5. Jahrhundert drei Verfassungsreformen gesehen, zuletzt mußte es, nach der durch Sparta erlittenen Niederlage (404), die tyrannische Staatsform sich aufzwingen lassen. Die Wechselhaftigkeit war für Piaton der Beweis, daß man die Idee des Staates bisher nur unvollkommen erfaßt hatte. Der von i h m konzipierte Idealstaat schließt Veränderung aus, soll ewig bleiben, wie er ist. Damit w i r d notwendig der Gedanke gesellschaftlichen Fortschritts aufgehoben, ebenso der Gedanke politischer Freiheit. Jaspers und, noch schärfer, Popper (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I, zuerst 1945), haben Piaton für alle Totalitarismen dieses Jahrhunderts verantwortlich gemacht, von Lenin bis Hitler, und das wäre eine schwere Schuld. Jedenfalls ist Piatons politeia, als real existierend gedacht, wohl für kaum einen von uns attraktiv. Denn wer möchte schon leben in einem strengen Kastensystem, ohne eigenen Besitz, unter einer
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Behörde, die notwendige von überflüssigen Bedürfnissen abscheidet — nur notwendige werden befriedigt —, mit Weiber- und Kindergemeinschaft, bei strenger Zensur von Schrifttum, Musik und wohl auch Privatgespräch, bewacht von „Wächtern", die man sich, nachdem ihre Erziehung minutiös geschildert ist, wie SS-Männer vorstellen muß? Glücklich kann i n diesem System allenfalls sein der PhilosophenKönig, und Piaton ist dem Vorwurf nicht entgangen (Popper!), sich selbst diese ideale Rolle auf den Leib geschneidert zu haben. Aber kann ein Philosoph wirklich glücklich sein als König eines Staates, i n dem die Philosophie aufgehört hat? Denn wenn Piatons Werk durch die Jahrhunderte hinweg den Geist bewegt, für manche der Inbegriff von Philosophie ist („alles spätere Denken nur Fußnoten zu Piaton"), dann gerade durch seine Offenheit, durch das freie gedankliche Experiment, durch die Vielfalt der Stimmen, Positionen, Urteile. Sicher hatte Piaton es leicht, diese Fülle zu bringen, weil die erregenden Diskussionsrunden, die Sokrates sich mit den Sophisten geliefert, denen er atemlos gelauscht hatte, v o l l i n seinem Gedächtnis waren. Für Nietzsche ist das Protokoll, das Piaton uns von den Sophisten überliefert hat, seine größere Leistung als der i h m eigene Beitrag. So läßt Platon den leidenschaftlichen Demokraten auftreten (Protagoras), den kalten Taktiker (Gorgias), den anarchistischen Zyniker (Thrasymachos), der jeden qualitativen Unterschied zwischen der Staatsgewalt und der Gewalt des Verbrechers verneint: und an solchen Gegensätzen entzündet sich seine Philosophie. Diese Kollegen würden i m Platon-Staat, nach ihren ersten Worten, von Spitzeln denunziert, von Wächtern abgeführt werden. Dies ist wohl der Beweis, daß Piatons Staat das Prädikat „ideal" nicht verdient. Eine literarische Bestätigung ist, daß „Der Staat", vom II. Buch ab, aufhört, ein Dialog zu sein: einer doziert („Sokrates"), die anderen Anwesenden, wie der arme Adeimantos, dürfen nur noch den Mund zu „Ei freilich!" oder „Vortrefflich geschildert!" auftun, allenfalls mit einem „Wie meinst du das?" den Dozenten zu noch weiterem Ausholen veranlassen. Sie sind keine Partner mehr, nur noch Ja-Sager. II. Die Möglichkeit einer politischen Theorie Nicht, daß damit die Akte über „politeia" zu schließen wäre. Buch I I - V I I , die Schilderung des Idealstaates, laden ein zu einer geistigen Weltreise, man erhält eine betäubende Fülle von Eindrücken, aus denen viel zu lernen ist, auch wenn man diese Welt ganz schön ekelhaft findet. Unsere schärfere Aufmerksamkeit sollte gelten dem V I I I . Buch. Hier w i r d nicht ein idealer Staat geschildert, sondern der reale, unter dem
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Gesetz der Unruhe und des Wechsels stehende, wie Piaton ihn i n der Wirklichkeit erlebt hatte und wie er bis heute unser Schicksal geblieben ist. Wie viele Staatsgründungen seit Piaton, viele mit dem Pomp des Ein-für-alle-Mal, des Ewigen, des 1000jährigen begleitet, sind zerfallen! Der heutige Ost-West-Gegensatz hat das Angebot auf zwei große Modelle reduziert; aber i m westlichen System hat man Mühe, Liebhaber des östlichen klein zu halten, im östlichen Liebhaber des westlichen, eine Lösung ist nicht in Sicht, noch nicht einmal durch Austausch der Bevölkerungen. Oberst Tejero — Spanien — und L. Walesa — Polen — wollten für ihre jeweiligen Länder jeweils das politische Gegenteil, der erste weniger, der andere mehr Demokratie, beide Patrioten. I n den früher von Europa kolonisierten Erdteilen w i r d die ganze Skala denkbarer Systeme durchgespielt, so als wollte man experimentelle Staatsphilosophie betreiben, nur fallen dabei „Menschenopfer unerhört", und von einem wirklich positiven Ergebnis — „jetzt haben wir's, und dabei werden w i r bleiben" — hört man nichts. Und unser Staat, Bundesrepublik Deutschland, als provisorium gegründet, im Hinblick auf die schon fast klinische Nervosität der germanischen Geschichte unvermutet dauerhaft, w i r d jetzt von einer Bewegung erfüllt, die sich in schöner Deutlichkeit „alternativ" nennt: es geht nicht mehr um Politik innerhalb des Systems, sondern u m Politik gegen das System, h i n zu einem neuen. Den Vertretern der alternativen Idee gelingt es bereits, das Wort „System" m i t derselben Verachtung auszusprechen wie J. Goebbels im Kampf seinerzeit gegen Weimar. Also haben w i r Anlaß zuzusehen, wie sich unsere Welt ewiger politischer Unruhe dem Blick Piatons zeigt. Er versucht Ordnung zu stiften: geistige Ordnung. Dazu unterscheidet er drei reine Typen: Alleinherrschaft, Gruppenherrschaft, Volksherrschaft. Jeder dieser Formen ist eine Verfallsform zugeordnet: die Alleinherrschaft w i r d zur Tyrannis entarten, die Gruppenherrschaft zur Oligarchie, wo man nur noch seine Privilegien kultiviert, die Demokratie zur Herrschaft des Pöbels. Jede Verfallsform rufe den Wunsch hervor, das nächste Organisationsmodell einzurichten: der Tyrann w i r d dann von einer aristokratischen Gruppe gestürzt; die Oligarchie vom neidisch erregten Volk; i n der Pöbelherrschaft w i r d der Ruf laut nach dem starken Mann, dem künftigen Tyrannen. Damit liefert Piaton eine beschreibende, die ganze Fülle von Vorgängen erklärende politische Theorie, die, weil es offenbar schwer ist, über einem so chaotischen Bereich eine Theorie zu errichten, bis heute durch keine andere abgelöst werden konnte. Nur K a r l Marx liefert ein ebenso umfassendes Erklärungsmodell: der jeweilige Staat als das Ergebnis des Kampfes von Klassen. Sonst ist weit und breit nichts ersichtlich. Max Weber's großartige Untersuchungen bleiben partikulär.
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Nietzsches Lamentieren über die zunehmende Dekadenz mag Europas Schicksal erklären, nicht aber die globale Wiederholung (heute schon in Afrika z.B.) der Entwicklung von der Barbarei zur Dekadenz, praktischerweise ohne Zwischenversuchung zur Kultur. Unsere Institute für politische Wissenschaft haben, mit ihren vielen Ordinarien und Nicht-Ordinarien, keine Theorie der Politik zustande gebracht (die letzte: Arnold Brecht, ein Denker der vergangenen Weimarer Zeit), aber es ist auch kaum aus anderen Ländern etwas bekannt geworden 1 . Also haben w i r Anlaß, uns mit Piatons Theorie genauer zu beschäftigen. Zunächst darf der Vergleich mit Marx einiges erläutern. Die marxistische Lehre stellt sich unter die Idee gesellschaftlichen Fortschritts, die platonische nicht. Bei Marx w i r d i n der Abfolge der Systeme am Ende der Kommunismus als guter Zustand erreicht, bei Piaton ist nach der Demokratie der Tyrann wieder da, sein Modell ist ringförmig, es geht wieder von vorn los. Man kann es auch tragisch nennen, vom Verhängnis sprechen. Damit kann Piaton, und dies ist des Lobes wert, die Erscheinung des „Bonapartismus" erklären, die der marxistischen Lehre nur als zu vermeidender Betriebsunfall erscheint — der starke Mann reißt die durch die Revolution frei gewordenen Kräfte an sich — nicht sehend, daß Lenin zugleich schon Bonaparte war, jedenfalls war es sein Nachfolger, nur finsterer, nie berührt von mediterraner Geistigkeit. Nach den Prüfungskriterien formaler Wissenschaftstheorie — Ausmaß der Interpretationskraft gerade auch für posttheoretische Vorfälle — k a n n Piaton Punkte sammeln, Marx nicht. Marx offeriert einen Idealzustand, den Kommunismus, den w i r inhaltlich nicht kennen, weil Marx Einzelheiten nicht schildert, über den es aber kein Hinaus geben darf. I n diesem Moment des Stationären, Arretierten sind sich beide Modelle gleich. Piaton suspendiert seine Philosophie, Marx seine Dialektik. Piaton ist aber redlicher. Einmal, weil er seinen Idealstaat detailliert schildert: wer ihn wählt, weiß, was er wählt; zum zweiten, indem er seine politische Theorie von der politischen Tagträumerei abhebt, was Marx nie unterscheiden wollte. I n Piatons Staat w i r d erörtert, was es i m Kommunismus zu essen geben w i r d (372 a ff.); von Marx und Engels sind zu diesem Thema statt theoretischer Äußerungen nur private Champagner-Rechnungen überliefert. Sokrates (nicht mehr der wirkliche, jetzt eine platonische 1 H. Rottleuthner, Rechtstheorie u. Rechtssoziologie, 1981, S. 69, h ä l t meine H a l t u n g gegenüber der Politologie für übertrieben kritisch. Das sei i h m u n benommen. Nicht hinnehmen k a n n ich, daß er m i r unterstellt, meinen Studenten etwas „weismachen" zu wollen. Wenn i h m am geistigen Austausch gelegen ist, dann sollte R. genauer auf seine Wortverwendung achten. Uber „Jurisprudenz u n d Politologie" vgl. meinen Text. ARSP, Beiheft Nr. 13 (1980), S. 120.
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Kunstfigur) w i l l zugestehn: Graupen aus Gerste, Kuchen und Brot aus Weizenmehl, mäßigen Genuß von Wein. Auf Glaukons Protest bietet er auch Zukost an (372 c): Oliven, Käse, Zwiebeln und Kohl; zum Nachtisch Feigen, Myrtenbeeren, in der Asche geröstete Kastanien. Der Genuß von Fleisch w i r d nur nach langem Zögern legitimiert, weil dies den an sich unnötigen Einsatz von Schweinehirten bedingt. Einige Kommentatoren zu Piaton halten es geniert für unphilosophisch, so in die Einzelheiten zu gehen. Hoffentlich haben sie gelernt durch Polen 1980/81, wie sehr die Frage Fleisch oder Nicht-Fleisch eine eminent politische ist. I I I . Platonische Elemente im Sowjetsystem Die praktische Durchführung der Lehre von Marx nach der geglückten Revolution von 1917 in Rußland hatte etwas Improvisiertes, es fehlte eine Rezeptur. Ob damals jemand der Gesellschaftsveränderer Platon's Staat, I I - V I I , gelesen hat? Evident ist aber, wie sehr der dann geschaffene Staat platonisch wurde. Auf drei Elemente darf hingewiesen werden. Einmal auf die Abkoppelung des Kommunismus, der privaten Besitzlosigkeit, von der sozialen Idee —: denn von dieser war Piaton nachweisbar am wenigsten bewegt; und Lenin hat die soziale Idee offen als „Hebel" eingesetzt, also ihren Verheißungscharakter ausgenutzt. Der Nichtbesitz Privater an den Produktionsmitteln dient nicht dazu, jemandem wohl zu tun, sondern der Herrschaftssicherung. Alle politische Veränderung der Geschichte — oder fast alle — war nicht von den besitzlosen Massen, sondern von ehrgeizigen Besitzenden bzw. von deren des Besitzes überdrüssigen Sprößlingen ausgegangen. Deswegen galt es, die Entstehung von Privatbesitz zu verhindern, schon durchschnittlichen Wohlstand nur als jederzeit entziehbares Lehen des Kollektivs zuzulassen. Die ökonomische Struktur ist eine Funktion der staatlichen, dient keinem anderen Zweck; daß diese ökonomische Struktur sehr wenig effektiv ist, spricht unter diesem Gesichtspunkt nicht gegen, sondern für ihre Beibehaltung. Der Überbau bestimmt die Basis, diese Umkehrung einer angeblich waltenden materialistischen Dialektik ist kaum zu leugnen. Das zweite Element ist die strenge Kontrolle von Literatur, jeder anderen Kunst. Man hat immer wieder Tauwetter erhofft, aber es mußte beim Frost bleiben. Mancher liberale Journalist aus dem Westen hat die große Sowjetunion zu beschwören versucht, die liberale Ansicht zu übernehmen, daß ein Lyriker ihr doch wohl nicht schaden könne; aber diese hält sich lieber konsequent an Piaton, der sogar den poetischen Heros aller Griechen, Homer, nicht verschonte, ihn einer
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brutalen Zensur unterwarf, seine Texte nur gelten ließ, solange sie das Erhabene, das Positive zum Ausdruck führten. Entsprechend werden in der Musik bestimmte Tonarten zugelassen, andere verworfen: wenn das Ohr sich an Disharmonie von Tönen gewöhnt habe, werde auch die gesellschaftliche Harmonie enden. Die Memoiren von Schostakowitch zeigen, wie dann ein Komponist lebt. Auch hierüber ist ein Verwundern nicht angebracht. Denn, noch vor dem Besitz, ist der Geist mögliche Quelle von Veränderung, also ist mit allen Mitteln zu verhindern, daß die Stimme des freien Geistes ertönen und gehört werden kann. Der Marquis Posa wartet darauf, i m Kreml sagen zu dürfen, was er i m Escoriai gesagt hatte — wenn w i r dem Dichter glauben. — Das Dritte ist die offizielle Stellung der Philosophie, die auf den Thron gesetzt wird, als Staatsphilosophie, d. h. i m leblosen Zustand, als geschminkte Leiche. Der König hat, bei Piaton, Philosoph zu sein, die Philosophie w i r d zum König. Wohl kein Regime i n der Geschichte hat, wie das leninistische, seine Untertanen, ihnen sonstigen Druck auch nicht gerade ersparend, so mit Philosophie genervt. Es ist rührend zu sehen, wie Lenin sich ein philosophisches Werk abringt, über den Empirio-Kritizismus, eine qualvoll zu lesende Auseinandersetzung mit Mach —: seine Begabung lag auf ganz anderem Felde, in der Praxis, im Ersinnen und Durchführen von Handlungsanweisungen, aber Philosophie mußte sein. Später w i r d Stalin dafür sorgen, daß jedes Buch, jedes Lexikon ihn als Philosophen Nr. 1 feiert. Solschenizin hat das Kapitel über den Diamat-Unterricht für Lagerhäftlinge, aus dem „Ersten Kreis der Hölle", später gesondert herausgegeben und uns eine Ahnung vermittelt, welche Qual oktroyierte Philosophie bedeutet. Es ist eine präzis kalkulierte Qual. „Hier w i r d Piaton schon wieder einmal beschimpft", noch lauter als bei Popper, könnte man sagen, aber eigentlich w i r d er bewundert. Über 2300 Jahre hinweg jemand für eine politische Entwicklung verantwortlich zu machen, das ist nach unserem Begriff der Kausalität (der adäquaten) schon zweifelhaft. Wie steht es mit der Schuld? Man kann Piatons politische Ratschläge als bedingte sehen: wenn jemand Stabilität über alles schätzt, dann gehe er diesen Weg. Piaton stellt uns v o r die u n e r b i t t l i c h e A l t e r n a t i v e : staatliche
Stabilität
oder
politische
Freiheit. Es kann niemand sagen, daß für uns heute diese Alternative ganz überwunden ist. Der Idealstaat Piatons ist zwar nicht ideal, aber die typologische Schilderung des stabilen Staates i m Gegensatz zum nervös-freiheitlichen ist als solche über alle Maße gelungen. Damit gewinnen w i r ein Koordinaten-System für heutige west-östliche Gegensätzlichkeiten. Der stabile Osten ist Piatons Staat I I - V I I , der nervöse Westen Piatons Staat Buch V I I I , hoffentlich nicht Buch I X („Das Buch des Tyrannen"). Und innerhalb des westlichen Systems sind
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noch Diktatoren und Tyrannen ephemere politische Erscheinungen, so daß zu rechtfertigen ist, wenn i n der Außenpolitik zwischen ihnen und dem Block-System differenziert wird. Und jede Veränderung i m Block führt zu einer veränderten Einordnung, wieder zurück i n die Politik: mit aller Chance, m i t allem Risiko. IV. Was heißt Oligarchie? Der theoretische Piaton (Buch V I I I ) unterscheidet den Einzelnen, die Gruppe und das Volk als jeweils regierendes Subjekt. Über den Alleinherrscher, der sich schnell als Tyrann erweist, wissen w i r genug; A. Hitler hatte sich alle Mühe gegeben, den von Piaton geschilderten Typ noch zu überbieten, sogar den Nero des Seneca („de dementia"); zuletzt haben Joachim Fest und Sebastian Haffner uns aufgeklärt. Dieses Modell steht hoffentlich nicht mehr in ernsthafter Diskussion, ist damit unpolitisch geworden, dient nur als Schreckbild oder als Warnung für indirekt darauf zulaufende Varianten, eine A r t von Absurditätsbeweis. Zu sprechen ist über den Gegensatz von Oligarchie und Demokratie. Zur Abscheidung dieser beiden Systeme fällt uns sofort 1789 ein: vorher der aristokratische Feudalismus, dann — jedenfalls gewollt, wenn auch nicht, oder nicht sofort erreicht — die Herrschaft des Volkes —: diese Vorstellung haben w i r ererbt. A n ihr auch bei der Lektüre Piatons festzuhalten wäre aber philosophisch wie historisch falsch. Das vom Mittelalter hervorgebrachte Feudalsystem war nur eine Erscheinungsform der Aristokratie. Die auf sie folgende Demokratie war so unaristokratisch nicht: der bonus der Geburt war abgeschafft, nicht aber der bonus privater Tüchtigkeit, der jemanden ganz nach oben kommen lassen konnte. Piatons Demokratie war die Versammlung aller gleichberechtigten Bürger, jeder gleichen Rechts, direkt, nicht etwa repräsentativ. Die Verfassung der heutigen westlichen Staaten, die stolz von ihrer Demokratie sprechen, wäre ihm höchst oligarchisch erschienen: es gibt weder eine alles beherrschende zentrale Macht (wie Reichskanzlei, Kreml oder Moneda), noch wahre Gleichheit aller Bürger, sondern eine Vielfalt herrschender Zentren. Es gibt Großunternehmen, es entwickeln sich industrielle Dynastien, deren Angehörige beträchtlich „gleicher" sind als Normalbürger. Die marxistische K r i t i k hat insofern treffend ein Moment der Unwahrheit in der Selbstbezeichnung „bürgerlich" hervortreten lassen, die eine „egalité" aller suggeriert, wie sie vielleicht i n der Stunde n u l l der Revolution gegeben ist, dann bald aber nicht mehr. Deshalb könnte man Piatons Zerschneidung von Gruppenherrschaft und Demokratie als für uns nicht interessant abtun; besser wäre zu
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versuchen, sie für unsere staatlichen Verhältnisse modifiziert zurückzugewinnen. Denn die Frage der Gleichheit (einige/alle) steht wie keine andere für die Grenze beider Systeme. Mit der Organisationsform Demokratie ist keineswegs vorentschieden, ob und inwieweit einige sich private Kraftzentren durch Einsatz individueller Robustheit erobern dürfen, als Fabrikherrn über Arbeitende, als Hausbesitzer über Mieter, als Produzenten über Verbraucher herrschen dürfen. Der demokratische Staat kann sein Denken um die Anbieter von Leistungen oder um die Abnehmer von Leistungen kreisen lassen, in der ersten Variante ist er bürgerlich, in der zweiten sozial bzw. egalitär. Der platonische Gegensatz oligarchisch/demokratisch prägt sich innerhalb des Systems aus, das w i r formal demokratisch nennen, und es gehört zu den großen Faszinationen unserer täglichen Zeitungslektüre und Bildschirmbetrachtung, auszumachen, wohin und wie weit sich seit gestern zu heute diese Grenze verschoben hat. Der Kampf zwischen oligarchisch und egalitär, zwischen bürgerlich und sozialistisch, zwischen Reagan und Palme hat innerhalb der Demokratie-Theorie Piatons seinen streng definierten Platz: so lautet die These. Diese These bedingt eine Uminterpretation des Urtextes. Wenn Piaton oligarchisch sagt, werden w i r bürgerlich lesen, wenn er demokratisch sagt, dann w i r egalitär. Aus den Details w i r d folgen, ob überhaupt und inwieweit diese Adaptation berechtigt war. I n der Schilderung, die Piaton vom oligarchischen Mann und später vom demokratischen Mann gibt, können w i r jedenfalls leicht eine Typologie vom Gegensatz bürgerlich/sozialistisch erkennen. V. Die bürgerliche Welt Das Bürgertum, das den Tyrannen oder die Adelsherrschaft endlich abgeschüttelt hat, seine Form der Freiheit verwirklicht, w i r d nicht sehr sympathisch dargestellt: „ . . . geldgierig werden diese sein, .. . eigene Schatzkammern haben, . . . und Umzäunungen um ihre Häuser, recht wie eigene Nester; in denen sie an Weiber und an wen sie sonst noch wollen vieles verwenden können". (548 a) Sie sind, so heißt es, „wohl auch karg mit dem Gelde, da sie viel darauf halten . . . , fremdes (Geld) aber werden sie eher aus Lüsternheit verwenden, sich heimliche Freuden pflücken, dann aber vor dem Gesetz davonlaufen wie Kinder vor dem Vater . .." (548 b). Ihre Schatzkammer füllen sie mit Geld an, genau aber das verdirbt die Verfassung (550 d). Die daraus erstehende Staatsorganisation lasse sich
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so beschreiben: „die Reichen herrschen, die Armen haben keinen Anteil an ihr". (550 c) Dann treiben sie es immer weiter mit dem Gelderwerben, und legen immer weniger Wert auf die — ihnen mehr und mehr altmodisch erscheinende — Tugend (550). „Aus hochstrebenden und ehrsüchtigen Männern (aus der Zeit der Adelsherrschaft) werden zuletzt erwerbslustige und geldliebende; den Reichen loben und bewundern sie und ziehen ihn in Ehren, den Armen aber achten sie gering." Die Vorstellung des Klassenkampfes ist bereits voll da. Weil die Reichen immer reicher, die Armen immer ärmer würden, sei nicht mehr zu übersehen, „daß ein solcher Staat notwendig nicht einer ist, sondern zwei: den einen bilden die Armen, den anderen die Reichen, welche beide, sich immer gegenseitig auflauernd, zusammenwohnen". (551 d). Diesen Krieg könnten die Bürgerlichen nie gewinnen, „weil sie sich entweder der Menge bedienen müßten, vor welcher sie sich . . . mehr fürchten als vor den Feinden, oder, weil sonst ihre Macht i m Gefecht . . . nur erschiene als eine Macht von Wenigen". (551 e). Die bürgerliche Welt sei voll von Mängeln. Ein großer Fehler: „Daß einer das Seine vertun kann, ein anderer es erwerben, und der, der es vertan hat, weiter in der Stadt wohnen . . . , als jetzt der Arme und Unbemittelte" (552 a). Das Auftreten von Bettlern sei ein wichtiges Indiz. „ I n einem Staat, wo du Bettler antriffst, dort sind auch Diebe verborgen und Beutelschneider und Tempelräuber und andere Verbrecher." (552 d) Adeimantos, jetzt der Gesprächspartner, muß zustimmen: Defizit als großer Einwand gegen die bürgerliche Welt.
soziales
„Und sollen w i r nicht sagen, es habe seinen Grund in der Bildungslosigkeit und i n der schlechten Erziehung und Einrichtung des Staates, daß sich solche Mängel finden?" (552 e) Piaton erinnert daran, wie entschlossen und rigoros sein Idealstaat sich der Erziehungsaufgabe widmet. Daß i n späteren Zeiten das Bürgertum sich auf Besitz und Bildung hat stützen wollen, war dann i m Prinzip politisch richtig. Das Entstehen dieser bürgerlichen Welt war psychologisch erklärt worden — wie andere Übergänge auch — aus Vater/Sohn-Konflikten. Der Jüngling i m Feudalismus (Timokratie) hatte Königreiche gesehen,
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in denen jemand zu politischer Bedeutung gelangt war, der sich nur „mit der Tiara, mit der Halskette, mit dem Prachtsäbel" (553 c) schmükken konnte. Davon wollte er los, zu rationalen Organisationsformen, wollte „nichts anderes bewundern und verehren als Reichtum und die Rei* chen, nichts anderes erreichen als Geldbesitz und alles, was damit zusammenhängt". (553 d) Die durch ihn endlich erreichte bürgerliche Welt führt aber, politisch gesehen, nicht zu seinem Glück. „Ist doch, i n dieser Stadt, der Sparsame ein schlechter Bewerber um eine Stelle oder einen Preis, weil er . . . kein Geld aufwenden w i l l , indem er sich immer fürchtet, die verschwenderischen Begierden zu erregen." (555 a) „So führt er recht oligarchisch den Krieg immer nur m i t den Seinigen, w i r d also gewöhnlich überwunden (a.a.O.)." Skizziert werden hier aristokratische Restbestände in der bürgerlichen Welt, auch die eigentümliche Ungeschicklichkeit des bürgerlichen Typs, sobald er sich i n der Politik bewegen soll. Er kann nicht in die Vollen gehen. VI. Tendenzen zur Veränderung Die bürgerliche Welt habe Reichtum zum Prinzip erhoben, und genau deshalb könne sie mit der nächsten Generation, die nur an Verschwendung denke, nicht fertig werden. — Wieso denn? — „Weil ja die Reichen in diesem Staat vermöge ihres Reichtums herrschen; so können sie nicht die Jünglinge, die durch vererbten Besitz ausschweifend werden, in Schranken halten" (55 c), weil dies ein Verstoß gegen das Eigentumsprinzip überhaupt wäre. Echte psychologische Schwierigkeiten! „Es ist doch wohl klar, daß in einem Staat unmöglich der Reichtum geehrt und zugleich Besonnenheit und Mäßigung in den Bürgern hervorgebracht werden kann." (555 d). Die Stunde des offenen Klassenkampfes sei bald da: „Einige, so denke ich, sitzen in der Stadt wohlbewaffnet und gut gerüstet, einige verschuldet, andere ihrer bürgerlichen Stellung beraubt, noch andere beides, alle aber [den Reichen] zürnend und auflauernd, . . . nach Neuerung begierig." (555 e). „Drohnen und Arme" gibt es jetzt in dieser Stadt, Drohnen, die nichts tun und trotzdem ernährt werden, Arme, denen noch nicht einmal dies gelingt.
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Die jetzt auftretende, alle beschäftigende Frage sei die nach den richtigen Sozialgesetzen. „Entweder wollen sie das lodernde große Unheil löschen, daß . . . immer noch jeder nach Gutdünken mit dem Seinigen schaltet, oder dies gesetzlich aufheben." (556 a). Diese Unklarheit ist auch durch unseren Verfassungssatz „Eigentum verpflichtet" nicht behoben, das Willkür-Moment ist vom Eigentum nicht zu trennen. Gibt es keine Lösung? „Tugend" ist die Antwort Piatons. Die Bürger sollen Tugend üben, nicht Wucher treiben, nicht schamlos auf Gelderwerb ausgehen. Mehr als zweitausend Jahre später w i r d ein Robespierre sich ausdrücklich auf dieses Tugendprinzip berufen, in manchen Köpfen damit Angst erregen, andere rollen lassen. V I I . „Freibeit" und „Gleichheit" Die Entwicklung nimmt aber den entgegengesetzten Verlauf: zur Untugend. „Machen sie" — die Bürgerlichen — „nicht ihre Jünglinge schwelgerisch, zu leiblichen und geistigen Anstrengungen untüchtig, weichlich und träge"? (556 b) „Ist nicht" — die Stadt — „dann voll Freiheit und Zuversicht, weil nunmehr jeder die Erlaubnis hat zu tun, was er w i l l " ? (557 b) „ A m Ende" — so ironisch — „mag dies die schönste aller Verfassungen sein, ein buntes Kleid, in das viele Blumen eingew i r k t sind" (557 c). I n diesem Staat „ . . . bist du nicht gezwungen, an der Regierung mitzuwirken, auch wenn du noch so geschickt dazu bist, noch auch zu gehorchen, wenn du nicht Lust hast, noch auch mitzukämpfen, wenn die anderen Krieg führen, noch Frieden zu halten, wenn die anderen dies tun" (557 e). „Noch auch mitzuarbeiten, wenn andere arbeiten" — w i r d deshalb nicht gesagt, weil der griechische Bürgerstaat seinen Söhnen — es herrschte Sklavenwirtschaft! — die Wahl zwischen „Geschäften" und philosophischer Muße glücklich freistellen konnte; aber jetzt kann man auch pur alternativ faul und wollüstig leben. „Ist dies nicht eine wundervolle und anmutige Lebensweise?" Und die „Wohlgestimmtheit der Verurteilten", werde daran nicht bestens gedacht? Die übertriebene Aufmerksamkeit für Fragen des Strafvollzugs als Indiz. Dieser Staat überzeuge durch seine Fähigkeit zur Nachsicht, sei nicht ernst, sondern lustig, frage niemanden nach Zeugnissen oder Verdiensten, wenn der Bewerber nur bereit sei zu versichern, er meine es gut mit dem Volk. „Anmutig", „regierungslos", „buntschekkig", das seien die Eigenschaften dieses Staates, dem es bald nur darum
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gehe, „Gleichen wie Ungleichen eine gewisse Gleichheit gleichmäßig auszuteilen". (558 c) A m Anfang des Bürgertums stand der Ruf nach liberté und egalité, zur Emanzipation von der Adelsherrschaft. Der wortgleiche, aber sinnverschiedene Ruf läutet auch den Anfang vom Ende des Bürgertums ein. V I I I . Der neue Vater/Sohn-Konflikt Der bürgerliche Vater hat einen nicht mehr bürgerlichen Sohn (eine Tochter?), der Vater denkt sparsam, der Sohn verschwenderisch, der Vater denkt an die gewinnbringenden Lüste, der Sohn an die geschlechtlichen. Auch über „ausländische Leckereien" (559 b) w i r d im Hause diskutiert, zum Nachteil des Hausfriedens. Die neue Zeit, so klagt der Vater, w i r d von nicht notwendigen Begierden beherrscht, von schwülstigen, drohnenhaften = leistungsfeindlichen (559 d). Kaum jemand w i l l ihm noch zuhören. Der Umgang, so sagt Piaton, den jetzt der Jüngling hat, das ist entscheidend. Durch den Umgang kann in des Jünglings Seele die bürgerliche Tugendhaftigkeit verwandelt werden in egalitäre libertinage. A m Ende nehmen sie — die Libertinen — „die Burg in der Seele des Jünglings in Besitz" (560 b), nachdem sie gemerkt haben, daß es darin fehlt an soliden Kenntnissen, schönen Bestrebungen, richtigen Grundsätzen. Dann ist es aus: der Jüngling geht mit den Lotophagen, ihn an das politische Rauschgift Bringenden. Er sagt mit ihnen — i m alten Griechenland sprach man gern im Chor: Scham ist Dummheit; Besonnenheit unmännlich; Mäßigkeit und häusliche Ordnung: bäuerisch und armselig; Übermut prima; Unordnung gleich Freiheit; Schwelgerei die richtige und große Lebensweise. — Die Bewußtseinsveränderung als Voraussetzung für den politischen Wechsel spielt i n Piatons Theorie eine ebenso große Rolle wie bei Marx und den Neomarxisten, nur daß sie in das Programm eines erklärten Idealisten sehr gut paßt, in das der sich selbst Materialisten nennenden Denker dagegen nicht. Von einer „bacchischen Begeisterung" w i r d dieser Jüngling fortgerissen, nur eventual findet er, „nachdem er etwas älter geworden ist und das große Getümmel sich verlaufen hat", sich wieder i n dem alten Kreis ein, der „dann die Vertriebenen zum Teil wieder aufnimmt". (560 b) I X . Der Gedanke des Wechsels: unabweisbar Um sich blickend, findet der Mensch der Übergangszeit dies und das, das Willkürliche, die Buntheit, „so daß keine irgendwie geartete Ordnung und Notwendigkeit über sein Leben schaltet" (561 d). „Die Uner-
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sättlichkeit des Reichtums aber und die Vernachlässigung alles übrigen um des Geldmachens willen" (562 b), das findet er schlicht widerlich. Er hat nicht gemerkt, daß gar nicht so viel mehr verdient wird, eher brennende wirtschaftliche Probleme bestehen. Nach dem von Tocqueville entdeckten Trägheitsgesetz der Politik werden Mißstände immer erst dann und dort bekämpft, wenn und wo sie nicht mehr bestehen. Er lacht nur, wenn ihm jemand von der bürgerlichen Freiheit spricht. „Denn von dieser wirst du immer i m demokratischen Staat hören, daß sie das Größte sei." (562 c) Schlechte Wirte schenkten schlechten Wein! Die Idee der Freiheit mache schnell betrunken! Mit irgendwelchen Grenzen zwischen Vernunft und Unvernunft sei nicht zu rechnen. „ W i r d sie sich in die Häuser einschleichen und am Ende auch dem Vieh die Ungebundenheit einpflanzen?" (562 d) Der Sohn w i r d versuchen, sich dem Vater gleichzustellen! Alle Kinder ihren Eltern! Die Schüler den Lehrern! „Der Lehrer zittert in solchen Zuständen vor den Hörern und schmeichelt ihnen; die Hörer aber machen sich nichts aus den Lehrern und den Wächtern. Überhaupt stellen sich Jüngere den Älteren gleich und treten mit ihnen i n die Schranken mit Worten wie mit Taten. Die Alten aber setzen sich unter die Jugend und suchen es ihr gleichzutun an Fülle des Witzes und lustigen Einfällen, damit es nicht so aussähe, als seien sie mürrisch oder autoritär." (563 b) I n den hier beobachteten Szenen ist der Gedanke der Demokratisierung antizipiert, vom Staat auf andere gesellschaftliche Bereiche übertragen, etwa — für Piaton gewiß die schlimmste Vorstellung — auf die von ihm gegründete Akademie. Zwischen Sklaven und Freien, das ist die nächste Stufe der Dekadenz, gäbe es dann keinen Unterschied mehr; zwischen Männern und Frauen, das ist die allerletzte Stufe, auch nicht, schließlich: „ . . . Pferde und Esel sind gewöhnt, ganz frei und vornehm immer geradeaus zu gehen, wenn sie einem auf der Straße begegnen . . . und ebenso ist alles andere voll von Freiheit". (563 c) Dieser Hohn gegen den Sozialgedanken, gegen das noch gar nicht i n die Welt gesetzte christliche Mitleid, w i r k t nicht besonders schön. Was Piaton gut gelingt, ist, das Zwanghafte des politischen Denkens abzubilden: wenn eine Tendenz sich erst einmal durchgesetzt hat, dann ist kein Halten mehr, auch nicht bei absurden Konsequenzen, nicht einmal bei schädlichen Folgen, die einen selbst treffen, also i m strikten Gegensatz zu Marx, der alles politische Handeln von (materiellen) Interessen determiniert sieht. 20 R E C H T S T H E O H I E , B e i h e f t 4
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Platon läßt der Gleichheitsidee nicht einen Hauch von Gerechtigkeit zukommen. Das ist schwer begreiflich, weil doch er der große programmatische Kommunist ist. Wieso ist der Gedanke der Gleichheit i n seinem Idealstaat gut (sogar die Absurdität der Weiber- und Kindergemeinschaft), i n anderen, nicht nach seiner Idee konzipierten Staaten aber nur des Hohnes wert? Kann es sein, daß er, die christliche IdealKonkurrenz antizipierend, schon jetzt von Konkurrenzneid gepackt wird? Wahr scheint zu sein — wenn auch traurig —, daß der Gleichheitsgedanke für die Demokratie destabilisierende, für die Diktatur aber stabilisierende Wirkung hat. X . Jetzt kommt die Diktatur Der psychologische Zustand, der den letzten Schritt unvermeidbar macht, ist das Verlangen nach Sanftheit überall, auch im Staat, der nur noch als softy hingenommen w i r d („Die sanfte Republik"). „Es w i r d allmählich die Seele der Bürger so verzärtelt, daß, wenn ihnen einer auch noch so wenig Zwang auferlegen w i l l , sie echt grantig werden und dies gar nicht vertragen." (563 d) Damit haben anarchistische Ideen Konjunktur. Zuletzt, sagt uns Piaton, „kümmern sie sich auch nicht um die Gesetze, seien es geschriebene oder ungeschriebene Gesetze, damit auf keine Weise jemand ihr Herr sei". (563 e) Zeitgenössische Berliner Wortspiele über legal/egal oder „Your home is my castle!" wären zur Illustration geeignet. „Dies ist die treffliche und jugendliche Wurzel" sagt Piaton, „aus der die Tyrannei hervorwächst"! „Das äußerste Tun i n irgend etwas pflegt immer eine große Neigung zum Gegenteil zu bewirken . . . So w i r d auch die äußerste Freiheit i m Staat wie bei den einzelnen sich i n nichts anderes umwandeln als i n die äußerste Knechtschaft . . . Aus keiner anderen Staatsform kommt nämlich die Tyrannei, als aus der Demokratie, aus der übertriebenen Freiheit die strengste und wildeste Knechtschaft." (564 a) Es zeigt sich besonders deutlich, daß er unter „Demokratie" nicht jede, sondern die Demokratie „der übertriebenen Freiheit", die demokratisierte Demokratie versteht. Die Details des unvermeidlichen Übergangs zum Schlechteren sind schnell erzählt. Es gäbe i n jedem Staat „ein Geschlecht fauler und verschwenderischer Menschen". Diese würden sich i n der egalitären Demokratie eher durchsetzen als i n anderen Verfassungen. Während sie i n der bürgerlichen Welt nicht i n Ehren gehalten und von den obrigkeitlichen Ämtern zurückgedrängt wurden, haben sie jetzt bald mit weni-
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gen Ausnahmen überall den Vorsitz (564 d). Eine abweichende politische Meinung werde von ihnen nicht geduldet, sie paßten auf, daß ein jedes A m t i m Staate von ihrer Gattung verwaltet wird, wobei große Zufälligkeit herrsche, manches A m t durch Losentscheidung besetzt werden müsse (557 a). „Von nun an, denke ich, fließt für die Drohnen der meiste und reichlichste Honig." Dies werde die Reichen verärgern, die sich als „Weide der Drohnen" fühlen müßten. Aber auch das Volk — „alle die m i t eigenen Händen arbeiten und sich der Staatsgeschäfte enthalten". (565 a) — werde bald unzufrieden sein und den Regierenden vorwerfen, das meiste von dem Honig, den sie den Vermögenden geraubt hätten, vor der Verteilung für sich zu behalten. Die Regierenden würden die Schuld auf die Vermögenden abwälzen, ihnen politische Absichten unterstellen, etwa die Gründung einer Oligarchie, obwohl diese i m Grunde unpolitisch sind, nur i n Ruhe gelassen werden möchten. Schließlich, m i t zunehmender Verleumdung, faßten sie doch Pläne zur Veränderung, nicht aus eigenem Antriebe, „sondern auch dieses bringt ihnen jenes Unheil, die Drohne, durch seine Stiche bei" (565 c). Das Volk werde jemanden an seine Spitze stellen, mit wohlwollender Duldung der Reichen. Dieser werde die Menge überraschend leicht lenkbar finden, von ihr als „Parteihaupt gegen die Vermögenden" anerkannt, „wobei er auf Niederschlagung der Schulden und Verteilung der Grundstücke von fern hindeutet" (566 a); das genüge schon („Brechung der Zinsknechtschaft"). Einmal die Macht gekostet, werde der Volksmann davon immer mehr begehren wie ein Opfernder — Piaton greift jetzt i n die Grausamkeit der archaischen Mythenwelt —, „der menschliches Eingeweide gekostet hat, wenn dergleichen unter anderes von anderen Opfertieren mit hineingeschnitten ist, notwendig zum Wolf w i r d " . (565 d). Weil die Zahl seiner Feinde wachse, müsse er das Volk um eine Leibwache bitten, „damit doch der Beschützer des Volkes selbst sicher sei". Dies sei das letzte Signal für viele, i n die Emigration zu gehen. „Denn wer sich, denke ich, fangen läßt, der w i r d i n den Tod gehen." Der vom Volke kommende Mann „aber sitzt nun nicht etwa nur groß i n großer Herrlichkeit, sondern, nachdem er viele andere zu Boden geworfen, steht er offen i n dem Wagen des Staates und lenkt ihn allein und ist aus einem Führer vollständig ein Tyrann geworden". (566 d) Da Piaton sowieso alles weiß, ist es schon nicht mehr verwunderlich, wie viel er über den Tyrannen weiß; trotzdem ist dessen Porträt beklemmend genau. Dieser w i r d „ i n der ersten Zeit wohl alle anlächeln und begrüßen, wem er nur begegnet . . . und ihnen vielerlei versprechen". Aber dann „regt er zuerst immer irgendeinen Krieg auf, damit 20*
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das Volk des Anführers auch bedürfe". (566 e) Auch damit die Volksgenossen, „durch starke Abgaben verarmend, genötigt werden, an den täglichen Bedarf zu denken und ihm weniger nachstellen können". Aus vielerlei Ursachen ist es „einem Tyrannen immer notwendig, Krieg zu erregen". Er werde dann immer mehr verhaßt, müsse sich vieler Gegner entledigen, könne nicht ruhen, bis er die Stadt gesäubert habe. („Eine schöne Säuberung! Entgegengesetzt der, wie die Ärzte den Leib reinigen. Denn diese führen das Schlechteste aus und lassen das Beste übrig, er aber umgekehrt." (567 c)) Schließlich könne er nur noch auf seine Leibwache bauen, vielleicht noch auf „die jungen Bürger", die gern etwas zum Bewundern haben; immer aber auch irgendwelche Literaten, die sein Lob singen und „mit einschmeichelnden Stimmen" andere Staaten, besonders die Demokratie, zur Tyrannei hinüberlocken möchten in den „Rausch der Knechtschaft", weil die bürgerliche Welt für sie immer zu langweilig und undramatisch sei. (Piatons K r i t i k könnte hier zur Selbstkritik überleiten: ist er nicht auch ein vom Rausch der Knechtschaft faszinierter Literat, und was fasziniert so sehr wie die fasces?) X I . Ein schwacher Trost Ein Trost nur, daß der Tyrann nicht das letzte Wort ist, er w i r d gestürzt werden, eine andere Staatsform w i r d an die Stelle der tyrannischen treten. Aber ein rechter Trost ist das auch wieder nicht, weil unsere Staatsform der Demokratie auch nicht das letzte Wort ist, nicht einmal das vorletzte. Die etwas beängstigende Sicht Piatons kann vielleicht bei einer erneuten Auseinandersetzung mit „Vom Wesen und Wert der Demokratie " von Nutzen sein. Im Teil IX („Formale und soziale Demokratie ") lehnt K. die Einbeziehung des materiellen Gleichheitsprinzips („ein in irgendeinem Sinn gleiches Maß von Gütern ... zu gewährleisten") entschieden ab. Die Idee der Gleichheit , sofern sie etwas anderes sei als der Gedanke formal gleicher politischer Berechtigung, habe mit dem Begriffe der Demokratie „nichts " zu tun. Das ökonomische Gleich-Sein aller lasse sich auch, vielleicht besser, in einer autokratisch-diktatoria len Staatsform verwirklichen. — Hier hat Kelsen möglicherweise die in der formalen Demokratie angelegten Tendenzen nicht bedacht, wie sie für die Welt des Politischen typisch sind, auch in ihrer Potenz, begriffliche Trennwände zum Einsturz zu bringen. Für die Wertung eines politischen Phänomens sind Zweck, Erscheinungsform und (!) denkbare Folg e Wirkungen zu diskutieren. (Über die normlogisch mögliche Einführung des Mitbestimmungsgedankens in das Kelsensche System vgl. schon Adomeit, Heteronome Gestaltungen im Zivilrecht? Festschrift für Hans Kelsen zum 90. Geburtstag, Wien 1971, S. 9 ff.)
KELSENS K R I T I K A M SOZIALISMUS Von Ossip K. Flechtheim, Berlin Zunächst möchte ich sehr herzlich dafür danken, daß m i r ermöglicht wurde, hier noch einmal auf Kelsens Auseinandersetzung mit dem Sozialismus einzugehen. Ich tue das in dem Bewußtsein, daß so ausgewiesene Experten wie Norbert Leser unter den Zuhörern sind. Um so mehr dürfte ich selber von der anschließenden Aussprache profitieren. Kelsen hat ja wiederholt Marx und Lassalle, aber auch die Bolschew i k i und den Sozialismus allgemein intensiv durchleuchtet und k r i t i siert. I m Mittelpunkt steht dabei die Position und Funktion des Staates und des Rechts i m Sozialismus. Nun scheint m i r diese Problematik auch heute noch oder auch vielleicht wieder recht aktuell zu sein. Nach wie vor spielt gerade das Verhältnis zum Staat eine wichtige Rolle bei allen Sozialisten — nicht zuletzt auch bei denen, die den Staat radikal kritisieren oder gar ablehnen. Sozialismus ist ja nach wie vor eine vieldeutige und vielfältige soziale Bewegung, Theorie und Praxis. So kann man etwa auch im Hinblick auf den Staat zwischen einem marxistischen und nichtmarxistischen Sozialismus, einem revolutionären und reformistischen Sozialismus, einem Staats- oder gar Kriegssozialismus und einem Global- und Humansozialismus unterscheiden. Eine Umfrage nach dem spezifischen Kennzeichen des Sozialismus würde wohl auch heute noch ergeben, daß viele Anhänger wie Gegner des Sozialismus diesen mit Begriffen wie Planwirtschaft und/oder Verstaatlichung kennzeichnen würden. Marx und Engels wie aber auch so mancher anarchistisch oder ethisch orientierte Sozialist haben zwar immer wieder den Staat kritisiert und das „Absterben" oder die „Aufhebung" des Staates gefordert. Gerade in Deutschland hat sich aber die SPD schon 1914 weitgehend mit dem Staat und sogar mit dem 1. Weltkrieg identifiziert — an diese Tradition hat sie nach 1945 wieder angeknüpft. Aber auch die zunächst so weltrevolutionär denkenden und handelnden Kommunisten haben die Abschaffung des Staates auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben, ja selbst immer wieder die Sowjetunion als eine nationalimperiale Supermacht verherrlicht. Hier ist ein Wort zu Kelsens Haltung zum Sozialismus am Platze. Seine Darstellung und Bewertung des Sozialismus ist recht differen-
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ziert. Er lehnt den marxistischen und revolutionären Sozialismus, insbesondere aber den leninistisch-stalinistischen Kommunismus ab, bejaht hingegen weitgehend einen nichtmarxistischen, etwa lassalleanischen, reformistischen Siaaissozialismus. So schrieb er schon 1925: „Als politische Theorie — und das ist für den Sozialismus als politische Bewegung maßgebend — hat der Marxismus sich i m entscheidenden Augenblicke als unzulänglich erwiesen. Und wenn bedeutsame literarische Erscheinungen führender deutscher Marxisten, die erwähnten Schriften Renners und Bauers, Hilferdings, Cunows und Kautskys, wenn die führende Stellung des englischen Sozialismus als symptomatisch genommen werden dürfen, dann bereitet sich eine Umstellung der Ideologie vor, i n der Richtung zu einer nicht mehr schlechthin staatsfeindlichen, nicht mehr ganz nationalblinden, nicht mehr ethisch indifferenten, „soziologischen", sondern bewußt ethischen, weil wirklich politischen Theorie. Und wenn diese Tendenz i n ein einziges Schlagwort zusammengefaßt und mit allen Vorbehalten, unter denen ein solches Schlagwort Geltung haben kann, ausgesprochen werden darf: zurück zu Lassalle". (Marx oder Lassalle. Wandlungen i n der politischen Theorie des Marxismus, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, hrsg. von Carl Grünberg, Leipzig, Jahrgang 11, 1925, Seite 298.) Eine Synthese von Sozialismus und tradierter oder traditioneller parlamentarischer Demokratie ist für Kelsen kaum problematisch. Er akzeptiert den Staatssozialismus auch deshalb, weil er voraussetzt, daß eine noch so weitgehende Verstaatlichung mit der Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung des liberal-demokratischen rechtsstaatlichen Charakters des Staates durchaus vereinbar ist. Bekanntlich hat Kelsen den Staat immer mit dem Recht, das heißt einer Ordnung, die auf ein Verhalten mit einem Zwangsakt (Strafe, Zwangsvollstreckung usw.) reagiert, identifiziert. Wäre der Staat i n der Tat nur das, so wäre eine sogenannte Sozialisierung durch den Staat weniger problematisch als sie uns heute erscheint. Die wichtigsten Staaten von heute sind aber nicht nur oder nicht so sehr Rechtsstaaten i m Sinne von Kelsen, sondern auch Wohlfahrts- und Verwaltungsstaaten, und nicht zuletzt vor allem auch „Verteidigungsstaaten". W i r kommen heute nicht darum herum, daß typisch für den Staat unserer Tage auch ein Gewalt-, Militär-, Kriegs- und Vernichtungsapparat von fatalem Ausmaß ist. Das t r i f f t natürlich vor allem, aber nicht nur für die sogenannten Supermächte zu. Und dieses Kennzeichen „unseres" Staates gilt auch dort, wo rechtsstaatlich-demokratische Verfahren und Formen noch beibehalten werden.
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Die übliche Definition des Staates deutet diese Problematik nur sehr vage an. Ähnlich wie bei Kelsen ist dieser häufig als nichts anderes als die maximierte und institutionalisierte, legitimierte und legalisierte Anwendung von oder Drohung mit Zwang und Gewalt definiert worden. Es ist aber keineswegs ein Zufall, daß i m Mittelpunkt aller Definitionen (nicht nur bei Kelsen) die Gewalt oder der physische Zwang steht. So bestimmte schon Max Weber den Staat als „diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht" oder technischer formuliert „als einen Anstaltsbetrieb, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen i n Anspruch nimmt". (Politik als Beruf, in: Gesammelte Politische Schriften, München 1921, Seite 450 und Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1922, Seite 29.) Wie weit die Staatsgewalt i n einem „souveränen" Gewaltstaat zu gehen vermag, zeigen heute drastischer denn je die totalitär-terroristischen Herrschaftssysteme. Zu Gewalt und Staat zitieren w i r nur noch einen modernen Autor wie Peter Waldmann (Strategien politischer Gewalt, Stuttgart 1977). Waldmann betont mit Recht, daß Zwang alles staatliche Handeln durchdringt, auch wenn er Zunächst verhüllt und verdeckt bleibt. Die Strafnormen und die Strafverfolgung durch Polizei, Staatsanwalt und Richter stehen i m Zeichen einer „schichtspezifischen Verzerrung", d.h. typische Verhaltensweisen der Unterschichten werden kriminalisiert, sozialschädliches Verhalten der Oberschichten hingegen exkulpiert. Die Definitionsmacht des Staates räume dem staatlichen Erzwingungsstab eine A r t Freibrief zur Gewaltanwendung ein. Die Polizei schaffe unter Umständen „durch gezielte Provokationen" einen Anlaß zum Einschreiten. I n so gut wie allen westlichen Ländern sei es dem staatlichen Erzwingungsstab gelungen, sich neben seinem legalen Handlungsfeld illegale Zonen der Ausübung von Druck und Gewalt zu sichern. Nicht selten ließen sich „die rechtlichen Institutionen und die öffentliche Meinung in den Dienst der Gewalt stellen". Die gegenseitige Solidarität öffentlicher Amtsträger stelle sich „als ein ernsthaftes Hindernis bei dem Bemühen i n den Weg, die Aufsichtsinstanz zur Überprüfung der monierten Amtshandlung zu veranlassen". Hierzu noch ein Wort eines hessischen Staatsanwaltes i n seiner Einführungsübung für Referendare: „Demonstranten beschuldigen Polizeibeamte immer wieder verschiedenster Übergriffe. Ich b i n überzeugt davon, daß ein Großteil dieser Beschuldigungen zutrifft. Aber nachweisbar sind solche Übergriffe so gut wie nie, weil Polizeibeamte sich durch entlastende Aussagen i n der Regel wechselseitig decken . . . Die Kameradschaft, die hierin zum Ausdruck kommt, (ist) einfach notwen-
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dig, wenn w i r nicht das Funktionieren von Verbänden wie der Polizei oder auch der Bundeswehr, wo sich das Problem ähnlich stellt, in Frage stellen wollen. Wo kämen w i r denn hin, wenn ein Polizist sich nicht mehr auf diese Kameradschaft seiner Kollegen verlassen könnte" (hier zitiert nach: U. Sonnemann (Hrsg.), Der mißhandelte Rechtsstaat, Köln 1977, S. 161). Wie demokratisch, liberal und sozial oder gar sozialistisch sind dann aber wirklich unsere Demokratien? Ist nicht auch der staatlich-politische Bereich nur ein Teilbereich, der mit anderen Lebenssphären zusammenhängt und i n Wechselwirkung steht? So stellt die Gesellschaftsordnung der Demokratien auch heute noch eine gemilderte Klassengesellschaft dar, ist die Wirtschaft nach wie vor mehr oder weniger kapitalistisch-plutokratisch strukturiert. Auch die Familie war zumindest seit Jahrtausenden patriarchalisch-hierarchisch aufgebaut. Selbst heute ist die sogenannte Sozialisation keineswegs ein Musterbeispiel demokratischen Verhaltens. Sogar i m Kulturbereich ist der Einfluß des Geldes zu spüren — denken w i r nur an den Klassencharakter des Bildungswesens oder den Einfluß des Geldes auf das Zeitungswesen, Verlage usw. A l l das beeinflußt aber auch den Staat, der insofern nicht so ganz zu Unrecht auch als formale oder bürgerliche Demokratie charakterisiert worden ist. Marx und Engels mögen den Klassencharakter des Staates übertrieben haben, aber auch der ganz anders eingestellte amerikanische Soziologe Robert Maclver hat betont, „daß alle großen Staaten der Geschichte als klassengebundene, von einer herrschenden Klasse organisierte und kontrollierte Staaten entstanden sind" und daß „ i m Verlauf der Geschichte die meisten Regierungen i n den Händen herrschender Gruppen oder Klassen gewesen sind" (The Web of Government, Seite 117 und 14). Ganz schematisch gesehen, finden w i r auch in der Demokratie neben demokratischen Kräften, Verhaltensweisen und Institutionen bürokratisch-technokratische und plutokratische. Nicht zu übersehen ist der stets wachsende riesige Beamtenapparat i n der Verwaltung oder i n den Großparteien. Der plutokratische Einfluß ist primär spürbar in den pressure groups der Unternehmer und des sogenannten Mittelstandes, i n der Finanzierung der Parteien, aber auch in der Sozialisation und Rekrutierung der Politiker, der hohen Beamten usw. Man denke aber auch an die klassischen fünf Ministerien (Inneres, Justiz, Krieg, Äußeres, Finanzen), die alle nicht so sehr der Würde des Menschen als der Finanzierung, Aufrechterhaltung und Mehrung der Staatsgewalt dienten und noch immer dienen. Sicherlich sind nun i m modernen „welfare and warfare state" zahlreiche Ministerien und Behörden hinzugekom-
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men, die der Beschneidung kapitalistischer Ansprüche in der W i r t schaft, der Durchsetzung von sozialer Sicherheit, der Förderung liberaler K u l t u r p o l i t i k dienen. Das schlägt sich auch i n den Haushalten unserer öffentlichen Hände nieder. Deren Zahlen deuten an, mit welchen gewaltigen Problemen die modernen Demokratien konfrontiert sind. Das w i r d noch deutlicher, wenn w i r die Hauptherausforderungen wie Rüstungswettlauf und Krieg, Bevölkerungsexplosion und Hunger, Umweltbedrohung, W i r t schaftskrise, Repression von oben und Terror von unten, Kulturzerfall und Funktionsverlust der Kleinfamilie, Verunsicherung und Aggressivität des Individuums auch nur aufzählen. Angesichts solcher kardinalen challenges liegt es für die Herrschenden und Tonangebenden nahe, zur Gewalt zu greifen, um die immer dringlicher werdenden Gefahren zu bannen. Dies um so mehr, als so jeder einzelne Staat auf eigene Faust ohne Zusammenarbeit mit dem Rest der Welt tätig werden kann. Man erfindet neue Zwangsmittel, verbessert die Methoden der Repression und Reglementierung. I m Interesse des Überlebens des Menschen w i r d dieser immer mehr verplant. Eine solche Politik der harten Hand, des rücksichtslosen Durchgreifens, der Notwehr, die kein Gebot kennt, soll nach Meinung der „Verantwortlichen" wenigstens das nackte Überleben des Menschen, und sei es auch nur als eines Roboters, sicherstellen. So kann man sich nur schwer des Eindrucks erwehren, als ob insbesonders in den größeren demokratischen Territorialstaaten die Demokratie immer mehr in Bedrängnis gerät. A m Ende dieses Weges könnte das stehen, was w i r als neo-cäsaristische Autokratie bezeichnet haben, in der, um mit Aldous Huxley zu sprechen, einige „wunderliche altmodische Formen von Demokratie" erhalten bleiben mögen, in der aber von der Substanz einer humanen Demokratie herzlich wenig zu spüren ist. Angesichts dieses Sachverhalts scheint uns ein Staatssozialismus in vielem durchaus überholt. I m Zeitalter der A-, B - und C-Waffen sollte gerade der Sozialist überstaatlich handeln und global denken. So müßte der Sozialismus eine neue Dimension bekommen, die w i r mit den Begriffen Global-, Human- und Ökosozialismus andeuten wollen. Der Begriff Globalsozialismus negiert vor allem die einfache Gleichsetzung von Sozialismus und totaler Verstaatlichung. Gerade ein wirklich demokratisch funktionierender Sozialismus kann doch auf Dauer nur erfolgreich sein, wenn er i m Weltmaßstabe oder zunächst innerhalb von Großräumen wie etwa Europa oder zumindest Westeuropa operiert. Der Globalsozialismus muß seinem Wesen nach universalistisch-pazifistisch orientiert sein, zugleich aber auch neue Formen von Föderalismus bis hin zu einer Weltföderation entwickeln. Die Übertragung staatlicher Kompetenzen auf überstaatliche Organe ist also die eine
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Seite dieses Vorganges. Ihr sollte parallel laufen die Delegierung anderer staatlicher Machtbefugnisse auf bürgernähere regionale, lokale und funktionale Selbstverwaltungsgremien. Damit sind w i r aber auch schon bei dem humanen Aspekt des Sozialismus, der nach wie vor unabdingbar ist. Der Humansozialismus steht in schärfstem Widerspruch zu jeder Form von autoritärem Kollektivismus, führt er doch die humanen Traditionen des Liberalismus, des Radikalismus (auch i m englischen Sinne des Wortes), aber auch des gewaltfreien Anarchismus fort. Er betont die Autonomie des Individuums in der Gesellschaft und wendet sich gegen die Verherrlichung von Gewalt und Terror. Soweit er revolutionär ist, geht es i h m immer um eine gewaltfreie Revolution. Nicht nur unterscheidet sich der Humansozialismus durch das Bekenntnis zu radikalen Strukturreformen vom reformistischen Opportunismus — mit der Bejahung der Gewaltfreiheit lehnt er auch einen wilden Revolutionarismus ab. Hier offenbart sich aber auch schon das echte Dilemma von Gewalt und Gewaltfreiheit, von Revolution und Reform. Wer kann von vornherein behaupten, die progressiven Kräfte würden i n Zukunft stets stark genug sein, um auf dem Wege radikaler und gewaltloser Reformen die heutigen Wirtschafts-, Staats- und Gesellschaftssysteme des Kapitalismus i m Westen und des Etatismus i m Osten zu überwinden? Wie man auch immer die Erfolgsaussichten des Global- und Humansozialismus einschätzen w i l l — jedenfalls vermag er zumindest an alte und starke Traditionen im Sozialismus anzuknüpfen, die weiter zu entwickeln sind. Der hier geprägte Begriff des Ökosozialismus ist hingegen durchaus neu. M i t diesem Terminus wollen w i r die Umweltproblematik, wie sie bisher fast immer von Sozialisten wie Kommunisten, Demokraten wie Liberalen sträflich vernachlässigt worden ist, unterstreichen und sogar in den Mittelpunkt unseres Denkens rücken. Anders als Marx und Engels (wohl auch Kelsen?) können w i r nämlich heute nicht mehr mit der unbegrenzten Fülle und Güte der Natur rechnen. Hierzu hat Erhard Eppler Wesentliches ausgesagt, wenn er einmal betont hat: „Die Zeit, i n der jeder die eigene V i l l a m i t beheiztem Schwimmbad hat, w i r d nicht kommen", u m zugleich (wenn nicht für die 70er Jahre, so doch für unser Jahrhundert) von einer historischen Zäsur zu sprechen, die er richtig als „die Einsicht der modernen Wissenschaft i n die Grenzen des wirtschaftlichen und demographischen Wachstums" charakterisiert hat (Maßstäbe für eine humane Gesellschaft: Lebensstandard oder Lebensqualität, Stuttgart 1974, S. 95, S. 19). Die globale, humane und letztlich doch auch sozialistische Gesellschaft von morgen unterscheidet sich damit radikal von den optimisti-
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sehen Fortschrittsvorstellungen der liberalen wie der sozialistischen Demokraten des 19. und 20. Jahrhunderts. Das Ernstnehmen der ökologischen Grenzen des technisch-wissenschaftlichen, industriellen und bevölkerungsmäßigen Wachstums ist ein Grund mehr für eine weitreichende Transformation unserer Technik und Wirtschaft von einer profitorientierten Massenverschleißveranstaltung zu einer Bedarfsdekkungswirtschaft, die i n wichtigen Punkten stabil und stellenweise sogar stationär sein wird. Dabei müßte Qualität an die Stelle von Quantität, Information an die Stelle von Verkehr treten. Modische Luxus- und Verschleißwaren würden durch Güter ersetzt werden, die stärker und länger und nicht zuletzt auch einer immateriellen K u l t u r dienen könnten. Otto Ulrich (Weltniveau — I n der Sackgasse des Industriesystems, Berlin 1979, S. 22 ff.) hat mit Recht von Sackgassentechnologien gesprochen — in der Tat muß man sich wohl als Sozialist fragen, ob nicht die heutige Kerntechnologie und Chemie, die moderne Verkehrstechnik und auch die Großlandwirtschaft durch ökologisch rationalere und humanere Techniken zu ersetzen sein werden. Solche alternativen Technologien und entsprechende Wirtschaftsformen wären sowohl für die Industrieländer wie für die sogenannte Zweidrittelwelt raschestens zu entwickeln. Daß eine nicht mehr ausschließlich am technischen Fortschritt orientierte neue Gesellschaft und K u l t u r deswegen noch lange nicht zu Sterilität und Stagnation zu führen braucht, hatte übrigens schon 1857 der Liberale und Sozialist John Stuart M i l l betont: „Es erscheint kaum notwendig, besonders zu betonen, daß ein Zustand konstanten Kapitals und gleichbleibender Bevölkerungszahl nicht mit einem stillstehenden Zustand menschlicher Erfindergabe gleichzusetzen ist. Es gäbe ebensoviel Spielraum für alle Arten geistiger K u l t u r , für moralischen und sozialen Fortschritt, genau so viele Möglichkeiten, die Lebensführung zu verbessern und es wäre wahrscheinlicher, daß dies auch geschehen würde." (Hier zitiert nach D. L. Meadows a. a., Die Grenzen des Wachstums, Stuttgart 1972, S. 157) Die neue Gesellschaft könnte dabei wohl in manchem an vorindustrielle Verhaltensweisen und Werte anknüpfen. Möglicherweise würde sie urkommunistische Gemeinschaftsformen wie etwa die Großfamilien oder Dorfgemeinschaftsformen der Vergangenheit weiter entwickeln. Von den überlieferten parochialen und statischen Klassengesellschaften der letzten Jahrtausende unterschiede sie sich nach wie vor nicht nur durch ihre konsequente Demokratie, sondern auch durch ihren Sozialismus, der freilich i n vielem durchaus frugaler zu sein hätte, als w i r ihn uns noch vor einigen Jahren vorgestellt haben.
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Heute ist wohl wahr geworden, was schon oft von den Konservativen behauptet worden ist: W i r sitzen alle i m selben Boot. Ein totaler Krieg, aber wohl auch eine extreme Zerstörung der Umwelt w i r d in Zukunft nicht vor den privilegierten Oberen Zehntausend haltmachen. Doch darf dabei nicht verschwiegen werden, daß i n diesem Boot die Position der verschiedenen Klassen und Gruppen nach wie vor außerordentlich unterschiedlich ist. Einige wenige sitzen in der ersten Klasse, viele im Zwischendeck. Einige sind Kapitäne oder Offiziere, die andern fungieren als Matrosen oder Schiffsjungen. Bei der menschenwürdigen Gestaltung der Gesellschaft geht es also immer noch auch u m die soziale Frage. Und doch kommt der Sozialist heute und erst recht morgen nicht mehr darum herum, grundlegende sozialistische Überlieferungen und Vorstellungen zu problematisieren. Können Sozialisten etwa sogenannte tradeunionistische Forderungen von Gewerkschaften oder A r beiterparteien nach mehr Lohn, kürzerer Arbeitszeit usw. i m Westen einfach unbefragt übernehmen? W i r denken dabei nicht so sehr an die berechtigte Befriedigung von Basisbedürfnissen, sondern an die Erfüllung von Ersatzbefriedigungen. Bei aller Übertreibung steckt doch wohl in dem Wort Konsumterror auch ein Körnchen Wahrheit. So unterschiedlich die Formen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung in Zukunft auch sein dürften — eines sollte feststehen: Stets und überall hätte der Mensch auf die eine uralte Form der „Vergesellschaftung" zu verzichten, nämlich jenen Zusammenschluß mit seinen Nächsten, um den Fremden zu bekriegen und zu unterjochen. Immer muß er i m Nächsten wie im Fernsten einen Mitmenschen sehen, den er nicht auszubeuten und zu unterdrücken, hingegen wenn schon nicht unbedingt zu lieben, so doch zu achten und zu fördern hätte. So ist die radikale und globale Abrüstung eine unverzichtbare Voraussetzung einer neuen menschenwürdigen Gesellschaft. Sie liefe auf eine totale Umrüstung hinaus, die die für die breiten Massen i n Nord und Süd erforderlichen Produktivkräfte und Technologien überhaupt erst verfügbar machen würde. Das ist aber nicht alles: Der gesellschaftlichen Umgestaltung müßte parallel gehen die Geburt eines neuen Menschen. Das wäre sowohl die Voraussetzung für die radikale Neugestaltung der Zukunft wie aber auch deren Folge. I n einer sogenannten „nachindustriellen" Gesellschaft wären Persönlichkeit und Charakterstruktur des Menschen primär weder an Erwerb und Konsum ausgerichtet noch erst recht nicht an Macht und Autorität. Der neue „homo humanus" hätte ein ganz neues ausgewogeneres Verhältnis zu Arbeit und Freizeit, zu Mitmensch und Umwelt, zu Freiheit und Gemeinschaft zu entwickeln als sein prometheischer und faustischer Vorläufer von gestern und heute. Ganz anders
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als diese könnte er alsdann seine neue Muße genießen, i m Spiel und in der Kontemplation, i n der Erotik und Sexualität, in der Kunst, Literatur und Philosophie, aber auch in vielen Lebensäußerungen, die w i r heute kaum zu ahnen vermögen. Erst dann könnte er wohl auch auf den Luxus und aufwendigen Konsum verzichten, die doch immer mehr zu so etwas wie Ersatzbefriedigungen werden. Die Verwirklichung einer solchen neuen Gesellschaft und wohl noch mehr deren ständige Aufrechterhaltung gliche einem der revolutionärsten Umbrüche und radikalsten Innovationen in der Geschichte des Menschen. Es wäre in der Tat eine wahre „Mutation der Menschheit" (Pierre Bertaux, Berlin 1963), die wohl noch die laut Fritz Baade (Der Wettlauf zum Jahre 2000, Berlin 1960, S. 255 f.) bisher revolutionärste Veränderung in der Geschichte der Menschheit, die Abschaffung des Kannibalismus, übertreffen würde, und das um so mehr, da, wie Baade selber unterstrichen hat, jene unvorstellbar langsam vor sich gegangen ist, während uns für unsere „Revolution" doch wohl nur ein Zeitraum von bestenfalls wenigen Jahrzehnten zur Verfügung stehen dürfte. Ein gewichtiger Einwand: Hat sich nicht der „Wissenschaftliche Sozialismus" längst als eine Illusion erwiesen? Nun stimmen w i r Kelsen zu, daß die Verwirklichung des Sozialismus keineswegs geschichtsdeterminiert oder auch nur „wissenschaftlich" beweisbar ist. W i r sollten offen zugeben, daß der Sieg des Sozialismus in der Zukunft wahrlich alles andere als naturnotwendig ist. Mit Recht hatte schon Rosa Luxemburg die Alternative als „Sozialismus oder Untergang in der Barbarei" formuliert (Vgl. hierzu auch O. K. Flechtheim, Von Marx bis Kolakovski — Sozialismus oder Untergang in der Barbarei, Köln - Frankfurt 1978, S. 106). Heute zeichnen sich noch deutlicher drei Zukunftsszenarios ab: 1. Der Untergang der Menschheit; 2. Der Verfall in neue Formen eines autoritären und kriegerischen Neo-Cäsarismus; 3. Die mühsame und schwierige Geburt einer human, global und ökologisch ausgerichteten sozialistischen Weltgesellschaft. So gering deren Chancen auch sein mögen, niemand kann beweisen, daß die Aussichten dieser „Dritten Zukunft" gleich n u l l sind. Hat es nicht doch auch immer wieder Ansätze zu ihrer Verwirklichung gegeben? Weist die Geschichte der Menschheit neben fatalen Rückschlägen nicht zumindest hier und da auch Annäherungen an sozialistische Ideale auf? Hat sich nicht doch gelegentlich auch das, was zunächst dem an der Vergangenheit orientierten Forscher und Beobachter so gut wie unmöglich erschien, als möglich erwiesen? Eine futurologische Sichtweise w i l l den totalen Gegensatz von Zukunftsutopie und Vergangenheitsideologie relativieren und überwinden. Läßt sich die Zukunft des
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Sozialismus nicht beweisen, so läßt sie sich aber auch nicht wissenschaftlich widerlegen. Obwohl oder besser weil i n der Idee des Sozialismus etwas von Liebe, Glaube und Hoffnung, d. h. auch von Utopie steckt, erheischt die Antwort auf die Frage nach der Zukunft des Sozialismus nicht nur eine theoretische, sondern auch eine praktische Begründung.
Z U EINIGEN PROBLEMEN DER RECHTFERTIGUNG DER DEMOKRATIE Von Peter Koller, Graz I. Vorbemerkung Wenn man die staatsphilosophische und verfassungstheoretische Diskussion innerhalb der deutschen und österreichischen Staatswissenschaften in der Zeit zwischen den Weltkriegen verfolgt, so zeigt sich, daß die akademische Staats- und Verfassungslehre dieser Zeit der Demokratie weitgehend mit Ablehnung, ja mit Verachtung begegnete. Die antidemokratische Haltung eines großen, vermutlich des überwiegenden Teils der etablierten Staats- und Verfassungstheoretiker richtete sich dabei nicht nur gegen die Demokratie in Gestalt der seit 1918 in Deutschland und Österreich in Geltung stehenden demokratischen Verfassungen, sondern gegen die Demokratie als Staatsform schlechthin. Hans Kelsen war einer der wenigen profilierten Staatstheoretiker dieser Zeit, die sich dem wachsenden und von universitärer Seite systematisch unterstützten Legitimitätsverlust der rechtstaatlichen Demokratie entgegenstellten und sich stets zur demokratischen Staatsform bekannten 1 . Kelsens Schriften zur Demokratie, allesamt leidenschaftliche Plädoyers für die demokratische Idee, verdienen aber nicht nur deswegen Beachtung, weil sie uns heute als historische Dokumente eines hoffnungslosen Widerstandes gegen den Vormarsch des politischen Autokratismus dienen, sondern auch deshalb, weil sie zum Besten gehören, was die deutschsprachige Staatslehre an Demokratietheorie hervorgebracht hat. Besonders hervorzuheben ist i n diesem Zusammenhang Kelsens Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie", die zuerst im Jahre 1920 als Aufsatz publiziert wurde und 1929 in erheblich erweiterter Form als Buch erschienen ist 2 . Diese Schrift hat an theore1 Siehe hierzu die Beiträge von Norbert Leser u n d Ernst Topitsch i n diesem Band. 2 Hans Kelsen, V o m Wesen u n d Wert der Demokratie, zuerst in: Archiv für Sozialwissenschaft u n d Sozialpolitik, 47. Bd. (1920), S. 50 - 85; 2. umgearb. Aufl. Tübingen 1929 (J. C. B. Mohr), Nachdrucke A a l e n 1963, 1981 (Scientia). Neben diesem w o h l bedeutendsten demokratietheoretischen W e r k von Hans Kelsen sei aus der Menge der weiteren einschlägigen Schriften Kelsens auf folgende hingewiesen: Demokratie, in: Verhandlungen des 5. Dt. Soziologentages 1926 i n Wien, Tübingen 1927, S. 37 - 68; Verteidigung der Demokratie,
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tischer Bedeutsamkeit und rhetorischer Brillanz bis heute nichts eingebüßt. Kelsen hat i n der Buchfassung dieser Arbeit eine umfassende Konzeption der Demokratie entwickelt, die in allen ihren Teilen zu erörtern hier natürlich nicht möglich ist. Ich greife einen kleinen — wenngleich zentralen — Teilbereich von Kelsens demokratietheoretischer Konzeption heraus und möchte i m folgenden versuchen, an ihm die Tragfähigkeit dieser Konzeption kritisch zu prüfen. II. Die zentralen Argumente von Kelsens Rechtfertigung der Demokratie Kelsen hat in seinen demokratietheoretischen Schriften nirgendwo ausdrücklich den Anspruch erhoben, die Demokratie als diejenige Staatsform erweisen zu wollen, die von allen Staatsformen die beste moralisch-politische Rechtfertigung i m Sinne einer allgemein konsensfähigen Begründung für sich hat. Eine solche Prätention hätte ihm aufgrund seiner extremen wertrelativistischen Einstellung zutiefst widerstrebt. Wenn diese Schriften, allen voran das Buch „Vom Wesen und Wert der Demokratie", dennoch — und ich glaube zurecht — als wesentliche Beiträge zur philosophischen Grundlegung der Demokratie gelten, so deshalb, weil sie durchwegs die Kennzeichen einer rationalen moralischen Rechtfertigung tragen, die — zumindest implizit — mit dem Anspruch auf intersubjektive Geltung verbunden ist. Kelsen hat sich zwar darauf zu beschränken bemüht, zu zeigen, daß, wenn und soweit man von bestimmten normativen und faktischen Prämissen ausgeht, für die Demokratie die besseren Gründe sprechen. Doch hat er keinen Aufwand gescheut, um diese Prämissen, von denen er glaubte, daß sie notwendig zur Demokratie als der akzeptabelsten Herrschaftsform führen, als die richtigen zu erweisen. Kelsens Versuch einer philosophischen Rechtfertigung der Demokratie beruht i m wesentlichen auf zwei voneinander weitgehend unabhängigen Argumentationslinien, die zusammengenommen eine eindrucksvolle theoretische Grundlegung der Demokratie ergeben: Die erste knüpft an die Ideen der Freiheit und Gleichheit aller Menschen an und läuft auf die These hinaus, daß die Demokratie von allen Herrschaftsformen den Menschen unter der Voraussetzung ihrer Gleichheit die größtmögliche Freiheit garantiert. Die zweite Argumentationslinie beruht auf Kelsens relativistischer Überzeugung, daß alle Erkenntnisleistungen, Moralvorstellungen und politischen Standpunkte immer in: Blätter der Staatspartei, 2. Jg., 1932, S. 90 - 98; Staatsform und Weltanschauung, Tübingen 1933; alle wiederabgedruckt in: Hans Kelsen, Demokratie und Sozialismus. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. von Norbert Leser, Wien 1967.
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bloß relative Geltung beanspruchen können, weswegen ein friedlicher Ausgleich zwischen gegensätzlichen Zielsetzungen und Auffassungen nur im Wege des demokratischen Kompromisses möglich erscheine 3. 1. Ich fasse zunächst die erste Argumentationslinie kurz zusammen 4 : Sie geht aus von den Postulaten der Freiheit und Gleichheit, deren allgemeine Anerkennung Kelsen schon dadurch als gesichert erscheint, weil sie — wie er meint — elementare Urinstinkte des Menschen zum Ausdruck bringen. I n der Idee der Freiheit manifestiert sich das Streben des Menschen, nicht fremdem Zwang unterworfen zu sein, sein Handeln selbst bestimmen zu können. Da jedoch ein Zusammenleben der Menschen ohne eine bindende Ordnung ihres gegenseitigen Verhaltens, und das bedeutet: ohne irgendeine Form von Herrschaft und Zwang, nicht möglich ist, kann die Forderung der Freiheit nicht auf die natürliche Freiheit des Menschen, auf die Abwesenheit jedes gesellschaftlichen Zwangs gerichtet sein, sondern nur auf seine politische Freiheit, auf seine größtmögliche Selbstbestimmung innerhalb des sozialen Zusammenlebens zielen. Und politisch frei ist — so Kelsen in Übereinstimmung mit Rousseau —, „wer zwar Untertan, aber nur seinem eigenen, keinem fremden Willen Untertan ist" 5 . Daher kann sich der Mensch, wenn er i n Gesellschaft mit anderen lebt, als frei nur insoweit betrachten, als er auf die Bestimmung der ihn bindenden sozialen Ordnung, auf die gesellschaftliche Willensbildung Einfluß zu nehmen vermag. Denn nur insoweit der eigene Wille mit dem Staatswillen i n Gestalt der gesellschaftlichen Zwangsordnung i n Übereinstimmung steht, kann man seinem eigenen Willen gehorchen, indem man zugleich den bindenden Regeln der staatlichen Ordnung gehorcht. Da es bei Bestehen gegensätzlicher Standpunkte aber nicht möglich wäre, zu einer für alle verbindlichen, objektiv geltenden sozialen Ordnung zu gelangen, wenn jeder den Staatswillen jederzeit durch seinen Willen bestimmen könnte, ist eine völlige Übereinstimmung aller individuellen Willen mit dem Staatswillen und m i t h i n die völlige individuelle Freiheit aller Mitglieder des Gemeinwesens unerreichbar. Obgleich daher eine Einschränkung der politischen Freiheit der Individuen unumgänglich ist, so gebührt doch derjenigen Verfassung der öffentlichen Ordnung der Vorzug, die den Bürgern ein möglichst großes Maß an Freiheit und Selbstbestimmung gewährleistet. 3 Ich beziehe mich i m folgenden auf Kelsen, V o m Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929 (nachfolgend: Wesen u n d Wert), wo die für unseren Zusammenhang relevanten Gedanken Kelsens am ausführlichsten u n d k l a r sten dargelegt sind. 4 Vgl. zum Folgenden: Wesen u n d Wert, S. 3 - 13. 5 Wesen und Wert, S. 4.
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Wenn man mit Kelsen annimmt, daß der Staatswille aus einem Volksbeschluß hervorgehen soll, bei welchem jeder entsprechend der Forderung der Gleichheit in gleicher Weise berechtigt ist, den allgemeinen Willen zu bestimmen, und bei dem daher alle eine gleiche Stimme haben, so zeigt sich, daß die Anwendung des Prinzips der absoluten Mehrheit, des Majoritätsprinzips, die Freiheit der Einzelnen i m größtmöglichen Maße sichert. I n diesem Sinne Kelsen: „ N u r der Gedanke, daß — w e n n schon nicht alle — so doch möglichst viel Menschen frei sein, d . h . möglichst wenig Menschen mit ihrem Willen in Widerspruch zu dem allgemeinen Willen der sozialen Ordnung geraten sollen , führt auf einem vernünftigen Wege zum Majoritätsprinzip. Daß dabei natürlich die Gleichheit als eine Grundhypothese der Demokratie vorausgesetzt w i r d , zeigt sich eben darin, daß nicht gerade dieser oder jener frei sein soll, w e i l dieser nicht mehr gilt als jener, sondern daß möglichst viele frei sein sollen. U n d da ist eben die Konkordanz zwischen Einzel- und Staatswillen u m so leichter, m i t j e weniger anderen I n d i v i d u a l w i l l e n eine Ubereinstimmung notwendig ist, u m eine Abänderung des Staatswillens herbeizuführen. Die absolute M a j o r i t ä t stellt hier tatsächlich die oberste Grenze dar. Bei weniger wäre die Möglichkeit gegeben, daß der Staatswille i m Augenblicke seiner Erzeugung m i t mehr I n d i v i d u a l w i l l e n i n Widerspruch als i n Einklang steht; bei mehr, daß eine Minderheit den Staatswillen — indem sie dessen Abänderung verhindert — i m Widerspruch zu einer absoluten Mehrheit zu bestimmen vermag 6 ."
So läßt sich nach Kelsen zeigen, daß die Postulate der Freiheit und Gleichheit auf natürliche Weise zum Grundprinzip demokratischer Willensbildung, zum Majoritätsprinzip, führen. 2. Die zweite Argumentationslinie, auf die Kelsen sein Plädoyer für die Demokratie stützt, fußt auf einem sehr weitgehenden Erkenntnisund Wertrelativismus 7 . Kelsens persönliche Entscheidung für die Demokratie beruhte, wie er in einer Fußnote i n seinem Buch „Vom Wesen und Wert der Demokratie" bekannt hat, ausschließlich auf Gründen, die sich für ihn aus der relativistischen Weltanschauung zugunsten der demokratischen Staatsform zu ergeben schienen8. Diese relativistische Weltanschauung, der Kelsen anhing, geht von der Einsicht aus, daß es absolute Erkenntnisse und absolute Werte bzw. Moralgrundsätze nicht geben kann und daß daher alle Erkenntnisse ebenso wie alle Moralvorstellungen grundsätzlich nur relative Geltung haben. Die Relativität von Erkenntnissen und Werten schließt aber nach Kelsens Auffassung nicht nur die prinzipielle Fehlbarkeit jedes Wahrheitsoder Geltungsanspruchs ein, sondern bedeutet für ihn auch, daß alle Erkenntnisse u n d Wertpostulate m i t dem gleichen c 7 8
Geltungsanspruch
Wesen u n d Wert, S. 9 f. (Hervorhebung i m Original gesperrt). Z u m Folgenden vgl.: Wesen u n d Wert, S. 98 - 104. Wesen und Wert, A n m . 40, S. 118.
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auftreten können. Geht man von einem derartigen Relativismus aus, so gelangt man nach Kelsens Ansicht zwangsläufig zu einer demokratischen Haltung; denn wenn alle Standpunkte und Meinungen gleichberechtigt sind, dann kann der unvermeidliche Zwang, den jede soziale Ordnung erfordert, nicht anders gerechtfertigt werden „als durch die Zustimmung wenigstens der Mehrheit derjenigen, denen die Zwangsordnung zum Heile gereichen soll" 9 . Der Glaube an absolute Wahrheiten und absolute Werte führe dagegen zum politischen Absolutismus, zu einer autokratischen Herrschaftsform, da diejenigen, die sich im Besitze der absoluten Wahrheit und des absolut Guten vermeinen, sich berechtigt fühlen können, die entgegengesetzten Anschauungen anderer zu unterdrücken und ihr eigenes politisches Ideal auch gegen den W i l len der Mehrheit durchzusetzen. Wer demgegenüber — so meint Kelsen — „absolute Wahrheit u n d absolute Werte menschlicher Erkenntnis für verschlossen hält, muß nicht n u r die eigene, muß auch die fremde, gegenteilige Meinung zumindest für möglich halten. D a r u m ist der Relativismus die Weltanschauung, die der demokratische Gedanke voraussetzt. Demokratie schätzt den politischen W i l l e n jedermanns gleich ein, w i e sie auch jeden politischen Glauben, jede politische Meinung, deren Ausdruck j a n u r der politische W i l l e ist, gleichermaßen achtet. D a r u m gibt sie jeder politischen Uberzeugung die gleiche Möglichkeit, sich zu äußern u n d i m freien Wettbewerb u m die Gemüter der Menschen sich geltend zu machen 1 0 ."
I I I . Zur Kritik von Kelsens Rechtfertigung der Demokratie Beide Argumentationslinien, deren sich Kelsen zur Begründung der demokratischen Staatsidee i m wesentlichen bedient hat, sind mit ganz erheblichen Schwierigkeiten behaftet und erweisen sich — zumindest in der Form, wie sie Kelsen entwickelt hat — als eine einigermaßen zweifelhafte Rechtfertigungsbasis der Demokratie. Ich möchte i m folgenden versuchen, die gravierendsten Schwachstellen i m einzelnen aufzuzeigen. 1. Was Kelsens Versuch betrifft, die Demokratie als diejenige Herrschaftsform zu erweisen, die i m Rahmen einer sozialen Zwangsordnung allen Bürgern das größtmögliche Maß an Freiheit i m Sinne von Selbstbestimmung einräumt, so kann man soviel zugeben, daß dieser Gedanke eine vernünftige Begründung des Majoritätsprinzips ermöglicht. Doch obwohl dieses Prinzip zu den maßgeblichen Regeln demokratischer Willensbildung gehört, kann es allein nicht als das konstitutive Prinzip der Demokratie angesehen werden, hat es in der Demo9 10
2
Wesen und Wert, S. 103. Wesen und Wert, S. 101 (Hervorhebung i m Original gesperrt).
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kratie keine alleinige und uneingeschränkte Geltung. Neben einer durch das Mehrheitsprinzip geregelten allgemeinen Willensbildung muß auch die Sicherstellung gewisser Grund- und Freiheitsrechte als ein wesentliches Erfordernis eines demokratischen Systems betrachtet werden. Diese Auffassung entspricht i m übrigen durchaus der Ansicht von Kelsen, der die Bedeutsamkeit der Grund- und Freiheitsrechte für die Demokratie sehr wohl anerkannt und ausdrücklich gewürdigt hat 1 1 . Woran es Kelsen fehlen läßt, ist allerdings eine plausible Rechtfertigung dieser Rechte, die sich in seine Herleitung des Majoritätsprinzips kohärent einfügt. Denn Grund- und Freiheitsrechte bedeuten, soweit sie mit dem Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit verbunden sind, eine Einschränkung des Geltungsbereichs des Majoritätsprinzips und damit auch des größtmöglichen Umfangs der gleichen politischen Teilnahme 12 . Daher müßte zu ihrer Rechtfertigung gezeigt werden, daß und aus welchen Gründen ihnen ein vorrangiger Wert vor der unbedingten Geltung des Majoritätsprinzips zukommt. Bei Kelsen findet sich kein Argument, welches die Grundrechte i m Sinne einer systematisch begründeten Einschränkung des Majoritätsprinzips als gerechtfertigt erscheinen ließe. Wenn Kelsen das Erfordernis des Minoritätsschutzes betont und in diesem Zusammenhang die Funktion der Grundfreiheiten unterstreicht, so ist dies zwar für sich genommen ein stichhaltiges Argument. Da dieses Argument jedoch i n Widerspruch zu seiner Begründung des Mehrheitsprinzips steht, ist es i m Rahmen seiner theoretischen Konzeption völlig ad hoc. Da hilft es auch nicht, wenn er meint, das Majoritätsprinzip erweise sich in der Erfahrung mit den Grundrechten als durchaus vereinbar. So Kelsen wörtlich: „Bezeichnend ist schon, daß es [das Majoritätsprinzip, P. K.l sich i n der Erfahrung m i t dem Minoritätsschutz vereinbar zeigt. Denn die M a j o r i t ä t setzt ihrem Begriff nach die Existenz einer Minorität u n d es setzt somit das Recht der Majorität die Existenzberechtigung einer M i n o r i t ä t voraus. Daraus ergibt sich zwar nicht die Notwendigkeit, aber doch die Möglichkeit des Schutzes der M i n o r i t ä t gegenüber der Majorität. Dieser Minoritätsschutz ist die wesentliche F u n k t i o n der sogenannten Grundund Freiheitsoder Menschen - und Bürgerrechte, die i n allen modernen Verfassungen parlamentarischer Demokratien garantiert sind 1 3 ."
Abgesehen davon, daß sich aus der bloßen Existenz von Majorität und Minorität zusammen mit dem durch das Majoritätsprinzip verkörperten Recht der Mehrheit, den allgemeinen Willen zu bestimmen, 11
Siehe z. B.: Wesen und Wert, S. 53 ff. Z u m Verhältnis von Grundfreiheiten u n d Mehrheitsregel siehe die Analyse bei John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge, Mass. 1971, dt.: Eine Theorie der Gerechtigkeit, F r a n k f u r t / M . 1975, S. 254 f. u. 258 ff. 13 Wesen und Wert, S. 53 (Hervorhebung i m Original gesperrt). 12
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keineswegs schon irgendwelche Rechte der Minorität ergeben, steht ein verfassungsrechtlich durch Grund- und Freiheitsrechte verbürgter Minoritätsschutz nicht nur nicht gemäß unserer Erfahrung mit der Vorstellung einer schrankenlosen Herrschaft der Mehrheit in Konflikt, sondern ein solcher Minoritätsschutz ist schon logisch mit einer unbegrenzten Geltung des Mehrheitsprinzips unvereinbar. Es ist ja gerade die Funktion der Grundrechte, die Ausübung der Mehrheitsregel i m Interesse fundamentaler Ansprüche der politischen Minorität oder von Einzelindividuen zu begrenzen. Aber selbst wenn man annimmt, Kelsens Behauptung träfe zu, daß Majoritätsprinzip und Minoritätsschutz sich in der Erfahrung als vereinbar zeigen, erscheint das Argument, welches Kelsen aus ihr zu gewinnen vermag, als zu schwach, u m als ausreichende Begründung der Grundfreiheiten gelten zu können. Denn die Behauptung der Vereinbarkeit von Mehrheitsprinzip und Minoritätsschutz begründet — wie Kelsen richtig feststellt — keineswegs schon die Notwendigkeit, das unbedingte Erfordernis von Grundrechten, sondern nur ihre Möglichkeit. Wenn allerdings Grund- und Freiheitsrechte als ein unabdingbares Erfordernis einer demokratischen Verfassung gelten, dann kann sich eine adäquate Begründung der Demokratie nicht damit begnügen, die Möglichkeit dieser Rechte ad hoc zu behaupten, anstatt zu zeigen, daß sie notwendig aus den grundlegenden Annahmen der Theorie hervorgehen. 2. Nicht weniger problematisch erscheint m i r Kelsens zweite Argumentationslinie: sein Versuch, die Demokratie aus dem Relativismus heraus zu rechtfertigen. Zunächst ist festzustellen, daß Kelsens extrem relativistische Position auf einem glatten Fehlschluß beruht. Kelsen geht zunächst von der plausiblen Annahme aus, daß es eine Erkenntnis absoluter Wahrheiten und eine Einsicht i n absolute Werte vernünftigerweise nicht geben kann, und leitet aus dieser Annahme die Behauptung ab, daß alle Meinungen und Standpunkte den gleichen Geltungsanspruch hätten. Diese Schlußfolgerung ist schlicht und einfach falsch. Aus der Unmöglichkeit absoluter Wahrheiten und absoluter Werte ergibt sich folgerichtig nur die Möglichkeit der Falschheit, d. h. die prinzipielle Fehlbarkeit oder Fallibilität jeglicher Wahrheits- und Geltungsansprüche, nicht aber die Relativität von Erkenntnissen und Werten in dem von Kelsen intendierten Sinne, wonach sie allesamt gleichermaßen berechtigt wären. Man braucht die Fallibilität allen Erkennens und Wertens keineswegs zu leugnen, wenn man einen K r i tizismus vertritt, der wegen der vielfältigen Täuschungs- und Irrtumsmöglichkeiten menschlicher Erfahrung und menschlichen Verstandes zwar annimmt, daß keine Erkenntnis absolute Sicherheit und keine Norm unanfechtbare Richtigkeit für sich beanspruchen kann, ohne aber zu meinen, daß es deswegen unmöglich wäre, zwischen wohlfun-
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dierten, relativ überzeugenden und sicheren Standpunkten einerseits und schlecht begründeten, problematischen oder gar abstrusen Meinungen andererseits zu unterscheiden 14 . Doch selbst wenn man annimmt, ein Relativismus, wie ihn Kelsen vertreten hat, ließe sich auf eine plausible Weise begründen, erscheint es mehr als zweifelhaft, ob man daraus eine annehmbare Rechtfertigung der Demokratie gewinnen kann. Es zeigt sich nämlich, daß gerade der extreme Relativismus Konsequenzen i n sich trägt, die auch den Geltungsanspruch der Demokratie selbst untergraben und i n das vielfach erörterte Dilemma der Selbstaufhebung der Demokratie hineinführen. Wenn man den Relativismus konsequent zu Ende denkt, dann braucht die relativistische Skepsis nicht bei denjenigen Standpunkten Halt zu machen, die sich demokratischen Formen des Meinungswettbewerbs und der Willensbildung fügen, sondern diese Skepsis kann dann ebenso für die Grundlagen gelten, auf welchen die Überzeugungskraft demokratischer Verfahren selbst beruht. Die relativistische Anschauung kann daher die Demokratie als eine Methode politischer Konfliktlösung, die auf den Kompromiß gegensätzlicher Interessen und Meinungen abzielt, nur insoweit begründen, als die Postulate, welche die Demokratie selbst tragen, der relativistischen Beliebigkeit entzogen sind. Nur unter der Voraussetzung, daß wenigstens die Postulate der Freiheit und Gleichheit aller Menschen und das Ziel der gewaltfreien Konfliktlösung zwischen gegensätzlichen Standpunkten vorrangige Geltung vor gegenteiligen Einstellungen genießen, läßt sich Demokratie auf eine Weise begründen, die nicht ihrerseits der relativistischen Nivellierung aller Werthaltungen ausgesetzt ist. Dann aber ist der Relativismus der extremen Spielart, wie sie Kelsen vertreten hat, i m Grunde bereits aufgegeben 15 .
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Z u Fragen des erkenntnistheoretischen Relativismus siehe: Peter Strasser , Wirklichkeitskonstruktion u n d Rationalität. E i n Versuch über den Relativismus, Freiburg - München 1980; zur K r i t i k des extremen Wertrelativisiiius, der alle normativen Urteile einschließlich der moralischen nach dem Muster von Geschmacksurteilen deutet, siehe: Norbert Hoerster , Normenbegründung u n d Relativismus, in: Philosophisches Jahrbuch 81 (1974), 2. Halbbd., S. 247 - 258. 15 Die These, daß der Wertrelativismus notwendig zum Postulat der Toleranz führe, w i r d einer eingehenden K r i t i k unterzogen in: Geoffrey Harrison, Relativism and Tolerance, zuerst in: Ethics 86 (1976), S. 122 - 135, wiederabgedruckt in: Philosophy, Politics and Society, F i f t h Series, hrsg. von Peter Laslett und James Fishkin, Oxford 1979, S. 273 - 290.
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IV. Zur Methode der moralischen Rechtfertigung politischer Institutionen I m folgenden möchte ich versuchen, eine Rechtfertigungsmethode von Demokratie zu skizzieren, welche die Schwierigkeiten, die Kelsens Konzeption der Demokratie aufwirft, vermeidet, obwohl sie deren Ausgangsposition i m wesentlichen treu bleibt. Ich greife dabei auf Gedanken zurück, die vor allem von Rousseau, Kant, Rawls und Sen entlehnt sind 1 6 . Ich beginne mit einigen allgemeinen Überlegungen zum Verfahren der moralischen Rechtfertigung sozialer Regeln und Institutionen. Wenn es richtig ist, daß ein wesentlicher Mangel der Kelsenschen Konzeption von Demokratie darin besteht, daß sie keine in sich schlüssige Rechtfertigung der Grundfreiheiten liefert, so ist es zweckmäßig, sich zunächst mit der Frage auseinanderzusetzen, warum uns diese Grundfreiheiten als so bedeutsam erscheinen, daß w i r ihnen Vorrang vor der Geltung des Mehrheitsgrundsatzes einräumen. A u f der Grundlage unserer Alltagsintuitionen haben w i r u. a. zwei wesentliche Gründe dafür, das Mehrheitsprinzip als ausschließliche und unbeschränkte soziale Entscheidungsregel für unzureichend und seine Einschränkung durch Grundfreiheiten für erforderlich zu halten: (a) Ein Grund resultiert aus dem Umstand, daß zwischen den individuellen Willen der Menschen, die in sozialer Gemeinschaft miteinander leben, immer Gegensätze vielfältiger A r t bestehen, die daraus erwachsen, daß die Ziele der Menschen in hohem Maße von ihren Selbstinteressen geprägt sind, während jedoch die Ressourcen, alle diese Interessen zu befriedigen, i n der Regel knapp sind. Nun mag es zwar richtig sein, daß eine demokratische Willensbildung auf der Grundlage des Majoritätsprinzips eher als andere Formen der Bildung eines gemeinschaftlichen Willens zu einem Ausgleich gegensätzlicher Interessen führt, der für die meisten akzeptabel ist. Das Majoritätsprinzip w i r d 16 Ich stehe hierbei unter dem Eindruck folgender Schriften: Jean-Jacques Rousseau, D u contrat social ou principes du droit politique, 1762, zitiert nach der bei Reclam erschienenen dt. Ausgabe: Der Gesellschaftsvertrag oder die Grundsätze des Staatsrechtes, Stuttgart 1960; Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag i n der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, 1793, in: Kant, Werke i n zwölf Bänden, hrsg. v o n W i l h e l m Weischedel, Bd. X I , F r a n k f u r t / M . 1968, sowie: Die Metaphysik der Sitten, 1797, in: Kant, Werke i n zwölf Bänden, Bd. V I I I , F r a n k f u r t / M . 1968; John Rawls , Eine Theorie der Gerechtigkeit (Anm. 12); Amartya K. Sen, Collective Choice and Social Welfare, San Francisco u.a. 1970, darin insbes. S. 79 f. u. 87 f., dort Sens Beweis der „Unmöglichkeit des Liberalismus"; siehe zu diesem, i m Rahmen der Theorie sozialer Entscheidungen Arrow'scher Provenienz entstehenden Problem ferner: Amartya K. Sen, Liberty, U n a n i m i t y and Rights, in: Economica 43 (1976), S. 217 - 245, sowie: Christian Seidl, On Liberal Values, in: Zeitschrift für Nationalökonomie 35 (1975), S. 257 - 292.
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insbesondere dann einem solchen Ausgleich förderlich sein, wenn es in der Bevölkerung keine Gruppe von Bürgern gibt, die i n ihren gemeinsamen Interessen so homogen und zugleich zahlreich genug sind, u m die anderen Gruppen auf lange Sicht dominieren zu können. Wenn es eine Vielzahl von Gruppen und ein Kontinuum von Interessenspositionen gibt, können Mehrheitsentscheidungen nur Zustandekommen, indem mehrere Gruppen Koalitionen bilden, deren Funktionieren von vornherein eine gewisse Kompromißbereitschaft der beteiligten Gruppen voraussetzt 17 . Dennoch ist das Mehrheitsprinzip keine Regel, die immer und unter allen Bedingungen Entscheidungen generiert, die w i r als die angemessenen und richtigen betrachten. So erschiene es uns als höchst unangemessen, wenn eine Mehrheit von Bürgern, wie groß sie immer sei, beschlösse, eine ethnische Minderheit zu enteignen, u m sich i n deren Besitz zu setzen. Ebenso würden w i r es für unzulässig halten, wenn die politische Mehrheit daran ginge, politisch Andersdenkende vom höheren Schulbesuch oder von der Ausübung grundlegender politischer Rechte auszuschließen. Das Mehrheitsprinzip schließt Entscheidungen nicht notwendig aus, die w i r als eine nicht zu rechtfertigende Anmaßung der herrschenden Mehrheit gegenüber der Minderheit verurteilen würden. Ein Grund dafür, das Mehrheitsprinzip allein nicht schon als die perfekte Lösung des Problems einer allgemeinen Willensbildung zu betrachten, ist also der, daß dieses Prinzip nicht unter allen Bedingungen hinreichende Gewähr dafür zu bieten scheint, daß die Mehrheit die ihr eingeräumte Entscheidungsbefugnis nicht dazu benützt, um die Minderheit i n ungerechtfertigter Weise zu unterdrücken, zu benachteiligen oder i n ihren legitimen Aktionsmöglichkeiten zu behindern. Diese Behauptung setzt natürlich ein gewisses Verständnis davon voraus, was es heißt, andere i n ungerechtfertigter Weise zu unterdrücken, zu benachteiligen oder zu behindern. Und diesem Verständnis muß irgendein K r i t e r i u m dessen zugrundeliegen, worin ein ungerechtfertigter Eingriff in den Handlungsspielraum von Menschen besteht, ein Kriterium, das nicht erst durch eine Mehrheitsentscheidung festgelegt wird, sondern unabhängig davon anerkannt wird. (b) Ein weiterer wesentlicher Grund für die Ansicht, daß der Geltungsbereich von Mehrheitsentscheidungen durch Grundfreiheiten begrenzt sein müsse, ergibt sich aus der Erwägung, daß das Streben nach Freiheit sich nicht allein i n dem Bestreben erschöpft, den kollektiven Willen und damit die Regeln des sozialen Zusammenlebens bestimmen 17 Z u r D y n a m i k von Partei- u n d Koalitionsbildung i m Rahmen demokratischer Entscheidungsverfahren siehe die grundlegende Studie von Anthony Downs, A n Economic Theory of Democracy, New Y o r k 1957, dt.: ö k o n o m i sche Theorie der Demokratie, Tübingen 1968.
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zu können, sondern daß es sich ebenso in dem Bedürfnis manifestiert, einen gewissen Freiheitsspielraum zu haben, innerhalb dessen man als Privatperson autonom handeln und frei von öffentlichem Zwang sein eigenes Wohl verfolgen kann. Während Kelsen offenbar davon ausgegangen ist, daß sich das Postulat der Freiheit wegen der Unabdingbarkeit einer für alle verbindlichen gesellschaftlichen Ordnung ausschließlich in der Bestimmung des diese Ordnung konstituierenden allgemeinen Willens realisieren kann, erscheint uns eine gesellschaftliche Zwangsordnung, die schrankenlos über das Handeln der Individuen zu verfügen befugt ist, nicht nur unzweckmäßig, sondern auch nicht wünschenswert. Wenn aber die Forderung anerkannt wird, daß jedem mündigen Individuum ein solcher Bereich privater Handlungsfreiheit zustehen soll, welcher der öffentlichen Entscheidungsbefugnis entzogen ist und in dem jeder nach seinem eigenen Gutdünken zu verfahren befugt ist, dann bedarf es — wo immer die Grenze dieses Freiheitsspielraums auch gezogen w i r d — einer Einschränkung des Mehrheitsprinzips, das ja für sich allein genommen keinerlei Beschränkungen des zulässigen Umfangs sozialer Mehrheitsentscheidungen enthält. Nach diesen eher intuitiven und unsystematischen Erwägungen möchte ich nun versuchen, eine Konzeption von Demokratie zu entwickeln, die eine Einschränkung des Majoritätsprinzips durch Grundrechte als systematisch begründet erscheinen läßt. Als Ausgangspunkt mögen uns dabei — ganz analog zu Kelsen — die Postulate der Freiheit wie der prinzipiellen Gleichberechtigung aller Bürger dienen. Die Fragestellung ist daher — grob formuliert — die, welche Regeln und Verfahren der allgemeinen Willensbildung diese Postulate am ehesten erfüllen. I n welcher Weise soll nun aber über die richtige Antwort auf diese Frage selbst entschieden werden? Wenn die von Kelsen vertretene Auffassung richtig wäre, daß es auf politische Fragen keine ,objektive', d. h. intersubjektiv gültige Antwort gibt, die ohne irgendeine A r t der Abstimmung allein schon aufgrund ihrer sachlichen Gründe Geltung beanspruchen könnte, dann läge es nahe, auch die Wahl des angemessenen Verfahrens sozialer Willensbildung auf einen A k t sozialer Entscheidung zu gründen. Das ist aber offenbar nicht möglich. Da die gesuchte Antwort das angemessene Verfahren allgemeiner Willensbildung erst begründen soll, kann sie sich nicht ihrerseits schon auf einen A k t sozialer Entscheidung stützen, deren zugrundeliegende Entscheidungsregel bereits als begründet vorausgesetzt werden könnte. Der Versuch, zur Begründung des angemessenen Verfahrens sozialer W i l lensbildung wiederum auf ein solches Verfahren zu rekurrieren, würde
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letztlich entweder in einen infiniten Regreß führen oder aber auf der willkürlichen Voraussetzung irgendeiner Entscheidungsregel beruhen, die selbst nicht mehr als angemessen ausgewiesen werden könnte. Davon abgesehen würde eine solche Begründungsweise auch an einem weiteren Mangel leiden: jeder faktische Vorgang sozialer Willensbildung unterliegt — welche Entscheidungsregel ihm auch immer zugrundeliegen mag — so vielfältigen Möglichkeiten der Täuschung, der Überredung und der Übervorteilung, die eine vernünftige und ausgewogene Entscheidung behindern können, daß es fraglich erscheinen muß, ob die Berufung auf einen tatsächlichen A k t sozialer Entscheidung jemals eine hinreichende sachliche Begründung für oder gegen einen Vorschlag politischer Gestaltung zu liefern vermag. Sofern es überhaupt eine akzeptable Begründungsmethode für die grundlegenden Regeln sozialer Willensbildung gibt, so kann sie demnach nicht darin bestehen, diese Regeln ihrerseits wieder durch eine aktuale soziale Entscheidung zu rechtfertigen. Sie müßte vielmehr i n einer A r t theoretischer Rechtfertigung bestehen, deren Gültigkeit auf intersubjektiver Überzeugungskraft ihrer sachlichen Gründe beruht. I n der Tat erscheint uns für die Frage, welche Staatsform die angemessene ist, nicht sosehr die Tatsache von Belang, daß diese Staatsform durch irgendeine A r t sozialer Entscheidung faktische Geltung erlangt hat, als vielmehr die Gründe, die für oder gegen die einzelnen Staatsformen sprechen, wobei diese Gründe — wenn die Rechtfertigung allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen können soll — prinzipiell für jedermann einsehbar sein müssen. I m übrigen hat sich ja auch Kelsen (ganz entgegen seiner sonst so skeptischen Haltung gegenüber allen ,objektiven' Wahrheiten und Werteinstellungen) zur Begründung seiner Konzeption von Demokratie einer Argumentation bedient, die sich nicht auf faktische Willensbildungsprozesse, sondern auf theoretische Gründe beruft, für die er — wenn auch mitunter unberechtigtermaßen — den Anspruch erheben zu können meinte, daß sie i m Prinzip jedem vernünftigen Menschen einsichtig sein müßten. Obwohl der Umstand, daß die Rechtfertigung grundlegender gesellschaftlicher Regeln und Institutionen ihrer Form nach — zumindest implizit — auf intersubjektive Konsensfähigkeit hinzielt, keineswegs einschließt, daß w i r jemals berechtigt wären, mit absoluter Gewißheit irgendeine Regel oder Institution als objektiv gerechtfertigt zu behaupten, macht er doch eines deutlich: wenn w i r zu einer allgemein verbindlichen Rechtfertigung gelangen wollen, müssen w i r danach trachten, sie so zu konstruieren, daß ihr potentiell jeder vernünftige Mensch zustimmen könnte. Da nun aber eine einmütige Übereinstimmung der Menschen über die Regeln der ihr Zusammenleben normierenden sozialen Ordnung wegen ihrer gegensätzlichen Eigeninteressen
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tatsächlich kaum jemals herstellbar erscheint und eine solche faktische Übereinstimmung allein — auch wenn sie realisierbar wäre — durchaus nicht schon einen hinreichenden Grund abgäbe, einen vernünftigen Konsens anzunehmen, kann die allgemeine Übereinstimmung über die Regeln der sozialen Ordnung nur eine hypothetische sein, eine Übereinstimmung, die zwischen vernünftigen Menschen unter idealen, in der sozialen Realität niemals gänzlich erfüllbaren Bedingungen der Gleichberechtigung, der Unparteilichkeit und eines reduzierten Selbstinteresses als erzielbar gedacht wird. Die Idee einer solchen Rechtfertigung findet sich bereits weitgehend bei Rousseau vorgezeichnet, der in seinem „Contrat social" als Ausgangspunkt der Begründung einer gerechten bürgerlichen Verfassung einen Vertragszustand postuliert hat, welcher die Bürger zunächst in ein Verhältnis völliger Gleichheit versetzt. Rousseau verlangt, daß sich die Menschen vor Abschluß des Vertrags, durch den sie sich einmütig auf eine allgemein verbindliche soziale Ordnung festlegen, aller ihrer Besitztümer und Rechte, die sie zuvor innegehabt haben, entledigen, damit — wie er sagt — die Bedingungen für alle ganz gleich sind und niemand ein Interesse daran haben kann, sie für andere drückend zu machen 18 . Da jeder naturgemäß nach seinem eigenen Vorteil strebt und die partikularen Willen der Einzelindividuen wegen ihrer Gegensätzlichkeit keine — jedenfalls keine dauerhafte — Gemeinsamkeit eines einheitlichen Willens ergeben, kann eine gemeinsame Willensentscheidung, der sich alle Glieder der Gemeinschaft anschließen können, die „volonté générale", nur erreicht werden, wenn eine weitgehende Gleichheit der Interessen hergestellt wird. Nur dadurch, daß bei der Beschlußfassung über die Verfassung der gemeinsamen sozialen Ordnung niemand über irgendwelche besonderen Rechte verfügt, ist sichergestellt, daß die Beteiligten sich nicht von ihren jeweiligen Sonderinteressen, sondern nur von allgemeinen Interessen leiten lassen. Haben sich die Menschen ihrer partikularen, jeweils auf ihren eigenen Vorteil gerichteten Interessen entledigt, so ergibt sich aus dem Selbstinteresse eines jeden Menschen an der Sicherung seines Lebens und seiner Freiheit wie von selbst ein gemeinsames Interesse aller an der gemeinschaftlichen Sicherung des Lebens und der Freiheit jedes einzelnen. Nun scheint Rousseau jedoch gemeint zu haben, daß die Bedingung der Gleichheit, die er als Voraussetzung für das Zustandekommen einer einmütigen Willensübereinstimmung aller Mitglieder der Gesellschaft 18 Siehe hierzu und zum Folgenden: Rousseau, Gesellschaftsvertrag (Anm. 16), insbes. S. 42 ff.; vgl. dazu Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, 1. A u f l . Neuwied 1960, 3. Überarb. A u f l . F r a n k f u r t / M . 1975, S. 103 ff.; Maximilian Forschner, Rousseau, Freiburg - München 1977, S. 120 ff.
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ansah, erst einmal in der Realität hergestellt werden müßte, um im Wege eines Gesellschaftsvertrags eine gerechte Gesellschaft begründen zu können; ferner hat er geglaubt, daß eine Gesellschaft, die unter der Bedingung der Gleichheit aller durch einen einmütigen Vertragsakt begründet wird, mit Notwendigkeit schon eine gerechte Gesellschaft sein müsse 10 . Diese Ansicht ist jedoch aus zwei Gründen unannehmbar: zum einen, weil die Gleichheit der Vertragspartner, die man nach Rousseau als Bedingung der Möglichkeit eines einmütig gefaßten Vertragsbeschlusses voraussetzen muß, i n Wirklichkeit nicht möglich ist; zum anderen, weil eine noch so weit gehende Gleichheit niemals eine hinreichende Gewähr dafür darstellt, daß eine unter ihr stattfindende Willensbildung faktisch nicht doch zu erheblichen Abweichungen von der Idee eines gemeinsamen verallgemeinerungsfähigen Interesses aller führen kann. Der grandiose Gedanke Rousseaus war, die Bedingungen für einen allgemeinen Konsens über die Grundregeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens dadurch herbeizuführen, daß jeder sich seiner partikularen Interessen soweit entledigt, bis das Selbstinteresse eines jeden mit dem Selbstinteresse jedes anderen zusammenfällt. Wenn dieser Gedanke eine annehmbare Interpretation erfahren soll, so muß man ihn — unabhängig davon, was Rousseau selbst gemeint haben mag — als eine regulative Idee verstehen, als eine bloß in Gedanken mögliche Konstruktion einer gerechten Gesellschaft, die der Beurteilung der sozialen Wirklichkeit als moralischer Maßstab dienen kann. Auf diese Weise gelangt man zu jener Interpretation, die Kant der Idee des Sozialkontrakts gegeben hat. I n diesem Sinne Kant in seiner Schrift „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis" : „ A l l e i n dieser Vertrag (contractus originarius oder pactum sociale genannt), als K o a l i t i o n jedes besondern u n d Privatwillens i n einem V o l k zu einem gemeinschaftlichen und öffentlichen W i l l e n (zum Behuf einer bloß rechtlichen Gesetzgebung), ist keineswegs als ein Faktum vorauszusetzen nötig (ja als ein solches gar nicht möglich); gleichsam als ob allererst aus der Geschichte vorher bewiesen werden müßte, daß ein Volk, i n dessen Rechte und Verbindlichkeiten w i r als Nachkommen getreten sind, einmal w i r k l i c h einen solchen Actus verrichtet, u n d eine sichere Nachricht oder ein Instrument davon uns, mündlich oder schriftlich, hinterlassen haben müsse, u m sich an eine schon bestehende bürgerliche Verfassung für gebunden zu achten. Sondern es ist eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten W i l l e n eines ganzen Volks haben entspringen können, u n d jeden Untertan, so fern er Bürger sein w i l l , so anzusehen, als ob er zu einem solchen W i l l e n m i t zusammen 19 Vgl. hierzu Hans Welzel, Naturrecht u n d materiale Gerechtigkeit, 1. A u f l . Göttingen 1951, 4. A u f l . 1962, S. 160 f.; Reinhard Brandt , Rousseaus Philosophie der Gesellschaft, Stuttgart-Bad Cannstatt 1973, S. 20 ff.
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gestimmet habe. Denn das ist der Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes 20 ."
Die der Idee des Gesellschaftsvertrags zugrundeliegende Vorstellung, daß eine Gesellschaft gerecht genannt werden kann, wenn ihren grundlegenden Normen jedermann aus wohlerwogenem Eigeninteresse zustimmen könnte, führt — da ihre faktische Realisierung undenkbar ist — notwendig zur Konstruktion einer rein hypothetischen Vertragsfiktion, welche die Menschen in einen Zustand anfänglicher Freiheit und Gleichheit versetzt und von ihren partikularen Interessenlagen und Bedürfnissen abstrahiert. Diese Vorstellung führt damit zur hypothetischen Unterstellung von Eigeninteressen, die mit den faktischen Eigeninteressen der Menschen, wie w i r sie in der sozialen Realität vorfinden, nur wenig zu tun haben. Daraus ergibt sich die Frage, wie eine solche Konstruktion denn überhaupt zur verbindlichen Rechtfertigung sozialer Regeln dienen kann, wenn sie doch auf völlig fiktiven, scheinbar beliebigen Unterstellungen beruht. Warum sollte eine so geartete Konzeption Regeln, auf die sich fiktive Menschen unter hypothetischen Bedingungen gedachterweise einigen würden, Geltung verschaffen? Nun scheint mir, daß die Idee des Sozialkontrakts in der zuletzt erörterten, von Rousseau und Kant vorgezeichneten Form eine mögliche A r t der Beschreibung des moralischen Standpunkts darstellt. Es mag aufgefallen sein, daß die Form, die der Gesellschaftsvertrag annimmt, wenn man Einmütigkeit unter der Bedingung der freien Selbstbestimmung von jedermann herzustellen versucht, starke Analogien mit Postulaten aufweist, die als wesentliche, konstitutive Kennzeichen des moralischen Diskurses gelten: den Postulaten der Autonomie und des universellen Geltungsanspruchs moralischer Urteile. Das Postulat der Autonomie bringt zum Ausdruck, daß jedes Individuum als moralisches Subjekt angesehen werden soll, das in moralischen Fragen sein eigener Gesetzgeber ist und letztlich nur seinem eigenen Gewissen verantwortlich ist. In Fragen der Moral gibt es — im Unterschied zum Recht, zur Etikette u. dgl. — keine übergeordnete Instanz, die als gesetzgebende Autorität mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit auftreten oder moralische Fragen letztinstanzlich entscheiden könnte. Dieses Postulat darf aber nicht so verstanden werden, daß jeder nach seinem bloßen Belieben urteilen dürfte; es setzt vielmehr voraus, daß jede Person über ein moralisches Gewissen verfügt, welches ihr Kriterien zum richtigen Gebrauch ihrer moralischen Freiheit an die Hand gibt. 20 Kant, Über den Gemeinspruch (Anm. 16), S. 153 (A 250); vgl. auch Kant, Metaphysik der Sitten (Anm. 16), §§ 46 u. 47, S. 432 ff. (A 166 ff., B. 196 ff.).
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N e b e n so s e l b s t v e r s t ä n d l i c h e n F o r d e r u n g e n w i e d e n e n der E r n s t h a f t i g k e i t u n d der Bereitschaft z u r k r i t i s c h e n R e f l e x i o n seiner m o r a l i s c h e n Ü b e r z e u g u n g e n ( w o z u auch die B e r e i t s c h a f t z u i h r e r d i s k u r s i v e n E r ö r t e r u n g m i t a n d e r e n gehört) sehen w i r uns als a u t o n o m e moralische Personen v o r a l l e m m i t d e m P o s t u l a t k o n f r o n t i e r t , unser moralisches U r t e i l s v e r m ö g e n i m m e r n u r so zu gebrauchen, daß w i r uns f ü r berecht i g t h a l t e n k ö n n e n , f ü r unsere m o r a l i s c h e n A n s c h a u u n g e n a l l g e m e i n e V e r b i n d l i c h k e i t zu beanspruchen. W a n n i m m e r w i r m o r a l i s c h e U r t e i l e f ä l l e n oder moralische G r u n d s ä t z e aufstellen, e r h e b e n w i r i m p l i z i t den A n s p r u c h , daß i h n e n j e d e r m a n n als autonomes moralisches S u b j e k t zus t i m m e n k ö n n e n m ü ß t e . Dies ist das Postulat des universellen Geltung sanspruchs m o r a l i s c h e r U r t e i l e . Dieses P o s t u l a t schließt — w o r a u f N o r b e r t H o e r s t e r h i n g e w i e s e n h a t — z w e i A s p e k t e e i n 2 1 . D e r erste A s p e k t besteht i n d e r sog. V e r a l l g e m e i n e r u n g s f ä h i g k e i t oder U n i v e r s a l i s i e r b a r k e i t m o r a l i s c h e r U r t e i l e u n d besagt, u m m i t H o e r s t e r zu sprechen, folgendes: „Wer i n einem konkreten Fall ein moralisches U r t e i l abgibt, gibt damit implizit stets ein U r t e i l ab über alle jene Fälle, die nach seiner Meinung dem betreffenden Fall i n relevanter Weise gleichen. Wenn etwa jemand sagt, A soll sich von seiner Frau nicht scheiden lassen, dann sagt er damit — sofern er w i l l , daß sein U r t e i l als moralisches U r t e i l verstanden w i r d — gleichzeitig, niemand solle sich scheiden lassen, dessen Ehe i n moralisch relevanter Hinsicht der Ehe von A gleicht: also etwa i n der Hinsicht, daß A unversorgte Kinder hat, daß die Abwendung von seinem Ehepartner auf einer aller V o r aussicht nach n u r vorübergehenden Leidenschaft beruht usw. Moralische Urteile beanspruchen also stets, nicht bloß auf einen Einzelfall, sondern auf eine Klasse von Fällen anwendbar zu sein 2 2 ." Der zweite Aspekt b e t r i f f t den interpersonalen, i n t e r s u b j e k t i v e n G e l t u n g s a n s p r u c h , der m i t m o r a l i s c h e n U r t e i l e n u n d G r u n d s ä t z e n stets v e r b u n d e n ist. K u r t B a i e r c h a r a k t e r i s i e r t diesen A s p e k t i n seinem B u c h „ T h e M o r a l P o i n t of V i e w " f o l g e n d e r m a ß e n : „Der Standpunkt der M o r a l ist ungenügend gekennzeichnet, w e n n man sagt, daß ich i h n eingenommen habe, w e n n ich nach Prinzipien handle, d . h . nach Regeln, von denen ich keine Ausnahme mache, w e n n m e i n Handeln nach diesen Prinzipien diesen oder jenen meiner Zwecke oder Wünsche zunichte machen würde. Der moralische Standpunkt zeichnet sich durch eine größere Universalität aus. M a n muß i h n als einen Standpunkt begreifen, von dem aus Prinzipien als Prinzipien angesehen werden, nach denen jeder handelt. Es handelt sich nicht einfach u m Prinzipien, nach denen eine Person 21 Siehe hierzu Norbert Hoerster , E t h i k u n d Moral, in: Texte zur Ethik, hrsg. von Dieter Birnbacher und Norbert Hoerster, München 1976, S. 9 - 2 3 , insbes. S. 19 ff. 22 Hoerster , op. cit., S. 19 f. Vgl. dazu ferner: R. M. Hare, Freedom and Reason, London 1963, dt.: Freiheit u n d Vernunft, Düsseldorf 1973; Reiner Wimmer, Universalisierung i n der E t h i k . Analyse, K r i t i k und Rekonstrukt i n ethischer Rationalitätsansprüche, F r a n k f u r t / M . 1980.
Zu einigen Problemen der Rechtfertigung der Demokratie immer und ausnahmslos handeln muß, sondern u m Prinzipien, die für gelten sollen 2*"
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Das Postulat des universellen Geltungsanspruchs der Moral führt in Verbindung mit dem Postulat der moralischen Autonomie jeder Person zu jener Grundforderung des moralischen Argumentierens, die als die der
Unparteilichkeit
oder
der
Transsubjektivität
des
moralischen
Standpunkts bekannt sind: diese Forderung besagt, daß, wer moralische Urteile fällt oder moralische Grundsätze aufstellt, einen unabhängigen, vorurteilslosen, unparteilichen, überpersönlichen, leidenschaftslosen und neutralen Standpunkt einnehmen muß 2 4 , seine persönliche Subjektivität wegen ihrer beschränkten Interessensperspektive transzendieren muß 2 5 . Denn nur unter dieser Voraussetzung erscheint es möglich, Regeln des zwischenmenschlichen Verhaltens festzulegen, die für sich den Anspruch auf intersubjektive Verbindlichkeit erheben können, wenn diese Verbindlichkeit der autonomen Willensbildung aller Betroffenen entspringt. Die Bedingung der Unparteilichkeit oder Transsubjektivität als das konstitutive Kennzeichen des Standpunkts der Moral manifestiert sich deutlich in einigen bekannten Prinzipien, die nicht nur weithin als Faustregeln des moralischen Alltagsdenkens dienen, sondern überhaupt zum Grundbestand des moralischen Common sense fast aller Hochkulturen gehören: so vor allem in der sog. Goldenen Regel und in dem meist als Folgenprinzip oder Verallgemeinerungsargument bezeichneten Prinzip 2 6 . 23 Kurt Baier, The M o r a l Point of View, Ithaca - London 1958, dt.: Der Standpunkt der Moral, Düsseldorf 1974, S. 185. 24 Vgl. Baier, op. cit., S. 190 ff. 25 So vor allem: Paul Lorenzen, Szientismus versus D i a l e k t i k , zuerst in: Hermeneutik u n d Dialektik. FS für H.-G. Gadamer, hrsg. von R. Bubner, K . Cramer u. R. Wiehl, Bd. I, Tübingen 1970, S. 52 - 72, wiederabgedruckt in: Praktische Philosophie und konstruktive Wissenschaftstheorie, hrsg. von Friedrich Kambartel, F r a n k f u r t / M . 1974, S. 3 4 - 53, insbes. S. 50; Oswald Schwemmer, Philosophie der Praxis, F r a n k f u r t / M . 1971, 2. Aufl. 1980, S. 114 ff., insbes. S. 126 f.; Paul Lorenzen / Oswald Schwemmer, Konstruktive Logik, E t h i k und Wissenschaftstheorie, 1. A u f l . Mannheim 1973, 2. erw. Aufl. 1975, S. 165 ff.; Reiner Wimmer, Universalisierung i n der E t h i k (Anm. 22), S. 19 ff. 26 Zur Goldenen Regel siehe die eingehenden Erörterungen bei Hans Reiner, Die „Goldene Regel", in: Zeitschrift für philosophische Forschung 3 (1948), S. 7 4 - 105; Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, A n hang: Das Problem der Gerechtigkeit, S. 367 ff.; Marcus George Singer, The Golden Rule, in: Philosophy 38 (1963), S. 293 - 313; R. M. Hare, Freiheit und Vernunft (Anm. 22), S. 103 ff.; Norbert Hoerster, R. M. Hares Fassung der Goldenen Regel, in: Philosophisches Jahrbuch 81 (1974), S. 186 - 196; HansUlrich Hoche, Die Goldene Regel. Neue Aspekte eines alten Moralprinzips, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 32 (1978), S. 355 - 375; Reiner Wimmer, Universalisierung i n der E t h i k (Anm. 22), S. 254 ff.; Bruno Brülisauer, Die Goldene Regel. Analyse einer dem Kategorischen Imperativ ver-
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Wenn w i r die von diesen Prinzipien geforderte Perspektive als den Standpunkt der Moral akzeptieren, so liegt seine Affinität zur Idee des Gesellschaftsvertrags, wie w i r sie mit Bezug auf Rousseau und Kant rekonstruiert haben, auf der Hand. Die Entsprechung besteht vor allem darin, daß uns die eine wie die andere Konzeption eine allgemeine Betrachtungsweise abverlangt, die von Interessen, Bedürfnissen und Zwecken, welche sich aus der Stellung jedes Menschen zufällig ergeben, abstrahiert und jeden gleichsam in die Stelle jedes anderen versetzt. Diese Betrachtungsweise soll uns zu Regeln des sozialen Zusammenlebens führen, welche die Interessen aller Beteiligten gleichermaßen berücksichtigen und daher von allen als verbindliche Grundsätze gegenseitigen Verhaltens akzeptiert werden können. Bei beiden Konzeptionen handelt es sich sozusagen um hypothetische Gedankenexperimente, die auf den Ausgleich menschlicher Interessen und Zwecke abzielen und gerade deshalb an den Betrachter die Anforderung stellen, einen unparteilichen, allgemeinen Standpunkt zu beziehen, von dem aus die gegensätzlichen Interessen und Zwecke der Menschen auf die Grenzen ihrer Verallgemeinerungsfähigkeit eingeschränkt werden können. Die Konzeption des Gesellschaftsvertrags, wie w i r sie rekonstruiert haben, unterscheidet sich vom moralischen Standpunkt nur dadurch, daß die Anforderungen, die dieser in Form von Prinzipien der autonomen moralischen Gewissensentscheidung jedes Einzelnen postuliert, i m Gesellschaftsvertrag als prozedurale Bedingungen einer gemeinsamen Willensbildung aller Betroffenen i n Erscheinung treten. Während uns der Standpunkt der Moral Anleitungen dazu gibt, wie jeder für sich zu Urteilen und Grundsätzen gelangen kann, denen zuzustimmen allen anderen als moralischen Subjekten möglich sein muß, versetzt uns die Konzeption des Sozialkontrakts i n eine fiktive Beratungssituation, die uns vermöge unserer Beschaffenheit als gleicher und freier Wesen einen (hypothetischen) Konsens über die gemeinsamen Grundsätze unseres Zusammenlebens herbeizuführen erlaubt 2 7 . Ich sehe wandten Grundnorm, in: Kant-Studien 71 (1980), S. 325 - 345. Z u m Folgenprinzip bzw. Verallgemeinerungsargument sei vor allem hingewiesen auf: Marcus George Singer, Generalization i n Ethics, New Y o r k 1961, dt.: Verallgemeinerung i n der E t h i k , F r a n k f u r t / M a i n 1975, S. 86 ff., insbes. S. 93; Norbert Hoerster, Utilitaristische E t h i k u n d Verallgemeinerung, Freiburg München 1971; Reiner Wimmer, Universalisierung i n der E t h i k (Anm. 22), S. 296 ff., wo die umfangreiche Literatur zum Folgenprinzip ganz ausgezeichnet zusammengefaßt u n d verarbeitet ist. 27 H i e r i n zeigt sich eine frappante Ähnlichkeit zwischen der Konzeption des Sozialkontrakts i n der von K a n t angedeuteten u n d neuerdings von Rawls ausgearbeiteten Form und der Theorie des praktischen Diskurses von Habermas w i e auch der K o n s t r u k t i o n einer idealen Beratungssituation bei Schwemmer; siehe hierzu Jürgen Habermas, Wahrheitstheorien, in: W i r k lichkeit und Reflexion, hrsg. von Helmut Fahrenbach, Pfullingen 1973, S. 211
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nicht, daß dieser Unterschied eine erhebliche inhaltliche Differenz zwischen diesen beiden Konzeptionen der moralischen Rechtfertigung begründen würde. Beiden, dem Konzept des moralischen Standpunkts ebenso wie der Konzeption des Sozialkontrakts in ihrem Verständnis als regulativer Idee, liegt das Ideal einer einmütigen Willensbildung aller Betroffenen unter der Bedingung ihrer Entscheidungsfreiheit zugrunde, ein Ideal, welches faktisch niemals erreichbar ist und daher nur i n der Form einer fiktiven Unterstellung vollständig erfüllbar erscheint. V. Grundzüge einer Rechtfertigung der Demokratie Ich nehme an, daß die transsubjektive Betrachtungsweise der Moral einen geeigneten Ansatz der rationalen Rechtfertigung sozialer Regeln und Institutionen darstellt, und schlage demgemäß vor, die Fragestellung, welche Form der sozialen Willensbildung den Postulaten der Freiheit und Gleichberechtigung am ehesten entspricht, i n folgender Weise zu reformulieren: Auf welche Regeln und Verfahren allgemeiner Willensbildung würden sich vernünftige und aufgeklärte Menschen von einem allgemeinen, überpersönlichen Standpunkt festlegen, wenn sie von der Unabdingbarkeit einer für alle verbindlichen sozialen Ordnung überzeugt sind, diese aber doch so gestalten möchten, daß sie ihnen unter der Bedingung der Gleichberechtigung aller Beteiligten ein Höchstmaß an Freiheit i m Sinne maximaler Selbstbestimmung gewährleistet? Wenn w i r von dieser Fragestellung als dem Ausgangspunkt für die Begründung der grundlegenden Regeln sozialer Entscheidungsprozesse ausgehen, so haben w i r zwar keine präzise und für sich allein hinreichende, aber doch eine ungefähre Richtschnur dafür, u m den allgemeinen Rahmen für die Anwendung bestimmter Regeln der sozialen W i l lensbildung abzustecken. Der konkrete Anwendungsbereich dieser Regeln läßt sich — wie w i r sehen werden — dagegen nicht unmittelbar aus den Postulaten der Freiheit und Gleichberechtigung ableiten, sondern nur auf der Grundlage weiterer Voraussetzungen wie der Kenntbis 265; Oswald Schwemmer, Philosophie der Praxis, F r a n k f u r t / M . 1971. Dient i n der Sozialkontraktskonzeption die Vorstellung einer f i k t i v e n vertraglichen Einigung zur Rechtfertigung von gerechten Grundsätzen einer Verfassung des Gemeinwesens, so betrachtet Habermas die kontrafaktische Unterstellung einer idealen Sprechsituation, i n der ein Konsens über p r a k tische Geltungsansprüche angestrebt w i r d , als Norm, die i n jedem m o r a l i schen Diskurs immer schon vorausgesetzt werden muß. Z u m Vergleich der Theorie v o n Habermas m i t der Sozialkontraktskonzeption v o n Rawls siehe Herbert Kitschelt, Moralisches Argumentieren u n d Sozialtheorie. Prozedurale E t h i k bei John Rawls u n d Jürgen Habermas, in: ARSP 66 (1980), S. 391 bis 429. 22 R E C H T S T H E O R I E , B e i h e f t 4
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nis gewisser Gesetzmäßigkeiten des sozialen Zusammenlebens und der Annahme einer Präferenzordnung hinsichtlich der grundlegenden menschlichen Interessen bestimmen. Versuchen wir, uns i n den transsubjektiven Standpunkt der Moral zu versetzen, und fragen w i r uns, welchen Einschränkungen der individuellen Freiheit w i r uns von diesem Standpunkt aus vernünftigerweise unterwerfen können. Da w i r eine unparteiliche, allgemeine Haltung einnehmen müssen, die von uns verlangt, von unserem konkreten persönlichen Selbstinteresse abzusehen und — gleichsam so, als ob w i r die Rolle jeder beliebigen Person einnehmen würden — die grundlegenden Interessen aller Beteiligten gleichermaßen zu berücksichtigen, kann es dabei nur um solche Freiheitseinschränkungen gehen, die für jedermann i m gleichen Ausmaß gelten. Das Problem besteht also — um mit Kant zu sprechen — i n der Notwendigkeit der „Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, in so fern diese nach einem allgemeinen Gesetze möglich ist" 2 3 . Es ist nun wichtig zu beachten, daß die Freiheit, verstanden als das Vermögen des Individuums, i n Gesellschaft mit anderen dennoch seinem eigenen Willen gemäß zu leben, zwei verschiedene, wenn auch wechselseitig verbundene Aspekte hat und daß es demgemäß zwei Typen von Freiheitseinschränkungen gibt: 1. Der erste Aspekt von Freiheit besteht in der Möglichkeit des Individuums, innerhalb bestimmter Grenzen unabhängig von fremder Einmischung und frei von öffentlichen Zwangsgesetzen tun und lassen zu können, was es w i l l . Innerhalb des Bereichs, i n dem diese A r t von Freiheit besteht, ist das Individuum i n seinen Handlungsmöglichkeiten nur durch äußere Tatsachen, nicht aber durch öffentliche Zwangsregeln beschränkt. Freiheit i n diesem Sinne bezeichnet einen Handlungsbereich des Individuums, der gerade dadurch definiert ist, daß seine Handlungen hier nicht der sozialen Entscheidungsbefugnis des Kollektivs unterliegen, sondern seiner privaten Entscheidung überlassen bleiben. Diesen Aspekt von Freiheit, dem die Theoretiker des Liberalismus stets besonderes Gewicht beigemessen haben, möchte ich liberale Freiheit oder private Freiheit nennen. Die Notwendigkeit einer Einschränkung der liberalen Freiheit ergibt sich aus der Unverträglichkeit einer schrankenlosen privaten Entscheidungsgewalt aller Menschen, die miteinander i n sozialer Gemeinschaft leben. Die Einschränkung der privaten Entscheidungsbefugnis bedarf öffentlicher Zwangsregeln, deren Erzeugung einen Mechanismus sozialer Entscheidungsbildung voraussetzt. Wenn die Einschränkung der privaten Freiheit für alle Betei23
Kant , Uber den Gemeinspruch (Anm. 16), S. 144 (A 233).
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ligten die gleiche sein soll, so kann sie nur durch soziale Normen geschehen, die ohne Einschränkung für alle Bürger gelten. 2. Der zweite Aspekt von Freiheit betrifft die Befugnis des Individuums, auf die Erzeugung der öffentlichen Zwangsregeln Einfluß zu nehmen und so gleichsam die soziale Ordnung zu bestimmen, der sein eigenes Verhalten unterworfen ist. Die Ausübung dieser A r t von Freiheit, der die Theoretiker der Demokratie — wie z. B. auch Kelsen — vorrangige Bedeutung zugemessen haben, besteht i n der Teilhabe an gerade denjenigen sozialen Entscheidungsprozessen, die private Freiheit beschränken. Ich schlage vor, diese Dimension der Freiheit als demokratische oder soziale Freiheit zu bezeichnen. Das Erfordernis einer Einschränkung der sozialen Freiheit resultiert — ähnlich wie i m P'all der privaten Freiheit — aus der Unmöglichkeit, daß jedermann zugleich die allgemeine Ordnung uneingeschränkt nach eigenem Willen bestimmen kann. Soll die soziale Freiheit für alle gleich sein, so muß jeder Beteiligte die gleiche Befugnis haben, den allgemeinen Willen zu bestimmen, d. h. jeder muß die gleiche Chance haben, an der Erzeugung der allgemein verbindlichen Regeln gleichberechtigt teilzunehmen. Es ist unschwer zu sehen, daß die liberale und die demokratische Freiheit in einem Verhältnis gegenseitiger Konkurrenz stehen: je größer der Bereich der allen Bürgern gewährten privaten Freiheit, desto kleiner ist der Entscheidungsbereich der sozialen Willensbildung, obwohl natürlich die Festsetzung des Rahmens der gleichen privaten Freiheit ihrerseits sozialer Entscheidungsprozesse bedarf; umgekehrt ist der Rahmen der sozialen Entscheidungsbefugnis u m so größer, je enger die Grenzen der privaten Freiheit der Bürger gezogen sind. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Arten der Freiheit ermöglicht es, unsere Erörterung darüber, welchen Einschränkungen der individuellen Freiheit w i r von einem allgemeinen, transsubjektiven Standpunkt aus vernünftigerweise zustimmen könnten, ein Stück weiterzuführen, wenn w i r überlegen, welcher dieser Arten von Freiheit w i r bei allgemeiner Betrachtung prima facie den Vorzug geben sollen. Dazu ist es erforderlich, private und soziale Freiheit m i t Rücksicht darauf zu vergleichen, welche Freiheit dem Individuum i n bezug auf einen gegebenen Handlungsbereich ein größeres Maß an Selbstbestimmung gewährt. Da die gleiche private Freiheit jedem Bürger i m Rahmen des betreffenden Handlungsbereichs die alleinige Entscheidungsbefugnis einräumt, während soziale Freiheit sich für ihn in der bloßen Chance erschöpft, die soziale Entscheidung hinsichtlich derselben Handlungsalternativen gleichberechtigt mit allen anderen zu beeinflussen, garantiert die liberale Freiheit prima facie jedem ein größeres Maß an Freiheit, sein Handeln autonom zu bestimmen. Liberale Freiheit 22*
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genießt daher gegenüber der demokratischen Freiheit grundsätzlich den Vorzug. Sofern es also für einen Handlungsbereich möglich ist, ihn der privaten Entscheidungsbefugnis jedes einzelnen anheimzustellen, ohne daß die Ausübung dieser Befugnis durch die einen die anderen in der Ausübung derselben Freiheit notwendig beeinträchtigt, ist es — stets unter der Voraussetzung, daß w i r eine gesellschaftliche Ordnung anstreben, in der die Bürger ein Maximum an freier Selbstbestimmung haben sollen — vernünftig, i n diesem Bereich gleiche private Freiheit zu etablieren und ihn nicht öffentlicher Entscheidungsgewalt zu unterstellen. Da gleiche private Freiheit dort, wo sie für alle zusammen möglich ist, jedem ein größeres Maß an Selbstbestimmung ermöglicht als soziale Freiheit, muß unser Bestreben darauf gerichtet sein, uns einen möglichst großen Bereich gleicher privater Freiheit zu sichern und erst die restlichen Bereiche sozialen Entscheidungsprozessen unter dem Vorbehalt gleicher politischer Teilnahme anheimzustellen. Ich mache darauf aufmerksam, daß unsere bisherigen Überlegungen nicht einen strikten oder absoluten Vorrang einer bestimmten liberalen Freiheit zu begründen geeignet sind, sondern uns nur einen prima facie-Grund zugunsten der liberalen Freiheit überhaupt geliefert haben. Dieser prima facie-Grund rechtfertigt den Vorrang der liberalen Freiheit nur unter dem Vorbehalt, daß die private Freiheit i n einem bestimmten Bereich für alle Beteiligten gleichermaßen möglich ist, d. h. wenn sichergestellt ist, daß auch tatsächlich alle — jedenfalls i m großen und ganzen genommen — die durch die betreffende Freiheit eingeräumte Handlungsbefugnis ausüben können. Da gleiche private Freiheit ohne die Existenz einer öffentlichen Zwangsordnung, die diese Freiheit für alle gewährleistet, unwirksam wäre, ergibt sich schon daraus eine Einschränkung liberaler Freiheit. Ferner ist zu bedenken, daß gleiche private Freiheit nur dann für alle von Nutzen ist, wenn jeder über die notwendigen materiellen Bedingungen der Freiheitsausübung verfügt. I n jeder Gesellschaft bestehen vielfältige naturwüchsige Machtkonstellationen und Abhängigkeitsverhältnisse, die — selbst unter der Voraussetzung formal gleicher privater Freiheitsrechte — manche Gruppen der materiellen Bedingungen berauben, u m diese Befugnisse überhaupt ausüben zu können. Wenn w i r etwa eine Gesellschaft mit Freiheit des Eigentums und uneingeschränkter Vertragsfreiheit betrachten, i n der ein Großteil des gesellschaftlichen Produktivvermögens in den Händen einer relativ kleinen Klasse von Besitzenden konzentriert ist, so müssen w i r — wie schon Marx und Renner gezeigt haben — feststellen, daß hier das Ungleichgewicht der ökonomischen Bedingungen soziale Machtverhältnisse zwischen Unternehmern und Arbeitern erzeugt, aufgrund welcher die Vertragsfrei-
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heit keineswegs gleiche Möglichkeiten der Interessenwahrnehmung gewährleistet, sondern im Gegenteil zum wirksamen Instrument von Ausbeutung und Unterdrückung gerät 29 . Der gleichen privaten Freiheit ist daher nicht schon durch die Sicherung der formalen Freiheitsbefugnisse für alle Genüge getan, sondern sie verlangt auch, daß die sozialen und ökonomischen Bedingungen ihrer Ausübung i m Interesse aller Beteiligten i m großen und ganzen gegeben sind. Für welche Handlungsbereiche dies zutrifft und für welche nicht, läßt sich allgemein nicht entscheiden, sondern hängt von der Beschaffenheit der betreffenden Gesellschaft ab. Deshalb läßt sich der Rahmen, in dem private Freiheit bestehen soll, nicht philosophisch abstrakt, sondern konkret nur mit Rücksicht auf die Struktur und die Funktionsweise einzelner Gesellschaften bestimmen. Erfahrungsgemäß pflegt es allerdings über Struktur und Funktionsweise der Gesellschaft ganz unterschiedliche theoretische Konzeptionen zu geben, so daß gerade aus diesem Punkt vielfältige Meinungsdifferenzen darüber resultieren können, welche Bereiche der Privatautonomie der Bürger überlassen bleiben und welche Bereiche sozialer Willensbildung unterstellt werden sollten. So w i r d man auf der Grundlage der Deutung, die die liberale ökonomische Theorie über das soziale Geschehen einer entwickelten kapitalistischen Gesellschaft liefert, zu ganz anderen Ergebnissen gelangen, als wenn man von einem sozialtheoretischen Ansatz marxistischer Provenienz ausgeht. Ungeachtet dieser Differenzen scheinen sich heute jedoch die meisten aufgeklärten Menschen — wenigstens in der Theorie — immerhin darin einig zu sein, daß bestimmte private Freiheiten wie Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung, persönliche Freiheit, ein gewisses Recht auf persönliches Eigentum, eine gewisse Vertragsfreiheit, das Recht auf Privatheit u. a. m. gewährleistet sein sollten. Es ist i n diesem Zusammenhang aber nicht notwendig, auf diese Probleme näher einzugehen, weil es ja nicht uns Ziel ist, irgendeine bestimmte liberale Freiheitsforderung zu begründen, sondern nur, die A r t der Rechtfertigung von Postulaten privater Freiheit aus dem transsubjektiven Standpunkt der Moral zu demonstrieren. Wenn ein Bereich menschlicher Handlungsmöglichkeiten nicht der privaten Selbstbestimmung jedes einzelnen anheimgestellt werden kann, weil sie wegen ihrer Handlungsfolgen unter keine allgemeine Regel zu bringen sind, nach der die Freiheit eines jeden mit der gleichen Freiheit jedes anderen nicht nur formal, sondern auch i m Hinblick auf die materialen Bedingungen der Freiheitsausübung zusammen 29 Siehe hierzu die noch i m m e r lesenswerte Studie von Karl Renner, Die Rechtsinstitute des Privatrechts u n d ihre soziale Funktion, 1. Aufl. 1904, 3. Aufl. Stuttgart 1965.
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bestehen könnte, so erscheint es von einem allgemeinen Standpunkt aus vernünftig, sie allgemeiner Willensbildung unter dem Vorbehalt gleicher Teilnahmerechte aller Beteiligten zu unterstellen. Der Grund hiefür ist der, daß, wenn völlige Autonomie für jedes Individuum in einem bestimmten Bereich nicht möglich ist, die nächstbeste Option für uns immerhin in der sozialen Freiheit besteht, wenigstens am Verfahren der Erzeugung derjenigen sozialen Regeln und Entscheidungen, durch die gegensätzliche Interessen einer allgemein verbindlichen Ordnung unterworfen werden, i n fairer Weise beteiligt zu sein. Sollen alle Beteiligten die gleiche Chance haben, an der allgemeinen Willensbildung teilzunehmen, dann ist — wie Kelsen richtig gezeigt hat — das Mehrheitsprinzip diejenige soziale Entscheidungsregel, die allen Beteiligten die größtmögliche demokratische Freiheit garantiert, weil sie den allgemeinen Willen mit dem Willen des jeweils überwiegenden Teils der Bürger i n Übereinstimmung bringt. Nun müssen w i r jedoch damit rechnen, daß das Mehrheitsprinzip, eben weil seine Anwendung nicht unter der idealen Voraussetzung einer allgemeinen, überpersönlichen Überlegung, sondern in der sozialen Realität unter Einwirkung der gegensätzlichen persönlichen Eigeninteressen stattfindet, möglicherweise auch zu Mehrheitsentscheidungen führen kann, durch die einige von uns i n ihren privaten Freiheiten, die — so nehmen w i r an — bei allgemeiner Betrachtungsweise unbestrittenermaßen anerkannt würden, schwer beeinträchtigt werden. Stellen w i r uns etwa vor, die Mehrheit beschlösse, den Anhängern einer bestimmten religiösen Konfession, die eine kleine Minderheit bilden, die doppelte Steuerlast aufzuerlegen. Obwohl das Mehrheitsprinzip unter gewöhnlichen Bedingungen ein brauchbares Verfahren ist, um den allgemeinen Willen i n Übereinstimmung mit dem Willen möglichst vieler zu bestimmen, ist sie — um mit Rawls zu sprechen — doch nur eine Methode der unvollkommenen Verfahrensgerechtigkeit, die keine Garantie enthält, immer nur Entscheidungen hervorzubringen, die der moralischen Beurteilung standhalten 30 . Wenn w i r — wie oben festgestellt — den privaten Freiheiten, sofern sie für alle zugleich möglich sind, vorrangige Bedeutung vor unserer sozialen Freiheit einräumen, gleichberechtigt auf Mehrheitsentscheidungen Einfluß zu nehmen, so erscheint es vernünftig, uns i m vorhinein Mehrheitsentscheidungen nur unter dem Vorbehalt zu unterwerfen, daß sie unsere privaten Freiheiten nicht beeinträchtigen. W i r können daher dem Mehrheitsprinzip vernünftigerweise nur insoweit unsere Zustimmung erteilen, als es unsere wohlbegründeten privaten Freiheiten unangetastet läßt. Diesen Vorbehalt können w i r dadurch gel30
Vgl. Rawls , Eine Theorie der Gerechtigkeit (Anm. 12), S. 258 ff.
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tend machen, daß w i r den gleichen privaten Freiheiten von vornherein eine erhöhte Bestandsgarantie verschaffen, sie etwa einem qualifizierten Mehrheitserfordernis unterstellen, welches das mögliche Zustandekommen einer hinreichend großen Mehrheit von Bürgern, die gegen die moralische Einsicht bereit wären, in wohlbegründete Rechte einzugreifen, extrem unwahrscheinlich macht. Ähnliches gilt auch für einige andere Rechte und Freiheiten. Die gleiche demokratische Freiheit kann sich vernünftigerweise nicht i n der bloßen Möglichkeit der Teilnahme an Abstimmungsvorgängen erschöpfen, sondern muß — wenn wirklich alle eine faire Chance haben sollen, i m Sinne gleicher demokratischer Freiheit auf die allgemeine Willensbildung Einfluß zu nehmen — auch politische Rechte wie die der freien Meinungsäußerung, der freien politischen Betätigung, der Koalitionsbildung u. dgl. einschließen. Diese Rechte sind Bedingungen der wirksamen Ausübung der gleichen Teilnahme, ebenso wie gewisse materielle Ressourcen wiederum Bedingungen der möglichen Ausübung dieser Rechte sind. Wenn w i r uns eine faire Chance zur Ausübung unserer demokratischen Freiheiten sichern wollen, müssen w i r diesen Rechten daher einen Status einräumen, der sie der Beliebigkeit von Mehrheitsentscheidungen entzieht 3 1 . Schließlich müssen w i r vernünftigerweise auch das Entscheidungsverfahren selbst, w o r i n unsere gleiche demokratische Teilnahmebefugnis zur Geltung kommt, das Mehrheitsprinzip, durch eine besondere Bestandsgarantie sichern, um zu verhindern, daß eine zufällige Mehrheit es dazu benützt, um es außer Kraft zu setzen und durch eine andere, die Interessen dieser Mehrheit privilegierende soziale Entscheidungsregel zu ersetzen.
31 Siehe dazu neben den Erörterungen bei Rawls , op. cit., S. 254 ff., auch Robert A . Dahl, A Preface to Democratic Theory, Chicago 1956, dt.: V o r stufen zur Demokratie-Theorie, Tübingen 1976, S. 59 ff.
REINHEIT DER RECHTSLEHRE ALS IDEOLOGIE? Von Werner Krawietz, Münster
Inhaltsübersicht 1. Anwendungsbereich u n d Geltungsgrund des Reinheitspostulats 1.1. Die Forderung nach einer „reinen" Theorie i n den sozialen Handlungswissenschaften 1.2. Das Reinheitspostulat i n der Rechtswissenschaft 2. Die „Ideologie" der Rechtslehre 2.1. Die staatlich organisierte Rechtsordnung als ideologisch integriertes soziales Handlungssystem 2.2. Gefahr einer Ideologisierung des Handlungssystems schaft bei Verfolgung des Reinheitspostulats?
Rechtswissen-
3. Ansätze zur Selbstreflexion i m Rechtssystem u n d i m Rechtswissenschaftssystem 3.1. Entwicklungstendenzen i n der Rechtstheorie der Gegenwart 3.2. Einfluß theorie
der Reinen Rechtslehre auf die Entwicklung der
Rechts-
4. Relation zwischen Rechtssystem u n d Rechtswissenschaftssystem 4.1. Standortbestimmung der Reinen Rechtslehre i m Rechtswissenschaftssystem 4.2. Interdependenzen zwischen Rechtssystem u n d system
Rechtswissenschafts-
5. Systemtheoretische Rekonstruktion des Verhältnisses von Rechtssystem u n d Rechtswissenschaftssystem 5.1. Autonomie des Rechtssystems bzw. Autonomie schaftssystems
des
Rechtswissen-
5.2. Organisation u n d Wissenschaft als Generatoren der Festlegung von rechtlichen Verhaltensprämissen 6. Aspekte einer Entideologisierung u n d einer Reideologisierung Reinen Rechtslehre
in
der
6.1. Selbstapriorisierung der Reinen Rechtslehre 6.2. Dualisierung u n d Dichotomisierung des Sozialverhaltens durch Recht 6.3. Stufenbau der Rechtsordnung oder Selbsthierarchisierung des Rechtssystems?
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1. Anwendungsbereich und Geltungsgrund des Reinheitspostulats Die Verfolgung des Reinheitspostulats hat i m Bereich der sozialen Handlungswissenschaften beim Aufbau ganzer wissenschaftlicher Disziplinen, wie beispielsweise der Wirtschaftswissenschaften 1 , der Soziologie 2 und der Jurisprudenz, seit der Jahrhundertwende eine Reihe von Ergebnissen gezeitigt, welche die Wissenschaftsentwicklung in diesen Fächern maßgeblich beeinflußt haben. Aus heutiger Sicht erscheint es daher durchaus angebracht, nach den Voraussetzungen und Folgen einer derartigen Verwendung des Reinheitspostulats i n den einzelnen Fachwissenschaften zu fragen, um die Konsequenzen realistischer einschätzen zu können, die sich hieraus für den weiteren Aufbau dieser wissenschaftlichen Disziplinen ergeben.
1.1. Die Forderung nach einer „reinen" Theorie in den sozialen Handlungswissenschaften
Bei der kritischen Analyse der in diversen sozialen Handlungswissenschaften, insbesondere in der Wirtschaftswissenschaft und der Soziologie, aber auch in der Jurisprudenz geläufigen Bemühungen, zu einer „reinen" Theorie der Wirtschaft, der Gesellschaft und des Rechts zu gelangen, handelt es sich nicht etwa um eine Dogmengeschichte dieser Fächer oder um eine inhaltliche Analyse der in diesen Disziplinen vertretenen Lehrmeinungen. Auch wäre es gänzlich verfehlt, hinter derartigen Bestrebungen ein bloß wissenschaftsgeschichtliches Anliegen zu vermuten. Vielmehr geht es um eine wissenschaftssoziologisch und wissenschaftstheoretisch bzw. erkenntnistheoretisch motivierte Analyse und K r i t i k der Voraussetzungen, die zur Aufstellung und Verfolgung des Reinheitspostulats in diesen Wissenschaften geführt haben 3 . Eine 1 Zur Genese der „reinen" Ökonomik der österreichischen Schule: Emil Kauder, Intellectual and Political Roots of the Older A u s t r i a n School, in: Zeitschrift für Nationalökonomie 17 (1957), S. 411 -425; Hans Albert, M a r k t soziologie und Entscheidungslogik. Objektbereich u n d Problemstellung der theoretischen Nationalökonomie, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 114 (1958), S. 269 - 296, 278 ff. 2 Kritisch gegenüber den Bestrebungen einer „reinen" Soziologie: Georg Weippert, Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Band 1: Sozialwissenschaft und Wirklichkeit, Göttingen 1966, S. 232 f., der selbst eine „geschichtliche" Theorie der Wirtschaft u n d Gesellschaft favorisiert. 3 I n einem i m Detail schwer einzuschätzenden, k a u m noch überschaubaren Maße folgenreich ist: Immanuel Kant, K r i t i k der reinen Vernunft, abgedruckt in: ders., Werke i n sechs Bänden, hrsg. von W i l h e l m Weischedel, zit. nach der Studienausgabe Darmstadt 1957, bis auf den heutigen Tag geblieben. I n der Einleitung zur zweiten Auflage seiner K r i t i k v o n 1787, ebd., Bd. I I , S. 45 f., 62 unterscheidet er zwischen der empirischen u n d der „reinen" E r kenntnis, die ihre Quellen nicht a posteriori, nämlich i n der Erfahrung hat,
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kritische Reflexion auf die Prämissen eines derartigen wissenschaftlichen Vorgehens berechtigt zu der Hoffnung, sehr viel besser als bisher die — vielleicht bislang noch gar nicht hinreichend bedachten! — Folgeprobleme zu erkennen, in welche eine Reihe sozialer Handlungswissenschaften unter Einschluß der Jurisprudenz durch eine noch gar nicht ausreichend reflektierte Option für das Reinheitspostulat geraten sind. Ihre unbeabsichtigten Folgewirkungen v/erden erst heute in vollem Ausmaße erkennbar. Augenscheinlich hat die im Anschluß an den ökonomischen Methodenstreit des vorigen Jahrhunderts in der Wirtschaftswissenschaft erhobene Forderung nach einer „reinen" Theorie der Wirtschaft bzw. einer „reinen" Ökonomie bisweilen zu einem übertriebenen Rationalismus geführt, der alles Wirtschaftliche unter Mißachtung der außerwirtschaftlichen Voraussetzungen und Bedingungen des Wirtschaftens zu deuten und zu erklären suchte, so daß die konsequente Verfolgung des Reinheitspostulats hier letztlich zu einem verabsolutierten Ökonomismus führte 4 . I n durchaus vergleichbarer Weise hat offensichtlich auch die in der Soziologie erhobene Forderung nach einer „reinen" Theorie des sozialen Handelns bzw. der Gesellschaft, das heißt nach einer „reinen" Soziologie, in der Theoriebildung gelegentlich zu einem so weitgehenden Verlust der Wirklichkeitsnähe oder gar des Wirklichkeitsbezugs geführt, daß diese in Gefahr geriet, wegen ihrer Unterschätzung oder gar Mißachtung vermeintlich bloß empirischer Gegebenheiten zu einer ausschließlich rational konstruktiven Disziplin zu degenerieren und i n eine selbstgefertigte, in Heimarbeit am Schreibtisch durch bloßes Denken erstellte Ontologie des Sozialen abzugleiten. Die Gefahren einer derartigen, vermeintlich durch das Reinheitspostulat gestützten Autonomisierung der Ökonomie, der Soziologie oder der Jurisprudenz als Fachwissenschaft können heute als i m Prinzip durchschaut angesehen werden 5 . Jedoch zieht eine unreflektierte Verfolgung sondern a priori, das heißt „schlechterdings von aller Erfahrung unabhängig" stattfindet. „ V o n den Erkenntnissen a p r i o r i heißen aber diejenigen rein, denen gar nichts Empirisches beigemischt ist." Ist aber für Kant Vernunft „das Vermögen, welches die Prinzipien der Erkenntnis a p r i o r i an die Hand gibt", so k a n n er „reine" Vernunft als diejenige begreifen, „welche die P r i n zipien, etwas schlechthin a p r i o r i zu erkennen, enthält". 4 Hierzu vor allem: Georg Weippert , Das Wesen der „reinen Theorie der Wirtschaft", in: ders., Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Band 2: Wirtschaftslehre als Kulturtheorie, Göttingen 1967, S. 101-103, 101 f., der i m Anschluß an Spiethoffs „geschichtliche" Theorie der allgemeinen Volkswirtschaftslehre die Aufgabe einer „reinen" Theorie der Wirtschaft sehr treffend i n i h r e m Anliegen erblickt, die „verwickelten Erscheinungen der W i r k l i c h k e i t w e i t gehender Abstraktion u n d Isolierung" zu unterwerfen, jedoch m i t G r u n d beklagt, daß die reine Theorie sich nicht eben selten damit begnüge, „an Hand von rationalen Schematen Denknotwendigkeiten, Denkgesetze, F i k tionsgesetze zu finden".
Werner Krawietz
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des Reinheitspostulats, die gewöhnlich mit der bevorzugten Verwendung bloß sprachanalytischer und logischer Analysen einhergeht, i n den sozialen Handlungswissenschaften allem Anschein nach nicht selten einen weitreichenden Informations-
und Realitätsverlust
nach sich, der
bis zu einem völligen Ignorieren der sozialen Dimensionen allen w i r t schaftlichen und sonstigen gesellschaftlichen — und das heißt: auch allen rechtlichen! — Handelns führen kann. Diese Gefahr zeichnet sich nach meinem Eindruck heute vor allem im Bereich der Wirtschaftstheorie, aber auch i m Bereich der Rechtssoziologie und Rechtstheorie ganz deutlich ab. Man kann daher gegenwärtig durchaus, jedenfalls was die sozialwissenschaftliche Theoriebildung angeht, von einer Tendenz zur Entsoziologisierung
der sozialen
Handlungswissenschaften
sprechen.
Sie ist zur Zeit wohl am nachhaltigsten i n der Wirtschaftstheorie ausgeprägt, t r i t t aber auch in der Rechtssoziologie und Rechtstheorie in Erscheinung. 1.2. Das Reinheitspostulat in der Rechtswissenschaft
Die Bemühungen um eine „reine" Theorie, die über die vorstehenden Überlegungen hinaus hier für Wirtschaftswissenschaft und Soziologie nicht weiter zu verfolgen sind 6 , treten in vollem Umfange auch i n der Jurisprudenz in Erscheinung. Dies ist nicht weiter verwunderlich, denn schließlich kann auch die Jurisprudenz oder besser die Rechtswissenschaft — ich verwende i m folgenden beide Ausdrücke synonym, ohne hier auf die gesteigerten Anforderungen einzugehen, die sich üblicherweise mit der Einstufung einer Disziplin als Wissenschaft 7 verbinden! 5 Eingehend zur Problematik fachwissenschaftlicher Autonomie i n der Rechtswissenschaft: Werner Krawietz, Juristische Entscheidung u n d wissenschaftliche Erkenntnis, Wien - New Y o r k 1978, S. 88 f., 192 f. • Dazu vor allem: Hans Albert, Der moderne Methodenstreit u n d die Grenzen des Methodenpluralismus, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaften 13 (1962), S. 143 - 169, der v o m Standpunkt des v o n i h m vertretenen kritischen Rationalismus die „Einbeziehung sogenannter nicht-ökonomischer Faktoren i n die Theoriebildung" keineswegs ausschließt. Vgl. ferner: Gerhard Stavenhagen, Geschichte der Wirtschaftstheorie, 3. Aufl., Göttingen 1964, S. 203 ff., 389 ff. 7 Wie neuerdings Jan Schröder, Wissenschaftstheorie u n d Lehre der „ p r a k tischen Jurisprudenz" auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert, F r a n k f u r t am M a i n 1979, S. 36 ff., 142 ff. belegt, ist die Rechtslehre bis kurz vor Ende des 18. Jahrhunderts hauptsächlich als Jurisprudenz (iurisprudentia) bezeichnet worden u n d insoweit gleichbedeutend m i t „Rechtskunde", „Rechtsgelehrsamkeit" u n d „Rechtsgelehrtheit". Das Wort u n d der Begriff „Jurisprudenz" wurden somit zunächst i n erster Linie u n d vor allem verstanden als „Wissenschaft der Rechte", das heißt als die K e n n t nis der Rechtsinhalte u n d demzufolge als der Besitz des m i t dieser Kenntnis verbundenen Wissens. Demgegenüber scheint sich der Ausdruck Rechtswissenschaft (iurisscientia) erst unter dem Eindruck der Forderungen nach
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— z u d e n sozialen H a n d l u n g s w i s s e n s c h a f t e n gezählt w e r d e n , obgleich sie i n i h r e m K e r n eine n o r m a t i v e D i s z i p l i n ist, w e i l sie es m i t V o r s c h r i f t e n f ü r das menschliche V e r h a l t e n z u t u n h a t . D i e h e u t e g e w ö h n l i c h auf G r u n d u n d nach Maßgabe der j e w e i l i g e n Staatsverfassung i m Wege p o l i t i s c h - r e c h t l i c h e n Entscheidens i n G e l t u n g gesetzten Rechtsregeln oder Rechtsnormen, z u d e n e n ich i m f o l g e n d e n n i c h t bloß die g e n e r e l l - a b s t r a k t e n Rechtsnormen, beispielsweise des Gesetzesrechts, s o n d e r n auch die i n d i v i d u e l l - k o n k r e t e n N o r m e n eines R i c h t e r rechts, aber auch die v o n e i n z e l n e n V e r t r a g s p a r t e i e n p r i v a t a u t o n o m als l e x c o n t r a c t u s i n G e l t u n g gesetzten i n d i v i d u e l l - k o n k r e t e n N o r m e n des V e r t r a g s r e c h t s z ä h l e 8 , m a c h e n erst i n i h r e r G e s a m t h e i t eine als solche i d e n t i f i z i e r b a r e R e c h t s o r d n u n g 9 aus, die sich — u n t e r d y n a einer wissenschaftlichen Behandlung des Rechts u n d seiner Anwendung durchgesetzt zu haben. 8 Die normative S t r u k t u r v o n Gesetzen u n d Verträgen unterliegt nicht etwa, wie Eugen Bucher, Das subjektive Recht als Normsetzungsbefugnis, Tübingen 1965, S. 87 f. allem Anschein nach annimmt, einem grundlegenden Unterschied insofern, daß erstere sich — i m wesentlichen fremdbestimmt — einer „heteronomen", das heißt „rechtsausübenden Normsetzung", letztere sich hingegen einer „autonomen", das heißt „rechtsgeschäftlichen Normsetzung" verdanken, die allein auf einer „Selbstverpflichtung" beruhe. Bei dieser Unterscheidung w i r d die Systemrelativität des jeweiligen Standpunkts nicht hinreichend berücksichtigt. V o m Standpunkt des staatlich organisierten Rechtssystems erscheint der i n den koordinativen Sozialstrukturen des P r i vatrechts übliche, v o n Rechts wegen als Rechtserzeugungsform dienende Vertrag seiner F u n k t i o n nach als autonome Rechtserzeugung, sofern die Rechtssphäre der Betroffenen n u r m i t ihrer willentlichen Zustimmung gestaltet werden k a n n u n d darf. Wer dazu neigt, h i e r i n eine nichtstaatliche, gänzlich autonome F o r m der Rechtsetzung zu erblicken, w e i l das durch Vertrag erzeugte Recht allein der Privatautonomie der beteiligten Individuen zuzurechnen sei, sollte jedoch bedenken, daß es die staatliche Rechtsorganisation ist, welche sich auf eben diese A r t u n d Weise i h r nichtstaatliches Gegenüber organisiert. Das staatlich organisierte Rechtssystem der Neuzeit institutionalisiert nicht n u r den privatautonom geschlossenen Vertrag als Rechtsquelle, sondern zieht der Rechtsmacht der i n den Grenzen des Rechts autonomen Individuen u n d der ihnen v o n Rechts wegen gewährleisteten P r i v a t autonomie auch Schranken, beispielsweise durch zwingende Vorschriften des geltenden Gesetzesrechts u n d das Verbot sittenwidriger Verträge. 9 Die Objektivierung von Recht, die m i t den M i t t e l n vertraglicher Rechtserzeugungsformen — w e n n auch bloß inter partes! — erfolgt, schließt es aus, den i n d i v i d u e l l - k o n k r e t e n Normen des Vertragsrechts den Charakter objekt i v e n Rechts zu versagen. Grundlegend zum „Vertrag als Form": Stig JQTgensen, Vertrag u n d Recht. Privatrechtliche Abhandlungen, Kobenhavn 1968, S. 13 ff., 33 ff., 45 f. Anderer Ansicht, aber ohne nähere Begründung: Detlef Merten, Das System der Rechtsquellen, in: Jura 3 (1981), S. 169 - 182, 170 f., der freilich sein Normkonzept allzu reduktiv „typischerweise auf generell-abstrakte Verhaltensregeln" beschränkt u n d fälschlich dem neuzeitlichen Staat ein „Rechtssetzungsmonopol" zuschreibt, so daß infolge dieser vorgefaßten Optionen nicht sein kann, was nicht sein darf. Demgegenüber sind jedoch auch die i n d i v i d u e l l - k o n k r e t e n Rechtsnormen des Vertragsrechts nach dem hier vorausgesetzten Rechtsbegriff als objektiver Bestandteil der Rechtsordnung, w e n n auch nicht als integrierender Bestandteil des staatlich organisierten Rechtssystems anzusehen.
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niischem, daß h e i ß t z e i t l i c h e m A s p e k t b e t r a c h t e t — i n s t ä n d i g e r E n t w i c k l u n g b e f i n d e t 1 0 . Was die typische, u n a b h ä n g i g v o n d e m j e w e i l s wechselnden I n h a l t i n E r s c h e i n u n g t r e t e n d e S t r u k t u r dieser Rechtsnorm e n angeht, die das Recht s t a a t l i c h o r g a n i s i e r t e r Rechtssysteme i n v e r schiedenen T e r r i t o r i e n an verschiedenen O r t e n z u verschiedenen Z e i t e n a n n e h m e n k a n n u n d tatsächlich a n n i m m t , erscheint es durchaus n ü t z lich, v o m S t a n d p u n k t e i n e r a l l g e m e i n e n , daß h e i ß t n i c h t auf eine besondere R e c h t s o r d n u n g b e s c h r ä n k t e n Rechtslehre n a c h d e n c h a r a k t e r i s t i schen M e r k m a l e n zu fragen, welche alles Recht — i m U n t e r s c h i e d zu anderen, daß h e i ß t n i c h t r e c h t l i c h e n N o r m e n u n d N o r m e n s y s t e m e n — auszeichnen 1 1 . D i e Reine Rechtslehre h a t sich i n V e r f o l g u n g des v o r i h r p r o p a g i e r t e n , i n ganz spezifischem S i n n e v e r s t a n d e n e n R e i n h e i t s p o s t u l a t s 1 2 dieser A u f g a b e auf i h r e A r t u n d Weise m i t g r o ß e m E r f o l g g e w i d m e t . Jedoch besteht die G e f a h r , daß die i n der Rechtswissenschaft e r h o bene F o r d e r u n g nach e i n e r „ r e i n e n " T h e o r i e des Rechts b e i k o n s e q u e n 10 Z u m Erfordernis einer dynamisch-funktionalen Betrachtungsweise i m Rechtsdenken: Werner Krawietz, Das positive Recht u n d seine Funktion, B e r l i n 1967, S. 28 ff., 36 ff. 11 Zur Unterscheidung von rechtlichen u n d nicht rechtlichen (außerrechtlichen) Regeln u n d Normen bzw. Normensystemen: Theodor Geiger, V o r studien zu einer Soziologie des Rechts, 2. Aufl., Neuwied 1970, S. 57 ff. Vgl. ferner die Einleitung zu diesem Werk von: Paul Trappe, Die legitimen Forschungsbereiche der Rechtssoziologie, ebd., S. 13 - 36, 16 f.; ders., Theodor Geiger, in: D i r k Käsler (Hrsg.), Klassiker des soziologischen Denkens, Band 2: Von Weber bis Mannheim, München 1978, S. 254-285, 272 f. Hierzu auch: René König, Das Recht i m Zusammenhang der sozialen Normensysteme, in: Ernst E. Hirsch / Manfred Rehbinder (Hrsg.), Studien u n d Materialien zur Rechtssoziologie, 2. Aufl., Opladen 1971, S. 36 - 53, 44 f., der i m Detail nachweist, daß alles Recht „gewissermaßen aufruht auf außerrechtlichen Normen". I n der Tat könnte „ k e i n Rechtsinstitut allein k r a f t rechtlicher Normen i n der sozialen W i r k l i c h k e i t bestehen". 12 Hierzu statt anderer die Selbstdarstellung von: Hans Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre?, in: Demokratie u n d Rechtsstaat. Festgabe für Zaccaria Giacometti, Zürich 1953, S. 143 - 162, 143 f., nach dessen Auffassung die „reine" Rechtslehre die „spezifische Methode u n d die Grundbegriffe zu bestimmen (hat), m i t denen jedes beliebige Recht geistig erfaßt u n d beschrieben werden kann", so daß sie die „theoretische Grundlage für jede auf ein besonderes Recht oder besondere Rechtsinstitutionen gerichtete Betrachtung" liefert. Ihre Analysen richten sich allein auf „die Rechtsnormen u n d die durch diese Normen konstituierten Beziehungen", so daß eine „reine" Theorie des Rechts allein die „aus Rechtsnormen gebildete Rechtsordnung" als ihren Gegenstand ansieht, während die reine Rechtslehre als spezifische „Methode der Rechtserkenntnis" vor allem m i t „Problemen der Logik" befaßt ist. Vgl. ferner: ders., Reine Rechtslehre, Zweite, vollständig neubearbeitete und erweiterte Auflage, Wien 1960, Neudruck ebd. 1976, S. 1. Danach bezeichnet sich die Reine Rechtslehre Kelsens deswegen als eine „reine" Lehre v o m Recht, „ w e i l sie n u r eine auf das Recht gerichtete Erkenntnis sicherstellen und w e i l sie aus dieser Erkenntnis alles ausscheiden möchte, was nicht zu dem exakt als Recht bestimmten Gegenstande gehört". W i r haben es also auch hier m i t dem schon aus Wirtschaftswissenschaft und Soziologie geläufigen Syndrom basaler Annahmen u n d methodologischer Forderungen einer „reinen" Theorie u n d den aus diesen Optionen resultierenden Folgeproblemen zu tun.
Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?
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ter Verfolgung einer auf die Rechtsnormen i n ihrer Gesamtheit beschränkten Betrachtungsweise — ähnlich wie schon i m Falle des eingangs skizzierten Ökonomismus in der Wirtschaftstheorie — auch in der Rechtstheorie zu einem verabsolutierten Normativismus führen könnte. Zu den durch die Verfolgung des Reinheitspostulats bedingten Konsequenzen eines derartigen Normativismus gehören nicht nur die in gegenständlicher wie i n methodologischer Hinsicht unvermeidlichen Verkürzungen und Einseitigkeiten im Rechtsdenken. Charakteristisch für diese Betrachtungsweise ist vor allem das Ausblenden aller außerrechtlichen Faktoren, das nahezu zwangsläufig zu einer partiellen Verfehlung der Realität des Rechts 13 führen muß 1 4 . Nicht von ungefähr mehren sich deshalb in jüngster Zeit i m Ganzen wie i m Detail angebrachte Zweifel an der Adäquatheit, aber auch der Fruchtbarkeit der von der Reinen Rechtslehre eingeschlagenen, mit großer Prinzipientreue verfolgten Forschungsrichtung. Während erstere sich darauf beziehen, ob die von der Reinen Rechtslehre erarbeiteten, bloß klassifikatorischen Grundbegriffe, mit deren Hilfe sie ihre Aussagen über jedes beliebige Recht zu fixieren und ins System zu bringen sucht, mangels einer funktionalen, systembezogenen juristischen Begriffsbildung den gesellschaftlichen Gegebenheiten staatlich organisierter Rechtssysteme überhaupt noch zu genügen vermögen (Einwand mangelnder
gesellschaftsadäquater
Begrifflichkeit!•),
beziehen sich letz-
tere auf die von der Reinen Rechtslehre propagierte, allzu reduktive, 13 Dazu vor allem: Geiger, Vorstudien (N. 11), S. 44 f., 58 f., 65 ff., 371 f., der bei der Ausarbeitung seiner soziologischen Theorie des Rechts i n methodologischer Hinsicht den Begriff der Norm, insbes. der Rechtsnorm „auf seinen Wirklichkeitsgehalt zurückzuführen" sucht, indem er das „Recht i m besonderen und soziale Ordnung i m allgemeinen als Faktizitäten, als Wirklichkeit szusammenhänge" begreift. I n der Tat läßt sich n u r auf diese Weise das Recht zureichend als „soziale Erscheinung" herausarbeiten m i t der Folge, daß man insoweit, wie schon Geiger bemerkte, zu einem „soziologischen Rechtsrealismus" gelangt. Auch hat Geiger schon sehr deutlich gesehen, daß man eine allgemeine Rechtslehre oder Rechtsphilosophie „erfahrungswissenschaftlich" n u r dann begründen kann, wenn dies „ i n Gestalt einer theoretischen Rechtssoziologie" geschieht. A l l e m Anschein nach sind einige Vertreter heutiger „empirischer" Rechtssoziologie wieder hinter diese längst erreichte Einsicht zurückgefallen, so daß i m Bereich „theoretischer" Rechtssoziologie gegenwärtig ein beklagenswertes Defizit besteht. 14 Was die Eigenart der wissenschaftlichen Durchdringung von Rechtsnormensystemen angeht, hat besonders König, Recht i m Zusammenhang der sozialen Normensysteme (N. 11), S. 51 f. darauf aufmerksam gemacht, daß sich die wissenschaftliche Analyse „aus der Rechtswirklichkeit, also aus der Rechtsverwirklichung u n d der Rechtsanwendung, nebst der rationalen Durchdringung des eigentlichen Rechtsnormensystems" entwickelt. Es ist daher unvermeidlich — auch w e n n manche Anhänger einer „reinen" Theoriebildung i n den sozialen Ηandlungswissenschaf ten dies offensichtlich gern ignorieren möchten! —, „daß m i t der besonderen Beziehung der rationalen A n a lyse zur Rechtswirklichkeit diese Wissenschaft notwendig immer an die Einseitigkeiten dieser W i r k l i c h k e i t gebunden bleiben muß".
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rein juristische Methode der Rechtserkenntnis (Einwand mangelnder Fruchtbarkeit der juristischen Methode!). Ich lasse beide Einwände i m folgenden dahingestellt u n d werde stattdessen die Verfolgung des Reinheitspostulats unter ideologiekritischem Aspekt behandeln.
2. Die „Ideologie" der Rechtslehre Wer als Produzent einer Theorie des Rechts diese i n Umlauf zu setzen sucht, kann die Chancen einer Abnahme seines Produkts schlagartig erhöhen, wenn es i h m gelingt, nachzuweisen oder wenigstens fürs erste hinreichend plausibel zu machen, daß die von i h m angebotene Theorie oder Soziologie des Rechts zugleich ein ideologi ^kritisches Anliegen verfolge und gerade auf dem Sektor der Ideologiekritik ihre eigentliche Leistungsfähigkeit entfalte. Allgemeine Rechtslehre oder Rechtstheorie bzw. Rechtssoziologie als Wissenschaft werden damit zum vermeintlichen Widersacher einer Ideologie, der vorgeblich n u r durch eine w i r k same Ideologiekritik begegnet werden kann. Offensichtlich sind es i m mer die anderen, denen gegenüber der V o r w u r f erhoben w i r d , daß ihre Rechtslehre eine „Ideologie" enthalte. So w i r d beispielsweise i m H i n blick auf das Recht u n d die m i t i h m beschäftigte Jurisprudenz geltend gemacht, daß die „Juristensprache" offensichtlich „durch Berufung auf angeblich objektive Maßstäbe soweit wie irgend möglich die rechtsschöpferische Tätigkeit des Richters" verberge u n d dissimuliere, so daß man hier „vor einem klassischen Beispiel berufsfachlicher Ideologiebildung" stehe 15 . K e i n geringerer als Theodor Geiger hat seine Auseinandersetzung m i t der Uppsala-Schule, insbesondere m i t Hägerström u n d dem an i h n anschließenden skandinavischen Rechtsrealismus, unter das doppeldeutige Motto einer „ »Ideologie' der Rechtslehre" 1 6 gestellt, u m damit deren Ideologiekritik an einer vermeintlich metaphysikbelasteten Rechtswissenschaft als möglicherweise selber vorurteilsbelastet zu kennzeichnen 1 7 . Wer sich gegen Ideologiekritik immunisieren w i l l oder nicht 15
Geiger, Vorstudien (N. 11), S. 255 ff. Vgl. unter dieser Überschrift vor allem das dritte Kapitel von: Geiger, Uber Recht und Moral. Streitgespräch m i t Uppsala. Aus dem Dänischen übersetzt und eingeleitet von Hans-Heinrich Vogel, Berlin 1979, S. 74 ff. 17 Ideologien sind für Geiger, ebd., S. 41 f. „Gedankengänge, die ihre W u r zeln außerhalb der theoretischen Ebene i n der Vitalsphäre haben", so daß auch „scheinbar rein theoretische Feststellungen . . . ideologisch (sind), soweit metaphysische und Wertvorstellungen den theoretischen Erkenntnisprozeß ,gesteuert' haben". Infolgedessen unterscheidet Geiger i n der Ideologi ekritik zwei Seiten. Während die pragmatische Ideologiekritik die „Wirkungen (untersucht), die metaphysische und Wert Vorstellungen sowie durch sie verzerrte theoretische Behauptungen i n der sozialen Wirklichkeit hervorrufen", 16
Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?
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m e h r a n d e m S p i e l b e t e i l i g e n möchte, stets d e n a n d e r e n d e n „ s c h w a r z e n P e t e r " des I d e o l o g i e v e r d a c h t s zuzuschieben, m a g auf d e n n a h e l i e g e n d e n A u s w e g v e r f a l l e n , alles Recht — u n d d e m z u f o l g e auch a l l e Rechtsl e h r e ! — als l e t z t l i c h ,ideologisch' z u bezeichnen, so daß n u n m e h r I d e o logie gegen Ideologie stehe, also j e d e w e i t e r e A u s e i n a n d e r s e t z u n g n u t z lose K r a f t v e r g e u d u n g sei. I c h v e r m a g dieser I d e n t i f i k a t i o n v o n Recht u n d I d e o l o g i e 1 8 b z w . Wissenschaft u n d I d e o l o g i e 1 9 n i c h t zu folgen, so daß eine s o r g f ä l t i g e U n t e r s c h e i d u n g n o t w e n d i g erscheint.
2.1. Die staatlich organisierte Rechtsordnung als ideologisch integriertes soziales Handlungssystem V e r s u c h t m a n , z w i s c h e n Recht u n d I d e o l o g i e z u u n t e r s c h e i d e n , so w i r d a l s b a l d d e u t l i c h , daß i n d e n sozialen H a n d l u n g s w i s s e n s c h a f t e n , aber auch i n der J u r i s p r u d e n z nichts so s c h i l l e r n d u n d schwer zu p r ä z i sieren ist w i e der I d e o l o g i e b e g r i f f . M a n ist daher l e i c h t geneigt, die A n a l y s e a l l e i n auf das Recht z u k o n z e n t r i e r e n u n d i m ü b r i g e n d e n V e r such zu machen, so w e i t w i e i r g e n d m ö g l i c h ohne d e n I d e o l o g i e b e g r i f f a u s z u k o m m e n — z u m i n d e s t f ü r d e n B e r e i c h der Rechtstheorie, die j a u m die „Bedeutung der Ideologien für das Gemeinschaftsleben" zu erfassen, sucht die theoretische Ideologiekritik „den ideologischen Einschlag i n theoretischen Gedankengängen zu e r m i t t e l n und durch seine Neutralisierung zu obj e k t i v e r Wahrheit zu gelangen", u m „das wissenschaftliche Denken von Ideologien zu reinigen". 18 Hierzu vor allem: Ernst Topitsch, Begriff u n d F u n k t i o n der Ideologie, in: Hans-Joachim Lieber (Hrsg.), Ideologie-Wissenschaft-Gesellschaft, D a r m stadt 1976, S. 200 - 238. Vgl. ferner: Werner Maihofer, Ideologie u n d Recht. Juristische Vorbemerkungen zum Thema, in: ders. (Hrsg.), Ideologie u n d Recht, F r a n k f u r t am M a i n 1969, S. 1 - 3 5 ; Theodor Viehweg, Ideologie u n d Rechtsdogmatik, in: Maihofer (Hrsg.), ebd., S. 83 - 96; Niklas Luhmann, Positives Recht und Ideologie, in: ders., Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, K ö l n u n d Opladen 1970, S. 178 - 203, 182 f., der i m Hinblick auf staatlich organisierte Rechtssysteme die Wertebene v o n der Ebene der Normen bzw. Zwecke trennt u n d die F u n k t i o n einer an gesellschaftseinheitlichen höchsten Werten orientierten Ideologie i n einem „Bewerten von Werten" erblickt. 19 Hierzu vor allem: Niklas Luhmann, Wahrheit und Ideologie, in: ders., Soziologische Aufklärung, K ö l n u n d Opladen 1970, S. 54 - 65, 58 f., der i n den sozialen Handlungswissenschaften die „Rechtfertigung des Handelns durch ideologische Wertgesichtspunkte" — i m Gegensatz zur wahren Erkenntnis des Handelns! — zunächst darin erblickt, daß die Ideologie „regelt", „welche Folgen des Handelns überhaupt beachtlich sind", so daß dem „Feld möglicher Kausalbeziehungen" eine „Relevanzstruktur" aufgeprägt w i r d . Durch diese „wertmäßige Festlegung zu bevorzugender u n d zu vermeidender Folgen" erfolgt zugleich eine „Neutralisierung aller übrigen Folgen", die als irrelevant i n Kauf genommen werden müssen. I n dem Maße, i n dem eine Berufung auf Werte, die (vielleicht gar nicht vorhergesehenen oder nicht gewollten, jedenfalls unerwünschten) Folgen u n d Nebenfolgen eines Handelns neutralisiert, das heißt als unbeachtlich bagatellisiert, rechtfertigt sie die zweckrationalen Handlungen nebst ihren Folgen bloß ideologisch. 23 R E C H T S T H E O R I E , B e i h e f t 4
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Wissenschaft ist! Es kann jedoch nicht gelingen, Ideologie und Ideologiekritik gänzlich aus der Rechtstheorie herauszuhalten, weil Ideologien erwiesenermaßen einen ziel- und zweckbestimmenden und damit zugleich auch einen systembestimmenden Einfluß besitzen. Dies gilt auch und vor allem für staatlich organisierte Rechtssysteme, deren an letzten Zwecken und Werten 2 0 orientierte ideologische Basis zunehmend i n das Blickfeld der Rechtstheorie geraten ist. Leider gibt es inzwischen ein ganzes Syndrom von Vorstellungen und Argumenten, die — einzeln oder auch kombiniert mit anderen — sämtlich dazu verwendet werden, die in der Rechtstheorie längst fällige Ideologiedebatte zu verhindern bzw. zu vertagen oder auf die lange Bank zu schieben. Das erste Argument kann sich vermeintlich auf Max Weber stützen, der i n seiner Rechtssoziologie darauf hingewiesen hat, daß das „Schwinden der alten Naturrechtsvorstellungen" zugleich auch die „Möglichkeit, das Recht als solches kraft seiner immanenten Qualitäten mit einer überempirischen Würde auszustatten, prinzipiell vernichtet" habe, so daß es heute „allzu greifbar i n der großen Mehrzahl und gerade i n vielen prinzipiell besonders wichtigen seiner Bestimmungen als Produkt und technisches Mittel eines Interessenkompromisses enthüllt" sei 21 . Nun gehört i n der Tat i m Recht der Gegenwart eben „dieses Absterben seiner metajuristischen Verankerung" zu den charakteristischen Merkmalen der ideologischen Entwicklung des Rechts. Es wäre jedoch gänzlich verfehlt, aus dieser Entwicklung — wie nicht eben selten versucht wird! — den Schluß zu ziehen, daß infolge des Wachstums von Wissenschaft und der fortschreitenden Ausmerzung und Zerstörung von Ideologien, zu denen ja nicht allein das Naturrechtsdenken gehört, die Entwicklung von Ideologie überhaupt an ihr Ende gelangt sei 22 . Das Gegenteil ist der Fall! Die Entwicklung neuer Ideologien feiert nach wie vor, auch i m Bereich des sog. Naturrechts 23 , immer 20 Eine ideologiekritische Analyse des pragmatischen Wirkungszusammenhangs politischer u n d rechtlicher Grundwerte bietet: Werner Krawietz, Grundwerte als Minimalkonsens? Z u m Verhältnis von P o l i t i k u n d Recht i n der modernen Demokratietheorie, in: österreichische Zeitschrift für ö f f e n t liches Recht u n d Völkerrecht 30 (1979), S. 65 - 90, 67 ff., 70. Z u m theoretischen Ertrag dieser Ideologiekritik: ders., ebd., S. 79 ff., 88 ff. 21 Dazu u n d zum folgenden: Max Weber, Rechtssoziologie. Aus dem Manuskript herausgegeben u n d eingeleitet v o n Johannes Winckelmann, 2. überarbeitete Auflage, Neuwied a. Rh. u n d B e r l i n 1967, S. 336 f., jedoch m i t der Einschränkung, daß der „latente Einfluß naturrechtlicher, uneingestandener A x i o m e auf die Rechtspraxis" w o h l schwerlich „gänzlich auszurotten" sei. 22 Statt anderer vgl.: Raymond Aron, Ende des ideologischen Zeitalters?, in: ders., O p i u m für Intellektuelle oder Die Sucht nach Weltanschauung, K ö l n - B e r l i n 1957, S. 362 - 384; Daniel Bell, The End of Ideology, New Y o r k London 1962. 23 Hierzu v o m Standpunkt theoretischer Ideologiekritik: Werner Krawietz, Die Ausdifferenzierung religiös-ethischer, politischer u n d rechtlicher Grund-
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wieder fröhliche Urständ. Kaum ist eine Ideologie, welche die Unendlichkeit wissenschaftlich einsehbarer Kausalfolgen unter Wertgesichtspunkten zu bewerten suchte, durch Ideologiekritik zersetzt, t r i t t schon die Gegenideologie auf den Plan, u m ihrer Vorgängerin — unter anderen Wertgesichtspunkten! — die nicht beachteten oder „falsch" bewerteten Folgen vorzuhalten und sie zu ,kritisieren'. Das zweite, mit dem vorstehenden eng zusammenhängende Argument geht ebenfalls von einer vermeintlich fortschreitenden Entideologisierung aus, die zugleich das Ende von Ideologie überhaupt impliziere. Es stützt sich auf die Annahme, daß Ideologien lediglich historisch-gesellschaftliche Phänomene seien, denen gegenüber sich das wissenschaftliche Denken noch nicht voll durchgesetzt habe, doch w i r d diese Durchsetzung von Wissenschaft nur als eine Frage der Zeit angesehen. Unter der wachsenden Herrschaft von Wissenschaft und der durch sie ermöglichten wertfreien Erkenntnis werde Ideologie durch Wahrheitserkenntnis ersetzt mit der Folge, daß angesichts der nun etablierten Möglichkeiten objektiver Erkenntnis von „Sachgesetzlichkeiten" sowie der Einsicht in „Sachzwänge" die Ideologie als solche angeblich funktionslos werde 2 4 . Die Vorstellung vermeintlicher Sachzwänge oder gar Sachgesetzlichkeiten, deren Erkenntnis dem von Rechts wegen Handelnden vorgeblich ein und nur ein bestimmtes Verhalten als rechtens und richtig aufnötige, dem Juristen seit jeher als sog. Argument aus der Natur der Sache25 geläufig, droht allmählich zu einer Zwangsvorstellung auszuufern, die ihrerseits geeignet erscheint, den Status heute möglicher Einsichten in die Struktur und Funktion allen Rechts und des m i t i h m befaßten Rechtsdenkens zu verunklären und zu verzerren, so daß sie selbst in Ideologieverdacht gerät. Ein drittes, mehr erkenntnis- und wissenschaftstheoretisches Argument für die angeblich fortschreitende Ausschaltung von Ideologien kann sich darauf stützen, daß durch die erfahrungswissenschaftliche Fundierung der sozialen Handlungswissenschaften unter Einschluß der Jurisprudenz eine wie auch immer geartete Metaphysik nicht nur an ihr Ende gelangt sei 26 , sondern wegen der werte, in: Konrad von B o n i n (Hrsg.), Begründungen des Rechts I I , JuristenTheologen-Gespräch i n Hofgeismar, Göttingen 1979, S. 57 - 85, 60 ff., 64 f. 24 Eingehend hierzu: Wolfram Burisch, Ideologie u n d Sachzwang. Die E n t ideologisierungsthese i n neueren Gesellschaftstheorien, Diss. Tübingen 1967. 25 Ralf Dreier, Z u m Begriff der „Natur der Sache", Diss. Münster 1965. M i t Grund kritisch: Görg Haverkate, Gewißheitsverluste i m juristischen Denken, B e r l i n 1977, S. 198 f., für den die Argumentation aus einer „ N a t u r der Sache" v o n seinem erkenntniskritischen Standpunkt aus einer „ungeschichtlichen Rechtsmetaphysik verhaftet" bleibt. 26 Ernst Topitsch, V o m Ursprung u n d Ende der Metaphysik. Eine Studie zur Weltanschauungskritik, 2. Aufl., München 1972, S. 397 vermutet deshalb, daß sich derartige „weltanschauliche Probleme" gleichsam v o n selbst erledigen, „indem sie gegenstandslos werden", w e n n erst einmal die „Anpassung des Gefühlslebens an die Erkenntnis" vollzogen ist. 23*
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aus einer empirischen Grundlegung abzuleitenden methodologischen Konsequenzen i n der Rechtswissenschaft auch nicht mehr aufs neue Fuß zu fassen vermöge. Damit verlagert sich die Problemstellung jedoch bloß auf die Frage, was in puncto Recht und Rechtswissenschaft unter Empirie bzw. Erfahrung zu verstehen ist. Macht man sich insoweit beispielsweise den Standpunkt des kritischen Rationalismus zu eigen, der einen sehr schneidigen Erfahrungsbegriff mit vergleichsweise hohen methodologischen Anforderungen verficht, die jedenfalls i n den sozialen Handlungswissenschaften i n manchen Bereichen gar nicht, kaum oder nur unter nicht mehr vertretbarem Aufwand zu v e r w i r k lichen sind, so mag in der Tat manches, was einer hermeneutischen Jurisprudenz oder einer kritischen Gesellschaftstheorie noch als gesicherte, durch vielfältige ,Erfahrung 4 gut bestätigte ,Tatsache' erschien, gemessen an dem vom kritischen Rationalismus vorausgesetzten Erfahrungsbegriff wiederum als Metaphysik angesehen werden. Durch Vorwahl eines geeigneten Begriffs von »Erfahrung' kann somit auch unter der allgemein akzeptierten Bedingung der Notwendigkeit einer erfahrungswissenschaftlichen
Fundamentierung
aller
Erkenntnis
das
alte
Spiel wieder aufgenommen und fortgeführt werden, für den jeweils eigenen Standpunkt dessen wissenschaftliche Fundiertheit zu reklamieren und dem jeweiligen Gegner den schwarzen Peter des Ideologieverdachts zuzuschieben. Die Rechtstheorie kann somit nicht umhin, die Möglichkeit
einer
zumindest
partiellen
Ideologisierung
ihres
Rechts-
denkens in Betracht zu ziehen. Das gilt vor allem auch für das stets prekäre Verhältnis von Staat und Recht, das in den staatlich organisierten Rechtssystemen der modernen Gesellschaft zum Ausdruck gelangt. Das grundsätzliche Bewußtsein der sozialen Abhängigkeit allen Rechtsdenkens und der auf ihm lastende Ideologieverdacht scheinen nur einen Ausweg zu bieten. Er w i r d bei einer Reihe von Rechtstheoretikern darin erblickt, sich gleichsam in einem intellektuellen ,rationalen' Befreiungsschlag von dieser sozialen Abhängigkeit zu lösen, indem man sie zwar als Bedingung der Möglichkeit von Rechtserkenntnis begreift, jedoch i n einem A k t der Selbstpurifikation der Rechtserkenntnis eine ,reine' Rechtswissenschaft ohne pragmatische Implikationen zu betreiben sucht. Es erscheint m i r jedoch gänzlich unangebracht, ein unverzerrtes, ideologiefreies Rechtsdenken ausgerechnet i n dem sozial verdünnten Raum absoluter gesellschaftlicher Interesselosigkeit zu erwarten. Erblickt man die Funktion von Ideologien i m Bereich des Rechts und der Rechtswissenschaft darin, daß sie das „ B i l d der sozialen Wirklichkeit" verschleiern 27 , so kann der Gefährdung des Rechtsden27
Ernst S. 243.
E. Hirsch,
Das Recht i m sozialen Ordnungsgefüge, B e r l i n 1966,
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kens d u r c h Rechtsideologien j e d e n f a l l s i n Rechtstheorie u n d Rechtssoziologie n i c h t d a d u r c h begegnet w e r d e n , daß m a n die R e c h t s w i r k l i c h k e i t u n d die soziale W i r k l i c h k e i t 2 3 des Rechts aus der T h e o r i e v o n Staat u n d Recht zu e l i m i n i e r e n sucht. Es k a n n n i c h t A u f g a b e der Rechtswissenschaft sein, h i n t e r a l l e r Ideologie die ,reine' W a h r h e i t ans L i c h t zu b r i n g e n — u n t e r V e r z i c h t auf jede gesellschaftstheoretische E i n b e t t u n g der Rechts- u n d Staatstheorie! V i e l m e h r h a t j e d e U n t e r s c h e i d u n g zwischen Rechtsideologie u n d Rechtswissenschaft auszugehen v o n der — d u r c h einschlägige E r f a h r u n g e n g u t b e s t ä t i g t e n , e r f a h r u n g s w i s s e n schaftlichen A n a l y s e n z u g ä n g l i c h e n — A n n a h m e , daß die s t a a t l i c h o r g a n i s i e r t e n Rechtssysteme d e r m o d e r n e n Gesellschaft u n d die d u r c h sie s t r u k t u r i e r t e n , i n i h n e n a b l a u f e n d e n A k t i v i t ä t e n ganz o f f e n s i c h t l i c h n i c h t a u s z u k o m m e n v e r m ö g e n ohne ständige A p p e l l e an u n d die l a u fende B e z u g n a h m e a u f gesellschaftseinheitliche ,höchste' b z w . ,letzte' Z w e c k e u n d W e r t e , also a u f eine basale Ideologie, w e l c h e l e t z t e n Endes das j e w e i l i g e Rechtssystem als ganzes i n t e g r i e r t u n d s t e u e r t 2 9 . Jedes Rechtssystem k e n n t h e u t e e i n e n gewissen B e s t a n d basaler, g e w ö h n l i c h v o n Verfassungs w e g e n a u f D a u e r g e s t e l l t e r L e i t i d e e n u n d G r u n d w e r t e , nach M a ß g a b e w e l c h e r sich l e t z t e n Endes die I d e n t i t ä t des j e w e i l i g e n Rechtssystems b e s t i m m t 3 0 . Sie k ö n n e n i n i h r e r S t r u k t u r u n d 28 Zu dieser Unterscheidung: König , Recht i m Zusammenhang der sozialen Normensysteme (N. 11), S. 48. Während die „Rechtswirklichkeit", die n u r „rein rechtswissenschaftlich relevant" ist, für König aus der „Rechtsverwirklichung, der Rechtsanwendung (erwächst), die überall die Rechtsnorm v o r aussetzt", bezieht sich der Ausdruck „soziale W i r k l i c h k e i t des Rechts" auf den „sozialen »Unterbau' von Regelungen, aus denen nach mannigfaltigen Umwegen auch die Rechtsnormen erwachsen, bis sie sich zum Kultursystem des Rechts verdichten". 29 Sehr treffend weist Helmut Schelsky, Z u r soziologischen Theorie der Institutionen, in: ders. (Hrsg.), Z u r Theorie der Institutionen, Düsseldorf 1970, S. 9 - 26, 15 ff., 17 darauf hin, daß die Normensysteme v o n Institutionen, auch i n der Form einer organisierten „Gruppenstützung" des durch sie i n stitutionalisierten Verhaltens, abhängig sind u n d von den ihnen jeweils zu Grunde liegenden „Leitbildern" u n d „Leitideen" abhängig bleiben, so daß man diese Institutionen nicht bloß i n ihrer „sozialen Organisationsgesetzlichkeit", sondern auch „von den sie leitenden u n d beherrschenden Ideen her" erklären muß. Vgl. ferner: Niklas Luhmann, Institutionalisierung — F u n k t i o n und Mechanismus i m sozialen System der Gesellschaft, in: Schelsky (Hrsg.), Zur Theorie der Institution, ebd., S. 2 7 - 4 1 ; Luhmann, Grundwerte als Zivilreligion, Roma 1978 (Estrato Archivio d i Filosofia, diretto da Marco M. Olivetti), S. 51 - 71, 52 f., der als „Grundwerte" vor allem die „ i n der V e r fassung kodifizierten Wertideen" begreift u n d m i t Recht darauf aufmerksam macht, daß k e i n Gesellschaftssystem die „Wertorientierungen der an i h m Beteiligten" bei aller begrifflichen Unschärfe der konsentierten Vorstellungen u n d aller V a r i a b i l i t ä t ihrer Inhalte „ganz dem Zufall oder ganz dem individuellen Belieben" überläßt. 80 Eingehend hierzu jetzt: Werner Krawietz, Religiöse, politische u n d rechtliche Grundwerte als basale Leitideen des Rechts. Referat, gehalten auf dem X . Weltkongreß der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie 1981 i n Mexico-City. In: Memoria del X Congreso M u n d i a l O r d i -
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Werner Krawietz
F u n k t i o n zureichend n u r durch ideologiekritische Analysen der pragmatischen Bezüge allen Rechts erfaßt und begriffen werden, wie sie allein auf der Grundlage rechtstheoretischer 31 bzw. rechtssoziologischer Theoriebildung 3 2 ermöglicht werden. 2.2. Gefahr einer Ideologisierung des Handlungssystems Rechtswissenschaft bei Verfolgung des Reinheitspostulats?
Was die i m Hinblick auf das geltende Recht staatlich organisierter Rechtssysteme angestellten, auf eine universell verwendbare Theorie des Rechts gerichteten Bemühungen i m sozialen Handlungssystem der Rechtswissenschaft angeht, so kann heute kein Zweifel mehr daran bestehen, daß die Reine Rechtslehre, insbesondere diejenige der Wiener Schule der Rechtstheorie, v o r a l l e m die v o n Hans Kelsen propagierte Theorie des Rechts, selbstverständlich als Rechtswissenschaft einzustufen ist, nicht als Rechtsideologie. Es kann daher i m folgenden keinesfalls darum gehen, eine wie auch immer geartete „reine" Rechtslehre pauschal unter Ideologieverdacht zu stellen, u m sie auf diese Weise polemisch zu diskreditieren. I n dem Maße, i n dem i n der modernen Rechtstheorie ganze Schulen, w i e beispielsweise die Wiener
Schule 33
oder die Brünner
Schule M
der
Reinen Rechtslehre, ihre gesamte Forschungsrichtung i n der Theorie wie i n der Methode einem wie auch immer verstandenen Reinheitspostulat unterwerfen 3 5 , stellt sich jedoch 1. die Frage nach den aller nario de Filosofia del Derecho y Filosofia Social; Instituto de Investigaciones Juridicas, Serie G, Mexico 1981 (im Druck). 31 Dazu vor allem: Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts (N. 11), S. 39 f., der bemerkt, daß eine „allgemeine Rechtslehre, die nicht i n den Gedankensümpfen der Metaphysik und Ideologie festfahren w i l l , v o n soziologischen Ausgangspunkten her entwickelt werden muß, j a m i t der theoretischen Rechtssoziologie zusammenfällt". Zum Verhältnis von Rechtstheorie und Rechtssoziologie: Werner Krawietz, Das positive Recht und seine Funktion. Kategoriale und methodologische Überlegungen zu einer funktionalen Rechtstheorie, B e r l i n 1967, S. 21 ff.; Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, Reinbek 1972, S. 354 ff. 32 Zur Grundlegung theoretischer Rechtssoziologie neuerdings: Raffaele De Giorgi, Materiali per una Teoria Sociologica del Diritto, Bologna 1981, S. 32 ff., 39 ff., 253 ff. 33 Eine nützliche Zusammenstellung der nicht i n Buchform erschienenen Veröffentlichungen bieten: Hans Klecatsky / René Marcie / Herbert Schambeck (Hrsg.), Die Wiener rechtstheoretische Schule. Ausgewählte Schriften v o n Hans Kelsen, Adolf Merkl, A l f r e d Verdross, Wien 1968. 34 Hierzu jetzt die aus dem Tschechischen übertragene Textauswahl von: Vladimir Kübel· / Ota Weinberger (Hrsg.), Die Brünner rechtstheoretische Schule (Normative Theorie), Wien 1980. 35 Was das Verhältnis der Wiener Schule und der Brünner Schule zueinander angeht, so ist letztere, wie Bruno Kreisky, Vorwort, in: Kubes / Wein-
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Wissenschaft, insbesondere der Rechtswissenschaft als sozialem Handlungssystem zugrunde liegenden Leitideen sowie 2. danach, ob und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen die Verfolgung des Reinheitspostulats als Leitidee der Rechtswissenschaft zu dienen vermag. Hieran läßt sich 3. die Frage anschließen, ob gewisse Anwendungen des Reinheitspostulats a) in der dogmatischen Rechtswissenschaft, b) in der juristischen Methodenlehre und c) in der allgemeinen Rechtslehre oder Rechtstheorie nicht bereits zu einer einseitigen oder gar verzerrten Problemsicht geführt haben oder doch zu führen vermögen, so daß eine zumindest partielle Ideologisierung des Rechtsdenkens nicht gänzlich auszuschließen ist. Ich kann hier auf die Fragen 1 bis 3 b) nur ganz am Rande eingehen 36 und werde mich i m folgenden i n ideologiekritischer Absicht hauptsächlich der i n Frage 3 c) aufgeworfenen Problematik zuwenden. Erblickt man die Funktion von Ideologien — und damit auch der Basisideologie des Wissenschaftssystems! — darin, das soziale Handeln bzw. die wissenschaftliche Erkenntnis nach Maßgabe der hierfür geltenden, sozial etablierten Werte zu bewerten, so ist die Möglichkeit einer Ideologisierung von Teilen des Wissenschaftssystems nicht zuletzt deswegen ins Auge zu fassen, weil die Verfolgung des Reinheitspostulats i n den eben genannten rechtswissenschaftlichen Disziplinen eine zumindest stillschweigende, vielleicht gar nicht als solche reflekt i e r t e Option
für
den Wert
der Reinheit
des Rechtsdenkens
impliziert,
welche ihrerseits gegenteilige Wertorientierungen als kontraindiziert erscheinen läßt oder gar als metajuristisch bzw. unjuristisch aus der Rechtsbetrachtung ausschließt. Das gilt vor allem dann, wenn eine ,reine' Rechtslehre selbst mit der stillschweigenden oder gar ausdrücklichen Prätention auftritt, aufgrund der ,Reinheit' ihrer Lehren der Wahrheit näher zu sein oder sie doch zumindest besser zu gewährleisten als andere Denkansätze und Rechtslehren 37 . I n dem Maße, i n berger, ebd., S. 3 jetzt bemerkt, „sofort nach Begründung der Reinen Rechtslehre" entstanden, während die Herausgeber i n ihrer Vorbemerkung, ebd., S. 7 über die Brünner Schule mitteilen, daß sie „als Schwesterschule der Wiener Schule ungefähr gleichzeitig m i t dieser entstanden" sei (Kursiv W. K.). Da ganz unstreitig „zwischen den Vertretern beider Schulen der Reinen Rechtslehre eine gegenseitige Beeinflussung stattfand", erscheint die i n derartigen Fällen sonst übliche Einfluß- u n d Prioritätsschnüffelei jedenfalls i m vorstehenden Zusammenhang als entbehrlich. 36 Uber das Erfordernis einer Abschichtung dieser unterschiedlichen Fragestellungen: Werner Krawietz, Z u m Paradigmen Wechsel i m juristischen Methodenstreit, RECHTSTHEORIE Beiheft 1 (1979), S. 113 - 152, 114 f. 37 Beispielsweise: Kelsen, Reine Rechtslehre (N. 12), S. 111 f., welcher der „traditionellen Rechtswissenschaft" ihren mehr oder weniger „ideologischen" Charakter vorhält, die von i h m vertretene Theorie des Rechts jedoch durch „ihre anti-ideologische Tendenz" gekennzeichnet sieht, durch welche sich die „Reine Rechtslehre als wahre Rechtswissenschaft" erweise.
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Werner Krawietz
dem die basalen Leitvorstellungen des öffentlichen Denkens und Handelns ihrer Wahrheitsfähigkeit verlustig gegangen sind, weil sich die Einsicht durchgesetzt hat, daß sie außerhalb des Bereichs möglicher Erkenntnis liegen und infolgedessen weder wahr noch falsch sein können 3 8 , ist auch i m sozialen Handlungssystem der Wissenschaft der Zusammenhang zwischen dem Erfordernis einer Erklärung seiner basalen Leitvorstellungen und ihrer Wahrheitsfähigkeit i n den Vordergrund gerückt 39 . Eine nähere Bestimmung dieses Zusammenhangs erscheint vor allem deswegen erforderlich, weil spätestens seit Durkheim die Wissenssoziologie dazu übergegangen ist, ganze Ideenwelten einschließlich ihrer Logiken aus den sozialen Verhältnissen ihrer jeweiligen Gesellschaft zu erklären. Es handelt sich hier somit gar nicht primär darum, wie eine Reine Rechtslehre sich selbst versteht und deutet 4 0 . Vielmehr erscheint es unerläßlich, sich zunächst einmal u m eine ideologiekritische Analyse
der Wirkungszusammenhänge
zu bemühen,
i n denen eine mit ihrem Selbstverständnis und ihren Selbstdeutungen konsequent i n den Gegenstandsbereich der Wissenssoziologie und der Wissenschaftstheorie versetzte Reine Rechtslehre heute steht. Mögliche ideologische Auswirkungen des Reinheitspostulats und des mit i h m verbundenen Rechtspositivismus, auf dessen Boden es zunächst recht ansehnlich gedeihen konnte, lassen sich i m staatlich organisierten Rechtssystem und den durch das hier jeweils geltende Recht regulierten und gesteuerten Interaktionszusammenhängen selbst 41 , aber auch in dem mit der kritischen Reflexion 4 2 dieser Zusammenhänge befaßten Rechtswissenschaftssystem 43 als solchem erkennen 44 . Jedoch ist es nicht 38 Z u m Non-Kognitivismus i m Hinblick auf Normen u n d Werte: Krawietz, Juristische Entscheidung u n d wissenschaftliche Erkenntnis (N. 5), S. 157 f. 39 Dazu und zum folgenden: Niklas Luhmann, Die Ausdifferenzierung v o n Erkenntnisgewinn: Z u r Genese v o n Wissenschaft, in: Nico Stehr / Volker Meja (Hrsg.), Wissenssoziologie, Opladen 1980, S. 102 - 139, 126 f. 40 Hierzu aber: Ota Weinberger, Normentheorie als Grundlage der Jurisprudenz u n d E t h i k , B e r l i n 1981, der eine kritische Auseinandersetzung m i t Kelsens Rechtstheorie aufgrund u n d nach Maßgabe v o n dessen Selbstdeutungen bietet. 41 Eingehend hierzu: Niklas Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechtssystems, in: RECHTSTHEORIE 7 (1976), S. 121 - 135, 123 f. 42 M i t Grund weist Luhmann, Ausdifferenzierung v o n Erkenntnisgewinn (N. 39), S. 129 darauf hin, daß i n einem gesellschaftlich ausdifferenzierten Funktionssystem für wissenschaftliche Erkenntnis auch Theorien neuen Typs möglich werden, die er aufgrund ihrer Eigenart u n d ihres Ertrages als Reflexionstheorien bezeichnet. Die Konsequenzen dieser Überlegungen, i n denen Reflexion nicht mehr als bloße Begleiterscheinung bewußten Erlebens, das heißt als Fähigkeit u n d Eigenschaft des Bewußtseins bzw. des Denkens gedeutet w i r d , sondern als selektivitätsv er stärkender Identitätsgebrauch von sozialen Handlungssystemen begriffen w i r d , sind für eine theoretische Rechtssoziologie u n d für die moderne Rechtstheorie bislang noch k a u m gezogen worden.
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Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?
damit getan, eine i m Hinblick auf die Normen des geltenden Rechts sinnkritische Reflexion bloß rechtsimmanent zu betreiben oder sie gar „rein logisch abzuschließen", indem man sie auf eine i m Rechtssystem nicht mehr gesetzte, sondern bloß gedanklich vorausgesetzte, hypothetische Grundnorm 4 5 bezieht, die dann „ihre eigene Normativität nur noch postulieren kann" 4 6 . Vielmehr w i r d man die heimliche, in der Grundnormdiskussion
zutage
tretende,
ideologische
Funktion
47
der
Grundnorm darin erblicken können, daß die durch die Bezugnahme auf die Grundnorm vermeintlich ermöglichte Letztbegründung von Rechtsnormen 4 8 in Wirklichkeit dazu dient, jede weitere Bezugnahme auf die ihnen zu Grunde liegenden realen Bezugsprobleme des Rechts und der Rechtswissenschaft abzuschneiden mit der — in der Tat auch von Kelsen selbst gelieferten — Begründung, daß es sich dabei nicht mehr um ein rechtstheoretisches, sondern u m ein bloß „historisch-soziologisches" 49 Problem handele. Vom Standpunkt einer realistischen Rechtsbetrachtung ist die Grundnorm jedoch ganz und gar nicht — wie Kelsen glaubte — der „archimedische Punkt, von dem aus die Welt der juristischen Erkenntnis in Bewegung gesetzt w i r d " 5 0 , sondern — abgesehen v o n i h r e m t r i v i a l e n Aussagengehalt — u n t e r funktionalem ideologiekritischem Aspekt betrachtet w o h l eher ein stark vorurteilsbela-
stetes Ideologem, das die Entwicklung der Rechtstheorie bis auf den heutigen Tag an einer realistischen Neuorientierung gehindert hat. 43 Grundlegend: Niklas Luhmann, Selbstreflexion des Rechtssystems: Rechtstheorie i n gesellschaftstheoretischer Perspektive, in: RECHTSTHEOR I E 10 (1979), S. 159 - 185, 162 f., 174 ff. 44 Was das Verhältnis von einem bloß »lebensweltlich' verstandenen Rechtssystem u n d dem m i t i h m befaßten, am Reinheitspostulat orientierten Rechtswissenschaftssystem angeht, so bemerkt: Luhmann, Ausdifferenzierung von Erkenntnisgewinn (N. 39), S. 130 sehr treffend, daß die auf Kant basierende „Blickbahn", auf der — wie eingangs dargelegt — ,reine 4 Lehren i n den sozialen Handlungswissenschaften entwickelt wurden, ganz offensichtlich noch basiert auf der „Differenz v o n Lebensweltorientierung u n d strenger, rein aus sich heraus einleuchtender Erkenntnis als Differenz zweier subjektiver Vermögen: als Differenz von Erfahrung u n d V e r n u n f t " , ohne nach dem Realitätsbezug dieser unterschiedlichen Reflexionsebenen zu fragen. 45 Zuletzt: Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen. I m Auftrage des Hans-Kelsen-Instituts aus dem Nachlaß herausgegeben v o n Kurt Ringhofer und Robert Walter, W i e n 1979, S. 203 ff., 208 ff. Z u dieser Problematik ferner: Werner Krawietz, Grundnorm, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches W ö r terbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel - Stuttgart 1974, Sp. 918 - 922. 46 Insgesamt zum vorstehenden Zusammenhang: Luhmann, Selbstreflexion des Rechtssystems (N. 43), S. 175. 47 Krawietz, Grundnorm, Sp. 920 f. 48 Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen (N. 45), S. 206 spricht selbst v o m „letzten Geltungsgrund aller die Rechtsordnung bildenden Rechtsnormen". 49 Z u r Genese dieser Grundnormvorstellung vgl. die Nachweise bei: Krawietz, Grundnorm, Sp. 918 f. 50 Vgl. den Nachweis bei Krawietz, ebd., Sp. 919.
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Diese Fehleinschätzung und der mangelnde Rechtsrealismus Kelsens mögen damit zusammenhängen, daß er i m Verlaufe seiner wissenschaftlichen Entwicklung in der Beurteilung des Verhältnisses von Rechtstheorie und Rechtssoziologie wiederholt schwankte und aus verständlichen Gründen wohl auch ein wenig unsicher gewesen ist, wie neuerdings Kubes sehr richtig diagnostiziert 51 . Vor allem erscheinen diese Defizite seiner Rechtstheorie jedoch dadurch bedingt, daß Kelsen i m entscheidenden Stadium seiner Theoriebildung i m wesentlichen auf die damals geläufigen Varianten einer ,soziologischen' Jurisprudenz zurückgreifen mußte, ohne sich auf eine soziologisch auch wirklich zureichende, voll ausgearbeitete theoretische Rechtssoziologie 52 stützen zu können. Die Gefahr einer latenten Ideologisierung seiner Rechtslehre, die aus der spezifischen Verbindung von Reinheitspostulat und Rechtspositivismus herrührt, hat Kelsen wohl deswegen nicht erkannt, weil er einen unzureichenden Begriff von Ideologie besitzt. Ideologie ist für ihn, wie er in seiner Reinen Rechtslehre unter der Überschrift „Recht als ,Ideologie' " darlegt 5 3 , eine „nicht objektive, von subjektiven Werturteilen beeinflußte, den Gegenstand der Erkenntnis verhüllende oder entstellende Darstellung". Da Kelsen selbst zeitlebens alle Hände voll damit zu tun hatte, die „anti-ideologische Tendenz" seiner allgemeinen Rechtslehre vor allem i n der von ihm aufgeworfenen doppelten Frontstellung gegenüber der „traditionellen Rechtswissenschaft", der er ihren „ideologischen" Charakter bescheinigte, sowie gegenüber der tradierten Naturrechtsmetaphysik, die es nicht mit dem „positiven", sondern mit einem „idealen" oder „richtigen" Recht zu tun habe, i n ideologiekritischer Absicht zu entfalten 5 4 , mag ihm verborgen geblieben sein, daß die von ihm propagierte ,reine' Rechtslehre selbst sich ganz mühelos unter seinen Begriff der Ideologie i m obigen Sinne subsumie51 Wie Vladimir Kubeè, Rechtssoziologie und Rechtsphilosophie, in: K u bes / Weinberger, Die Brünner rechtstheoretische Schule (N. 34), S. 269 - 280, 271 f. zutreffend ausführt, hat Kelsen seine anfänglich durchaus „positive Einstellung zur Rechtssoziologie" später „ i m wesentlichen aufgegeben". Die nach 1945 „unter dem Einfluß der amerikanischen Verhältnisse" erneut zu beobachtende „markante Zuneigung zur Rechtssoziologie", die offensichtlich auf seine Bekanntschaft m i t der nordamerikanischen Sociological Jurisprudence bzw. m i t dem Legal Realism zurückzuführen ist, k a m nicht n u r zu spät, sondern w a r — obwohl rechtstatsächlich sicherlich interessant! — i n theoretischer Hinsicht viel zu harmlos u n d daher ungeeignet, i m Theoriedesign der Kelsen'schen Rechtslehre noch tiefgreifende K o r r e k t u r e n i n Richtung eines gesteigerten Rechtsrealismus zu erzwingen. 52 Z u m Verhältnis von soziologischer Jurisprudenz u n d Soziologie, insbesondere Rechtssoziologie: Krawietz, Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis (N. 5), S. 100 ff., 114 f. 53 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 107 ff., 111. 54 Ders., ebd., S. 112.
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ren läßt, wenn man bedenkt, daß sie — orientiert an ihrer verabsolutierten Option für den Wert der Reinheit — die S t r u k t u r des Rechts auf einen normativen Teilaspekt, das heißt auf die rechtssprachlichen W o r t normen u n d ihre logische Struktur, reduziert und demzufolge durch diese verkürzte Darstellung ihres i n erster Linie und vor allem sozialstrukturellen Gegenstandes die Realität des Rechts u n d der Rechtswissenschaft — wenn auch ungewollt — verzerrt bzw. partiell ignoriert. M a n kann der Reinen Rechtslehre Kelsens allenfalls zugute halten, daß dies gar nicht ihre Absicht war, sondern daß sie durchaus das Recht, so wie es w i r k l i c h ist, erforschen wollte. Daß i h r dies nicht bzw. nicht i n zureichendem Maße gelungen ist, hat seinen Grund nicht zuletzt i n ihrem unzureichenden Ideologiebegriff. I n der Tat gehört Kelsen zu denjenigen Ideologiekritikern, für die Ideologie „ihre Wurzel i m Wollen" hat, weil sie stets „anderen Interessen als dem Interesse an der Wahrheit" entspringt 5 5 , so daß sie i m wesentlichen der Verschleierung und V e r h ü l l u n g nicht ausgesprochener Absichten und Interessen dient. Gemessen an seinem eigenen Ideologiebegriff vermag Kelsen somit durchaus den gegenüber seiner ,reinen' Rechtslehre erhobenen Verdacht einer Ideologisierung des Rechtsdenkens abzuwehren m i t der Begründung, daß i h m jede derartige Verschleierungs- u n d Verhüllungsabsicht fehle. Genau i n diesem Punkt offenbart sich jedoch die Unzulänglichkeit eines Ideologiebegriffs, der Ideologie als bewußte und gewollte Verschleierung nicht ausgesprochener Absichten und Interessen begreift. Entscheidend ist nicht die Absicht oder das verdeckte Interesse an einer betrügerischen Verschleierung der Wirklichkeit, sondern Ideologie ist, wie w i r seit Karl Mannheim 56 wissen, die Form von Betrug, die voraussetzt, daß man selbst daran glaubt. Jede wissenschaftliche Ideologiekritik hat es demzufolge m i t der „ E n t h ü l l u n g u n d Bloßlegung der unbewußten Quellpunkte geistiger Existenz" zu t u n 5 7 . Der wissenschaftlich unaufgelöste, stark ideologieverdächtige Glaubensbestand i n Kelsens „Theorie des positiven Rechts" besteht darin, daß er eine „allgemeine Rechtslehre" zu konzipieren sucht, welche das „positive Recht als Rechtswirklichkeit" begreifen w i l l , aber — offensichtlich irregeführt durch das von i h m verabsolutierte Reinheitspostulat! — es als schlechthin „unmöglich" ansieht, die für die Erfassung der Rechtswirklichkeit sicherlich nicht gänzlich unzuständige Rechtssoziologie beim Aufbau einer derartigen Rechtstheorie zu beteiligen, w e i l dies darauf hinausliefe, die Rechtswissenschaft „durch Rechtssoziologie zu ersetzen" 5 8 . 55 56 57 58
Ders., ebd., S. 112. Ideologie und Utopie, 3. Aufl., Frankfurt am M a i n 1952. Mannheim, ebd., S. 37. Dazu und zum folgenden: Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 111.
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W e r eine enge Zusammenarbeit
von Rechtstheorie
und
Rechtssozio-
logie von vornherein als „unmöglich" ansieht, weil „diese auf ein ganz anderes Problem eingestellt ist als jene", läuft Gefahr, nur ein einseitiges und verzerrtes Bild von der Rechtswirklichkeit zu entwerfen. Nicht von ungefähr reduziert sich denn auch für Kelsen die „Rechtswirklichkeit" des positiven Rechts auf die „Wirklichkeit des tatsächlichen Geschehens, das, dem Anspruch des positiven Rechts nach, diesem entsprechen soll", das heißt auf das „tatsächlich seiende, dem Inhalt der Norm entsprechende Verhalten" 5 9 . Wie René König i n seiner Auseinandersetzung mit Kelsen sehr treffend bemerkt, ist eine derartige Rechtswirklichkeit „nur rein rechtswissenschaftlich relevant", ohne die „soziale Wirklichkeit des Rechts" überhaupt zu erreichen 60 . Erstaunlich bleibt, daß Kelsen, stets darauf bedacht, den Gegenstand seiner Wissenschaft, das Recht, „zu enthüllen" und permanent besorgt, daß Ideologie die „Wirklichkeit" verhüllen könnte 6 1 , die scharfe Sonde rechtstheoretischer Erkenntnis nie bei seinem eigenen Begriff von „Rechtswirklichkeit" ansetzt. 3. Ansätze zur Selbstreflexion im Rechtssystem und im Rechtswissenschaftssystem Jedes Rechtssystem speichert bekanntlich Informationen und verwendet Entscheidungserfahrungen, die vor ihrer Wiederverwendung einer entsprechenden Aufbereitung bedürfen. Diese Aufbereitung kann fallweise i m staatlich organisierten Rechtssystem selbst vorgenommen werden, beispielsweise bei der an bestimmten Fallgruppen orientierten Vorbereitungsarbeit gesetzgeberischer Dienste i m Parlament bzw. in der Regierung oder auch bei der Vorbereitung einzelner höchstrichterlicher Entscheidungen durch sog. wissenschaftliche Hilfsarbeiter und Hilfsdienste. Üblicherweise findet diese Aufbereitungsarbeit jedoch i m wesentlichen in dem gegenüber dem eigentlichen praktischen Entscheidungsbetrieb verselbständigten, mit eigener Autonomie ausgestatteten Rechtswissenschaftssystem 62 statt, das auf diese Weise permanent dem eigentlichen rechtlichen Entscheidungsbetrieb vorarbeitet, zuarbeitet und mit ihm verbunden bleibt 6 3 . Auf diesem Wege hat sich bei der begrifflichen und systematischen Ausarbeitung und Aufbereitung der 59
Ders., ebd., S. 6, 112. König, Recht i m Zusammenhang der sozialen Normensysteme (N. 11), S. 48 f. β1 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 112. 62 Werner Krawietz, F u n k t i o n u n d Grenze einer dogmatischen Rechtswissenschaft, in: Recht u n d Politik. Vierteljahreshef te für Rechts- u n d V e r waltungspolitik 1970, S. 150 - 158, 151 f. 80
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a n f a l l e n d e n I n f o r m a t i o n e n eine Ebene dogmatischer B e g r i f f s a r b e i t h e r a u s g e b i l d e t u n d o r g a n i s a t o r i s c h v e r s e l b s t ä n d i g t , die — b e t r e u t v o n e i n e r m e h r oder w e n i g e r e i g e n s t ä n d i g e n d o g m a t i s c h e n 6 4 Rechtswissenschaft — i m R a h m e n i h r e r rechtsdogmatischen A r b e i t s e l b s t v e r s t ä n d l i c h auch ü b e r die Eigenart des Rechts u n d die Identität des Rechtssystems r e f l e k t i e r t , auch w e n n diese R e f l e x i o n n a t u r g e m ä ß i n die v o n i h r zu b e h a n d e l n d e n j u r i s t i s c h e n E n t s c h e i d u n g s p r o b l e m e e i n g e b u n d e n ist u n d b l e i b t 6 5 . I c h h a b e i n a n d e r e m Z u s a m m e n h a n g 6 6 dargelegt, i n w e l c h e m A u s m a ß e eine s e l b s t k r i t i s c h e R e f l e x i o n i m B e r e i c h d o g m a tischer Rechtswissenschaft z u r A u s b i l d u n g rechtsdogmatischer Theorie b e i g e t r a g e n 6 7 h a t , die aber v o n Rechtstheorie scharf u n t e r s c h i e d e n werden muß. I m f o l g e n d e n geht es n i c h t u m die L e i s t u n g e n dogmatischer Rechtswissenschaft, s o n d e r n u m d i e R e f l e x i o n s l e i s t u n g e n , die i m s t a a t l i c h o r g a n i s i e r t e n Rechtssystem u n d i m Rechtswissenschaftssystem n e b e n b z w . u n a b h ä n g i g v o n der dogmatischen Rechtswissenschaft e r b r a c h t w e r d e n . Das Rechtssystem u n d das Rechtswissenschaftssystem w e r d e n d a b e i als i n der W i r k l i c h k e i t r e a l i t e r 6 8 e x i s t i e r e n d e soziale H a n d l u n g s s y s t e m e 6 9 b e g r i f f e n , i n d e n e n d e r a r t i g e R e f l e x i o n s l e i s t u n g e n u n t e r be63 Ders., Was leistet Rechtsdogmatik i n der richterlichen Entscheidungspraxis? In: Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht 23 (1972), S. 47 bis 80. 64 Z u r Begriffsgeschichte von ,dogma' und »dogmatisch4 neuerdings: Maximilian Herherger, Dogmatik, F r a n k f u r t am M a i n 1981, S. 39 ff., 181 ff., 394 ff., 397 f., der nicht bloß die Unterschiede, sondern vor allem auch die f u n k t i o nellen Gemeinsamkeiten von Gesetz, Dogma u n d System herausarbeitet. 65 Dazu jetzt: Werner Krawietz, Rechtssystem u n d Rationalität i n der juristischen Dogmatik, in: RECHTSTHEORIE Beiheft 2 (1981), S. 299 - 335. ββ Zur Unterscheidung von rechtsdogmatischer Theorie bzw. Rechtstheorie: Krawietz, Juristische Entscheidung u n d wissenschaftliche Erkenntnis (N. 5), S. 211 ff. 67 Vgl. ferner: Ralf Dreier, Z u r Theoriebildung i n der Jurisprudenz, in: Friedrich Kaulbach / Werner Krawietz (Hrsg.), Recht und Gesellschaft. Festschrift für Helmut Schelsky, B e r l i n 1978, S. 103 - 132, 120 ff., 129 ff., der gleichfalls zwischen Theoriebildung i n der Rechtsdogmatik bzw. i n der Rechtstheorie unterscheidet. Ebenso jetzt auch: Aulis Aarnio, On the Paradigm A r t i c u l a t i o n i n Legal Research, in: RECHTSTHEORIE Beiheft 3 (1981), S. 45 - 56, 45 f., m i t der Unterscheidung zwischen „legal-dogmatical theory", das heißt „theories in legal dogmatics" einerseits u n d legal theory bzw. legal theories andererseits, die er als „a part of legal philosophy" oder „ j u r i s p r u dence" begreift. Z u m gesamten vorstehenden Zusammenhang jetzt: Werner Krawietz, Z u r S t r u k t u r von Entwicklung u n d Fortschritt i n der Rechtstheorie, in: RECHTSTHEORIE Beiheft 3 (1981), S. 333 - 347, 336 f.
®8 Hierzu: Ernest Μ. Jones, Systems Approaches to Socio-Economic Problems Confronting Governments, in: Journal of Public Law 18 (1969), S. 21 bis 60; Niklas Luhmann, Systemtheoretische Beiträge zur Rechtstheorie, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie u n d Rechtstheorie 2 (1972), S. 225 - 276, 257 ff.; Werner Krawietz, Juristische Methodik und ihre rechtstheoretischen I m p l i kationen, ebd., S. 12 - 42, 41 f.
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s t i m m t e n sozialen B e d i n g u n g e n a b l a u f e n . Es besteht h e u t e t r o t z der U n t e r s c h i e d l i c h k e i t d e r Denkansätze w e i t g e h e n d E i n i g k e i t d a r ü b e r , daß a l l e Rechtstheorie, i n der ü b e r die E i g e n a r t des Rechtssystems ref l e k t i e r t w i r d , auf e i n e r durchaus eigenständigen, e i n d e u t i g metadogmatische:n 70 Reflexionsebene o p e r i e r t . Rechtstheorie t r i t t h i e r jedoch n i c h t n u r als R e f l e x i o n auf die I d e n t i t ä t des Rechtssystems i n Erschein u n g , s o n d e r n m u ß z u g l e i c h e i n gewisses M a ß a n Selbstreflexion leisten, w e i l es sich u m eine f u n k t i o n a l e A u s d i f f e r e n z i e r u n g u n d p a r t i e l l e V e r s e l b s t ä n d i g u n g des r e f l e k t i e r e n d e n Systems Rechtstheorie i m sozial e n H a n d l u n g s s y s t e m Rechtswissenschaft h a n d e l t . M i t dieser A r t v o n S e l b s t r e f l e x i o n n i m m t Rechtstheorie — systemtheoretisch b e t r a c h t e t — die F o r m e i n e r „ T h e o r i e des Systems i m S y s t e m " a n 7 1 . Dieses N e u a r r a n g e m e n t d e r R e f l e x i o n s v e r h ä l t n i s s e i n Rechtssystem u n d Rechtswissenschaft, die d u r c h m a n n i g f a l t i g e W e c h s e l w i r k u n g e n m i t e i n a n d e r v e r b u n d e n s i n d 7 2 , w i r f t f r e i l i c h die F r a g e auf, w e l c h e E n t w i c k l u n g s 69 Krawietz, Zur S t r u k t u r von Entwicklung u n d Fortschritt i n der Rechtstheorie (N. 67), S. 344 f.; Lawrence M. Friedman, Das Rechtssystem i m Blickfeld der Sozialwissenschaften, B e r l i n 1981. 70 Verschiedene metadogmatische Strukturierungsebenen u n d Reflexionsstufen bei der Theoretisierung des Rechtsdenkens unterscheidet: Krawietz, Juristische Entscheidung u n d wissenschaftliche Erkenntnis (N. 5), S. 222 ff., 225 f.; Luhmann, Selbstreflexion des Rechtssystems (N. 43), S. 159. 71 Luhmann, ebd., S. 163 f. 72 M. E. bedürfte die systemtheoretische Rekonstruktion der Reflexionsverhältnisse, die v o n Luhmann, ebd., S. 161 ff. unter dem Grundkonzept einer „Theorie des Systems i m System" vorgenommen w i r d , einer weiteren Differenzierung. Es geht hier nämlich u m die Wechselwirkungen i n den Reflexionsverhältnissen zwischen dem sozialen Reflexionssystem »Rechtstheorie 4 i m System Rechtswissenschaft m i t Bezug auf das staatlich organisierte Rechtssystem, so daß w i r es — systemtheoretisch i m Sinne von L u h mann formuliert — genau genommen w o h l eher m i t der F o r m einer Theorie des Systems im System im System zu t u n haben. Ich frage mich allerdings, ob es dann noch richtig ist, v o n „Selbstreflexion des Rechtssystems" zu sprechen. Es dürfte sich hier vielmehr u m die Selbstreflexion des Rechtswissenschaftssystems handeln, die sich freilich nicht auf bloße Wissenssoziologie und Wissenschaftstheorie reduziert, sondern sich i n bezug auf das staatlich organisierte Rechtssystem als i h r Gegenüber entfaltet. Daher erscheint auch die Frage angebracht, ob es überhaupt zweckmäßig ist, den Begriff des Rechtssystems so stark auszuweiten, daß es auch das Rechtswissenschaftssystem i n sich schließt. Denn n u r unter dieser Voraussetzung erscheint es zutreffend, noch von Selbstreflexion im Rechtssystem zu sprechen. Ich habe i m obigen Zusammenhang einen engeren Begriff des Rechtssystems gewählt, vgl. hierzu auch schon: Krawietz, Rechtssystem u n d Rationalität (N. 65), S. 302 f.; ders., Z u r S t r u k t u r von Entwicklung und Fortschritt i n der Rechtstheorie (N. 67), S. 344 f., w e i l ich i m Hinblick auf die menschlicher Erfahrung u n d einer teilnehmenden Beobachtung zugängliche Realität dieser unterschiedlichen „Reflexionsebenen" i m Sinne v o n Luhmann davon ausgehe, daß sie i n ihrem Verhältnis zueinander so weitgehend ausdifferenziert und verselbständigt sind, daß sie jeweils für sich als eigenständige soziale Handlungssysteme begriffen werden können. Eine ganz andere Frage, auf die ich weiter unten noch zurückkommen werde, ist die, ob nicht eine
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Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?
tendenzen und Erkenntnisfortschritte aufgrund dessen in der Rechtstheorie zu erwarten sind. 3.1. Entwicklungstendenzen in der Rechtstheorie der Gegenwart
Wer heute der Frage nach der Entwicklung bzw. den Entwicklungstendenzen in der Rechtstheorie nachgehen möchte, steht zunächst einmal vor der ein wenig entmutigenden Tatsache, daß es die Rechtstheorie gar nicht gibt. Infolgedessen kann auch von einer einheitlichen Entwicklung der Rechtstheorie und demzufolge von einheitlichen Bedingungen und Möglichkeiten einer solchen Entwicklung ganz und gar nicht die Rede sein. Wenn ich hier wie i m folgenden gleichwohl den Ausdruck Rechtstheorie (und nicht ,Rechtstheorien 4 !) verwende, so tue ich dies durchaus i n dem Bewußtsein, daß es sich bei dieser Etikettierung selbstverständlich u m einen Kollektivsingular handelt. I n diesem Sinne hat die Rechtstheorie als relativ eigenständige Disziplin bislang vornehmlich vor der Aufgabe gestanden, angesichts einer fortschreitenden Theoretisierung
des Rechtsdenkens
die i n der
rechtswissen-
schaftlichen Grundlagenforschung 73 , aber auch i m interdisziplinären Kontakt 7 4 auf bisweilen höchst unterschiedlichem Theorielevel anfallenden, naturgemäß genuin levelspezifischen Theoreme und rechtstheoretischen Einsichten in eine in sich kohärente und konsistente Theorie
des Rechts zu integrieren 7 5 . Infolgedessen darf die V e r w e n d u n g
des Kollektivsingulars »Rechtstheorie' keinesfalls so verstanden werden, als ob es darum ginge, den Grad der bereits erreichten Vereinheitlichung von Rechtstheorie größer erscheinen zu lassen als er in W i r k lichkeit ist. Gegenwärtig zeichnen sich gewisse Vereinheitlichungstendenzen ab, die heute in Richtung einer „Rahmentheorie" 7 6 , einer „integrativen weitere „Theoretisierung des Rechtsdenkens" auf einer höheren „Reflexionsstufe" bei gesteigertem „Abstraktionsniveau" zu einer — auch realiter bestehenden — Reflexionsebene führt, auf der staatlich organisiertes Rechtssystem und Rechtswissenschaftssystem arbeitsteilig derart zusammenwirken, daß insoweit von einem weiteren sozialen Handlungssystem gesprochen werden kann, auf dessen Realität i m Wege einer Selbstreflexion rekurriert werden kann. Z u dieser erst auf einer höheren „Reflexionsstufe" sichtbar werdenden Problematik der Systemsteuerung: Krawietz, Juristische E n t scheidung und wissenschaftliche Erkenntnis (N. 5), S. 223 ff. 73 Die Vielfalt möglicher Denkansätze w i r d deutlich bei: Hans Albert / Niklas Luhmann / Werner Maihof er / Ota Weinberger (Hrsg.), Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, Düsseldorf 1972. 74 Vgl. hierzu: Niklas Luhmann, Rechtstheorie i m interdisziplinären Zusammenhang, in: Anales de La Catedra Francisco Suarez 12 (1972), S. 201 bis 253. 75 Krawietz, Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis (N. 5), S. 222 ff., 225.
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Werner Krawietz
Basistheorie des Rechts und der Rechtswissenschaft" 77 bzw. einer „ M u l tilevel Theory of L a w " 7 8 wirksam werden. Jedoch muß einschränkend gesagt werden, daß es sich bislang i m wesentlichen u m bloße Forderungen nach einer Vereinheitlichung und Zusammenführung der diversen Forschungsrichtungen vorhandenen Teilstücke
sowie e i n e r einer Theorie
Zusammenfügung der bereits des Rechts h a n d e l t . Dies ist
jedoch leichter gesagt als getan. Unklar ist nicht nur, welche Forschungsrichtungen und Disziplinen i m interdisziplinären Kontakt mit der Rechtstheorie überhaupt für den Aufbau einer Theorie des Rechts relevante Informationen beizusteuern vermögen, weil ein einheitliches, von allen Rechtstheoretikern übereinstimmend akzeptiertes Relevanzschema, das ihrer weiteren Arbeit zugrunde gelegt werden könnte, noch immer fehlt. Es ist auch ungeklärt, ob es nicht wenigstens einige dominierende Problemstellungen oder rechtstheoretische Einsichten und konstruktive Führungsgrößen gibt, von denen her jede weitere rechtstheoretische Forschungsarbeit ins Werk zu setzen ist. Selbst i n der für eine Strukturtheorie des Rechts zentralen Frage nach der Struktur der Rechtsnorm laufen die Auffassungen, was unter Struktur des Rechts zu verstehen ist, diametral auseinander. Während die sprachanalytischen Richtungen moderner Rechtstheorie die sprachliche Struktur des Rechts in das Zentrum ihrer Bemühungen rücken, vertreten die Rechtsrealisten unter den Rechtstheoretikern, für die die soziale Struktur aller Rechtsnormen i m Vordergrund steht, die Auffassung, daß die sprachliche Struktur der Rechtsnormen ohne die eingehende Erforschung ihrer sozialstrukturellen Elemente, Voraussetzungen und Abhängigkeiten in ihrer normativen Funktion gar nicht zureichend erfaßt und begriffen werden kann, so daß eine Theorie des Rechts ohne Einbettung in eine Theorie der Gesellschaft gar nicht auszukommen vermag. Da keine der in der rechtstheoretischen Forschungsarbeit aufgegriffenen Problemstellungen die anderen so deutlich dominiert, daß sich hieraus eine eindeutige Hierarchie für alle weiteren Forschungsbemühungen ableiten ließe, werden alle Problemstellungen zugleich verfolgt, auch wenn sie bisweilen die mit ihnen beschäftigten Rechtstheoretiker eher auseinander- als zusammenführen. Gesucht wird, wie Ehrenzweig vom Standpunkt seiner Rechtstheorie bei Gelegenheit spöttisch formulierte, eine „Common Language for Babylon" 7 9 . Jedenfalls 76
Ders., ebd., S. 224 f. Ralf Dreier, Recht-Moral-Ideologie. Studien zur Rechtstheorie, F r a n k furt am M a i n 1981, S. 10 f. 78 Grundlegend hierzu: Jerzy Wreblewski, The Theory of L a w - M u l t i l e v e l , Empirical or Sociological? I n : Poznan Studies i n the Philosophy of the Sciences and the Humanities 5 (1979), S. 119 - 136, 122 ff., 130 ff. m i t der interessanten Unterscheidung zwischen „internal" u n d „external integration of legal sciences". 77
Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?
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können die derzeitigen Forschungsbestrebungen nicht darüber hinwegtäuschen, daß die i n ihnen vorausgesetzte Einheit der Rechtstheorie bislang im wesentlichen nur ein Postulat ist. Da auch i m Rahmen der heutigen Wiener und der Brünner rechtstheoretischen Schule i n Fortentwicklung der Reinen Rechtslehre an einer ihrem eigenen Anspruch nach mehr oder weniger einheitlichen, insgesamt aber gleichwohl partikularistischen Theorie des Rechts gearbeitet wird, läßt sich die eingangs gestellte Frage nach den Entwicklungstendenzen und möglichen Erkenntnisfortschritten i n der Rechtstheorie, aber auch diejenige nach den Hemmnissen und Schranken, die einer derartigen Entwicklung entgegenstehen, gar nicht einheitlich beantworten. Ich beschränke daher im folgenden meine Überlegungen auf den Einfluß der Reinen Rechtslehre und die von ihr ausgehenden Folgewirkungen. 3.2. Einfluß der Reinen Rechtslehre auf die Entwicklung der Rechtstheorie
Die Tatsache, daß die Reine Rechtslehre als Strukturtheorie des Rechts bis auf den heutigen Tag vor allem auf die österreichische Jurisprudenz tiefgreifende Wirkungen zeitigt, besagt als solche noch nichts über ihre Relevanz für die Entwicklung der Rechtstheorie überhaupt, auch wenn die von ihr entwickelte allgemeine Rechtslehre ihrem eigenen Erkenntnisanspruch nach nicht auf diese besondere Rechtsordnung beschränkt ist. Die Frage, ob bzw. i n welcher Form die Reine Rechtslehre i m Verhältnis zu anderen Rechtsordnungen den von ihr geltend gemachten Universalitätsanspruch auch w i r k l i c h einzulösen vermag, steht somit auf einem ganz anderen Blatt. Immerhin scheint die Reine Rechtslehre auch i n einigen anderen Ländern bereits einen gewissen Einfluß entfaltet zu haben 80 . Allerdings fällt eine exakte Messung des wirklichen Einflusses ungemein schwer, zumal derartige Forschungen i m Theorievergleich mit den i n diesen Ländern entwickelten Rechtstheorien und ihren Wirkungen kontrastiert werden müßten. Daran hat es bislang ganz offensichtlich gefehlt. Auch kann es i m vorstehenden Zusammenhang selbstverständlich nicht darum gehen, der Frage nach einem in rechtstheoretischer Hinsicht konsensfähigen Kern der Reinen Rechtslehre nachzugehen, um von bestimmten Ergebnissen und ihren Wirkungen her Rückschlüsse 79 Albert A. Ehrenzweig, Psychoanalytical Jurisprudence: A Common Language for Babylon, in: Columbia L a w Review 65 (1965), S. 1331 - 1360. 80 Dies belegt der v o m Hans-Kelsen-Institut i n W i e n herausgegebene, als Band 2 seiner Schriftenreihe veröffentlichte Sammelband: Der Einfluß der Reinen Rechtslehre auf die Rechtstheorie i n verschiedenen Ländern, Wien 1978.
2
R E C H T S T H E O R I E , Beiheft 4
Werner Krawietz
370
auf die Leistungsfähigkeit der Reinen Rechtslehre zu ziehen 81 . Ihre Beantwortung würde bei einer realistischen Betrachtungsweise der bereits erzielten rechtstheoretischen Einsichten und Ergebnisse möglicherweise auf allzu hochgespannte Erwartungen ein wenig desillusionierend w i r k e n müssen. I m folgenden geht es allein darum, in welcher Weise die Wirklichkeit des Rechts, des staatlich organisierten Rechtssystems und der mit ihm befaßten Rechtswissenschaft, insbesondere der Rechtstheorie durch die Reine Rechtslehre selbst reflektiert wird,
auch wenn diese Problemstellung wegen des von i h r verfolgten Reinheitspostulats für eine ,reine 4 Rechtslehre — immanent durchaus folgerichtig — bislang keineswegs i m Vordergrund gestanden hat. Der außerhalb der österreichischen Jurisprudenz doch recht massive, jahrzehntelange Widerstand, dem bis heute alle Versuche der Reinen Rechtslehre begegnet sind, jede Form einer soziologischen 4 Jurisprudenz oder gar einer genuin soziologischen Theorie des Rechts aus der Rechtstheorie zu verbannen, u m die von i h r propagierte Rechtslehre als ,rein' normative Theorie zu begründen, w i r f t nämlich die Frage auf, ob i n diesem Widerstand nicht rechtstheoretische Erkenntnisinteressen zum Ausdruck gelangen, die von der Reinen Rechtslehre bisher zu Unrecht ignoriert bzw. verdrängt worden sind und deren mangelnde B e a c h t u n g eine Integration
Teileinsichten
der bislang
erarbeiteten
rechtstheoretischen
möglicherweise behindert oder gar ausschließt.
Man muß der Reinen Rechtslehre allerdings wohl zugestehen, daß sie einen monopolistischen Universalitätsanspruch i n dem Sinne, als verfüge sie allein bereits über die einzig richtige Theorie des Rechts, expressis verbis nie erhoben hat. Ist die Reine Rechtslehre aber bloß eine 82 Theorie des Rechts — und das kann doch wohl nur heißen: es gibt auch andere! —, dann genügt es nicht, sich vom Standpunkt der Reinen Rechtslehre nur u m die interne Integration aller von i h r entwickelten Detaileinsichten zu bemühen, u m sie auf diese Weise fortzuentwickeln. Mindestens ebenso wichtig ist dann die ganz andere Aufgabe, i n permanenter Auseinandersetzung m i t den übrigen, heute vertretenen Rechtstheorien an der externen Integration aller relevanten rechtstheoretischen Detaileinsichten zu arbeiten. Voraussetzung dafür ist, daß es gelingt, innerhalb der Rechtstheorie selbst nicht nur auf die Verteidigung des eigenen, wenn auch relativen, an dem Gebot methodologischer 83 Reinheit ausgerichteten Universalitätsanspruchs be81 Hierzu: Norbert Achterberg, Die Reine Rechtslehre i n der Staatstheorie der Bundesrepublik Deutschland, ebd., S. 7 - 54, 19 f. 82 Kelsen, Reine Rechtslehre (N. 12), S. 1. 83 M i t Grund kritisch: Weinberger, Normentheorie als Grundlage der Jurisprudenz und E t h i k (N. 40), S. 168 ff., 175 f., der sehr treffend darlegt, daß „durch dieses methodologische Postulat" vor allem sichergestellt werden
Reinhei t der Rechtslehre als Ideologie?
371
dacht zu sein, s o n d e r n auch u n d v o r a l l e m die selbstkritische R e f l e x i o n seiner Prämissen rechtstheoretisch auf D a u e r zu stellen. D i e Reine Rechtslehre h a t b i s l a n g — w e n n es ü b e r h a u p t gestattet ist, i n so v e r k ü r z t e r F o r m u n d i m D e t a i l n i c h t abgesichert S t e l l u n g zu n e h m e n — die erste A u f g a b e f a v o r i s i e r t zu L a s t e n der letzteren. M a n k a n n a l l e r dings heute den E i n d r u c k g e w i n n e n , daß gerade bezüglich der e x t e r n e n O r i e n t i e r u n g e n der R e i n e n Rechtslehre sich i n j ü n g s t e r Z e i t bereits eine erfreuliche W e n d e abzuzeichnen b e g i n n t , die sich i n t e r n v o r a l l e m — u m pars p r o toto n u r einige i h r e r h e r v o r r a g e n d s t e n V e r t r e t e r z u n e n n e n — den rechtstheoretischen B e m ü h u n g e n v o n Robert Walter 8*, S5 86 Vladimir Kubes u n d Ota Weinberger v e r d a n k t . I n d e m Maße, i n d e m n i c h t bloß v o n einer e x t e r n e n K r i t i k , sondern auch i n t e r n aus der Tatsache Konsequenzen gezogen w e r d e n , daß es schon i m m e r z u m i n d e s t eine W i e n e r u n d eine B r ü n n e r Schule der R e i n e n Rechtslehre gegeben h a t , u m v o n i h r e n ausländischen P r o t a g o n i s t e n ganz zu s c h w e i g e n 8 7 , w i r d eine selbstkritische Überprüfung sämtlicher grundlegenden internen und externen Positionen der Reinen Rechtslehre f ä l l i g , die bissollte, die Rechtswissenschaft von Rechtssoziologie und ähnlichen Untersuchungen des Rechts „durch eine scharfe Grenze" abzutrennen, jedoch darauf aufmerksam macht, daß durch einige „Thesen der neuen Konzeption eine gewisse Modifikation des Reinheitspostulats" eingetreten ist. 04 I n seinem vor der Polnischen Akademie der Wissenschaften gehaltenen Vortrag hat neuerdings: Robert Walter, Das Problem des Verhältnisses von Recht und Logik i n der Reinen Rechtslehre, in: RECHTSTHEORIE 11 (1980), S. 299 - 314, 308 ff., 313 f. sehr richtig darauf hingewiesen, daß Kelsens „neue Position" nicht zu einem „Defizit an Rationalität" zu führen brauche, w e i l „das richterliche U r t e i l aus dem Gesetz nicht logisch erfließt, sondern »gesetzt' (»erlassen 4, »gefällt') werden muß". 85 I n der selbstkritischen Deutung seiner eigenen Entwicklung weist jetzt: Vladimir Kubes, Die Brünner Schule der Reinen Rechtslehre, in: Kubes / Weinberger, Die Brünner rechtstheoretische Schule (N. 34), S. 9 - 3 2 , 28 ff . darauf hin, daß er selbst i n der „zweiten Phase" seiner Entwicklung die Reine Rechtslehre verlassen und unter dem Einfluß der kritischen Ontologie von Nicolai Hartmann, der Rechtssoziologie und einer materialistischen Geschichtsauffassung zu einer „Erweiterung der Sicht" gelangt sei. 8e Bezeichnenderweise bemerkt jetzt auch: Weinberger, Normentheorie als Grundlage der Jurisprudenz und E t h i k (N. 40), S. 169 ff., 175 f. i n seinem Kapitel über klassische und „neue Reine Rechtslehre: pro u n d kontra", daß er bei aller Übereinstimmung m i t zentralen Teilen der Reinen Rechtslehre, vor allem m i t ihrer klassischen Version, einen „wesentlich offeneren Positivismus vertrete als die traditionelle Reine Rechtslehre" und weist expressis verbis darauf hin, daß er seinem Selbstverständnis nach jedenfalls „kein Jünger der Reinen Rechtslehre" sei. 87 Ich denke dabei vor allem an die Kelsen-Rezeption i n Spanien und Lateinamerika, die bereits ihre eigene Rezeptionsgeschichte besitzt. Vgl. hierzu jetzt: Hans Kelsen, Teoria Pura Del Derecho, Traducción de la segunda edición en alemàn, por Roberto J. Vernengo, México 1981; vor allem Rolando Tamayo y Salmoràn, Presentación, ebd., S. 5 - 7 und Vernengo, Nota del Traductor, ebd., S. 357 f. Hierzu jetzt auch: Werner Krawietz, Das Recht als Maßstab für ökonomisches, politisches und kulturelles Leben i n unserer Zeit, in: Juristenzeitung 36 (1981), S. 676 - 678, insbes. S. 678. 2*
372
Werner Krawietz
lang von ihr eingenommen wurden. Auch ist es eine schlichte Tatsache, daß jede der heute vertretenen Spielarten einer ,reinen' Rechtslehre, die sich zum Teil schon recht weit von ihren klassischen Anfängen entfernt haben und über sie hinausgewachsen sind 8 8 , weit davon entfernt ist, ein auch nur annähernd monolithisches Gedankengebäude für die Erklärung des überaus vielschichtigen 89 Phänomens allen Rechts zu bieten, so daß auch eine interne Reintegration vor ganz neuen Aufgaben steht. Das kaum zu übersehende Faktum, daß unter den heutigen Anhängern (ganz abgesehen von der ständig wachsenden Zahl der ,Dissidenten'!) Reiner Rechtslehre — man ist versucht zu sagen „Gottlob" ! — beträchtliche Auffassungsunterschiede bestehen, läßt alle diejenigen hoffen, die i n der internen und externen Neuorientierung und Reintegration der schon erarbeiteten und noch zu erarbeitenden Detaileinsichten die heutige Aufgabe rechtswissenschaftlicher Grundlagenforschung erblikken. Denn wenn die gegenwärtige Lage in der Entwicklung der Reinen Rechtslehre wirklich so ist, wie es hier angedeutet wurde, dann w i r d für jeden Anhänger welcher Spielart Reiner Rechtslehre auch immer eine Bestimmung des Standorts unvermeidlich, auf dem die von i h m betriebene Form ,reiner' Jurisprudenz heute steht. Was damit fällig wird, ist eine tiefgreifende Revision des Selbstverständnisses der Reinen Rechtslehre. Diese Aufgabe ist aber nicht mein Problem, sondern kann nur von den Vertretern und Anhängern der Reinen Rechtslehre selbst geleistet werden. Die Frage, ob bislang nicht gerade die österreichischen K r i t i k e r und Dissidenten der Reinen Rechtslehre diejenigen sind, welche sie überhaupt (vielleicht sogar unter persönlichen Opfern!) am Leben gehalten haben und auch für Außenstehende bis auf den heutigen Tag interessant machen, steht dabei auf einem ganz anderen Blatt. Sie erscheint m i r vor allem wegen ihrer universellen Implikationen höchst bedenkenswert, weil jede Theorie des Rechts, die unter der Geltung welcher Rechtsordnung auch immer in die — ganz und gar nicht beneidenswerte! — Lage geraten ist, gleichsam zur staatstragenden, alleinherrschenden oder doch dominierenden Schulrichtung zu werden, aufgrund der i m Laufe der Zeit schwer vermeidbaren Kanoni88 Das gilt auch für die Reine Rechtslehre Kelsens selbst, der sich i n seinem posthum veröffentlichten Spätwerk so w e i t von seinen heute schon klassischen Anfängen entfernt hat, daß Weinberger, Normentheorie als Grundlage der Jurisprudenz u n d E t h i k (N. 40), S. 6 m i t Recht mutmaßt, die „neue K o n zeption der Normen" werde eine tiefgreifende „Transformation des Gedankengebäudes der Reinen Rechtslehre" nach sich ziehen. 89 Hierzu m e r k t : Kazimierz Opalek, Überlegungen zu Hans Kelsens „ A l l gemeiner Theorie der Normen", W i e n 1980, S. 11 f. et passim kritisch an, daß Kelsen nicht n u r die „realistischen Theorien . . . k a u m berücksichtigt" habe, sondern auch „über die Standpunkte der älteren u n d neueren rechtssoziologischen Literatur" geradezu ein „totales Stillschweigen" herrsche. Dies mußte i n der Tat „zu einer unbegründeten Verengung" der Kelsenschen Normentheorie führen.
373
Reinheit der Rechtslehre als Ideologie? sierung
ihrer
Problemstellungen
und
Problemlösungen,
die schließlich
mehr oder weniger gewohnheitsgemäß akzeptiert werden, i m Hinblick auf ihre potentiellen Anhänger in die Gefahr gerät, einen Bewußtseins filhrungsanspruch geltend zu machen, der — verglichen mit den intellektuellen Opfern, welche eine sozial etablierte Ideologie ihren Adressaten abverlangt — nicht nur ähnlich schwer erträglich, sondern auch für die Wissenschaftsentwicklung kaum weniger hinderlich w i r k t . Ein derartiges Hindernis erblicke ich vor allem darin, daß rechtstheoretische Denkgewohnheiten und vermeintlich gelungene analytische Leistungen in der Folge als bleibende Errungenschaft und deshalb schlechthin als gesichert angesehen werden, so daß sie vermeintlich gar nicht mehr i n Frage gestellt zu werden brauchen.
4. Relation zwischen Rechtssystem und Rechtswissenschaftssystem Die Beantwortung der Frage, in welcher Weise die Wirklichkeit des Rechtssystems und der mit ihm befaßten Rechtswissenschaft, insbesondere der Rechtstheorie, durch die Reine Rechtslehre selbst reflektiert wird, hängt naturgemäß davon ab, von welcher Theorie des Rechts bzw. der Rechtswissenschaft man ausgeht. Angesichts der Tatsache, daß die Reine Rechtslehre selbst wegen ihrer durch das Reinheitspostulat und seine allzu konsequente 90 Verfolgung bedingten, heute deutlichen Defizite auf diese Frage bislang keine zufriedenstellende 91 Antwort zu bieten vermochte, erscheint es zunächst einmal vonnöten, die standortbedingten Hemmnisse zu analysieren, welche die Reine Rechtslehre bis auf den heutigen Tag an einer adäquaten Ausarbeitung der Fragestellung gehindert haben. Ferner dürfte es darauf ankommen, der Einsicht den Weg zu bereiten, daß eine Theorie des Rechts sich selbst heute nicht mehr ausschließlich als Theorie eines besonderen Systems, eben des Rechtssystems, begreifen kann. Jede Systemanalyse, welche die Realität des Rechts und der Rechtswissenschaft selbstkritisch zu reflektieren sucht, ist vielmehr darauf angewiesen, ihre Überlegungen nicht nur auf das Rechtssystem bzw. auf das Rechtswissenschaftssystem zu beziehen, als dessen Teil sie sich selbst begreift, sondern auch auf das beide umfassende Gesellschaftssystem. Jedoch vermag erst eine Einsicht i n 90 Selbst ein so besonnener, stets differenzierender K r i t i k e r wie Opalek, ebd., S. 10 f., spricht jetzt ganz offen davon, daß auch die „generell kritische Einstellung Kelsens" diesen nicht davor bewahrt habe, i m Verlaufe der Jahre für sich die „Überzeugung von der ausschließlichen Richtigkeit der Reinen Rechtslehre" zu entwickeln. 91 Schwerpunkt der K r i t i k ist für: Opalek, ebd., S. 15 die „Nichtberücksichtigung der Problematik der verschiedenen sozialen Normen außer den Rechts- u n d Moralnormen, der Normen, m i t denen sich die soziologischen Richtungen, aber auch manche A n a l y t i k e r , befaßten".
Werner Krawietz
374 die bestehende Relation
von
Rechtssystem
und
Rechtswissenschafts-
system zu einer adäquaten Problembehandlung zu führen. Auch stellt sich die Frage, wie die augenscheinlich bestehenden Interdependenzen zwischen Rechtssystem und Rechtswissenschaftssystem, das heißt das Verhältnis ihrer wechselseitigen Abhängigkeit voneinander, zu denken ist. 4.1. Standortbestimmung der Reinen Rechtslehre im Rechtswissenschaftssystem Schon ein flüchtiger Blick auf das Rechtswissenschaftssystem der modernen Gesellschaft läßt erkennen, daß auf der Ebene der Rechtstheorie eine entmutigende Fülle und Vielfalt miteinander konkurrierender Auffassungen existiert. Jedoch gibt es i n der Rechtstheorie der Gegenwart bei aller Vielfalt der vertretenen Schulrichtungen, abgesehen von der marxistischen Rechtstheorie, heute i m wesentlichen zwei Haupt Strömungen, die zu recht unterschiedlichen Deutungen der Relation zwischen Rechtssystem und Rechtswissenschaftssystem gelangt sind. Die erste dieser beiden großen Entwicklungsrichtungen läßt sich ganz eindeutig als analytisch-normative Jurisprudenz charakterisieren 9 2 . Ich verwende dabei den Ausdruck Jurisprudenz als Synonym für allgemeine Rechtslehre oder Rechtstheorie (General Jurisprudence, Legal Theory) 9 3 , während normativ hier bedeutet, daß Gegenstand der rechtstheoretischen Analyse nur Rechtsnormen bzw. Systeme von Rechtsnormen sind. Demgegenüber kann die zweite Entwicklungsrichtung ihrem wesentlich anderen Schwerpunkt nach wohl am ehesten als normativ-realistische Jurisprudenz bezeichnet werden, weil sie alles i n Rechtstexten verbriefte Recht nicht auf den Rechtstext und seine normative Bedeutung reduziert, sondern das Recht bzw. das Rechtssystem zugleich als (mehr oder weniger) autonom, aber auch als durchgängig abhängig begreift vom jeweiligen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kontext und infolgedessen den Gegenstandsbereich der Rechtst h e o r i e auf die Analyse
des Rechts
in seinem
jeweiligen
gesellschaft-
lichen Kontext erstreckt. Zu den Spielarten dieser realistischen Jurisprudenz gehören nicht nur der amerikanische 94 und der skandinavische 95 , sondern auch der westdeutsche 96 Rechtsrealismus, der anfäng92 Z u ihrer Entwicklung: Krawietz, Juristische Entscheidung u n d wissenschaftliche Erkenntnis (N. 5), S. 86 ff., 97 ff. 93 Eingehend zur begrifflichen Bestimmung jetzt: John D. Finch, I n t r o duction to Legal Theory, 3. Aufl., London 1979, S. 1 f. 94 Gerhard Casper, Juristischer Realismus u n d politische Theorie i m amerikanischen Rechtsdenken, B e r l i n 1967. 95 Hans-Heinrich Vogel, Der skandinavische Rechtsrealismus, F r a n k f u r t am M a i n 1972. 98 Krawietz, Rechtssystem u n d Rationalität (N. 65), S. 330 f.
Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?
875
lieh vor allem als soziologische Jurisprudenz bzw. als Interessen- und Wertungsjurisprudenz in Erscheinung trat. Es bestünden wohl keinerlei Bedenken, die Reine Rechtslehre der Wiener und der Brünner rechtstheoretischen Schule ausschließlich als eine Form analytisch-normativer Jurisprudenz zu begreifen 97 , hätte nicht Kelsen selbst die von ihm propagierte Reine Rechtslehre als eine „radikal realistische Rechtstheorie" 98 verstanden. Diese Selbsteinschätzung seiner Rechtslehre ist sicherlich zutreffend, soweit es Kelsen darum geht, im Verhältnis zum Naturrecht und der Naturrechtslehre als einer „metaphysischen Rechtstheorie" allein das „wirkliche" Recht, d. h. das „von menschlichen Akten gesetzte, i m großen und ganzen angewendete und befolgte Recht" zum Gegenstand einer insoweit durchaus „realistischen Rechtslehre" zu machen 99 . I n der Tat ist Kelsen insofern ein Vertreter des Rechtsrealismus, der sich aufgrund seines an der Positivität allen Rechts orientierten Rechtsbegriffs stets ganz strikt dagegen ausgesprochen hat, ein Naturrecht metaphysisch-spekulativer Provenienz noch als Recht zu begreifen. Dies gilt jedoch nur bezüglich der Stoßrichtung seiner Theorie des Rechts gegenüber der von i h m bekämpften Naturrechtslehre. Was hingegen das Verhältnis seiner ,reinen' gegenüber einer soziologischen Rechtslehre bzw. Rechtstheorie angeht, so kann Kelsen aufgrund der geradezu antisoziologischen Orientierung seiner „Theorie des positiven Rechts" keineswegs als Rechtsrealist angesehen werden. Zwar wollte Kelsen durchaus das „wirkliche" Recht darstellen „so wie es ist" und fragte infolgedessen ausschließlich „nach dem wirklichen und möglichen" Recht 1 0 0 , doch hinderte ihn gerade das vorbehaltlos i n den Dienst seiner Wahrheitserkenntnis gestellte, von i h m propagierte Reinheitspostulat daran, die Rechtswirklichkeit bzw. die soziale Wirklichkeit des Rechts so zu erkennen, wie sie sich einer realistischen Rechtstheorie i n Wirklichkeit darstellt. Wegen der dezidiert antisoziologischen Orientierung seiner Theorie des Rechts muß Kelsen als erklärter Gegner einer normativrealistischen Jurisprudenz angesehen werden. Geht man davon aus, daß die in der österreichischen Jurisprudenz wohl noch immer dominierende, sehr weitgehend auch i n der juristischen Entscheidungspraxis wirksame Reine Rechtslehre jedenfalls i n 97 Nach Auffassung von: Ota Weinberger, Die Bedeutung der Brünner Schule der Reinen Rechtslehre für die E n t w i c k l u n g der Normenlogik, in: Kubes / Weinberger, Die Brünner rechtstheoretische Schule (N. 34), S. 33 - 49, 34 f. erfüllt die „Reine Rechtslehre (Wiener u n d Brünner Schule) das Ideal der analytischen Jurisprudenz am vollkommensten". 98 Kelsen, Reine Rechtslehre (N. 12), S. 112. 99 Ders., ebd., S. 111 f., 208, 403. 100 Ders., ebd., S. 112.
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Werner Krawietz
Österreich noch immer als vorherrschende rechtstheoretische „Wissensform" (Max Scheler) anzusehen ist, dann dürfte es heute vor allem darauf ankommen, die Reine Rechtslehre sehr viel stärker als bisher von ihren Voraussetzungen und ihren Folgen, von ihren Ergebnissen und ihren Wirkungen, aber auch von ihren Defiziten her zu analysieren und zu beurteilen, wobei vor allem die nicht geplanten, gar nicht beabsichtigten Wirkungen mit ihren Neben- und Folgewirkungen i n die Analyse einzubeziehen sind. Es geht dabei wohlgemerkt nicht u m eine Rekonstruktion der expliziten Selbstdeutungen und des Selbstverständnisses der Reinen Rechtslehre, sondern u m eine Analyse des Wirkungszusammenhanges, i n dem die Reine Rechtslehre heute steht. Während die Analyse der manifesten, offen zutage liegenden Funktionen und Wirkungen der Reinen Rechtslehre durch die erforderliche Neubestimmung des Verhältnisses zwischen der Wiener und der Brünner rechtstheoretischen Schule in jüngster Zeit nachhaltig gefördert worden ist 1 0 1 , steckt eine Untersuchung ihrer latenten, von ihr selbst weder bezweckten noch beabsichtigten, ja vielleicht gar nicht einmal mit Bewußtsein wahrgenommenen Funktionen und Folg e Wirkungen noch ganz in den Anfängen. Die Frage nach der Relevanz der Reinen Rechtslehre für die künftige Entwicklung der Rechtstheorie läßt sich jedoch nur dann zureichend beantworten, wenn auch diese bislang völlig unterbelichteten Problemzusammenhänge in die kritische Reflexion einbezogen werden. 4.2. Interdependenzen zwischen Rechtssystem und Rechtswissenschaftssystem Jeder Versuch, die Reine Rechtslehre i m tatsächlich gegebenen W i r kungszusammenhang von ihren Voraussetzungen, Ergebnissen und Wirkungen her zu beurteilen, läuft über kurz oder lang auf die Frage hinaus, ob sie überhaupt dazu i n der Lage ist, ihrem eigenen Anspruch gerecht zu werden, mehr zu bieten als bloß die Theorie einer besonderen Rechtsordnung, nämlich des staatlich organisierten Rechtssystems der Bundesrepublik Österreich, von dem sie dann als abgelesen und gleichsam abgezogen erschiene, gewonnen i m Wege der Abstraktion und wieder angewandt auf ihr Materialobjekt, von dem sie ausging. Es geht somit u m die Frage, ob die Reine Rechtslehre überhaupt i n der Lage ist, „jedes beliebige Recht", das heißt alles und jedes besondere, gegebene Recht zu deuten, indem sie die „theoretische Grundlage für jede auf ein besonderes Recht oder besondere Rechtsinstitutionen gerichtete Betrachtung" bereitstellt 1 0 2 . Es kann keinem Zweifel unterlie101 Hierzu v o r allem: Ota Weinberger , Klassische u n d neue Reine Rechtslehre: pro u n d kontra, in: ders., Normentheorie als Grundlage der Jurisprudenz und E t h i k (N. 40), S. 168 ff.
Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?
377
gen, daß die Reine Rechtslehre eine in diesem Sinne „allgemeine" Rechtslehre sein „ w i l l " , da Kelsen diesen Universalitätsanspruch expressis verbis selbst angemeldet hat 1 0 3 . Die Frage, ob bzw. inwiefern die Reine Rechtslehre diesen Universalitätsanspruch auch wirklich einzulösen vermag, steht jedoch auf einem ganz anderen Blatt. Wer danach fragt, ob die am Fall der österreichischen Rechtsordnung und der zugehörigen Rechtslehre exemplarisch gewonnenen, grundlegenden Einsichten i n die Struktur und Funktion des österreichischen Rechts sich über diesen besonderen Fall hinaus verallgemeinern lassen, stellt nicht bloß die Funktion und Leistungsfähigkeit der Reinen Rechtslehre in Frage. Er w i r f t die sehr viel weiterreichende Frage auf nach einer Übertragbarkeit der Reinen Rechtslehre, das heißt die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten, unter denen die ,Reine4 Rechtslehre mit ihren Ergebnissen und Deutungen auch auf andere als die besonderen Probleme der österreichischen Rechtsordnung übertragen werden kann, nämlich auf die sub specie functionis vergleichbaren Strukturprobleme staatlich organisierter Rechtssysteme schlechthin sowie auf die i n Wirklichkeit zwischen ihnen bestehenden Intersystembeziehungen. Begreift man ferner auch die Rechtswissenschaft und die innerhalb derselben betriebene ,allgemeine 4 Rechtslehre oder Rechtstheorie als mehr oder weniger eigenständige soziale Handlungssysteme, welche in ihrem jeweiligen Erkenntnisstreben und wissenschaftlichen Zweckhandeln eine relative Autonomie erlangen, so stellt sich darüber hinaus die Frage nach den tatsächlich wirksamen Beziehungen und Interdependenzen zwischen dem Rechtssystem und seinen Systemteilen einerseits und dem hierauf reflektierenden Rechtswissenschaftssystem andererseits. Innerhalb des letzteren sind i m Hinblick auf die vielschichtige Problematik einer Übertragbarkeit der Reinen Rechtslehre mindestens drei Systemebenen zu unterscheiden, innerhalb welcher die Rechtswissenschaft unter durchaus unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedingungen operiert und auf die Eigenart des Rechtssystems reflektiert, nämlich (i) die Ebene dogmatischer Rechtswissenschaft, (ii) die Ebene der ihr zugehörigen juristischen Methodenlehre und (iii) die Ebene der allgemeinen 4 Rechtslehre oder Rechtstheorie 104 . Gegenwärtig dürfte in der Frage nach einer Übertragbarkeit der Reinen Rechtslehre auf die Erkenntnisprobleme, welche sich der Rechtswissenschaft auf 102 Hans Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre? In: Klecatsky / Marcie / Schambeck (Hrsg.), Die Wiener rechtstheoretische Schule (N. 33), S. 611 -629, 611 f. 103 Kelsen, ebd., S. 611. 104 Zur Unterscheidung dieser drei Ebenen oder Levels einer Theoretisierung des Rechtsdenkens: Krawietz, Z u m Paradigmenwechsel i m Juristischen Methodenstreit (N. 36), S. 114 f.; ders., Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis (N. 5), S. 200 ff., 222 ff., 224 f.
Werner Krawietz
378
allen drei Ebenen stellen, nur dann v/eiterzukommen sein, wenn man sich entschließt, sehr viel deutlicher als bisher zu unterscheiden zwischen (a) dem Praxisbezug und der Anwendbarkeit der Reinen Rechtslehre, (b) der praktischen Brauchbarkeit der Reinen Rechtslehre und (c) dem Wirkungszusammenhang der Reinen Rechtslehre. D e r selbstbescheinigte Praxisbezug
der Reinen
Rechtslehre,
der d a r i n
zu erblicken ist, daß sie sich gerade als allgemeine Rechtslehre stets zugleich auch als komplementär zur jeweiligen besonderen Rechtslehre (Rechtsdogmatik) begreift, gehört zu den primären Startplausibilitäten jeder Theorie des Rechts, weil ohne diesen immer zu postulierenden Praxisbezug jeder Bezug zur Rechtspraxis wie zur praktischen Rechtswissenschaft verloren ginge. Jedoch gewährleistet er als solcher weder die Praxisrelevanz der Reinen Rechtslehre noch ihren ausreichenden Theorzebezug, w e i l durch die Fragmentierung der Jurisprudenz in eine besondere
und eine allgemeine
Rechtslehre
eine zusätzliche theoretische
V e r m i t t l u n g des Verhältnisses von Rechtswissenschaft bzw. Rechtstheorie und Rechtspraxis f ä l l i g 1 0 5 wird, deren Gelingen nicht zuletzt von einer realistischen Problemsicht des gesellschaftlichen Wirkungszusammenhanges abhängig ist, i n dem Rechtswissenschaft und Rechtspraxis interagieren 1 0 6 . Demgegenüber impliziert die Frage nach der Anwendbarkeit bzw. der Brauchbarkeit der Rechtstheorie oder allgemeinen Rechtslehre, insbesondere der Reinen Rechtslehre, die — i n dieser Vereinfachung gar nicht zutreffende — Annahme, w i r wüßten bereits mehr oder weniger gut Bescheid darüber, welche Leistungen diese Rechtstheorie tatsächlich zu erbringen vermag. Diese Annahme ist aber i n Wirklichkeit gar nicht zutreffend. Es dürfte daher darauf ankommen, k ü n f t i g zwischen der Frage nach der Anwendbarkeit der Reinen Rechtslehre und derjenigen nach ihrer Brauchbarkeit zu unterscheiden und beide Fragestellungen einer vorgängigen getrennten Untersuchung zu unterziehen. Während es sich bei der Frage nach der Anwendbarkeit der Reinen Rechtslehre u m die Bedingungen und Möglichkeiten einer genau definierten und begrenzten Übertragung von Erkenntnissen der ,reinen' Rechtslehre auf die Jurisprudenz (dogmatische Rechtswissenschaft, praktische Rechtswissenschaft, besondere Rechtslehre) und auf die zugehörige juristische Methodenlehre handelt, geht es bei der Frage nach der Brauchbarkeit der Reinen Rechtslehre darum, zu welchen praktischen Entscheidungsergebnissen ein derartiger Wissenstransfer i n der Rechtspraxis zu führen vermag. Ich möchte mich hier auf die Vermu105 Ders. f Juristische S. 205 ff., 211 ff. 106
Ders., ebd., S. 72 f.
Entscheidung
und
wissenschaftliche
Erkenntnis,
Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?
379
tung beschränken, daß die Anwendbarkeit der Reinen Rechtslehre für die praktische Rechtswissenschaft sowie ihre Brauchbarkeit für die Entscheidungspraxis i m staatlich organisierten Rechtssystem grundsätzlich durchaus bejaht werden können, doch lassen sich beide Fragen jeweils für sich zureichend nur dann beantworten, wenn man — was den tatsächlichen Wirkungszusammenhang angeht, i n dem die Reine Rechtslehre heute steht! — auf die überaus vielschichtigen gesellschaftlichen Bezugsprobleme allen Rechts abstellt. Unter diesem Vorzeichen dürfte freilich eher ein Anwendbarkeitsdefizit der Reinen Rechtslehre zu vermuten sein, weil sie aufgrund ihrer Bindung an das Reinheitspostulat in rechtsdogmatischer, methodologischer wie i n rechtstheoretischer Hinsicht die gesellschaftlichen Bezüge in ihrer Theorie des Rechts weitgehend ignoriert. Erforderlich erscheint deshalb eine Neukonzeption
der Anwend.barkeitsproblematik
von Rechtstheorie ,
welche
ihre allgemeinen Lehren auch auf die besonderen Probleme anzuwenden sucht, die jedes staatlich organisierte Rechtssystem und das in ihm in Geltung gesetzte Recht ihr aufgeben. I n der Tat läßt sich die Frage nach der Anwendbarkeit bzw. der Brauchbarkeit einer Theorie des Rechts — und damit auch der Reinen Rechtslehre! — jeweils nur i m Hinblick und mit Bezug auf ein bereits etabliertes staatlich organisiertes Rechtssystem beantworten, das sich in der jeweiligen Regionalgesellschaft als Subsystem entwickelt hat. Jedoch sollte diese Frage i n einer A r t und Weise behandelt werden, welche alle Rechtstheorie (und mit ihr die Reine Rechtslehre) nicht bloß als eine sozialtechnologische Hervorbringung begreift, sondern sie zugleich als eine Deutung von Wissen über das Recht und sich selbst thematisiert. Der hier angestellte Versuch, die Reine Rechtslehre von ihrem W i r kungszusammenhang her zu begreifen, wendet sich somit gegen die Verengung
der
Wirkungsfrage
auf
bloße
Anwendungsprobleme.
Eine
umfassende Analyse der Wirkungszusammenhänge, i n denen die Reine Rechtslehre heute steht, erscheint auch deswegen geboten, u m zu verhindern, daß der Zusammenhang zwischen dem staatlich organisierten Rechtssystem und dem Rechtswissenschaftssystem bzw. der rechtswissenschaftlichen Perspektive der Reinen Rechtslehre mit ihren Folgen, Nebenfolgen und sonstigen Auswirkungen für die Gesellschaft nur als eine bipolare Wechselbeziehung zwischen rechtlicher Erkenntnis und rechtspraktischem Anwendüngshandeln in Erscheinung tritt. Es geht auch nicht mehr an, sich mit einem in Statik und Dynamik zerlegten Rechtsdenken zu begnügen, welches das Recht abwechselnd „ i n seinem Ruhezustand" bzw. i m Prozeß „seiner Bewegung" betrachtet und deshalb, wie die Reine Rechtslehre es tut, „eine statische und eine dynamische Theorie des Rechts unterscheiden" möchte 107 . Vielmehr kommt 107
Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 72 ff.
380
Werner Krawietz
es darauf an, die spezifischen Hindernisse und Schranken zu erkennen, die einer Übertragbarkeit der Reinen Rechtslehre noch immer entgegenstehen. Es ist nicht meine Absicht, im folgenden für alle drei Ebenen jeweils getrennt die vielschichtige Problematik einer Übertragbarkeit der Reinen Rechtslehre auszuarbeiten. Ich muß mich hier mit der zugegebenermaßen recht summarischen Feststellung begnügen, daß sich auf allen drei Ebenen durchaus ebenenspezifische Hindernisse ausmachen lassen, die einer Übertragbarkeit der Reinen Rechtslehre mehr oder weniger entgegenstehen. Was den Wirkungszusammenhang der Reinen Rechtslehre i m österreichischen bzw. i m westdeutschen gesellschaftlichen Kontext angeht, so wurzeln diese Hemmnisse und Schranken einer Übertragbarkeit der Reinen Rechtslehre auf allen drei Ebenen rechtlichen Denkens und Argumentierens, wie ein Theorievergleich zu zeigen vermag, i m österreichischen Rechtsdenken nach meinem Eindruck vor allem i n der Aufrechterhaltung der längst überständigen Verbindung
von
Reinheitspostulat
und
juristischem
Positivismus,
die
einer realistischen Einschätzung des wechselseitigen Zusammenhanges entgegensteht, welcher zwischen dem staatlich organisierten Rechtssystem und der seine vielstufige Entscheidungspraxis vorbereitenden und kontrollierenden Rechtswissenschaft i m gesellschaftlichen Kontext nun einmal besteht. Demgegenüber w i r d das westdeutsche Rechtsdenken spätestens seit dem Übergang zu der heute i n Rechtspraxis und praktischer Rechtswissenschaft vorherrschenden Interessen- und Wertungsjurisprudenz in seinen rechtstheoretischen Grundauffassungen nachhaltig bestimmt und geprägt von einem durchaus schon nachpositivistischen Rechtsrealismus, der mit den methodologischen und rechtstheoretischen Forderungen der Reinen Rechtslehre sehr weitgehend nicht mehr kompatibel ist. Abhilfe zu schaffen vermag hier nur ein Vorgehen, das alle Rechtstheorie von vornherein einzubetten sucht in eine mit wechselnden Systemreferenzen operierende Rahmentheorie des Rechts und der Gesellschaft, welche die laufende Entwicklung bzw. die Evolution des Rechts und der Rechtswissenschaft bei aller Vielfalt der wechselseitigen Wirkungsbeziehungen i n ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext systemtheoretisch zu deuten vermag.
5. Systemtheoretische Rekonstruktion des Verhältnisses von Rechtssystem und Rechtswissenschaftssystem Ausgangspunkt einer systemtheoretischen Rekonstruktion, die Auskunft darüber zu geben vermag, in welcher funktionellen Beziehung das staatlich organisierte Rechtssystem und das zugehörige Rechtswissenschaf tssy stem innerhalb des beide umfassenden, wenn auch jeweils
Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?
381
bloß r e g i o n a l e n Gesellschaftssystems i m V e r h ä l t n i s z u e i n a n d e r stehen, h a t auszugehen v o n d e m Faktum der Selbstreferenz dieser Systeme, das h e i ß t v o n der Tatsache, daß s o w o h l das Rechtssystem als auch das Rechtswissenschaftssystem n i c h t bloß als eine S t r u k t u r des s u b j e k t i v e n B e w u ß t s e i n s oder als eine S t r u k t u r menschlicher E r k e n n t n i s zu b e g r e i f e n s i n d 1 0 8 , s o n d e r n i n der gesellschaftlich schon g e o r d n e t e n R e a l i t ä t m i t e i n e r j e w e i l s s p e z i a l i s i e r t e n F u n k t i o n als soziale Systeme menschlichen Erlebens und Handelns e x i s t i e r e n 1 0 9 , die sich m i t i h r e n j e w e i l i g e n O p e r a t i o n e n (des p o l i t i s c h - r e c h t l i c h e n Entscheidens b z w . des w i s s e n schaftlichen E r k e n n e n s ) stets z u g l e i c h n i c h t bloß auf i h r e U m w e l t , sond e r n auch auf sich selbst beziehen, w e i l sie n u r a u f g r u n d dieses Selbstk o n t a k t e s u n d nach Maßgabe der I n t e r a k t i o n m i t T e i l e n i h r e r s y s t e m eigenen O r d n u n g s s t r u k t u r auf i h r e U m w e l t zu r e a g i e r e n v e r m ö g e n 1 1 0 . Das Rechtssystem wie das Rechtswissenschaftssystem fungieren somit als selbstreferenzielle Systeme. I n d e m Maße, i n d e m sich, w i e h i e r i m V e r h ä l t n i s v o n Rechtssystem u n d Rechtswissenschaftssystem, ein selbstreferenzielles S y s t e m auf e i n anderes selbstreferenzielles S y s t e m r i c h t e t , h a b e n w i r es b e i d e r soziologischen R e k o n s t r u k t i o n der wechselseitigen I n t e r s y s t e m b e z i e h u n g e n auf beiden Seiten dieses V e r h ä l t nisses m i t d e m sozialen P h ä n o m e n der Selbstreferenz zu t u n . E i n e Theorie des Rechts, die sich selbst systemtheoretisch als Theorie selbstreferenzieller Systeme b e g r e i f t , m u ß d a h e r diese Verdopplung der 108 Das verkennt die K r i t i k an der soziologischen Systemtheorie, insbesondere an derjenigen Niklas Luhmanns. Diese K r i t i k sucht die normative S t r u k t u r des rechtlichen Sinns i r r i g am subjektiven Bewußtsein bzw. an der symbolisch vermittelten, das heißt auf sprachliche Zeichen reduzierten, rationalen Erkenntnis des Subjekts festzumachen, w i e beispielsweise Andreas Zielcke, Die symbolische Natur des Rechts, B e r l i n 1980, S. 9 ff., 33 ff., anstatt den stets sozial konstituierten rechtlichen Sinn am n o r m a t i v gesteuerten Sozialverhalten abzulesen und als soziale Systemleistung zu begreifen, das heißt als eine normativ wirksame S t r u k t u r von Gesellschaft. 109 Zur Unterscheidung zwischen bloß symbolischen Zeichensystemen und sozialen Handlungssystemen: Herbert Hirsch / M. Donald Hancock, Legislative Systems: Legislatures i n Systemic Perspective, in: dies. (Hrsg.), Comparative Legislative Systems, New Y o r k - London 1971, S. 1 - 20, 2 f.; Niklas Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechtssystems, in: RECHTSTHEORIE 7 (1976), S. 121 - 135; Lawrence M. Friedman, The Legal System: A Social Science Perspective, New Y o r k 1975, jetzt auch i n deutscher Sprache unter dem Titel: Das Rechtssystem i m Blickfeld der Sozialwissenschaften, B e r l i n 1981. 110 Die systemtheoretische Grundlegung einer Theorie selbstreferenzieller Systeme, insbesondere i m Hinblick auf das Rechtssystem bzw. das Rechtswissenschaftssystem bietet: Niklas Luhmann, Subjektive Rechte: Z u m U m bau des Rechtsbewußtseins für die moderne Gesellschaft, in: ders., Gesellschaftsstruktur u n d Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, F r a n k f u r t a. M. 1981, Bd. 2, S. 45 - 104, 102 ff.; ders., Selbstreferenz und Teleologie i n gesellschaftstheoretischer Perspektive, ebd., S. 9 bis 44, 29 ff., 36 ff. Hierzu i m Anschluß an L u h m a n n auch: Krawietz, Zur Struktur von Entwicklung und Fortschritt i n der Rechtstheorie (N. 67), S. 344 f.
382
Werner Krawietz
Selbstreferenz i n Betracht ziehen. Sie zieht ihrerseits eine Reihe von methodologischen und epistemologischen Folgeproblemen nach sich, die in der Theorie des Rechts bislang kaum erkannt, geschweige denn adäquat ausgearbeitet sind 1 1 1 . Beispielsweise müßte i m Rahmen der Selbstreflexion, die i m Rechtswissenschaftssystem auf den unterschiedlichen Systemebenen stattfindet 1 1 2 , zugleich eine Reflexion darauf geleistet werden, daß auch die Operationen innerhalb des staatlich organisierten Rechtssystems ihrerseits selbstreferenziell erfolgen, weil über die i m System der Rechtsprechung erfolgende Produktion kollektiv bindender präjudizieller Entscheidungen nur unter Bezugnahme auf Entscheidungen entschieden werden kann, über die vorgängig im Regierungs- und Verwaltungssystem sowie i m Gesetzgebungssystem als den hierfür gleichfalls mit einem funktionellen Teilbeitrag zuständigen Systemteilen bzw. Teilsystemen des staatlichen, das heißt auf der Grundlage der Staatsverfassung organisierten Rechtssystems in arbeitsteiligem Zusammenwirken entschieden wurde. Ferner muß bei allen selbstreferenziellen Systemen auch i m Hinblick auf die für das Rechtssystem wie für das Rechtswissenschaftssystem bestehenden jeweiligen System/Umwelt-Beziehungen unterschieden werden zwischen interner
b z w . externer
Inter dependenz.
D i e S e l b s t s t e u e r u n g des Rechts-
systems wie die Selbststeuerung des Rechtswissenschaftssystems können als Systemfunktionen nur dadurch gewährleistet werden, daß diese als selbstreferenzielle soziale Systeme alle i m Kontakt mit ihrer jeweiligen Umwelt erfolgenden Operationen stets zunächst im Selbstkontakt, das heißt über Interaktionen mit Teilen ihrer systemeigenen Ordnung und demzufolge über interne Interdependenzen zwischen derartigen Systemteilen bzw. Teilsystemen hinweg, steuern. Jedoch ist bisher eine zureichende Reflexion auf die Autonomie des Rechtssystems wie des Rechtswissenschaftssystems vor allem dadurch behindert worden, daß das hier vorausgesetzte Selbstverständnis von Autonomie oder Selbststeuerung unter dem dominierenden Einfluß des juristischen Positivismus und des mit ihm verknüpften, von der Rechtswissenschaft in Theorie und Methode vertretenen Reinheitspostulats 113 den Zugang zu den 111
Eingehend hierzu: Luhmann, Selbstreferenz u n d Teleologie, ebd., S. 30 f. Ders., Selbstreflexion des Rechtssystems (N. 43), S. 161 ff. 113 Dies gilt nicht ohne weiteres auch für andere Spielarten analytischer Jurisprudenz, w i e beispielsweise für die Rechtstheorie v o n Herbert Hart und seiner Schule. I n seiner Auseinandersetzung m i t der analytischen Rechtstheorie Harts k o m m t beispielsweise Neil MacCormick, H. L. A . Hart, London 1981, Introduction S. 1 dem Problem der Selbstreflexion des Rechtssystems schon sehr nahe: "Juristic theories are available to, and tend to become part of the intellectual equipment of, those who have particular practical concerns i n the law. Jurists contribute to practical debates, practitioners contribute to jurisprudence. The law i n its practical w o r k i n g reflects practical men's understanding of law." Augenscheinlich hindert i h n jedoch die Be112
383
Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?
sozialen Bezugsproblemen selbstreferenzieller Prozesse versperrte, die sowohl i m Rechtssystem als auch i m Rechtswissenschaftssystem permanent stattfinden. 5.1. Autonomie des Rechtssystems bzw. Autonomie des Rechtswissenschaftssystems
A l l e m Anschein nach ist das Problem einer Autonomie
der
Jurispru-
denz bislang vor allem als Frage nach der Autonomie der Rechtswissenschaft behandelt worden, jedoch nicht als Frage nach der Autonomie des Rechtssystems selbst. So ging es in der rechtswissenschaftlichen Autonomiediskussion der 60er und 70er Jahre gegenüber allen äußeren Anfechtungen, die darauf hinausliefen, die Jurisprudenz als Fachwissenschaft in Frage zu stellen 1 1 4 , hauptsächlich darum, unter dem Stichwort A u t o n o m i e die Eigenständigkeit
besondere als normative
der Jurisprudenz
Fachwissenschaft
als Wissenschaft ,
ins-
zu etablieren 1 1 5 . Diese Eigen-
ständigkeit der Jurisprudenz wurde aus ihrem eigenen Gegenstand, den Normen des Rechts, abgeleitet und durch die ihr eigene Perspektive, Aufgabe, Methodik und Technik der juristischen Problembehandlung: die fallweise
Gewinnung
rechtlicher
Entscheidungsnormen,
begründet.
Infolgedessen konnte die Jurisprudenz ihre Autonomie letztlich auf die sachnotwendige Eigenständigkeit der rechtlichen Entscheidungspraxis stützen, doch wurden in der Reflexion verschiedene Strukturierungsebenen unterschieden. Die hier angestellten Reflexionen über die Identität des durch die Jurisprudenz geschaffenen und begründeten Rechtssystems führten zu einer recht eigentümlichen, hierarchisierenden Form der Problembehandlung 1 1 0 , aufgrund welcher die Jurisprudenz als die höchste Stufe und der eigentliche Ort der Autonomie erschien. Diese Autonomie war nämlich nur zu erreichen i m Wege eines stufenweisen fangenheit i m juristischen Positivismus daran, die konventionelle Problemsicht des Verhältnisses von Theorie und Praxis durch normativ-realistische Systemanalyse zu ersetzen. 114 Vgl. statt anderer: Karl Larenz, Über den Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft, in: Estudios Juridico — Sociales. Homenaje al Profesor Luis Legaz y Lacambra, Santiago de Compostela 1960, Bd. 1, S. 179 - 186; ders., Uber die Unentbehrlichkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, B e r l i n 1966 sowie als standhafte Rundum-Verteidigung gegen vermeintliche A n griffe: ders., Aufgabe u n d Eigenart der Jurisprudenz, in: Juristische Schulung 11 (1971), S. 449-455. 115 Hierzu vor allem: Uwe Diederichsen, Die Eigenständigkeit der Jurisprudenz, in: Horst Heinrich Jakobs u. a. (Hrsg.), Festschrift für Flume zum 70. Geburtstag, K ö l n 1978, Bd. 1, S. 283 - 300. 116 Anklänge hierzu finden sich schon i m 19. Jahrhundert i n der Unterscheidung zwischen einer niederen u n d einer höheren Jurisprudenz bei: Rudolph von Ihering, Der K a m p f ums Recht. Ausgewählte Schriften m i t einer Einleitung von Gustav Radbruch, hrsg. von Christian Rusche, Nürnberg 1965, S. 162 ff.
Werner Krawietz
384
Fortschreitens der Rechtserkenntnis über verschiedene Entscheidungsund Denkebenen hinweg 1 1 7 und angesiedelt auf der höchsten Stufe juristisch-fachlicher Reflexion i m Bereich einer genuin fachwissenschaftlichen Autonomie, innerhalb dessen die Jurisprudenz als Rechtswissenschaft vermeintlich gänzlich eigenständig waltet 1 1 8 . Unterscheidet man vom Standpunkt einer normativ-realistischen Betrachtungsweise allen Rechts und aller Rechtsgewinnung im Einzelfalle zwischen (1) dem praktischen Rechtsgeschehen i m Rahmen eines staatlich organisierten Rechtssystems, das heißt dem auf allen Stufen des Rechtssystems durch normative Rechtsregeln und ihre Anwendung gesteuerten praktischen rechtlichen Entscheidungsverhalten in dem weitest möglichen Sinne, der alle rechtlich bestimmten Kommunikationen des täglichen Lebens umfaßt, die gewöhnlich ohne Einschaltung der staatlichen rechtsanwendenden Entscheidungsbürokratie ablaufen, (2) dem rechtlichen Denken und Handeln der als Teil der staatlichen Entscheidungsbürokratie tätig werdenden, nach Maßgabe des geltenden Rechts im Einzelfalle entscheidenden Juristen sowie (3) der Jurisprudenz, soweit diese sich selbst als praktische Rechtswissenschaft, das heißt als eine auf Vorbereitung und Kontrolle der Rechtspraxis bedachte Wissenschaft vom Recht und seiner Anwendung begreift, so lassen sich diese unterschiedlichen Kommunikation ,
die mit
Bezugnahme
Bereiche auf
oder
das Recht
Ebenen
sozialer
f u n g i e r e n 1 1 9 , als
durchaus unterschiedliche, aber miteinander durch das Recht verbundene Kommunikationsebenen begreifen, die durch zwei Merkmale
cha-
rakterisiert werden, nämlich (i) durch die von Ebene zu Ebene abneh117 Dies k o m m t schon i m T i t e l zum Ausdruck bei: Rudolph von Ihering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner E n t w i c k lung, Leipzig 1858, Zweiter Theil, Zweite Abteilung, S. 334 ff., der seine Theorie der juristischen Technik u n d Methodik ganz bewußt als M i t t e l i n den Dienst eines stufenweise sich vollziehenden Erkenntnisfortschritts stellt. 118 Folgerichtig zieht für Ihering, Der K a m p f ums Recht (N. 116), S. 165 f., 175 ff. die Verwendung der juristischen Technik u n d Methodik zugleich die „Erhebung des Rechtsstoffes i n einen höheren Aggregatzustand" nach sich, doch ist die Jurisprudenz auf ihrer höchsten Entwicklungsstufe „hinsichtlich der künstlerischen Gestaltung des Stoffes v o l l k o m m e n frei, insofern i h m n u r i n der Form, die sie i h m verleiht, dieselbe praktische K r a f t verbleibt wie i n seiner bisherigen": „Diese Erhebung des Stoffs ist zugleich die Erhebung der Jurisprudenz selbst. Von einer Lastträgerin des Gesetzgebers, einer Sammlerin positiver Einzelheiten, schwingt sie sich auf zur freien Kunst u n d Wissenschaft; zu einer Kunst, die den Stoff künstlerisch bildet, gestaltet, i h m Leben einhaucht, zu einer Wissenschaft, die trotz des Positiven i n ihrem Gegenstande sich als Naturwissenschaft auf geistigem Gebiet bezeichnen läßt." 119 Dazu u n d zum folgenden neuerdings: Niklas Luhmann, K o m m u n i k a t i o n über Recht i n Interaktionssystemen, in: Erhard Blankenburg u. a. (Hrsg.), Alternative Rechtsformen und A l t e r n a t i v e n zum Recht, Wiesbaden 1980, S. 99 - 112, der eingehend belegt, daß u n d i n welchem Ausmaß alle menschliche K o m m u n i k a t i o n unter normativ gesetzten Prämissen verläuft.
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Reinheit der Rechtslehre als Ideologie? mende
gesellschaftliche
Abhängigkeit
der
stattfindenden
Kommunikationen und (ii) durch deren zunehmende
rechtlichen
Autonomie.
Als der eigentliche Garant der Autonomie rechtlicher Kommunikationen auf den unterschiedlichen Ebenen des Rechtssystems erscheint somit letztlich, sofern man diesen basalen Annahmen folgt, allein die Jurisprudenz. Vermöge der ihr eigenen juristischen Rationalität vermag scheinbar allein die Jurisprudenz zu gewährleisten, daß das Recht überhaupt verstanden wird, daß das Rechtsgeschehen auch auf der untersten rechtlichen Kommunikationsebene rationalen Regeln folgt, daß der rechtsanwendende Jurist zwar eigenverantwortlich, aber vor allem rational (und das heißt: nur relativ autonom!) entscheidet, weil er vermöge seiner rechtswissenschaftlichen Ausbildung nicht bloß über die notwendigen Rechtskenntnisse und rechtstechnischen Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügt, sondern vor allem durch die spezifisch j u ristische Rationalität geprägt wird, welche vermeintlich allein die Jurisprudenz als Wissenschaft durch die rechtswissenschaftliche Juristenausbildung vermittelt. Die Autonomie w i r d damit zu Unrecht nicht primär in der Autonomie des Rechtssystems selbst gesehen, das i m Rahmen seiner gesamtgesellschaftlichen Funktion wegen des Fehlens eines eindeutigen Steuerungszentrums einer mehr oder weniger organisierten Selbststeuerung breiten Raum gewährt, sondern in der Autonomie der Jurisprudenz erblickt, die als Wissenschaft gegenüber allen unteren Ebenen rechtlicher Kommunikation vermeintlich eine gleichsam überlegene juristische Rationalität besitzt und vermittelt. Die Autonomieproblematik w i r d damit fälschlich ihrem Schwerpunkt nach in das Wissenschaftssystem verlagert und i n der Wissenschaftlichkeit der Rechtsanwendung (Rechtspraxis) bzw. i n der Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz als solcher erblickt 1 2 0 . W i r d aber die Autonomie nicht auf das Rechtssystem als ganzes und auf seine gesamtgesellschaftliche Funktion bezogen, die sich nicht auf bloße Erwartungssicherung beschränkt, sondern vor allem in der Verhaltenssteuerung wirksam wird, 120 Zur Parallelproblematik des Verhältnisses von erzieherischer Praxis und Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft: Niklas Luhmann / Karl-Eberhard Schorr, Reflexionsprobleme i m Erziehungssystem, Stuttgart 1979, S. 109 ff., 123 ff., 338 ff., deren Einsichten i n die sozialstrukturellen Voraussetzungen einer Selbststeuerung des Erziehungssystems bzw. der Erziehungswissenschaft sich nach meiner Auffassung auch am Rechtssystem nachweisen lassen, w e i l die Selbststeuerung des Erziehungssystems sehr weitgehend durch das Rechtssystem v e r m i t t e l t w i r d . Eingehend zum Verhältnis von Erziehungssystem u n d Rechtssystem sowie zur prekären Problematik einer Ver rech tlichung des ersteren: Werner Krawietz, Politisierung oder Legalismus? Verfassungsrechtliche Bedingungen des Schul Verhältnisses i m Rechtsstaat, in: B i l d u n g R E A L 1/2 (1979) S. 32 - 51, 35 ff., 41 f., ders., Demokratisierung der Schulverfassung? Verfassungsrechtliche Grenzen einer Schulverfassungsreform. In: Arbeitsgruppe Freie Gesellschaft (Hrsg.), Politische B i l dung i m Umbruch, München 1976, S. 107 - 124, 109 ff.
25 R E C H T S T H E O R I E , B e i h e f t 4
Werner Krawietz
386
dann gerät die Problematik einer Selbststeuerung des Rechtssystems, an der auch das Rechtswissenschaftssystem m i t w i r k t , gar nicht voll i n den Blick. Es geht somit i m folgenden darum, das Problem der Autonomie des Rechtssystems als solchen i n systemtheoretischer Hinsicht neu zu formulieren, u m die Selbststeuerungseffekte besser zu erfassen, die vom Rechtssystem und vom Rechtswissenschaftssystem ausgehen und ihre Wirkung dadurch entfalten, daß sie sich wechselseitig beeinflussen und verstärken. 5.2. Organisation und Wissenschaft als Generatoren der Festlegung von rechtlichen Verhaltensprämissen
Die Autonomie des staatlich organisierten Rechtssystems wie diejenige des Rechtswissenschaftssystem kann zureichend weder erfaßt noch begriffen werden, wenn man ersteres auf das System von Rechtsnormen, letzteres auf das System von Aussagen über Rechtsnormen reduziert, wie der juristische Positivismus der Reinen Rechtslehre es tut. Eine rechtswissenschaftliche Analyse, die das i m staatlich organisierten Rechtssystem i n Geltung stehende Recht auf allen Ebenen des rechtlichen Stufenbaus nicht bloß nach Maßgabe einer analytisch-normativen Jurisprudenz behandelt, sondern die i m Rechtswissenschaftssystem institutionell auf Dauer gestellte Reflexion auf die Struktur allen Rechts und ihren eigenen Standort aus der Perspektive einer normativ-realistischen Betrachtungsweise betreibt, die i n ihrer Rechtsbetrachtung von der sozialen Funktion allen Rechts ausgeht, kann nicht umhin, die i m Rechtssystem wie i m Rechtswissenschaftssystem auftretenden Mehrebenenstrukturen unter dem Aspekt ihres jeweiligen Beitrags zur Selbststeuerung des staatlich organisierten Rechtssystems bzw. des Rechtswissenschaftssystems zu begreifen. Ausgangspunkt ist d a b e i die Differenz
zwischen
staatlich
organisiertem
Rechtssystem
und
Rechtswissenschaftssystem, die sich daraus ergibt, daß beide i n unserer Gesellschaft als mehr oder weniger autonome Funktionssysteme existieren, deren Miteinanderfungieren eine wechselseitige Orientierung und Abstimmung der beiderseitigen Kommunikationsleistungen erforderlich macht 1 2 1 . Es geht vor allem darum, nicht bloß die Trennung, sondern auch die Verknüpfung der verschiedenen Kommunikationsebenen zu erkennen, die durch eine rein rechtsimmanente bzw. rein logische Betrachtungsweise nicht zureichend erfaßt zu werden vermögen.
121 Hierzu u n d zum folgenden vor allem: Luhmann / Schorr, ebd., S. 125 ff., deren Überlegungen freilich auf das Erziehungssystem bzw. die Erziehungswissenschaft bezogen bleiben.
Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?
Systemtheoretisch betrachtet, gibt es zwei Möglichkeiten, durch Systembildung und arbeitsteiliges Zusammenwirken zur Festlegung von normativen, insbesondere von rechtlichen Verhaltensprämissen zu gelangen, nämlich (1) durch Organisation und (2) durch Wissenschaft. I n der Organisation, insbesondere i n der staatlichen Organisation und Entscheidungsbürokratie des Rechtssystems, geht es u m das Entscheiden über Entscheidungsprämissen, unabhängig davon, ob dieses Entscheiden durch Wissen gedeckt ist oder nicht, da i m Rechtssystem bei Beschreiten des Klageweges keinesfalls die Entscheidung verweigert werden darf (sogen. Entscheidungszwang). I n der Wissenschaft kommt es demgegenüber maßgeblich auf ein (hier nicht näher zu qualifizierendes) Wissen an 1 2 2 . Die Wissenschaft, insbes. die Rechtswissenschaft, befaßt sich m i t d e m Erkennen
der
rechtlichen
Verhaltensprämissen,
die — wenn sie i m Entscheidungswege gesetzt bzw. geändert werden — das Rechtsgeschehen in angebbarer Weise beeinflussen. Der Differenz zwischen
Organisation
und
Wissenschaft
entsprechend d i v e r g i e r e n
in
beiden Fällen auch die jeweiligen Operationsgrundlagen. Während i m Falle von Organisation alles Entscheiden auf politisch oder durch M i t gliederkonsens gedeckter Macht bzw. auf der Bereitstellung physischer Gewalt beruht, basieren i m Falle von Wissenschaft alle einschlägigen Operationen auf (wie auch immer methodisch gesicherter) Wahrheit. Organisation und Wissenschaft erbringen infolgedessen i m Verhältnis zueinander durchaus komplementäre Leistungen und ergänzen sich wechselseitig i m Hinblick auf die Funktion des Rechtssystems als ganzen. Jedoch werden weder die staatliche Organisation des Rechtssystems noch die (gleichfalls bis zu einem gewissen Grade organisierte) Rechtswissenschaft jeweils mit der konkreten Totalität des i m Rechtssystem als ganzen faktisch ablaufenden Rechtsgeschehens konfrontiert, sondern es handelt sich stets nur um ein hochgradig selektives Vorgehen, das zur Auswahl und vorläufigen (bis auf weiteres geltenden bzw. gültigen) Festlegung von Verhaltensprämissen führt. Es findet eine Selektion von Prämissen statt, die den Zugriff auf das menschliche Verhalten i m Falle von Organisation durch rechtliche Entscheidung, im
F a l l e v o n Wissenschaft
durch
rechtswissenschaftliche
Erkenntnis
sichert. I m vorstehenden Zusammenhang können infolgedessen Organisation und Wissenschaft als i n sich jeweils mehrstufig differenzierte soziale Handlungssysteme begriffen werden, die infolge ihrer hochgradigen Innendifferenzierung in der Lage sind, durch bessere Organisation ihrer Selektivität auf der Ebene rechtlichen Entscheidens bzw. rechtswissenschaftlicher Erkenntnis gesteigerte Selektionsleistungen zu erbringen, gleichzeitig jedoch i n ihrem Verhältnis zueinander durch ihr 122
2
Luhmann
/ Schorr , ebd., S. 126 f.
388
Werner Krawietz
Miteinanderfungieren zur Funktionssteigerung des Rechtssystems als ganzen beizutragen. Das staatlich organisierte Rechtssystem wie das Rechtswissenschaftssystem werden in ihrer spezifischen Systemrationalität somit erst dann zureichend erfaßt, wenn man beide je für sich als soziales Handlungssystem begreift, das heißt die staatliche, i n sich höchst differenzierte Entscheidungsorganisation, in der auf Grund und nach Maßgabe des geltenden Rechts über Entscheidungsprämissen entschieden wird, bildet ein System, und die Wissenschaft, die auf den unterschiedlichen Ebenen der Wissenschaftsorganisation i m Rahmen ihrer jeweiligen levelspezifischen Theoretisierung 1 2 3 eben dies selbstkritisch reflektiert, bildet ein (weiteres) System. Indem das staatlich organisierte Rechtssystem und das Erkenntnissystem Rechtswissenschaft sich wechselseitig voraussetzen und einander arbeitsteilig zuarbeiten, erfüllen sie — komplementär zueinander — insgesamt eine Funktion für die Gesellschaft, die jedes System für sich allein nicht zu erbringen vermöchte. Auch w i r d das Rechtssystem als ganzes aufgrund dieser Funktionssteigerung i n die Lage versetzt, i m Hinblick auf die übrigen primären Teilsysteme der Gesellschaft, wie beispielsweise das Wirtschaftssystem, gesteigerte Leistungen zu erbringen, die ohne diese institutionellen Errungenschaften so nicht möglich wären. Der maßgebliche Umstand für die Funktions- bzw. Leistungssteigerung ist somit i m Miteinanderfungieren beider Systeme zu erblicken, doch bleiben die Auswirkungen der arbeitsteiligen Zusammenarbeit nicht hierauf beschränkt. Das staatlich organisierte Rechtssystem kann aufkeimende Zweifel an seinen Organisationsmöglichkeiten kompensieren und Proteste hinsichtlich seiner Leistungsfähigkeit absorbieren, indem es die Mängel und Defizite an eigener Systemrationalität dadurch verdeckt, daß es die vorgebrachte K r i t i k auf die Notwendigkeit vorgängiger rechtswissenschaftlicher Forschungen verweist, ohne die auch die staatliche Organisation nicht auszukommen vermöge. A u f diese Weise kann die K r i t i k an der staatlichen Organisation durch Vertrauen auf Wissenschaft kompensiert und auf die lange Bank angeblich notwendiger Forschungen geschoben werden 1 2 4 . Kein Zweifel, daß der Verweis auf die zuvor von der Rechtswissenschaft zu erbringenden demnächstigen Leistungen die staatliche 123 Die Unterscheidung verschiedener Levels einer Theoretisierung des Rechtsdenkens ist durchaus kompatibel m i t einer systemtheoretischen Problemsicht, die bereits meiner dem Verhältnis von staatlich organisiertem Rechtssystem u n d Rechtswissenschaftssystem gewidmeten Untersuchung: Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis (N. 5), S. V I f., X I I I f., 222 ff., 224 f., et passim, insgesamt zugrunde liegt. Vgl. ferner: ders., Rechtssystem u n d Rationalität (N. 65), S. 302 f., 330 f.; ders., Z u r S t r u k t u r von Entwicklung u n d Fortschritt i n der Rechtstheorie (N. 67), S. 344 f. 124 Luhmann / Schorr, ebd., S. 125.
389
Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?
Entscheidungsorganisation, beispielsweise der Gesetzgebung, von unmittelbaren Handlungs- und Entscheidungserfordernissen zu entlasten vermag. Ebenso kann das Rechtswissenschaftssystem seine ungelösten rechtlichen Probleme auf das staatlich organisierte Rechtsentscheidungssystem verschieben. Man kann die Systemrationalität des Miteinander fungier
ens beider
Systeme
n u r erfassen, w e n n m a n jedes
die-
ser mehr oder weniger selbständigen sozialen Systeme, die jeweils für sich eine gewisse Autonomie im eigenen Zweckhandeln erlangen, als Teil
eines beide ü b e r g r e i f e n d e n primären
Teilsystems
der
Gesellschaft,
nämlich als Teil des insgesamt nur partiell 1 2 5 organisierten Rechtssystems als ganzen begreift. Bei der Ausdifferenzierung des Rechtssystems, das aus der Gesamtheit aller sozialen Kommunikationen besteht, die mit Bezug auf das Recht formuliert werden, stellt sich die staatliche Organisationsbildung immer nur als ein Faktor unter anderen dar. Ebenso ist die Ausbildung eines auf Betreuung der Rechtspraxis gerichteten Rechtswissenschaftssystems stets nur ein (weiterer) Faktor neben anderen. Beide Faktoren wirken zusammen. W ä h r e n d die Selbststeuerung
im staatlich
organisierten
Rechtssystem
darauf basiert, daß die Verfassung rechtlich regelt, wie Recht geschaffen bzw. geändert oder aufgehoben werden kann, aber nicht muß, das h e i ß t von Verfassungs
wegen das Normieren
normiert,
so daß die staat-
liche Rechtsordnung i n ihrer hierarchischen Strukturbildung letztlich als selbstsubstitutive Ordnung fungieren und begriffen werden kann, beruht die Selbststeuerung im Rechtswissenschaftssystem nicht etwa auf der Selektionskraft wahrer Erkenntnis, geschweige denn auf »reiner' Wahrheit, die als solche für sich selbst zu sprechen vermöchte und deshalb bloß noch akkumuliert zu werden brauchte. Sie stützt sich vielmehr auf die Innendifferenzierung einer sozial etablierten, funktional differenzierten, arbeitsteilig fungierenden Mehrebenenstruktur einer levelspezifischen
Theoretisierung
des
Rechtsdenkens,
die —
ähnlich
wie i m Falle des staatlich organisierten Rechtssystems — durch das Fehlen
eines
eindeutigen
Steuerungszentrums
gekennzeichnet
wird,
von dem aus sich alle rechtswissenschaftliche Erkenntnis gleichsam i n Gang setzen ließe 1 2 6 . Makrotheoretisch gesehen bedeutet dies, daß die Steuerungseffekte, die — sich wechselseitig beeinflussend und verstärkend — von dem Miteinanderfungieren des staatlich organisierten Rechtssystems und des Rechtswissenschaftssystems ausgehen und i m 125
Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechtssystems (N. 41), S. 122 f. Auch eine gar nicht gesetzte, sondern bloß i m Denken vorausgesetzte Grundnorm ist, entgegen der Auffassung v o n Kelsen, durchaus nicht der „archimedische P u n k t " , von dem aus die Welt der juristischen Erkenntnis i n Bewegung gesetzt w i r d . Vgl. Krawietz, G r u n d n o r m (N. 45), Sp. 919. Hierzu: unten 6.3.2. 126
390
Werner Krawietz
Hinblick auf das umfassende jeweilige Gesellschaftssystem insgesamt eine Funktionssteigerung
des Rechtssystems
als ganzen
bewirken, we-
der durch Organisation noch durch Wissenschaft von einer eindeutig identifizierbaren zentralen Stelle aus geplant und gezielt ins Werk gesetzt werden und auch gar nicht absichtsvoll zentral bewerkstelligt werden könnten 1 2 7 . Andererseits ist die Systemrationalität des Rechtssystems als ganzen auch nicht gleichsam geschichtsfrei und vom bloßen Zufall abhängig. Die zentrale Steuerung von irgendeiner einzigen Stelle i m staatlich organisierten Rechtssystem bzw. i m Rechtswissenschaftssystem scheidet schon allein deswegen aus, weil — vom Standpunkt einer normativ-realistischen Betrachtungsweise aus gesehen — allein schon die bestehenden internen, durch Rechtsregeln vermittelten Interdependenzen i m Entscheidungs- bzw. Erkenntnisprozeß so hochgradig und vielfältig sind, daß selbst eine interne Transparenz dieser Interdependenzen und mit ihr die Voraussetzungen für eine wirksame Selbstkontrolle von einer einzigen Stelle aus nicht gegeben sind. Auch erscheint aus demselben Grunde ein rationaler Nachvollzug der externen Interdependenzen von einer einzigen Stelle her als nicht möglich. Jedoch erlaubt eine systemtheoretische Rekonstruktion dieser W i r kungszusammenhänge, auch lange Entscheidungsverkettungen innerhalb des staatlich organisierten Rechtssystems unter dem Aspekt ihrer durch
Binnendifferenzierung
konstituierten
Interdependenzen
zu
er-
fassen, das heißt sie i m Hinblick auf die Relevanz einzelner Selektionsakte i n ihrem Einfluß auf andere Selektionsakte desselben Systems zu untersuchen und sie zugleich auf andere Prozesse des Rechtssystems als ganzen zu beziehen, das heißt auf die Interdependenzen mit Teilen des Rechtswissenschaftssystems, wie beispielsweise mit der dogmatischen Rechtswissenschaft, der zugehörigen juristischen Methodenlehre oder der Rechtstheorie. Gesamtgesellschaftlich gesehen, hat das Rechtssystem als ganzes i m Laufe seiner Entwicklung aus sich heraus sowohl das staatlich organisierte Rechtssystem als auch das Rechtswissenschaftssystem ausdifferenziert und damit Teilfunktionen der Festlegung rechtlicher Verhaltensprämissen durch kollektiv bindende Entscheidungen bzw. durch rechtswissenschaftliche Erkenntnis der Eigenregie und Verantwortung besonderer Sozialsysteme für rechtliche Entscheidung bzw. rechtswissenschaftliche Erkenntnis überantwortet. Diese Innendifferenzierung des Rechtssystems als ganzen hat nicht nur zu einem Auseinanderziehen sowie der Spezifikation diskrepanter, aber wechselseitig interdepen127 Dies hängt, wie neuerdings Niklas Luhmann, Politische Theorie i m Wohlfahrtsstaat, München - Wien 1981, S. 22 ff., 121 belegt, vor allem damit zusammen, „daß eine Gesellschaft, die i n Funktionssysteme gegliedert ist, über keine Zentralorgane verfügt", das heißt sie ist „eine Gesellschaft ohne Spitze und ohne Zentrum
Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?
391
denter Arbeitsprozesse (für rechtliche Entscheidung bzw. rechtswissenschaftliche Erkenntnis!) geführt, sondern mit dem als Folgeproblem a u f t r e t e n d e n Erfordernis einer Koordination. Regulierung und Kanalisierung aller Kommunikationen, die weiterhin mit Bezug auf das Recht stattfinden, i m Rechtssystem e i n e n gesteigerten Reflexionsbedarf bis-
lang nicht gekannten Ausmaßes hervorgerufen, der durch die unmittelbar i n der Rechtspraxis und durch die i m Rechtswissenschaftssystem getroffenen Vorkehrungen bisher nicht befriedigt werden konnte, weil er die mögliche Selektivität einer meinen4 Wahrheit bzw. einer ,reinen' Rechtslehre bei weitem überfordert 1 2 8 . Die hier vorgenommene systemtheoretische Rekonstruktion der durch fortschreitende Ausdifferenzierung des Rechtssystems charakterisierten Entwicklung gestattet jedoch, den Standort näher zu bestimmen, den die Reine Rechtslehre nach wie vor besetzt hält, ohne den funktionellen Anforderungen vollauf genügen zu können, die infolge der Entwicklung des Rechtssystems als ganzen heute an sie gestellt werden. Dies w i r d freilich erst aus der Sicht einer normativ-realistischen Betrachtungsweise deutlich erkennbar. Der Wirkungszusammenhang, in dem auch die Reine Rechtslehre als „eine" 1 2 9 Theorie des Rechts nun einmal steht — ob sie w i l l oder nicht! — und in dem sie zu operieren hätte, aber allenfalls partiell operiert, w i r d dadurch bestimmt, daß sich i n dem hier als Teilsystem des Rechtssystems verstandenen Rechtswissenschaftssystem selbst ein weiteres, auf das Rechtssystem als ganzes spezialisiertes Teilsystem herausgebildet und verselbständigt hat, nämlich das soziale Handlungs- und Kommunikationssystem Rechtstheorie. Als soziales Kommunikationssystem w i r d Rechtstheorie gebildet durch die scientific community aller Rechtstheoretiker, genauer: durch die Gesamtheit ihrer m i t Bezug auf das Recht formulierten Kommunikationen 1 3 0 , soweit deren Funktion i n der Erkenntnis von Recht zu erblicken ist. I m Handlungs- und Kommunikationssystem Rechtstheorie w i r d somit eine A r t Spezialistentum für das Allgemeine' institutionell auf Dauer gestellt mit dem Ziel, unter ständiger Bezugnahme auf das Recht eine hochselektiv, aber universalistisch
vorgehende
Dauerreflexion
auf das Recht
zu etablieren. Der
häufig ignorierte Realitätsbezug von Rechtstheorie und ihre Realitätsebene als mehr oder weniger verselbständigtes soziales Handlungssystem besteht somit darin, daß sie in ihrer hier als soziale A k t i v i t ä t gedeuteten Reflexion auf das Recht innerhalb des Rechtssystems selbst nur ein Teilsystem bildet, welches auf das Rechtssystem als ganzes reflektiert. I m Gegensatz zur klassischen Thematisierung des Gegen128 129 130
Luhmann, Selbstreflexion des Rechtssystems (N. 43), S. 175 f. Kelsen, Reine Rechtslehre (N. 12), S. 175 f. Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechtssystems (N. 41), S. 121.
392
Werner Krawietz
standsbezugs aller Erkenntnis des Rechts n i m m t damit die Rechtstheorie, wie i m Hinblick auf Recht u n d rechtliche Entscheidungs- bzw. Erkenntnisprozesse vor allem von Dias und Luhmann dargelegt worden ist, die F o r m einer autopoietischen
131
b z w . selbstreferenziellen
132
Sozial-
beziehung an. Die spezifische soziale F u n k t i o n von Rechtstheorie kann demzufolge darin erblickt werden, eine Reflexion zu leisten, die sich auf die Identität des Rechtssystems bezieht, dem sie selbst angehört. Die Rechtstheorie gewinnt damit die soziale Form einer Selbstreflexion des Rechtssystems, die sich von bloßer Selbstreferenz unterscheidet 1 3 3 , w e i l sich der rechtstheoretische Erkenntnisprozeß nicht bloß auf sich selbst als soziales Teilsystem bezieht, sondern zugleich auf die Identität des Rechtssystems als ganzen, dem auch die Rechtstheorie als die Theorie angehört, die i m Rechtssystem über das Rechtssystem entwickelt w i r d , so daß alle Reflexionsbeziehungen auf eine gänzlich neue Grundlage gestellt werden 1 3 4 . Es geht dabei, wie Luhmann nachgewiesen hat, u m die Ausdifferenzierung des reflektierenden b z w . u m die Ausdifferenzierung seiner Theorie
Systems im System m i t der Folge, daß jede
Änderung dieser Theorie zugleich auch ein „Neuarrangieren der Reflexionsverhältnisse i m System" b e w i r k t 1 3 5 . Es liegt auf der Hand, daß die Reine
Rechtslehre
als eine
(neben a n d e r e n v e r t r e t e n e ! )
Theorie
des
Rechts nach wie vor den prominenten, i m Hinblick auf die unerläßlichen Deutungen des Rechtssystems als ganzen strategisch überaus wichtigen Platz besetzt hält, den alle Rechtstheorie bezüglich des Rechtssystems n u n einmal besitzt, dem ihre Reflexionen gelten. Ebenso offensichtlich ist jedoch auch, daß die Reine Rechtslehre aufgrund des von i h r vertretenen juristischen Positivismus und ihres Festhaltens am Reinheitspostulat — gemessen an den hier herausgearbeiteten Anforderungen — die i h r i m Rechtssystem zukommenden Funktionen sehr weitgehend gar nicht zu erfüllen vermag. K a u m jemand w i r d die unzweifelhaften u n d bleibenden Verdienste und Errungenschaften bestreiten wollen, die sich die Reine Rechtslehre vor allem i n der k r i t i schen Auseinandersetzung m i t den metaphysisch-spekulativen Naturrechtstheorien erworben hat. Auch hat die Reine Rechtslehre i n der Auseinandersetzung m i t den besonderen Lehren der Rechtsdogmatik als allgemeine Rechtslehre bei der Erörterung der rechtlichen Detailprobleme so vielfältige Leistungen und zusätzliche Erkenntnisgewinne 131 R. W. M. Dias, Autopoiesis and the Judicial Process, in: RECHTSTHEORIE 10 (1979), S. 159 - 185. 132 Luhmann, Ausdifferenzierung von Erkenntnisgewinn (N. 39), S. 127 ff., 129. 133 Z u dieser Unterscheidung: Luhmann, Selbstreflexion des Rechtssystems (N. 43), S. 162 f. 134 Ders., ebd., S. 175 ff. 135 Ders., ebd., S. 163.
393
Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?
erbracht, daß es nahezu unmöglich, aber (wegen der Eindeutigkeit dieser Leistungen!) auch unnötig wäre, sie hier alle aufzählen zu wollen. Gleichwohl muß bedacht werden, daß gerade i n der Rechtstheorie die progressiven Ideen und Theorien von gestern, wenn sie ihren Dienst erst einmal getan haben, sehr rasch in die Gefahr geraten können, zu reaktionären Dogmen von heute zu avancieren, weil ein unreflektiertes Festhalten an ihnen den weiteren Erkenntnisfortschritt behindert. 6. Aspekte einer Entideologisierung und einer Reideologisierung in der Reinen Rechtslehre Niemand w i r d heute bestreiten wollen, daß die Reine Rechtslehre i n ideologiekritischer Hinsicht bei der Analyse staatlich organisierter Rechtssysteme und der Auswirkungen, die metaphysisch-spekulative, aber auch sonstige Wertvorstellungen in der sozialen Wirklichkeit hervorrufen können, i n ganz erheblichem Maße zur Entideologisierung des praktischen
Rechtsdenkens
und
Rechtshandelns
beigetragen
hat.
Das gilt nicht nur für den Bereich pragmatischer Ideologiekritik, welche die Relevanz von Ideologien für das gemeinschaftliche Zusammenleben in staatlich organisierten Rechtssystemen untersucht, sondern auch für den Bereich theoretischer Ideologiekritik, welche selbstkritisch den ideologischen Einschlag i n der theoretischen Aufklärung und Durchdringung derartiger Wirkungszusammenhänge aufzuspüren versucht, um die Theorie selbst von ideologischen Verunklärungen zu reinigen. Kein Zweifel, daß die Reine Rechtslehre auch insoweit beachtliche Erfolge
bei
der
Entideologisierung
des
theoretischen
Rechtsdenkens
selbst zu verzeichnen hat. Blickt man jedoch vom Standpunkt des hier vertretenen systemtheoretischen Rekonstruktivismus auf die Wirkungszusammenhänge, unter denen auch die Reine Rechtslehre — nota bene als eine Lehre bzw. Theorie des Rechts neben anderen! — seit nunmehr vielen Jahrzehnten höchst effektvoll operiert und nachhaltige Wirkungen zeitigt, so stellt sich unter dem Aspekt einer pragmatischen wie einer theoretischen Ideologiekritik heute die Frage, ob nicht die theorieimmanenten und methodologischen Beschränkungen, die mit der Option der Reinen Rechtslehre für das Reinheitspostulat und den j u ristischen Positivismus nahezu zwangsläufig verbunden sind, jedenfalls unter den gegenwärtigen gesellschaftsstrukturellen Bedingungen einen wenig wünschenswerten ideologischen Einschlag i n die Reine Rechtslehre hineintragen und damit — wenn auch unbeabsichtigt und ungewollt, aber jedenfalls unbemerkt! — zu einer Reideologisierung des heutigen Rechtsdenkens beitragen. Diese Besorgnis besteht vor allem wegen der solipsistischen, gegenüber den gesellschaftlichen Gegebenheiten allzu enthaltsamen Selbstgenügsamkeit einer Reinen Rechtslehre,
394
Werner Krawietz
die i m Anschluß an die kantische K r i t i k »reiner 4 Vernunft die Quellen rechtstheoretischer Erkenntnis i n den a priori erkennbaren Bedingungen der Möglichkeit solcher Erkenntnis erblickt, anstatt von vornherein den Aufbau der Rechtsordnung sowie die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie genuin rechtswissenschaftlicher Erkenntnis an den sozialen Bedingungen der Möglichkeit von Recht und Rechtswissenschaft zu orientieren 1 3 6 . Daß der von der Reinen Rechtslehre erhobene Universalitätsanspruch und der mit ihm verbundene Bewußtseinsführungsanspruch die rechtstheoretische Problemsicht vereinseitigt und infolgedessen zumindest partiell verzerrt, w i r d deutlich, wenn man die verkürzte Problemperspektive einer bloß analytisch-normativen Jurisprudenz , zu der auch die Reine Rechtslehre ihrem eigenen Selbstverständnis nach zu zählen ist 1 3 7 , durch eine normativ-realistische Jurisprudenz substituiert und sich, was deren Grundlegung angeht, auf den Standpunkt einer Theorie des Rechts stellt, welche Rechtstheorie systemtheoretisch als eine Theorie selbstreferenzieller Systeme begreift und betreibt, das heißt alle Theorie des Rechts als Teilsystembildung innerhalb des gesamten Rechtssystems der Gesellschaft ansieht, in dem das staatlich organisierte Rechtssystem und das Rechtswissenschaftssystem funktionell unterschiedliche, jeweils mehrstufig differenzierte Ebenen des Rechtssystems als ganzen bilden. Leider verbietet es sich schon aus Raumgründen, hier einen eingehenden Theorievergleich anzustellen. Ich muß mich deshalb i m folgenden darauf beschränken, die aus meiner Sicht ganz
deutlichen
Tendenzen
einer
Reideologisierung
in
der
Reinen
Rechtslehre aufzuzeigen, die bei der Behandlung einiger Grundprobleme des Rechts bzw. der Rechtswissenschaft klar erkennbar zutagetreten und vor allem i n einer verzerrten, die wirklichen Gegebenheiten eher verhüllenden Problemsicht zum Ausdruck gelangen. Ich werde diese Entwicklung an drei für die Reine Rechtslehre ganz zentralen Problemen belegen, deren Behandlung meines Erachtens diese Tendenzen erkennen läßt, nämlich: 6.1. an den Konsequenzen des Reinheitspostulats für die Theorie des Rechts bzw. die Methode der Rechtswissenschaft; 6.2. a n der Funktion
des Dualismus
von Sein und Sollen
i n der Reinen
Rechtslehre; 136
Grundlegend hierzu jetzt: Niklas Luhmann, Wie ist soziale Ordnung möglich? In: ders., Gesellschaftsstruktur u n d Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, F r a n k f u r t a. M. 1981, Bd. 2, S. 195 bis 285. 137 Weinberger, Die Bedeutung der Brünner Schule der Reinen Rechtslehre, in: Kubes / Weinberger, Die Brünner rechtstheoretische Schule (N. 34), S. 34.
Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?
395
6.3. an den Auswirkungen der Lehre vom Stufenbau der m i t ihr verbundenen Theorie der Grundnorm.
des Rechts und
I n allen drei Fällen liegt m. E. das hauptsächliche Handicap der Reinen Rechtslehre darin, daß die Verfolgung der von i h r vertretenen Auffassungen zu einem sehr weitgehenden Absehen von den sozialen Tatsachen 138 allen Rechts führt. Zwar ignoriert sie diese nicht gänzlich, aber sie betrachtet sie fälschlich auch nicht mehr als Angelegenheit der Jurisprudenz bzw. der Theorie des Rechts, so daß i h r kaum mehr verbleibt als eine Analyse der Formalstruktur des Rechts.
6.1. Selbstapriorisierung der Reinen Rechtslehre
Geht man davon aus, daß das Erkenntnisinteresse der Reinen Rechtslehre — ihrem eigenen Selbstverständnis zufolge! — darauf gerichtet ist, i m Hinblick auf die i n der sozialen Wirklichkeit wie auch immer gegebenen, heute zumeist staatlich organisierten Rechtssysteme nicht bloß jeweils besondere, i n rechtssystematischer Darstellungsabsicht abgefaßte Rechtslehren zu fixieren, sondern eine allgemeine RechtsZe/ire oder Rechtsi/ieorze zu konzipieren, so stellt sich die Frage, ob sich diese Absicht überhaupt auf dem Wege (und m i t den methodologischen M i t teln!) verwirklichen läßt, der von der Reinen Rechtslehre der Wiener Schule, insbes. derjenigen Kelsens, bislang beschritten wurde. Die Reine Rechtslehre Kelsens w i l l , gestützt auf den Vergleich aller als Recht bezeichneten „Phänomene", das „Wesen des Rechtes überhaupt" herausarbeiten und es auf „seine typische Struktur" h i n untersuchen, u m auf diese Weise die spezifischen Merkmale herauszuextrapolieren, die alles Recht ganz „unabhängig von dem wechselnden Inhalt" der Rechtsnormen charakterisieren, den es „zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten" angenommen hat. Die von Kelsen konzipierte Rechtslehre intendiert demzufolge i n der Tat eine allgemeine Theorie des Rechts insofern, als sie sich „nicht auf eine besondere Rechtsordnung oder besondere Rechtsnormen" beschränkt, sondern „jedes beliebige Recht" i n seiner Struktur zu erfassen und zu beschreiben sucht 1 3 9 . 138
Ich meine damit eher die Berücksichtigung der faits sociaux, wie sie schon Durkheim gefordert hat, nicht bloß die sogen. Rechtstatsachen, die — verlesen nach Maßgabe von Rechtsnormen — jeweils nur einen allzu selektiven Ausschnitt aus der sehr viel komplexeren sozialen Wirklichkeit des Rechts bieten. Den Ursprung und die Entwicklung dieser älteren, maßgeblich durch die immer schon vorausgesetzte Rechtsnorm bestimmten Rechtstatsachenforschung behandelt: Arthur Nußbaum, Die Rechtstatsachenforschung. Programmschriften und praktische Beispiele, B e r l i n 1968; Manfred Rehbinder, Die Rechtstatsachenforschung i m Schnittpunkt von Rechtssoziologie und soziologischer Jurisprudenz, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1 (1970), S. 333 - 359.
396
Werner Krawietz
So weit, so gut! I n dem Maße, in dem die allgemeine Rechtslehre jedoch sich selbst als eine „reine", das heißt als eine erfahrungsunabhängige „rationale Wissenschaft vom Recht" versteht, gerät sie in Gefahr , aufgrund ihrer durch das Reinheitspostulat und den juristischen Positivismus nahegelegten Selbstbeschränkung die soziale Wirklichkeit des Rechts zu verfehlen. Zwar w i l l sie die „theoretische Grundlage für jede auf ein besonderes Recht oder besondere Rechtsinstitutionen gerichtete Betrachtung" liefern und sucht infolgedessen „die spezifische Methode und die Grundbegriffe zu bestimmen, mit denen jedes beliebige Recht geistig erfaßt und beschrieben werden kann". Jedoch zielt die Reine Rechtslehre Kelsens bei der Verwirklichung ihrer eigenen Forderungen sowohl in theoretischer als auch in methodologischer Hinsicht viel zu kurz. Indem die Reine Rechtslehre sich selbst als eine Theorie begreift, die ihren Gegenstand, das Recht — oder genauer: die Normen des Rechts i m H i n b l i c k auf das d u r c h sie vorgeschriebene
menschliche
Verhalten !
— in seiner Struktur zu erfassen und zu beschreiben sucht, gewinnt sie a u f g r u n d der Eigenständigkeit
ihrer
normativen
Problemperspektive,
die nicht an eine besondere Rechtsordnung gebunden ist, i n der Tat universalen Charakter, so daß sie mit Grund als allgemeine Rechtslehre bezeichnet wird. Auch hat die Reine Rechtslehre als eine Lehre vom „positiven", das heißt von einem nicht bloß idealen, sondern von einem „wirklichen Recht", stets nur „das Recht, so wie es ist", zu ihrem Gegenstand, so daß alles (auch bloß möglicherweise in Betracht zu ziehende) Recht stets eine zumindest mögliche „Wirklichkeit" beinhalten muß. Es kommt deshalb i n der Tat entscheidend „darauf an, zu bestimmen, welcher A r t diese Wirklichkeit ist" 1 4 0 . Indem Kelsen das „Problem der Positivität des Rechts" auf das „Problem der spezifischen Rechtswirklichkeit ( i reduziert, muß er folgerichtig auch die „Wirklichkeit" des Rechts beschränken „auf das tatsächliche Verhalten der Menschen, das dieser Norm, als dem positiv-rechtlichen Sollen, entsprechen, aber auch widersprechen kann". Die soziale Wirklichkeit des Rechts, das heißt der soziale Unterbau rechtlicher Regelungen i m Sinne von René König 1 4 1 , gerät somit nicht nur nicht i n den Blick, sondern w i r d fälschlich von vornherein als rechtstheoretisch irrelevant behandelt. Die methodologische Absicherung dieser gegenständlichen Verengung der Rechtstheorie bietet die gleichfalls durch das Reinheitspostulat be139 Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre? Erneut abgedruckt in: K l e catsky / Marcic / Schambeck (Hrsg.), Die Wiener rechtstheoretische Schule (N. 33), Bd. 1, S. 611 - 629, 611 f., 613. 140 Kelsen, ebd., S. 614. 141 König, Recht i m Zusammenhang der sozialen Ordnungssysteme (N. 11), S. 48.
397
Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?
stimmte, spezifische „Methode der Rechtserkenntnis". Die juristische Methode der Reinen Rechtslehre erblickt ihre Aufgabe darin, „nur eine auf das Recht gerichtete Erkenntnis sicherzustellen". Infolgedessen möchte sie „aus dieser Erkenntnis alles ausscheiden", „was nicht zu dem exakt als Recht bestimmten Gegenstande gehört" 1 4 2 . Dem könnte man beipflichten, wenn Kelsen bereit wäre, den Begriff des Rechts nicht bloß anhand des Rechtstextes und seiner rechtlichen Bedeutung — Kelsen spricht von dem spezifisch juristischen „objektiven Sinn", den eine Rechtsnorm besitzt bzw. ihre „normative Deutung" verleiht! — zu bestimmen, sondern darüber hinaus auch bereit wäre, die permanente Orientierung aller Normen des Rechts am sozialen Verhalten von vornherein in die Theorie des Rechts einzubeziehen, das heißt die Struktur allen Rechts normativ-realistisch von seiner Funktion her zu deuten. Diese Konsequenz zieht Kelsen jedoch nicht. Die Reine Rechtslehre Kelsens unterschätzt nicht nur die Abhängigkeit des Rechtssystems vom Gesellschaftssystem, sondern auch die gesellschaftliche Bedingtheit des Rechtswissenschaftssystems, dem sie selbst angehört. Es geht ihr auch gar nicht darum, den Realität^bezug aller Rechtstheorie, insbes. der Reinen Rechtslehre herauszuarbeiten, der darin gesehen werden kann, daß sie als Teil innerhalb des gesamten Rechtssystems fungiert, das heißt selbst ein soziales Teilsystem bildet, welches das ganze (mehr oder weniger adäquat!) reflektiert. Kelsen ist deshalb auch nicht in der Lage, die soziale Funktion aller Rechtstheorie zu erkennen, die darin zu erblicken ist, eine Reflexion zu leisten, die sich auf die Identität des Rechtssystems als ganzen bezieht, dem sie selbst als dessen Teil angehört, das heißt die Selbstreflexion des Rechtssystems zu gewährleisten. Mangels einer hinreichenden normativ-realistischen Deutung des Rechts vermag seine Theorie des Rechts daher auch nicht, die zweifellos bestehenden Interdependenzen wirklichkeitsgerecht abzubilden, die zwischen dem Rechtssystem und denjenigen Systemteilen bestehen, die auf eine Theorie dieses Systems spezialisiert sind. Seine Art, alles Wissen über das Recht bzw. die juristische Erkenntnis zur Reflexion über sich selbst zu bringen, basiert — gestützt auf das Reinheitspostulat — vielmehr darauf, die sozialen Systemreferenzen, denen auch eine ,reine' Rechtslehre noch unterliegt, weitg e h e n d z u i g n o r i e r e n b z w . i h r e Relevanz
für
jede
Theorie
des
Rechts
zu leugnen. Indem die Reine Rechtslehre Kelsens, ganz i m Anschluß an Kant (Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Vorrede, ebd., S. 14), die allgemeine Rechtslehre als einen „reinen Teil" begreift, der „dem empirischen zum Grunde liegt", sucht sie als Rechtstheorie alles besondere, gegebene, wie auch immer geartete „positive 142 Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre? (N. 139), S. 611; ders., Reine Rechtslehre (N. 12), S. 1.
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Werner Krawietz
Recht" a priori, das heißt „aus seiner bloßen Möglichkeit" zu erkennen. Indem sie ferner, ihrer spezifischen „Methode der Rechtserkenntnis" folgend, von dem bloßen „Faktum der Rechtswissenschaft" ausgeht, u m „die Sätze, mit denen diese Wissenschaft ihren Gegenstand beschreibt, einer logischen Analyse" zu unterwerfen, das heißt die „Voraussetzungen" festzustellen, „unter denen Aussagen über Rechtspflichten, Berechtigungen, Rechtshaftung, Rechtssubjekte, physische und j u ristische Personen, Rechtsorgane, Rechtskompetenzen und dergl. überhaupt möglich sind" 1 4 3 , zielt ihr Rechtsdenken allein auf das ab, was das Rechtswissen als Rechtswissen a priori begründbar macht. Die Reine Rechtslehre der Wiener Schule, insbes. diejenige Kelsens, bet r e i b t s o m i t eine Strategie
der Apriorisierung
dessen,
was man
über
das Recht wissen kann, anstatt ihre Theorie des Rechts von vornherein an den sozialen Bedingungen der Möglichkeit von Recht und Rechtswissenschaft zu orientieren. Wer i m Bereich der Theorie des Rechts bloß nach den logischen Bedingungen der Möglichkeit von Rechtserkenntnis fragt, jedoch die Einsichten einer normativ-realistischen Betrachtungsweise des Rechts aus der Rechtstheorie zu eliminieren sucht, leistet, ob gewollt oder nicht, einer unreflektierten Selbstapriorisierung des Rechtsdenkens Vorschub. Auf diese Weise werden seine Aussagen mit einem Schein von Notwendigkeit ausstaffiert, ohne die Apriorität rechtswissenschaftlicher Erkenntnis gewährleisten zu können. Der Ideologieverdacht liegt daher nahe. Es geht nicht an, wesentliche Errungenschaften moderner Rechtstheorie, die sich vor allem dem Rechtsrealismus höchst unterschiedlicher Entwicklungsrichtungen verdanken 1 4 4 , aus der Theorie des Rechts hinauszukomplimentieren, um sie a limine in die Soziologie des Rechts abzuschieben. Denn damit w i r d nicht bloß der Blick auf die Realität des Rechts verfehlt, sondern auch die zweifellos bestehende Grenze zwischen Rechtstheorie und Rechtssoziologie 145 in einer höchst ideologieverdächtigen Weise verschoben.
6.2. Dualisierung und Dichotomisierung des Sozialverhaltens durch Recht
1. Gewöhnlich w i r d es als unbestreitbares Verdienst der Reinen Rechtslehre angesehen, den Dualismus von Sein und Sollen, das heißt die kategoriale Trennung des Seins vom Sollen und mit ihr die Unab143
Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre? (N. 139), S. 611 f., 614. Krawietz, Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis (N. 5), S. 100 ff., 115 ff., 141 ff. 145 Eingehend zu dieser Grenze, die — entgegen der Auffassung von Kelsen — jedenfalls nicht auf der konventionellen Trennungslinie zwischen N o r m wissenschaft u n d Faktenwissenschaften verläuft: Krawietz, Das positive Recht u n d seine F u n k t i o n (N. 10), S. 21 ff.; Luhmann, Rechtssoziologie (N. 31), S. 354 ff. 144
399
Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?
leitbarkeit des Sollens aus dem Sein, ein für allemal als maßgebliche Grundlage jeder Theorie des Rechts herausgestellt zu haben 1 4 6 . Man w i r d jedoch heute zu fragen haben, ob bzw. inwiefern diese Unterscheidung auch jenseits einer reinen, den Erfahrungsbereich des Rechts nicht länger ausschließenden Rechtslehre zur Grundlegung der Rechtstheorie herangezogen werden kann, vor allem dann, wenn man sich in der Theorie des Rechts einer normativ-realistischen Betrachtungsweise bedient. Die dem Neukantianismus verpflichtete Reine Rechtslehre glaubte zunächst, sich bezüglich des Dualismus von Sein und Sollen bei der Beurteilung des theoretischen Stellenwerts dieser Unterscheidung unmittelbar auf Kant stützen zu können 1 4 7 . Jedoch ist neuerdings von Kelsen selbst mit Grund darauf hingewiesen worden, daß die neukantianische Dichotomie von Sein und Sollen i n der kantischen Philosophie in dieser strikten Form keine Stütze findet 1 4 3 . Angesichts der nach realistischer Rechtsauffassung zum Gegenstandbereich der allgemeinen Rechtslehre gehörenden sozialen Wirklichkeit allen Rechts erscheint die tradierte Annahme einer Unüberbrückbarkeit der vermeintlichen K l u f t zwischen Sein und Sollen heute allenfalls verstehbar und rekonstruierbar mit Bezug auf neukantianische, fest eingelebte, aber bloß konventionelle Denkgewohnheiten, die sich in dieser Verabsolutierung jedoch längst als höchst problematisch erwiesen haben. 2. Der Dualismus von Sein und Sollen ist vom Standpunkt einer n o r m a t i v - r e a l i s t i s c h e n B e t r a c h t u n g s w e i s e keineswegs
eine a priori
vor-
gegebene Struktur der Rechtswelt, sondern eine neuzeitliche geschichtlich-soziale Errungenschaft des rechtspraktischen kommunikativen Handelns und Entscheidens sowie der rechtstheoretischen Reflexion auf das (durch selbstreferenzielle rechtliche Kommunikation erzeugte) Recht — nicht mehr, aber auch nicht weniger! Wie die Geschichte der Entwicklung des Verhältnisses von metaphysisch-spekulativem bzw. rationalistischem Naturrechtsdenken und praktischer Philosophie i n der Neuzeit allenthalben erkennen läßt, diente die Dualisierung von Sein und Sollen i m Hinblick auf die zahlreichen Naturrechts- und Vernunftsrechtslehren unterschiedlichster Provenienz, welche nicht eben selten die höchst problematische These einer Ableitbarkeit von Sollenssätzen aus Seinsätzen implizierten 1 4 9 , zunächst vornehmlich der ge14e
Kelsen, Reine Rechtslehre (N. 12), S. 5 ff. Hierzu vor allem: Günther Ellscheid, Das Problem v o n Sein und Sollen i n der Philosophie Immanuel Kants, K ö l n 1968, S. 7 ff., 32 f., 133 ff. Vgl. ferner: Jürgen Blühdorn, „Kantianer und K a n t " , in: Kant-Studien 64 (1979), S. 363 - 394. 148 Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen (N. 45), S. 62 f. 149 Eingehend hierzu: Carl Jergensen, On the Possibility of Deducing What ought to be from What is, in: Ethics 66 (1955/56), S. 271 -278; Ulrich Klug, Die Reine Rechtslehre von Hans Kelsen u n d die formallogische Recht147
Werner Krawietz
400
danklichen Abschichtung 150 unterschiedlicher Gegenstandsbereiche, um vermeintlich von Natur oder Vernunft bestehende und gerechtfertigte Postulate gegenüber dem Inhalt des positiven Rechts abzuwehren und i m Verhältnis
von Naturrecht
und positivem
Recht
einem unreflektier-
ten Hinübergleiten von einem auf den anderen Gegenstandsbereich (Sein — Sollen — Metabasis!) zu begegnen. Indem Kelsen von dem grundlegenden Unterschied („völlig anderen Sinn") zwischen der Aussage, daß „etwas sein soll", und der Aussage, daß „etwas ist", ausging, vermochte er i m Hinblick auf diesen Dualismus einerseits die Annahme einer Unableitbarkeit von Sollenssätzen aus Seinssätzen zu vertreten, andererseits jedoch gleichwohl der Auffassung zu folgen, daß beide Satzformen nicht beziehungslos nebeneinander stehen 151 . Da für ihn der Dualismus von Sein und Sollen, verstanden als mangelnde Ableitbarkeit des Sollens aus dem Sein, nur bedeutet, daß „daraus, daß etwas ist, nicht folgt, daß etwas sein oder nicht sein soll" bzw. daraus, daß etwas sein soll, „nicht folgt, daß etwas ist oder nicht ist", konnte er die gleichwohl existierende „Beziehung" bzw. den Unterschied zwischen Sein und Sollen, jedenfalls i m Bereich des Rechts, allein in der „Verschiedenheit des Modus" erblicken, nämlich darin, daß das seiende und das gesollte Verhalten einander nahezu völlig gleichen können „bis auf den Umstand (modus), daß das eine seiend, das andere gesollt ist". Für die Reine Rechtslehre Kelsens endeten daher alle Versuche einer Überbrückung von Sein und Sollen bei der apodiktischen Feststellung, daß das „ i n einer Norm statuierte Verhalten" in kategorialer Hinsicht ganz strikt von dem „tatsächlichen, entsprechenden Verhalten" unterschieden werden müsse, weil beide einander zwar nahezu völlig „gleichen" können, aber gleichwohl „nicht identisch" seien, sondern stets modal unterschieden werden können und müssen 152 . Diese Einsicht erscheint heute nahezu t r i v i a l und könnte daher bedenkenlos akzeptiert werden, wäre sie nicht i n Verbindung mit dem Purismus der Reinen Rechtslehre und ihrem juristischen Positivismus geeignet, die bestehende K l u f t zwischen Sein und Sollen noch zu vertiefen und zu verewigen. Infolgedessen erscheint eine kritische Reflexion der Relevanz dieser Unterscheidung vonnöten. Vor allem darf nicht übersehen werden, daß unter den Bedingungen der Positivität a l l e n Rechts die soziale Funktion
des Dualismus
von
Sein
und
Sollen
fertigung der K r i t i k an dem Pseudoschluß v o m Sein auf das Sollen, in: Salo Engel / Rudolf A . M é t a l l (Hrsg.), Essays i n Honor of Hans Kelsen, K n o x v i l l e 1964, S. 153 - 169. 150 Wolfgang Rod, Rationalistisches Naturrecht u n d praktische Philosophie der Neuzeit, in: Manfred Riedel (Hrsg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie, Freiburg 1971, S. 269 - 295. 151 152
Kelsen, Reine Rechtslehre (N. 12), S. 6, 19. Kelsen, ebd., S. 19.
401
Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?
i m Rechtsdenken der Gegenwart sich abermals tiefgreifend gewandelt hat, offensichtlich jedoch ohne daß dieser soziale Wandel den Anhängern und Vertretern der Reinen Rechtslehre bislang i n vollem Ausmaße bewußt geworden ist. a) I m neuzeitlichen Rechtsdenken diente der i n das Recht selbst verlegte, von vornherein aber nicht bloß logische und erkenntnistheoretische, sondern auch erkenntnis- und ideologiekritische Dualismus von Sein und Sollen wissenssoziologisch betrachtet vor allem dazu, i m Hinblick auf das stets prekäre Verhältnis von Natur recht und positivem Recht grundsätzlich zwischen diesen beiden Arten von Normen (unter Ausschluß des ,Naturrechts' bzw. des ,Vernunftrechts' aus dem Begriff des Rechts!) zu unterscheiden, u m nach der sozialen Ausdifferenzierung des Rechts bzw. des Rechtssystems in der juristischen Argumentation einen nicht mehr ohne weiteres zulässigen, aber praktisch jederzeit m ö g l i c h e n Rückfall
in das Natur-
und
Vernunftrechtsdenken
zu ver-
meiden. Der tiefere Grund hierfür wurde i n dem Erfordernis erblickt, daß die juristische Argumentation unter den Bedingungen der Positivit ä t a l l e n Rechts a l l e i n auf
Grund
und
nach
Maßgabe
des
geltenden
Rechts zu erfolgen habe, so daß auch für die juristische Argumentations- und Methodenlehre die Unterscheidung zwischen Recht und Nichtrecht (,Naturrecht', ,Vernunftrecht', Moral) wegen ihrer Relevanz für das praktische Entscheidungsverhalten und seine Begründung und Rechtfertigung i m Vordergrund stand. Der Dualismus von Sein und Sollen diente somit anfänglich dazu, in der juristischen Argumentation das Bewußtsein dafür zu entwickeln und zu schärfen, daß vor jeder Anwendung einer wie auch immer beschaffenen Norm auf den Einzelfall vorgängig zu prüfen ist, ob es sich überhaupt u m Recht (und nicht etwa bloß um unverbindliches Nichtrecht, beispielsweise u m Normen des ,Naturrechts' oder der Moral!) handelt. I m Hinblick auf das Erfordernis, bei wachsender Ausdifferenzierung des Rechts und Autonomisierung des Rechtssystems alle systemeigenen Operationen der Rechtserzeugung, wie etwa der Rechtssetzung und Rechtsanwendung, selbstreferenziell zu begründen, das heißt mit Bezug auf das (jeweils schon vorausgesetzte) Rechtssystem selbst bzw. auf Teile des Rechtssystems durchzuführen, zu rechtfertigen und zu legitimieren, konnte die soziale Funktion der Dualisierung von Sein und Sollen zunächst darin erblickt werden, mit Hilfe dieser Differenzierung gleichsam
eine
Identifikations-
und
Unterscheidungshilfe
zwischen
Recht und Nichtrecht bereitzustellen. Dies geschah vermöge der Unterscheidung zwischen den i m positiven Recht verankerten, allein auf dieses gestützten normativen Regelungen, die als Gegenstand der Deontologie angesehen wurden, sowie den i m geltenden Recht bislang nicht 2
R E C H T S T H E O R I E , Beiheft 4
Werner Krawietz f i x i e r t e n , auf eine m e t a p h y s i s c h - s p e k u l a t i v b e g r i f f e n e v o r r e c h t l i c h e , N a t u r ' oder »Vernunft' des Menschen gestützten, sonstigen n o r m a t i v e n G e l t u n g s a n s p r ü c h e , die u n t e r Z u g r u n d e l e g u n g des D u a l i s m u s v o n Sein u n d S o l l e n w e g e n i h r e r G r ü n d u n g auf eine w i e auch i m m e r v e r s t a n dene v o r r e c h t l i c h e A n t h r o p o l o g i e oder O n t o l o g i e der O r d n u n g des Seins b z w . des bloß Seienden zugewiesen w e r d e n k o n n t e n . I n d e m Maße f r e i lich, i n d e m die s t a a t l i c h o r g a n i s i e r t e n Rechtssysteme der m o d e r n e n Gesellschaft dazu ü b e r g e g a n g e n sind, i h r e n Rechtsbetrieb n a h e z u ausschließlich auf selbsterzeugtes, i m Wege p o l i t i s c h - r e c h t l i c h e n Entscheidens hergestelltes Recht z u b e g r ü n d e n , m u ß t e auch d e r D u a l i s m u s v o n Sein u n d S o l l e n a n P r o m i n e n z v e r l i e r e n u n d seine u r s p r ü n g l i c h e F u n k t i o n w e i t g e h e n d e i n b ü ß e n , doch h a t er g l e i c h w o h l n i c h t g ä n z l i c h ausgedient. b) A b g e s e h e n d a v o n , daß auch b e i P o s i t i v i t ä t u n d selbstreferenziell e r E r z e u g u n g b z w . B e g r ü n d u n g des Rechts gelegentliche R ü c k f ä l l e i n e i n als solches g a r n i c h t m e h r e r k a n n t e s N a t u r - u n d V e r n u n f t r e c h t s d e n k e n 1 5 3 w o h l k a u m a u s z u s c h l i e ß e n 1 5 4 sind, h a t sich u n t e r d e n B e d i n g u n g e n der P o s i t i v i t ä t a l l e n Rechts auch die Funktion der Dualisierung von Sein und Sollen e r n e u t g e w a n d e l t . Bezogen a u f das j e w e i l s geltende Recht, das h e i ß t b e i s e l b s t r e f e r e n z i e l l e r B e z u g n a h m e a l l e r systemeigenen r e c h t l i c h e n O p e r a t i o n e n auf das Rechtssystem selbst b z w . 153 Exemplarisch für die illusionären Erkenntnisansprüche, die bisweilen selbst bei der Deutung des positiven Verfassungsgesetzes, etwa i m Hinblick auf die von aller Staatsgewalt zu achtende u n d zu schützende „Würde des Menschen" auch heute noch verfochten werden: Günter Dürig, in: Maunz / D ü r i g / Herzog, Grundgesetz, 5. Aufl., München 1981, A r t . 1 Abs. 1 Rdnr. 2 u n d 17, der die Menschenwürde nicht bloß als obersten Rechtswert u n d als tragendes Konstitutionsprinzip allen objektiven Rechts ansieht, sondern darüber hinaus i n A r t . 1 Abs. 1 GG eine die positivierte Verfassung transzendierende „Wertaussage" erblickt, der eine „Aussage über eine Seinsgegebenheit" zugrunde liegt des Inhalts, daß die Menschenwürde „unabhängig von Zeit u n d Raum ,ist' u n d rechtlich v e r w i r k l i c h t werden ,soll' ". Gegen eine derartige Auffassung, die dem geltenden Verfassungsrecht i m Wege der K o m mentierung bzw. Interpretation verfassungsrechtlicher Vorschriften — u n d sei es i n noch so wohlmeinender Absicht! — die normativen Vorstellungen eines wie auch i m m e r gearteten christlichen bzw. profanen Naturrechtsdenkens zu substituieren sucht: Werner Krawietz, Gewährt A r t . 1 Abs. 1 GG dem Menschen ein Grundrecht auf Achtung u n d Schutz seiner Würde? I n : Dieter W i l k e / Harald Weber (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Friedrich Klein, München 1974, S. 245 - 287, 260 ff., 274 f. 154 Gegenüber der Gefährdung des Rechtsdenkens durch mehr oder w e n i ger unreflektierte Rückfälle i n das Naturrechtsdenken betont Peter Häberle, Verfassungstheorie ohne Naturrecht, in: A r c h i v des öffentlichen Rechts 99 (1974), S. 437 - 463 m i t G r u n d die „Unergiebigkeit der Naturrechtstheorien" u n d weist darauf hin, daß das Verfassungsrecht, insbes. das Grundrechtsdenken, sich „gegenüber dem v o m naturrechtlichen Denken gesteuerten Positivierungsvorgang dank dieses Vorgangs, dank des politischen Prozesses u n d der Verfassungsdogmatik so verselbständigt und i n das Ganze der V e r fassung u n d ihre Öffentlichkeit integriert" haben, daß sie einer „ n a t u r rechtlichen Legitimierung" nicht mehr bedürfen.
Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?
403
auf Teile des Rechtssystems, läuft ein Dualismus von Sein und Sollen vom Standpunkt der Reinen Rechtslehre Kelsens letzten Endes bloß darauf hinaus, nur mehr rein systemimmanent i m Hinblick auf das durch Rechtsnormen gesteuerte soziale Verhalten zu unterscheiden zwischen dem durch die Rechtsnormen vorgeschriebenen, ihrem Inhalte nach gesollten und dem dieser Norm entsprechenden, tatsächlich seienden Verhalten 1 5 5 . Die Funktion des dem Namen nach unveränderten, seiner metaphysisch-spekulativen Herkunft jedoch längst entwachsenen Dualismus besteht somit innerhalb des Rechtssystems als solchen für die Reine Rechtslehre der Wiener Schule, insbes. Kelsens, heute vor allem — wenn nicht ausschließlich! — i n der rein systemimmanenten Dichotomisierung
von Sollen
und Sein i n d e m Sinne, daß der m i t B e z u g
auf das jeweils geltende Recht diagnostizierte kategoriale Unterschied zwischen
gesolltem
und
seiendem
Verhalten
zum Anlaß dafür
genom-
men wird, den Begriff des Rechts auf das durch die Rechtsnorm vorgeschriebene, gesollte Verhalten zu beschränken und demzufolge auch die Rechtsbetrachtung, insbesondere die Rechtswissenschaft, auf diesen rein
normativen
Gegenstandsbereich
zu r e d u z i e r e n , m i t d e r Folge, daß
die Analyse des der Rechtsnorm entsprechenden oder widersprechenden, bloß seienden Verhaltens vermeintlich den Sozialwissenschaften, insbesondere der Soziologie, überlassen werden kann. Für die Reine Rechtslehre stellt sich somit der konventionelle Dualismus heute als Dichotomie von Sein und Sollen dar, daß heißt als eine Zweiteilung Seins und
der rechtlichen Seinsollensordnung in eine Sphäre des eine Sphäre des Sollens. W ä h r e n d das von Rechts wegen
gesollte, aber (noch) nicht seiende Verhalten nach Auffassung der Wiener Schule der Rechtstheorie allein der Sphäre des Sollens angehört, w i r d das dem Recht entsprechende, die Rechtsnorm tatsächlich erfüllende, bloß seiende Verhalten der hiervon strikt getrennten Sphäre des Seins zugewiesen. Charakteristisch für die Reine Rechtslehre ist jedoch, daß es ihr gar nicht mehr u m das Sein als solches bzw. u m das Sollen als solches i m Sinne der überkommenen, bloß konventionellen Ontologie bzw. Deontologie geht. Es geht ihr somit auch nicht mehr u m eine metaphysisch-spekulative platonische Ideenlehre ontologischer bzw. deontologischer Provenienz und das heißt: auch nicht mehr um das wahre Sollen i m Sinne der tradierten Ontologie bzw. Deontologie, sond e r n n u r noch u m e i n antimetaphysisch verstandenes, rein diesseitiges seiendes bzw. gesolltes Verhalten, das durch die Rechtsordnung vermit-
telt wird. Der Dualismus von Sein und Sollen w i r d damit durch die Reine Rechtslehre i n die als ein System von Rechtsnormen begriffene rechtliche Ordnung menschlichen Verhaltens verlegt und überhaupt nur mit Bezug auf diese Rechtsordnung verstehbar und rekonstruierbar. 155
£6*
Kelsen, Reine Rechtslehre (N. 12), S. 6.
Werner Krawietz
404
Begreift man m i t der Reinen Rechtslehre Kelsens das Recht rein immanent als eine normative Ordnung menschlichen Verhaltens, das heißt als ein System von menschliches Verhalten regelnden Normen, durch die ein bestimmtes Verhalten als gesollt vorgeschrieben (z. B. geboten oder verboten) w i r d , dann erschöpft sich die Funktion des Dualismus eine reine
von Sein und Sollen in der Halbierung Seinssphäre und eine reine Sollenssphäre
der Rechtswelt in d e r a r t , daß beide
Sphären kategorial voneinander geschieden werden, aber modal aufeinander bezogen bleiben. A u f diese Weise kann zugleich zwischen dem rein Normativen u n d dem bloß Faktischen 156 unterschieden werden, so daß alles m i t M i t t e l n des Rechts regulierte (wirkliche/mögliche) Sozialverhalten einer vermeintlich zwingenden, durch das Recht erfolgten Dichotomisierung
in
gesolltes
bzw.
seiendes
Verhalten
unterworfen
scheint. Eine tiefer eindringende Analyse der wechselseitigen sozialen Beziehungen, die i n W i r k l i c h k e i t zwischen dem von Rechts wegen gesollten und dem tatsächlich seienden Verhalten bestehen, erscheint vom Standpunkt der Wiener Schule der Rechtstheorie nicht nur nicht vordringlich, sondern w i r d auch gar nicht als zu den Aufgaben einer allgemeinen Rechtslehre gehörig angesehen. Angesichts der Zweideutigkeit des Ausdrucks ,gesolltes Verhalten 4 1 5 7 , der nicht n u r das rechtlich vorgeschriebene Verhalten bezeichnet, sondern auch auf ein seiendes Verhalten bezogen werden kann, das der N o r m entspricht, d. h. das so ist wie es sein soll, konnte die i n Wahrheit vorherrschende Eindimensionalität der Reinen Rechtslehre lange verborgen bleiben, die i n der Reduktion auf das rein Normative erkennbar w i r d . Während die Reine Rechtslehre vermeintlich gar nicht so unrealistisch ist (weil sie vorgeblich stets auch auf ein tatsächlich seiendes Verhalten gerichtet erscheint, nämlich auf das Verhalten, das der N o r m entspricht!), hat sie i n W i r k lichkeit ihre Rechtsbetrachtung, insbesondere die Strukturanalyse des Rechts, i m wesentlichen auf rein normative Überlegungen beschränkt und eingeengt, nämlich auf das laut Rechtstext gesollte Verhalten (im engeren Sinne!) reduziert, das von Rechts wegen vorgeschrieben (geboten, verboten usw.) w i r d . Die Optionen der Wiener Schule der Rechtstheorie, insbesondere Kelsens, für das Reinheitspostulat und den m i t i h m verbundenen juristischen Positivismus führen somit, zusammen m i t der unter Bezug auf den konventionellen Dualismus von Sein und Sollen erfolgten Dichotomisierung aller sozialen Ordnung i n eine 15β Uber das Verhältnis des Faktischen zum Normativen i n der Entstehung des Rechts: Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Berlin 1974; zit. nach dem 6. Neudruck, Darmstadt 1959, S. 339 ff. Vgl. ferner: Adalbert Langer, Die normative K r a f t des Faktischen und Georg Jellinek, in: Horst Glassi / Otfrid Pustejovsky (Hrsg.), Ein Leben — drei Epochen. Festschrift für Hans Schütz zum 70. Geburtstag, München 1971, S. 256 - 276. 157 Kelsen, Reine Rechtslehre (N. 12), S. 6.
Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?
405
Seinsordnung und in eine Sollensordnung, nicht nur zu einer verfehlten Halbierung der Rechtswahrheiten , sondern auch zu einem in methodologischer
wie in theoretischer
Hinsicht
verabsolutierten
Rechtsnorma-
tivismus , für den sich das Recht bzw. das Rechtssystem eindimensional ausschließlich in Rechtsnormen bzw. Zusammenhängen von Rechtsnormen erschöpft und der wegen seiner Einseitigkeiten aus der Sicht einer normativ-realistischen Betrachtungsweise als nicht akzeptabel erscheint. Ein weiteres Festhalten an dieser als bloß zeitbedingt durchschauten, Recht und Rechtswirklichkeit halbierenden, aber die soziale Wirklichkeit des Rechts ignorierenden rechtstheoretischen Konzeption der Reinen Rechtslehre liefe deshalb auf eine zumindest partielle Reideologisierung des Rechtsdenkens hinaus. 3. Zweifellos gehört es zu den unbestreitbaren Verdiensten der Reinen Rechtslehre, ganz erheblich zur Präzisierung des stets prekären Verhältnisses
von Rechtsfrage
und
Tatfrage
b e i g e t r a g e n zu haben, das
mit Bezug auf das geltende Recht und seine Anwendung nun einmal besteht, doch wäre es verfehlt, dieses Verhältnis auf der Grundlage einer strikten Dichotomie von Sein und Sollen begreifen zu wollen. Rechtsnorm geschieden
und Rechtswirklichkeit sind nicht so radikal voneinander wie die Reine Rechtslehre es darstellt. Vielmehr bedürfen
Sein und Sollen mit Bezug auf das geltende Recht einer Überbrückung, die zureichend nur vom Standpunkt einer normativ-realistischen Betrachtungsweise des Rechts geleistet zu werden vermag, welche den Begriff des Rechts bzw. des Rechtssystems auf die tatsächlich w i r k samen Beziehungen zwischen dem rechtlichen Normengefüge und dem menschlichen Erleben und Handeln erstreckt. Zwar sind alle Rechtsvorschriften, seien es nun diejenigen eines generell-abstrakten Gesetzesrechts oder diejenigen eines individuell-konkreten Präjudizienrechts, mit ihrer Positivierung durch gesetzgeberische bzw. richterliche Entscheidungen rechtssprachlich formulierte Rechtssätze (Normsätze 15S) geworden, doch müssen die in ihnen verwendeten Worte und Begriffe in ihrer jeweiligen normativen Bedeutung wegen der unvermeidlichen mangelnden Bestimmtheit und Offenheit gegenüber künftigen Anwendungssituationen i m Rechtssystem jeweils erst erarbeitet werden, das mit Hilfe der auf diese Weise individualisierten bzw. generalisierten Rechtsnormen i m Verhältnis zu der in ständigem Fluß befindlichen, einem permanenten sozialen Wandel unterliegenden Umwelt des Rechtssystems sich selbst stabilisiert und steuert. Es erscheint daher verfehlt, dem Setzungspositivismus 159 der Reinen Rechtslehre folgend ganz radikal zwischen den normsetzenden Akten 158
Grundlegend zur Unterscheidung von Normsätzen u n d Aussagesätzen: Christiane Weinberger / Ota Weinberger, Logik, Semantik, Hermeneutik, München 1979, S. 20 f., 97 ff., 108 ff.
406
Werner Krawietz
u n d den durch sie gesetzten Rechtsnormen bzw. ihrer rein normativen Bedeutung zu unterscheiden, w e i l die Erzeugung von Recht, realistisch betrachtet, sich i n der modernen Gesellschaft unter den Bedingungen der Positivität allen Rechts vor allem u n d i n erster Linie als bis auf weiteres geltendes Ergebnis arbeitsteilig organisierter Entscheidungsleistungen darstellt. I n den unzähligen Entscheidungsstellen des staatlich organisierten Rechtssystems, die der Anfertigung normativ verbindlicher Entscheidungen dienen bzw. an i h r m i t w i r k e n , findet somit eine permanente normative Selbstrationalisierung des Rechtssystems statt, i n der i m Wege politisch-rechtlichen Entscheidens die W e n n / D a n n S t r u k t u r des geltenden Rechts erzeugt w i r d , m i t Bezug auf welche von anderen nachgeordneten Entscheidungsstellen fortlaufend darüber entschieden werden muß, ob bzw. inwiefern das menschliche Verhalten den Rechtsnormen entspricht oder widerspricht sowie darüber, wie das geltende Recht gewandelten Umständen angepaßt werden kann. I m Hinblick auf das jeweils geltende Recht u n d das zu behandelnde praktische Entscheidungsproblem lassen sich, rechtstechnisch gesehen, stets normative
und
faktische
Entscheidungsprämissen
unterscheiden,
aber
nicht i m Sinne einer kategorialen Dichotomie, sondern bloß i m Sinne einer binären Schematisierung des wirklichen/möglichen Sozialverhaltens, die i n den Vorschriften des Rechts zum Ausdruck gelangt. Sie ermöglicht zugleich je nach Bedarf eine situative, der jeweiligen U m weltlage des Rechtssystems angepaßte, i m Wege politisch-rechtlichen Entscheidens fallweise vorzunehmende binäre Selbststeuerung 160 über die normativen oder die faktischen Entscheidungsprämissen, ohne eine strikte Trennung zwischen beiden vorauszusetzen. Die m i t Hilfe sprachlicher Symbole schriftlich fixierten, i n den Worten, Begriffen und Sätzen der Rechtssprache zum Ausdruck gelangenden Rechtsvorschriften enthalten die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Rechtsnormen nicht als apriorische, rein normative, erfahrungsunabhängige Entscheidungsprämissen, sondern sie s i n d u n d b l e i b e n in ihrem normativen Bedeutungsgehalt ligen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kontext
vom jeweiabhängig, in
dem sie Verwendung finden, so daß es — bezogen auf die jeweilige Entscheidungssituation — v o m Standpunkt einer normativ-realistischen 159 Diesen sehr treffenden Ausdruck verwendet: Weinberger, Normentheorie als Grundlage der Jurisprudenz (N. 40), S. 167, 175 et passim zur Kennzeichnung der strikten Bindung, die nach Auffassung von Kelsen zwischen dem jeweiligen normsetzenden Willensakt und der Existenz einer Norm besteht. 160 Eingehend zur Problematik binärer Schematisierung bzw. binärer Selbststeuerung i m Hinblick auf Recht, P o l i t i k und Wirtschaft: Niklas Luhmann, Soziologie der Moral, in: ders., Stephan H. Pfürtner (Hrsg.), Theorietechnik und Moral, Frankfurt a. M. 1978, S. 8 - 116, S. 24.
407
Reinheit der Rechtslehre als Ideologie? Betrachtungsweise gar keine
strikte
Trennung
zwischen
rein
normati-
ven und bloß faktischen Entscheidungsprämissen geben kann. Gewöhnlich sind Rechtsnormen so stark generalisiert und abstrahiert, daß sie ex ante gar nicht v ö l l i g eindeutig, erschöpfend u n d endgültig festlegen, welche pro futuro eingehenden Fallinformationen ihre tatbestandmäßigen Voraussetzungen erfüllen können. Und auch die tatsächlichen Fallinformationen sind nicht einfach ,gegeben', bloß ,faktisch', sondern sie müssen erst i n systemeigenen selbstreferenziellen Prozessen i m Rechtssystem selbst erarbeitet, das heißt selektiv wahrgenommen, aufbereitet und festgestellt werden, wobei die vorgreifenden, aus den normativen Entscheidungsprämissen des Rechts sich herleitenden I n formationserwartungen naturgemäß schon die A u s w a h l der normativ relevanten ,Daten' und ,Fakten' mitbestimmen. Der hier zum Ausdruck gelangende, für das zeitgenössische Rechtsdenken i n der Bundesrepub l i k Deutschland durchaus charakteristische, einem verabsolutierten Rechtsnormativismus gegenüber kritische Regelskeptizismus , den ich j e d e n f a l l s f ü r die Münster'sche
Schule
der Rechtstheorie
und
Rechts -
Soziologie 161 i n Anspruch nehme, hat seinen Grund nicht zuletzt darin, daß i m staatlich organisierten Rechtssystem alles positive Recht notwendigerweise auf (mehr oder weniger) schematisierten Informationserwartungen basiert, w e i l sich schon aus rechts- u n d umgangssprachlichen Gründen, aber auch mangels Information über die künftige Entwicklung ex ante gar nicht ein für allemal hinreichend trennscharf festlegen läßt, welche i m System eingehenden Informationen als rein normativ bzw. bloß faktisch relevant anzusehen sind 1 6 2 . I n allen rechtsanwendenden juristischen Entscheidungsprozessen findet somit stets eine wechselseitige Anregung u n d Beeinflussung von normativen u n d faktischen Entscheidungsprämissen statt. Jedoch bleibt die e n d g ü l t i g e Korrelierung Tatfrage der abschließenden
von Normen juristischen
und Fakten , Rechtsfrage und Entscheidung im Einzelfalle
vorbehalten , i n der zugleich (unter Beachtung der einschlägigen Kunstregeln juristischer Methodik!) darüber befunden w i r d , ob letzten Endes die Fakten der N o r m oder gar die Norm den Fakten anzupassen i s t 1 6 3 . 181 Helmut Schelsky, Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1 (1970), S. 37 - 8 9 ; ders., Das Ihering-Modell des sozialen Wandels durch Recht, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 3 (1972), S. 47 - 86; Werner Krawietz , Helmut Schelsky — ein Weg zur Soziologie des Rechts, in: Friedrich Kaulbach / ders. (Hrsg.), Recht und Gesellschaft. Festschrift für Helmut Schelsky zum 65. Geburtstag, B e r l i n 1978, S. X I I I bis L X X V I I I , L X X V ff.; Krawietz , Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis (N. 5), S. X I I I f. 162 Eingehend hierzu: Niklas Luhmann, Recht und Automation i n der öffentlichen Verwaltung, Berlin 1966, S. 52 ff., 57 f.
408
Werner Krawietz
Gerade i m Hinblick auf das Erfordernis, gleiche Fälle gleich, aber ungleiche (neue) Fälle ihrer Eigenart entsprechend zu behandeln, liegt i n dieser realistischen Problemsicht eine zusätzliche Rationalitätsgarantie rechtssystematischer Gerechtigkeits- und Richtigkeitsgewähr. Dieser Rechtsrealismus
in der
westdeutschen
Rechtstheorie,
zu dessen
hervorstechendsten Merkmalen nach meinem Eindruck der soeben erwähnte Regel- bzw. Normenskeptizismus gehört, geht somit einher mit einem hiermit korrespondierenden Faktenskeptizismus, für den auch die tatsächlichen Rationalitätsgrundlagen des praktischen juristischen Entscheidungsverhaltens fragwürdig geworden sind, weil es das Fakt u m brutum ganz offensichtlich nicht gibt 1 6 4 . Läuft aber der Dualismus von Sein und Sollen, wie ihn die analytische Jurisprudenz der Wiener Schule der Rechistheorie, insbesondere der Reinen Rechtslehre Kelsens, bis auf den heutigen Tag versteht, vom Standpunkt einer normativ-realistischen Betrachtungsweise i m Rechtsdenken nicht auf eine strikte Dualisierung und Dichotomisierung, sondern allenfalls auf eine binäre
Schematisierung
des wirklichen/möglichen
Sozialverhaltens
durch das Recht hinaus, dann hieße es, einer zumindest partiellen Verzerrung und Ideologisierung der Rechtsbetrachtung das Wort reden, wenn man bei der Grundlegung moderner Rechtstheorie unkritisch an der bisherigen Position der Reinen Rechtslehre festhielte, anstatt sie durch eine rechtstheoretische Problemsicht zu substituieren, die der Rechtswirklichkeit bzw. der sozialen Wirklichkeit des Rechts sehr viel eher gerecht zu werden vermag. 6.3. Stufenbau der Rechtsordnung oder Selbsthierarchisierung des Rechtssystems?
1. Was den Aufbau der Rechtsordnung als ganzen wie i m Detail angeht, so hat die schon von Merkl begründete 1 6 5 , jedoch erst von Kelsen i n die Rechtstheorie der Wiener Schule integrierte 1 6 6 Lehre vom Stufenbau des Rechts i n Verbindung mit der Theorie der Grundnorm 163 Krawietz, Juristische Methodik und ihre rechtstheoretischen I m p l i k a t i o nen, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie u n d Rechtstheorie 2 (1972), S. 12-42, 35 f. 164 Krawietz, Rechtssystem u n d Rationalität i n der juristischen Dogmatik (N. 65), S. 328 ff., 331 f. 165 Adolf Merkl, Das Recht i m Lichte seiner A n w e n d u n g (1917), in: K l e catsky / Marcie / Schambeck (Hrsg.), Die Wiener rechtstheoretische Schule (N. 33), S. 1167- 1201; ders., Das doppelte Rechtsantlitz (1918), in: Klecatsky u.a. (Hrsg.), ebd., S. 1091-1113; ders., Die Lehre v o n der Rechtskraft, entwickelt aus dem Rechtsbegriff, Leipzig - W i e n 1923, S. 181 ff., ders., Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues, in: Klecatsky u. a. (Hrsg.), ebd., S. 1311 - 1361. 1ββ Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 2. Aufl., Tübingen 1923, Vorrede S. X V .
Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?
409
ganz ohne Zweifel sowohl in theoretischer als auch in pragmatischer Hinsicht in erheblichem Maße zur Entideologisierung des Rechtsdenkens beigetragen 167 . Das gilt vor allem bezüglich der ideologiekritischen Bestrebungen der Reinen Rechtslehre gegenüber metaphysisch-spekulativen Naturrechtstheorien, die den Geltungsgrund des positiven Rechts in einem überpositiven, vermeintlich höherrangigen ,Recht4 (,Naturrecht', ,Vernunftrecht') erblickten, wie beispielsweise das an die Rechtstheologie des Thomas von Aquin anschließende legeshierarchische Rechtsdenken, das bis auf den heutigen Tag die Positivität des Rechts auf die Transpositivität einer letztlich religiös bzw. theologisch fundierten Legeshierarchie (lex divina, lex aeterna, lex naturalis, lex positiva) zurückzuführen sucht, in die alles positive Recht als nachrangig eingefügt erscheint 168 . I n dem Maße, in dem die Rechtstheorie der Wiener Schule sich selbst als eine rein normative, allein auf das positive Recht gerichtete Rechtslehre begriff, vermochte sie, gestützt auf ihre Stufenbaulehre und die Grundnormtheorie, welche jede weitere nicht durch das Recht selbst geregelte Rückbeziehung auf vor- bzw. außerrechtliche normative Zusammenhänge als rechtlich irrelevant abschnitt 169 , durch konsequente Beschränkung auf rein rechtsimmanente Strukturanalysen zugleich auch die Entideologisierung des Rechts bzw. des Rechtsdenkens nachhaltig zu fördern. 2. Demgegenüber stellt sich jedoch vom Standpunkt einer normativrealistischen Betrachtungsweise die Frage, ob die Stufenbautheorie und die mit ihr verbundene Theorie der Grundnorm trotz ihrer unbestreitbaren Verdienste und ihrer weisen Beschränkung auf die Positivität des Rechts in ihrer heutigen Konzeption nicht doch geeignet ist, zu fehlerhaften Deutungen genuin rechtlicher Zusammenhänge sowie zu Realitätsverschätzungen der Rechtswirklichkeit bzw. der sozialen W i r k lichkeit des Rechts zu führen und damit — wenn auch ungewollt! — zu einer Reideologisierung des Rechtsdenkens beizutragen. Gerade wenn man sich auf die Positivität des Rechts konzentriert, erscheint es aus der Sicht eines sinnkritischen Rechtsrealismus, der von der sozialen Konstitution auch des normativen, insbesondere des rechtlichen Sinns ausgeht, aber alle Sinnkonstitutionen als kontingent betrachtet, wenig überzeugend, den letzten Geltungsgrund allen Rechts nicht wiederum in einer gesetzten (,primären', ,höchsten', »fundamentalen', ,basalen') 167 Grundlegend: Robert Walter, Der A u f b a u der Rechtsordnung, Graz 1964; Theo Öhlinger, Der Stufenbau der Rechtsordnung, Wien 1975; Jürgen Behrend, Untersuchungen zur Stufenbaulehre A d o l f Merkls u n d Hans K e l sens, B e r l i n 1977. 168 Krawietz, Ausdifferenzierung religiös-ethischer, politischer und rechtlicher Grundwerte (N. 23), S. 59 f. 169
Krawietz,
Grundnorm (N. 45), Sp. 921 f.
Werner Krawietz
410
Rechtsnorm zu erblicken, die gleichsam als Ursprungsnorm (lex fundamentalis, Staatsfundamentalnorm, Grundgesetz o. ä.) fungiert, sondern stattdessen auf eine bloß in mente vorausgesetzte (»fiktive 4 , hypothetische') Grundnorm zu rekurrieren. Ebensowenig erscheint die von der R e i n e n Rechtslehre
zur
Erklärung
des Aufbaus
der
Rechtsordnung
herangezogene Lehre vom Stufenbau des Rechts — unbeschadet ihrer rechtsdogmatischen Brauchbarkeit! — geeignet, die i m Rahmen staatlich organisierter Rechtssysteme zwischen den unzähligen staatlichen Entscheidungsstellen wirksam werdenden internen Interdependenzen sowie die zwischen diesen Entscheidungsstellen und ihrer jeweiligen Systemumwelt bestehenden externen Interdependenzen wirklichkeitsgerecht abzubilden und zu rekonstruieren. a) Ein ideologiekritisches Vorgehen begegnet jedoch gerade i m Hinblick auf die mit der Theorie der Grundnorm eng verknüpfte Stufenbaulehre einigen Schwierigkeiten, v/eil die ihr zugrunde liegende rechtstheoretische Konzeption im Rahmen der Wiener Schule alles andere als einheitlich ist und sich außerdem i m Verlaufe ihrer Entwicklung wiederholt gewandelt hat. Auch muß bei einer ideologiekritischen Analyse der Stufenbaulehren offensichtlich zwischen rein theoretischen, apriorischen, ,allgemeinen', notwendig ,zum Wesen jeder Rechtsordnung' gehörenden Rechtsstrukturen und solchen unterschieden werden, die ,nicht rechtswesentlich', sondern nur ,positivrechtlich' sind und infolgedessen mehr oder weniger ,zufällige', aposteriorische, formelle Ausprägungen darstellen, die bloß ,rechtsgeschichtlich' nun einmal verwirklicht wurden. Indem man die Theorie des rechtlichen Stufenbaus auf der einen oder anderen Strukturierungsebene oder gar auf beiden Strukturierungsebenen ansiedelt, ohne eine hinreichend trennscharfe Abgrenzung zu treffen, w i r d es der Reinen Rechtslehre möglich,
sich gegen
Kritik
zu immunisieren.
M a n k a n n d a n n zwischen
beiden Betrachtungsebenen rochieren und möglichen Einwendungen ausweichen, indem man sich je nach Bedarf auf die eine oder andere Position zurückzieht. Jedoch muß man sich dann danach fragen lassen, ob und wie konsequent man es denn nun mit der Reinheit der Rechtslehre halten wolle bzw. ob man denn nicht, wenn uns schon das Rechtsmaterial möglicher rechtstheoretischer Strukturanalysen nur i n der „zufälligen geschichtlichen Realisierung des Rechts" entgegentritt, dann auch eine konsequent normativ-realistische Betrachtungsweise durchhalten wolle, anstatt auf halbem Wege wieder einzuhalten mit der Begründung, es solle ja „nicht die empirische Wirklichkeit, sondern das Wesen des rechtlichen Stufenbaus dargestellt werden" 1 7 0 . 170
Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues (N. 165), S. 1311 ff., 1314 ff., 1317.
Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?
411
Ganz i n diesem Sinne bezieht Merkl seine Theorie des rechtlichen Stufenbaus mal auf das bloß denknotwendige Idealrechtssystem, mal auf das Realrechtssystem, ohne sich endgültig für die eine oder die andere Möglichkeit zu entscheiden. Vielleicht sollte man bildlich verwendete, rechtsdogmatische Überbietungstopoi immanent rechtlicher Vorrangstellungen und bloß vordergründig plausible Begründungsmetaphoriken — auch wenn sie so eingängig sind wie das Bild vom Stufenbau
des Rechts! — i n der Rechtstheorie überhaupt vermeiden,
wenn man nicht in den Verdacht einer inhaltlich verzerrten Darstellung des Rechtssystems und damit in Ideologieverdacht geraten will, weil der bildliche Vergleich bei Übertragung des Bildes eines Stufenbaus auf den ganz anderen Gegenstand ,Recht' das Vorliegen von Strukturmerkmalen insinuiert, die dieser andere Gegenstand als solcher möglicherweise gar nicht besitzt. Jedenfalls ist das B i l d vom Stufenbau des Rechts geeignet, derartige Fehlvorstellungen zu wecken. So weist für Merkl, der die zwischen den Rechtsnormen einer Rechtsordnung bestehende Beziehung als einen a priori möglichen Bedingungszusammenhang deutet, der „reine einfache Bau des Rechtssystems" in struktureller Hinsicht die „Zweiheit einer bedingenden und bedingten Rechtserscheinung" auf, die man „ i m Bilde als Hierarchie einer höheren und niederen Rechtserscheinung oder in einem anderen Bilde als Stufenfolge bezeichnen kann": „Die hierarchische S t r u k t u r ist m i t h i n dem Rechte wesentlich: schon das einfachste, auf seine unvermeidlichen Bestandteile zurückgeführte Rechtsformensystem ist zweigliederig und zugleich zweistufig 1 7 1 ."
Und um ja keinen Zweifel aufkommen zu lassen, steigert sich Merkl bis hin zur petitio principii: „Keine Rechtsordnung ist denkbar, die nicht mindestens zwei Rechtsgestalten aufwiese; andernfalls könnte j a nicht v o n einer Rechtshierarchie gesprochen werden, die jeder Rechtsordnung immanent ist 1 7 2 ."
Ähnlich kurzschlüssig argumentiert Kelsen nach Integration Merkl'schen Stufenbautheorie in seine Reine Rechtslehre:
der
„Die Beziehung zwischen der die Erzeugung einer anderen N o r m regelnden u n d der bestimmungsgemäß erzeugten N o r m k a n n i n dem räumlichen B i l d der Uber- und Unterordnung dargestellt werden. Die die Erzeugung regelnde ist die höhere, die bestimmungsgemäß erzeugte ist die niedere Norm. Die Rechtsordnung ist nicht ein System von gleichgeordneten, nebeneinanderstehenden Rechtsnormen, sondern ein Stufenbau verschiedener Schichten v o n Rechtsnormen. Ihre Einheit ist durch den Zusammenhang hergestellt, der sich daraus ergibt, daß die Geltung einer Norm, die gemäß einer anderen N o r m erzeugt wurde, auf dieser anderen N o r m beruht, deren Erzeugung 171 172
Merkl, Lehre von der Rechtskraft (N. 165), S. 210. Ders., ebd., S. 210.
Werner Krawietz
412
wieder durch andere bestimmt ist; ein Regreß, der letztlich i n der — vorausgesetzten — Grundnorm mündet 1 7 3 ."
Der Fehler, den sowohl Merkl als auch Kelsen begehen, ist somit ein und derselbe. Aus dem von ihnen benutzten Bild eines Stufenbaus , der die Einheitsvorstellung
eines Ganzen
repräsentiert ,
das aus Teilen
be-
steht , w i r d die ins Detail gehende Vorstellung von höheren und niederen Stufen entnommen und das Verhältnis der einzelnen Stufen zueinander nach Maßgabe ihrer räumlichen Anordnung als B i l d einer Über- und Unterordnung gedeutet, so daß die Beziehung, die zwischen allen Stufen i n ihrem wechselseitigen Verhältnis zueinander besteht, durchaus folgerichtig als Vor- und Nachrang u n d die dem ganzen Stufenbau immanente Einheit als hierarchische Schichtung von Stufen oder kurz: als eine Hierarchie gedeutet werden kann. Dieses B i l d braucht dann n u r noch als ordnungsstiftende Einheitsvorstellung auf das Recht übertragen zu werden. Für das Ganze der Rechtsordnung, deren Teile die Rechtsnormen sind, ergibt der bildliche Vergleich sodann, daß die Rechtsordnung nicht nur cum grano salis einem Stufenbau gleicht, sondern ein Stufenbau ist. Alles Weitere ist immanent folgerichtig u n d hat seine Logik, die nicht von ungefähr von der Stufenbautheorie der Reinen Rechtslehre allzu reichlich bemüht w i r d , ohne ihren heimlichen Defekt wettmachen zu können. Wer m i t dieser Ontologie oder Deontologie des Rechts nicht einverstanden ist, die i h n über das Wesen des Rechts zu informieren vorgibt, w e i l er bei der Analyse von Strukturen und Funktionen staatlich organisierter Rechtssysteme andere Beobachtungen gemacht und Erfahrungen gesammelt hat, führt Irrelevantes ins Feld, w e i l es hier j a bloß u m das reine Wesen des Rechts geht, das heißt u m die denknotwendige „Rechtshierarchie", die „jeder Rechtsordnung immanent" ist. Gegen eine derartige Selbstapriorisierung des Rechtsdenkens, das i n seiner A p r i o r i t ä t die rechtswissenschaftliche Unabhängigkeit von aller Erfahrung der Rechtswirklichkeit und der sozialen W i r k l i c h k e i t des Rechts i n Anspruch n i m m t , u m sich gegen K r i t i k ,νοη außen' zu immunisieren, scheint kein rechtsrealistisches K r a u t gewachsen! b) Die juristische Begründungsmetaphorik der Stufenbaulehre ist somit, beispielsweise für Rechtsadepten i m rechtsdogmatischen Unterricht als didaktische Hilfsvorstellung, gut u n d nützlich, solange man sich bewußt hält, daß das von ihr insinuierte B i l d eines Stufenbaus der Rechtsordnung ein B i l d ist — u n d nicht das Ergebnis einer Realanalyse staatlich organisierter Rechtssysteme! Auch i m Bereich der dogmatischen Rechtswissenschaft wie der Rechtspraxis erscheint die Verwendung der Stufenbaumetaphorik wegen der m i t i h r üblicher173
Kelsen , Reine Rechtslehre (N. 12), S. 228.
413
Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?
weise verbundenen, höchst problematischen normativen Begleitvorstellungen jedoch nicht ungefährlich, wenn man bedenkt, daß der j u ristische Entscheidungsbetrieb staatlich organisierter Rechtssysteme an keiner Stelle ohne möglichst realistische Annahmen von der Rechtswirklichkeit wie der sozialen Wirklichkeit des Rechts auszukommen vermag. Für die Rechtstheorie bietet das Bild von einem Stufenbau des Rechts, der angeblich jeder Rechtsordnung immanent ist, jedenfalls keine zureichende Grundlage einer weiteren Theoretisierung des Rechtsdenkens, weil dadurch eine in normativ-realistischer Hinsicht adäquate Vorstellung von den in jedem Rechtssystem zwischen allen Entscheidungsstellen und ihrer jeweiligen Umwelt wirksam werdenden internen bzw. externen Interdependenzen nicht vermittelt wird. Es drängt sich deshalb die Frage auf, wie die Lehre vom Stufenbau des Rechts überhaupt eine derartige Prominenz in der Rechtstheorie zu gewinnen vermochte. Vor dem Hintergrund der tradierten legeshierarchischen Rechtsvorstellungen metaphysisch-spekulativer Provenienz, welche die überkommene Rechts- und Staatsphilosophie jahrhundertelang auf das Nachdrücklichste beeinflußt haben und bis in die Gegenwart hinein fortwirken, hat die vermeintlich grundlegende Vorstellung , daß alles Recht seinem
Wesen
nach
hierarchisch
strukturiert
sei, auch u n t e r den B e -
dingungen der Positivität allen Rechts jedenfalls auf den ersten Blick eine gewisse Anfangsplausibilität für sich. A u f den zweiten Blick, das heißt bei näherem Zusehen, w i r d jedoch sehr schnell deutlich, daß diese Plausibilität sich letztlich religiös bzw. rechtstheologisch begründeten Vorstellungen von dem Vorrang bzw. der Überordnung des göttlichen bzw. ewigen oder natürlichen Rechts vor allem positiven Recht verdankt, deren Prämissen spätestens seit den K r i t i k e n Kants entfallen sind 1 7 4 . Wer somit heute die Vorstellung eines rangmäßig differenzierten Stufenbaus der Rechtsordnung bzw. einer Hierarchie auf das menschlich gesetzte, positive Recht projiziert oder gar von der Annahme einer allem Recht seinem Wesen nach immanenten Hierarchie ausgeht, bedient sich infolgedessen — wissenssoziologisch betrachtet — einer normativen Ordnungsvorstellung, die ganz offensichtlich ihre G e l t u n g s g r u n d l a g e n der Säkularisation
religiös-ethischer
bzw.
theolo-
gischer Rechtsvorstellungen entnimmt, das heißt durch das bloße Abstreifen der religiös-transzendentalen Bezüge entstanden ist, so daß ein 174 Krawietz, Z u m Paradigmen Wechsel i m juristischen Methodenstreit (N. 36), S. 128 f. Die logische Problematik von Hierarchisierungen i m Recht, u m die es m i r i m folgenden nicht geht, behandeln: Carlos E. Alchourrón / David Makinson, Hierarchies of Regulations and their Logic, in: Risto H i l pinen (Hrsg.), New Studies i n Deontic Logic, Dordrecht 1981, S. 125 - 148. Leider fehlt es an Untersuchungen darüber, ob u n d wie die formale Logik selbst zum Gegenstand der Wissenssoziologie gemacht werden könnte.
414
Werner Krawietz
gewisser Ideologieverdacht gar nicht ohne weiteres von der Hand gewiesen werden kann. Begreift man demzufolge aus der Sicht der Reinen Rechtslehre das Verhältnis, in dem in einer Rechtsordnung die einzelnen Rechtsnormen zueinander stehen, als einen a priori möglichen Bedingungszusammenhang, daß heißt als eine systematische Ordnung von einander bedingenden und bedingten Rechtsnormen, so w i l l es nicht länger einleuchten, warum sich das als Einheit gedachte Rechtssystem denknotwendig als ein Stufenbau darstellen muß. Auch wenn man die Beziehung zwischen den bedingenden und den bedingten Rechtsnormen, abgesehen von der rechtspositivistischen Verkürzung einer derartigen Betrachtungsweise, der die Reine Rechtslehre hier nach meiner Auffassung erlegen ist, als einen Erzeugungszusammenhang deutet, zwingt nichts zu der Schlußfolgerung, daß die bedingenden Rechtsnormen, welche die Form und -jedenfalls bis zu einem gewissen Grade — auch den Inhalt anderer Rechtsnormen bestimmen, gegenüber den bedingten Rechtsnormen, denen sie als Geltungsgrund dienen, zugleich Vorrang besitzen müßten, so daß man wenigstens im Hinblick auf diese denkbaren Minimalbedingungen i m Aufbau einer Rechtsordnung von einer Stufenfolge', einem ,Stufenbau' oder einer dem Recht immanenten H i e r archie' von Geburt ranghöherer bzw. rangniederer Rechtsnormen auszugehen hätte. Nichts nötigt dazu, die Abhängigkeit der in Geltung gesetzten Rechtsregeln von einer i m Rechtssystem verankerten Rechtserzeugungsregel i m Sinne einer Über- bzw. Unterordnung zu deuten, weil auch unter der Voraussetzung einer Gleichordnung, das heißt bei struktureller Gleichartigkeit von bedingenden und bedingten Rechtsnormen, der Bedingungs- bzw. Erzeugungszusammenhang durchaus gewahrt bliebe. Man könnte höchstens von einer Priorität der bedingenden Rechtsnormen vor den bedingten Rechtsnormen sprechen, doch wäre diese, bezogen auf die zugehörigen Setzungsakte bzw. Entscheidungen, denen sich alle Rechtsvorschriften letzten Endes verdanken, keine denknotwendige, sondern allenfalls eine zeitliche Priorität i n dem Sinne, daß gewöhnlich die einen vor den anderen i n Erscheinung treten. Auch aus der Verkettung von Rechtsnormen i m zeitlichen Nacheinander ergibt sich somit kein Vorrang der bedingenden vor den bedingten Rechtsnormen. Nimmt man die Reine Rechtslehre ernst, so gibt es gerade von ihren eigenen Denkvoraussetzungen her trotz der gegenteiligen Auffassung von Merkl 175 a priori keine Rechtshierarchie, die mit Notwendigkeit als jeder Rechtsordnung immanent angesehen wer175 Adolf Merkl, Gesetzesrecht und Richterrecht (1922), in: Klecatsky / M a r cie / Schambeck (Hrsg.), Die Wiener rechtstheoretische Schule (N. 33), S. 1615 bis 1624, 1618 ist der Auffassung, daß die „Rechtsordnung" sich „notwendig als eine Hierarchie von Rechtserscheinungen" darstellt.
Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?
415
den müßte. Eine ganz andere Frage ist es, ob a posteriori i m Rechtssystem selbst i m Zusammenhang mit den Erzeugungsregeln sekundär eine Organisations- und Entscheidungshierarchie entstehen bzw. aufgebaut werden kann, welche alles weitere selbstreferenzielle Prozessieren im Rechtssystem steuert oder doch maßgeblich mitbestimmt. 3. Auch die Reine Rechtslehre hat, was hier sogleich zugestanden sei, selbstverständlich nicht verkannt, daß ein ganz bestimmter Stufenbau des Rechts in seiner Eigenart „nicht von Recht oder Staat schlechthin" durch die zugehörige „Theorie der Rechtsquellen sowie der Rechtssatzformen" abgeleitet werden, sondern „nur von einem bestimmten Staat oder von bestimmten Staaten geboten werden k a n n " 1 7 6 . Sie hat jedoch, wohl fehlgeleitet durch ihren methodologischen Purismus und den hiermit korrespondierenden juristischen Positivismus versäumt, anstelle der bloßen Apriorisierung dessen, was man über das (wirkliche/mögliche) Recht wissen kann, die Theorie des Rechts und der Rechtswissenschaft von vornherein an den gesellschaftlichen Bedingungen und Möglichkeiten zu orientieren, denen die Rechtsbildung wie die Rechtstheoriebildung nun einmal unterliegen. Das Fehlen einer normativ-realistischen Betrachtungsweise w i r d besonders deutlich an den konzeptionellen Schwächen, die i n der Reinen Rechtslehre vor allem bei der Lehre vom Stufenbau des Rechts und der mit ihr verbundenen Theorie der Grundnorm zu verzeichnen sind. Ihre Defizite werden jedoch erst vollends sichtbar, wenn man beide Theorieteile durch eine realistische Problemsicht substituiert. a) I n dem Maße, in dem die staatlich organisierten Rechtssysteme unter den Bedingungen der Positivität allen Rechts dazu übergegangen sind, von Rechts wegen alles Normieren zu normieren, das heißt sowohl die Selbsterzeugung als auch die Selbstvernichtung (Derogation) von Recht i m Rechtssystem selbst zu regulieren 1 7 7 , hat die Rechtsordnung nicht nur die Form einer selbstreferenziellen, sondern auch einer selbstsubstitutiven Ordnung angenommen. Das staatlich organisierte Rechtssystem und die hierdurch etablierte Rechtsordnung kann als selbstreferenziell bezeichnet werden, weil sie die Elemente, aus denen sie besteht, nämlich u. a. die Rechtsnormen, gleichsam i m Kontakt mit sich selbst produziert und reproduziert 1 7 8 . Jede Einzelentscheidung i n diesem arbeitsteiligen Erzeugungszusammenhang bezieht sich dabei auf andere systemeigene Operationen und Entscheidungen in ein und dem176 Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues (N. 165), S.1319. 177 Walter, Der Aufbau der Rechtsordnung (N. 167), S. 57 f. 178 Eingehend hierzu jetzt: Niklas Luhmann, Machtkreislauf und Recht i n Demokratien, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2 (1981), S. 158 - 167, 159 f.
Werner Krawietz
416
selben Rechtssystem, die — wie die Glieder einer Kette — i n ihrem Erfolg von weiteren Anschlußentscheidungen abhängig sind. Ferner kann die auf diese Weise errichtete Rechtsordnung als selbstsubstitutive Ordnung gelten, weil i m Wege eines bestimmungsgemäßen politischrechtlichen Entscheidens fortlaufend ,altes' Recht durch ,neues' Recht ersetzt werden kann. Damit w i r d auch die Frage nach dem Stufenbau des Rechts und der ihn abschließenden Grundnorm zu einem Problem, über das im Rechtssystem selbst entschieden werden kann. Vom Standpunkt einer normativ-realistischen Betrachtungsweise kann über den Stufenbau des Rechts überhaupt wie über die Grundn o r m nur mit Bezug auf organisiertes Rechtssystem
ein jeweils schon vorausgesetztes und dessen Verfassungsrechtslage
staatlich befunden
werden, aus der sich zugleich das jeweilige System seiner Rechtsquellen ergibt. Jedes staatlich organisierte Rechtssystem nimmt als solches für sich in zweierlei Hinsicht eine basale Entscheidungssouveränität in A n s p r u c h , die (1) i n der Negation
jeder
Fremdreferenz
u n d (2) i n e i n e r
bewußten Option für Selbstreferenz zum Ausdruck gelangt, welche sich vor allem in dem Aufbau der Entscheidungsorganisation des Rechtssystems manifestiert. Die Vorstellung einer von der Reinen Rechtslehre noch für unerläßlich gehaltenen, jedem Rechtssystem als dessen letzter Geltungsgrund vermeintlich vorausgesetzten bzw. vorauszusetzenden Grundnorm erscheint bei Selbstreferenz des Rechtssystems, von der nach Auffassung des Rechtsrealismus auszugehen ist, schlicht entbehrlich, da der Stufenbau des Rechts, sofern er überhaupt besteht, seinen l e t z t e n Geltungsgrund
im Rechtssystem
selbst
findet.
b) Auch der Stufenbau als solcher erweist sich damit als Teil einer selbstreferenziellen Ordnung, die i m Rechtssystem selbst hergestellt worden ist und ihre eigene Systemrationalität besitzt. Realistisch betrachtet, geht es i m staatlich organisierten Rechtssystem i n puncto ,Stufenbau' allein darum, je nach gesellschaftlichen Gegebenheiten eine mehr oder weniger organisierte Hierarchie des Entscheidens über Entscheidungsprämissen zu errichten, weil in höher entwickelten Gesellschaften die Erwartungssicherung und Verhaltenssteuerung mit Mitteln des Rechts nur noch durch Mehrebenenstrukturen sichergestellt werden kann 1 7 9 . Ihre Funktion kann in der Gewährleistung der Möglichkeit erblickt werden, mit relativ wenigen Entscheidungen über große Entscheidungsmengen vorzuentscheiden, ohne damit die demnächst zur Konkretisierung erforderlichen Entscheidungen i m Detail vorwegzunehmen. Rechtstechnisch gesehen geht es somit darum, mit möglichst 179 Z u r Systemsteuerung über Mehrebenenstrukturen u n d lebenspraktisch vereinfachte Hierarchisierungen: Luhmann / Schorr, Reflexionsprobleme i m Erziehungssystem (N. 120), S. 125 ff., 129 f.
Reinheit der Rechtslehre als Ideologie? wenigen Entscheidungen über verschiedene Entscheidungsebenen weg möglichst weitreichende Wirkungen sicherzustellen. Dem
417 hinstehen
allerdings die recht erheblichen Schwierigkeiten einer rationalen Dekomposition der höchst komplexen rechtlichen Entscheidungsprobleme entgegen. Sie können letzten Endes nicht aus der Welt geschafft, sondern nur dadurch bewältigt werden, daß man auch i n den Endphasen des Entscheidens auf den unteren Stufen der Entscheidungshierarchie noch einen relativ hohen Grad an situativer Selbststeuerung zuläßt. Man kann sagen, daß die Entscheidungsprozesse, die auf den höheren Ebenen der Entscheidungshierarchie stattfinden, auf den unteren Ebenen spezifische Änderungen auslösen können, indem sie das System durch selektiven Zugriff (Verfassungsänderung, Gesetzgebung) beeinflussen. Ihr Beitrag zur Selbststeuerung des Rechtssystems liegt i n der Möglichkeit
hierarchischer
Kontrolle,
das h e i ß t , sie k ö n n e n mit
wenigen
Selektionen viele Selektionen (z. B. mit einer Verfassungsänderung eine Vielzahl von sich anschließenden Gesetzgebungsakten) mitbestimmen. Die intendierten Rechtswirkungen auf der rechtstechnischen Wirkungsebene fallweise unmittelbar sicherstellen können sie nicht. I n selbstreferenziellen Rechtssystemen nimmt somit der Stufenbau des Rechts die Form einer Selbsthierarchisierung des Rechtssystems an, welche den Aufbau der Rechtsordnung nicht erklärt, sondern selber der Erklärung bedürftig erscheint. Wo die Reine Rechtslehre sich am Ziel ihrer rechtstheoretischen Arbeit wähnt, weil sie in der Lehre vom Stufenbau des Rechts eine der wesentlichen Erklärungsleistungen, wenn nicht das Kernstück ihrer Theorie des Rechts erblickt, fängt die rechtstheoretische Arbeit überhaupt erst an. c) Bislang ist — abgesehen von der Identifikation des Problems, das sich erst einer normativ-realistischen Betrachtungsweise vollends erschließt — nur wenig getan. Ich kann und muß mich jedoch i m vorstehenden Zusammenhang mit der knappen Charakteristik der Mehrebenenstrukturen begnügen, die sich i m Verlaufe der Entwicklung staatlich organisierter Rechtssysteme im Wege einer Selbsthierarchisierung herausgebildet haben. Schon diese kurze Charakterisierung läßt nämlich erkennen, daß und inwiefern die Stufenbautheorie der Reinen Rechtslehre — unter dem Aspekt pragmatischer wie theoretischer Ideologiekritik betrachtet — in Gefahr geraten ist, sich mit einem verzerrten Bild von der Struktur der staatlichen Organisations- und Entscheidungshierarchie zu begnügen. Die hieraus resultierende Gefahr einer Reideologisierung des Rechtsdenkens ergibt sich vor allem aus einer Reihe von Fehleinschätzungen, die der Reinen Rechtslehre i m Rahmen ihrer Stufenbautheorie unterlaufen sind. Ich möchte i m folgenden nur drei herausgreifen. 27 R E C H T S T H E O R I E , B e i h e f t 4
Werner Krawietz
418
(i) Indem die Reine Rechtslehre den Stufenbau der Rechtsordnung unter dem Aspekt der Rechtserzeugung als einen Ablauf deutet, der von den obersten Stufen der Rechtshierarchie, insbesondere der Verfassung, den Gesetzen usw. bis hinunter zum behördlichen Individualakt und zum Rechtsgeschäft reicht, also von oben nach unten gerichtet ist (und nicht umgekehrt!), gelangt sie ungewollt zu einer gewissen Überschätzung
der Möglichkeiten
zentraler
Steuerung.
D i e i m Rechts-
system möglichen und wirksamen Interdependenzen erscheinen i h r demzufolge vor allem als zentral vermittelte Interdependenzen, w e i l i m Stufenbau des Rechts, der aus Rechtsnormen als seinen Elementen besteht, nicht mehr jedes Element von jedem anderen abhängig ist, sondern alle nur von einem zentralen Element (z. B. der Staatsverfassung oder bei monarchischer Staatsform von ihrer hierarchischen Spitze, dem Monarchen!) abhängen. Die Stufenbautheorie der Reinen Rechtslehre verkennt somit, daß das staatlich organisierte Rechtssystem , realistisch betrachtet, e i n System ohne Zentrum
und ohne Spitze 180
ist.
(ii) Auch verdrängt die Vorstellung eines Stufenbaus der Rechtsordnung, die von einer Hierarchie der Rechtsnormen bzw. der rechtlichen Geltungsebenen ausgeht 1 8 1 , i n der von oben nach unten gesteuert wird, die realistische Einsicht, daß i n einem staatlich organisierten Rechtssystem m i t
funktionierender
Trennung
und
Verknüpfung
mehrerer
Struktur ebenen auch die unteren Ebenen den Realitätsbereich der höheren Ebenen beschränken (z. B. die Gesetzgebung die Möglichkeiten der Verfassungsdeutung, obwohl das von Verfassungs wegen nicht sein darf!). Die Stufenbautheorie der Reinen Rechtslehre basiert somit auf einer zumindest partiellen Verkennung der wechselseitigen Interdependenzen der
Strukturebenen.
(iii) Schließlich verkennt die Stufenbautheorie der Reinen Rechtslehre, daß es sich bei der von ihr diagnostizierten, vermeintlich jedem Recht immanenten Rechtshierarchie i n Wirklichkeit bloß u m sekundäre Entscheidungsvereinfachungen handelt, die den Bedingungszusammenhang, der i n einem staatlich organisierten Rechtssystem zwischen den Normen des Rechts nun einmal besteht, i n seiner Interdependenz l i m i 180 So expressis verbis: Luhmann, Politische Theorie i m Wohlfahrtsstaat (N. 127), S. 22 f., 46 ff. 181 Zur A t t r a k t i v i t ä t des Anspruchs, i m politischen System unserer Gesellschaft, insbes. i m staatlich organisierten Rechtssystem, eine „gar nicht vorhandene und doch vermißte Position, das Zentrum, zu besetzen": Luhmann, ebd., S. 22 ff., 121 f., der den Grund für diese funktionale Selbstbeschränkung i n der gesellschaftlichen „Dezentrierung des menschlichen Lebens" erblickt, das i m Verhältnis zu allen Individuen „ k e i n Gegenüber mehr" bietet, sondern die Individuen „stets nur rollenmäßig, stets n u r i m spezifisch-funktionalen Bezügen engagiert". Dies gilt auch für das staatlich organisierte Rechtssystem i n allen seinen Funktionen.
Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?
419
tieren. Ersetzt man nämlich die Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung, wie i m vorstehenden Zusammenhang geschehen, durch die sehr viel realistischere Vorstellung einer Selbsthierarchisierung des Rechtssystems, so w i r d deutlich, daß durch die i m Entscheidungswege erfolgte Etablierung einer Mehrebenenstruktur tatsächlich eine drastische Entscheidungsvereinfachung gewährleistet zu werden vermag. Sie besteht darin, daß i m Rechtssystem die verschiedenen Normierungs- und Geltungsebenen des Rechts i n ein asymmetrisches Verhältnis gesetzt werden in dem Sinne, daß die unteren Entscheidungen an die oberen gebunden werden (aber nicht die oberen an die unteren!) 1 8 2 . A u f diese Weise w i r d trotz Wechselseitigkeit der Beziehungen zwischen den rechtlichen Entscheidungsorganen bzw. den Normierungs- und Geltungsebenen des Rechts die Interdependenz i m Sinne einer einseitigen Festlegungsabhängigkeit (nur von oben nach unten!) limitiert. Es findet s o m i t eine Umformung
symmetrischer
in asymmetrische
Beziehungen
statt. Diese Selbsthierarchisierung setzt eine rechtswesenhafte Überbzw. Unterordnung von Rechtsnormen gerade nicht voraus, sondern beschränkt sich auf eine Asymmetrisierung des Verhältnisses, in dem rechtserzeugende Organe bzw. Rechtsnormen zueinander stehen. Indem man i m Wege rechtlichen Entscheidens von Verfassungs und Rechts wegen i n der Organisation des Rechtssystems arbeitsteilig differenzierte, hierarchisch geschichtete Kompetenzen, bei der Normierung von Recht hingegen unterschiedliche Geltungsebenen etabliert und diese Kompetenzen bzw. Rechtsnormen zueinander i n ein asymmetrisches Verhältnis setzt, w i r d zugleich eine alles künftige rechtliche E n t s c h e i d e n v e r e i n f a c h e n d e Hierarchisierung
der
rechtlich
relevanten
Entscheidungsgesichtspunkte ermöglicht. Zwischen den verschiedenen, füreinander exklusiven Entscheidungsstellen und ihren Aktivitäten i m Rechtssystem — jede Kompetenz ist nun einmal nach der Ratio arbeitsteiligen Entscheidens eine ausschließliche! — werden durch Selbsthierarchisierung die an sich möglichen wechselseitigen Interdependenzen rechtlich sehr weitgehend ausgeschlossen und durch einseitige, auf Befehl und Gehorsam basierende, gleichsam von oben nach unten verlaufende Festlegungsabhängigkeiten (der ranghöheren i m Verhältnis zur rangniederen Kompetenz/Rechtsnorm!) ersetzt, so daß i m Rechtssystem selbst eine — freilich bloß sekundäre! — Weisungshierarchie der Organisation bzw. eine Rechtshierarchie der unterschiedlichen Normen und Entscheidungsverfahren entsteht 1 8 3 . Wer diese lebens182 Dazu u n d zum folgenden erfreulich nüchtern: Luhmann, Systemtheoretische Beiträge zur Rechtstheorie (N. 68), S. 63 ff., der i n der Asymmetrisierung von Sozialbeziehungen m i t M i t t e l n des Rechts bzw. i m Recht selbst nicht etwa den Ausdruck eines Rechtswesens erblickt, sondern eine lebenspraktische Vereinfachung der Entscheidungsorganisation. 183 Luhmann, Politische Theorie i m Wohlfahrtsstaat (N. 127), S. 42 ff.
27'
Werner Krawietz
420
praktischen, auf mehr oder weniger bewußter und gewollter metrisierung
sozialer
Beziehungen
beruhenden
Asym-
Entscheidungsverein-
fachungen fälschlich für ,rechtswesenhaft 4 hält und als »vorgegeben4 ansieht, anstatt sie auf ihre sozialstrukturellen Voraussetzungen und Folgen zu untersuchen und ihre Funktionsweise zu erklären, läuft Gefahr, einer ungeprüften, höchst problematischen Ideologie des Rechts aufzusitzen und die eigentliche Aufgabe der Theorie des Rechts zu verfehlen. Schluß: Wer die Reine Rechtslehre unter ideologiekritischem Vorzeichen behandelt, u m ihr rechtswissenschaftliches Vorgehen in Theorie und Methode unter dem Aspekt pragmatischer wie theoretischer Ideologiekritik zu deuten, kann heute nicht umhin, auch die ihr selbst gar nicht bewußten, aber gleichwohl vorhandenen, jedoch latenten sozialen Komponenten aller wissenschaftlichen A k t i v i t ä t i n seine rechtstheoretischen Überlegungen einzubeziehen. Offensichtlich reicht die gesellschaftliche Determination auch der rechtswissenschaftlichen, insbesondere der rechtstheoretischen Grundlagenforschung sehr viel weiter als manche Anhänger moderner Rechtstheorie, vor allem der Reinen Rechtslehre Kelsens, wahrhaben wollen. Zieht man infolgedessen die Möglichkeit einer Inkongruenz von rechtspraktischer und rechtsdogmatischer normativer Handlungsorientierung einerseits sowie der rechtstheoretischen Selbstreflexion andererseits, wie sie eine Theorie selbstreferenzieller sozialer Systeme heute gestattet, ernsthaft i n Betracht, so w i r d man nicht länger darauf vertrauen dürfen, daß das Sein bzw. das Sollen als solches — gleichsam unabhängig vom gesellschaftlichen Erfahrungsbereich des Rechts! — von selbst seine ihm »wesentlichen4 und »unwesentlichen4 Aspekte offenbart. Es geht dabei auch nicht u m ein Ignorieren unwichtiger, sondern u m eine Verdrängung von rechtstheoretisch überaus wichtigen, normativ höchst relevanten Einsichten i n die soziale Struktur und Funktion staatlich organisierter Rechtssysteme sowie des zugehörigen Rechtswissenschaftssystems. Folgt man i m Ergebnis den hier vorgelegten Analysen, nach welchen die Reine Rechtslehre i n Theorie und Methode bei der Behandlung einer Reihe von Problemen, wie beispielsweise des Dualismus von Sein und Sollen, der Theorie der Grundnorm und der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung — von ihr selbst weitgehend unbemerkt! — nicht nur einer tiefgreifenden Selbstapriorisierung ihres Rechtsdenkens erlegen ist, sondern auch eine wenig angebrachte Dualisierung und Dichotomisierung von Sollen und Sein, Recht und Rechtswirklichkeit betreibt, die bereits zu einer wenig realistischen Auffassung vom Stufenbau des Rechts geführt hat, so ist ein gewisser Ideologieverdacht nicht von der Hand zu weisen. Angesichts dieser Entwick-
Reinheit der Rechtslehre als Ideologie?
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lung erscheint die Befürchtung durchaus angebracht, daß die Reine Rechtslehre aufgrund ihres methodologischen Purismus und des von ihr nach wie vor vertretenen juristischen Positivismus gegenwärtig in einigen Teilbereichen ihrer Theoriebildung in Gefahr ist, durch i h r Rechtsdenken — vielleicht mehr als ihr lieb sein kann und jedenfalls deutlicher als ihr bewußt zu sein scheint! — zu einer Ideologisierung bzw. Reideologisierung des Rechtsdenkens beizutragen oder doch zumindest wie eine Ideologie zu wirken, welche den Blick auf die gesellschaftliche Basis allen Rechts verstellt.
KELSENS VERHÄLTNIS Z U M SOZIALISMUS UND MARXISMUS Von Norbert Leser, Wien Wenn man dem Verhältnis Hans Kelsens zur marxistischen Theorie und Praxis, die wohl die wirksamsten historischen Erscheinungsformen des Sozialismus darstellen, auf den Grund gehen w i l l , darf man sich nicht auf die hochbedeutsamen Monographien beschränken, die speziell einer Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen der Geistes- und Sozialgeschichte gewidmet sind, so unentbehrlich diese Schriften für die Rekapitulation des Kelsenschen Bildes vom Sozialismus und Marxismus auch sind. Der Gegensatz Kelsens zur marxistischen Denkweise ist nämlich so fundamentaler A r t , daß er nicht nur i n Form einer Einzelkritik an verschiedenen Punkten der marxistischen Theorie und Praxis, sondern i m gesamten Werk von Kelsen zum Vorschein kommt und dieses auch dort durchzieht, wo vom Marxismus nicht ausdrücklich die Rede ist. Trotzdem sowohl der Marxismus, als auch das Denken Kelsens ideologiekritische und antimetaphysische Positionen sind, die insofern auch Gemeinsamkeiten aufweisen, auf die noch zurückzukommen sein wird, sind doch auch die Gegensätze unübersehbar. Diese Gegensätze gipfeln i n einem Grundgegensatz, der vor allem die „Reine Rechtslehre", die die originellste und systematischste Schöpfung Kelsens darstellt, durchzieht. Kelsens „Reine Rechtslehre", aber auch seine übrigen Schriften, sind von der Anerkennung und Betonung eines Dualismus geprägt, der auch dem Denken vor Kelsen nicht fremd war und vor allem i n Anlehnung an die Kantsche Tradition eine große Rolle gespielt hat, aber erst von Kelsen in strenger Form in die Rechtslehre eingeführt wurde. Es handelt sich um den Dualismus von Sein und Sollen, von kausalgesetzlich zu erfassender Naturwirklichkeit und von normativ zu deutender gesellschaftlicher Realität. Kelsen beharrt auf diesem Dualismus und wendet sich gegen die versuchte Einebnung des Sollens auf die Ebene des Seins, obwohl er nicht leugnet, daß es mannigfache Beziehungen zwischen Sein und Sollen gibt. Aber es handelt sich nach i h m bei Seins- und Sollensaussagen um verschiedene Größen, deren Unterschiedlichkeit keiner weiteren Begründung fähig, aber auch bedürftig ist, da sie unserem Bewußtsein unmittelbar gegeben ist 1 . Es ist ganz 1
Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., W i e n 1960, S. 5.
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evident, daß die Aussage, daß etwas sein wird, etwas anderes meint, als daß etwas sein soll. Dementsprechend unterscheidet Kelsen zwei getrennte Bereiche, für die auch verschiedene Prinzipien und methodische Anforderungen gelten: i m Bereich der Naturwirklichkeit herrscht das Prinzip der Kausalität, demzufolge gilt, daß, wenn A ist, so ist Β (oder sein wird), für den normativen Bereich der Gesellschaft gilt das Prinzip der Zurechnung, welches besagt, daß, wenn A ist, Β sein soll 2 . Kelsen leugnet nicht, daß auch die gesellschaftlichen Beziehungen als kausale Aktionen und Reaktionen verstanden und gleichsam naturwissenschaftlich betrachtet werden können, nur daß dann eben der spezifische Charakter, der normative Ordnungen von natürlichen unterscheidet, verlorengeht und die spezifische Gesetzlichkeit, die i n der menschlichen Sozialwelt herrscht, nicht ins Blickfeld rückt. Wenn Kelsen für den Dualismus von Sein und Sollen, von Kausalität und Zurechnung, eintritt, so nicht aus Eigensinn und Lust an methodischer Komplizierung der Wirklichkeit, sondern aus der Überzeugung heraus, daß jeder Versuch der Verwischung dieses Unterschiedes und der Ableitung der Wirklichkeit aus einem Prinzip zu einer Verarmung und Verkennung führt, die sich an der Wissenschaft rächt. Kelsen hält den Unterschied von Sein und Sollen für so fundamental, daß er sich sogar weigert, einen logischen Oberbegriff des „Seins" zu konstruieren, der auch das Sollen umfaßt, obwohl — logisch gesehen — auch das Sollen und seine spezifische Seinsweise des Geltens unter einen weiteren Seinsbegriff fällt. Ein solcher weiterer Begriff, der alles Existierende umfaßt, ist aber der Gefahr der methodischen Unklarheit und Vermischung der Sphären ausgesetzt, die Kelsen durch seine auch sprachlich durchgeführte Abgrenzung vermieden wissen w i l l . Mit diesem Ansatz, der Sein und Sollen methodisch konsequent trennt, kommt aber Kelsen mit dem marxistischen Versuch, das Sollen als eine bloße Transformation und Verhüllung des Seins nachzuweisen, ja als zur Täuschung bestimmte Ideologie abzulehnen, in Konflikt. Wohl hält Kelsen die Identifizierung der Rechts- mit der Moralnorm und damit die Aussage, daß man den Gesetzen unter allen Umständen gehorchen soll, für eine Ideologie, die wiederum auf die Verwischung der gerade von der „Reinen Rechtslehre" herausgearbeiteten Unterscheidung zwischen Moralnorm und Rechtsnorm zurückgeht 3 . Aber die Erkenntnis, daß man innerhalb der normativen Ordnung unterscheiden muß, ist nicht gleichbedeutend mit der Vernachlässigung des Unterschiedes zwischen den normativen Ordnungen einerseits und der kau2 3
Ders., ebd., S. 93. Ders., ebd., S. 60 ff.
Kelsens Verhältnis zum Sozialismus u n d Marxismus
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salgesetzlich zu erfassenden Naturwirklichkeit anderseits. I m übrigen hat Kelsen aufgezeigt, daß auch der Marxismus nicht ohne einen Dualismus, ja sogar ohne mehrere Dualismen auskommt: der marxistische Dualismus von Unterbau und Überbau, sowie der die marxistische Theorie durchziehende, von Gesellschaft und Staat, sind Dualismen, die mit den von Kelsen und seiner „Reinen Rechtslehre" postulierten in Konkurrenz treten. Kelsen hat sich jedoch um den Nachweis bemüht, daß diese beiden Dualismen den von Kausalität und Zurechnung nicht ersetzen, sondern ihn durchkreuzen und methodisch weniger fruchtbare Anknüpfungspunkte darstellen. Gegen den marxistischen Dualismus von Unter- und Überbau wendet Kelsen ein, daß er die gesellschaftliche Wirklichkeit zerreiße und mit der Naturwirklichkeit vermenge 4 . Denn wenn man — dem Vorwort von Marx zur „ K r i t i k der politischen Ökonomie" folgend — dem Unterbau sowohl die Produktionskräfte als auch die sie regulierenden Produktionsverhältnisse zuordnet, dem Überbau aber die „juristischen und politischen" Normen, macht man sich einer Verletzung der methodischen Unterscheidung schuldig: auch die Produktionsverhältnisse sind nämlich bereits juristisch bestimmte Verhältnisse. Das Dilemma des marxistischen Dualismus besteht also darin, entweder an der strengen Gegenüberstellung von Unterbau und Überbau festzuhalten, damit aber der Gefahr der Isolierung und Hypostasierung der Produktionskräfte als rein materiell verstandener Faktoren zu erliegen, oder aber inkonsequent zu verfahren und die juristischen Normen sowohl schon i m Unterbau als auch i m Überbau anzusiedeln, womit der Dualismus aber seinen einprägsamen Erklärungswert verliert. I m übrigen w i r f t Kelsen Marx in diesem Zusammenhang auch vor, den der traditionellen bürgerlichen Rechtstheorie eigenen Dualismus von Staat und Recht, den die „Reine Rechtslehre" durch einen konsequenten Monismus ersetzt, weitergeschleppt und nicht überwunden zu haben. Gegen den Dualismus von Staat und Gesellschaft wiederum macht Kelsen geltend, daß diese Unterscheidung nicht die Kenntnis der Zusammenhänge fördert und nicht der Erkenntnis dient, sondern in den Dienst eines bestimmten Wollens t r i t t und in Wirklichkeit den „Gegensatz zweier einander entgegengesetzter ethisch-politischer Postulate" 5 darstellt, wobei die Gesellschaft mit dem „guten", der Staat hingegen mit dem „bösen" Prinzip identifiziert wird. Daher prallen denn auch 4
Hans Kelsen, Sozialismus u n d Staat. Eine Untersuchung der politischen Theorie des Marxismus, 2. Aufl., Leipzig 1923, S. 11 ff. (dieser i n einer längeren Fußnote enthaltene Passus ist n u r i n der 2. Auflage, die eine Polemik gegen M a x Adlers i m Rahmen der „ M a r x - S t u d i e n " (Wien 1922) erschienene Schrift „Die Staatsauffassung des Marxismus" enthält, zu finden). 5 Kelsen, in: Sozialismus u n d Staat, 3. A u f l . Eingeleitet u n d herausgegeben von Norbert Leser, W i e n 1965, S. 31.
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die in der Staatslehre konsequent weitergeführten gegensätzlichen Ansätze von Marxismus und „Reiner Rechtslehre" hier am heftigsten aufeinander. Während der Marxismus den Staat als eine ideologische Form der Verarbeitung gesellschaftlicher Konflikte und dementsprechend als vergängliche Erscheinungsform ansieht, die mit dem Fortschritt der gesellschaftlichen Entwicklung dazu bestimmt ist, wieder in der Gesellschaft, aus der er gekommen ist und der gegenüber er sich verselbständigt hat, aufzugehen, betrachtet die „Reine Rechtslehre" den Staat zwar insoferne auch nicht als unhistorisch und überzeitlich, als sie den Staatsbegriff für normative Ordnungen reserviert, die sich durch Arbeitsteiligkeit und eine relativ fortgeschrittene Zentralisation auszeichnen, so daß primitive Gesellschaften — wenn auch aus anderen Gründen — wie i m Marxismus aus dem Staatsschema herausfallen 6 . Doch abgesehen davon w i r d der Staat als normative Zwangsordnung mit einem bestimmten räumlichen, zeitlichen und sachlichen Geltungsbereich definiert und davon abstrahiert, welchen konkreten gesellschaftlichen Inhalt die einzelne staatliche Ordnung umfaßt. Für die marxistische Betrachtung aber kommt es gerade auf diesen Inhalt und dessen historische Überwindung an, die marxistische Staatslehre steht wie die marxistische Doktrin insgesamt i m Dienste eines politischen Wollens, während die „Reine Rechtslehre" die Erkenntnis des Rechtes fördern w i l l und es ablehnt, in den Dienst eines politischen Wollens zu treten 7 . Kelsen zeigt in seiner „Reinen Rechtslehre", aber auch in seinen einschlägigen kritischen Schriften, daß die marxistische Gleichsetzung des Staates mit der Klassenunterdrückung und die Beschränkung des Zwangsbegriffes auf die Ausübung dieser Unterdrückungsfunktion schwerwiegende theoretische und praktische Nachteile hat. So naheliegend es vom Standpunkt einer politischen Bewegung, die den Klassenstaat überwinden w i l l , auch ist, die Funktion des Staates i n der Klassenunterdrückung erschöpft zu sehen, so unhaltbar ist diese Gleichsetzung historisch und methodisch dennoch. Denn wenn auch ohne weiteres zugegeben werden kann, daß der Staat i m Zeitalter des Liberalismus, das Marx inspirierte, überwiegend den Interessen der herrschenden bürgerlichen Klasse diente, so hat sich dennoch die Tätigkeit des Staates auch in einer solchen Epoche nie darin erschöpft, ein Herrschaftsinstrument einer Klasse über die andere zu sein. Wichtiger ist aber noch der Hinweis, daß sich der Staat von seinen ursprünglichen historischen Funktionen emanzipieren und neue Funktionen, die seine soziale Rolle verändern, hinzugewinnen kann und auch hinzugewonnen hat, ohne seinen Charakter als normative Zwangsordnung zu verlieren. • Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 161. 7 Ders., ebd., S. 1.
Kelsens Verhältnis zum Sozialismus und Marxismus
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Die Wahl des marxistischen Ansatzes, der den Staat mit der Klassenunterdrückung und den Zwang mit der Ausübung dieser Unterdrükkung identifiziert, hat aber nicht nur den Nachteil, weniger elastisch zu sein und den Staatsbegriff unzulässig zu verengen, sondern bringt auch die marxistische Theorie selbst in überflüssige Schwierigkeiten. So ist der Marxismus auf Grund der Gleichsetzung von Zwangsgewalt mit Klassenunterdrückung gezwungen, den Übergangszustand der „Diktatur das Proletariats", der zwischen kapitalistischer und sozialistischer Gesellschaft liegen soll, weiterhin als „Staat" zu etikettieren, obwohl diese Diktatur keine „Ausbeutung" i m marxistischen Sinne mehr beinhaltet, da Ausbeutung begrifflich auf die Aneignung der Früchte der Mehrheit durch eine Minderheit beschränkt ist 8 . Ganz abgesehen von diesen terminologischen Schwierigkeiten und Engpässen aber, erzeugt diese Identifizierung Erwartungen, die von der Praxis nicht erfüllt und eingelöst werden können. Die Lehre vom „Absterben des Staates", die eine Konsequenz der Identifizierung von Staat und Zwang, bzw. Zwang mit Klassenunterdrückung ist, erweckt Hoffnungen, die nicht nur von keiner der bestehenden Formen sozialistischer Verwirklichung erfüllt wurden, sondern auch gar nicht erfüllt werden können, weil der Zwang ein notwendiger Bestandteil einer staatlich verfaßten gesellschaftlichen Ordnung ist, ja ihr eigentliches Abgrenzungskriterium darstellt. Diese Betonung des Zwangscharakters jeder staatlichen Ordnung steht einem Abbau bestimmter Formen der Klassenunterdrückung oder der Klassenunterdrückung überhaupt ebensowenig i m Wege, wie die von der „Reinen Rechtslehre" aus logisch-systematischen Gründen vorgenommene Betonung der Rechtspflicht gegenüber der Berechtigung einer inhaltlich liberalen Gestaltung der Rechtsordnung den Weg versperrt. I n beiden Fällen geht es viel mehr nur darum, eine Begrifflichkeit zu erarbeiten, die dem Gegenstand angemessen ist und auch durch eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht aus den Angeln gehoben wird. Kelsen lehnt sowohl die Fiktion, daß der Staat eine solidarische Ordnung sei, die alle Interessen zur Zufriedenheit aller harmonisiere, als auch die marxistische Vorstellung, daß es unüberwindliche gesellschaftliche Konflikte gäbe, die den Staat dazu verurteile, einseitiges Exekutions-Organ einer Klasse gegenüber einer anderen zu sein, ab 9 . Kelsen sah den Charakter des Staates als Zwangsordnung durch die Sprengung des Klassenstaates nicht für erschüttert an, außerdem teilte er nicht die marxistische Vorstellung, daß es zu einer gewaltsamen Sprengung der bestehenden Ordnung kommen werde. Er sah die vom 8
Ders., in: Sozialismus u n d Staat, 3. Auflage, S. 40. • Ders., ebd., S. 29.
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Marxismus analysierten Konflikte nicht für solche an, die unbedingt in einen antagonistischen Kampf münden müssen. Umgekehrt aber war Kelsen der Überzeugung, daß auch Konflikte, die von der marxistischen Theorie als nicht-antagonistische klassifiziert werden, unter Umständen zu solchen werden können: „ . . . denn es gibt gar keine Meinungsverschiedenheit, die nicht zu einem Gegensatz auf Tod und Leben werden kann" 1 0 . Hinter dieser verschiedenen Einschätzung von Entwicklungsmöglichkeiten und -tendenzen stehen verschiedene geistesgeschichtliche Voraussetzungen, die von Kelsen kritisch analysiert und kommentiert wurden. Kelsen rechnete Marx und dem Marxismus vor, anarchistischen Vorurteilen, hinter denen sich übernommene bürgerlich-individualistische Theoreme und Ansätze verbergen, erlegen zu sein 11 . Es entbehrt nicht der historischen Pikanterie, zeugt aber auch von der wechselnden historischen Verschränkung von Gedanken, wenn der links-liberale Kelsen dem radikalen Sozialisten Marx vorwirft, ein Opfer individualistischer und bürgerlich-liberaler Auffassungen geworden zu sein. Dieses Erbe des Liberalismus, das sich i m Anarchismus zuspitzt, aber nicht in ihm erschöpft, ist nicht nur durch den Rekurs auf das emanzipierte und von den gesellschaftlichen Bindungen, besonders der der Arbeitsteilung, befreite Individuum, das Marx als Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung vorschwebte, belegt, sondern auch durch die Übernahme des liberalen Staatsbegriffes und der Arbeitswertlehre der klassischen Nationalökonomie, die Marx mit verschiedenen Vorzeichen versah und in den Dienst anderer Konsequenzen stellt, i m übrigen aber unangetastet ließ. Kelsen sieht das „anarchistische Ideal des Kommunismus" 1 2 in der marxistischen Vision der Zukunftsgesellschaft und der Rolle des Individuums innerhalb dieser Gesellschaft zum Durchbruch kommen, er schätzt allerdings die Chancen, daß sich die Wirklichkeit dieser Erwartung angleicht, gering ein. Kelsen verweist auf den „Widerspruch zwischen der politischen und ökonomischen Theorie des Marxismus" 1 3 als einer der Hauptquellen bereits eingetretener und noch zu erwartender gesellschaftlicher Enttäuschungen: während nämlich die politische Theorie des Marxismus anarchistische Züge trägt und einem Reich der Freiheit entgegenstrebt, disponiert die ökonomische zum wirtschaftlichen Zentralismus und Dirigismus. Es läßt sich darüberhinaus in Anschluß an Kelsen zeigen, daß auch die politische Theorie 10 11 12 13
Ders., Ders., Ders., Ders.,
ebd., ebd., ebd., ebd.,
S. S. S. S.
92. 47 ff. 78. 78.
Kelsens Verhältnis zum Sozialismus und Marxismus
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des Marxismus selbst von einem Widerspruch zwischen der Perspektive der revolutionären Machteroberung und der friedlichen Evolution durchzogen ist 1 4 . Außerdem gerät der Marxismus gerade dort, wo er sich für Zwang und die Gewalt entscheidet, in ein Dilemma, das Kelsen als Widerspruch zwischen dem Moralismus der eigenen Perspektiven und Ziele und dem Immoralismus, der aus der Unbedenklichkeit bei der Wahl der Mittel i m Dienst der Revolution folgt, klassifiziert 15 . Letzten Endes stehen hinter den verschiedenen Konzeptionen von Marx und Kelsen aber auch verschiedene Menschenbilder, die trotz der gemeinsamen Herkunft von der Aufklärung verschiedene Ausprägungen dieser Tradition repräsentieren. Während Marx einem soziologisch begründeten Optimismus huldigte, der sowohl den Erziehungs- als auch den Fortschrittsgedanken der Aufklärung übernahm, ja zur höchsten Potenz steigerte, ist Kelsen trotz seiner Fortschrittlichkeit in politischen Fragen doch eher der pessimistischen Version dieser Entwicklung zuzuzählen, auch in dieser Beziehung Kant ähnlich und in seiner Tradition stehend, der auf der einen Seite „Vom ewigen Frieden" träumte und an aufklärerischen Maximen, wie der des „Ausganges des Menschen aus selbst verschuldeter Unmündigkeit" festhielt, auf der anderen Seite aber eine Philosophie des „Radikal Bösen" in der menschlichen Natur entwickelte. I n dem alten Streit, ob die schlechten Verhältnisse den guten Menschen schlecht gemacht und damit denaturiert und seiner wahren Natur „entfremdet" haben oder ob es sich umgekehrt so verhalten hat, daß der schlechte Mensch die ihm adäquaten Verhältnisse geformt hat, bezieht Kelsen eher die Partei derer, die nicht an eine spätere Verbildung, sondern an eine vorgängige Neigung zum Negativen glauben: „Der letzte Grund für diese Fremdheit gegenüber der Mannigfaltigkeit der sozialen Möglichkeiten, dieser Blindheit einer sozialen Theorie, die alles nur im Grau des Ökonomischen sieht, liegt darin, daß sie zur Erklärung der äußeren Verhältnisse nicht auf die seelische Natur des Menschen greift, sondern umgekehrt für die Unzulänglichkeit dieser Natur die äußeren Verhältnisse, die Produktionsverhältnisse, verantwortlich macht. Der böse Kapitalismus macht die Menschen schlecht, macht ihn zum Verbrecher, zum Sozialschädling, so lehrt der Marxismus. A l l e i n vielleicht ist der Kapitalismus nur möglich, weil dieses verwerfliche System der Ausbeutung doch irgendwie der Natur des Menschen entspricht, weil es einen unverwüstlichen Trieb des Menschen gibt, andere für sich arbeiten zu lassen, ja überhaupt, andere Menschen als Mittel für eigene Zwecke zu benützen. Und dieser Trieb findet in 14 15
Ders., ebd., S. 54. Hans Kelsen, The Communist Theory of Law, London 1955, S. 41.
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der wirtschaftlichen Ausbeutung nur eine von vielen Möglichkeiten 16 ." Kelsen meint, daß „wer den Palast der Zukunft aus anderem Material errichten zu können glaubt, wer seine Hoffnung auf eine andere Menschennatur stützt, als jene ist, die w i r kennen", „unrettbar ins Nebelland der Utopie" 1 7 gerät. Jedenfalls ist die Bedeutung dieser, nur an wenigen Stellen deutlich zum Vorschein kommenden, aber den beiden Gesamtkonzepten zugrundeliegenden anthropologischen Prämissen nicht gering zu schätzen, ja man kann sie als außerwissenschaftliche Voraussetzungen für die Wahl bestimmter Ansätze und Denkmuster identifizieren und i n Anschlag bringen. Für Kelsen rückte der Marxismus m i t der Verheißung einer solidarischen Gesellschaft, in der es keine Unterdrückung und folglich auch keinen Zwang mehr geben werde, in der Nähe der Religion, die auch „einen neuen Himmel" und „eine neue Erde" verheißt, allerdings — und das ist der entscheidende Unterschied zum Marxismus — nicht annimmt, daß diese neuen Wirklichkeiten vom Menschen aus eigener Kraft herbeigeführt werden können. I m übrigen aber sieht Kelsen psychologische Parallelen zwischen dem Einfluß, den die Religion auf ihre Bekenner, und jener Prägung, die der Marxismus gegenüber seinen Anhängern ausübt. Die Überzeugung vom notwendigen Kommen des Heiles, bzw. des Sozialismus kann nämlich i n beiden Fällen sowohl dazu führen, das als Notwendig Erkannte herbeizuzwingen und so unter Umständen verfrüht zu verwirklichen, als auch die Konsequenz zeitigen, „daß an Stelle höchster A k t i v i t ä t ein gewisser vertrauensseliger Fatalismus Platz greift" 1 8 ! Kelsen war in Österreich eher mit der fatalistischen als mit der durch „Revolutionarismus" 1 9 charakterisierten Variante des Marxismus konfrontiert und nahm auch die Gelegenheit wahr, i m Rahmen des Austromarxismus in laufende Diskussionen u m historische WeichenS t e l l u n g e n und Grundsatzfragen einzugreifen. Auch i n diesem Zusammenhang sah er sich vor die Notwendigkeit gestellt, den Marxismus immanent zu kritisieren und den marxistischen Theoretikern eine inkonsequente Anwendung der marxistischen Theorie vorwerfen zu müssen. So führte er gegen Otto Bauer, der die Nachkriegskoalition unter Hinweis auf das Engels'sche Theorem vom „Gleichgewicht der Klassenkräfte" rechtfertigte, aus, daß diese temporäre Anerkennung einer Zusammenarbeit mit dem Klassengegner bereits eine „Aufhebung der Regel" 2 0 der marxistischen Klassenlehre sei, wonach der Staat im16 17 18 19
Kelsen, in: Ders., ebd., Ders., ebd., Ders., ebd.,
Sozialismus und Staat, S. 92. S. 93. S. 23. S. 55.
Kelsens Verhältnis zum Sozialismus und Marxismus
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mer ein Herrschaftsinstrument der besitzenden Klasse wäre und eine Zusammenarbeit mit dem Klassengegner i m Rahmen dieses Staates daher nicht möglich erscheine. Und wenn Otto Bauer die unmittelbare Nachkriegssituation politisch als „Volksrepublik" qualifizierte und später durch das schon erwähnte „Gleichgewicht der Klassenkräfte" charakterisiert sah, mußte er sich vom Nicht-Marxisten Kelsen fragen lassen, ob hier nicht „eine gewisse Uberschätzung der äußeren politischen Formen auf Kosten der realen ökonomischen Tatsachen" 21 vorliege. Denn an den Produktionsverhältnissen und den Eigentumstiteln hatte sich trotz der Regierungsbeteiligung der Sozialdemokratie nichts geändert. Und obwohl Kelsen mit der von Otto Bauer vorgenommenen Weichenstellung für die parlamentarische Demokratie und gegen die Rätedemokratie einverstanden war, mußte er ihm doch vorhalten, daß er „wie vordem der Bourgeois" von „Revolution" spreche: „so sieht etwa Revolution von der Regierungsbank aus — auch wenn Revolutionäre auf ihr sitzen" 2 2 . Kelsen billigte die Nachkriegspolitik des von Otto Bauer instrumentierten politischen Austromarxismus, warf ihm aber vor, aus den praktischen Erfahrungen und tatsächlich gesetzten Handlungen zu wenig theoretische Konsequenzen, die dann wieder Eingang in die Praxis hätten finden können, gezogen und insbesondere die Staatsablehnung, die nicht zuletzt beim Gang in die Opposition 1920 zum Ausdruck kam, nicht überwunden zu haben. Noch viel schärfer und grundsätzlicher fiel die K r i t i k Kelsens am Bolschewismus und Kommunismus aus, die er vor allem in seinen Spezialwerken „The Communist Theory of Law" und „The Political Theory of Bolshevism" (Berkeley - Los Angeles 1948) entwickelte, die aber schon in seinem Frühwerk „Sozialismus und Staat" eine wichtige Rolle spielt. Die Ausführungen Kelsens sind nicht nur wertvolle Beiträge zum Verständnis der leninistischen Theorie und zur Erklärung der revolutionären und postrevolutionären Vorgänge und Verhältnisse in der Sowjetunion, sie muten auch für den heutigen Leser durchaus aktuell an und beweisen, daß die Fehlentwicklungen im Rahmen des Sowjetsystems erkennbar waren und nicht bloß zufällige Deformationen darstellen, sondern systembedingten, notwendigen Charakter haben. Kelsen zeigte frühzeitig auf, daß sich die Schwierigkeiten und Widersprüche, die schon in der marxistischen Theorie angelegt sind, bei dem Versuch der Anwendung unter Verhältnissen, für die diese Theorie gar nicht gedacht war, potenzieren mußten. Denn Marx 20 Hans Kelsen, M a r x oder Lassalle. Wandlungen i n der politischen Theorie des Marxismus, in: A r c h i v für die Geschichte des Sozialismus und der A r beiterbewegung 11, 1925, S. 280. 21 Ders., ebd., S. 287. 22 Dersebd., S. 284.
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ging immerhin davon aus, daß die Mehrheit der Bevölkerung in den fortgeschrittenen Industriestaaten eine vorübergehende Diktatur über die Minderheit ausüben würde, während die Situation der Kommunisten in Rußland durch den Umstand charakterisiert erscheint, daß die Minderheit innerhalb eines rückständigen Landes eine Diktatur über die Mehrheit auszuüben hatte 2 3 . Kelsen war daher auch von allem Anfang an skeptisch und hielt es für wenig wahrscheinlich, daß sich der gigantische Zwang, der dieses Gewaltunternehmen begleitete, mit der Zeit verflüchtigen würde und einem programmatisch angekündigten freien Gesellschaftszustand Platz machen könne 2 4 . Kelsen sah die Gefahren der Dauerwirkung von Militarisierung, Disziplinierung und Bürokratisierung und gab sich auch nicht der Illusion Lenins hin, daß die Führung der staatlichen Angelegenheiten immer einfacher werden würde und daher auf eine immer breitere Basis gestellt werden könne. Er erkannte klar, daß die Entwicklung i n die entgegengesetzte Richtung geht und daß die Abweichungen vom historischen Programm nicht nur „Kinderkrankheiten" und Schönheitsfehler, sondern fundamentale Strukturgebrechen darstellen, die sich mit der Zeit eher verstärken als vermindern werden. Kelsen analysierte auch die „aristokratischautokratische Natur der Räteverfassung" 25 , die i m Widerspruch zu ihrem Anspruch auf Überbietung der repräsentativen Demokratie steht, und beschrieb den Prozeß der Denaturierung der Sowjets zu bloßen Befehlsempfängern von oben, der die ursprünglichen Impulse von unten nach oben erstickte und die historische Dynamik in ihr Gegenteil verkehrte. Kelsen konnte dann auch auf dem Gebiet der Rechtstheorie zeigen, daß die alte Schule der marxistischen Theoretiker, wie Paschukanis, Stuchka und Reisner langsam, aber sicher und gründlich von Stalin und Wyschinski verdrängt und liquidiert wurden, die all das rechtfertigten, was im Widerspruch zu den ursprünglichen Erwartungen stand 26 . Doch Kelsen konnte durch die Entwicklung des Sowjetkommunismus nicht enttäuscht werden; wie viele Parteigänger des Marxismus, hatte er die Fehlerquellen und wunden Punkte, an denen die Theorie, aber auch die Praxis des Marxismus, die der Leninismus nur vergrößert, krankt, doch schon früh realistischer eingeschätzt. Nach dem bisher ausgeführten könnte man den Eindruck gewinnen, daß Kelsen theoretisch und praktisch ein erklärter Gegner des Marxismus und des von diesem geprägten Sozialismus gewesen sei. Doch dieser Eindruck wäre einseitig, ja irreführend, und bedarf daher der 23 24 25 28
Kelsen , in: Sozialismus und Staat, S. 109. Ders., ebd., S. 119 ff. Ders., ebd., S. 156 ff. The Communist Theory of Law, S. 62 ff.
Kelsens Verhältnis zum Sozialismus u n d Marxismus
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Korrektur durch zusätzliche Einsichten Kelsens, die seine Ablehnung und Verurteilung des Marxismus und Sozialismus keineswegs völlig aufheben, wohl aber relativieren und in einen neuen Gesamtzusammenhang von Überlegungen stellen. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß die „Reine Rechtslehre" wie der Marxismus, eine ideologiekritische Position darstellt, die sich gegen das traditionelle Naturrecht wendet und eine metaphysische Begründung des Rechtes ablehnt. Doch i n dieser gemeinsamen Abwehrhaltung gegenüber naturrechtlich-metaphysischen Begründungen und Systemen erschöpfen sich die Übereinstimmungen zwischen der „Reinen Rechtslehre" und dem Marxismus nicht, Kelsen selbst urteilt i n einer Weise, die einen engeren Zusammenhang und eine tiefere Verwandtschaft annehmen läßt: „Es ist vor allem die unter den Namen ,Reine Rechtslehre' oder ,normative Schule der Rechtswissenschaft' bekannte Richtung, die seit zwei Jahrzehnten einen energischen Kampf gegen die meisten Positionen der traditionellen Rechtstheorie und zwar i m wesentlichen nach der Methode einer Ideologiekritik führt. Insofern entsprechen die Ergebnisse dieser Richtung der neueren Rechtswissenschaft in einem sehr weiten Maße den Tendenzen der materialistischen Geschichtsauffassung und kommen dieser zugute 27 ." Allerdings sind diese Übereinstimmungen nicht gesucht und gewollt, da die „Reine Rechtslehre" überhaupt nicht zu bestimmten Ergebnissen gelangen oder i m Dienste eines bestimmten Wollens stehen w i l l . Doch das ändert wiederum nichts daran, daß diese gleichsam als Nebenprodukte der Haupttätigkeit der reinen Erkenntnis der Rechtswirklichkeit abfallenden theoretischen Einsichten mit den Erkenntnissen einer Theorie, die i m Dienste eines politischen Wollens steht, parallel verlaufen und auch i n den Dienst dieses Wollens gestellt werden können. Wer die Reihe der ideologiekritischen Elemente der „Reinen Rechtslehre" und die ideologiekritischen Arbeiten Kelsens Revue passieren läßt, w i r d sich des Eindrucks nicht erwehren können, daß die „Reine Rechtslehre" als K r i t i k an der herrschenden Rechtstheorie partiell i n die Nähe der marxistischen Betrachtung rückt, von der sie i m übrigen durch einen Abgrund getrennt ist und bleibt. Die „Reine Rechtslehre" hat mit vielen Begriffen und Systematisierungen aufgeräumt, die mehr oder minder verhüllte Ideologeme darstellen und einer konsequenten rechtslogischen Durchdringung nicht standhalten. So hat sie die durchaus ideologische Funktion des Dualis27 Hans Kelsen, Allgemeine Rechtslehre i m Lichte materialistischer Geschichtsauffassung, in: A r c h i v für Sozialwissenschaften u n d Sozialpolitik, Band 66, 3. Heft, Tübingen 1931, S. 450.
28 R E C H T S T H E O R I E , B e i h e f t 4
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mus von Staat und Recht aufgedeckt und aufgezeigt, daß diese Unterscheidung der herrschenden Lehre die Funktion hat, den Staat durch das von ihm erzeugte Recht rechtfertigen zu lassen und i h m so eine höhere Weihe zu verleihen 2 8 . Ähnlich verhält es sich nach Kelsen mit der nicht minder zäh verteidigten und trotz aller K r i t i k fortgeschleppten Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht, auch hier ist das Motiv der Differenzierung Kelsen zufolge ein ideologisches, nämlich das Bestreben, den Gegensatz zwischen Rechtserzeugung und Rechtsanwendung zu verabsolutieren und dem Staat gegenüber der Gestaltung der privaten Rechtsbeziehungen eine besondere, privilegierte, durch das Verhältnis von Über- und Unterordnung gekennzeichnete Sphäre zu reservieren und der Macht i n seinem Bereich einen weiteren Spielraum einzuräumen 29 . Neben diesen Fundamentalkonstruktionen der herrschenden Lehre fallen aber auch die kleineren, scheinbar harmlosen Hilfsfiguren der traditionellen Jurisprudenz der K r i t i k zum Opfer, die Lehre vom Rechtssubjekt w i r d von der „Reinen Rechtslehre" als bloße Personifikation einer von der Rechtsordnung gestifteten Einheit enthüllt und auf ihr richtiges Maß zurückgeführt 3 0 . Die sich hinter der Figur des Rechtssubjektes verbergenden subjektiven Rechte hinwiederum werden von Kelsen als ideologische Konstruktion zum Schutze der Institution des Privateigentums vor der Aufhebung durch die Rechtsordnung entlarvt. Der Verschleierung der Vorherrschaft des Eigentums und der Ausbeutung dient nach Kelsen auch die Unterscheidung zwischen persönlichen und dinglichen Rechten 31 . Durch die Verdinglichung des Eigentumsrechtes soll der strikt personale Bezug des Eigentums, nämlich der Ausschluß aller anderen und deren Verpflichtung, dieses Eigentum zu respektieren, vergessen gemacht und verdeckt werden. I n verschiedenen Zusammenhängen arbeitet Kelsen heraus, daß die traditionelle Rechtslehre das subjektive Recht, d. h. aber praktisch das Privateigentum, das als subjektives Recht kat exochen gilt und von der bürgerlichen Theorie als Maß und Vorbild aller übrigen Freiheitsrechte angesehen wird, als „apriorische und transzendente Kategorie" 8 2 darstellt, die die Funktion zugedacht erhält, als „Schranke gegenüber der inhaltlichen Gestaltung der Rechtsordnung" 33 zu dienen. Diese ideologiekritischen Analysen Kelsens beantworten die Frage, ob und i n 28 29 80 31 82 33
Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 288. Ders., ebd., S. 285. Ders., ebd., S. 175. Ders., ebd., S. 135 ff. Ders., Allgemeine Rechtslehre, S. 488. Ders., ebd.
Kelsens Verhältnis zum Sozialismus u n d Marxismus
435
welchem Umfang es Privateigentum, vor allem an Produktionsmitteln, geben soll, inhaltlich keineswegs, sie besagen an sich nur, daß die besonderen Konstruktionen, die ideologisch und sozial die Funktion der Abstützung des Privateigentums erfüllen, der K r i t i k nicht standhalten. Es steht vom Standpunkt der „Reinen Rechtslehre" an sich nichts i m Wege, aus anderen und besseren Gründen dennoch zur Bejahung und Belassung des Privateigentums zu gelangen. Doch die ideologiekritischen Argumente Kelsens lassen immerhin den Verdacht aufkommen, daß eine Institution, die solcher Verschleierungen bedarf, um unangefochten existieren zu können, keineswegs so selbstverständlich ist, wie die traditionelle Theorie i n Wahrnehmung ihrer verbergenden Funktionen suggeriert. Wenn Kelsen sogar einen Otto Bauer auf die Bedeutung der Eigentumsfrage, die dieser bei seiner Analyse i m Werk „Die Österreichische Revolution" i n der Begeisterung der sozialpolitischen Nachkriegserfolge übersehen hatte, aufmerksam machen konnte, so beweist dies, daß diese Grundfragen Kelsen stets gegenwärtig und bewußt war, wenn er sich von ihrer Lösung i m sozialistischen Sinn auch nicht so radikale Änderungen erwartete, wie die Marxisten und Sozialisten selbst. Die Gemeinsamkeit von „Reiner Rechtslehre" und sozialistischem Wollen zur Veränderung der Gesellschaft w i r d jedoch nicht nur durch die K r i t i k an den ideologischen Konstruktionen zur Verklärung des bürgerlichen Eigentumsbegriffes vermittelt, sie nährt sich noch aus einer anderen, für den Sozialismus nicht minder typischen und wesentlichen Wurzel: nämlich aus seinem liberalen Erbe, das ihn, i m Gegensatz zum marxistischen Denken, i n kulturellen und ethischen Fragen zu einem Anwalt der persönlichen Freiheit macht. Kelsen hat allerdings deutlich gesehen, daß diese liberale Grundtendenz des Sozialismus, die er bejahte und mitmachte, soferne sie nicht ins Anarchistische und Utopische abirrte, von der ökonomischen Wirklichkeit, die der Sozialismus anstrebt, bedroht erscheint und er hat insbesondere die Ausschaltung der ursprünglich durch die Oktoberrevolution ermöglichten Freiheiten i m Kommunismus, vorausgesehen. Trotz dieser Einsicht hat Kelsen — gegen Friedrich Hayek und die Neoliberalen gewendet — den Standpunkt vertreten, daß kein notwendiger Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Grundordnung und politischer Freiheitsordnung bestehe, und daß auch die Demokratie als politische Rahmenordnung sowohl mit dem Kapitalismus als auch mit dem Sozialismus vereinbar sei 34 . Wenn Kelsen auch meinte, daß die vom Sozialismus anvisierte wirtschaftliche Ordnung i n einen möglichen Konflikt mit Freiheitsidealen geraten könne, so ging er doch nicht so weit, einem 34 Hans Kelsen , Demokratie u n d Sozialismus. Ausgewählte Aufsätze. Herausgegeben u n d eingeleitet v o n Norbert Leser, Wien 1967, S. 176.
28*
436
Norbert Leser
Determinismus zu huldigen und das Schicksal der Freiheitsrechte unter sozialistischen und sogar unter marxistischen Vorzeichen für besiegelt zu halten. Er hielt vielmehr den Marxisten gegenüber fest, daß der Kapitalismus seinem Wesen nach sowohl mit der Demokratie als mit der Freiheit vereinbar ist, wie er den Konservativen und Neoliberalen gegenüber für die Vereinbarkeit von politischer Demokratie und bürgerlichen Freiheiten mit einer sozialistischen Wirtschaftsordnung plädierte. Dieser Zweifrontenkampf ist für das gesamte Lebenswerk Kelsens charakteristisch, es ist bei ihm aber nicht das Ergebnis eines Kompromisses, den er in der Politik, nicht aber bei der Lösung theoretischer Fragen hochschätzte, sondern der Ausdruck seiner konsequenten Ablehnung, seine Rechtslehre oder seine übrigen Gedanken einer bestimmten Richtung zu verpflichten und an eine solche zu binden. Schon vor Jahrzehnten stellte Rudolf A. Métall, Kelsens Eckermann, aus der Fülle der Sekundärliteratur schöpfend, i n bezug auf die „Reine Rechtslehre" fest: „Die einen tadeln an ihr, daß sie politische Ziele verfolge; die andere wieder schelten sie, weil sie nicht i n den Dienst politischer Ziele gestellt werden kann 3 5 ." Und Kelsen selbst charakterisierte die von den Ideologen aller Richtungen bedrängte Position der „Reinen Rechtslehre" folgendermaßen: „Da sie die Ideologien beider Seiten als solche erkennt, werden ihre Resultate von jeder der beiden Seiten als Ideologie des Gegners verdächtigt 3 6 ." Kelsen stand in der Zwischenkriegszeit der Sozialdemokratie nahe und unterschrieb sogar einmal einen sozialdemokratischen Wahlaufruf für die Nationalratswahlen des Jahres 1927. Er lehnte es aber ab, der Sozialdemokratischen Partei beizutreten oder sich von ihr, nach der Verfassungsnovelle 1929, auch nur für den Verfassungsgerichtshof nominieren zu lassen. Er war der Meinung, daß ein Wissenschaftler und Richter nur der Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichtet sein solle und sich nicht von einer Partei abhängig machen dürfe. M i t dieser Haltung, die die unbestechliche Gleichgewichtslage der „Reinen Rechtslehre" gegenüber rechts und links i n die Praxis der eigenen Lebenswirklichkeit übersetzte, mußte Kelsen inmitten der politischen Polarisierung, die zum Scheitern der Demokratie führte, ein Rufer i n der Wüste bleiben. Er hielt dieser Demokratie aber auch noch die Treue, als viele bereits die Segel vor der Diktatur strichen. Kelsen war nicht nur akademischer Lehrer und Würdenträger, er faßte den Beruf des Professors i m eigentlichen Sinne dieses Wortes auch als Einladung, ja Verpflichtung dazu auf, in entscheidenden Fragen öffentlich als Bekenner aufzutreten und sich nicht zu verschweigen, wenn es um Grundfragen 35 Rudolf A. Métall , Die politische Befangenheit der Reinen Rechtslehre, in: Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts, 10. Jg. Heft 3, S. 165. s ® Kelsen, Allgemeine Rechtslehre, S. 451.
Kelsens Verhältnis zum Sozialismus und Marxismus
437
der Demokratie und des Staates geht. Insofern hat uns Kelsen die Einheit von Theorie und Praxis, die gerade i n der Gelehrtenwelt keineswegs selbstverständlich ist, exemplarisch vorgelebt, ja er verschmähte selbst Rückzugsmöglichkeiten, die ihm seine relativistische Theorie an sich offengelassen hätte. So führte er i m kritischen Jahr 1932, als sich bereits das Ende der Demokratie abzeichnete, in einem Aufsatz „Zur Verteidigung der Demokratie" aus: „Man muß seiner Fahne treu bleiben, auch wenn das Schiff sinkt; und kann i n die Tiefe nur die Hoffnung mitnehmen, daß das Ideal der Freiheit unzerstörbar ist und daß es, je tiefer es gesunken, um so leidenschaftlicher wieder aufleben wird87."
37
S. 68.
Kelsen, Verteidigung der Demokratie, in: Demokratie u n d Sozialismus,
HANS KELSENS VERHÄLTNIS Z U M
LIBERALISMUS
V o n E r h a r d Mock, S a l z b u r g I m m e r noch t r e t e n die L e i s t u n g e n Hans Kelsens i n d e r T h e o r i e der P o l i t i k u n d der I d e o l o g i e k r i t i k z u g u n s t e n des rechtstheoretischen Geh a l t s d e r R e i n e n Rechtslehre z u r ü c k . Dies n i m m t u m so m e h r w u n d e r , als gerade das A n l i e g e n der R e i n e n Rechtslehre d e m G r u n d e nach auch e i n i d e o l o g i e k r i t i s c h e s ist: n ä m l i c h eine T h e o r i e des p o s i t i v e n Rechts f r e i v o n a l l e n f r e m d e n E l e m e n t e n z u b e g r ü n d e n . D a z u k o m m t , daß unser A u t o r i n fast a l l e n seinen A b h a n d l u n g e n z u r N a t u r r e c h t s l e h r e u n d i n v i e l e n seiner rechtstheoretischen u n d p o s i t i v r e c h t l i c h e n A r b e i t e n i d e o l o g i e k r i t i s c h a r g u m e n t i e r t . Ernst Topitsch u n d Norbert Leser h a b e n diese Seite seines W e r k e s schon i m m e r h e r v o r g e k e h r t 1 . Besonders i n t e n s i v h a t sich Kelsen m i t d e m M a r x i s m u s , Sozialismus u n d K o m m u n i s m u s auseinandergesetzt 2 . B e i dieser Aufgeschlossenheit z u P r o b l e m e n der p o l i t i s c h e n T h e o r i e n i m m t es w u n d e r , w a r u m n i c h t auch d e m L i b e r a l i s m u s , besser d e m 1 Dazu vor allem folgende Beiträge: Ernst Topitsch , Kelsen u n d die Ideologien, F o r u m (Wien) 8. Jg., H. 94 (1961), S. 358 ff.; ders., Kelsen als Ideologiek r i t i k e r , in: Law, State and International Legal Order, Essays i n Honor of Hans Kelsen, ed. by Salo Engel and Rudolf A . Métall, K n o x v i l l e 1964, S. 329 ff.; ders., Einleitung des Herausgebers, in: Hans Kelsen, Aufsätze zur Ideologiekritik, Neuwied - B e r l i n 1964, S. 1 ff.; Norbert Leser , Kelsen u n d der Sozialismus, F o r u m (Wien) 8. Jg., H. 94 (1961), S. 367 ff. ders., Reine Rechtslehre u n d Sozialismus, in: L a w State and International Legal Order, S. 181 ff.; ders., V o r w o r t des Herausgebers, i n : Hans Kelsen, Sozialismus u n d Staat. 3. Aufl., W i e n 1965, S. 7 ff. 2 Hans Kelsen, Sozialismus u n d Staat. Eine Untersuchung der politischen Theorie des Marxismus, 1. A u f l . Leipzig 1920. 2. erw. A u f l . Leipzig 1923. 3. A u f l . Wien 1965; ders., Demokratie u n d Sozialismus, Hrsg. v. Norbert Leser, W i e n 1967, w o r i n folgende Abhandlungen wiederabgedruckt sind: Demokratie, Verhandlungen des 5. Deutschen Soziologentages 1926, Tübingen 1927, S. 37 ff.; Staatsreform u n d Weltanschauung, Tübingen 1933; Verteidigung der Demokratie, Blätter der Staatspartei, 2. Jg. Berlin, H. 3/4, A p r i l 1932, S. 90 ff.; Allgemeine Rechtslehre i m Lichte materialistischer Geschichtsauffassung, Archiv f. Sozialwissenschaft u n d Sozialpolitik, 66. Bd. Tübingen 1931, S. 449 ff.; M a r x oder Lasalle, Wandlungen i n der politischen Theorie des Marxismus, Archiv für die Geschichte des Sozialismus u n d der A r b e i t e r bewegung, X I / 3 , Leipzig 1924, S. 261 ff.; Demokratie u n d Sozialismus (Originaltitel: Democracy and Socialism, übers, v. N. Leser, The L a w School. The University of Chicago Conference Series, Number 15, Chicago 1955, S. 63 ff.); ders., The Political Theory of Bolshevism. A Critical Analysis, B e r k e l e y Los Angeles 1948; ders., The Communist Theory of Law, London 1955; vgl. auch Friedrich Koja, Gesellschaft u n d Staat. Der marxistische Staatsbegriff u n d die Reine Rechslehre, Die Z u k u n f t , 1965, S. 151 ff. u n d S. 189 ff.
440
Erhard Mock
liberalen Gedankengut, thematisches Augenmerk gewidmet wurde. Eine vordergründige Antwort auf diese Frage könnte darin gefunden werden, daß Kelsen der Sozialdemokratie zweifelsohne näher stand als anderen politisch wirksamen Gruppen. Jedoch verbietet schon allein die Distanz, die unser Autor i m Ansatz, nämlich i m Festhalten an einer normativen Theorie gegenüber marxistischen Deutungen von Recht, Staat und Gesellschaft einnimmt, diese Antwort voll zu akzeptieren. Abgesehen davon, daß er die Aporien der marxistischen Rechts- und Staatslehre schonungslos angeprangert hat. Umgekehrt kann aus der Tatsache, daß Kelsen keine thematische Schrift zum Liberalismus hinterlassen hat, noch nicht die Vermutung genährt werden, er wäre so sehr auf dem Boden liberalen Gedankenguts gestanden, daß sich eine Auseinandersetzung mit demselben für ihn nur zur näheren Standortbezeichnung gestellt hätte. Hingegen durchzieht punktuell und strekkenweise fast das gesamte Werk unseres Autors eine Position zum liberalen Gedankengut, die ein ursprüngliches, durchaus kritisches Verhaftetsein i n diesem verrät. Dies soll i m weiteren exemplarisch aufgewiesen werden. Nimmt man Liberalismus in einem allgemeinen Sinne, so stellt dieser jene Richtung dar, die dem einzelnen eine möglichst große Bewegungsfreiheit i m Denken und Handeln und den Gruppen innerhalb der politischen Gemeinschaft die gleiche Freiheit i n der Erreichung ihrer Ziele zuspricht. Damit verbunden ist, daß der Liberalismus keine verpflichtende liberale Theorie, sondern nur liberale Theorien i n jeweils spezifischen historischen Ausprägungen kennt 3 . A l l e n diesen historischen Ausprägungen ist das Ideal individueller Freiheit und Selbstverwirklichung, verbunden mit den Ideen der Säkularisation und Immanenz der gesellschaftlichen und staatlichen Einrichtungen gemeinsam. Dann aber zeichnen sich die liberalen Theorien durch eine Betonung der Unabdingbarkeit des Privateigentums an Produktionsmitteln aus. Freiheit w i r d als je und je zu lösende Spannung innerhalb der politischen Ordnung begriffen. Zur jeweils historisch bedingten Auflösung dieser Spannung dienen vornehmlich folgende Problem- und Vorstellungsfelder: Gleichheit, Fortschritt, Vernunft, Gemeinwohl, Recht als Maß der Macht, Kontrolle und Konkurrenz 4 . A u f der institutionellen Ebene 3 Vgl. Josef Oelinger , Liberalismus, in: Katholisches Soziallexikon, hrsg. v.. A l f r e d Klose, Wolfgang M a n t i u n d V a l e n t i n Zsifkovits, Innsbruck W i e n G r a z - K ö l n 1980, S. 1652 ff.; Theo Mayer-Maly, Oer liberale Gedanke u n d das Recht, Festschrift für A d o l f J. M e r k l , zum 80. Geburtstag, hrsg. v. M a x Imboden u. a., München - Salzburg 1970, S. 247 ff. 4 Vgl. Martin Seliger, Authentischer Liberalismus. Grundideen, E n t w i c k lungspotential u n d Krise der Verwirklichung, in: Die Krise des Liberalismus zwischen den Weltkriegen, hrsg. v. Rudolf v. Thadden, Göttingen 1978, S. 31 ff.
44t
Hans Kelsens Verhältnis zum Liberalismus
werden i m Bereiche liberaler Ordnungsvorstellungen der Rechts- und Verfassungsstaat, die Grund- und Freiheitsrechte, die Gewaltenteilung, die Repräsentation und das Öffentlichkeitsprinzip als Elemente staatlicher Organisation hervorgekehrt 5 . Wie aber stand es mit der historischen Ausprägung des österreichischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts? Vor 100 Jahren als Kelsen geboren wurde, hatte der politiseli wirksame Liberalismus, der der Donaumonarchie eine rechtsstaatliche Verfassung einer konstitutionellen Monarchie gebracht hatte, vielleicht schon den Höhepunkt einer i m Vergleich zu Westeuropa ohnehin kurzen Entwicklung überschritten. Spätestens mit dem Rücktritt des Ministerpräsidenten Fürst Adolf Auersperg (1879), zu dem neben Nationalitätenfragen Wahlrechts- und Wirtschaftsprobleme den Anstoß gaben, verlieren die Liberalen als politische Partei ihren maßgeblichen Einfluß 6 . Die Forderung nach Teilhabe an der politischen Freiheit, symbolisiert in der Forderung nach dem gleichen und allgemeinen Wahlrecht, hatte auch auf die Bauern, die Kleinbürger und die Arbeiterschaft übergegriffen. Christlichsoziale und Sozialdemokraten, verkörpert in den Personen
Viktor
Adlers
u n d Karl
Luegers
fühlten
und
verstanden
sich zunächst gar nicht als Gegenbewegungen, sondern als konsequentere, radikalere Fortsetzer des Liberalismus 7 . Bis zum heutigen Tage zeigen ja die österreichischen Parlamentsparteien ihr liberales Erbe: Die Sozialisten und Freiheitlichen in noch immer erkennbaren laizistischen Tendenzen, die Volkspartei in Teilen ihres ökonomischen Programms. Allen Erben der liberalen politischen Bewegung Österreichs i m vorigen Jahrhundert fiel jedoch die Aufgabe der weiteren Entwicklung des Rechts- und Verfassungsstaates, i n Sonderheit der demokratischen Ansätze in diesem zu. Schwand zwar zu Ende des vorigen Jahrhunderts der Einfluß liberaler Parteigruppierungen, so blieb die liberale Bewegung kulturell, so auch an den Hohen Schulen, weiterhin dominant. Gerade die Vertreter der Rechtswissenschaft hatten hier bedeutenden Anteil. Die Nam e n Josef Unger, Julius Glaser, Carl S. Grünhut , Emil Steinbach, Friedrich Tezner, d a n n der H a b i l i t a t i o n s g u t a c h t e r Hans Kelsens, der
führende Staatsrechtler, Edmund Bernatzik mögen beispielsweise genannt werden 8 . Kelsen selbst verstand sich i n seinen ersten Arbeiten als Liberaler. Er fühlte sich offenbar auch als einer der ihren. I n der 5
Seliger, S. 33 f. Hugo Hantsch, Die Geschichte Österreichs, I I . Bd., Graz - Wien - K ö l n 1962, S. 411 f. 7 Ders., ebd., S. 397, 421 f., 425 ff., 441, 457, 464. 8 Karl Eder, Der Liberalismus i n Alt-Österreich, W i e n 1955, S. 232. 6
Erhard Mock
442
Vorrede der ersten Auflage seiner „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre" deponiert er in antietatistischer Tendenz folgendes: „Da sich dabei meine Resultate m i t manchen der älteren liberalen Staatstheorie berühren, so möchte ich mich auch keineswegs dagegen verwahren, w e n n man etwa i n meiner A r b e i t ein Symptom jenes Neoliberalismus erblicken sollte, der sich i n jüngster Zeit allenthalben vorzubereiten scheint 9 ."
Der „Neoliberalismus", wie Kelsen ihn i n seinen „Hauptproblemen" für sich gelten lassen w i l l , gibt zwar als Leitthema die Vorstellung einer der Rechtsordnung unterworfenen Staatsperson und somit die Idee des Rechtsstaats i m Gewände der zeitgenössischen juristischen Staatstheorie wieder. Über das Spannungsverhältnis, i n dem die Freiheit der Einzelnen und die Freiheit der Gruppen i n der politischen Gemeinschaft stehen, kann diesem Abschnitt des Werks unseres Autors jedoch keine Deutung entnommen werden. Hingegen bildet i n seiner nach dem Zusammenbruch der konstitutionellen Monarchie einsetzenden theoretischen Bewältigung der Probleme der Demokratie das Spannungsfeld der Freiheit nicht nur die Eingangs frage,
sondern
auch
eine
anthropologische
Voraussetzung.
Gleich zu Eingang der 1920 erstmals erschienenen Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie" lesen w i r : „Es ist die Natur selbst, die sich i n der Forderung der Freiheit Gesellschaft aufbäumt 1 0 ."
gegen die
Diesem menschlichen Streben, ja Drang, nach Freiheit läßt Kelsen nicht ein Programm grundrechtlicher, vorauszusetzender, gewissermaßen vorstaatlicher Garantiebereiche folgen, von denen aus das Individuum seine „Freiheiten" verfolgen und genießen könne, sondern er versucht eine rationale Rechtfertigung von Freiheit als solcher und ihrer Begrenzung. Er findet diese i m Mehrheitsprinzip als der relativ größten Annäherung
an die Idee der Freiheit.
Kelsen
g r ü n d e t — das k a n n n i c h t
genug betont werden — das Majoritätsprinzip nicht auf die Gleichheit der Bürger, sondern auf deren Freiheit , deren Autonomie. M i t den Worten unseres Autors: „ N u r der Gedanke, daß — w e n n schon nicht alle — so doch möglichst viele Menschen frei sein, d . h . möglichst wenig Menschen m i t i h r e m W i l l e n i n Widerspruch zu dem allgemeinen W i l l e n der sozialen Ordnung geraten sollen, f ü h r t auf einem vernünftigen Wege zum Majoritätsprinzip 1 1 ."
Die Rechtfertigung des die Demokratie erst ermöglichenden Majoritätsprinzips
aus d e m Streben
nach Freiheit
g i b t aber n u r d e n ersten
Hinweis für das Verhaftetsein Hans Kelsens i m liberalen Gedankengut. 9 10 11
1. A u f l . Tübingen 1911, S. X I . 1. A u f l . Tübingen 1920, S. 1. Hans Kelsen , V o m Wesen u n d Wert der Demokratie, 2. A u f l . 1929, S. 9 f.
Kelsens Verhältnis zum
ialismus
443
Man fragt zu recht, welche weiteren, vor allem institutionellen Forderungen m i t diesem Komplex verbunden sind. Der Umfang, den die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips bei ihm einnimmt, und der Rang dem dieser Rechtfertigung viele seiner Interpreten ohne Blick auf den Kontext einräumen, hat dazu geführt, daß eine wesentliche Differenzierung in seiner Demokratietheorie nicht die gebührende Beachtung fand. Es ist dies die liberale Forderung nach der Selbstbeschränkung des Staates in seinen verfassungsmäßigen Institutionen. Eben in seiner Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie" spricht Hans Kelsen mit Nachdruck davon, indem er die Funktion der Grund- und Freiheitsrechte hervorkehrt 1 2 . Diese hätten traditionell den Schutz der Individuen und der Gruppen zu gewährleisten. Dazu sind sie der Verfügung der einfachen Majorität entzogen, wie es ja schon die Staatsrechtslehre des Konstitutionalismus deponiert hatte. Kelsen aber weist auf die zusätzliche Funktion der Grund- und Freiheitsrechte i n der Demokratie als Schutz der Minoritäten hin, ohne deren Einverständnis dieser Bereich nicht verändert werden dürfe. Kritisch steht Kelsen dem Dogma der Gewaltentrennung gegenüber, das ja i m Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie vorwiegend als Argument der Verselbständigung des Monarchen und der ihm zugeordneten Verwaltung gedient hatte. Nur wenn dies eine rechtlich kontrollierbare Aufteilung und keine der rechtlichen Kontrolle entzogene Ausgliederung ν on Macht bedeute, erfülle es einen freiheitssichernden Sinn, dergestalt, daß die Regierung vom beschließenden Teil der generellen
Staatswillensbildung
Vollziehers
g e t r e n n t u n d i n die R o l l e des
Gesetzes -
gewiesen werde 1 3 .
Ausdrücklich nennt Kelsen die Repräsentation , auch die des Volkes, eine Fiktion. Er hat dadurch dazu beigetragen, die Fragen nüchtern zu sehen. Er reduziert sie auf ihren wesentlichen Kern, nämlich die Auslese der Führer der politischen Gemeinschaft. I n der Wahl auf Zeit sieht Kelsen die der Demokratie am meisten entsprechende Führerauslese, denn i n dieser Kreationsmethode komme wieder das in der Freiheit möglichst vieler begründete Mehrheitsprinzip zum Tragen. Schließlich w i r d unser Autor nicht müde, den Öffentlichkeitscharakter des politischen Prozesses in der Demokratie als notwendige Voraussetzung für wirksame Kontrollen hervorzuheben 14 . War also Kelsen, so wie er sich 1911 selbst apostrophierte, ein Liberaler, ein „Neo"-Liberaler? Anerkennt man die Stellung zum Privateigentum auch an Produktionsmitteln als Probierstein für die Ein12 13 14
Ebd., S. 54. Ebd., S. 83. Ebd., S. 84 u. 87.
444
Erhard Mock
Ordnung eines Denkers in den Strom des Liberalismus, so w i r d man bei Kelsen auf Schwierigkeiten stoßen. Zwar hat er keineswegs die generelle Sozialisierung gefordert, jedoch war er der Ansicht, daß Demokratie und Sozialismus einander nicht ausschlössen. Welcher A r t der Sozialismus, der mit der auf Freiheitssicherung angelegten Demokratie vereinbar sei, hat Kelsen vorwiegend abgrenzend, vor allem in seiner K r i t i k des Bolschewismus, deponiert. Nur die Richtung, i n die seine Vorstellung eines mit der Demokratie vereinbaren Sozialismus geht, hat unser Autor am Ende seiner Abhandlung „Sozialismus und Staat" mit dem Ausruf „Zurück zu Lasalle!" festgelegt 15 . Eine zusammenfassende Charakterisierung des Verhältnisses Kelsens zum Liberalismus, besser zum liberalen Gedankengut, gibt kurz folgendes Bild: Der Bildungsgang Kelsens erfolgte zu Ende des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts wenn nicht im, so am Rande des liberalen Bürgertums. Bekenntnis zum Positivismus als einzig gültiger Form wissenschaftlichen Bemühens, religiöse Indifferenz, vereinzelt Agnostizismus und ein Vertrauen auf die Entwicklungsfähigkeit der Freiräume und des Prinzips der Öffentlichkeit zeichneten diese Zeit unter anderem aus. Auch Kelsen beginnt, wie er selbst gerne eingesteht, i m Banne der liberalen Staatsrechtslehre und in der Auseinandersetzung m i t ihr seine akademische Laufbahn. Jedoch erst die Beschäftigung mit der Theorie der Demokratie zwingt ihn zur Stellungnahme. Diese findet er, indem er das Majoritätsprinzip von der Freiheit her aufweist. Das Motiv Freiheit liegt aber auch seiner Vorstellung von der Staatsbeschränkung, insbesondere durch die Sicht der Grundrechte als Schutz der Minderheiten zugrunde. I n der nüchternen Sicht der Führerauslese und Repräsentation hat er versucht, die Ideologisierung demokratischer Herrschaft zu entschleiern. Auch die Betonung des Öffentlichkeitsprinzips ist i n diesem Zusammenhang zu sehen. Nicht folgt unser Denker der Behauptung, allein das Privateigentum gerade auch an den Produktionsmitteln, sei Garant der politischen Freiheit. I m Aufweis des Ideologiegehalts dieser Aussage und deren Mißbrauch zu Herrschaftszwecken verpflichtet sich jedoch Kelsen aufs Neue der zu schützenden Freiheit des Einzelnen. Dies alles legt die Aussage, Kelsen als einen Denker zu sehen, der dem Liberalismus kritisch verhaftet ist, zumindest nahe.
15 Hans Kelsen, Wien 1965, S. 174.
Sozialismus u n d Staat, 3. Aufl., hrsg. v. Norbert Leser,
HANS KELSEN A L S K R I T I K E R DES AUSTROMARXISMUS Von Gerald Mozetiö, Graz I. Eine Vorbemerkung I n diesem Beitrag sollen zwei Kontroversen erörtert werden, die Kelsen in den 20er Jahren mit zwei führenden Vertretern des Austromarxismus, Max Adler und Otto Bauer, ausfocht. Der Besprechung dieser staats- und wissenschaftstheoretischen Debatte sei hier der Hinweis vorausgeschickt, daß es den an den Auseinandersetzungen Beteiligten in einem erstaunlichen Maße gelang, zwischen Persönlichem und Sachlichem eine klare Trennlinie zu ziehen. Erstaunlich nenne ich den Stil der Diskussion einerseits, weil sie dokumentiert, wie sich persönliche Freundschaft und Achtung mit unbestechlicher K r i t i k vereinbaren läßt, und andererseits, weil gerade Kontroversen zwischen Marxisten und ihren Gegnern oftmals auf der Basis heftiger Emotionalität und unter „Zuhilfenahme" persönlicher Verunglimpfungen geführt wurden und werden. Hans Kelsen und Otto Bauer studierten gemeinsam, waren Duzfreunde 1 , Adler nennt Kelsen und dieser Adler seinen Freund 2 , und überdies wirkte Kelsen maßgeblich an der Habilitierung Max Adlers mit. Diese Konstellationen sollte man angesichts der Kontroversen, von denen gleich die Rede sein wird, nicht ganz aus dem Auge verlieren. II. Kelsens normative politische Theorie und Max Adlers kausalwissenschaftliche Soziologie Von vielen gegen die idealistische Geschichtsbetrachtung gerichteten Bemerkungen von Marx und Engels ausgehend, die den Wertsetzungen und Zweckvorgaben der Individuen nur eine von gesellschaftlichen Basisstrukturen abgeleitete Bedeutung zukommen lassen, verortet Max Adler, der Marxismus als kausalwissenschaftliche Soziologie versteht 8 , Politik i m Rahmen kausalwissenschaftlicher Erkenntnismöglichkeiten: 1
Otto Leichter, Otto Bauer, Tragödie oder T r i u m p h , Wien u. a. 1970, S. 24. Siehe dazu: M a x Adler, Die Staatsauffassung des Marxismus. E i n Beitrag zur Unterscheidung v o n soziologischer und juristischer Methode, Wien 1922, S. 7; Hans Kelsen , Sozialismus u n d Staat. Eine Untersuchung der politischen Theorie des Marxismus. 2. erw. Aufl., Leipzig 1923, S. V. 3 Vgl. dazu meine Ausführungen in: Erkenntnistheorie und Soziologie. U n 2
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„Eine »politische Theorie 4 des Marxismus, die man unabhängig von seiner soziologischen Theorie behandeln könnte, gibt es überhaupt nicht. Denn die Politik, das heißt die Aufstellung eigener u n d die Bekämpfung gegnerischer staatlicher Ziele, ist für den Marxismus nur ein Stück des kausalgesetzlichen Gesellschaftsprozesses . . . Der soziologische Standpunkt des Marxismus bedeutet also die Einheit von Theorie und Praxis, von Wissenschaft u n d P o l i t i k i n dem Sinne, daß er auch i n der P o l i t i k — i n dem politischen »Bewußtsein' der Menschen — noch ein Stück des Sozialprozesses selbst sieht, vor dem die Kausalerkenntnis nicht urplötzlich abzureißen hat 4 ." Hans Kelsen hingegen insistiert auf den n o r m a t i v e n Charakter jeder p o l i t i s c h e n T h e o r i e : „ E i n e politische T h e o r i e , das ist e i n S y s t e m v o n U r t e i l e n , eine ,Lehre', die b e s t i m m t e zielstrebige W o l l u n g e n u n d H a n d l u n g e n , sofern sie als gesollt b e h a u p t e t w e r d e n , r e c h t f e r t i g t " , d . h . „ a u f e i n e n obersten W e r t z u r ü c k f ü h r t " 5 . A l s soziale W e r t l e h r e u n t e r s c h e i d e t sich d e m n a c h politische T h e o r i e f u n d a m e n t a l v o n k a u s a l - e r k l ä r e n d e n e m p i r i s c h e n T h e o r i e n . F o l g e r i c h t i g k r i t i s i e r t K e l s e n auch an A d l e r , „daß er ganz i m S i n n e des m a r x i s t i s c h e n M e t h o d e n s y n k r e t i s m u s Rechtf e r t i g u n g u n d E r k l ä r u n g , ethisch-politische m i t kausalwissenschaftl i c h e r E r k e n n t n i s v e r m e n g t , d a m i t aber i n e i n e n W i d e r s p r u c h z u d e m v o n i h m als K a n t i a n e r a n e r k a n n t e n D u a l i s m u s v o n S o l l e n u n d Sein g e r ä t " 6 . E t l i c h e A u s f ü h r u n g e n A d l e r s sprechen i n d e r T a t f ü r die B e r e c h t i g u n g dieser K r i t i k 7 ; z u g u n s t e n des A u s t r o m a r x i s t e n m u ß j e d o c h e r w ä h n t w e r d e n , daß er i m L a g e r d e r M a r x i s t e n z u j e n e n g e h ö r t , die sich a m e i n d e u t i g s t e n z u r W e r t f r e i h e i t j e d e r Wissenschaft i m M a x Weberschen S i n n e b e k a n n t h a b e n 8 , u n d a n e i n i g e n v o n K e l s e n b e a n s t a n d e t e n S t e l l e n k a u s a l w i s s e n s c h a f t l i c h v o n d e r Genese, u n d n i c h t tersuchungen zum Werk des Austromarxisten M a x Adler. Phil. Diss., Graz 1978, S. 275 ff. 4 Adler, Die Staatsauffassung des Marxismus, S. 18, 21. 5 Kelsen, Sozialismus u n d Staat, S. 4. 6 Ders., ebd., S. 6. 7 So schreibt A d l e r etwa: Der marxistische Politiker „ w i r k t aus dem Klasseninteresse des Proletariats heraus, also aus dem Sein, u n d dieses allein schafft i h m das Programm seines Wollens u n d Handelns, setzt i h m sein Soll" {Adler, Die Staatsauf fassung des Marxismus, S. 25). 8 Dies gilt, obwohl A d l e r Weber teilweise mißversteht (so etwa an folgender Stelle: M. Adler, Marxistische Probleme. Beiträge zur Theorie der materialistischen Geschichtsauffassung und Dialektik. 6. A , B e r l i n / Bonn-Bad Godesberg 1974, S. 212 (Fußnote)). — Exemplarisch mögen folgende Zitate Adlers Stellung zur Wertfreiheitsfrage verdeutlichen: „Die Wissenschaft muß wertfrei sein: das heißt, sie darf ihre Phänomene nicht werten ." (Ebd., S. 243.) — „Auch der Marxismus steht absolut auf dem Boden der wertungsfreien Wissenschaft, so daß also auch er betont, daß insbesondere die Sozialwissenschaft wertungsfrei sein müsse u n d von keiner w i l l k ü r l i c h e n oder unbewußt vorausgesetzten Wertung ausgehen dürfe." (M. Adler, Wissenschaft u n d soziale Struktur. Referat am 4. Deutschen Soziologentag 1924 i n Heidelberg, in: Verhandlungen des Vierten Deutschen Soziologentages am 29. u n d 30. September 1924 i n Heidelberg, Tübingen 1925, S. 180 - 212, Zitat: S. 207.)
Hans Kelsen als K r i t i k e r des Austromarxismus
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der Rechtfertigung und Begründung, von Wertvorstellungen spricht. Die Eigenbedeutung ethisch-normativer Probleme stand übrigens gerade für die Austromarxisten nie in Frage 9 , und es ist nicht ausgeschlossen, daß sie der folgenden Überlegung Kelsens, vielleicht unter leichter Veränderung der Terminologie, zustimmen könnten: „Wenn es also eine marxistische Kausalerkenntnis der menschlichen W o l lungen u n d Handlungen gibt, dann muß es daneben auch eine normative, eine Werterkenntnis, eine politische Theorie des Marxismus geben, welche die — für den Sozialismus entscheidende — Frage stellt, wie die Menschen handeln sollen u n d w a r u m man nicht so handeln soll, wie es die politische Theorie des Kapitalismus als gesollt behauptet 1 0 ."
Kelsens Auseinandersetzung mit der politischen Theorie des Marxismus, wie er sie i n „Sozialismus und Staat" führt, erlaubt es übrigens nur in einem sehr geringen Maße, sie als politisch-normative Diskussion um Wert- und Sollensfragen einzustufen. Untersucht werden i n ihr logisch die Widerspruchsfreiheit der Systemelemente des Marxismus und empirisch brauchbare Mittel zur Verwirklichung gesollter Vorgaben und damit i m Zusammenhang stehende erwartbare Folgen dieser Verwirklichungsversuche, doch die normativen Alternativen und Entscheidungsmöglichkeiten werden nur am Rande gestreift. Insofern muß wohl Kelsens eigene Absichtserklärung, Normatives (im Sinne eines der Empirie nicht zugänglichen Bereiches) zu diskutieren, korrigiert werden, ohne daß davon die Stringenz und Gültigkeit seiner Argumente irgendwie berührt wäre. Nun eine zweite methodologische Bemerkung, die uns der inhaltlichen Dimension näherführt. Wenn Norbert Leser, gestützt auf KelsenZitate, die Auffassung vertritt, daß Kelsen, obwohl prinzipiell Normativist in der Gesellschaftslehre, dennoch i n ihr auch kausale Analyse für möglich hält 1 1 , so gilt dies jedenfalls, soweit ich sehen kann, noch nicht für den hier zu besprechenden Diskurs mit den Austromarxisten. Kelsen weist nämlich die Vermutung Adlers, er wolle Staat als Normbegriff und Gesellschaft als Kausalbegriff fassen 12 , mit der eindeutigen Klarstellung zurück, daß für ihn „die ganze Sphäre des spezifisch • Vgl. etwa Otto Bauers A r t i k e l „Marxismus u n d E t h i k " (1906), in: Otto Bauer, Werkausgabe. Bd. 7, W i e n 1979, S. 870 - 890, wo Bauer, S. 875, schreibt: „damit, daß., w i r die Moral zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung machen, können w i r aber noch nicht eine einzige sittliche Frage des Lebens beantworten". — Siehe ferner die einschlägigen K a p i t e l i n Adlers Buch „Marxistische Probleme". — Die Frage, i n welchem Verhältnis diese Betonung moralischer Autonomie zum vielfach konstatierten „Attentismus" der Austromarxisten stand, muß hier offen bleiben. 10 Kelsen, Sozialismus u n d Staat, S. 7. 11 Norbert Leser, Zwischen Reformismus u n d Bolschewismus. Der Austromarxismus als Theorie u n d Praxis, W i e n u. a. 1968, S. 547. 12 Adler, Die Staatsauffassung des Marxismus, S. 34.
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Sozialen in den Bereich der normativen Erkenntnis, des Wertes, und nicht der kausalen Naturwirklichkeit (fällt)" 1 3 . Dies ist ein Beleg dafür, daß Kelsen hier die neukantianische Sonderstellung der K u l t u r und des Sozialen sich zu eigen macht, und die gegenwärtige Beurteilung dieses Dualismus der Neukantianer läßt es fragwürdig erscheinen, ob man Kelsens Bestimmung uneingeschränkt mit Leser als methodisch einwandfreie und saubere Trennung klassifizieren kann, zumal dieser Methodendualismus nicht, wie Leser zu suggerieren scheint, mit dem strikten, durch das Wertfreiheitspostulat geforderten Dualismus von Sein und Sollen in eins fällt. I I I . Staat und Gesellschaft Kelsen führt eine Definition des Staates ein, die es i h m gestattet, die Unentbehrlichkeit des Staates — als Herrschaftsverband und Zwangsapparat — ab einer bestimmten, nicht allzu hohen Komplexitätsstufe der Sozialstruktur zu postulieren, und er bezeichnet den Staat als eine „spezifische Form des gesellschaftlichen Lebens, die sehr variable Inhalte aufnehmen kann" 1 4 . Entgegen diesem formalen Staatsbegriff definiert der Marxismus den Staat in einem materialen, inhaltlich spezifizierten Sinne. Wenn daher unter Staat nur Zwangsordnungen erfaßt werden, die i n Klassengesellschaften zur Durchsetzung von Herrschaftsinteressen notwendig sind und beispielsweise der Staat als ideeller Gesamtkapitalist fungiert, leuchtet es ein, daß der Marxismus die gesellschaftliche Entwicklungsgesetzlichkeit h i n zum Sozialismus sich ohne Aufhebung des Staates nicht vorstellen kann, welcher ja, nach einem Wort von Engels, wie das Spinnrad und die bronzene A x t ins Museum der Altertümer wandern w i r d 1 5 . Eine Gesellschaft ohne Staat — diese Vorstellung nennt Kelsen eine „individualistisch-anarchistische Zukunftsperspektive", die es nicht statthaft erscheinen läßt, mit Bezug auf das erwartete Schicksal des Staates einer grundsätzlichen Differenz zwischen Marx / Engels und den Anarchisten das Wort zu reden 16 . I m Marxismus werden, so Kelsen weiter, Politik und Ökonomie voneinander durch gänzlich unterschiedliche, für sie jeweils konstitutive Prinzipien getrennt. Während i n der, man könnte sogar sagen: anstelle der politischen Sphäre — auf der Grundlage realgesellschaftlicher Entwicklungen — Freiheit, Herr13
Kelsen, Sozialismus u n d Staat, S. 22. Ders., ebd., S. 13. 15 Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in: M E W 21, S. 25 - 173, S. 168. 18 Kelsen, Sozialismus und: Staat, S. 50 ff, • . 14
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schaftslosigkeit, Anarchie möglich sein werde, müsse i n der ökonomischen Basis, der materiellen Reproduktion, jedes anarchistisch-individualistische Element getilgt und durch Reglementierung, Planung und Ordnung ersetzt werden. Genau dieses Verhältnis von Politik und Ökonomie bezeichnet Kelsen als einen Hauptwiderspruch des Marxismus. Max Adler, der von einer „soziologischen Einheit von Staat und Gesellschaft" ausgeht 17 , versucht die angesprochene Differenz zu entschärfen, indem er mit dem Staat zwar die Herrschaftsordnung, nicht aber die Zwangsordnung verschwinden läßt und den atomistischen Freiheitsbegriff des Liberalismus einer K r i t i k unterzieht, deren Inkonsistenzen von Kelsen meisterhaft aufgezeigt werden 1 8 . Adler kommt nämlich zu einer staatslosen, herrschaftsfreien Zwangsordnung, deren „Zwang nunmehr (in der solidarischen Gesellschaft, G. M.) auf den bewußten und kongruenten Willen aller, von ökonomischen Gegensätzen befreiten Mitglieder der Gemeinschaft aufbaut", wodurch bewirkt wird, daß sich der soziale „Charakter des ,Zwanges' — der formal immer noch gegen den Zuwiderhandelnden ein Zwang bleibt — radikal ändert" 1 9 , und zwar in der Weise, daß „die ihm unterstellten Personen ihn nun nicht mehr als Zwang empfinden" 2 0 . Hinter diese Darlegungen Adlers muß man wohl mit Kelsen ein großes Fragezeichen setzen, zumal der Austromarxist immerhin die Möglichkeit einer Störung der neuen solidarischen Ordnung durch „Unverstand, Leidenschaft oder Kriminalität eines einzelnen" einräumt und auch nicht ausschließen w i l l , daß sich in der Zukunft ein „neuer, uns noch unbekannter Interessengegensatz herausbilden (kann), der eine neue unsolidarische Gruppierung der Gesellschaftsmitglieder veranlaßt" 2 1 . Als Beispiel für eine Zwangsordnung ohne Herrschaft nennt Adler an anderer Stelle ein Orchester: „Dieses steht unter einer absoluten Zwangsordnung, welche jedem M i t g l i e d sogar vorschreibt, ob es sitzen oder stehen muß. K e i n Instrument darf sich hören lassen oder betätigen, anders als es vorgeschrieben ist. Gleichwohl würde man es lächerlich finden, w e n n einer der Musiker sagen würde, daß er sich durch diese Zwangsordnung vergewaltigt fühle u n d unter einer unerträglichen Herrschaft stehe. Die Zwangsordnung w i r d eben nicht als solche empfunden, w e i l sie die selbstgesetzte Ordnung aller Mitglieder des Orchesters ist und ihrem gemeinsamen Zwecke dient 2 2 ." 17
Adler, Die Staatsauffassung des Marxismus, S. 29 ff. Vgl. Kelsen, Sozialismus u n d Staat, S. 101 - 103, bes. S. 103. 19 Adler, Die Staatsauffassung des Marxismus, S. 275. 20 Ders., ebd., S. 229. 21 Ders., ebd., S. 233. 22 Max Adler, Staat, Nation u n d Sozialdemokratie, in: Hans Kremendahl / Thomas Meyer (Hrsg.), Sozialismus und Staat, Bd. 2, Kronberg/Ts. 1974, S. 91. 18
29 H E C H T S T H E O R I E , B e i h e f t 4
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Dieser Vergleich ist wohl dazu geeignet, die Einwände und Befürchtungen Kelsens zu vertiefen und ihre Berechtigung klar vor Augen zu führen. Übertragen auf das soziale Leben insgesamt heißt dies nämlich nichts anderes, als daß alle Gesellschaftsmitglieder sich an eine vorgegebene Partitur zu halten haben, m i t h i n alle ihre Handlungen weitgehend festgelegt und determiniert werden und wohl auch nicht die Möglichkeit zugelassen werden darf, daß Musiker aus dem Orchester austreten und neue, improvisierte Musik machen. Eine derart auf die Spitze getriebene, totalitäre Zwangsordnung w i r d wohl kaum dadurch gemildert, daß man sie nicht mehr Herrschaftsordnung nennt. Wenden w i r uns nun den Argumenten zu, mit denen Kelsen die Möglichkeit eines Absterbens des Staates in Zweifel zieht, so lassen sich zusammenfassend folgende Argumentationsstränge nennen: a) Die aus Kelsens Menschenbild erwachsenden anthropologischen Einwände schätzen die Veränderbarkeit der menschlichen Natur als äußerst gering ein. Wenn man wie Kelsen der Vermutung zugeneigt ist, daß das kapitalistische System der Ausbeutung „irgendwie der Natur des Menschen entspricht, weil es einen unverwüstlichen Trieb des Menschen gibt, andere für sich arbeiten zu lassen" 23 , entfällt natürlich eine wesentliche Voraussetzung der Praktikabilität herrschaftsfreier Sozialordnung. b) Als empirischen Einwand gebraucht Kelsen den Hinweis auf den Verlauf der bisherigen Geschichte, bei dessen Beachtung i m Absterben des Staates nur ein Wunder gesehen werden könnte. Doch i n der Politik sollte „nüchterne Erfahrung" am Werke sein, nicht die „Spekulation der Dialektik" 2 4 . c) Als logisch-konzeptuelle K r i t i k könnte man bezeichnen, daß Kelsen gegen die von Engels in Aussicht gestellte Vision: „ . . . an die Stelle der Regierung über Personen t r i t t die Verwaltung von Sachen und Leitung von Produktionsprozessen" 25 i n Anschlag bringt, sie sei von „innerer Haltlosigkeit", weil es keine Verwaltung und Produktion von Sachen und Dingen ohne Bestimmung über Menschen gäbe 26 . Eine Abwägung dieser Argumente ergibt m. E., daß Punkt c) am stringentesten ist, während mit Bezug auf a) und b) doch einige einschränkende Überlegungen am Platze sind. Über anthropologische Konstanten läßt sich immer noch trefflich streiten; jedenfalls die Kelsen23
Kelsen , Sozialismus u n d Staat, S. 110. Ders., ebd., S. 49. 25 Friedrich Engels, Die Entwicklung des Sozialismus v o n der Utopie zur Wissenschaft, in: M E W 19, S. 177 - 228, S. 224. 26 Kelsen, Sozialismus und Staat, S. 105. 24
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sehe Vermutung dürfte über den Status eines Glaubenssatzes nicht allzu weit hinauskommen. Und so richtig und unumgänglich es ist, wie Kelsen auf die Verwertung der Erfahrungen bisheriger Geschichte für die Abschätzung zukünftiger Entwicklungsmöglichkeiten nicht zu verzichten, so richtig und bedenkenswert ist es auch, daß Geschichte oftmals einen ganz anderen Verlauf nahm, als die beteiligten Individuen aufgrund der Interpretation ihrer bisherigen Erfahrungen anzunehmen sich genötigt sahen. Könnte man Empirie zur exakten Gesellschaftsprognose verwenden, veränderte sich die Sachlage allerdings. Jedenfalls ist das Empirismusargument Kelsens von nicht völlig überzeugender Durchschlagskraft. IV. Demokratie und Diktatur Das liberale Modell der Demokratie geht von Individuen aus, deren Interessen, Bedürfnisse, Intentionen usw. nicht vereinheitlicht werden können. Wo der Marktmechanismus Regelungsfunktion übernehmen kann, ist ein materialer Konsens auch gar nicht nötig; weil jedoch diesem entzogene oder zu entziehende Problemfelder und Aufgaben sich nicht vermeiden lassen, also Politik eine Notwendigkeit darstellt, benötigt man auch andere, politische Entscheidungskriterien. I m verbreiteten Verständnis von Demokratie, dem sich auch Kelsen ausdrücklich anschließt, soll über kontroversielle politische Auffassungen mittels des aus sozialtechnischen Gründen notwendigen Majoritätsprinzips handlungsrelevant entschieden werden. Dieses Prinzip garantiere Entscheidungsfähigkeit bei einem Minimum an Zwang und einem Maximum an Freiheit. Kelsens Demokratiebegriff mit der zentralen Stellung des Majoritätsprinzips findet zwar die Zustimmung der Austromarxisten K a r l Renner und Rudolf Hilferding, stößt jedoch auf Ablehnung durch den Austromarxisten Max Adler. Wie i m Hinblick auf den Staat geht Adler auch dabei so vor, daß er die Notwendigkeit einer nicht bloß formalen, sondern materialen Deutung behauptet. Seine Differenzierung zwischen politischer oder formaler und sozialer Demokratie impliziert die A n nahme von der Unmöglichkeit der sozialen Demokratie i n Klassengesellschaften, in denen bloß eine politische Demokratie möglich ist, d.h. aber eine „Demokratie, die eigentliche keine Demokratie ist" 2 7 . Wie ist das nun zu verstehen? Adler geht davon aus, daß „Demokratie und Ordnung durch Selbstbestimmung ein und dasselbe" sind 2 8 , Selbstbestimmung jedoch unter 27
29*
Adler, Die Staatsauffassung des Marxismus, S. 126 f.
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klassenantagonistischen Verhältnissen unmöglich ist, so daß es nur die „mehr oder minder brutale Majorisierung" geben kann, die Vergewaltigung der Minorität durch die Majorität 2 9 . Rousseaus Gedanken aufnehmend, behauptet Adler: „ . . . nicht das Majoritätsprinzip ist das Prinzip der Demokratie, sondern der Gedanke des Allgemeininteresses, des Gemeinwohls" 20. Dessen Realisierung hat nach Adler zur Voraussetzung eine „Einheitlichkeit in der Lebenslage in der Interessiertheit am Ganzen für alle" 31.
und
eine
Einsinnigkeit
Der Austromarxist versetzt uns mit dieser Konstruktion i n ein wahrhaft paradiesisches Land, i n die Fundamentalharmonie einer „solidarischen Gesellschaft". Während i m Verständnis von Kelsen das demokratische Majoritätsprinzip einen prozeduralen Mechanismus zur Bewältigung politischer Differenzen darstellt, der seine Berechtigung gerade aus der Unmöglichkeit bezieht, alle diese Konflikte durch Erziehung eines inhaltlichen Konsenses aufzulösen, w i l l Adler nur dann von Demokratie i m eigentlichen Sinne sprechen, wenn die egalitäre Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse und -interessen einen sozialen Basiskonsens bereitstellt. Um eine Metapher zu bemühen: Demokratie heißt für Adler nicht Einhaltung von Spielregeln, sondern gerechter Ausgang des Spieles. Und weil nach Adler Demokratie i n keinem Klassenstaat möglich ist, verteidigt er auch den Begriff der Diktatur des Proletariats, der in keinem Gegenatz zur Demokratie stehen könne, weil die politische Demokratie offensichtlich mit der Diktatur der Bourgeoisie über das Proletariat vereinbar sei. (Hier liegt übrigens die Wurzel für die austromarxistische Relativierung des Wertes der Demokratie.) Der Fehler, der Adler i n seiner Argumentation unterläuft, ist der folgende: es ist ein kühner und von Adler nicht näher plausibilisierter Schluß, den sozialen Charakter des Menschen und seine Abhängigkeit von anderen Menschen als Beweis dafür anzusehen, daß sich zwischen allen Individuen i n einem inhaltlich-materialen Sinne Interessenidentität herstellen kann. Adlers von antagonistischen Elementen gereinigtes System einer sozialen Demokratie steht übrigens gar nicht so weit, wie der Austromarxist meint, von liberalistischen Konzeptionen entfernt. Wenn es auch richtig und bedeutsam ist, den egoistischen Charakter bürgerlicher Gesellschaft — durchaus i m Einklang mit ihren theore28 Max Adler, Politische oder soziale Demokratie. E i n Beitrag zur sozialistischen Erziehung, B e r l i n 1926, S. 56. 29 Adler, Die Staatsauffassung des Marxismus, S. 122 f. 30 Adler, Politische oder soziale Demokratie, S. 57. — So auch schon in: ders., Demokratie u n d Rätesystem, Wien 1919, S. 7 ff. u n d in: ders., Die Staatsauffassung des Marxismus, S. 122 ff. 31 Adler , Politische oder soziale Demokratie, S. 58.
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tischen Hauptproponenten — herauszustreichen, liegt diesem liberalen Konfliktmodell eine Annahme zugrunde, deren Stellenwert oftmals von ideologischem Schleier vernebelt wird, die jedoch erst das Vertrauen in das Wirken einer „unsichtbaren Hand" vom Geruch einer tollkühnen Naivität befreit. Wie man exemplarisch schon an John Locke studieren kann, verträgt auch der Liberale die offenkundige Konfliktgesellschaft nur dann, wenn das Majoritätsprinzip in Konnex mit einer Demokratie gebracht wird, in der gesellschaftliche Ordnungsund Organisationsprinzipien unangetastet als Voraussetzung und Konsens fundamentalen Charakter besitzen. Nur dort w i l l Locke Majoritätsbeschlüsse angewendet wissen, wo gemeinsame Interessen von jeweiligen Majoritäten und Minoritäten sicherstellen, daß die Unterlegenen sich dem Mehrheitsbeschluß beugen können, weil ihre Lebensinteressen dadurch keine starke Beeinträchtigung erfahren. Erst diese \'orausgesetzte Gleichheit — Gleichheit des prinzipiellen Interesses der Verteidigung von Eigentum nämlich — nimmt dem Majoritätsprinzip sein zerstörerisches Potential, reduziert seine Anwendungsmöglichkeit allerdings auf eine Gesellschaft mit beschränkter Demokratie, eine Demokratie des Besitzbürgertums 32 . Max Adlers Vorstellungen einer sozialen Demokratie beinhalten nun eine Verbreiterung des Kreises der Demokraten auf die gesamte Bevölkerung, unter der Annahme nämlich, daß ein Basiskonsens in der Gesellschaft herrscht, der alle Konflikte zu für die Gesellschaftsordnung eigentlich harmlosen Auseinandersetzungen macht. Majoritätsbeschlüsse betreffen demnach nur mehr die Regelung von Verwaltungsmodalitäten. Worauf ich hier hinweisen w i l l , ist die — abgesehen von der sozialen Basis und dem Anwendungsbereich von Majoritätsbeschlüssen — Äquivalenz der beiden Positionen in bezug auf das Erfordernis eines Basiskonsensus, der Majoritätsentscheidungen erst sinnvoll und praktizierbar erscheinen läßt. V. Das Gleichgewicht der Klassenkräfte Die marxistische These vom Staat als Unterdrückungsapparat i m Dienste der herrschenden Klassen erfuhr durch Otto Bauer in seiner 1923 erschienenen Analyse der ersten Jahre der ersten österreichischen Republik, „Die österreichische Revolution" betitelt, eine einschneidende Modifikation. Auf eine Stelle aus Engels' „Der Ursprung der Familie, 32
Vgl. John Locke, Z w e i Abhandlungen über die Regierung. Hrsg. u. eing. v. Walter Euchner, F r a n k f u r t / M . 1977.
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des Privateigentums und des Staates" verweisend, unterschied Bauer zwischen der „landläufigen populären Darstellung" des Staates als Klassenstaat und der „feinere(n) theoretisch(n) Analyse des Marxismus" 8 3 , welche auch andere Staatswesen kennt, namentlich solche, in welchen ein „Gleichgewicht der Klassenkräfte" herrsche. Der Kernsatz Engels' lautet: „Ausnahmsweise indes kommen Perioden vor, wo die kämpfenden Klassen einander so nahe das Gleichgewicht halten, daß die Staatsgewalt als scheinbare Vermittlerin momentan eine gewisse Selbständigkeit gegenüber beiden erhält 3 4 ." Genau ein solches Verhältnis, so Bauer, charakterisiere die österreichische Lage zwischen 1919 und 1922: „Diese Republik w a r keine Bourgeoisrepublik, i n der die Bourgeoisie das Proletariat zu beherrschen vermochte hätte . . . Sie w a r aber auch keine Proletarierrepublik, i n der das Proletariat die Bourgeoisie beherrscht hätte . . . Es w a r eine Republik, i n der keine Klasse stark genug war, die anderen Klassen zu beherrschen, u n d darum alle Klassen die Staatsmacht untereinander, miteinander teilen mußten. So hatten tatsächlich alle Klassen des Volkes an der Staatsmacht ihren A n t e i l , w a r tatsächlich die Wirksamkeit des Staates die Resultierende der Kräfte aller Klassen des Volkes; deshalb können w i r diese Republik eine Volksrepublik nennen 3 5 ."
Hans Kelsen widersprach dieser Darstellung i n vielen Punkten; hier sei nur eine vom leitenden Thema meiner Erörterung bestimmte Auswahl präsentiert: — Kelsen bezweifelt, daß das Gleichgewichtsmodell sich tatsächlich mit der originären Staatstheorie von Marx und Engels widerspruchsfrei verbinden läßt. — Er stellt ferner in Abrede, daß der Charakter des Staates sich nach dem Untergang der Habsburgermonarchie so grundlegend geändert habe, wie dies Bauer behauptet. „Ja, es muß sogar ernstlich bezweifelt werden, ob i n dem Staate der Koalitionsregierung w i r k l i c h von einem »Gleichgewicht' der Klassen gesprochen werden kann, solange die kapitalistische Wirtschaftsordnung u n d somit das Ausbeutungsverhältnis grundsätzlich aufrechterhalten bleibt, w e n n es auch wesentlich gemildert ist. Liegt darin nicht eine gewisse Überschätzung der äußeren politischen Formen auf Kosten der realen ökonomischen Tatsachen? M a n muß gar nicht M a r x i s t sein, u m dies gegen Otto Bauer einzuwenden. Wer i n der deutschösterreichischen Republik v o n 1918 bis 1923 keinen Klassenstaat mehr sieht, der k a n n auch den ganzen modernen Staat, so wie er sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt, nicht mehr als Klassenstaat bezeichnen, der hat aber auch die marxistische Methode überwunden . . . 3 e ." 33 Otto Bauer, Die österreichische Revolution. (1923), in: Otto Bauer, W e r k ausgabe, Bd. 2, W i e n 1976, S. 489 - 866, S. 802, 803. 84 Engels, Der Ursprung der Familie . . . , S. 167. 35 Bauer, Die österreichische Revolution, S. 806.
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— Kelsen hält die Gleichgewichtsthese für i m wesentlichen zutreffend — allerdings mit dem ausgedehnten Bezug auf den modernen Staat überhaupt. Bauers Entgegnung darauf ist unzureichend. Er sieht sich genötigt, in Marx' Werk einen Unterschied zwischen sehr allgemeinen, eher plakativen Aussagen und historischen Einzelanalysen zu machen. Während Marx in letzteren einen „sehr hohen Grad der Vollkommenheit in der Annäherung an die Tatsachen" erreiche, könnten die allgemeinen, die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchungen zusammenfassenden „Lehrsätze" nicht diesen hohen Grad der Empirizität erreichen. Aus der Dogmatisierung der unhistorischen Betrachtung dieser Lehrsätze entsteht nach Bauer der Vulgärmarxismus. Und er schreibt: „Diesen Vulgärmarxismus allein kennt u n d i h n allein k r i t i s i e r t die landläufige M a r x - K r i t i k . Kelsens Verfahren ist für sie typisch: Kelsen weiß von M a r x nur, was eben auch der Vulgärmarxismus n u r weiß: daß M a r x den Staat als Herrschaftsorganisation der Bourgeoisie dargestellt hat. V o n den mannigfachen Modifikationen dieses allgemeinen Lehrsatzes, v o n den vollkommeneren Annäherungen an die Tatsachen, zu denen M a r x selbst i n seinen Einzeluntersuchungen gelangt ist, weiß Kelsen nichts oder er beachtet sie nicht 3 7 ."
Über Kelsens K r i t i k hinausgehend, läßt sich vom methodologischen Standpunkt zu Bauers Ausführungen folgendes sagen: Die allgemeinen Sätze, die „Lehrsätze", die den historischen Einzeluntersuchungen gegenübergestellt werden, sollen ja aus diesen erwachsen, deren „wichtigste Ergebnisse" zusammenfassen. Insofern dürfen sie natürlich nichts enthalten, was den konkreten Einzelfällen widerspricht. Nur wenn die Lehrsätze nicht als empirische Verallgemeinerungen oder Gesetzesaussagen aufgefaßt, sondern als idealtypische Abstraktionen interpretiert würden, verlöre dieser Einwand an Gewicht. Faßt man jedoch, wie Bauer es tut, die „Lehrsätze" als die „für die praktischen Zwecke wichtigsten Ergebnisse der Einzeluntersuchungen" auf 3 8 , so kann damit doch nicht erlaubt sein, die Grundsätze des Empirismus über Bord zu werfen. Dies scheint auch Bauer bewußt gewesen zu sein, denn er führte, um es nicht zu einem Hiatus zwischen exaktwissenschaftlicher Staatstheorie und inexakt-agitatorischer, und das heißt: mit teilweise falschen Aussagen politisch motivierender, Staats36 Hans Kelsen, Otto Bauers politische Theorien, in: Der K a m p f 17 (1924), S. 50 - 56, S. 55; ders., M a r x oder Lassalle. Wandlungen i n der politischen Theorie des Marxismus (1924), in: ders., Demokratie u n d Sozialismus. Ausgewählte Aufsätze. Hrsg. u n d eing. v. Norbert Leser, W i e n 1967, S. 137 - 169, S. 159 f. 37 Otto Bauer, Das Gleichgewicht der Klassenkräfte (1924), in: Otto Bauer Werkausgabe, Bd. 9, W i e n 1980, S. 55 - 71, S. 65 f. 38 Ders., ebd., S. 63.
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auffassung kommen zu lassen, eine Reinterpretation durch: Der marxistische Lehrsatz vom modernen Staat als ein die gemeinschaftlichen Geschäfte der Bourgeoisie besorgender Ausschuß dürfe gar nicht als eine Aussage über moderne kapitalistische Staaten gelesen werden, sondern beschreibe eine „Entwicklungstendenz": „Marxens Satz beschrieb also nicht einen tatsächlichen Zustand, sondern eine Entwicklungstendenz. Diese beschrieb er i m ganzen richtig . . ." 3 9 . Ob diese Annahme Marx gerecht w i r d oder nicht, für Bauers Position ist daraus kein Plausibilitätszuwachs zu gewinnen. Denn gerade wenn er recht hat, ist nicht einzusehen, wieso es in einem sehr fortgeschrittenen Entwicklungsstadium, dort, wo der Klassencharakter des Staates am allerdeutlichsten hervortreten müßte, zu einem „Gleichgewicht der Klassenkräfte" kommen kann. Daß dieses Gleichgewicht dennoch in Bauers und anderer Marxisten Theorie Eingang finden konnte, kommentiert Kelsen folgendermaßen: Die staatsfeindliche, anarchistische politische Theorie des Marxismus ist nur in der Frühzeit der Arbeiterbewegung eine akzeptable Grundlage der sozialistischen Politik. I n dem Maße jedoch, wie der Sozialismus an Einfluß gewinnt, muß diese Theorie für die Praxis zu eng werden. „Aus einem sehr wirksamen Werkzeug i m K a m p f u m die Macht w i r d sie (die Theorie, G. M.) zu einem Hindernis, diese Macht zweckmäßig zu gebrauchen . . . Das ist der Augenblick, i n dem das Proletariat erkennt, daß dieser Staat auch ,sein' Staat sein kann, ,sein' Staat ist. Damit vollzieht die politische Ideologie der sozialistischen Bewegung eine Wendung v o n Marx zu Lassalle. U n d als ein hochbedeutsames Symptom dafür erscheint auch das W e r k Otto Bauers 40."
VI. Einige abschließende Bemerkungen Welches Resümee läßt nun die vorgelegte Darstellung zu? Ohne Zweifel t r i f f t Hans Kelsen mit analytischer Schärfe wesentliche Schwachstellen der marxistischen und austromarxistischen Position. Insbesondere seine K r i t i k an der These vom Absterben des Staates vermag zu überzeugen, wenngleich hier Definitionsdifferenzen eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Und an diesem Punkt ist auch auf eine bislang ausgesparte Frage hinzuweisen, ob nämlich die Kelsensche Definition des Staates als eine Rechts- und Zwangsordnung selbst nicht insofern ungenügend ist, als sie etwa vom modernen Staat übernommene sozial- und wirtschaftspolitische Funktionen vernachlässigt. 39 40
Ders., ebd., S. 64. Kelsen r Otto Bauers politische Theorien, S. 56.
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Dennoch hielte ich insgesamt die Einschätzung, die besprochenen Kontroversen hätten uns nichts mehr zu sagen und verdienten nur mehr historisches Interesse, für voreilig und oberflächlich. Mag auch der Originalitätszwang — diese als konstitutiv veranschlagte, immanente Wissenschaftsnorm (mit einer ganzen Reihe von „externen" Aspekten 4 1 ) — eine eher geringschätzige Beurteilung nahelegen, er sollte nicht blind machen für die systematische Ergiebigkeit so manchen Kapitels längst verflossener Wissenschaftsgeschichte.
41 Vgl. zum Originalitätszwang etwa die die Konsequenzen dieser N o r m ins Zentrum stellende A r b e i t von Hans-Joachim Giegel, Gesellschaftliche Bedingungen des Theorienpluralismus i n der Gesellschaftswissenschaft, in: Christoph Hubig / Wolfert von Rahden (Hrsg.), Konsequenzen kritischer Wissenschaftstheorie, B e r l i n / New Y o r k 1978, S. 216 - 233, bes. S. 225 ff.
FORMALE UND SOZIALE DEMOKRATIE Von Manfred Prisching, Graz I n der Kontroverse zwischen Hans Kelsen und Max Adler über formale und soziale Demokratie ging es einmal mehr u m die Frage, ob man den Begriff der Demokratie auf prozedurale Legitimierungen staatlicher Entscheidungsträger beschränken oder ihn mit inhaltlichen Charakteristiken anreichern solle. Sie dient uns als Ausgangspunkt einer Erörterung der Zusammenhänge formaler und sozialer Demokratie unter dem Gesichtspunkt aktueller Entwicklungen der modernen Industriegesellschaften. I. Einige formale und soziale Demokratievorstellungen Für Hans Kelsen ist die Demokratie ein „rein formales Organisationsprinzip, das an und für sich gar keinen allgemeinen und unbedingten Wert für jeden Organisationszweck beanspruchen kann" 1 . Entscheidend sei für jene Staatsform das „die Demokratie charakterisierende Prinzip der Allgemeinheit und Gleichheit zur Teilnahme an der Bildung des Gemeinschaftswillens" 2 , der über Wahlverfahren nach dem Majoritätsprinzip zustandekomme 3 . Die Beschränkung der Demokratie auf bestimmte formale Verfahren der Regierungsauswahl betont Kelsen immer wieder; es sei „terminologische Manipulation" 4 , den Begriff für den Inhalt einer sozialen Ordnung zu verwenden, wo es sich doch nur u m eine „Methode der Erzeugung der sozialen Ordnung" 5 handle, für die der Freiheitswert, d. h. die gleiche Beteiligung aller an der Bildung des staatlichen Willens, grundlegend sei, der aber 1 Hans Kelsen, Sozialismus und Staat, Eine Untersuchung der politischen Theorie des Marxismus, 3. Aufl., Wien 1965 (erstmals Leipzig 1920), S. 120. 2 Ders., ebd., S. 120. 3 Die Begründung dieses Verfahrens findet Kelsen bekanntlich i m Grundprinzip der Freiheit, die von Seiten der Natur selbst v o n der Gesellschaft gefordert werde; unter dem Gesichtspunkt einer gemeinsamen Begründung der sozialen Ordnung, die aber dann objektive Geltung erlange, bedeute das „Prinzip der absoluten (und nicht das der qualifizierten) M a j o r i t ä t die relativ größte Annäherung an die Idee der Freiheit". Siehe Hans Kelsen , V o m Wesen u n d Wert der Demokratie, 2. Aufl., Tübingen 1929, S. 9. 4 Ders., ebd., S. 94. 5 Ders., ebd., S. 94.
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nicht soziale Gleichheitsvorstellungen irgendeiner A r t zugrunde liegen. Joseph A. Schumpeter hat diesen formalen Begriff später auf eine Weise rekonstruiert, die sogar den Freiheitsgedanken aufhebt 6 : Die Reduktion des Demokratiebegriffs hat nicht nur zur Folge, daß mit ihm jedes wirtschaftliche System vereinbar ist, sondern auch, „daß die demokratische Methode" — wie er sagt — „nicht unbedingt eine größere Summe individueller Freiheit garantiert, als irgendeine andere politische Methode unter gleichen Umständen gestatten würde. Es kann sehr wohl umgekehrt sein" 7 ! Die Abtrennung des Ideals der Demokratie von der Freiheit der Individuen klingt allerdings bei Kelsen schon deutlich an: „Auch bei schrankenloser Ausdehnung der Staatsgewalt gegen das Individuum, also bei völliger Vernichtung der individuellen ,Freiheit' und Negation des liberalen Ideals, ist Demokratie — w i r d solche Staatsgewalt nur von den ihr unterworfenen Individuen gebildet — noch möglich 8 ." Während Schumpeter diese Konsequenzen in nahezu kulturpessimistischer Manier auch tatsächlich prognostiziert, lenkt Kelsen , irritiert von einer solchen Möglichkeit, gleich wieder ein, beschäftigt sich in der Folge mit einer Fülle von Institutionen und Regelungen, die einen derartigen „Machtmißbrauch" der Regierung verhindern könnten, und ist offensichtlich der Meinung, daß ein formaldemokratisches System, angereichert um die von ihm beschriebenen institutionellen Absicherungen — die allerdings unsystematisch und mit dem bloßen Hinweis auf gute Erfahrungen, die man damit gemacht habe, eingeführt werden — auch tatsächlich in der Lage ist, ein Höchstmaß an individueller Freiheit zu bieten. Kelsens Ablehnung, inhaltliche Attribute mit dem Demokratiebegriff zu verbinden, richtet sich vor allem gegen die von ihm immer wieder kritisierte marxistische Staatsauffassung. Max Adler hat die Gegenkritik geliefert: Kelsen verkenne, daß der Begriff der Demokratie ein historischer sei, und ihr Sinn nicht in der Durchsetzung des Willens der Mehrheit der Bürger, sondern in der „Bildung eines ein8 Schumpeter, i n enger Verbindung m i t Elitetheorien, heute aktualisiert als A h n h e r r ökonomischer Demokratietheorien inklusive der Neuen Politischen Ökonomie, führt einen „realistischen" u n d „empirischen" Demokratiebegriff ein, der eine Beschränkung auf das reine Verfahren der Regierungsbestellung bringt: Das V o l k könne prinzipiell überhaupt keine politischen E n t scheidungen fällen, „die demokratische Methode ist diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfes u m die Stimmen des Volkes erwerben." Joseph A . Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus u n d Demokratie. Einleitung v o n Edgar Salin. 4. Aufl., München 1975 (erste engl. Ausgabe: Capitalism, Socialism, and Democracy, New Y o r k 1942; erste dt. Ausgabe: Bern 1946), S. 427 f. 7 Ders., ebd., S. 431. 8 Kelsen, V o m Wesen u n d Wert, S. 10.
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heitlichen, allgemeinen Volkswillens" liege 9 ; Demokratie sei daher i n einem Klassenstaat, in dem kein einheitliches Volk vorhanden sei und daher auch kein gemeinsamer Wille zustande kommen könne, prinzipiell unmöglich. Demokratie ist nach Adlers Vorstellung ausschließlich „soziale Demokratie" 1 0 — die er dem Kelsenschen formalen Begriff gegenüberstellt — und i m eigentlichen Sinne nur in einer klassenlosen Gesellschaft realisierbar 11 . Aber noch mit einem zweiten Begriff einer „sozialen Demokratie" haben w i r es zu tun; denn nach Kelsens Formulierung handelt es sich bei solch einem System um „eine soziale Ordnung (.. .), die den Normunterworfenen nicht nur einen formal gleichen Anteil an der Erzeugung des Gemeinschaftswillens, sondern auch ein i n irgendeinem Sinne gleiches Maß von Gütern gewährleistet" 1 2 . Max Adler grenzt sich von dieser Bedeutung des Begriffs, der nicht mehr notwendig mit einer Umgestaltung der gesellschaftlichen Strukturen zu tun hat, sondern auf Probleme der Einkommens- und Vermögensdistribution verweist, gleichermaßen ab 1 3 wie Kelsen, der ihn schon deswegen für irreführend hält, weil materielle Gleichheit auch in einer autokratisch-diktatorischen Staatsform verwirklicht werden könne; gerade diese Begriffsverwirrung habe auch die Marxisten zu dem paradoxen Schluß veranlaßt, letztlich gar für eine die soziale Gerechtigkeit verwirklichende „Diktatur" einzutreten, die zur „wahren Demokratie" erklärt werde 1 4 . 9 Max Adler, Die Staatsauffassung des Marxismus. Ein Beitrag zur Unterscheidung von soziologischer und juristischer Methode, Darmstadt 1973 (erstmals Wien 1922), S. 122. 10 Ders., ebd., S. 126. 11 „Denn i n einem Staat", so Adler i n dem genannten Band (Anm. 9), „ i n welchem auch die wirtschaftlichen Funktionen politisch sind, u m i n der Kelsenschen Terminologie zu reden, bedeutet die Gleichberechtigung der Demokratie etwas ganz anderes als i n dem heutigen Staat." (S. 121) Die Interessengegensätze sind n u r revolutionär auf hebbar; denn nicht das Prinzip der M a j o r i t ä t (mit seiner Vergewaltigung der jeweiligen Minderheit) sei das Wesensprinzip der Demokratie, sondern die Realisierung eines schon bei Rousseau aufgezeigten „Gemeinwillens", zu dessen Feststellung die A b s t i m m u n g das einzige M i t t e l sei. Divergenzen bei Abstimmungen seien erst i n der vollendeten Demokratie keine „Lebensgegensätze i m Volksganzen" mehr, sondern n u r noch „mehr oder minder sachliche Meinungsverschiedenheiten über Zweckmäßigkeiten und Dringlichkeit vorgeschlagener Entscheidungen": Die „ A b s t i m m u n g w i r d zu einem bloßen A k t gesellschaftlicher V e r w a l t u n g oder Geschäftsführung". (S. 123) 12 Kelsen, V o m Wesen u n d Wert, S. 93. 13 Max Adler verweist i n einer ausführlichen Fußnoten seines Buches (Anm. 9) ablehnend auf Hasbachs Buch „Die moderne Demokratie", demzufolge unter jenem E t i k e t t gleichfalls „ein gesellschaftlicher Zustand (zu verstehen sei), i n dem die Tendenz zur Standesgleichheit u n d Ausgleichung der Vermögensunterschiede, ohne jedoch die Grundlagen der heutigen Erwerbsgesellschaft anzugreifen, h e r v o r t r i t t " . (S. 126 Fußnote) 14 Kelsen, Vom Wesen u n d Wert, S. 94.
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Diese zweite Variante eines Begriffs der „sozialen Demokratie" — materiell-reformistische Elemente auf dem Boden der existierenden Sozial- und Wirtschaftsordnung — führt uns allerdings zum modernen Sozial- und Wohlfahrtsstaat und zur Frage nach dessen Verhältnis zu den geschilderten Konzeptionen der formalen und sozialen Demokratie. II. Die wohlfahrtsstaatliche Demokratie entwickelter Industriegesellschaften Den Beweis, „daß die Effizienz des (kapitalistischen) Wirtschaftssystems mit der Herstellung sozialer Gerechtigkeit verbunden werden kann" 1 5 , hat, i m Zweifrontenkrieg gegen liberal-rechtsstaatliche wie gegen kommunistische Konzeptionen — jener Reformismus zu erbringen versucht, der zu dem Ausbau eines formaldemokratischen Systems zu einem wohlfahrtsstaatlichen führte; der moderne Interventionsstaat hat i m Zuge der gewaltigen Expansion seiner Aktivitäten eine umfassende Kompetenz für die materielle und soziale Distribution von Gütern, für die vielfältige Produktion öffentlicher Güter, für die umfassende Risikoabsicherung der Bürger und für die wirtschaftspolitische Gesamtsteuerung reklamiert. Was die Verteilungsaufgabe anbelangt, so haben staatliche Eingriffe erklärtermaßen in vielen Fällen das Ziel, eine Korrektur der Marktergebnisse herbeizuführen; Zielsetzung der i m Rahmen der staatlichen Einnahmenpolitik, der lastenverteilenden rechtlichen Regelungen, der Bereitstellung öffentlicher Güter und der Transferzahlungen durchgeführten Maßnahmen ist es, einerseits Notfälle zu vermeiden, andererseits eine Abschwächung der Einkommenshierarchie unter Bezug auf die jeweils diffus existierende Gerechtigkeitsidee herbeizuführen. Weithin anerkannt, wenn auch i m Ausmaß allemal umstritten, ist die staatliche Bereitstellung von öffentlichen Gütern, also Gütern, die marktwirtschaftlich nicht (oder nicht i n der gewünschten Menge oder Qualität) angeboten würden, obwohl ihr Vorhandensein alle Betroffenen besser stellt; sie sind von Belang sowohl i n ihrer Funktion als Vorleistungen für den Wirtschaftsbereich als auch als kollektive Konsumgüter. Unter dem Aspekt der Risikoabsicherung (gegen Mangellagen verschiedener Art) sind Sozialleistungen i m engeren Sinne zu sehen, eine Verteilungsfunktion spezieller A r t ; sie dienen der Sicherung eines minimalen Lebensstandards oder dem Ausgleich unterschiedlicher Belastungen. Diesen Funktionen ist ein umfassenderer Aufgabenbereich, die allgemeine Gesamtregulierung der wirtschaftlichen Tätigkeit, 15 Klaus von Beyme, Sozialismus oder Wohlfahrtsstaat? Sozialpolitik und Sozialstruktur der Sowjetunion i m Systemvergleich, München 1977, S. 15.
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ü b e r g e o r d n e t ; i h m müssen a l l e n f a l l s auch die r e d i s t r i b u t i v e n Z i e l s e t zungen weichen. D i e V e r f o l g u n g einer a n t i z y k l i s c h e n B u d g e t p o l i t i k i m Sinne der L e h r e n v o n J o h n M a y n a r d K e y n e s 1 6 h a t ohne Z w e i f e l auch dazu beigetragen, die staatliche „ M a n ö v r i e r m a s s e " auszudehnen; v o r a l l e m die „ B e w e i s l a s t " h i n s i c h t l i c h zusätzlicher Staatsausgaben h a t sich verlagert. D i e E n t w i c k l u n g dieser sozialen D e m o k r a t i e — w i e sie e t w a auch Leibholz 17 bezeichnet 1 8 — s t e l l t f ü r die Kelsensche K o n z e p t i o n , d e r z u folge eine v o l l s t ä n d i g e T r e n n u n g zwischen p o l i t i s c h e m u n d ö k o n o m i schem L i b e r a l i s m u s , zwischen p o l i t i s c h e m V e r f a h r e n u n d sozialem Geh a l t besteht, k e i n e S c h w i e r i g k e i t dar, w o h l aber f ü r die m a r x i s t i s c h e n S t a a t s v o r s t e l l u n g e n 1 9 . G l e i c h w o h l lassen sich auch b e i einer A n a l y s e der B e z i e h u n g e n zwischen f o r m a l e r u n d s o z i a l s t a a t l i c h e r 2 0 D e m o k r a t i e auf soziologischer Ebene m a n n i g f a c h e V e r s c h r ä n k u n g e n feststellen, die zu den wesentlichsten u n d b e d r ä n g e n d s t e n F r a g e n der Z u k u n f t w e r d e n . Unsere Frage l a u t e t : W i e v e r h ä l t sich jenes System der sozialen D e m o k r a t i e , das heute — i n m a n c h e r l e i D i f f e r e n z i e r u n g e n f r e i l i c h — i n d e n w e s t l i c h e n f o r t g e s c h r i t t e n e n Gesellschaften Gestalt a n g e n o m m e n h a t 2 1 , 16 John Maynard Keynes , The General Theory of Employment, Interest and Money, Cambridge 1973 (Originalausgabe 1936). 17 Gerhard Leibholz , Strukturprobleme der modernen Demokratie. Neuausgabe der 3., erweiterten Aufl., Frankfurt a. M. 1974, S. 87. 18 „ M i t Hilfe der Intervention und einer weitgehenden Lenkung der W i r t schaft durch den Staat", so meinte Leibholz schon 1952 (ebd., S. 87), „ist man (...) bereits heute zu jener sozialen Homogenität gelangt, die uns berecht i g t ) , nicht nur von einer politischen, sondern i n einem nicht unerheblichen Ausmaß von einer sozialen und Wirtschaftsdemokratie (...) zu sprechen." Soziale Grundrechte und das Prinzip des sozialen Rechtsstaates zwingen den Gesetzgeber, „ i m Sinne der Herstellung der sozialen Gerechtigkeit tätig zu werden". 19 Vgl. die Darstellung der Funktionen der Sozialpolitik i m Verständnis verschiedener Theoretiker (als Kompensation unzulänglicher Ergebnisse des Marktprozesses, als Schaffung infrastrukturtheoretischer Voraussetzungen der Produktion und als Instrument der sozialen Kontrolle) i n Tim Guidi mann, Marianne Rodenstein, Ulrich Rödel, Frank Stille, Sozialpolitik als soziale Kontrolle. (Starnberger Studien 2), Frankfurt a. M. 1978, S. 17 ff. 20 Für unsere Zwecke werden Begriffe des modernen Sozial-, Wohlfahrtsoder Interventionsstaates nicht voneinander geschieden und sollen auch keine Bewertung irgendeiner A r t suggerieren. Z u den Schwierigkeiten einer Abgrenzung der „Sozialpolitik" vgl. u. a. Bruno Molitor, Was ist Sozialpolitik?, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 17 (1972), S. 184 - 198; wiederabgedruckt in: Ulrich Teichmann (Hrsg.), Probleme der Wirtschaftspolitik, Band 2, Darmstadt 1978, S. 325 - 346. 21 U m Mißverständnisse zu vermeiden, soll nochmals hervorgehoben werden, daß es natürlich unzureichend wäre, zur Erklärung der Ausdehnung staatlicher Tätigkeit auf Machtansprüche irgendwelcher A r t , auf die Gier nach zusätzlichen Kompetenzen — wie sie i n Metaphern wie dem alles verschlingenden Ungeheuer zutage t r i t t — und ähnliche assoziativ gemeinte und ideologisch akzentuierte Deutungen zu rekurrieren; vielmehr gilt es, die immanenten Mechanismen — etwa den Druck bestimmter Interessen-
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zu den eingangs geschilderten — formaldernokratischen bzw. m a r x i stisch-sozialdemokratischen — Konzeptionen? I I I . Der revolutionäre und der reformistische Weg zur sozialen Demokratie Wenn marxistische Konzeptionen die Unmöglichkeit der Realisierung einer wahren Demokratie auf das Ausbeutungs- und Klassenverhältnis zurückführen, erhebt sich angesichts des Weges zu einem sozialpolitisch engagierten Staat die Frage, ob diese Analysen überholt sind oder reformistisch modifiziert werden müssen; solche Schlußfolgerungen sind auch — etwa von Eduard Bernstein oder Rudolf Hilf er ding — sehr bald gezogen worden. Max Adler hat allerdings evolutionistischen Perspektiven eine klare Absage erteilt: Die zahlenmäßige Majorität des Proletariats i m Parlament helfe nichts, solange die tatsächliche Gewalt, das heißt die M i t t e l der Beeinflussung u n d Einschüchterung schwankender Volksteile, i n den Händen der kapitalistischen Klasse verbleiben; bei unveränderter ökonomischer S t r u k t u r sei der Staat als Repräsentant von Sonderinteressen anzusehen 22 . Während die dominierenden sozialdemokratischen Parteien sich praktisch — m i t mehr oder minder akzentuierten verbalen Bekenntnissen ihrer historischen Tradition gegenüber — einem evolutionärreformistischen Konzept verschrieben haben, stellen sich viele marxistische K r i t i k e r m i t tapferer Entschlossenheit u n d unter M i t h i l f e hyperfunktionalistischer Konstruktionen 2 3 der widerstreitenden Empirie m i t der Behauptung entgegen, die soziale Demokratie weise unveränderte Strukturen der Ausbeutung, verschleiert durch eine ausgeklügelte Befriedigungsstrategie gegenüber den potentiell revolutionären Kräften, auf 2 4 . Elmar Altvater 25 w a r n t i n diesem Sinne davor, das unveränderbare Wesen des kapitalistischen Staates m i t wandelbaren Oberflächenergruppen hinsichtlich bestimmter staatlicher Zuteilungsmaßnahmen — zu analysieren (ohne umgekehrt weltanschaulich geprägten politischen Strategien jede Relevanz absprechen zu wollen). 22
Adler, Die Staatsauffassung des Marxismus, S. 147 f. Gero Lenhardt / Claus Offe, Staatstheorie und Sozialpolitik. Politischsoziologische Erklärungsansätze für Funktionen und Innovationsprozesse der Sozialpolitik, in: Christian von Ferber / Franz-Xaver Kaufmann (Hrsg.), Soziologie und Sozialpolitik. (Sonderheft 19 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpolitik), Opladen 1977, S. 98 - 127, hier S. 115. 24 Eine Ubersicht und K r i t i k einiger der neueren marxistischen Theorien liefern Alexander Schwan / Gesine Schwan, Sozialdemokratie und Marxismus. Z u m Spannungsverhältnis von Godesberger Programm und marxistischer Theorie, Hamburg 1974. 23
Formale und soziale Demokratie scheinungen zu v e r w e c h s e l n ; Wolfgang
Müller
u n d Christel
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verdichten diese Betrachtung i m Begriff der „Sozialstaatsillusion"; und auch Jörg Huffschmid
27
sieht die Kapitalinteressen t r i u m p h i e r e n 2 8 . Da
der Staat nach Ansicht dieser Theoretiker zudem die langfristigen und gemeinschaftlichen Interessen der Kapitale, nicht ihre bewußten und bloß aggregierten, vertritt, können auch alle gegen den Willen der Kapitalisten, ja sogar durch offene Klassenkämpfe erzwungene Maßnahmen zugunsten der Arbeiterschaft nahtlos i n das Weltbild der Ausbeutung integriert werden: auch sie sind für die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems funktional. Man könnte resümieren: Auch wenn der Staat keine einseitige Politik des Kapitals betrieben sollte, so kann er doch durch Definition dazu gebracht werden. Gesine Schwan fühlt sich zur Ironie gedrängt: „Das ist wirklich fein ausgetüftelt: Die objektiven historischen Notwendigkeiten, verkörpert in den Interessen des Kapitals, schaffen sich das Mittel des Staates, der sich seinerseits zur Durchsetzung des Mittels der Klassenkämpfe bedient, die sich ihrerseits des Mittels des Staates bedienen, um die Interessen des Kapitals zu verwirklichen und den objektiven historischen Notwendigkeiten zum Durchbruch zu verhelfen 2 9 ." Was immer der Staat auch tut: Alle Strategien lassen sich als i m langfristigen Interesse des Kapitals notwendig erklären. Die revolutionäre Schlußfolgerung gerät zur Prämisse. Die Unzulänglichkeit der Versuche, sozialstaatliche Leistungen als bloße Illusion abzutun, und ihr Mangel an Alternativkonzeptionen 3 0 25 Elmar Altvater, Z u einigen Problemen des Staatsinterventionismus, in: Probleme des Klassenkampfes. Zeitschrift für politische Ökonomie u n d sozialistische P o l i t i k (1972), Nr. 3, S. 1 - 53. 26 Wolf gang Müller / Christel Neusüß, Die Sozialstaatsillusion u n d der Widerspruch von Lohnarbeit u n d Kapital, in: Sozialistische P o l i t i k (1970), Nr. 6/7, S. 4 - 67. 27 Jörg Huffschmid, Die P o l i t i k des Kapitals. Konzentration und W i r t schaftspolitik i n der Bundesrepublik, 3. Aufl., F r a n k f u r t a. M. 1970. 28 Da die staatliche Verteilung, so laufen die meisten Argumentationen, gegenüber der Produktionssphäre nicht unabhängig sei, der Staat vielmehr ein günstiges Investitionsklima aufrechterhalten müsse, habe Sozialpolitik nur eine Befriedigungs- u n d Unterdrückungsfunktion; zudem formiere sich das K a p i t a l als einheitliche Klasse (Huffschmid) u n d pflege enge persönliche Beziehungen zur Staatselite; n u r Kosmetik an der Oberfläche bleibt als staatlicher Spielraum. Für eine A r t „Elitentheorie" vgl. Ralph Milihand, Der Staat i n der kapitalistischen Gesellschaft, F r a n k f u r t a. M. 1975 (Originalausgabe: The State i n Capitalist Society, 1969). Die hier vorgebrachten V o r würfe gelten selbstverständlich nicht für alle Weiterentwicklungen der marxistischen Theorie, sondern treffen eher orthodoxe, sich gegen Weiterentwicklungen sträubende Anhänger der Marxschen Lehren. 29 Schwan / Schwan, Sozialdemokratie und Marxismus, S. 235. 30 Soferne man nicht die Länder des realen Sozialismus als solche gelten lassen möchte, (wie dies allerdings Müller / Neusüß (Anm. 26) tun) . . .
30 R E C H T S T H E O R I E , B e i h e f t 4
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machen allerdings eine Bewertung der Erfolge reformistischer Strategien nicht überflüssig; mancherlei Versuche einer vergleichenden Wertung der Politik konservativ-nicht-reformistischer und sozial-demokratisch-reformistischer Staaten 31 haben allerdings keine sonderlich deutlichen Ergebnisse gebracht, vielleicht schon deshalb, weil angesichts eines weitgehenden „sozialdemokratischen Konsenses" auch die Politik konservativer Parteien unter dem Konkurrenzdruck der Opposition, wenn schon nicht aufgrund eigener paternalistischer Traditionen, i n den meisten Fällen als durchaus reformistisch angesehen werden kann; denn daß sich die Lage der Individuen weitgehend verbessert hat, steht ziemlich außer Zweifel — sogar marxistische Autoren machen ja zunehmend die staatliche Motivation statt der Performanz zum Brennpunkt der K r i t i k 3 2 . W i r kommen damit aber zum Verhältnis formalund sozialstaatlicher Konzeptionen.
IV. Die Interdependenz formaldemokratischer und wohlfahrtsstaatlicher Faktoren Die angedeutete Entwicklung der Staatsaufgaben stellt i m Grunde ein Problem dar, das unter mannigfachen wissenschaftlichen Perspektiven gesehen wird: staatstheoretisch als Wandel des liberalen Staates zum Wohlfahrtsstaat; juristisch als Problem der sozialen und liberalen Grundrechte; politisch als Kontroverse um Freiheit und Gleichheit; ökonomisch als Diskussion um Staatsanteil und Finanzkrise; die disziplinär- und problemorientierte Matrix ließe sich unschwer auffüllen. Die grundlegende demokratietheoretische Behauptung, daß die formale Apparatur der Demokratie mit beliebigen sozioökonomischen Inhalten vereinbar ist, soll uns nicht daran hindern, auf soziologischer Ebene den vielfältigen Verflechtungen zwischen formaler und sozialer Demokratie, die auch Kelsen häufig apostrophiert hat, unter Bezugnahme auf die konkreten Tendenzen der modernen Industriegesellschaften nachzuspüren. Das formale Gerüst einer demokratischen Struktur erweist sich, w i r d es auf diese soziologische Ebene transformiert, als weitaus komplizierter, als dies die oft beeindruckend schlichte Argumentation staatstheoretischer Provenienz manchmal vermuten 31 Vgl. aus jüngerer Zeit beispielsweise José Μ . Mar avail, The l i m i t s of reformism: parliamentary socialism and the marxist theory of the state, in: B r i t i s h Journal of Sociology 30 (1979), S. 267-290; Manfred G. Schmidt, Staat u n d Wirtschaft unter bürgerlichen u n d sozialdemokratischen Regierungen, in: Peter Grottian (Hrsg.), Folgen reduzierten Wachstums für P o l i t i k felder. (Sonderheft 11 der Politischen Vierteljahresschrift), Opladen 1980, S. 7 - 3 7 . 32 Beyme, Sozialismus oder Wohlfahrtsstaat, S. 38.
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läßt. Unser Problem w i r d — gerade i n politischen Diskussionen — häufig als zentrale Überlebensfrage der Demokratie angesehen. Von Christian Watrin werden einige seiner Aspekte beispielsweise i n den folgenden Fragen angesprochen: „Erzwingt der Sozialstaat die Verletzung oder drastische Einschränkung individueller Freiheits- und Entfaltungsräume oder ist er die Voraussetzung für die Sicherung individueller Freiheit? Läßt es sich verhindern, daß der Sozialstaat in einen obrigkeitlichen Wohlfahrtsstaat zurückfällt oder sich zu einem totalitären Kollektivstaat fortentwickelt, i n dem Maßnahmegesetze und bürokratische Verordnungen letztlich Sozialfunktionen i n Herrschaftsfunktionen verwandeln oder kann die soziale Ordnung so ausgestaltet werden, daß sie die Mitte hält zwischen Obrigkeits- und Wohlfahrtsstaat und mit den Grundsätzen einer Gesellschaft freier Menschen vereinbar ist 3 3 ?" Zu der auf theoretischer Ebene begründeten, i n der praktischen Auseinandersetzung aber gerade durch marktwirtschaftliche oder marxistische Logik — mit Hinweisen, daß Demokratie auch Marktwirtschaft oder daß letztere undemokratische Strukturen impliziere — übertünchten Interdependenz formaler und sozialer Aspekte sollen nunmehr einige Bemerkungen hinzugefügt werden; es sind vier Gesichtspunkte — i n dieser Kürze kaum mehr als ein exemplarischer Problemkatalog — abzuhandeln, eine tour d'horizon, die einige Argumente Kelsens modifiziert und ergänzt. Erstens können w i r die für die Entfaltung und Aufrechterhaltung der sozialen Demokratie an sich offenkundigen förderlichen Bedingungen des formaldemokratischen Modells nennen. Ein Gutteil der sozialen Leistungen, die heute staatlicherseits erbracht werden, hat die Einrichtung eines formaldemokratischen Systems ohne Zweifel zur Voraussetzung; erst die Installierung des Parlamentarismus bot die Möglichkeit, eine friedliche Auseinandersetzung über Verteilungsprobleme zu beginnen 34 . Der Parteienwettbewerb ist — getragen von einem sozialpolitischen Populismus 35 — zum wichtig33 Christian Watrin, Ordnungspolitische Aspekte des Sozialstaats, in: Bernhard K ü l p / Heinz-Dieter Haas (Hrsg.), Soziale Probleme der modernen Industriegesellschaft. Zweiter Halbband. (Schriften des Vereins für Socialpolitik. Neue Folge Band 92/11), B e r l i n 1977, S. 963 - 985, hier S. 966 f. 34 Vgl. Ermenhild Neusüß, Demokratie: Theorien u n d politische Praxis, in: Franz Neumann (Hrsg.), Handbuch Politischer Theorien u n d Ideologien, Reinbek b. H. 1977, S. 106 - 177, hier S. 143. 35 Horst Baier, Herrschaft i m Sozialstaat. A u f der Suche nach einem soziologischen Paradigma der Sozialpolitik, in: von Ferber / Kaufmann, S. 128 bis 142, hier S. 138 f. Diesen „Sozialpolitischen Populismus" sieht Horst Baier als eine historisch wechselnde M i x t u r „ v o n marxistischem, völkischem, humanistischem Sozialismus; katholischer Soziallehre u n d evangelischer Sozialethik; liberaler Philanthropie und aufklärungsphilosophischem Demokratismus; — je nach dem Idee- u n d Gesinnungsprofil der aufsteigenden Emanzipations- und Protestbewegungen".
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sten Mechanismus der Thematisierung und Politisierung von Problemen wie auch zur entscheidenden Antriebskraft ihrer Bewältigung — i m Sinne der Steigerung des materiellen Lebensniveaus, der Absicherung gegen Lebensrisiken, des Abbaus der Ungleichheit — geworden 36 . Die Verpflichtung zur Sicherung von Vollbeschäftigung und Wachstum ist in den Versuch einer globalen Aggregatsteuerung des m a r k t w i r t schaftlichen Prozesses gemündet 37 . Positive Effekte werden aber auch in umgekehrter Richtung w i r k sam; zweitens sind daher die zur Entfaltung der formalen Demokratie förderlichen Wirkungen der mit der sozialen Demokratie verbundenen Phänomene anzudeuten. Die Besserung der Lage der unteren Einkommensschichten und der für die Mehrheit der Bevölkerung erreichte Lebensstandard scheinen, wie auch Untersuchungen belegen, eine weitgehende Zufriedenheit mit dem institutionellen Rahmen, in dem diese Ergebnisse erzielt wurden, mit sich gebracht zu haben; diese Einkommenserhöhung wie auch die wohlfahrtsstaatliche Absicherung haben eine Integration verschiedener Bevölkerungsgruppen zustande gebracht, die bestehende Unterschiede als leichter erträglich oder i n subjektiven Chancen potentiell abbaubar erscheinen läßt 3 8 . So w i r d i n einer neueren empirischen Untersuchung beispielsweise die Vermutung geäußert, „daß die Systembejahung der Jugend sich eng mit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik verbindet, (also) vom Florieren der Wirtschaft abhängt". Zugleich werde allerdings unter den Jugendlichen anerkannt, „daß es unterschiedliche Interessen i n der Demokratie gibt und daß die Auseinandersetzung dieser Interessen der freiheitlichen Demokratie sogar entspricht"; eine solche Haltung könnte eine Konfliktaustragung inner36 Peter Graf Kielmansegg, Nachdenken über Demokratie. Aufsätze aus einem unruhigen Jahrzehnt, Stuttgart 1980, S. 71 f. 37 Die breite Akzeptierung des interventionistischen Programms erfolgte w o h l erst — nach einzelnen Maßnahmen i n den dreißiger Jahren — nach dem Zweiten Weltkrieg; diese Periode bis i n die siebziger Jahre k a n n m i t Recht als die „keynesianische" bezeichnet werden. Erst seit den sechziger Jahren taucht — wie Knut Β or char dt jüngst gezeigt hat (Perspektiven der Wachstumsgesellschaft, in: Klaus von Beyme / K n u t Borchardt / Yehezkel Dror / I r i n g Fetscher u. a., Wirtschaftliches Wachstum als gesellschaftliches Problem, Königstein/Ts. 1978, S. 157 - 168) — das Wachstum als eigenständige wirtschaftspolitische Zielvariable auf — und ist auch schon wieder, wie gleichfalls die Keynes'sche Rezeptur, nach den Erfahrungen der letzten Jahre ins Wanken geraten; konkurrierende Deutungen des Wirtschaftsprozesses, wenngleich nicht i n jener Geschlossenheit, scheinen nunmehr vorrangiges Interesse zu gewinnen. 38 Zusammenfassung einer A r b e i t des Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts der Konrad-Adenauer-Stiftung 1979/80 durch Stephanie Hansen / Hans-Joachim Veen, A u f der Suche nach dem privaten Glück, in: Die Zeit Nr. 37, 1980.
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halb einer integrierten Gesellschaft ermöglichen 3 9 . Dies ist jenen Aspekten der politischen K u l t u r förderlich, die Kelsen immer wieder als Voraussetzungen des Funktionierens demokratischer Strukturen genannt hat; dem W i l l e n zum Kompromiß und der Toleranz gegen A n dersdenkende, die sich i n Verhaltensweisen niederschlagen, die über die Einhaltung formaler Spielregeln hinausgehen. I n diesem Zusammenhang sind auch die zahlreichen — durch Korrelationsanalysen unterstützten — Hinweise zu erwähnen, die auf die Tatsache aufmerksam machen, daß Modernisierung und wirtschaftliche Entwicklung empirisch i n auffèilliger Weise m i t demokratischen Strukturen verknüpft sind; bessere K o m m u n i k a t i o n und Schulbildung sowie der Abbau wirtschaftlicher und psychologischer Unsicherheit führen zu Toleranz und Legitimität des Systems 40 . Daß gerade diese Faktoren allerdings wiederum die Kanalisierungsfähigkeit der herkömmlichen politischen Institutionen gefährden können, hat jüngst etwa Ronald Inglehart 41 betont. Schließlich eröffnet sich aber auch, wie zahlreiche A u t o r e n i m Anschluß an Abraham A. Maslow 42 hervorheben, durch die abnehmende Angst u m die Befriedigung der Grundbedürfnisse Raum für die Entfaltung „postaquisitiver" Bedürfnisse, zu denen viele auch politische Teilnahmebereitschaft, Diskursfreudigkeit, den Wunsch nach Selbstbestimmung und ähnliches rechnen 43 . Dies w i r d durch Schichtuntersuchungen bestätigt. Die Bedeutung der Frage, ob der Trend zum Wohlfahrtsstaat die Partizipation an politischen Entscheidungen n u n 39
Dies, ebd. Man denke an die Ergebnisse der international vergleichenden P o l i t i k forschung, wie etwa an die bekannte Untersuchung von Seymour Martin Lipset, Soziologie der Demokratie, Neuwied / B e r l i n 1962 (amerik. Originalausgabe: Political Man. The Social Bases of Politics, 1960). 41 Ronald Inglehart , Value Priorities and Socioeconomic Change, in: Samuel H. Barnes / M a x Kaase u. a., Political Action. Mass Participation i n Five Western Democracies, Beverly Hills / London 1979, S. 305 - 342. 42 Abraham H. Maslow , Motivation und Persönlichkeit, Reinbek b. Η . 1981 (Originalausgabe: Motivation and Personality, 1954). 43 I n einem Gutachten für die Kommisson für wirtschaftlichen und sozialen Wandel hat Peter Kmieciak einige empirische Ergebnisse hinsichtlich der politischen K u l t u r der bundesdeutschen Bevölkerung zusammengetragen; es zeigt sich, daß i n den letzten beiden Jahrzehnten ein wachsendes Interesse für die Politik zu verzeichnen war, daß sich dieses Interesse aber nicht i n den klassischen Interessenvertretungen (Parteien, Verbände usw.) kanalisieren läßt. Vgl. Peter Kmieciak , Wertstrukturen und Wertwandel i n der Bundesrepublik Deutschland. Grundlagen einer interdisziplinären empirischen Wertforschung m i t einer Sekundäranalyse von Umfragedaten. (Schriften der Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel 135), Göttingen 1976, S. 430 ff. Allerdings sind die Ergebnisse unter dem Gesichtspunkt zu relativieren, daß offen bleibt, inwieweit tatsächlich zunehmende Partizipationsfreudigkeit hypostasiert werden kann oder ob nicht vielmehr ein (durch die Ereignisse der 60er Jahre) verstärkter sozialer Druck hinsichtlich der Erwünschtheit politischer Aufgeschlossenheit zum Tragen kommt. 40
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fördere oder lähme, ist allerdings relativiert durch die Unsicherheit darüber, welches Ausmaß an allgemeiner Teilnahme für die Demokratie am förderlichsten sei — man denke an die politsoziologischen Apathietheorien 4 4 . Zudem machen neuere Untersuchungen des Wertwandels deutlich, daß diese partizipative Entwicklung auch zur Entfaltung eines brisanten und allenfalls destabilisierenden Kritikpotentials führen kann 4 5 . Wenn man die genannten Faktoren jedoch als demokratiefördernde Argumente gelten lassen w i l l , würde dies bedeuten, daß sich jene politische K u l t u r , die zum Gedeihen eines formaldemokratischen Systems i m von Kelsen beschriebenen Sinne führt, erst auf der Basis einer Gesellschaft i n adäquater Weise entfalten kann, die jene gesellschaftlichen Verhältnisse garantiert, wie sie die soziale Demokratie geschaffen hat, und die damit zugleich eine Absicherung gegenüber einer Anfälligkeit der Bürger für autoritäre Lösungen gewährleistet. I n beiderlei Richtungen verlaufen allerdings auch negative, destabilisierende Effekte; und so haben w i r uns drittens mit den für die Aufrechterhaltung und den Ausbau der sozialen Demokratie gefährlichen Wirkungen der formalen Demokratie zu befassen; durch die Mechanismen demokratischer Auseinandersetzung können tendenziell Ziele der sozialen Demokratie gefährdet werden. So führt beispielsweise der Parteienwettbewerb dazu, ineffiziente Allokationen von öffentlichen Gütern und staatlichen Zahlungen hervorzurufen und damit nicht nur Gerechtigkeitsaspekte zu verletzen, sondern auch mögliche Wohlstandsniveaus zu verfehlen 4 6 : Regierungen neigen dazu, vorrangig jene Probleme finanziell zu dotieren, die allgemeine Aufmerksamkeit erregen, ohne daß es die „objektiv" dringendsten sein müssen; Parteien tendieren dazu, miteinander für ihre jeweilig relevante Klientel reziproke Geschäfte abzuschließen und so weiter. Ähnliche Mechanismen — die prioritäre Verarbeitung jener Problembereiche, bei denen die schwerwiegendsten Gefährdungen durch das Artikulations- und Verweigerungspotential der Betroffenen 44 Vgl. Lipset, Soziologie der Demokratie; Bernhard Berelson / Paul Lazars feld / William McPhee, Voting, Chicago 1954; u. etliche andere Theoretiker. 45 Vgl. zu diesen Fragen die Ergebnisse der umfassenden u n d methodisch sehr sorgfältig angelegten Studie von Barnes u n d Kaase, Political A c t i o n (Anm. 41). 46 Dabei können unterschiedliche Ebenen der Ineffizienz unterschieden werden; erstens eine ineffiziente A l l o k a t i o n der gesellschaftlichen Güter zwischen öffentlichem u n d privatem Bereich, zweitens eine ineffiziente A l l o k a t i o n der Ressourcen innerhalb des öffentlichen Sektors, drittens eine unzureichende P r o d u k t i v i t ä t öffentlicher Instanzen. Vgl. dazu auch Dieter Bös, Effizienz des öffentlichen Sektors aus volkswirtschaftlicher Sicht, in: Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik (1978), S. 287 bis 314.
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abzusehen sind, haben zur — mittlerweile über ideologische Grenzen hinweg akzeptierten — These von der Disparität der Lebensbereiche geführt; besonders Claus Offe hat diese Thesen stärker i n die Diskussion gebracht. Seines Erachtens w i r d das traditionelle Klassenschema zunehmend überlagert von einem „horizontalen" Schema der Ungleichheit; das pluralistische Sytem von organisierten Interessen „sperrt alle Bedürfnisartikulationen aus dem politischen Willensbildungsprozeß aus, die allgemein und nicht an Statusgruppen gebunden sind; die konfliktunfähig, weil ohne funktionelle Bedeutung für den Verwertungsprozeß von Kapital und Arbeitskraft sind; und die als utopische die Systemgrenzen transzendieren" 47 . Auch die zeitliche Fehlallokation der Güter w i r d schließlich i m Zusammenhang mit der strukturell erzwungenen, nur in bestimmten Fällen suspendierbaren stimmenmaximierenden Attitüde der Parteien oft genannt; die Orientierung an Wahlperioden w i r d in jenen Situationen, i n denen die Berücksichtigung langfristiger Erfordernisse zu kurzfristig negativen Reaktionen führen würde, vorrangig. Christian Leipert weist i n einer kritischen Analyse alternativer Wege der künftigen Wirtschaftspolitik auf dieses Dilemma hin: „Der Versuch, bei der Ausgestaltung der konkreten Politik die Langfristziele in einem nicht nur kosmetischen Sinne zu berücksichtigen, könnte in einem ersten Schritt negative Auswirkungen auf die i m öffentlichen Bewußtsein vorrangigen Kurzfristziele haben. Die Furcht vor einer Verschlechterung der Wiederwahlchancen ist es schließlich, die zur vorrangigen Orientierung an den kurzfristigen Stabilitäts(i. w. S.)-zielen führt." Angewendet auf die wirtschaftspolitischen (und natürlich in weiterer Folge sozialen) Folgen kommt Leipert zu dem Schluß: „Zugespitzt könnte das Verhalten mancher Politiker so charakterisiert werden, daß sie bei immer längerem Anhalten der Beschäftigungskrise zur Anwendung immer problematischerer Mittel greifen, nur deshalb, weil sie mit positiven Beschäftigungswirkungen verknüpft sind." Als Beispiel für derart problematische Maßnahmen nennt er schließlich die Billigung von Waffenexportgeschäften, die Nutzung der Atomenergie und Voten für eine Lockerung der Umweltschutzgesetze 48 . Diese Zweifel an einer „Gefälligkeitsdemokratie" — ineffiziente Allokation, Disparitäten, zeitliche Fehlbewertungen — deuten den durch Wettbewerbsmechanismen der Politik begrenzten Handlungsspielraum an, der mit den Gerechtigkeits- und Wohlstandsintentionen 47 Claus Offe, Politische Herrschaft u n d Klassenstruktur. Zur Analyse spätkapitalistischer Gesellschaftssysteme, in: Gisela Kress / Dieter Senghaas (Hrsg.), Politikwissenschaft. Eine Einführung i n ihre Probleme, F r a n k f u r t a. M. 1972, S. 135 - 164, hier S. 148; vgl. auch ders., Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, F r a n k f u r t a. M. 1972. 48 Christian Leipert, A l t e r n a t i v e Wege künftiger Wirtschaftspolitik, in: Technologie und Politik, Band 12, Reinbek b. H. 1978, S. 16 - 55.
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e i n e r sozialen D e m o k r a t i e —
unter
U m s t ä n d e n sogar m i t
formalen
Gerechtigkeitspostulaten — i n K o n f l i k t k o m m t . D i e vierte j e n e r schlichten K a t e g o r i e n e n t h ä l t die derzeit p o l i t i s c h a k t u e l l s t e n A r g u m e n t a t i o n e n ; sie bezieht sich auf j e n e E n t w i c k l u n g e n der sozialen D e m o k r a t i e , die e i n f o r m a l d e m o k r a t i s c h e s S y s t e m destabil i s i e r e n b z w . gefährden. Z u d e n t r a d i t i o n e l l e n F r a g e n dieses Bereichs, h i n t e r d e n e n sich oft die F u r c h t v o r e i n e r K o n v e r s i o n der Daseinsvorsorge i n H e r r s c h a f t s m i t t e l v e r b i r g t 4 9 u n d die h i e r n i c h t w e i t e r v e r f o l g t w e r d e n k ö n n e n , z ä h l e n e t w a die E x p a n s i o n der b ü r o k r a t i s c h e n A p p a r a t e , die i n i h r e r V e r e i n i g u n g v o n I n f o r m a t i o n , Sachverstand u n d R a t i o n a l i t ä t l e g i s l a t i v e I n s t a n z e n b e i der F o r m u l i e r u n g p o l i t i s c h e r S t r a t e g i e n u n d Z i e l e abzulösen d r o h e n 5 0 , u n d die technokratische V o r h e r r s c h a f t , die manche A n a l y t i k e r z u Thesen v o n der A b l ö s u n g der D e m o k r a t i e d u r c h die bloße „ V e r w a l t u n g " v o n „Sachen" g e d r ä n g t h a t 5 1 . L i b e r a l e Thesen 49 Vgl. z. B. Ernst Forsthoff , Verfassungsprobleme des Sozialstaates, in: ders. (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit. Aufsätze u n d Essays, Darmstadt 1968, S. 145 - 164. 50 Wenn von Bürokratie die Rede ist, pflegt man sich auf Max Webers Arbeiten zu beziehen, insbesondere natürlich auf sein Werk: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. rev. Aufl., Tübingen 1976. Er hat den Prozeß einer zunehmenden Bürokratisierung i m Zuge der Entfaltung des industriellen Systems beschrieben u n d davon ein ambivalentes B i l d gezeichnet: Nicht n u r die Möglichkeit zu einer geschichtlich beispiellosen k o l l e k t i v e n Lebensbewältigung des Menschen werde eröffnet, sondern auch die zur dauerhaften Unterdrückung seiner Selbstbestimmung. Vgl. Wolfgang Schluchter , Aspekte bürokratischer Herrschaft. Studien zur Interpretation der fortschreitenden Industriegesellschaft, München 1972; vgl. auch Wolfgang Schluchter , Rationalismus der Weltbeherrschung. Studien zu M a x Weber, F r a n k f u r t a. M. 1980; u n d Wolf gang Mommsen, M a x Weber. Gesellschaft, P o l i t i k u n d Geschichte, F r a n k f u r t a. M. 1974. Jene Vision eines unentrinnbaren „Gehäuses der Hörigkeit", die Weber gezeichnet hat, hat auch viele seiner Nachfahren sehr beeindruckt. I m übrigen vgl. ähnliche Beobachtungen etwa bei Norbert Elias , Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische u n d psychogenetische Untersuchungen. Erster u n d zweiter Band. 6. Aufl., F r a n k f u r t a. M. 1978. 51 Die Technokratiediskussion drehte sich weitgehend u m die Frage, ob es zu einer Reduzierung der P o l i t i k auf Sachentscheidungen komme, ob also damit n u r noch die A u s w a h l der kompetentesten Fachleute zum Problem werde; Demokratie würde damit grundsätzlich sinnlos u n d ineffizient. Eine spezifische Ausprägung, die i n höherem Maße auch aktuelle Relevanz besitzt, stellt die Planungskontroverse dar, die ihre Blütezeit auch i n den späten 60er u n d frühen 70er Jahren hatte: Wie soll demokratische K o n trolle funktionieren, w e n n die Probleme selbst für Fachleute nahezu u n durchschaubar sind? W i r d Demokratie nicht obsolet, w e n n langfristige Festlegungen getroffen werden? Vgl. z. B. i n diesen Zusammenhängen etwa Jürgen Habermas m i t seiner so häufig zitierten Dreiheit v o n dezisionistischem, technokratischem u n d pragmatischem Modell der wissenschaftlichen Politikberatung: Jürgen Habermas, Verwissenschaftlichte P o l i t i k u n d öffentliche Meinung, i n : ders., Technik u n d Wissenschaft als »Ideologie4. 5. Aufl., Frankfurt a. M. 1971, S. 120- 145. Vgl. zur Thematik auch beispielsweise
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beziehen ihre politische Schlagkraft vielfach aus der Behauptung, daß staatliche Eingriffe mit notwendiger Dynamik zu einer durchgeplanten Wirtschaft führen, damit aber auch die politische Freiheit beseitigt w e r d e (Friedrich
von
Hayek,
Ludwig
von
Mises) 52;
schon Kelsen
ist
diesen Argumentationen in seiner Arbeit über „Demokratie und Sozialismus" entgegengetreten; weder die individuellen Freiheiten noch das Klima der Toleranz müssen durch staatliche Intervention in Mitleidenschaft gezogen werden 5 3 . Zunehmend w i r d aber auch darauf hingewiesen, daß i m Zuge der Entfaltung der sozialen Demokratie einerseits Verhaltensweisen gefördert werden, die dem formaldemokratischen Ideal nicht genügen — die bloß materielle Legitimierung des Systems führe zu einer politischen Lethargie, zu einer mit den Vorstellungen einer aufgeklärten Partizipation der Staatsbürger unvereinbaren diffusen Massenloyalität; andererseits verleite die soziale Demokratie zu einer „Revolution der Erwartungen", einer Überdehnung sozialstaatlicher und demokratischer Ansprüche, deren Konsequenz nur Frustrationen, Polarisierungen, ja die Ablehnung des demokratischen Systems sein könne. Bezüglich der Apathieerscheinungen hat beispielsweise Ernst Fraenkel 1964 von einem „Strukturfehler der Demokratie" gesprochen und davor gewarnt, „die Gefahren zu übersehen (...), die aus einer Erschlaffung des am konkreten sozialen Erlebnis ausgerichteten politischen Bewußtseins und aus einer Erlahmung des auf die konkrete Gestaltung sozialer Aufgaben hinzielenden politischen Willens erwachsen können". Es sei nicht ein überentwickelter Pluralismus, der durch seine Auflösungserscheinungen die Demokratie gefährdet: „Ich sehe den bedenklichsten Strukturfehler unserer Demokratie in der Lethargie und Apathie, die sich in zunehmendem Maße innerhalb der Gruppen und Parteien geltend macht. W i r leben i n einem Karpfenteich, dessen Hechte sich zum Vegetarismus bekennen." Wenn bei parlamentarischen Diskussionen nur „mit Platzpatronen" geschossen werde, Karl Mannheim, Freiheit u n d geplante Demokratie, K ö l n / Opladen 1970; Hans Peter Widmaier, Sozialpolitik i m Wohlfahrtsstaat, Reinbek b. H. 1976; Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel, Wirtschaftlicher und sozialer Wandel i n der Bundesrepublik Deutschland. Gutachten der K o m mission, Göttingen 1977, S. 28 ff.; Helmut Schelsky, Die Soziologen u n d das Recht. Abhandlungen und Vorträge zur Soziologie von Recht, I n s t i t u t i o n u n d Planung, Opladen 1980 u. v. a. 52 V g l .Ludwig von Mises, Liberalismus, Jena 1927; ders., Liberalismus (II) Wirtschaftlicher Liberalismus, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften. Band 6, Stuttgart / Tübingen / Göttingen 1959, S. 596 ff.; Friedrich A. von Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, München 1976 (Originalausgabe: The Road to Serfdom, 1944). Als modernes Gegenstück dazu vgl. Milton Friedman, Kapitalismus und Freiheit, München 1976 (Originalausgabe: Capitalism and Freedom, 1962). 58 Hans Kelsen, Demokratie und Sozialismus, W i e n 1967, S. 176 ff., 184 ff.
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wenn sie nur eine „Spiegelfechterei" darstellen, würden die Wahlen Routineabstimmungen und degeneriere die Demokratie zu einer Fassade. Charakteristischerweise folgt in diesem Zusammenhang ein Hinweis auf die österreichische Proporzregierung dieser Zeit 5 4 . Bezüglich der angedeuteten „Anspruchsinflation" stehe der Staat, so meint eine Gruppe von Theoretikern, angesichts seiner begrenzten Eingriffsmöglichkeiten, ja sogar einer abnehmenden Steuerungsfähigkeit, und angesichts der Finanzierungsgrenzen unter einer Erwartungs-Überlastung; die durch die Erweiterung der sozialen Demokratie ausgelösten partiell autonomen Prozesse der Erwartungsbildung eilen dem Staats- und Wirtschaftspotential davon; da aber diese Erwartungen mit der Legitimierung des Systems eng verknüpft sind, können Defizite resultieren, die demokratische Strukturen gefährden. Derartigen Konzeptionen, die beispielsweise mit der Unregierbarkeitsdiskussion v e r k n ü p f t sind u n d v o n Wilhelm
Hennis vorgetragen werden, k a n n
eine i m wesentlichen durchaus adäquate Darstellung der Systemprobleme — wie K r i t i k e r aus anderen ideologischen Lagern zugestehen — attribuiert werden, wenn auch die therapeutischen Vorschläge nicht immer von jedermann geteilt werden müssen 55 . Diesen dynamisierten Erwartungen, so w i r d von anderer Seite ergänzt, könne der Staat um so weniger nachkommen, als die soziale Demokratie zur Restriktion der innovativen und expansiven Kräfte des marktwirtschaftlichen Systems — über eine lähmende Steuer-, Verteilungs- und Subventionspolitik, einen überdimensionierten Staatsanteil und eine ineffiziente Mittelverwendung — beitrage 5 6 ; aus 54 Ernst Fraenkel , Strukturdefekte der Demokratie u n d deren Ü b e r w i n dung, in: Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht 14 (1964), S. 106 ff., wiederabgedruckt in: Ulrich Matz (Hrsg.), Grundprobleme der Demokratie, Darmstadt 1973, S. 368-396, hier S. 391 bzw. 393. Neuere Untersuchungen legen i n diesem Zusammenhang ein besonderes Augenmerk auf das Verhalten Jugendlicher gegenüber dem politischen System, bei denen ein stark entwickeltes „Desinteresse an der P o l i t i k " konstatiert w i r d . Die genannten Erhebungen der Konrad-Adenauer-Stiftung (Anm. 38) etwa haben ergeben, daß für 80 Prozent der Jugendlichen zu gelten scheine, „daß hier eher eine Generation junger »Bourgeois 4 denn ,Citoyen', aktiver Staatsbürger, heranwächst. Die große Mehrheit privatisiert aus Uberzeugung, nicht aus Frustration. Sie legt Wert auf ihre Freiheit u n d konzentriert sich auf ihre i n d i v i duellen Interessen. Hierfür scheint die P o l i t i k als ein funktionierendes Dienstleistungssystem verstanden und hoch geschätzt zu werden". Diese Einstellung werde verständlich, w e n n man sich den persönlichen Erfahrungshorizont der befragten Jugendlichen — eine „weitgehend heile W o h l standswelt" — vor Augen führe. 55 Vgl. etwa Wilhelm Hennis u. a. (Hrsg.), Regierbarkeit. Studien zu ihrer Problematisierung. Band 1, Stuttgart 1977; vgl. die i n diesem Zusammenhang auch interessante Analyse von Claus Offe, ,Unregierbarkeit'. Zur Renaissance konservativer Krisentheorien, in: Jürgen Habermas (Hrsg.), Stichworte zur »Geistigen Situation der Zeit'. Band 1, Frankfurt a. M. 1979, S. 294 bis 318.
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der r e s u l t i e r e n d e n S t a g n a t i o n erwachsen V e r t e i l u n g s k ä m p f e , die z u r R a d i k a l i s i e r u n g u n d G e f ä h r d u n g des d e m o k r a t i s c h e n Systems f ü h r e n können57. A b e r gerade der Versuch, solche K o n s e q u e n z e n zu v e r m e i d e n , k a n n „ v o n d e r a n d e r e n Seite h e r " die D e m o k r a t i e g e f ä h r d e n ; die v e r s t ä r k t e n A n s t r e n g u n g e n s t a a t l i c h e r Instanzen, die A u f r e c h t e r h a l t u n g des Wachstumspfades z u g e w ä h r l e i s t e n , m a g sie veranlassen, zu p r o b l e m a tischen u n d u n d e m o k r a t i s c h e n M i t t e l n — m a n d e n k e an d e n „ A t o m s t a a t " 5 8 — zu greifen. W e n n aber der Mechanismus der sozialen D e m o k r a t i e , die a l l z u hochgeschraubte E r w a r t u n g e n e r f ü l l e n w i l l , l e t z t l i c h sogar eine ökologisch das Ü b e r l e b e n der M e n s c h h e i t g e f ä h r d e n d e S i t u a t i o n schaffe, so ist es — w i e e i n k o n s e q u e n t e r N o r m a t i v i s t a b l e i t e t — notwendig, die f o r m a l e D e m o k r a t i e a u f z u h e b e n — i n e i n e m w e l t w e i t e n a u t o r i t ä r e n V e r t e i l u n g s s t a a t , der a l l e i n f ü r e i n z u r E r h a l t u n g der B i o s p h ä r e n o t w e n d i g e s N u l l w a c h s t u m sorgen k a n n 5 9 . Diese K o n s e quenz t r e i b t die U n t e r h ö h l u n g der F o r m a l d e m o k r a t i e d u r c h die soziale 56 Vgl. dazu beispielsweise Wolfram Engels, Die organisierte Verschwendung, in: Die Zeit 13.3.1981; oder den Sammelband v o n Hubertus Zuber (Hrsg.), Schlankheitskur für den Staat, Stuttgart 1979. Da es sich u m ein politisch brisantes Thema handelt, muß m a n sich meist durch einen Wust v o n Schlagworten oder festgefügten marktwirtschaftlichen Vorurteilen w ü h len, u m zu den manchmal bedenkenswerten Analysen vorzustoßen. Recht pauschale Argumentationen finden sich etwa bei Gustav Schmölders i n dem genannten Band, der m i t apokalyptischem Unterton die Frage stellt, ob nicht bereits „die Gefahr einer Außerkraftsetzung oder tödlichen Schwächung der freiheitlichen unternehmerischen Wirtschaftsordnung" (S. 289) drohe. 57 Die drohenden Verteilungskämpfe werden allerdings i n einer Zeit, i n der man sich auf ein längerfristig relativ stagnierendes Wirtschaftssystem (mit jedenfalls deutlich geringeren Wachstumsraten) einzustellen beginnt, auch unabhängig von den übrigen Bestandteilen der ansonsten liberal-konservativ angelegten Theorien aktuell. 58 Damit sei n u r beispielhaft auf Robert Jungks Buch verwiesen, i n dem er die Meinung v e r t r i t t , daß eine breitangelegte Produktion von Energie auf der Basis von K e r n k r a f t w e r k e n aus Sicherheitsgründen zu einem dichten Uberwachungsnetz führen müsse, das m i t demokratischen Freiheiten unvereinbar sei. Vgl. Robert Jungk, Der Atomstaat. V o m Fortschritt i n die U n menschlichkeit, München 1977. 59 Harich setzt bei einigen jener Strukturschwächen demokratischer Systeme an, die w i r schon konstatiert haben: „ I m Rahmen des pluralistischen Systems", so meint er, „bleibt den Parteien nichts anderes übrig, als von einer freien, geheimen W a h l zur nächsten den kurzsichtigsten Sonderinteressen hinterherzurennen, die es gar nicht zulassen, daß die politische Macht sich effektiv m i t Weitblick u n d K o n t i n u i t ä t auf die globalen Zukunftsprobleme der Menschheit konzentriert" (S. 206). Seine Konsequenz ist die Forderung nach einem w e l t w e i t e n autoritären Verteilungsstaat — eine theoretische Perspektive, die nicht n u r allen Möglichkeiten der Realisierung, sondern offenbar — am Beispiel der Länder des „realen Sozialismus" — auch allen Erfahrungen m i t der Realität widerspricht. Vgl. Wolfgang Harich, Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf u n d der ,Club of Rome', Reinbek b. H. 1975.
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auf die Spitze: „ M i t Pluralismus", so bekennt Wolf gang Harich ganz offen, „mit dem Ruf nach Freiheit und dergleichen habe ich offensichtlich nichts i m Sinn; ganz im Gegenteil" 6 0 . V. Demokratietheoretische Perspektiven im Kontext ökonomischer und sozialer Veränderungen Diese höchst kursorischen Erörterungen fördern schon mancherlei Widersprüchlichkeiten zutage und lenken die Aufmerksamkeit auf manche Ambivalenz der Konsequenzen sozialen Wandels bezüglich der Strukturen der Realität und des Bewußtseins 61 . Eine zentrale Frage dieser Problemstellung, also des Verhältnisses von formaler und sozialer Demokratie, muß wohl die Analyse der Vermutung sein, daß es sich bei den westlichen Staaten um „Schönwetterdemokratien" handle, deren politische Stabilität von ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit abhänge. Gerade wenn es um Fragen einer „wehrhaften Demokratie" geht, war Kelsen selbst eher pessimistisch: Wenn der Wille zur Aufrechterhaltung der Demokratie schwinde, sei sie nicht mehr zu retten 6 2 . Gerade aktuelle Ereignisse des letzten Jahrzehnts können dieses theoretische Problem durchaus auch zur bangen Sorge werden lassen; ein Indiz dafür ist unter anderem die wiedererwachte Beschäftigung mit krisentheoretischen Schlußfolgerungen aus den angedeuteten Problemen, egal ob es sich um die Finanzierungsprobleme sozialer Demokratien, die kulturellen Destabilisierungsprozesse des Sozialstaates oder um Unregierbarkeitstheoreme handelt. Einige dieser aktuellen Diskussionen sollen nur kurz angedeutet werden. Die Finanzkrisentheorien — die sich auf Rudolf Goldscheid und Joseph A. Schumpeter zurückverfolgen lassen, deren präzisere Fassung James O'Connor geliefert hat und über die im deutschen S p r a c h r a u m v o n Grauhan
u n d Hickel
sowie v o n Winfried
Vogt
ge-
schrieben wurde — gehen i m wesentlichen von zwei Widersprüchen aus: a) Die finanzielle Abschöpfung des Steuerstaates von einem privat60
Ders., ebd., S. 172. So scheinen beispielsweise zunächst die Behauptungen widersprüchlich zu sein, daß ein wohlfahrtsstaatlich abgesicherter u n d ausreichender Lebensstandard einerseits eine partizipatorische Haltung fördern, andererseits aus dieser Sachlage aber eine eher apathische Konsumentenhaltung resultieren soll; einerseits trägt die sozialpolitische Obsorge zur Zufriedenheit m i t dem demokratischen System bei, andererseits löst sie über unbefriedigte, w e i l übersteigerte Erwartungen Frustrationen aus. Manche dieser Ungereimtheiten lassen sich allerdings m i t Sicherheit durch eine genauere Analyse der zeitlichen Verläufe, der Rahmenbedingungen, der untersuchten Bevölkerungsgruppen usw. bereinigen; andere aber verbleiben vermutlich w o h l i n der angesprochenen Ambivalenz. 62 Kelsen, Demokratie u n d Sozialismus, S. 68. 61
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wirtschaftlich betriebenen Produktionssystem bleibe hinter dem Finanzbedarf, der mit einem strukturell zwingenden Zuwachs der Staatsausgaben verbunden sei, zurück, b) Die reduzierten Eingriffsmöglichkeiten staatlicher Instanzen — angesichts der Aufrechterhaltung eines privatwirtschaftlichen Systems — bleiben hinter den strukturell zwingend anwachsenden Eingriffsnotwendigkeiten zurück 63 . Die aufgrund dieser Defizite sich anhäufenden Probleme bedrohen die Funktionsfähigkeit des politökonomischen Systems; die wachsende Krisentendenz aber gefährdet auch den demokratischen Rahmen der Gesellschaft. Noch deutlicher ist die Tendenz zur Einbeziehung kultureller Elemente in die zeitdiagnostische Krisenanalyse — nicht im Sinne kulturpessimistischer „tiefer Einsichten", sondern in ihrer Relevanz als legitimatorische und motivationale Basis gesellschaftlichen Handelns — bei anderen Theoretikern. Bei Claus Offe beispielsweise stehen im Verhältnis zum ökonomischen System Steuerungsleistung und fiskalische Abschöpfung, i m Verhältnis zum normativen System sozialstaatliche Leistungen und Massenloyalität i m Widerspruch; die mindestens notwendigen Interventionen führen zur Unterminierung der kulturellen Funktionsvoraussetzungen staatlicher Steuerungskapazität. Jürgen Habermas verweist auf den nicht substituierbaren Verschleiß an Traditionen, durch den bestandswichtige Teile der Motivationsstruktur irreparabel vernichtet werden. Und diese Überlegungen liegen schon dicht bei Daniel Beils Behauptung, daß Krisenphänomene der modernen Industriegesellschaften auf einer zunehmenden Divergenz zwischen dem politisch-ökonomischen Sektor und dem kulturellen System der Gesellschaft beruhen; Lewis Mumford hebt gleichermaßen die Bedeutung der K u l t u r als Ansatzpunkt der Erklärung von Krisenerscheinungen hervor. Diese wenigen Hinweise machen bereits deutlich, daß pessimistische Deutungen der Entwicklung sozialer Demokratien hinsichtlich ihrer längerfristigen Entfaltung und Stabilisierung in den letzten Jahren neue Akzentsetzungen erhalten und einen gewissen „Wechsel ihres gesellschaftlichen Standorts" (Offe) vollzogen haben 64 . 63 Vgl. Rudolf Hickel (Hrsg.), Rudolf Goldscheid, Joseph Schumpeter. Die Finanzkrise des Steuerstaates. Beiträge zur politischen Ökonomie der Staatsfinanzen, Frankfurt a. M. 1976; James O'Connor, Die Finanzkrise des Staates, Frankfurt a. M. 1974 (Originalausgabe: The Fiscal Crisis of the State, 1973); Rolf Richard Grauhan / Rudolf Hickel, Krise des Steuerstaates? Zu einigen staatlichen Funktions- u n d Finanzierungsproblemen i n der BRD, in: Heinz M a r k m a n n / Diethart B. Simmert (Hrsg.), Krise der Wirtschaftspolitik, K ö l n 1978, S. 167 ff.; Winfried Vogt, Z u r langfristigen ökonomischen Entwicklung eines kapitalistischen Systems, in: Leviathan 1 (1973), S. 161 - 188. 64 Vgl. Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates (Anm. 47); ders., ,Krisen des Krisenmanagements': Elemente einer politischen Krisentheorie, in: M a r t i n Jänicke (Hrsg.), Herrschaft und Krise. Beiträge zur politikwissenschaftlichen Krisenforschung, Opladen 1973, S. 197 ff.; Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme i m Spätkapitalismus, Frankfurt a. M. 1973;
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I m ü b r i g e n lassen sich d a b e i beachtliche K o n v e r g e n z e n feststellen, so daß auch e i n Claus Offe schreiben k a n n : „ W ä h r e n d T e i l e der v o n i h r e n theoretischen G e w i ß h e i t e n i m Stich gelassenen L i n k e n die E n t zugserscheinungen des ,neuen I r r a t i o n a l i s m u s ' a u f w e i s e n , scheinen diej e n i g e n theoretisch u n d p o l i t i s c h P u n k t e z u s a m m e l n , die politische M o d e r n i s i e r u n g i n R i c h t u n g auf soziale D e m o k r a t i e schon i m m e r als W e g i n die K r i s e e r k a n n t h a t t e n 6 5 . " Gerade die m i t dieser Ä u ß e r u n g anged e u t e t e n S e l b s t z w e i f e l an der w e s t l i c h - d e m o k r a t i s c h e n K u l t u r b e d ü r f t e n h i n s i c h t l i c h i h r e r V e r w u r z e l u n g i n der sozialen D e m o k r a t i e n ä h e r e r U n t e r s u c h u n g ; s o w o h l e i n n e u e r I r r a t i o n a l i s m u s ist z u beobachten, der sich z u m T e i l i n der h a ß e r f ü l l t e n V e r w e i g e r u n g gegenüber d e n d e m o k r a t i s c h e n S t r u k t u r e n äußert, i n der b e w u ß t e n Z e r s t ö r u n g d e m o k r a tischer S p i e l r e g e l n , aber auch i m p r i v a t i s t i s c h e n R ü c k z u g auf das i n d i v i d u e l l e A l t e n t e i l ; als auch r a t i o n a l - k u l t u r r e l a t i v i s t i s c h e D e u t u n g e n , die leicht z u r p o l i t i s c h e n I n d i f f e r e n z gegenüber b e l i e b i g e n p o l i t i s c h e n S t r u k t u r e n u n d z u r v e r s t ä n d n i s v o l l e n A k z e p t i e r u n g a u t o r i t ä r e r Staat e n u n d V e r h a l t e n s w e i s e n g e r a t e n — anstelle d e r V e r t e i d i g u n g j e n e r h u m a n e n W e r t e , die sich i n der w e s t l i c h - d e m o k r a t i s c h e n T r a d i t i o n h e r a u s g e b i l d e t h a b e n u n d z u d e n e n E l e m e n t e d e r sozialen u n d f o r malen Demokratie gehören66. ders., Was heißt heute Krise? Legitimationsprobleme i m Spätkapitalismus, in: Z u r Rekonstruktion des Historischen Materialismus, F r a n k f u r t a. M. 1976, S. 304 ff.; Daniel Bell, Die Z u k u n f t der westlichen Welt. K u l t u r u n d Technologie i m Widerstreit, F r a n k f u r t a. M. 1979 (Originalausgabe: The Cultural Contradictions of Capitalism, 1976); Lewis Mumford, Mythos der Maschine. K u l t u r , Technik u n d Macht, F r a n k f u r t a. M. 1977 (Originalausgabe: The M y t h of the Machine). 65 Offe, Unregierbarkeit, S. 295. Während theoretische Argumente — verbunden auch m i t der entsprechenden praktischen Uberzeugung — dafür, daß eine Krise vor der T ü r stünde, am Ende der 60er Jahre eher auf der Seite der „ L i n k e n " zu finden waren, ihre Gegner aber absolut keine Gründe ausfindig zu machen vermochten, w a r u m die „Wachstumsgesellschaft" nicht allen einen kontinuierlich steigenden Wohlstand bescheren sollte, sind es heute eher Konservative (in einem weiten Sinne), die der Überzeugung Ausdruck verleihen, daß es auf diese Weise nicht lange weitergehen könne, während die Linken, an ihren Uberzeugungen zweifelnd, nach neuen Orientierungen Ausschau halten. 66 Z u diesen neuen Irrationalitäten zählt Richard Löwenthal beispielsweise die Begeisterung für die chinesische „ K u l t u r r e v o l u t i o n " (die m i t t l e r w e i l e allerdings auch von der Realität überrollt wurde) oder die W i r k u n g e n der neuen „islamischen Welle" i m Vorderen Orient u n d i n Nordafrika. Vgl. Richard Löwenthal, Gesellschaftswandel u n d Kulturkrise. Zukunftsprobleme der westlichen Demokratien, F r a n k f u r t a. M. 1979. Tragische Experimente allerdings stünden i n hinreichender Zahl zur Verfügung, die uns i n Erinnerung rufen könnten, welches diese demokratischen Errungenschaften der westlichen Zivilisation sind; Löwenthal denkt dabei „an die i m Laufe der Jahrhunderte erweiterten Vorstellungen davon, was unveräußerliche Menschenrechte sind u n d was die Menschenwürde ausmacht; an die auf der Grundlage des westlichen Glaubens an die menschliche Vernunft möglich gewordene einzigartige Entfaltung der Wissenschaft; an die erstaunliche Zurückdrängung von Sterblichkeit, K r a n k h e i t und Not nicht n u r für die
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Allerdings hat gerade dieses System bislang bereits beachtliche Beweise seiner Anpassungsfähigkeit geliefert, die die Hoffnung stützen, daß sich die Demokratie auch weiterhin als kreativer Faktor einer „gesellschaftlichen Transformation" erweisen könnte und nicht aufgrund spektakulärer Lernerfolge die Lernfähigkeit verliert 6 7 . Gerade das demokratisch-marktwirtschaftliche System, so w i r d vielfach hervorgehoben, hat beispielsweise die Krise der 20er und 30er Jahre mit einer tiefgreifenden Veränderung vom liberalen zum organisierten Kapitalismus beantwortet, was „eine gestalterische Antwort des politischen Subsystems auf die ökonomische Systemkrise" 68 darstellte. Systemstabilisierende Umstrukturierungen des Kollektivbewußtseins können freilich gleichermaßen festgestellt werden; in einer gewollt funktionalistischen Deutung läßt sich auch die gegenwärtige antiindustrialistische Strömung derartigen Systemnotwendigkeiten einordnen. Denn was tut einem Wirtschaftssystem not, das sich durch Einkommenssteigerung, Wachstum und Industrialisierung legitimiert, aber nunmehr — aus einer Reihe von Gründen — an die Grenzen seiner Entfaltung, in krisenhafte Turbulenzen seiner Errungenschaften gerät? Soll es politisch-wirtschaftlich stabil bleiben, muß das Wachstumsdenken rasch abgebaut, müssen Erwartungen zurückgeschraubt, Bescheidenheit und Einfachheit gepredigt, muß den erwartbaren Kosten der Umweltsanierung vorgearbeitet werden — mit einem Wort, es müßte die ökologische Bewegung erfunden werden, wenn es sie nicht ohnehin gäbe. Damit soll freilich nicht die reine Instrumentalisierung jener Strömungen i m Sinne der Systemstabilität unterstellt werden. Derartige Bewegungen werden auch von autonomen Kräften getragen, entfalten schließlich auch eine ideologische Dynamik, die auf das System zurückwirkt, die es nicht nur als gegebenes stabilisiert, sondern auch verändert. Gerade demokratische Mechanismen tragen zur Berücksichtigung ihrer Anliegen — verbal zunächst, aber dadurch auch faktisch — bei. Der offizielle Trend geht heute noch in eine andere Richtung; die Rede ist — mit politischer Akzentsetzung — eher von der Demontage der sozialen Demokratie 6 9 , obwohl ein Nachhol- oder Aufstockungsbedarf an öffentlichen Gütern 7 0 in Bereichen konstatiert wird, in denen privilegierte Minderheit, sondern für die gewaltige Mehrheit der Völker westlicher Zivilisation — eine früher unvorstellbare Erleichterung der condition humaine dank der Entwicklung v o n Wissenschaft, Leistungswillen sowie Technik und Organisation der Produktion". (S. 17 f.) 87 Ders., ebd., S. 16. 68 Ders., ebd., S. 64. 69 Engels, Die organisierte Verschwendung. 70 Bernhard Gahlen, Neue Wohlfahrtsmaßstäbe, Hemmnisse für eine höhere Investitionsquote und Reform der marktwirtschaftlichen Ordnung,
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gesundheits- und wohlfahrtsgefährdende Schwellenwerte ten oder neue Bedürfnisse nunmehr manifestiert werden.
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Es liegt auf der Hand, daß auch i m Zuge der Befriedigung dieser Bedürfnisse bzw. der Regulierung der entstehenden Unzulänglichkeiten die Schwächen der formaldemokratischen Mechanismen zu jenen Problemen führen, wie sie bei der Erörterung der Interdependenzen von politischer Demokratie und Sozialstaat erwähnt wurden. Als Beispiel sei nur die administrative Reaktion auf die Umweltproblematik angeführt. Martin Jänicke verweist etwa auf die Tatsache, „daß der Staat im entwickelten Industriekapitalismus (...) gerade i m Zeichen sinkender Wachstumsraten dazu tendiert, die Intervention i n sozialproblematische Wachstumssektoren zu tabuisieren und stattdessen das zusätzliche Wachstum von Sozial- bzw. Entsorgungsindustrien zu begünstigen". Die strukturelle Analogie der Lösungen privater und öffentlicher Problemlösungs-Technokratien führe zu Problemdefinitionen, die die Komplexität von Problemen ignorieren (Folge der Spezialisierung); die Ursachen von Problemen vernachlässigen (Symptombehandlung); die einmaligen (,außeralltäglichen') billigen Maßnahmen zugunsten kostenträchtiger Maßnahmen außer acht lassen (Ökonomisierung); die strukturpolitisch vorsorgende Komponente zugunsten nachträglicher Maßnahmen ausblenden 71 . Alle diese Thesen müßten angesichts der neuen Konturen der Welt, in der w i r leben, in die Diskussion der Interdependenzen von politischer Demokratie und Sozialstaat, i n die Kontroverse um Komplementaritäts- oder Substitutionsverhältnis von formaler und sozialer Demokratie eingebracht werden. Hans Kelsen hat seine theoretische Analyse der Demokratie zu Lasten einer strengen Systematik mit viel praktischem Verständnis für prozedurale und institutionelle Notwendigkeiten angereichert; Max Adler und seine Nachfahren, denen dieses praktische Verständnis oft von vorgeprägten Erwartungen verstellt blieb, können für die niemals zu suspendierende Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft stehen. Diskussionen der politischen Theorie müssen darüber hinaus als die relevanten Phänomene von heute auch die Bedrohungen des Friedens und der natürlichen Grundlagen durch die Industriegesellschaft einbeziehen. „Diese Herausforderungen", so meint Peter Graf Kielmansegg 12, „sind das eigentliche Thema des nächsten Jahrzehnts, oder genauer: die in: Manfred K r ü p e r (Hrsg.), Investitionskontrolle gegen die Konzerne? Reinbek b. H. 1974, S. 45 - 67. 71 Martin Jänicke, Zur Theorie des Staatsversagens, in: Grottian, Folgen reduzierten Wachstums für Politikfelder, S. 132 - 145, hier S. 142. 72 Kielmansegg, Nachdenken über Demokratie, S. 10.
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Fähigkeit des freiheitlichen Verfassungsstaates, auf seine Weise auf sie zu antworten, ist es." Und er fährt fort: „Jetzt steht die Bewährung der Institutionen (unserer formalen und sozialen Demokratie) unter dem Druck säkularer Krisen zur Debatte. Die Demokratiediskussion tut gut daran, diesen Wechsel der Agenda ernst zu nehmen."
DER STAATSBEGRIFF KELSENS UND L U H M A N N S THEORIE SOZIALER SYSTEME* Von Leo Reisinger, Wien / München I. Zum Kelsenschen Staatsbegriff Kaum eine andere Staatstheorie baut so wie die Kelsens auf explizit gemachten epistemologischen und wissenschaftstheoretischen Prämissen auf. Aus dem fundamentalen Gegensatz zwischen Sein und Sollen 1 , zu deren Begründung Kelsen letztlich an die Evidenz appelliert, leitet er die Unterscheidung von Naturgesetz und Norm 2 , bzw. von Naturgesetz und Rechtsgesetz3 ab. Diese Unterscheidung hat aber den Gegensatz von Kausalität („Wenn A, ist B") und Zurechnung („Wenn A, soll Β sein"), sowie von kausalen und normativen Gesellschaftswissenschaften zur Konsequenz 4 — eine für Kelsens Staatsbegriff äußerst bedeutsame Unterscheidung. Kelsens Auseinandersetzung mit dem soziologischen Staatsbegriff 5 erklärt sich weitgehend aus diesen Prämissen. Er beginnt mit der geläufigen Gegenüberstellung des Staates als sozialer Realität und des Staates als Normensystem. Ausgehend von den psychischen Wechselwirkungen zwischen Einzelmenschen zeigt er die Schwierigkeiten auf, die sich für das Postulat jener spezifischen Verbindung ergeben, die aus einer Vielfalt von Menschen eine Gesellschaft macht. Aber auch bei * Ich danke Prof. DDr. Ota Weinberger für zahlreiche wertvolle Hinweise zu dieser Problematik. 1 Vgl. ζ. B. Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre. Unveränderter Neudruck der zweiten u m eine Vorrede vermehrten Auflage (1923), Aalen 1960, S. 7; ders., Reine Rechtslehre, 2. A u f l . 1960, W i e n 1967, S. 5. 2 Kelsen, Hauptprobleme, S. 13 f. 3 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 84. 4 Ders., ebd., S. 79 ff., S. 88 ff. Kelsens Unterscheidung v o n Kausalität u n d Zurechnung ist sicherlich für die normativen Wissenschaften v o n grundlegender Bedeutung. Es erhebt sich jedoch die Frage, i n w i e w e i t diese Gegenüberstellung m i t jener des i n d i k a t i v e n und des normativen Bedingungssatzes richtig verbunden w i r d . Insbesondere dürfte der indikative Bedingungssatz keine adäquate Erfassung der Kausalrelation darstellen. 5 Vgl. insbesondere Hans Kelsen, Der soziologische u n d der juristische Staatsbegriff. Kritische Untersuchung des Verhältnisses v o n Staat u n d Recht. Neudruck der 2. A u f l . v o n 1928, Aalen 1962; ders., Hauptprobleme, V o r rede zur zweiten Aufl., S. V ff.; ders., Allgemeine Staatslehre, Nachdruck der Auflage von 1925, Bad Homburg v. d. H., Berlin, Zürich 1966, S. 3 - 26. 31*
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der A k z e p t i e r u n g dieses Postulats w ü r d e eine V i e l z a h l sozialer E i n h e i t e n w i e F a m i l i e , N a t i o n , A r b e i t e r k l a s s e oder Religionsgemeinschaft entstehen. U m v o n diesen die soziale E i n h e i t des Staates u n t e r s c h e i d e n zu k ö n n e n , m ü ß t e e i n außersoziologischer oder außerpsychologischer B e g r i f f des Staates vorausgesetzt w e r d e n 6 . K e l s e n f ü h r t seine A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t d e m soziologischen S t a a t s b e g r i f f also i m w e s e n t l i c h e n m i t z w e i A r g u m e n t e n : Erstens s t e l l t er die E n t s t e h u n g sozialer „ G e b i l d e " aus psychischen V e r b i n d u n g e n i n Frage. Das z w e i t e — f ü r die h i e r interessierende P r o b l e m s t e l l u n g e n t scheidende — A r g u m e n t b e t r i f f t j e n e außerpsychischen M e r k m a l e , die z u r K o n s t i t u i e r u n g eines soziologischen Staatsbegriffs h e r a n z u z i e h e n sind, da psychische M e r k m a l e versagen. „Sieht man näher zu, wie die Soziologie die sozialen „Gebilde" i m allgemeinen und den Staat i m besonderen charakterisiert, zeigt sich deutlich, i n welcher Richtung das Wesen jener spezifischen Einheit zu suchen ist, die der Staat darstellt. Es ist schon auffallend genug, w e n n i n einer den Charakter des Empirisch-psychologischen beanspruchenden rein kausal-orientierten, naturwissenschaftlichen Untersuchung den sozialen Gebilden, insonderheit dem Staate i m Verhältnis zu den von i h m zusammengefaßten Individuen eine prinzipielle Uberordnung zuerkannt w i r d . I n allen soziologischen Darstellungen w i r d der Staat als eine Synthese von Elementen charakterisiert, die diesen gegenüber ein „Höheres" repräsentiert. Dabei ist es offenkundig, daß dieses „Höher"sein des Staates, diese seine Überordnung über die individuellen Elemente, die er zu einer Synthese zusammenfaßt, nicht einen bloß logischen Charakter hat, sondern irgendeinen anderen Wert oder Mehrwert des Staates ausdrücken soll. Solche Niveaudifferenzen können für eine wahrhaft kausal erklärende, rein psychologische Betrachtung nicht gegeben sein. Denn es handelt sich dabei offenbar u m eine Wertung, die m i t der prinzipiell wertfreien Kausalerkenntnis unvereinbar ist. I n der Höherstellung des Staates k o m m t nichts anderes zum Ausdruck als die Vorstellung, daß der Staat ein Wert und zwar ein objektiver, v o m Betrachter als gültig vorausgesetzter Wert sei. I n die Welt des Sollens, des Wertes oder objektiven Zweckes, i n die Welt der Normen f ü h r t jener Sprung aus dem Psychologischen, jene μετάβασις ε'ις αλλο γένος die für alle Soziologie als typisch erkannt wurde. Die Einheit des Staates entpuppt sich als die Einheit eines Wertsystems, als die Einheit einer gültigen Ordnung i m Sinne einer N o r m oder eines Normenkomplexes 7 ." Diese A r g u m e n t a t i o n ist u. a. i n z w e i f a c h e r Weise
bemerkenswert:
— D i e B e t o n u n g des w e r t f r e i e n , k a u s a l - o r i e n t i e r t e n , n a t u r w i s s e n schaftlichen C h a r a k t e r s d e r Seinswissenschaften. Dieses P o s t u l a t f ü h r t n o t w e n d i g e r w e i s e zu W i d e r s p r ü c h e n b e i d e r A n a l y s e v o n Soziologien, die sich e i n e r doch i r g e n d w i e w e r t h a f t e n , „ v e r s t e h e n d e n " M e t h o d e bedienen. F o l g e r i c h t i g o r t e t K e l s e n auch „ n o r m a t i v e T e n d e n z e n der Soziologie" (Spencer, D u r k h e i m , J e r u s a l e m , T o e n 6 7
Kelsen, Staatsbegriff, S. 7 f., S. 33, 35. Ders,, ebd., S. 44.
Der Staatsbegriff Kelsens und Luhmanns Theorie sozialer Systeme nies, Spann) 8 , die er jedoch aus seinem P r o b l e m v e r s t ä n d n i s
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heraus
als unzulässig k r i t i s i e r t . — D e r M a n g e l an D i f f e r e n z i e r u n g des Sollens, der W e r t e , des o b j e k t i v e n Zweckes u n d der N o r m e n . Z w a r ist es r i c h t i g , daß die K o m m u n i k a t i o n ü b e r diese B e d e u t u n g s i n h a l t e i n p r ä s k r i p t i v e n Sprachen e r f o l g t 9 , dennoch erscheint eine b e g r i f f l i c h e U n t e r s c h e i d u n g w ü n schenswert. Was i m speziellen die K a t e g o r i e der Z w e c k e b e t r i f f t , h a t K e l s e n selbst die teleologische B e t r a c h t u n g s w e i s e an a n d e r e r Stelle der D e n k f o r m der K a u s a l i t ä t z u g e o r d n e t 1 0 . Gegenüber d e m v o n i h m k r i t i s i e r t e n soziologischen S t a a t s b e g r i f f b e t o n t K e l s e n d e n j u r i s t i s c h e n B e g r i f f des Staates, n ä m l i c h d e n Staat als N o r m e n s y s t e m . „ I n d e m der Staat als eine normative Ordnung, d . h . als ein System v o n Normen begriffen w i r d , die sprachlich i n Sollsätzen, logisch i n hypothetischen Urteilen ausgedrückt werden, i n denen die Bedingung m i t der Folge durch das „Soll" verknüpft w i r d (wenn A , soll B), ist er prinzipiell i n dieselbe Sphäre gerückt, i n der das Recht begriffen w i r d . Damit ist der Staat i n demselben Sinne wie das Recht als ein ,Wert' der »Wirklichkeit 4 , als ein »Sollen4 dem ,Sein' entgegengesetzt 11 ." Und: „Sobald der Staat als Ordnungseinheit, als N o r m erkannt ist, liegt keine Möglichkeit mehr vor, i h n als »Verband' dem Recht als N o r m entgegenzusetzen. Staat u n d Recht fallen beide unter die gleiche Kategorie der normativen Ordnung. U n d wenn man — gleichfalls i n Ubereinstimmung m i t der herrschenden Auffassung — das Wesen der Rechtsnorm i n i h r e m Zwangscharakter sieht, dann sind Recht und Staat gleicherweise Zwangsordnungen i m Sinne eines Systems zwangsanordnender Normen. U n d damit wäre eigentlich schon der Nachweis der Identität von Staat u n d Recht erbracht 1 2 ." D a m i t k o m m t K e l s e n zu seiner b e r ü h m t e n These v o n d e r I d e n t i t ä t v o n Staat u n d Recht. E r v e r s u c h t d e n B e w e i s dieser These nach d e m Schema ((A - > B) ^ (B - > A)) (A B) zu f ü h r e n , i n d e m er zuerst „ d e n Staat als V o r a u s s e t z u n g des Rechts", anschließend „das Recht als V o r a u s s e t z u n g des Staates" b e g r e i f t 1 3 . Z u dieser B e w e i s f ü h r u n g ist a n z u m e r k e n , daß — auch w e n n m a n geneigt 8
Ders., ebd., S. 46 - 66. Ch. Weinberger / O. Weinberger, Logik, Semantik, Hermeneutik, M ü n chen 1979, S. 96 ff. 10 Kelsen, Hauptprobleme, S. 63. Die Auffassung Kelsens, daß Zwecke i m speziellen und die teleologische Betrachtungsweise i m allgemeinen dem Bereich der Kausalität zuzuordnen sind, k a n n nicht ohne kritische Einwände akzeptiert werden. Zwecke sind Willenselemente, sie müssen durch p r a k tische Sätze ausgedrückt werden. Insbesondere hat die Auffassung Kelsens auch ungünstige Folgen für die juristische Methodologie, da der teleologische H i n t e r g r u n d des Rechts an vielen Stellen v o n wesentlicher Bedeutung ist. 11 Kelsen, Staatsbegriff, S. 75. 12 Ders., ebd., S. 87. 9
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wäre, die Ausführungen Kelsens zur jeweiligen „Voraussetzung" i m Sinne einer Implikation zu deuten — damit lediglich die Äquivalenz (das Zusammenbestehen zweier Sachverhalte), nicht aber die Identität nachgewiesen wäre. Ausgehend von dieser Identitätsthese lehnt Kelsen folgerichtig auch die „Zwei-Seiten-Theorie" ab, nach der eine soziale (reale) und eine juristische (ideale) „Seite" des Staates zu unterscheiden sind 1 4 . Eine wissenschaftstheoretische Begründung seiner Identitätsthese findet Kelsen letztlich i n der Kant-Interpretation Cohens. „Nunmehr ergab sich m i r als bewußte Konsequenz der erkenntnistheoretischen Grundeinstellung Cohens, derzufolge die Erkenntnisrichtung den Erkenntnisgegenstand bestimmt, der Erkenntnisgegenstand aus einem U r sprung logisch erzeugt w i r d , daß der Staat, sofern er Gegenstand juristischer Erkenntnis ist, n u r Recht sein kann, w e i l juristisch erkennen oder rechtlich begreifen nichts anderes bedeutet, als etwas als Recht begreifen . . . Erst von der erkenntnistheoretischen Position aus, die zur Einsicht i n die Einheit von Staat u n d Recht führt, gelangt man auch zu der vollständigen Überwindung der sogenannten Zwei-Seiten-Theorie, derzufolge der Staat eine naturhafte, i n der kausalbestimmten Welt des Seins existente soziale Realität, andererseits aber ein Rechtswesen, eine juristische Person, somit Gegenstand zweier methodologisch v ö l l i g disparater Betrachtungsweisen, einer kausalwissenschaftlichen Soziallehre und einer normativen Rechtslehre, sei 15 ."
Auch diese Äußerungen zeigen, wie stark der Staatsbegriff Kelsens von erkenntnistheoretischen Prämissen geprägt ist. Kelsens Theorie von der Identität von Staat und Recht entspricht einer rein normativistischen Betrachtung. Wenn man nur über Normen sprechen w i l l , dann t r i t t entweder der Begriff des Staates überhaupt nicht auf, oder er muß mit dem Subjekt der Rechtsnormen bzw. dem System der Rechtsnormen identifiziert werden. Das Problem, den Staat als soziale Realität zu charakterisieren, ist damit jedoch noch nicht gelöst. II. Die Auflösung des Staatsbegriffs in Luhmanns Theorie sozialer Systeme Wissenschaftsgeschichtlich läßt sich die Entstehung des systemtheoretischen Ansatzes durch die Zersplitterung der Einzeldisziplinen i m 20. Jahrhundert und die Notwendigkeit einer transdisziplinären Betrachtungsweise erklären. Wenn man von der Entwicklung der Algebra 13 Ders., ebd., S. 114-204. Vgl. auch Kelsen, Hauptprobleme, S. 405 f.; ders., Staatslehre, S. 16 f.; ders., Reine Rechtslehre, S. 289 - 320. 14 Kelsen, Staatsbegriff, S. 105 f. 15 Kelsen, Hauptprobleme, Vorrede zur zweiten Aufl., S. X V I I una X I X .
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im 19. Jahrhundert (Abel, Galois) absieht, können drei Quellen des systemtheoretischen Ansatzes unterschieden werden 1 6 : — der französische Strukturalismus; — die strukturell-funktionale Theorie der Soziologie; — die Kybernetik. Von diesen drei Quellen ausgehend haben seit ca. 1960 von Bertalanffy, Mesarovic u. a. die Allgemeine Systemtheorie aufzubauen versucht, die den Anspruch erhebt, sich für die adäquate Analyse von Systemen aus beliebigen Gegenstandsbereichen zu eignen. Dieser A n spruch ist bisher allerdings nur zu geringen Teilen eingelöst worden 1 7 . Diese Heterogenität der Quellen mag einer der Gründe dafür sein, daß bisher eine auch nur in Ansätzen abgeschlossene systemwissenschaftliche Theorie fehlt. I m folgenden soll daher nur auf den systemtheoretischen Ansatz i n der Soziologie, speziell in der Luhmannschen Ausprägung, näher eingegangen werden. Luhmanns Theorie sozialer Systeme baut auf der strukturell-funktionalen Theorie der Soziologie, insbesondere jener Talcott Parsons 18 auf. I m Mittelpunkt seiner Untersuchungen steht der Begriff des sozialen Systems, das über den Handlungsbegriff erklärt wird. „Unter sozialem System soll hier ein Sinnzusammenhang von sozialen Handlungen verstanden werden, die aufeinander verweisen und sich von einer Umwelt nicht dazugehörigen Handlungen abgrenzen lassen 19 ." Die strukturell-funktionale Theorie der Soziologie ordnet — daher ihr Name — den Strukturbegriff dem Funktionsbegriff vor. Sie nimmt (soziale) Systeme mit bestimmten Strukturen (Beziehungen zwischen den Systemelementen) als gegeben an und fragt nach den funktionalen Leistungen, die erbracht werden müssen, damit die Systeme und ihre Strukturen erhalten bleiben. Damit w i r d der Funktionsbegriff meist als interne Leistung, vornehmlich auf die Beiträge der Subsysteme eingeschränkt. Luhmann kritisiert diesen Ansatz mit dem Argument, daß damit die Möglichkeit, Strukturen schlechthin zu problematisieren, nicht gegeben sei 20 . Eine solche Möglichkeit ergibt sich erst, wenn man das Verhältnis umkehrt, also den Funktionsbegriff dem Strukturbegriff 1β Vgl. Näheres bei L. Reisinger, Überlegungen zu einer Systemtheorie des Rechts, in: A r c h i v u m I u r i d i c u m Cracoviense 8 (1975), S. 99 - 117. 17 Vgl. L. Czayka, Systemwissenschaft, Pullach bei München 1974, S. 91 ff. 18 T. Parsons, The Structure of Social Action, 1937; ders., Towards a General Theory of Action, 1951; ders., The Social System, 1951; ders., Essays i n Sociological Theory, 1954. 19 N. Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, i n Luhmann, Soziologische A u f k l ä r u n g Band. 1, 4. Aufl., Opladen 1974, S. 115. 20 Ders., ebd., S. 114.
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vorordnet. Damit postuliert Luhmann eine funktional-strukturelle Theorie, welche an die Stelle der strukturell-funktionalen Theorie der Soziologie bzw. der strukturellen Theorie des französischen Strukturalismus treten soll. Anstelle der traditionellen Bestimmung einer Funktion als zweckdienlicher Leistung setzt Luhmann den Begriff der funktionalen Äquivalenz. Dieser Begriff bietet seiner Meinung nach die Möglichkeit der Ablösung des Funktionalismus von der kausalwissenschaftlichen Methode. „Die F u n k t i o n ist keine zu bewirkende W i r k u n g , sondern ein regulatives Sinnschema, das einen Vergleichsbereich äquivalenter Leistungen organisiert. Sie bezeichnet einen speziellen Standpunkt, v o n dem aus verschiedene Möglichkeiten i n einen einheitlichen Aspekt gefaßt werden können. I n diesem B l i c k w i n k e l erscheinen die einzelnen Leistungen dann als gleichwertig, gegeneinander austauschbar, fungibel, während sie als konkrete Vorgänge unvergleichbar verschieden sind. Eine F u n k t i o n ist m i t h i n — ganz i m Sinne der Definition Kants — »die Einheit der Handlung* verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen« 2 1 ."
Damit w i r d die Funktion nicht zu einer Sonderart der Kausalbeziehung, sondern die Kausalbeziehung ist ein Anwendungsfall funktionaler Ordnung. Die funktionalistische Methode soll gerade die Feststellung begründen, daß etwas sein oder auch nicht sein kann, daß etwas ersetzbar ist. Der Funktionsbegriff in diesem Sinn dient also als regulatives Prinzip für die Feststellung von Äquivalenzen i m Rahmen funktionaler Variablen, der kausalwissenschaftliche Funktionalismus w i r d durch einen Äquivalenzfunktionalismus ersetzt. Eine funktional-strukturelle Theorie sozialer Systeme i m Sinne Luhmanns weist insbesondere zwei Merkmale auf, die sie in ihrem Ansatz von herkömmlichen Rechts- und Staatstheorien — auch der Theorie Kelsens — unterscheidet. Sie ist zum einen System/UmweltTheorie 22 . Ihr Blick ist nicht auf das Innenleben des Systems beschränkt, wie die Rechtstheorie traditionell nur Systeme von Rechtsnormen untersucht. Sie bezieht die Umwelt, soweit sie für die Stabilisierung des Systems relevant ist, in ihre Betrachtung ein. Zum anderen steht i m Mittelpunkt ihres Interesses der Begriff der Systemstabilisierung durch Strukturbildung. Diese w i r d nach Luhmann durch die Generalisierung von Verhaltenserwartungen erreicht. Luhmann unterscheidet drei Dimensionen der Generalisierung von Verhaltenserwartungen 23 : 21
Luhmann, F u n k t i o n u n d Kausalität, in: Luhmann, Soziologische A u f klärung, S. 14. 22 Luhmann, Funktionale Methode und Systemtheorie, in: Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 39.
Der Staatsbegriff Kelsens und Luhmanns Theorie sozialer Systeme
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— zeitlich als Sicherung gegenüber einzelnen Abweichungen und Enttäuschungen; — sachlich als Sicherung gegenüber Zusammenhanglosigkeit und Widersprüchen; — sozial als Sicherung gegen Dissens. I n der Zeitdimension lassen sich Verhaltenserwartungen dadurch generalisieren, daß ihnen der Sinn eines normativen Anspruchs verliehen wird. Wird einer Verhaltenserwartung Normqualität beigelegt, so hat das im Grund den Sinn, die Erwartung (auch kontrafaktisch) enttäuschungsfest zu stabilisieren. Außerdem müssen die Verhaltenserwartungen zu sachlich konsistenten, d. h. i m Nacheinander wechselnden Situationen praktisch durchführbaren Rollen zusammengefügt werden. Und schließlich müssen die Verhaltenserwartungen in gewissem Umfang institutionalisiert werden, also, wenn auch mit Hilfe indirekter Motivationen, konsensfähig sein. Den Grundbestand der in allen drei Dimensionen kongruent generalisierten Verhaltenserwartungen nennt Luhmann das in einem System geltende Recht 24 . Dessen Funktion geht dahin, vorhandene Verhaltenserwartungen zu bestätigen, zu stützen und dadurch dem System eine gewisse Struktur und Stabilität zu verleihen. Vergleicht man die Kelsensche Staatstheorie mit dem systemtheoretischen Ansatz Luhmanns, so läßt sich als wichtigste Gemeinsamkeit eigentlich nur die Ablehnung des traditionellen Staatsbegriffs anführen. Als weitere Gemeinsamkeit die Betonung des strukturellen Aspekts anzuführen, ist bereits fragwürdig, da Luhmann den Strukturbegriff durch den Äquivalenzfunktionalismus zu überwinden versucht. Kelsens Denken ist weitgehend durch die Ausbildung kontradiktorischer Gegensätze charakterisiert: Sein und Sollen, Naturgesetz und Norm (Rechtsgesetz), Kausalität und Zurechnung, kausale und normative Wissenschaften bilden typische Denkschemata Kelsens. Diese Gegensätze versucht der funktional-strukturelle Ansatz Luhmanns zu überwinden. Der umfassende Begriff der Funktion, wie ihn Luhmann verwendet, insbesondere als funktionale Äquivalenz, bringt die Denkkategorie des Möglichen in die Diskussion ein und betrachtet damit das Tatsächliche nur als speziellen Fall des Möglichen. Mit Hilfe seiner Unterscheidung der drei Dimensionen der Generalisierung von Verhaltenserwartungen strebt Luhmann eine Reduktion des Sollens auf Verhaltenscharakteristiken an. Zwar unterscheidet auch Kelsen ver23
Luhmann, F u n k t i o n und Folgen formaler Organisation, 3. Aufl., B e r l i n 1976, S. 56 ff., S. 61 ff.; ders., Funktionale Methode und Systemtheorie, S. 42. 24 Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, S. 122.
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schiedene Sollenstypen (Gebot, Verbot, Erlaubnis, Ermächtigung und Derogation), dennoch steht dahinter die Annahme einer homogenen Kategorie des Sollens. Luhmanns Begriffe des Äquivalenzfunktionalismus und der Generalisierung von Verhaltenserwartungen haben letztlich das Ziel, den Gegensatz von Sein und Sollen, von kausaler und normativer Wissenschaft zu entschärfen und in gewisser Weise auch aufzuheben. Eine strukturell-funktionale oder funktional-strukturelle Theorie sozialer Systeme kennt den Staatsbegriff gewöhnlich nicht. Dies zeigt sich schon in der Theorie Parsons. Seine Trennung des „kulturellen Systems" als System der Werte und (sozialen) Normen vom „sozialen System" als System der sozialen Beziehungen in der Gesellschaft, ihren Teilsystemen, in formalen Organisationen und i n sozialen Gruppen führt dazu, daß nur bestimmte Komponenten beider Systeme und Beziehungen zwischen ihnen jenen Begriff abdecken, der traditionell als „Staat" bezeichnet wird. Ähnliches gilt für Luhmann. Er diskutiert i m einzelnen lediglich spezielle Subsysteme des sozialen Systems, wie das politische System oder das Rechtssystem. Durch diese völlige Ausklammerung des Staatsbegriffs ist auch die K r i t i k Kelsens am soziologischen Staatsbegriff, daß nämlich die spezielle soziale Einheit des Staates einen außersoziologischen Staatsbegriff voraussetze, auf Denker wie Parsons oder Luhmann nicht anwendbar. Zwar w i r d von diesen die Sinnhaftigkeit als K r i t e r i u m der Abgrenzung sozialer Systeme nicht geleugnet, sondern sogar betont, ein homogener Begriff des Sollens, der auch einen derartigen Sinnzusammenhang umfaßt, jedoch i n Frage gestellt. Schließlich werden soziale Subsysteme i m Rahmen einer funktionalstrukturellen Theorie, dem Primat der Funktion folgend, letztlich nach funktionalen Kriterien abgegrenzt. Dies impliziert aber die Betonung des Charakters der Offenheit der betrachteten Systeme, funktionalstrukturelle Theorien sind stets System/Umwelt-Theorien. Demgegenüber betrachtet Kelsen das Recht — und seiner Identitätsthese folgend damit auch den Staat — als geschlossenes System. Beziehungen zu anderen gesellschaftlichen Subsystemen interessieren i m Rahmen der Kelsenschen Staatstheorie nicht.
VOM WERT UND UNWERT DER DEMOKRATIE Von limar Tammelo, Salzburg Die Überlegungen, die ich hier anstelle, finden ihren Ansatz in Hans Kelsens Abhandlung Vom Wesen und Wert der Demokratie 1. Seine in dieser Arbeit geäußerten Gedanken verdienen auch heute Beachtung und regen zu einer Stellungnahme an. I m folgenden gehe ich von Kelsens Demokratieverständnis und seiner Bewertung der Demokratie aus, ich befasse m i d i also mit seinen Gedanken über das Wesen und den Wert der Demokratie. Die Entwicklung unserer K u l t u r in den mehr als fünfzig Jahren, die seit der Veröffentlichung der Abhandlung Kelsens verstrichen sind, hat das Demokratieverständnis sowie die Bewertung der Demokratie in den herkömmlichen Auffassungen sehr i n Zweifel gezogen. Als Kelsen seine Arbeit Vom Wesen und Wert der Demokratie schrieb, waren das Atomzeitalter und die zweite industrielle Revolution noch nicht angebrochen. Heute kennen w i r bereits deren Folgen und haben allen Grund zur Besorgnis. Meines Wissens hat sich Kelsen bis an sein Lebensende grundsätzlich zur Demokratie bekannt; er ist ihr ein, wenn auch kritischer Freund geblieben. Wenn w i r uns trotz allem zur Demokratie bekennen wollen, müssen w i r unser Augenmerk nicht nur auf den positiven Wert, sondern auch besonders auf den negativen Wert, also den „Unwert" der Demokratie richten. Was Perikles lobend und Piaton tadelnd über die Demokratie gesagt haben, und nach ihnen eine Reihe bedeutender Befürworter und K r i tiker der Demokratie, gilt teilweise auch heute — aber eben nur teilweise. Als Kronzeugen einander entgegengesetzter Überzeugungen mögen sie die gegenwärtigen Denker noch inspirieren, die allerdings zu bedenken haben, daß die Ansichten ihrer Vorläufer nur für deren jeweilige Verhältnisse Geltungsanspruch besitzen. Die universale Geltung der Aussagen politischer Denker der Vergangenheit ist heute ernstlich in Frage gestellt. Dieses In-Frage-Stellen der Demokratie müssen die heutigen politischen Philosophen auf einer grundsätzlichen Ebene wagen, ohne Rücksicht darauf, ob dies den Verdacht einer gefährlichen Gedankenspielerei erweckt. 1 H. Kelsen, V o m Wesen u n d Wert der Demokratie, 2. A u f l . 1929 (im folgenden abgekürzt als „ V W W D " ) .
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Betrachtet man alle jene Staaten, die sich als Demokratie bezeichnen, dann hätte diese Regierungsform die Welt erobert. Es gibt ja gegenwärtig kaum einen Staat, dessen politische Ordnung von seinen Politikern nicht als „Demokratie" etikettiert würde. So werden die wenigen noch bestehenden Monarchien Demokratien genannt. Die der kommunistischen Ideologie verpflichteten Staaten werden von ihren Anhängern lautstark als Demokratien bezeichnet — so etwa die Sowjetunion, die Volksrepublik China und die Deutsche Demokratische Republik. Die Grundverschiedenheit, die zwischen den tragenden politischen Ideen und der politischen Praxis aller heute als Demokratie ausgegebenen politischen Ordnungen besteht, ist so weitgehend, daß das sich durch den allgemeinen Gebrauch des Wortes „Demokratie" konstituierende Bedeutungsfeld Widersprüchliches in sich aufnimmt. So kann dem logischen Grundsatz „Ex falso quodlibet " folgend alles Beliebige aus diesem „Unbegriff" gefolgert werden — er umfaßt alles politisch Erdenkliche und w i r d dadurch sinnleer. Kein Wunder, daß Mussolini sein faschistisches Staatswesen als „autoritäre Demokratie" bezeichnen und Goebbels sein nationalsozialistisches Staatswesen als „die edelste Form der Demokratie" rühmen konnte! I n dieser Situation w i r d die Frage brennend: Was ist eigentlich Demokratie? Das gegenwärtige politische Denken kann kaum einen engen Demokratiebegriff verwenden — sonst bliebe i n der heutigen politischen Realität für die Verwendung des Wortes „Demokratie" nicht viel übrig. Der politische Diskurs bedarf eines möglichst weiten, wenngleich vertretbaren Demokratiebegriffes, der die Vielgestaltigkeit der bestehenden politischen Ordnungen, für die der Anspruch erhoben wird, Demokratien zu sein, gerecht zu werden vermag. Solch einen Begriff umreißt unter anderem Demokratie als jene politische Ordnung, in der „die gewöhnlichen Bürger einen relativ hohen Grad der Kontrolle über ihre Führer ausüben" 2 . Diese breit angelegte Begriffsbestimmung läßt die Komponenten „relativ" und „Ausübung der Kontrolle" offen. Versuche, diese zu präzisieren, müssen zu Einschränkungen führen, die auf einen allzu engen Demokratiebegriff hinauslaufen könnten. Kelsens Versuch, das „Wesen" der Demokratie zu erfassen, zeigt, daß er mit der Demokratie „eine Staats- oder Gesellschaftsform" meint, bei der „die soziale Ordnung durch die ihr Unterworfenen erzeugt wird: durch das Volk". Sonach bedeutet die Demokratie „Identität von Führer und Geführten, von Subjekt und Objekt der Herrschaft, bedeutet Herrschaft des Volkes über das V o l k " 3 . In demselben Sinne, aber 2 5
R. A . Dahl, A Preface to Democratic Theory, 7. Abdruck 1963, S. 3. V W WD, S. 14.
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geraffter, sagt Kelsen in einem späteren Werk, daß „die Beteiligung der Normunterworfenen an der Gesetzgebung, das ist der Erzeugung genereller Rechtsnormen" das wesentliche Merkmal der demokratischen Staatsform ausmacht 4 . Was nach seiner Meinung noch zum Wesen der Demokratie gehört, ist seinen folgenden Ausführungen zu entnehmen: Für die Demokratie ist charakteristisch, „daß eine breite Schichte der Normunterworfenen, daß die größtmögliche Zahl von Gemeinschaftsmitgliedern an dem Prozesse der Willensbildung teilnimmt". Diese Behauptung schränkt Kelsen ein, indem er sagt, daß dies nur „an einem bestimmten Stadium dieses Prozesses, das man im allgemeinen als Gesetzgebung bezeichnet", geschieht „und auch dies nur bei der Kreation des Gesetzgebungsorgans" 5 . Als Staatsregierungsform stellt Kelsen die Demokratie der Autokratie gegenüber. Einige Äußerungen Kelsens erwecken den Anschein, daß es sich hier um eine Dichotomie handelt, z. B. wenn er von der „entscheidenden Alternative: Demokratie oder Autokratie" spricht 6 . Jedoch ist klar, daß er „Demokratie" und „Autokratie" nicht als komplementäre Klassenbegriffe versteht, sondern als Typenbegriffe, denen sich die tatsächlichen Staatsformen begrifflich mehr oder weniger annähern 7 . Fraglich ist Kelsens Auffassung, daß Demokratie und Autokratie „Realtypen" sind 8 . Meines Erachtens sind beide eher als Idealtypen zu betrachten. Allerdings sind „Mischformen" der Staatsordnungen möglich und auch wirklich. Kelsen scheint es zu vermeiden, sich der weitverbreiteten Meinung anzuschließen, wonach es ein Wesensmerkmal der Demokratie ist, eine Regierungsform für das Volk zu sein. Diese Behutsamkeit ist geboten, da die Autokratie, die ja ausgesprochen als eine Herrschaft eines oder weniger über das Volk zu begreifen ist, durchaus i m Dienste des Volkes sein kann und es auch, wie im aufgeklärten Absolutismus, gewesen ist. Zur Frage steht, welche Regierungsform für das Volk die geeignete ist. Diese Frage kann aber nicht eindeutig für allezeit und überall beantwortet werden, weil ihre Beantwortung von den jeweiligen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen abhängt. Das skizzierte Demokratieverständnis Kelsens bildet eine geeignete Grundlage für die Befassung mit dem Problem des Wertes bzw. des Unwertes der Demokratie. I n diesem Verständnis kommt ein weiterer Demokratiebegriff zum Vorschein, der auch heute für die Erfassung des Phänomens „Demokratie" und für dessen Beurteilung verwertbar ist. 4 5 6 7 s
H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. A u f l . 1960, S. 143. V W W D , S. 79 - 80. V W W D , S. 51, siehe auch: Reine Rechtslehre, S. 143. V W W D , S. 52. V W W D , S. 64.
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Das Entscheidende in Kelsens Demokratiebegriff ist eine weitestgehende Beteiligung der Normunterworfenen an der Ausübung der Herrschaft, besonders an der Kreation von generellen Rechtsnormen. Diese Beteiligung trat geschichtlich in verschiedenen Formen auf und hat in der heutigen Zeit weitere Gestalten angenommen. Es ist zu untersuchen, was diese verschiedenen Formen i n sich bergen und was das in ihnen sich Bergende für unsere soziale und politische Wirklichkeit bedeutet. Kelsen betont, daß „Demokratie nur eine Form, eine Methode ist, die soziale Ordnung zu erzeugen" 9 — sie ist also kein Selbstwert, sondern ein instrumentaler Wert: Sie hat Wert, insoweit sie sich als Mittel eignet, gewisse soziale oder politische Wertzustände zu erreichen. Die wichtigsten davon sind Freiheit, Gerechtigkeit, Gemeinwohl und sozialer Frieden. Seit jeher finden w i r die Auffassung, daß die Demokratie auf Erzielung der Freiheit gerichtet ist. Kelsen spricht von der „Qual der Heteronomie" 1 0 , gegen welche Qual man in der Demokratie eine Abhilfe gesucht hat. Er weist auch darauf hin, daß es darauf ankommt, eine Synthese der Freiheits- und Gleichheitsforderungen zu finden, denn „wenn w i r in Wirklichkeit gleich bleiben wollen", müssen „ w i r . . . uns beherrschen lassen" 11 . Bei der Gleichheitsforderung handelt es sich um ein wichtiges K r i t e r i u m der Gerechtigkeit; also soll die Freiheit in einer Weise angestrebt werden, daß dabei die Gerechtigkeit möglichst gewahrt wird. Die in Frage stehende Synthese ist schwer herbeizuführen. Um Gleichheit zu erzielen, muß man die Freiheitsbestrebungen i m Zügel halten. Wo das Gleichheitspostulat übermäßig betont wird, bestehen politische Verhältnisse, die wohl oft als „Demokratie" etikettiert werden, die aber tatsächlich auf eine Autokratie hinauslaufen. Eine angemessene Synthese der Freiheits- und Gleichheitsforderungen verlangt eine teilweise Aufopferung sowohl der Freiheit als auch der Gleichheit. Daher versucht man durch demokratische Prozesse ständig Kompromisse zu erreichen — Kompromisse, die die Einschränkung von Freiheit und Gleichheit als tragbar erscheinen lassen 12 . Vom Gesichtspunkt des Gemeinwohls aus können aber solche Kompromisse schlimmer sein als das Nicht-Zustandekommen der erstrebten Synthese. Angeblich dient ein Kompromiß zwischen Freiheits- und Gleichheitsforderungen in der Demokratie dem sozialen Frieden. Aber der durch diesen Kompromiß erreichte Frieden kann einen Herd der Unzufriedenheit schaffen, der schließlich unheilvolle Konflikte entfacht. 9
V W W D , S. 99. 10 V W W D , S. 3. π V W W D , S. 4. 12
Vgl. V W W D , 22, 57 - 58.
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Die Freiheit, die i m Wege der Demokratie erstrebt wird, erweist sich vielfach als illusorisch. Dies wurde schon von Rousseau erkannt: er bemerkt, daß „es eine Demokratie im eigentlichen Sinne des Wortes noch gar nicht gegeben habe und auch nicht geben könne, da es gegen die natürliche Ordnung verstoße, daß die größere Zahl regiere und die kleinere Zahl regiert werde" 1 3 . Dieser Apostel der Demokratie sagte auch treffend, daß das englische Volk sich außerordentlich täusche, wenn es „wähne frei zu sein", denn frei sei es nur „während der Wahlen der Parlamentsmitglieder"; „nach Schluß derselben lebt es in Knechtschaft" 14 . Die Demokratie kann nirgends, nicht einmal in Kleinstaaten, auf das Majoritätsprinzip verzichten. Die Majorität hat sich aber als durchaus fähig und eifrig erwiesen, nicht nur die Minorität zu unterdrücken, sondern sie sogar zu quälen. Sie hat es unter anderem zuwege gebracht, einen autoritären Herrscher einzusetzen und die Demokratie so zu vereiteln oder sogar zugrunde zu richten. So ist die Demokratie ohne Anlehnung an fundamentale Menschenrechte und Freiheiten und ohne Unterstützung der Rechtsstaatsidee ein Unding. Die Aufrechterhaltung einer sinnvollen Demokratie durch demokratische Mittel hat sich unter gewissen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen nicht immer als möglich erwiesen. Die erforderlichen „meta-demokratischen" Maßnahmen haben periodisch den Rückfall in die Autokratie herbeigeführt. Diese Tragödie gibt dem A r gument der Demokratiegegner Gewicht, die behaupten, daß „die Demokratie sich auf einer handgreiflichen Unwahrheit baue" 1 5 . Es ist zu überlegen, ob eine direkte Demokratie dem „Wesen" der Demokratie gerecht werden kann, wenn die politisch entscheidungsfähigen Mitglieder der Gemeinschaft die Herrschaft ständig und völlig ausüben. Es wäre ja heute vorstellbar, daß ihnen computertechnische Mittel zur Verfügung gestellt werden, auf welchem Wege ihnen alle Regierungsfragen zur Entscheidung vorgelegt werden könnten. Dies würde aber eine unzumutbare und untragbare Belastung der Befragten bedeuten. Noch schwerer wiegt das Bedenken, daß in den heutigen hochkomplizierten Regierungsangelegenheiten das Volk als Ganzes für die notwendigen sachlichen Entscheidungen gar nicht kompetent sein kann. Das Regieren verlangt in vielen wichtigen Fällen nach jenen, denen es wie Flugzeugpiloten allein oder gemeinsam mit Kopiloten überlassen werden soll, Entscheidungen in Angelegenheiten zu treffen, die eingehender Fachkenntnisse bedürfen. Das Volk ist durchaus imstande, sich gegen seine eigenen Interessen zu entscheiden, besonders gegen jene, die Einblick- und Weitblick verlangen. Bedenkt man, daß 13
Rousseau, Du contrat social, Buch I I , Kap. 4. Ebd., Buch I I I , Kap. 15. is V W W D , S. 31.
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die heutige politisch bedeutsame Gemeinschaft nicht nur die Mitglieder eines gegebenen Staatswesens umfaßt, sondern auch die „Fernsten" in Raum und Zeit — die auch zum Kreis der Gerechtigkeitssubjekte gehören — dann ist es unvermeidbar, daß die Demokratie im Normalfall nach wie vor eine repräsentative Demokratie ist. Die repräsentative Demokratie ist auf Wahlen angewiesen. Es fragt sich, ob durch Wahlen, wie w i r sie kennen, die für die demokratische Wirklichkeit so wichtige vernünftige Führerauslese getroffen werden kann. Dies ist denkbar, wo die Verhältnisse des Parteiwesens für die im Sinne des fair play gestalteten politischen Traditionen und der Volksbildung günstig sind; aber dies ist nur selten der Fall. I m Charisma, das gewisse Persönlichkeiten in unseren Demokratien erworben haben, liegt immer etwas Bedenkliches, ja Bedrohliches — sie mögen persönliche Eigenschaften haben, die eine „magnetische" Kraft auf Volksmassen ausüben; aber diese Eigenschaften garantieren noch nicht die Sicherung des vernünftigen Handelns i m Dienst der politischen und sozialen Werte von heute und morgen. „Maulhelden" haben nach wie vor eine ausgezeichnete Chance, in den Wahlkämpfen zu obsiegen und Schwindlern verschiedener A r t gelingt es sehr oft, den Wählern zu gefallen. Sogar in den zivilisierten Ländern ist die Wählerschaft kaum in der Lage, zu wissen, wer die Besten, wer sogar die wirklich Geeigneten sind, das Volk zu repräsentieren — auch in diesen Ländern ist ihre Auswahl weniger von abwägenden Überlegungen als von emotionalen Faktoren bedingt. Die „Illusion der in der sozialen Wirklichkeit unrettbaren Freiheit aufrecht zu erhalten" 1 6 scheint auch durch die repräsentative Demokratie nicht erreichbar zu sein. Auch hier klingt ständig „das dumpfere Motiv . . . , in dem die ehernen Ketten der sozialen Wirklichkeit dröhnen" 1 7 . Zu diesem Motiv gehört, daß ein großer Teil der Wählerschaft den Wahlergebnissen, wie immer diese auch aussehen mögen, gleichgültig, ja „entfremdet" gegenüberstehen, so daß sie sich an den Wahlen nicht beteiligen. Viele Wähler empfinden parlamentarische Reden als albernes Gerede, das die redlichen und möglicherweise vernünftigen Meinungen der Abgeordneten gar nicht kundgibt, sondern ihnen aus parteipolitischen Erwägungen i n den Mund gelegt wurde. Eine noch stärkere Desillusionierung der Wählerschaft besteht, wo die politische Wirklichkeit in eine „Akklamationsdemokratie" entartet ist, in der die Rolle der Abgeordneten kaum i n etwas anderem besteht als das von der machthabenden politischen Elite Vorgelegte mit Beifall aufzunehmen. Eine andere Entartung der Demokratie, die Desillusionierung bewirkt, ist die „Gefälligkeitsdemokratie". Hier läßt die um ihre Wiederwahl bangende Machtelite die erforderliche politische ie V W W D , S. 78. 17
Ebd.
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Weitsicht und Kreativität außer acht und ist in erster Linie darum bemüht, um die Gunst der Wählerschaft zu buhlen. Kelsen hat recht, wenn er sagt, daß das Schicksal der modernen Demokratie in hohem Maße „an einer systematischen Ausgestaltung aller Kontrollinstitutionen hängt" und daß „Demokratie ohne Kontrolle . . . auf die Dauer unmöglich ist 1 8 . Hier liegt ein weiterer wunder Punkt der Demokratie. Die Masse der Wählerschaft ist auch heute, und besonders heute, kaum i n der Lage und fähig, die erforderliche Kontrolle sinnvoll auszuüben. Die Massenmedien, die sie meistens tatsächlich ausüben, sind nicht die Bevollmächtigten des Volkes. Sie vertreten gewöhnlich besondere Gruppeninteressen der wirtschaftlich Starken oder ihre Eigeninteressen, indem sie etwa einen politischen Eklat provozieren, um den Umsatz der Zeitungen zu heben. Es gibt wichtige Fälle, in denen es Staatsinteressen überhaupt nicht erlauben, die notwendige Kontrolle in der Öffentlichkeit auszuüben, besonders wo Staatsgeheimnisse bewahrt werden müssen. Wenn man sich pessimistischen Gedanken über die Demokratie hingibt, drängt sich die Frage auf: Wo liegt eigentlich der Wert der Demokratie? Die Demokratie als solche verbürgt ihrem „Wesen" nach weder die Erlangung der Freiheit, noch der Gerechtigkeit, des Gemeinwohles oder des sozialen Friedens. Die abschließenden Worte des Vortrages, mit dem Kelsen in Berkeley (Kalifornien) von seiner aktiven akademischen Tätigkeit Abschied nahm, nach welchen „das wichtigste" in seinem Leben jene Gerechtigkeit sei „unter deren Schutz" unter anderem „die Gerechtigkeit der Freiheit" gedeihen kann 1 9 , hindern uns nicht daran, auch bei ihm einen Demokratiepessimismus wahrzunehmen. Seine Worte: „die Lehre der Volkssouveränität ist — wenn auch verfeinert und vergeistigt — eine totemistische Maske" 2 0 und „die Antwort auf die Frage, wer soll Führer sein und wie w i r d man es, bleibt dem Zufall und Gewalt überlassen" 21 weisen darauf hin, daß die Demokratie auch Unwert hat. Was nach Kelsen der Wert der Demokratie ist, läßt er in der folgenden Aussage erkennen: „der eigentliche Sinn der Demokratie" ist, daß sie „der Ausdruck eines politischen Relativismus ist" und daß sie eine Ordnung darstellt, i n der auch „die Minderheit, weil nicht absolut i m Unrecht, nicht absolut rechtlos, jederzeit selbst zur Mehrheit werden kann" 2 2 .
is V W W D , S. 76. 19 H. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, 1953, S. 43. 20 V W W D , S. 86. 21
V W W D , S. 89. 22 V W W D , S. 103.
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Diese Gedanken sind beachtenswert, doch enthält Kelsens Überbetonung des politischen Relativismus etwas Bedenkliches. Durch diese Überbetonung entschwinden gewisse feste Grundbedingungen für die Demokratie aus dem Blick, wozu insbesondere ein breiter Grundkonsens über Grundrechte und Wirtschaftsverfassung gehört. Wir als menschliche Wesen sind wohl i n der Relativität und Pluralität der politischen Anschauungen und Verhältnisse verfangen, aber w i r können auch nicht umhin, unser politisches Tun und Lassen nach uns jeweils erfaßbaren „relativen Absoluta" zu richten. Diese „Absoluta" sind uns teilweise i m herkömmlichen — aber stets überdenkbaren und überholbaren — Gedankengut über Gerechtigkeit, Freiheit, Gemeinwohl und Menschenwürde gegeben. Wir können sie auch durch die Einsichten fördernde Besinnungen und Erörterungen über die gegenwärtige Situation der Menschheit erfassen. Die Demokratie hat sich in unserer politischen Erfahrung als die am wenigsten schlechte von allen uns bekannten Regierungsformen erwiesen. Man kann aber nicht sagen, daß sie auch die „relativ beste" — besonders in unserer verwahrlosten Welt — von allen erdenklichen und uns noch unbekannten Regierungsformen ist. Bessere Verfahren und Institutionen als die der Demokratie sind gewiß denkbar, u m die Qualität der zu wählenden Amtsinhaber zu sichern und die Kontrolle über die Tätigkeit der Organträger auszuüben. Die „Kategorien" der Regierungsformen sind aber keineswegs „abgeschlossen"! Die politischen Denker unserer Zeit stehen vor der Aufgabe, die demokratischen Grundideen zu verbessern und zu verfeinern eingedenk der großen Weltprobleme der Gegenwart — der demographischen, ökologischen, ökonomischen und polemologischen „Megaprobleme". Sie sind dazu berufen, weil ja vieles in der W i r k lichkeit heute ganz anders aussieht und beschaffen ist als i n vergangenen Zeiten, in denen die demokratischen Grundgedanken, die uns auch heute beherrschen, ausgebildet wurden. Sie sind auch dazu fähig, denn die gegenwärtigen Denker verfügen ja i n keinem geringeren Maße über die erforderlichen Geisteskräfte. Für ihre Arbeit steht ihnen durch die Einsichten und Erfahrungen, die Politphilosophie und Wissenschaft inzwischen gesammelt haben, eine gute Ausgangsbasis zur Verfügung. Was sie unbedingt brauchen, ist der Mut, auch auf politischem Gebiet über das Grundsätzliche konstruktiv, ja utopisch, zu denken — utopisch, weil relevante Utopien Idealtypen abgeben können, an die eine asymptotische Annäherung versucht werden sollte. I m Rahmen dieses Vortrages kann ich nicht darauf eingehen, wie das gebotene konstruktive Denken gestaltet werden soll und Spekulationen darüber anstellen, welche Ergebnisse es hervorbringen mag. Schließlich sei bemerkt, daß es darauf ankommt, das „Kondominium" der Grundwerte, nach denen unser Staatswesen ausgerichtet werden
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soll, funktionsfähig zu machen und zu erhalten und daß von keinem der wesentlichen Werte allzuviel für einen anderen geopfert wird. Für dieses geistige „Großunternehmen" müssen w i r den Demokratieenthusiasmus, den w i r haben mögen, dämpfen, und aufpassen, daß die gebotenen Experimente mit den neuen politischen Ideen niemandem vermeidbares oder unzumutbares Leid bringen. Dies dürfte besser möglich sein, wenn i n der demokratischen Wirklichkeit nach dem Gerechtigkeitsprinzip „suum cuique agere" gehandelt wird, was bedeutet, daß jedes Gesellschaftsmitglied das tut, was von i h m i m Hinblick auf seine Fähigkeiten und Möglichkeiten erwartet werden kann.
RECHTSPOSITIVISMUS, DEMOKRATIE UND GERECHTIGKEITSTHEORIE Von Ota Weinberger, Graz 1. Die Fragestellung Das Problem, mit dem ich mich in meinem Beitrag befassen möchte, lautet: Wie kann eine Gerechtigkeitstheorie auf rechtspositivistischer und non-kognitivistischer Basis aufgebaut werden? Die Antwort auf diese Frage hängt in wesentlicher Weise von der Auffassung des Rechtspositivismus ab. Ich werde zwei Konzeptionen in Betracht ziehen: 1. Kelsens Konzeption des Rechtspositivismus und 2. meine Auffassung, die ich als ,institutionalistischen Rechtspositivismus' bezeichne. Die Fragestellung meiner Untersuchungen kann ich i n folgende vier Problemkreise aufteilen: (i) Welche Gerechtigkeitspostulate kann man aufstellen, wenn man von einer rein relativistischen Gerechtigkeitskonzeption ausgeht, wie sie Kelsen vertritt? (ii) Folgen aus der wertrelativistischen Weltanschauung, die jedem Rechtspositivismus zugrunde liegt, gewisse inhaltliche Forderungen, insbesondere das Postulat der Toleranz und die Forderung nach Gesprächs- und Kompromißbereitschaft? (iii) Besteht eine Möglichkeit, auf positivistischer und wertrelatheistischer Basis Gerechtigkeitsanalysen durchzuführen, die den Charakter überzeugender rechtspolitischer Argumentationen haben? (iv) Können Überlegungen über strukturtheoretische Probleme der Demokratie und die Analyse der Grundideen des demokratischen Weltbildes einen Beitrag zur Gerechtigkeitstheorie leisten? 2. Der Begriff des Rechtspositivismus Die rechtspositivistischen Denker verbindet eine gemeinsame Geisteshaltung. Sie besteht darin, daß alle Positivisten das Ziel verfolgen, das
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Recht als objektiv in der sozialen Realität bestehend zu erfassen, wobei sie voraussetzen, daß das Recht durch die gesellschaftliche Wirklichkeit und die K u l t u r bestimmt ist, und daß sein Geltungsgrund nicht aus metaphysischen Prinzipien hergeleitet werden kann. Für alle positivistischen Lehren gilt daher folgende negative Charakteristik: Der Positivismus vertritt die Meinung, daß es keine präpositiven Rechtsprinzipien und keine absoluten Werte gibt. Diese Konzeption führt auch zu folgender begründungstheoretischen Behauptung: Es gibt keine praktische Erkenntnis, das heißt: weder aus der Vernunft noch aus der Erfahrung oder aus der Intuition kann kognitiv entschieden werden, was richtigerweise rechtens sein sollte, was gerecht und was ungerecht ist. I m einzelnen bestehen jedoch zwischen den rechtspositivistischen Schulen nicht unwesentliche Differenzen. Der wichtigste Unterschied zwischen den traditionellen rechtspositivistischen Lehren liegt meiner Ansicht nach darin, daß die einen das positive Dasein des Rechts i n der gesellschaftlich-realen Geltung von Normen erblicken — der normativistische Rechtspositivismus —, die anderen aber i n der Realität soziologisch beobachtbarer rechtlicher Beziehungen und Prozesse — der realistische Rechtspositivismus. 3. Kelsens Rechtspositivismus: klassische und späte Auffassung Kelsen strebt einen rein normativistischen Rechtspositivismus an. Für ihn besteht die Positivität des Rechts darin, daß es (d.h. die Rechtsnormen) durch bestimmte menschliche Autoritäten gesetzt ist (sind). Der Geltungsgrund der Rechtsnormen beruht auf dem Erzeugungszusammenhang, nicht auf inhaltlicher Rechtfertigung. Die Ermächtigung zur Rechtserzeugung macht aus den entsprechenden Willensakten Rechtserzeugungsakte, deren Sinn objektiv gültiges rechtliches Sollen ist. Die Kette der objektiv legitimierenden Begründungen mündet in die Verfassung bzw. in die historisch erste Verfassung und i n die sie autorisierende Grundnorm, die für Kelsen Voraussetzung jeder möglichen Rechtserkenntnis ist. Dieser positivistischen Auffassung entspricht es, daß Kelsen Zwang als wesentliches Merkmal des Rechts und jeder einzelnen Rechtsnorm ansieht, da m i t der Möglichkeit rechtswidrigen Handelns gerechnet werden müsse. I n Kelsens Spätlehre w i r d diese Konzeption des Positivismus beibehalten und nur i n einer Richtung wesentlich verändert und hierdurch sozusagen auf die Spitze getrieben: Während i n der klassischen Reinen Rechtslehre Ermächtigungsbeziehungen zusammen mit logi-
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sehen Folgerungen das Band des Normensystems bilden 1 , w i r d in der Spätlehre die begriffliche Möglichkeit von logischen Beziehungen i m Bereich der Normen geleugnet. Diese Auffassung führt zu einem Rechtspositivismus, den ich als ,Setzungspositivismus' bezeichnet habe 2 . Eine Norm Ν kann nach dieser Auffassung nur dann gelten, wenn es einen realen Willensakt gibt, dessen Sinn Ν ist 3 . War in der klassischen Lehre die Positivität des Rechts durch autorisierte Kreationsakte bestimmt, wobei auch die Konsequenzen der gesetzten Normen gültiges Recht darstellten, so ist i n der Spätlehre nur der Inhalt tatsächlicher Willensakte gültiges Recht. Meines Erachtens eine absurde Auffassung, die mit einer verfehlten Normenontologie verbunden ist und die zu der sehr problematischen aktrelativen Normdefinition führt, dergemäß die Norm der Sinn eines auf fremdes Verhalten gerichteten Willensaktes ist. Wird nämlich der Begriff der Norm strikt an den Willensakt gebunden, so w i r d hierdurch die Möglichkeit der Existenz normenlogischer Beziehungen ausgeschlossen. Dies hat wieder u. a. folgende Konsequenzen: (a) aus der generellen Norm ist keine Schlußfolgerung auf duelles Sollen möglich;
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(b) es gibt keinen normativen Subsumtionsschluß; (c) der Sinn des All-Quantors in Normsätzen w i r d aufgehoben — er ist nämlich durch die Individualisierungsregel (regula de omni et nullo) definiert; (d) der Begriff der materiellen Derogation w i r d unbestimmbar, denn er ist definiert als Derogation der älteren Norm durch eine neuere, soweit die neuere Norm mit der älteren i n logischem Widerspruch steht. (Vgl. NGJE.) Kelsens Auffassung scheint m i r auch innerlich inkonsequent: (1) Nur ein ermächtigter Willensakt erzeugt gültige Normen. (2) Ob ein real vorliegender Willensakt der Ermächtigungsnorm entspricht, kann nur durch einen normenlogischen Subsumtionsschluß bestimmt werden. 1 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Auflage (RR 2 ), Wien 1960, S. 196 f., S. 363 f. 2 O. Weinberger, Z u r Idee eines institutionalistischen Rechtspositivismus, in: Kelsen et le positivisme juridique, Revue Internationale de Philosophie, e 35 Année, N° 138, S. 487 ff. 3 Zur K r i t i k der Kelsenschen Spätlehre u n d insbesondere der i n i h r vertretenden Normenontologie siehe: O. Weinberger, Normentheorie als Grundlage der Jurisprudenz u n d Ethik. Eine Auseinandersetzung m i t Hans Kelsens Normentheorie (NGJE), B e r l i n 1981.
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(3) Kelsen leugnet aber die Möglichkeit normenlogischer Schlüsse, also auch dieser Subsumtionsschlüsse. Es wäre daher gar nicht möglich, im Sinne von (1) zu erkennen, ob Normen gültig entstanden sind. 4. Charakteristik des institutionalistischen Rechtspositivismus Das Recht ist eine gesellschaftliche Tatsache, welche das Leben in weitaus breiterem Umfang prägt als man sich vorstellt, wenn man als Rechtsleben nur die Gesetzgebung und die Rechtsanwendung durch Staatsorgane ansieht. Ein wesentlicher, ja man kann sagen: der überwiegende Teil des Rechtslebens vollzieht sich ohne Eingreifen des Richters oder anderer Staatsorgane, die berufen sind, Rechtsentscheidungen zu treffen. Die alltäglichen Vorgänge und die entsprechenden Feststellungen sind von dem Dasein des Rechts in der gesellschaftlichen W i r k lichkeit abhängig. Wenn w i r sagen, daß Max Marie geheiratet hat, oder daß N N Professor ist, so sind solche Feststellungen nur deswegen sinnvoll, weil es solche rechtliche Institutionen wie die Ehe und Universitäten gibt. Fast jede Tätigkeit des praktischen Lebens ist mit dem Recht verbunden; ihre Durchführung kann nur aufgrund des institutionellen Daseins des Rechtssystems erklärt werden. Institutionen stellen gesellschaftliche Tatsachen dar, die nur i m Zusammenhang mit normativen Regelsystemen verstanden werden können. Diese institutionalisierten Regulative sind Bestandteile der gesellschaftlichen Realität. Sie haben den Sinn eines Sollens, bilden die Grundlagen von Wertungen und bewirken bei den Mitgliedern der Gesellschaft gewisse Erwartungen bezüglich des Verhaltens ihrer M i t menschen. Ausgehend von der Searleschen Unterscheidung roher und institutioneller Tatsachen 4 und aufbauend auf meiner Überzeugung, daß institutionelle Tatsachen immer auch Sollens- und Wertungsregeln umfassen5, gelange ich zur Auffassung, daß das Recht als normative Ordnung sein Dasein in der Tatsache der Institutionalisierung hat; dies bedeutet: das reale Dasein des Rechts besteht in dem ineinandergreifenden Zusammenspiel zwischen Normen und gewissen empirisch beobachtbaren 4 J. JR. Searle, Speech Acts. A n Essay i n the Philosophy of Language, Cambridge 1969; deutsch: Sprechakte. E i n sprachphilosophischer Essay, F r a n k f u r t / M . 1971, Abschnitt 2.7, S. 78 ff., S. 281 der deutschen Ausgabe. 5 Vgl. O. Weinberger, Tatsachen u n d Tatsachenbeschreibungen. Eine logisch-methodologische Überlegung zu einem Grundlagenproblem der Sozialwissenschaft, in: K . Salamun (Hrsg.), Sozialphilosophie als Aufklärung. Festschrift für Ernst Topitsch, Tübingen 1979, S. 173 - 187,
Rechtspositivismus, Demokratie u n d G e r e c h t i g k e i t s t h e o r i e 5 0 5
sozialen Tatsachen. Die normative Gedankenentität des Rechts ist real existent, sie gilt als Recht, weil sie in institutionelle, d. h. tatsächliche und soziologisch beobachtbare, Zusammenhänge eingebettet ist. I m Sinne des institutionalistischen Rechtspositivismus ist Rechtserkenntnis nicht nur hermeneutisches Erfassen von Rechtsnormen 6 , sondern auch Erkenntnis der institutionellen Rechtswirklichkeit im ganzen, das heißt auch der Rechtsbeziehungen und Rechtstatsachen i m weitesten Sinne des Wortes. Auch die dem Rechtssystem zugrundeliegenden Zwecke und Rechtsgrundsätze gehören zum positiven — d. h. tatsächlich daseienden — Recht, soweit sie institutionell wirksam sind, d. h. insbesondere: soweit sie als institutionalisierte Momente die Entscheidungspraxis beeinflussen. Zum positiv gegebenen Rechtsleben gehört auch die Rechtsdogmatik und die juristische Methodenlehre — soweit sie institutionell wirksam sind. Kelsen empfand die Beziehung zwischen der normativen Geltung und der Effektivität des Rechts immer als Problem, was besonders klar aus folgendem Zitat aus der Schrift „Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus" (1928) hervorgeht: „Das Problem der Positivität des Rechts besteht gerade darin: daß dieses zugleich als Sollen und Sein erscheint, obgleich sich diese beiden Kategorien logisch ausschließen." Der institutionalistische Rechtspositivismus bewältigt dieses theoretische Problem dadurch, daß er das Recht als Institution, d. h. als gesellschaftliche Realität, auffaßt, und dabei gleichzeitig von der allgemeinen These ausgeht, daß gesellschaftliche Institutionen Tatsachen sind, zu deren Charakteristik notwendigerweise normative Bestimmungen herangezogen werden müssen. Während Kelsen in den meisten Arbeiten die Jurisprudenz auf die normativistisch verstehende Rolle einschränkte und nur gelegentlich auch eine soziologische Jurisprudenz neben der normativistischen anerkannte 7 , betrachtet der institutionalistische Positivismus die Verbindung beider Gesichtspunkte — des normativen und soziologischen — als wesentlich und notwendig für die Rechtserkenntnis, was sich besonders in der Theorie der Rechtsgeltung sowie in der Theorie der Rechtsdynamik zeigt und zu einer Auffassung der begrifflichen Beziehungen zwischen Recht und Staat führt, die sich von jener der Reinen Rechtslehre wesentlich unterscheidet. β Das heißt: ein Verstehen, nicht ein Urteilen über Rechtsnormen (wie Kelsen meint); vgl. O. Weinberger, Intersubjektive Kommunikation, Normenlogik u n d Normendynamik, in: Strukturierungen u n d Entscheidungen i m Rechtsdenken, Wien - New Y o r k 1978, S. 235 - 263. 7 H. Kelsen, The Pure Theory of L a w and A n a l y t i c a l Jurisprudence (PThAJ), in: Harvard L a w Review, Vol. 55/1941, S. 44 - 70.
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Ota Weinberger
Für Kelsen ist die Rechtsdynamik ein Prozeß i m Bereich der Norm: aufgrund bestehender normativer Regeln entstehen neue Normen, alte können aufgehoben werden, und wenn eine Norm erfüllt wird, ist ihre Funktion beendet. In meiner Konzeption des Rechts werden nicht nur die Normen, sondern auch tatsächliche Vorgänge — seien es direkt beobachtbare Tatsachen in Raum und Zeit oder Willensakte — zum Gegenstand der Rechtserkenntnis. Die Rechtsdynamik w i r d verstanden als Charakteristik des realen Daseins des Rechts; sie w i r d als ein Zusammenspiel zwischen Normativ-Institutionellem und Beobachtbarem gedeutet. Die Entstehung von Normen ist von zweierlei A r t : (a) Normen entstehen aufgrund gegebener normativer Bestimmungen und infolge des Eintretens gewisser Tatsachen (z. B. das aktive Wahlrecht entsteht mit Eintritt eines gewissen Alters) — automatische Normentstehung — oder (b) aufgrund ermächtigender Normen in Verbindung mit dem Faktum der entsprechenden normerzeugenden Willensakte — aktabhängige Normentstehung (Normerzeugung). Die Begründung geltenden Rechts beruht — i m Sinne meiner Konzeption — auf zwei Faktoren: der die Entstehung der Norm begründenden, schon geltenden Norm und einer gewissen Tatsache, während bei Kelsen nur die schon bestehende Norm, insbesondere die ermächtigende Norm, der eigentliche Geltungsgrund der neuen Norm ist. Auch die Beziehung zwischen Recht und Staat sieht der institutionalistische Positivismus in anderem Lichte als Kelsen. Vom institutionalistischen Standpunkt aus ist der Staat nicht eine für die juristische Betrachtung fremde Entität, etwas, was juristisch gesehen entweder überhaupt nicht erfaßt werden kann oder begrifflich mit der Rechtsordnung als einem Normensystem identifiziert werden muß. Der Staat erscheint m i r als gesellschaftlich-institutionelle Tatsache, die allerdings nur so adäquat erfaßt werden kann, daß dieses Gebilde als durch die Rechtsordnung strukturiert und in seiner Funktionsweise normiert verstanden wird. I m Bereich der juristischen Methodenlehre führt die institutionalistische Auffassung des Rechtspositivismus insbesondere zu zwei Differenzen gegenüber der Konzeption der Reinen Rechtslehre: (i) Das juristische Argumentieren — sowohl i m Bereich der Hermeneutik als auch i m Bereich der Entscheidungsbegründung — erhält eine breitere Grundlage, weil Zwecke und Grundsätze als Argumentationsmittel verwendet werden. (ii) Die rechtspolitische Argumentation und Gerechtigkeitsanalysen werden als legitime Aufgaben der Jurisprudenz anerkannt, natürlich ohne daß der Non-Kognitivismus aufgegeben wird.
Rechtspositivismus, Demokratie und G e r e c h t i g k e i t s t h e o r i e 5 0 7
Der von der Reinen Rechtslehre zu Recht angeprangerte Methodensynkretismus w i r d von der institutionalistischen Rechtstheorie dadurch vermieden, daß die Methode der A r t der Fragestellung angepaßt wird. Die Frage nach der Geltung des Rechtssystems w i r d allerdings vom institutionalistischen Positivismus als soziologische Tatsachenfrage, nicht wie von Kelsen als rein normative Frage angesehen. 5. Gerechtigkeit nach Maßgabe des positiven Rechts „Gerechtigkeit ist in erster Linie eine mögliche aber nicht notwendige Eigenschaft einer gesellschaftlichen Ordnung. Nur i n zweiter Linie eine Tugend des Menschen. Denn ein Mensch ist gerecht, wenn sein Verhalten einer Ordnung entspricht, die als gerecht gilt 8 ." Mit diesen Worten beginnt Kelsen seine Schrift „Was ist Gerechtigkeit?" aus dem Jahre 1953. Er deutet damit zwei Grundgedanken seiner Gerechtigkeitskonzeption an: (1) Die Geltung des Rechts ist unabhängig von der Beurteilung des Rechts als gerecht oder ungerecht. Das Recht gilt nicht, weil es gerechtes Sollen statuiert, und der Begriff ,ungerechtes Recht' ist keineswegs in sich widersprüchlich, wenn die Beurteilung des Rechts als Wertung vom Standpunkt eines vom positiven Recht verschiedenen Wertungssystems verstanden wird. (2) Das Recht selbst ist ein System von Wertungskriterien, das bestimmt, was gerecht und was ungerecht ist; und das positive Recht ist der einzige juristisch relevante Wertungsmaßstab. Gerechtigkeit — i m systemrelativen Sinne — bedeutet Legalität; Gerechtigkeit ist eine Eigenschaft, die sich nicht auf den Inhalt des positiven Rechts bezieht, sondern auf die Anwendung des Rechts (PThAJ, S. 49). Kelsen zeigt durch die kritische Analyse verschiedener Versuche, Gerechtigkeitsprinzipien kognitiv zu begründen, daß es keinen Weg gibt, materielle Gerechtigkeitskriterien oder -maßstäbe rational zu begründen (WG). I m Anhang zur 2. Auflage der Reinen Rechtslehre, der den Titel „Das Problem der Gerechtigkeit" trägt, untersucht Kelsen die Möglichkeit, Gerechtigkeitsnormen als Maßstab und Geltungskriterien des Rechts anzuwenden. Er gelangt zu dem Ergebnis, daß — wenn man die Geltung des Rechts vom Standpunkt einer als gültig vorausgesetzten Gerechtigkeitsnorm betrachtet und wenn das Recht dieser Gerechtigkeitsnorm entspricht — das Recht keine eigene (souveräne) Geltung 8
H. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit (WG), W i e n 1953, S. 2.
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hat, denn dann ist die Gerechtigkeitsnorm die originär geltende Norm und in dem System gilt gerade das, was von ihr als normativ geltend anerkannt w i r d 9 . Kelsen scheint der Meinung zu sein, daß das Problem der Beurteilung des Rechts als gerecht — so weit dies kognitiv versucht w i r d — mit Naturrechtsargumentationen verbunden ist, die seiner Ansicht nach zu guter Letzt aus metaphysisch-religiösen Glaubensvoraussetzungen entspringen, wenn man von pseudo-rationalistischen Argumentationen absieht 10 . Da Kelsen Überlegungen über das gerechte Recht durchaus nicht ablehnt, solche Überlegungen aber für die Rechtserkenntnis, das heißt: für die Feststellung, was rechtens gilt, als irrelevant ansieht, hält er Gerechtigkeitsüberlegungen über das Recht i m wesentlichen für Untersuchungen des Rechts vom moralischen Standpunkt aus. Es sei die Aufgabe der Rechtssoziologie, nicht die der normativen Jurisprudenz, die Ideologien zu untersuchen, welche die Menschen bei der Rechtserzeugung und -anwendung leiten. Zu diesen Ideologien gehöre auch die Idee der Gerechtigkeit; Gerechtigkeitsanalysen gehören daher nach Kelsen in den Bereich der Rechtssoziologie 11 . Juristisch gibt es nur relative Gerechtigkeit, das heißt: Gerechtigkeit nach Maßgabe des positiven Rechts, welcher hier als alleiniger Maßstab dafür gilt, was gerecht und was ungerecht ist. Die Theorie der Gerechtigkeit, die von dieser Position ausgeht, k ö n n e n w i r als Theorie
der relativen
Gerechtigkeit
bezeichnen.
Ich möchte nun prüfen, ob von dieser Position aus allgemeine Gerechtigkeitspostulate begründet werden können. (i) Das Prinzip der formalen Gleichheit. Gerechtigkeit nach Maßgabe des Rechts setzt voraus, daß Recht und rechtliche Beurteilung aufgrund genereller Rechtsregeln vor sich geht, oder was mit dieser These äquivalent ist, daß das Recht nach dem Prinzip der formalen Gleichheit gehandhabt w i r d 1 2 . Wenn man auch zweifellos die Wertneutralität dieses Prinzips unterstreichen muß, scheinen m i r unabweisbare Forderungen als notwendige 9
Vgl. H. Kelsen, Das Problem der Gerechtigkeit, in: RR 2 , S. 361 f. H. Kelsen, WG, S. 17 f. 11 H. Kelsen, P T h A J , S. 50 ff. 12 Vgl. O. Weinberger, Gleichheitspostulate. Eine strukturtheoretische und rechtspolitische Betrachtung, ÖZÖR 25/1974, S. 23 - 28; ders., Gleichheit u n d Freiheit: komplementäre oder widerstreitende Ideale, in: Equality & Freedom: International and Comparative Jurisprudence, Vol. I I , 1977, hrsg. v o n Gray Dorsey, New York, Leiden, S. 641 - 654. 10
Rechtspositivismus, Demokratie und G e r e c h t i g k e i t s t h e o r i e 5 0 9
Bedingungen der Gerechtigkeit an das Prinzip der formalen Gleichheit anzuknüpfen: (ii) Das Postulat
der
wahren
Tatsachenfeststellung.
D a die r e l a t i v e
Gerechtigkeit genau das als gerechte Rechtsfolge ansieht, was vom Recht als Folge gewisser Bedingungen festgesetzt ist, erfordert die Gerechtigkeit, von wahren Tatsachenfeststellungen auszugehen. Eine banale und selbstverständliche Forderung. Wer sich jedoch die entarteten Rechtssysteme mit ihren Schauprozessen vor Augen hält, und wer aus der Rechtspraxis die Schwierigkeiten und Probleme des Tatsachenbeweises kennt, w i r d dieses Postulat als grundlegend für eine gerechte Judikatur anerkennen und seine Wichtigkeit nicht unterschätzen. (iii) Das Postulat
der angemessenen
Differenziertheit
des
rechtlichen
Sollens. Das Prinzip der formalen Gleichheit verweist unsere Gerechtigkeitsüberlegung auf die Notwendigkeit, angemessene Differenzierungen der Subsumtionsbedingungen und für die einzelnen Kategorien entsprechende unterschiedliche Rechtsfolgen festzusetzen. Die rechtliche Normierung ist wegen der hypothetischen Struktur der Rechtsregel eine intensionale, d. h. artbildende, Bestimmung des bedingenden Sachverhalts und der bedingten Sollfolge und eine Zuordnung zwischen ihnen in der Form von Grund und normativer Folge. Beides, die Aufstellung der Kategorien und die Zuordnung der Sollfolgen unterliegen der Gerechtigkeitsabwägung. (iv) Das Postulat der Realisation. Die Sollensregeln sind nicht nur die Basis für rechtliche Werturteile, sie sind auch Handlungsanordnungen: die durch rationale Beziehungen bestimmten Rechtsfolgen sind in die Tat umzusetzen. Neben diesen aufgrund der relativistischen Gerechtigkeitskonzeption begründbaren Postulate, müssen in diesem Rahmen auch subtilere Probleme untersucht werden: (v) Formale
Gerechtigkeit
und das Rechtssystem
im Zeitablauf.
Es ist
ein allgemein anerkannter Grundsatz, daß in relevanter Weise gleiche Fälle gleich beurteilt und behandelt werden sollen. Die zeitlichen und räumlichen Bestimmungen der Fälle gelten hierbei nicht als in relevanter Weise differenzierende Kriterien. Das Postulat der formalen Gerechtigkeit stimmt deswegen überein mit der Anerkennung der Präzedenzentscheidungen als Maßstab für zukünftige Entscheidungen gleicher Fälle. Für diese Überlegung ist es unerheblich, ob w i r uns in Systemen des Präzedenzienrechts oder des gesatzten Rechts bewegen. Es ist selbstverständlich, daß die Konstanz der Judikatur auch für die Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit des Rechts von wesentlicher Bedeutung ist. Mit dem Postulat der Konstanz der Entscheidungspraxis
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Ota Weinberger
und der formalen Gerechtigkeit i n diachronischer Sicht, d. h. auch in bezug auf zeitlich verschieden lokalisierte Fälle, ist ein Rechtskonservatismus verbunden, denn nur unter dem Konservativismuspostulat kann die formale Gerechtigkeit über den Zeitablauf hinweg erfüllt werden. Ich bin der Meinung, daß das Postulat der formalen Gerechtigkeit zwar auch diachronisch betrachtet gilt, daß es aber nicht so gedeutet werden sollte, daß eine Transformation und Entwicklung des Rechts zu wertmäßig als gerechter angesehenen rechtlichen Bestimmungen durch die diachronische Deutung der formalen Gerechtigkeit abgeblockt werden dürfte. Manchmal w i r d die Berücksichtigung von inzwischen eingetretenen gesellschaftlichen Veränderungen einen Unterschied der Rechtsfolgen rechtfertigen, doch läßt sich in dieser Weise nicht jede Rechtsreform begründen. Es w i r d oft eine Abwägung erforderlich sein, inwieweit die diachronische Gleichheit zu berücksichtigen ist und inwieweit das Recht mit Rücksicht auf die aktuell als gerecht empfundenen Gesichtspunkte zu verändern ist13» 1 4 . (vi) Das Billigkeitsproblem. Kann man ausgehend von der relativistischen Gerechtigkeitskonzeption, dergemäß das positive Recht der einzige Maßstab für Rechtsentscheidungen und Gerechtigkeitsurteile ist, überhaupt zum Problem der Einzelfallgerechtigkeit (oder Billigkeit) gelangen? Kelsen würde sicherlich negativ geantwortet haben, und man kann diese Auffassung als konsequent ansehen. Ich meine jedoch, daß es sehr wohl einen rein positivistischen Weg gibt, Billigkeitsentscheidungen zuzulassen — wenn auch i n wesentlich engerem Rahmen als es die Schule der freien Rechtslehre fordert. Da kaum geleugnet werden kann, daß es Fälle gibt, bei denen eine Billigkeitsentscheidung überzeugender und gesellschaftlich adäquater ist — ich wage es auch als Positivist zu sagen, daß eine solche Entscheidung sowohl i m Geiste des Rechtssystems als auch intuitiv als gerechter erscheinen kann — als eine Entscheidung ohne Billigkeitsmodifikation 1 5 , scheint m i r eine 13 Uber den Charakter der Gerechtigkeitsanalysen als analytisch-dialektischer Deliberation siehe O. Weinberger , Analytisch-dialektische Gerechtigkeitstheorie. Skizze einer handlungstheoretischen u n d n o n - k o g n i t i v i s t i schen Gerechtigkeitslehre (ADG), in: RECHTSTHEORIE Beiheft 3 (1981), S. 307 ff. 14 V o n anderer A r t ist das Problem des Schutzes wohlerworbener Rechte (iura quaesita), denn dabei geht es nicht i n erster L i n i e u m die Veränderung der Rechtsordnung, sondern darum, das Rechtssubjekt, welches i m Vertrauen auf einen gegebenen Rechtszustand gehandelt hat, vor ungünstigen Folgen zu bewahren, die eine Entscheidung aufgrund einer neuen Rechtslage bei mangelndem Schutz der erworbenen Rechte b e w i r k e n könnte. Die Ausw i r k u n g e n des Postulats, das ius quaesitum zu schützen, sind allerdings i m wesentlichen konservativ. Sie können unter Umständen zu K o n f l i k t e n m i t dem Postulat des gesellschaftlichen Fortschritts führen. 15 Ein markantes Beispiel (nach R. Dworkin, T a k i n g Rights Seriously,
Rechtspositivismus, Demokratie u n d Gerechtigkeitstheorie
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normativistisch saubere positive Lösung der Billigkeitsproblematik dem rein formalistischen Standpunkt vorzuziehen. Die positivistische Jurisprudenz läßt jedenfalls Ermessensspielräume und relativ freies Ermessen zu. Es ist meines Erachtens durchaus sinnvoll, bei materiellen Rechtsregeln Ermessenslegitimationen vorauszusetzen — gegebenenfalls auch ohne explizite positive Bestimmung —, auf die sich die Billigkeitsentscheidungen stützen können. Die Rechtsregel „Für jedes χ gilt: wenn χ die Bedingungen F erfüllt, dann soll χ G tun" könnte dann gelesen werden: „Für jedes χ gilt: wenn χ die Bedingungen F erfüllt — und keine außerordentlichen Umstände bestehen —, dann soll χ G tun; wenn aber außerordentliche Umstände vorliegen, soll χ G' (wobei G' durch Ermessen zu bestimmen ist)." Auch die Billigkeitsentscheidung entspricht natürlich — wenn sie in der vorgeschlagenen Weise konzipiert w i r d — dem Prinzip der formalen Gleichheit (mit anderen Worten: dem Prinzip der Generalität des Rechts), denn die Billigkeitsentscheidung schafft einen neuen Typus von Subsumtionsbedingungen. Es entspricht ihr also eine spezifizierte generelle Rechtsregel. Die Billigkeitsentscheidung bedeutet keine Ausnahme von der Regel, sondern eine durch richterliches Ermessen eingeführte Spaltung der generellen Regel i m Hinblick auf einen Sonderumstand. Dieser Weg zur Billigkeitsentscheidung ist natürlich nur dann gangbar, wenn eine entsprechende Ermächtigung des Richters explizit statuiert ist oder präsumiert wird. Formal läßt sich die normative Relation folgendermaßen skizzieren: Die generelle Regel lautet: (1) Für jedes χ gilt: wenn χ F ist, dann soll χ G tun. Die Billigkeit zulassende Deutung von (1) lautet: ( Γ ) Für jedes χ gilt: wenn Λ: F ist und keine außerordentlichen Umstände vorliegen, dann soll χ G tun. (1") Für jedes χ gilt: wenn χ F ist und die außerordentlichen Umstände U vorliegen, dann soll χ Gu tun.
Bristol 1977): Wenn die generelle Regel der testamentarischen Erbschaft gilt, u n d der F a l l e i n t r i t t , daß das testamentarische Erbe den Erblasser ermordet hat, u m i h n zu beerben (Riggs v. Palmer, New Y o r k 1889), dann ist die von der generellen Regel statuierte Subsumtionsbedingung erfüllt, der Mörder müßte also erben, doch k a n n die Ermordung des Erblassers als Gegengrund von einem solchen Gewicht gelten, daß trotz der Erfüllung der Subsumtionsbedingungen die Rechtsfolge nicht eintreten sollte.
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Ota Weinberger
Aufgrund der Ermächtigung zur Billigkeitsentscheidung und aufgrund des ermächtigten richterlichen Ermessens t r i t t also (1') und (1") an Stelle von (1). (vii) Postulate der Verfahrensgerechtigkeit. Auch i m Rahmen einer Theorie der systemrelativen Gerechtigkeit ist es durchaus sinnvoll, Postulate der Verfahrensgerechtigkeit aufzustellen. Ihre Begründung stützt sich auf unsere Überzeugung, daß durch eine angemessene Organisation des rechtlichen Verfahrens die Wahrscheinlichkeit zu gerechten (das heißt hier rechtmäßigen) Entscheidungen zu gelangen, maximiert werden kann. Die Prinzipien der Verfahrensgerechtigkeit bzw. unserer Überzeugungen über die angemessene Organisation der Rechtsprozesse und der Auswirkungen dieser Organisation auf die Wahrscheinlichkeit der materiellen Gerechtigkeit der Entscheidung sollten einer empirischen Verifikation unterzogen werden, wenn dies auch durchaus nicht einfach ist und daher nur selten realisiert wird. Die Verfahrensgerechtigkeit beruht natürlich nicht nur auf jenen Grundsätzen, die dem Ziel der optimalen Wahrheitsfindung als Grundlage der Rechtsentscheidung dienen und die ihrem Wesen nach auf testbaren Hypothesen über Tatsachenbeziehungen beruhen, sondern auch auf den Postulaten der Unparteilichkeit und der gleichen wohlwollenden Beachtung der Interessen aller Parteien. 6. Das Toleranzpostulat Kelsen ist davon überzeugt, daß der Wertrelativismus ein wesentlicher Bestandteil des demokratischen Weltbildes ist und daß er zum Toleranzpostulat führt, dem Kelsen — ich glaube mit Recht — eine tragende Rolle in der Demokratie zuspricht. Man hat es als Selbstwiderspruch angesehen, daß Kelsen als Relativist absolute Wertmaßstäbe ablehnt, aber gleichzeitig Toleranz als Wert postuliert 1 6 . Ich bin der Meinung, daß dieser Vorwurf auf einem grundlegenden Mißverständnis beruht: (i) Das Toleranzpostulat ist keine logische Folge des Wertrelativismus in dem Sinne, daß es in ihm enthalten und daher aus ihm deduzierbar wäre. Ich glaube, daß Kelsen selbst seine Begründung des Toleranzpostulates nicht einfach als deduktive logische Folge des Wertrelativismus angesehen hat. Seine Meinung, daß Toleranz und Wertrelativismus ge16 Z. B. J. Bjarup, Hans Kelsen's Theory of Justice, Aarhus 1981, S. 46 ff.
Law
and Philosophy
of
Rechtspositivismus, Demokratie und Gerechtigkeitstheorie
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danklich in wesentlicher Weise korrelieren, beruht wohl auf der Überlegung, daß man, wenn man absolute und einzig richtige Wertmaßstäbe kennen würde und zur Verfügung hätte, kaum einen Grund dafür auffinden könnte, warum man andere Standpunkte (das heißt laut Voraussetzung: falsche Standpunkte) tolerieren sollte. Unter gewissen Voraussetzungen, von denen der Wertrelativismus nur ein Element ist, erscheint das Toleranzpostulat wohlbegründet: Wenn man die Existenz — und die relative Berechtigung — verschiedener Wertstandards berücksichtigt, ist es naheliegend auch danach zu streben, den Mitmenschen und seine Lebensformen zu verstehen, wenn man ferner das Ideal des Friedens verfolgt, dann w i r d man vernünftigerweise Toleranz fordern und Wege des Zusammenlebens von Menschen mit verschiedener Einstellung suchen. (ii) Das Toleranzpostulat ist kein Wertmaßstab i n dem Sinne, wie Wertstandards einer Weltanschauung Maßstäbe unserer Handlungen sind. Das Toleranzpostulat bewertet nicht Handlungen als gut oder schlecht, sondern unterwirft Wertsysteme einer Wertung, und zwar i m Hinblick auf deren Einstellung zu anderen Wertsystemen. Das Toleranzpostulat hat also den Charakter einer Metawertung von Wertungssystemen. Das Toleranzprinzip allein ist daher nicht geeignet eine Wertethik oder ein politisches Wertsystem zu konstituieren. Unser Ethos und das Recht können sich nicht auf das Toleranzpostulat beschränken; w i r brauchen immer auch materielle Wertstandards. (iii) Das Toleranzpostulat muß als Idealpostulat verstanden werden. Es drückt eine ideale Zielsetzung aus, nämlich das Ziel, Frieden und mitmenschliches Verständnis zu suchen sowie Verständigungsmöglichkeiten auszubauen. Es impliziert keineswegs, daß alles als akzeptabel angesehen werden soll oder daß der Tolerante alles tolerieren muß. Es ist untrennbar verbunden, mit einer suchenden — a contrario doktrinären — Lebenseinstellung. (iv) Das Toleranzprinzip sollte nicht als rein passive, beliebige Differenzen zwischen den Wertstandards hinnehmende Einstellung verstanden werden, sondern als eine Einstellung, die mit aktiver Gesprächsbereitschaft und dem Suchen nach konsensfähigen gesellschaftlichen Institutionen verbunden ist 1 7 . (v) Meiner Meinung nach umfaßt das Toleranzprinzip auch eine harte Ablehnung gewisser Dinge; es stellt eine Einschränkung der zulässigen Handlungsweisen dar und lehnt z. B. Betrug, bewußte Demagogik, Terror und die Verwendung des Mitmenschen bloß als Mittel strikt ab 13 . 17 Dies hätte Kelsen sicherlich akzeptiert; ich glaube jedoch, daß diese A u f fassung dem institutionalistischen Positivismus von MacCormick u n d m i r besser entspricht als Kelsens Setzungspositivismus.
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Das Toleranzprinzip impliziert daher in keiner Weise politische Resignation, wohl aber demokratisches Suchen. 7. Der Wertrelativismus und die Möglichkeit rechtspolitischer Argumentation Manche Rechtsphilosophen meinen, daß der auf der Relativität der Werte aufbauende Rechtspositivismus zu der Konsequenz führe, daß Recht nichts anderes sei als der Ausdruck des Willens der Mächtigen und daß der Inhalt des Rechts rein w i l l k ü r l i c h sei. Man findet auch tatsächlich bei manchen Rechtspositivisten Äußerungen, die eine solche Deutung zulassen. Meiner Meinung nach kann von der Willkürlichkeit des Rechts keine Rede sein; auch Kelsen setzt die Willkürlichkeit des Rechts nicht voraus, denn er war sich der gesellschaftlichen Bedingtheit des Inhalts der Rechtsordnung sehr wohl bewußt. Sonst wäre ja für seine ideologiekritischen und demokratietheoretischen Untersuchungen kein sinnvoller Platz zu finden. I m Gedankengebäude Kelsens besteht ein bewußter Trennungsschnitt zwischen den strukturtheoretischen Analysen der Reinen Rechtslehre und jenen Untersuchungen, aus denen rechtspolitische relevante Theorien hervorgehen. Eine Trennung zwischen Rechtserkenntnis und einem Plädoyer für rechtspolitische Auffassungen muß jedenfalls eingehalten werden; dennoch ist meiner Meinung nach die De-lege-ferenda-Argumentation selbst als Gegenstand strukturtheoretischer Analysen anzusehen und der Jurisprudenz kommt u. a. die Aufgabe zu, eine Methodologie der materiellen juristischen Argumentation zu entwickeln. Da diese Meinung umstritten ist, scheinen m i r einige Anmerkungen erforderlich. Man setzt einerseits voraus, daß jede Begründung objektive Fundamente i n der Erfahrung oder/und i n der Struktur der Vernunft haben muß. Daraus scheint zu folgen, daß jeder Versuch einer wissenschaftlichen Theorie der rechtspolitischen Argumentation mit dem NonKognitivismus i n Konflikt stehe. Da jede Argumentation — auch jene des rein kognitiven Bereichs — relativ ist, nämlich in bezug auf die Geltung bzw. die Wahrheit der Argumente, impliziert der Wertrelativismus keineswegs, daß praktische Argumentationen unmöglich sind. I n rationalen Begründungen geht es immer darum, aus vorausgesetzten (akzeptierten, „evidenten") A r 18 Vgl. die sogenannte zweite Formulierung des kategorischen Imperativs: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest." I. Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, B A 67 f.
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gumenten mit Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit das Probandum logisch abzuleiten und dadurch zu begründen. Jede Begründung fußt daher zu guter Letzt auf der faktischen Geltung bzw. Wahrheit der Argumente. Wegen der Relativität jeder Begründung in bezug auf die Argumente gibt es die Möglichkeit der Umkehrargumentation: widerspricht die abgeleitete These der Realität, oder erscheint sie an und für sich wertmäßig inakzeptabel — dies kommt insbesondere bei rechtspolitischen Argumentationen i n Frage —, dann führt dies zu einem Schluß, der Zweifel an dem Argument zum Ausdruck bringt. Für kognitive Argumentationen können diese Beziehungen folgendermaßen dargestellt werden: Argumente:
A i , A s , . . . , An
daher:
These: Τ Wenn Τ nicht gilt:
-ι T, dann: —· Αχ V - ι A2 V . . . V
π
d. h. wenigstens eines der Argumente ist falsch. Analoges gilt für den Bereich der praktischen Argumentation. Ich habe an anderer Stelle 1 9 versucht, einige Hinweise für mögliche Wege der rechtspolitischen Argumentation zu geben, und dabei folgende Argumentationstypen angeführt: (a) die Methode der sozusagen selbstverständlichen Voraussetzungen, (b) die Analyse der Ausgewogenheit des Rollenspiels, (c) das Prinzip der Gegenseitigkeit in partnerschaftlichen Beziehungen, (d) Methoden des Konsenssuchens. Bei diesen Untersuchungen bin ich zu der Meinung gelangt, daß es keine absoluten Prinzipien des Sollens gibt, sondern nur verschiedene Maximen, die — insbesondere in Grenzsituationen — i n Konkurrenz treten können. Es treten hierbei mehrwegige rationale Analysen auf, die mit Wertentscheidungen durchsetzt sind. Hier muß die Frage gestellt werden, wie Gerechtigkeitsuntersuchungen in die rechtspolitische Argumentation eingreifen. Zwei Thesen bestimmen meine Auffassung, die keine naturrechtlichen Voraussetzungen macht: (i) Gerechtigkeitsfragen kommen i n handlungslenkenden Deliberationen zur Geltung und stehen daher immer mit Utilitätsüberlegungen i m Zusammenhang. 19
33*
Vgl. A D G .
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(ii) Es ist eine soziologische Tatsache, daß jedermann und jede Gruppe gewisse Gerechtigkeitsvorstellungen hat; sie sind analysierbar, kritisierbar und entwicklungsfähig, und zwar i n einem teils rationalen, teils empirischen Prozeß, den Rawls als Überlegung zur Gewinnung des Überlegungsgleichgewichts charakterisiert hat 2 0 .
8. Können Naturrecht und Moral juristische Gerechtigkeitskriterien liefern? Gerechtigkeitsanalysen faßt man oft als Wertung des Inhalts eines Rechtssystems vom Standpunkt des Naturrechts oder der Moral auf; hierbei w i r d gewöhnlich vorausgesetzt, daß beide, das Naturrecht und die Moral, i m wesentlichen ein und denselben Maßstab darstellen. Ich halte solche Auffassungen weder für klar noch für überzeugend. Kelsen betrachtet die Naturrechtslehren als eine Folge des religiösen Glaubens. Meines Erachtens gibt es auch andere Motive für naturrechtliche Tendenzen in der Rechtstheorie, nämlich die Hoffnung, mit naturrechtlichen Ansätzen gewisse juristische Probleme lösen zu können 2 1 . Der bloße Hinweis auf die Existenz absoluter Naturrechtsgrundsätze bietet keine rechtspolitische Begründung des Rechts. Objektiv feststellbare oder begründbare — und nicht bloß formale — Rechtsprinzipien gibt es meines Erachtens nicht. Rein formale Prinzipien sind aber ex definitione inhaltsleer und können daher allein keine Stütze einer materiellen Gerechtigkeitskonzeption bieten. Die Existenz apriorischer Rechtsprinzipien oder die Naturgegebenheit von absoluten Rechtsgrundsätzen ist nicht beweisbar; ein Beweis dafür, was i m naturrechtlichen Sinne sein sollte, kann nicht gegeben werden: was man als de-lege-ferenda-gesollt begründet, ist allemal nur das, was man als gerecht wähnt. Für die Begründung rechtspolitischer Meinungen bleibt jedenfalls nicht mehr übrig als die Existenz von Gerechtigkeitsüberzeugungen, mögen diese als angebliche Naturrechtsgrundsätze oder als wohlerwogene Stellungnahmen zustande gekommen sein. Die Existenz des Naturrechts zur Begründung der Geltung des Rechts vorauszusetzen, halte ich für überflüssig, denn es genügt die Feststel20
J. Rawls , Eine Theorie der Gerechtigkeit, F r a n k f u r t / M . 1975. Ich b i n m i r dessen bewußt, daß die S t r u k t u r solcher Argumentationen u n d deren methodologischen Voraussetzungen eingehend untersucht werden müssen, doch k a n n ich dies i m Rahmen dieser Studie nicht durchführen. 21 Insbesondere die Frage nach der Beziehung zwischen Recht u n d Macht, die erwartete Hilfe für die Entscheidungspraxis u n d die De-lege-ferendaArgumentation; vgl. O. Weinberger, Jenseits v o n Naturrecht und Rechtspositivismus, in: A k t e n des Weltkongresses der IVR, Basel 1979, i n Druck.
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lung, daß Recht als soziale Realität vorhanden ist und den Rahmen des menschlichen Lebens als eines Zoon politikon bildet. Man kann zwar anthropologisch begründen, daß das Recht immer gewisse Funktionen zu erfüllen hat 2 2 , doch gewinnt man hierdurch kaum brauchbare Argumente, die als materiale Filter möglichen Rechts verwendet werden könnten. Es scheint m i r auch nicht berechtigt, Moral als Wertungskriterium des richtigen Rechts heranzuziehen. I n einer Gesellschaft, in der die Differenzierung der normativen Regulative institutionalisiert ist, besteht zwar eine gewisse Parallelität und ein Zusammenspiel zwischen Recht und Moral, das soziologisch wichtig ist, doch ist der Gegenstand von Recht und Moral prinzipiell verschieden, so daß sich diese beiden normativen Systeme zwar gegenseitig berücksichtigen und stützen, nicht aber begründen. Es ist wichtig zu beachten, daß die Maßstäbe von Recht und Moral verschieden sind. Es gibt viele Fälle, in denen der Maßstab der Moral wesentlich strenger ist als der Maßstab des Rechts. Es ist für die Technik der Lenkung der Gesellschaft meines Erachtens wichtig, nicht alles was Inhalt moralischer Postulate ist, zum Gegenstand rechtlicher Regelung zu machen; dieser Unterschied ist deswegen erforderlich, weil nicht alles judiziabel ist, und deswegen, weil die moralische Persönlichkeit — individuell verschieden — auf gewissen Gebieten ihres Handelns sich selbst besondere Pflichten auferlegt, die nicht durch rechtliches Müssen begründet sein soll. Die Moral gibt eine Antwort auf die Frage: Wie soll ich handeln? Sie ist mit dem Ethos des einzelnen in Beziehung zu den Mitmenschen befaßt. Das Recht konstituiert dagegen gesellschaftliche Institutionen und gewisse Rollenmuster, die als Institutionen Gerechtigkeitsbewertungen unterworfen werden. Die Moral kann daher sehr gut auf dem Postulat „Liebe Deinen Nächsten" aufgebaut werden, rechtliche Institutionen können nach diesem Wertungsprinzip kaum als gerecht oder ungerecht beurteilt werden. Außerdem gibt es in einer komplexen Gesellschaft eine Vielzahl von Moralauffassungen, die sehr wohl im Rahmen eines gesellschaftlichen Rechtssystems bestehen können; die divergente Menge von Moralstandards kann jedoch nicht zur Rechtfertigung des Rechts herangezogen werden. 22 Vgl. Harts „Minimalgehalt an Naturrecht", was jedocn meiner Meinung nach k e i n echtes Naturrecht ist; vgl. O. Weinberger, Über schwache N a t u r rechtslehren, in: Jus humanitatis, FS für A . Verdross zum 90. Geburtstag, Berlin 1980, S. 321 - 339.
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Manche Autoren meinen, die Verbindlichkeit der Rechtspflichten moralisch begründen zu müssen. Ich halte dies für verkehrt, denn jedes gesellschaftlich institutionalisierte Normensystem — also auch das Recht — statuiert Pflichten, ein Sollen, das aufgrund dieses Regulativs erfüllt werden muß. Eine moralische Rechtfertigung des Rechts ist also nicht nur überflüssig, sondern sie verschleiert auch den moralischen Sachverhalt, daß der einzelne für die A r t und Weise, wie er sich dem Recht gegenüber verhält, moralisch verantwortlich ist — unter Umständen auch i n der Weise, daß er moralisch verpflichtet sein kann, entartetes Recht nicht zu erfüllen. 9. Demokratische Weltanschauung und Gerechtigkeitstheorie Da die Gerechtigkeitsanalysen von gewissen Überzeugungen als Voraussetzung jeder Argumentation ausgehen müssen, ist es naheliegend, die Frage zu stellen, welche Argumente die demokratische Weltanschauung für Gerechtigkeitsüberlegungen anbieten kann. Demokratie umfaßt: (a) Formen der gesellschaftlichen Willensbildung, (b) ein offenes System von Werteinstellungen, Lebensgewohnheiten und Idealen. I n erster Annäherung lassen sich — entsprechend den beiden Elementen der Demokratie — zwei Typen von Gerechtigkeitsargumenten aus dem Bereich der Demokratietheorie unterscheiden: (i) strukturelle und (ii) materielle. Die Strukturtheorie sagt uns, daß eine Gemeinschaft nur mittels gewisser Organe ihren Willen äußern und handeln kann. Die Organe können verschieden strukturiert sein — als Organ kann ein einzelner Mensch oder ein Kollegium auftreten —, und die Willensäußerung des Organs, die als Wille der Gemeinschaft zugerechnet wird, ist keine biologisch gegebene Funktion (wie dies vielleicht bei den Bienen der Fall ist), sondern sie w i r d normativ als Rolle konstituiert. Wenn ein Kollegium als Organ auftritt, handelt es sich gewöhnlich u m eine Untergruppe der Gemeinschaft, die i m Grenzfall die ganze Klasse der Gemeinschaftsmitglieder umfassen kann. Jede kollektive Willensbildung hängt von normativen Bestimmungen ab, welche die Form der Willensbildung determinieren und indirekt den Inhalt des kollektiven Willens beeinflussen 23 . 23 O. Weinberger, Abstimmungslogik u n d Demokratie, in: Reformen des Rechts, hrsg. v o n R. Novak, G. Wesener, H. Wünsch, B. Sutter, Graz 1979, S. 605 - 623.
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Die Demokratietheorie (auch Kelsen) vertritt oft die Meinung, daß es zwei Idealtypen der Willensbildung einer Gemeinschaft gibt: die W i l lensbildung nach dem autokratischen Prinzip, demgemäß ein Mensch für die Gemeinschaft bestimmt und handelt (soziologisch gesehen: aufgrund irgendeines Prinzips der Identifikation), oder daß die Mitglieder der Gemeinschaft selbst in einem besonderen Verfahren, insbesondere mittels repräsentativer kollektiver Vertretungsorgane, den kollektiven Willen erzeugen — das demokratische Prinzip. Ich bin der Meinung, daß diese Auffassung eine unzulässige Simplifizierung darstellt. Es gibt in Wirklichkeit eine viel breitere Palette von Möglichkeiten, die durch diese Idealtypisierung nicht erfaßt wird. Wenn man die kollegiale Willensbildung als Willensbildung nach dem demokratischen Prinzip bezeichnet, w i r d implizit vorausgesetzt und suggeriert, daß andere Entscheidungsformen, insbesondere Entscheidungen, die durch eine Person wahrgenommen werden, eigentlich undemokratisch seien. Es ist in der Demokratie durchaus nicht immer ein Mangel oder ein notwendiges Übel, wenn gewisse Akte von einer Person i m Namen der Gemeinschaft durchgeführt werden, und zwar auch dann nicht, wenn es sich nicht bloß um festlich-demonstrative Akte oder Akte aufgrund einer einfachen vorbestimmten Subsumtion handelt. Es ist auch nicht notwendig, daß jedes Mitglied der Gemeinschaft bei jeder Entscheidung m i t w i r k e n muß. Bei monokratischen Entscheidungen ist vom demokratischen Standpunkt zweierlei relevant: 1. die Frage, ob die Entscheidung vom gemeinschaftlichen Ziel geleitet wird, und 2. das Problem der demokratischen Kontrolle der monokratischen Akte. Man vertritt häufig die Meinung, daß nur die direkte Demokratie eine ideale Demokratie sei, und daß die indirekte Demokratie nur einen notdürftigen Ersatz darstelle, der nur deswegen akzeptiert werden müsse, weil eine direkte Demokratie i m gesamten Bereich des Entscheidens für große staatliche Gemeinschaften nicht praktikabel sei. Auch diese Auffassung halte ich für problematisch, weil ich einfach nicht daran glaube, daß nur die allgemeine Mitsprache i n allen Punkten des gesellschaftlichen Entscheidens demokratisch sei, und weil ich unter anderem aus informationstheoretischen Gründen eine differenziert strukturierte demokratische Entscheidungsform für adäquater und effizienter erachte. Ich halte es für angemessen, die demokratischen Organe für verschiedene Tätigkeitsbereiche und Funktionen verschieden zu strukturieren. Dabei sollte man weniger von einem einheitlichen Formideal
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der Entscheidungsweise ausgehen als vielmehr je nach den einzelnen Funktionen, die durch den Entscheidungsapparat realisiert werden sollen, angemessene Entscheidungsorgane schaffen. Das Lenkungssystem muß für jede gesellschaftliche Aufgabe sowohl vom Standpunkt der Effizienz als auch vom Standpunkt der demokratischen Postulate — insbesondere der Postulate der Rechtmäßigkeit, der Selbstlenkung und Freiheit, sowie anderer Ideale der Demokratie — gewertet werden. Die Einschaltung geeigneter Kontrollmechanismen ist hierbei gleichzeitig eine Forderung der Lenkungstheorie überhaupt, wie der demokratischen Auffassung. Wenn man die Rolle der Organe bzw. der Organwalter in soziologischer und nicht nur i n normologischer Beziehung betrachtet — für einen Vertreter des institutionalistischen Positivismus ist dies sicherlich naheliegend —, ergeben sich politologisch sehr wichtige Perspektiven. Der Funktionär hat eine Doppelstellung: er handelt als Organ i m Sinne des Zielsystems jener Gemeinschaft oder Körperschaft, deren Organ er ist; er bleibt aber selbst auch Persönlichkeit, die eigene Interessen verfolgt, welche — wenigstens in gewissen Momenten — durch ein unterschiedliches Zielsystem bestimmt sind. Der Mensch ist durchaus fähig, eine solche Doppelfunktion i m wesentlichen einwandfrei zu erfüllen. Dennoch gibt es hier politisch wichtige Probleme. Der als Organ tätige Funktionär gewinnt z. B. Informationen, die ihm auch für sein persönliches Handeln zur Verfügung stehen. Dies bedeutet nicht nur einen praktischen Vorteil, sondern kann auch zu gesellschaftlich problematischem Mißbrauch führen, z. B. als Basis für Börsenoperationen. Funktionen bedeuten Prestige, soziale Positionen, und bieten Möglichkeiten, Sondervorteile zu nützen. Wenn man bedenkt, daß jede Arbeitsstellung und jedes Element der Lebensform (etwa die Tätigkeit i n einem Sportklub) Relationen erzeugt, die unter Umständen vorteilhaft sein können, so erscheint diese Auswirkung politischer Rollen nicht als echte Gefährdung für eine demokratische Organisation. Die Möglichkeit ähnlicher Sonderstellungen und Vorteile dürfte i n anderen Systemen noch bedeutender sein. Dort jedoch, wo ökonomisch sehr relevante Entscheidungen getroffen werden (z. B. Konzessionen, Baubewilligungen, große Lieferverträge u. ä.), besteht offenbar eine ernste Gefahr von Fehlfunktionen und auch von delikthaften Praktiken. Es scheint mir, daß hier echte Gefahren für das Funktionieren eines demokratischen Systemes bestehen, wenn dieses System i m breiten Ausmaß sozial regulierende und w i r t schaftlich relevante Lenkungsfunktionen erfüllt. (Auch i m Bereich der reinen Privatwirtschaft gibt es analoge Probleme, wenn auch hier der ökonomische Konkurrenzdruck eher einschränkender w i r k t als im
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Bereich von Wirtschaftsentscheidungen, die i m öffentlichen Sektor von Beamten oder Politikern getroffen werden.) Gibt es in einer sozialen Demokratie Mittel, Störfaktoren dieser A r t auszuschließen oder wenigstens einzuschränken? Kontrollmechanismen sind zweifellos notwendig, doch meines Erachtens nur teilweise w i r k sam. I n erster Linie ist es notwendig, funktionsfähige Organisationsformen für diese A r t des Entscheidens i m Rahmen der demokratischen Gesellschaft einzuführen. Man fordert in diesem Zusammenhang häufig eine erhöhte Verantwortlichkeit der Funktionäre; ich halte es für wichtiger, solche Strukturen einzuführen, die den bürokratischen Apparat nicht zwingen, i m breiten Ausmaß solche teure Zwischeninstanzen einzuschalten, die vor allem dazu dienen, seine eigene Verantwortlichkeit zu reduzieren. Von großer Bedeutung scheint m i r hier die Institutionalisierung einer Gesellschaftsmoral, die weniger Verständnis für die Nutzung von Positionen hat und mehr Gewicht legt auf die moralisch reine Erfüllung demokratischer Funktionen und die jeden Mißbrauch gemeinschaftlicher Rollen zu persönlichen Nutzen ächtet. Diese demokratische Moral kann nur dann wirksam sein, wenn sie in unserem Bewußtsein in gleichem Maße bei kleinen wie bei großen Dingen besteht. Für kollektive Willensentscheidungen ist das Majoritätsprinzip wesentlich. Man sieht in ihm oft ein Prinzip, welches mit der Idee der Demokratie wesenhaft verbunden ist. Manche Autoren versuchen es zu rechtfertigen. Auch Kelsen versucht, eine solche Begründung des Majoritätsprinzips zu geben: es sei durch die Tatsache gerechtfertigt, daß es die Freiheitseinschränkung minimiert. Ich bin nicht davon überzeugt, daß diese Begründung zutrifft, bzw. daß ihre ein großes Gewicht zukommt. Das Ausmaß der Freiheitsbeschränkung durch Entscheidungen ist abhängig von dem akzeptierten Inhalt der Entscheidung, so daß die bloße Tatsache, daß bei weniger als der Hälfte der Betroffenen ein Abweichen von ihrem Wunschoptimum eintrifft, nicht notwendigerweise eine Minimierung der Freiheitsbeschränkungen bedeutet. Wenn w i r uns z. B. vorstellen, daß die Abstimmung drei Lösungsalternativen umfaßt, wobei jeder Teilnehmer eine Präferenzreihung dieser Alternativen vornimmt, dann bedeutet die Tatsache, daß über 50 Prozent der Teilnehmer für die Alternative 1 gestimmt hat, keineswegs immer die geringste Willenseinschränkung für alle Teilnehmer. Es könnte doch so sein, daß diese Alternative bei allen anderen an letzter Stelle rangieren würde, während die Alternative 2 von den übrigen vorgezogen würde und bei jenen, die für die Alternative 1 gestimmt haben, an zweiter Stelle der Präferenzordnung stehen würde.
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Ich behaupte, daß das Majoritätsprinzip ein Wesenszug jeglicher Abstimmung ist, daß es keinen Sinn hat, von Abstimmung zu sprechen, wenn man nicht im Grunde ein Majoritätsprinzip akzeptiert. Abstimmen zu lassen, um dann die Minoritätsalternative zum Handlungsmaßstab zu nehmen, wäre unsinnig. (Würde man tatsächlich so eine Festsetzung treffen, hätte das zur Folge, daß jene, die für eine Alternative sind, gegen diese stimmen würden.) Die Auswirkung des Majoritätsprinzips kann allerdings in verschiedener Weise modifiziert werden: es kann ein Quorum statuiert werden, es kann für die Willensbildung bzw. für die Willensänderung eine höhere Zustimmungszahl als die einfache Mehrheit oder sogar die Zustimmung aller Mitglieder gefordert werden. Das heißt i m wesentlichen: es kann die Auswirkung der Abstimmung an eine qualifizierte Mehrheit gebunden werden; u. a.; es kann aber, wenn man überhaupt abstimmen w i l l , das Majoritätsprinzip nicht aufgegeben werden. Es ist wohl allen Demokratietheoretikern aufgefallen, daß das Majoritätsprinzip unter gewissen Umständen zu Ergebnissen führen kann, die dem Geist der Demokratie widersprechen; es lassen sich außerdem Beispiele aus der Geschichte anführen, daß Majoritätsentscheidungen auch zur Vernichtung der Demokratie benützt werden können (z. B. die Wahl eines Diktators). Es liegt daher die Vermutung nahe, daß der Schutz gegen den „Mißbrauch" des Majoritätsprinzips für die Demokratie als Lebensform ebenso wichtig ist wie die kollektive Willensbildung nach diesem Prinzip. Versuche, gewisse inhaltliche Prinzipien der Demokratie und einen Schutz der Minderheiten dadurch zu erreichen, gewissen Bereichen die Willensänderung erschwert — z. B. fizierte Mehrheiten —, ist i n Wirklichkeit gerade i n den Situationen kein sehr effektives Mittel.
festzusetzen daß man i n durch qualigefährlichen
Wichtiger erscheint mir, sich klar zu machen, daß Abstimmungen nur in Verbindung mit demokratischen Formen und Grundsätzen eine demokratische Lebensform konstituieren können. Der Prozeß der Meinungsbildung ist wenigstens ebenso wichtig, wie die freie Abstimmung; eine Demokratie ohne Achtung der Interessen der Mitmenschen, ohne Schutz der Minderheiten, ohne Information und Meinungsfreiheit und ohne K u l t u r des Meinungsstreits, ist ebenso unmöglich, wie es zum Begriff der Volkssouveränität gehört, daß ein unveräußerliches Recht auf Meinungsänderung, und daher auf Periodizität der kollektiven Willensbildung, notwendig ist. Schon die Betrachtung der formalen Strukturen der demokratischen Prozesse überzeugt uns davon, daß zur Erhaltung der Lebensfähigkeit
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der Demokratie die Beachtung gewisser inhaltlicher Ideale unabdingbar ist. Welches sind nun die inhaltlichen Ideale der Demokratie, und was leisten sie i m Rahmen der Gerechtigkeitsüberlegungen? Gibt es ein Ideal der Demokratie oder eine Mehrheit von sich ergänzenden Ideen? Ich bin der Meinung, daß das demokratische Weltbild sich nicht auf eine einzige Idee reduzieren läßt, sondern daß diese Lebensform durch einen Komplex von Idealen konstituiert wird. Ich möchte es hier nicht versuchen, eine Liste von grundlegenden Idealen vorzulegen und die Gewichtung der Ideale zu diskutieren. Einige kurze Hinweise mögen genügen. Sicher ist die Idee der Selbstbestimmung und Freiheit fundamental, aber ebenso wichtig erscheinen m i r der Wille zum friedlichen Zusammenleben, die Toleranz, die verbunden ist mit der Überzeugung, daß es möglich ist, i n Frieden und Freundschaft mit Menschen anderer Einstellung, anderer Sprache und anderen Glaubens zusammenzuleben, die Anerkennung der Notwendigkeit, den Schwachen zu schützen und Minderheiten Schutz zu gewähren, die prinzipielle Bereitschaft zur verständnisvollen Diskussion und die Bereitschaft, konsensfähige Kompromißlösungen zu suchen. Zu den Ideen der Demokratie gehört die Auffassung, daß Macht nur in ihrer sozialen Funktion berechtigt ist, daß sie beschränkt sein muß und der Kontrolle unterliegt. Die demokratischen Ideen spielen natürlich i n Gerechtigkeitsüberlegungen die Rolle von Wertkriterien. Sie führen zu jener Konzeption, die die Gerechtigkeitsanalyse als suchende und abwägende Deliberation auffaßt 24 . Zur Charakteristik dieser Deliberation ist es wichtig festzustellen, daß auch die Anerkennung der gleichen — oder wenigstens sprachlich gleich bezeichneten — Grundideen keineswegs bedeutet, daß hierdurch allein schon Konsens erreicht wird. I m Gegenteil, die akzeptierten Ideen bieten nur Gesichtspunkte und drücken Tendenzen aus, erfordern aber überall dort, wo man zu Entscheidungen gelangen w i l l , Wertabwägungen und Kompromisse als Mittel der Konsensbildung.
24
Vgl. A D G .
Verzeichnis der Mitarbeiter
Achterberg, Norbert, Univ. Prof. Dr., I n s t i t u t für Öffentliches Recht und Politik, Universität Münster, Universitätsstraße 14 - 16, D-4400 Münster Adomeit, Klaus, Univ. Prof. Dr., I n s t i t u t für Grundlagen u n d Grenzgebiete des Rechts, Freie Universität Berlin, Boltzmannstraße 3, D-1000 B e r l i n 33 Fischer, Michael W., Univ. Prof. DDr., I n s t i t u t für Rechtsphilosophie, Methodologie der Rechtswissenschaften u n d Allgemeine Staatslehre, Universität Salzburg, Franziskanergasse 2, A-5020 Salzburg Flechtheim,
Ossip K., em. Univ. Prof. Dr., Rohlfsstraße 18, D-1000 B e r l i n 33
Grimm, Dieter, Univ. Prof. Dr., Fakultät für Rechtswissenschaft, Universität Bielefeld, Postfach 8640, D-4800 Bielefeld 1 Jabloner, Clemens, Dr., Oberkommissär i m Bundeskanzleramt, gasse 20/15, A-1040 W i e n
Heumühl-
Koller, Peter, DDr., I n s t i t u t für Rechtsphilosophie, Karl-Franzens-Universität Graz, Universitätsstraße 27, A-8010 Graz Krawietz, Werner, Univ. Prof. Dr. Dr., Lehrstuhl für Rechtssoziologie, Rechts- und Sozialphilosophie, Direktor des Zentralinstituts für Raumplanung an der Universität Münster, Universität Münster, Bispinghof 24/25, D-4400 Münster Kubes, V l a d i m i r , Univ. Prof. Dr., Mercova 7, 61200 Brno, CSSR Lachmayer,
Friedrich, Dr., Tigergasse 12/12, A-1080 Wien
Leser, Norbert, Univ. Prof. Dr., I n s t i t u t für Philosophie, Universität Wien, Universitätsstraße 7 / I I , A-1010 Wien Manti, Wolfgang, Univ. Prof. Dr., I n s t i t u t für Öffentliches Recht, P o l i t i k wissenschaft und Verwaltungslehre, Karl-Franzens-Universität Graz, Elisabethstraße 27, A-8010 Graz Mayer-Maly, Theo, Univ. Prof. Dr., I n s t i t u t für Römisches Recht, Juristische Dogmengeschichte u n d Allgemeine Privatrechtsdogmatik, Universität Salzburg, Weiserstraße 22, A-5020 Salzburg Mock, Erhard, Univ. Prof. Dr., I n s t i t u t für Rechtsphilosophie, Methodologie der Rechtswissenschaften u n d Allgemeine Staatslehre, Universität Salzburg, Franziskanergasse 2, A-5020 Salzburg Mozetiö, Gerald, Dr., I n s t i t u t für Soziologie, Graz, Mariengasse 24/11, A-8020 Graz
Karl-Franzens-Universität
Öhlinger, Theo, U n i v . Prof. Dr., I n s t i t u t für Staats- u n d Verwaltungsrecht, Universität Wien, Freyung 6, A-1010 Wien Opalek, Kazimierz, Univ. Prof. Dr., ul. Mazowiecka 2/3, P-30-036 K r a k ó w , Polen
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Verzeichnis der Mitarbeiter
Prisching, Manfred, Mag. Dr., I n s t i t u t für Soziologie, Karl-Franzens-Universität Graz, Mariengasse 24/11, A-8020 Graz Reisinger, Leo, Prof. DDr., Fachbereich Wirtschafts- u n d Organisationswissenschaften, Hochschule der Bundeswehr, Werner Heisenberg Weg 39, D-8014 Neubiberg Römer, Peter, Univ. Prof. Dr., Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Philipps-Universität Marburg, Krummbogen 28 G, D-355 M a r b u r g / L a h n Schäffer, Heinz, Univ. Prof. Dr., I n s t i t u t für Verfassungs- u n d Verwaltungsrecht, Universität Salzburg, Weiserstraße 22, A-5020 Salzburg Strasser, Peter, Univ. Doz. Dr., I n s t i t u t für Rechtsphilosophie, Franzens-Universität Graz, Universitätsstraße 27, A-8010 Graz
Karl-
Tammelo, l i m a r , Univ. Prof. Dr., I n s t i t u t für Rechtsphilosophie, Methodologie der Rechtswissenschaften u n d Allgemeine Staatslehre, Universität Salzburg, Franziskanergasse 2, A-5020 Salzburg Topitsch, Ernst, Univ. Prof. Dr., I n s t i t u t für Philosophie, Universität Graz, Heinrichstraße 26, A-8010 Graz
Karl-Franzens-
Walter , Robert, U n i v . Prof. DDr., I n s t i t u t für Staats- u n d Verwaltungsrecht, Universität Wien, D r . - K a r l - L u e g e r - R i n g 1, A-1010 W i e n Weimar, Robert, Prof. Dr. Dr., I n s t i t u t für Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsgesetzgebung, Universität Siegen, Postfach 10 03 18, D-5900 Siegen 1 Weinberger, Ota, Univ. Prof. DDr., I n s t i t u t für Rechtsphilosophie, Franzens-Universität Graz, Universitätsstraße 27, A-8010 Graz
Karl-
Wielinger, Gerhart, Univ. Doz. Hofrat Dr., I n s t i t u t für öffentliches Recht, Politikwissenschaft und Verwaltungslehre, Karl-Franzeris-Universität Graz, Elisabethstraße 27, A-8010 Graz Wróblewski, Jerzy, Univ. Prof. Dr., Collegium Juridicum, Lodzki, Narutowicza 59 a, P-90-131 Lódzki, Polen
Uniwersytet