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German Pages 303 Year 2004
Schriften zur Rechtstheorie Heft 218
Subjektive Rechte und personale Identität Die Anwendung subjektiver Rechte bei Immanuel Kant, Carl Schmitt, Hans Kelsen und Hermann Heller
Von Marc Schütze
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
MARC SCHÜTZE
Subjektive Rechte und personale Identität
Schriften zur Rechtstheorie Heft 218
Subjektive Rechte und personale Identität Die Anwendung subjektiver Rechte bei Immanuel Kant, Carl Schmitt, Hans Kelsen und Hermann Heller
Von Marc Schütze
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
D 16 Alle Rechte vorbehalten # 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-11094-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist die geringfügig überarbeitete Fassung einer Arbeit, die im Sommer 2002 von der Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Dissertation angenommen wurde. Ganz ausdrücklich möchte ich mich bei Herrn Professor Dr. Winfried Brugger bedanken, der mir die Gelegenheit gab, das Projekt dieser Arbeit zu verfolgen. Zunächst hat er mir erheblichen Freiraum während meiner Tätigkeit an seinem Lehrstuhl gelassen und auch später, als ich bereits als Rechtsanwalt gearbeitet habe, niemals gedrängt, mich aber doch immer wieder an die Fertigstellung erinnert. Dank sei an dieser Stelle auch dem Zweitkorrektor, Herrn Professor Dr. Stefan Huster ausgesprochen. Die Arbeit hätte ich niemals ohne die kritischen Anstöße meines Freundes Dr. habil. Peter König fertig gestellt, der immer ein offenes Ohr hatte; ihm sei ausdrücklich gedankt. Auch bei meinen anderen Freunden, deren Ideen oder Unterstützung, aber besonders für ihre Ablenkung bedanke ich mich. Ohne das gewissenhafte Korrekturlesen und die Formatierungshilfe durch Ingrid Baumbusch, Dr. Thorsten Christen und meiner Freundin Isabel von Haehling hätte ich die Arbeit in dieser Weise nie vollenden können. Dank schließlich an meine liebe Tochter Johanna, die viel Geduld aufzubringen hatte. Gewidmet ist diese Arbeit meinen Eltern, die mein Doppelstudium und schließlich diese Arbeit in jeder Hinsicht zuverlässig und großzügig unterstützten. Düsseldorf, im Mai 2003
Marc Schütze
Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Einleitung I. Zielsetzung und Problemaufriß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Zuordnung von Recht und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Identität als neues Zuordnungskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Recht als Handlungssystem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Stellenwert des Individuums für Recht und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Untersuchungsgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11 11 13 16 23 27 29 30
Kapitel 2 Historische Vergegenwärtigung: Kants ursprüngliche Idee – Recht, Moral und Identität bei Immanuel Kant I. Das subjektive Recht bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Exkurs: Eine analytische Strukturtheorie von subjektiven Rechten . . . . . . . . . . . . . . a) Das Recht auf etwas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Recht auf Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Unbewehrte Freiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Bewehrte Freiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das subjektive Recht als Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das subjektive Recht als Bündel von Positionen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Struktur des subjektiven Rechts bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Recht auf etwas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Begründung von objektivem Recht und subjektiven Rechten . . . . . . . . (a) Die transzendentale Methode im Bereich des Praktischen . . . . . . . . . . . (b) Das Faktum der Sittlichkeit: Es gibt verbindliche Handlungen . . . . . . (c) Moral: Es gibt verbindliche Handlungen, die ihre Erfüllungsbedingungen von der Spontaneität des Menschen abhängig machen . . . . . . (d) Das äußere Rechtsverhältnis: Es gibt verbindliche Handlungen, die ihre Erfüllungsbedingung nicht von der menschlichen Spontaneität abhängig machen können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Rechtspflichten führen zur Notwendigkeit von Zwang und subjektiven Rechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Der Modus des Rechts auf etwas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Sind Rechtspflichten Gebote des Adressaten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35 35 36 38 39 40 41 42 43 43 44 46 47 51 52
54 57 61 61
8
Inhaltsverzeichnis (b) Entspricht der Rechtspflicht des Adressaten eine Rechtspflicht auf seiten des Rechtsträgers? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Kann die Rechtsdurchsetzung verboten sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Ist das subjektive Recht eine Erlaubnis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Recht auf Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Ein Recht ohne äußere Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Das Freiheitsrecht als „Dürfensnorm“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Das Freiheitsrecht als Recht zu unmoralischem Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Das Recht auf Freiheit als bewehrtes Freiheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Exkurs: Kant als Vorbote Savignys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Bedeutung der subjektiven Rechte: Funktionaler oder normativer Status? . . . a) Die funktionale Lesart der Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die normative Lesart der Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Unterscheidung: Grund – Inhalt des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Das innere Rechtsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) „honeste vive“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) „neminem laede“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) „suum cuique tribue“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Das Strafrecht als normative Voraussetzung des Rechtsverzichts . . . . . . . . c) Zwischenergebnis: Das Recht als inneres und äußeres Rechtsverhältnis . . . . . 4. Regeln und Prinzipien: Die Begründung und Anwendung der subjektiven Rechte im positiven Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Begründungsverfahren des positiven Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Legeshierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die prozedurale Begründung des Rechts am Horizont des Rechts der Menschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Bestimmung der Vertragskriterien und des allgemein vereinigten Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Die Bestimmung der positiven Rechtskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Die Willensbildung des Gemeinwesens: Das Zwei-Stufen-Modell . . (d) Die Rolle des Subjekts bei der Begründung des positiven Rechts . . . (e) Die Entlastung des Subjekts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (f) Die „Lehre“ der Rechtszwecke versus die „Leere“ der Rechtsuniversalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) Kollektive Zwecke als Möglichkeit, das moralische „Reich der Zwekke“ in das Recht zu transformieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (h) Die Selbsterhaltung des Staates als Kompetenztitel zur Begründung von Rechtspflichten – Soziale Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (i) Die Aufteilung der Autonomie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Rechtsanwendung im positiven Recht: Die Verbindlichkeit eines subjektiven Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Entscheidungssituationen: Recht als Regel- oder Prinzipienmodell? . . . . (2) Die Perspektiven der Rechtsüberprüfung: extern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Die Perspektiven der Rechtsüberprüfung: intern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Rechtsanwendung im positiven Recht durch das einzelne Subjekt . . . . . . .
64 66 68 70 70 72 77 79 80 81 83 87 89 89 92 92 96 97 99 102 106 107 109 111 112 116 118 122 123 125 130 133 136 139 140 141 149 153 158
Inhaltsverzeichnis II. Recht und Selbstachtung: Transzendentale Einheit im Bereich des Praktischen . . . . 1. Der Begriff der Achtung und das Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Formen der Achtung: Respekt und Reverenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Entstehen der Selbstachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Zusammenhang von Recht und Selbstachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Setzt der Glaube an die eigenen Rechte das Haben von Rechten voraus? (2) Selbstachtung als Triebfeder für die moralische Inanspruchnahme von Rechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Selbstachtung und die Bedeutung des Umgangs mit Rechten für die Individuen: Bewußtsein der Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Bedingungen qualitativer Ich-Identität: Selbstbezüglichkeit . . . . . (b) Theoretisches Selbstbewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Praktisches Selbstbewußtsein: „Identität des Wollens“ . . . . . . . . . . . . . . . (4) Exkurs: Die Dynamik des sinnlichen Vernunftmenschen – Schuld . . . . . . . 2. Recht, Achtung und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Beispiel des „Shylock“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Sichtweise Iherings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Sichtweise Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Exkurs: Rechtsverzicht – Konstitutiv für die Willens- oder Interessentheorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zwischenbetrachtung: Die Einheit durch Prinzipien, oder: Achtung als Gefühl der Vergewisserung der eigenen Identität vor einem moralischen und rechtlichen Horizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9 160 160 163 168 171 171 177 179 180 180 182 191 195 195 195 199 207
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Kapitel 3 Systematische Aktualisierung: Kant individualistisch, überindividualistisch und transpersonalistisch interpretiert I. Begriffliche Einführung: Die antinomische Trias von Radbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gustav Radbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Begriffliche Neuausrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „Individualistisch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Überindividualistisch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) „Transpersonalistisch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Carl Schmitt: Der Mensch als Funktion „homo iuridicus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Methode: Recht und Moral als zwei unüberbrückbare Sollenssphären . . . . . . . . . . . 2. Die Identität im Recht als Kriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Hans Kelsen: Verantwortung ohne Horizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Methode: Recht ist nicht vorgegeben, sondern aufgegeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Grundnorm als Voraussetzung der Einheit der Rechtsordnung und nicht des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Identität nach Kelsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die dezisionistische Identität nach Kelsen als Vorbote der postmodernen Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Hermann Heller: Einheit in der Vielheit oder „in die Mitte hindurch“ . . . . . . . . . . . . . .
215 215 215 216 216 217 217 218 220 227 232 232 241 243 249 256
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Inhaltsverzeichnis 1. Methode: In der Dialektik die Einheit finden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Recht als Oszillation zwischen Rechtsgrundsätzen und Rechtssätzen . . . . . . . . . . . . a) Die Rechtsidee als Integrationsquelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsanwendung als persönliche Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Identität: Der Mensch ist (als Persönlichkeit) aufgegeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
257 262 263 265 270
Kapitel 4 Ergebnis und Ausblick
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I. Ergebnis der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 II. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
Kapitel 1
Einleitung I. Zielsetzung und Problemaufriß Ein Großteil der gegenwärtigen rechtsphilosophischen Diskussion, in der die Zuordnung von Recht und Moral thematisiert wird, beschäftigt sich mit der Begründung von subjektiven Rechten und damit mit der Frage, über welche subjektiven Rechte ein Rechtssystem verfügen sollte? 1 Das Interesse der vorliegenden Arbeit gilt weniger der Begründung von subjektiven Rechten als ihrer Anwendung durch den Rechtsträger. 2 Die Begründung soll nur insoweit untersucht werden, als für die Anwendung der Rechte geklärt werden muß, welche Verbindlichkeit von dem einzelnen Recht ausgeht, nicht jedoch welche Rechte eine Rechtsordnung haben sollte. Hintergrund dieser Untersuchungsperspektive ist die Annahme, daß die großen Rechtssysteme abendländischen Zuschnitts im großen und ganzen über eine gerechte Ausstattung mit subjektiven Rechten verfügen. Das Problem der westlichen, entwickelten Industrieländer liegt m. E. vielmehr in der Anwendung der subjektiven Rechte durch die individuellen Rechtsträger. 3 Egoismus, Abbau moralischer Werte, Werteverlust, damit einhergehend ein Verlust von Nachgiebigkeit und Rechtsbeharren, aber auch Hilflosigkeit und Überforderung des Einzelnen sind die Erscheinungen dieser kulturellen Entwicklungsstufe. Sie führen zu Gerichtsüberlastungen einerseits 4 und zum faktischen Außerkrafttreten der Rechtsordnung andererseits.5 Streitigkeiten sollen von Gerichten gelöst werden, die aber oft nur – von den Betei1 Vgl. bspw. Honneth (1992: 228). Der amerikanische Strafrechtler Lloyd L. Weinreb spricht von der „ontologischen Relevanz“ subjektiver Rechte, die die objektive Realität unserer moralischen Erfahrung von Verantwortung verbürgen würden; dazu ausführlich König (1996 a: 238 ff.). Vgl. auch die Aufsätze in dem Sammelband von Schwartländer (1981 b), die den Zusammenhang von „Menschenrechten und Demokratie“ diskutieren und insbesondere auf die rechtlich notwendige Ausgestaltung eines Rechtssystems hinweisen, das auf der Menschenwürde aufzubauen vorgibt. 2 Die Wichtigkeit der Frage der Anwendung positivierter Rechte zeigt etwa auch Honneth (1994 a: 90) auf. Vgl. auch Brugger, der anhand von Max Weber die „Verantwortungsstruktur eines jeden Rechts“ herausarbeitet (1981 b: 240). 3 Die Verantwortlichkeit der autonomen Person betont auch Ladwig (2000) in seiner neueren, an den Theorien von Rawls und Dworkin angelehnten, Untersuchung. 4 Vgl. etwa die Ausführungen bei Deggau (1989) und Teubner (1984). 5 Aus diesem Grunde beschäftigen sich bspw. zahlreiche Autoren mit „Alternativen Rechtsformen und Alternativen zum Recht“ in dem gleichnamigen Sammelband, hrsg. v. Blankenburg/Klausa/Rottleuthner (1980).
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Kap. 1: Einleitung
ligten als unzureichend empfundene – Lösungen anbieten, die keine Gewähr für einen endgültigen Rechtsfrieden geben können. Abhilfe wird hier auf der Anwendungsebene von Rechten gesucht: Mediationsverfahren und Einigungsgespräche als Vorbedingung jeglicher Rechtsverhandlung sollen bspw. dazu führen, auf einer konsensualen Basis eine Lösung zu finden, anstatt sich einem staatlichen Urteil zu unterwerfen. 6 Durch die Reform der Zivilprozeßordnung ist sogar die Pflicht des Richters zur „gütlichen Beilegung des Rechtsstreits“ als gleichberechtigte Richteraufgabe ausdrücklich in den Gesetzestext aufgenommen worden. 7 Auf welche unterschiedliche Weise auch immer im Rechtsstaat Lösungen gesucht werden, stets geht es um die Anwendungsebene subjektiver Rechte. In der Arbeit sollen deshalb Vorüberlegungen zu einer systematischen Theorie über die Inanspruchnahme subjektiver Rechte angestellt werden, die im Kern auf die Beantwortung der Frage hinauslaufen, ob das Haben eines subjektiven Rechts auch eine legitime moralische Handlung gewährleistet; m. a.W. besteht ein Zusammenhang zwischen dem moralischen Gehalt eines subjektiven Rechts und seiner Anwendung? 8 Wenn dies zu verneinen wäre, dann würde von einem moralischen Standpunkt aus feststehen, daß auf jeder Rechtsanwendung eine hohe moralische Verantwortung lastet. Wenn dies demgegenüber zu bejahen wäre, dann könnte dieser Zusammenhang in einem Automatismus münden. Ein solcher Automatismus könnte einerseits die moralische Anwendung verbürgen, jedoch andererseits den Einzelnen von einem reflektierten Umgang mit seinem Recht entlasten, wenn die Freiheit im Recht nicht nur als Entlastung von äußerlich erzwingbaren Pflichten, sondern als ethische Entlastung verstanden wird. Unabhängig von der Frage, ob eine solche Entlastung begrüßenswert ist, 9 müßte methodisch hierfür jedenfalls die Begründung von subjektiven Rechtspositionen und deren Verwendung in einem Zusammenhang stehen, was in der Arbeit untersucht werden soll. Zugleich soll die Arbeit dazu beitragen, die Funktion subjektiver Rechte zu erklären: Wieso bedarf das Subjekt der subjektiven Rechte? Welche Bedeutung haben subjektive Rechte für das Individuum? 6 Vgl. zu der Einführung außergerichtlicher Streitbeilegungsverfahren die Ausführungen in: Zöller (2002), Einl., Rn.43 ff. m. w. N. Vgl. bspw. aus der jüngsten Literatur auch den programmatischen Titel („Streitschlichtung im Schatten des Leviathan“) und den entsprechenden Aufsatz von Wesel (2002: 415 f.), der bei der Mediation von einer „kopernikanischen Wendung“ der Streitschlichtung spricht. 7 Neuer § 278 Abs. 1 ZPO: „Das Gericht soll in jeder Lage des Verfahrens auf eine gütliche Beilegung des Rechtstreits oder einzelner Streitpunkte bedacht sein.“, vgl. dazu Zöller (2002: Einl. Rdnr. 20; § 278, Rdnr. 1 ff.). 8 Vgl. bspw. die kritischen Bemerkungen des Deutschen Presserates zur Berichterstattung anläßlich der Geiselnahme in Jolo: „Nicht alles, was von Rechts wegen zulässig wäre, ist auch ethisch vertretbar.“ Zit. nach Blechschmidt (2000: 23). 9 Begrüßend etwa Sommer (1977: 169 f.), da sie von den Anstrengungen moralischer Selbstdisziplinierung entlaste; vgl. auch Habermas (1992: 110) und Maus (1992: 188): „Hatte Kant systematische und normative Momente verbunden, um moralische Ergebnisse zu ermöglichen, so dient heute der Hinweis auf systematische Anschlußzwänge der Entlastung von moralischer Verantwortung.“
I. Zielsetzung und Problemaufriß
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Diese Fragestellungen werden in der Arbeit weiter vertieft: Einführend werden kurz Probleme und mögliche Richtung einer solchen Theorie aufgezeigt (1), um anschließend den weiteren Untersuchungsgang festzulegen (2). Wenn aus dem Haben der legitimen Rechtsposition auf eine legitime Verwendung geschlossen werden soll, müßte zunächst Einigkeit darüber bestehen, ob legitimes Recht überhaupt begründbar ist. Das Geltungsproblem des Rechts ist eine alte und immer noch umstrittene Frage der Rechtsphilosophie über das Verhältnis von Recht und Moral. 10 1. Die Zuordnung von Recht und Moral Die Frage nach der Geltung von Recht hängt mit der Unterscheidung zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein sollte, zusammen. Wenn das Recht gilt, weil es sein soll, dann ist fraglich, was dieses Sollen ausdrückt. Diese Frage stellt sich bei Personen, die „ein Recht haben“ und für sich selbst klären wollen: Soll ich dieses Recht durchsetzen? Gibt es gar eine Pflicht, ein „Sollen“, auf diesem Recht zu beharren? Dabei ist zur Beantwortung dieser Fragen jedoch weiter zu spezifizieren, ob dieses „Sollen“ ein rechtliches oder ein moralisches Sollen ist; wie ist eine solche Unterscheidung zu verstehen? Oder muß diese Antinomie zugunsten eines Dritten aufgelöst werden? Analytisch lassen sich drei verschiedene Zuordnungsmöglichkeiten vornehmen. Erstens: Recht und Moral können in einem Unterordnungsverhältnis stehen; Moral bildet dann den Kern des positiven Rechts; es besteht somit eine Legeshierarchie: das positive Recht wird der Moral untergeordnet und empfängt von dieser seine Orientierung. Moral dient dann als Beurteilungskriterium des Rechts. Dies wird generell unter dem Stichwort Naturrecht behandelt (sog. Identitäts- oder Verbindungstheorie). Zweitens können beide Normenarten als absolut getrennt voneinander betrachtet werden (sog. Trennungstheorie). Hierunter fallen die meisten Theorien des Rechtspositivismus, die den Rechtscharakter von Gesetzen ausschließlich aus den Rechts-erzeugungsregeln ableiten und von daher einen für beliebige Rechtsinhalte offenen Rechtsbegriff behaupten. 11 Schließlich können Recht und Moral auch in einem Ergänzungsverhältnis stehen; diese „Ergänzungstheorien“ lehnen es ab, abstrakte und generelle Abgrenzungen zu treffen; statt dessen sollen sich Recht und Moral in der Anwendung ergänzen und können danach inhaltlich sogar in Teilen übereinstimmen. Hierbei ist im Auge zu behalten, daß aus der Klassifizierung zweier unterschiedlicher Normarten nicht zwangsläufig ein unterschiedlicher Normin10 Vgl. dazu bspw. die unterschiedlichen Beiträge in dem Tagungsband „Rechtspositivismus und Wertbezug des Rechts“, hrsg. von Dreier (1990). Immer noch aktuell ist der Sammelband „Naturrecht oder Rechtspositivismus“, der die unterschiedlichen, durch die Erfahrungen des „Dritten Reichs“ gesammelten Standpunkte unter den deutschen Rechtsgelehrten im Nachkriegsdeutschland versammelt hat, hrsg. von Maihofer (1962). 11 Hoerster (1979: 77 ff., insb. 79).
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halt folgen muß. 12 Erst genau bestimmte, enggeführte und eigens definierte Moralund Rechtsbegriffe könnten zu diesem Ergebnis führen. 13 Moralische Prinzipien werden von einigen Autoren in das Recht eingeführt, um Kriterien zu gewinnen, die im qualitativen Sinne der Beliebigkeit positiver Rechtssetzung in modernen Gesellschaften entgegenwirken sollen und so Recht als einen qualitativ eingeschränkten engen Begriff kennzeichnen. 14 Hiermit soll sowohl der Willkür der Gesetzesbegründung als auch der Rechtsausübung eine Schranke gesetzt werden. Der positivistische Rechtsbegriff wird demgegenüber vor allem von Vertretern des Werterelativismus 15 mit dem Argument verteidigt, daß so „die autonome Einzelmoral als Kritik- und Reflexionspotential der heteronomen Verhaltensregeln dienen“ 16 könne; d. h. den Rechten und Pflichten der positivistischen Rechtsnormen soll die moralische Entscheidung des Rechtsanwenders gegenübergestellt werden. Hierbei ist erneut zu unterscheiden, ob die moralische Reflexion allein durch subjektive oder durch (zusätzliche?) objektive Gründe angeleitet wird. Für die Zuordnung könnte nämlich die Frage nach der Begründbarkeit allgemeinverbindlicher Normen von ausschlaggebender Bedeutung sein; 17 bezogen auf die Bewertung von Handlungen kann man fragen: Gibt es ein objektives Kriterium für die Legitimität von Handlungen, 18 oder wird die Praxis der Handlungen anhand eines subjektiven Maßstabs 19 in Form einer Gesinnungsethik bewertet? Als dritter Beurteilungsmaßstab ließe sich in der Nachfolge Kants noch ein objektives Gesetz denken, welches durch subjektive Elemente ergänzt werden muß, so daß man die Kantische Unterscheidung von „legaler“ und „moralischer“ Praxis aufrechterhält.20 Der Moralbegriff 12 Anders aber wohl Ellscheid (1979: 37), der die Zuordnung inhaltlich vornimmt: „Damit ist eine Trias von Möglichkeiten der Koexistenz von rechtlichen und moralischen Normen denkbar: ihre Anforderungen an das Verhalten können inhaltlich übereinstimmen, sich gegenseitig widersprechen oder so gegeneinander abgegrenzt sein, daß sie sich auf sich nicht überschneidende Klassen von Verhaltensweisen beziehen.“ 13 Vgl. hierzu auch die Ausführungen von König (1996 a: 237 ff., insb. 237). 14 Hier wird vor allem das sog. „Hitler-Argument“ vorgebracht, dazu Ott, Der Rechtspositivismus, 2. Aufl. 1992, S. 187 ff. 15 Höffe wendet sich gegen die kategorische Verbindung des Rechtspositivismus mit dem Wertrelativismus und Wertskeptizismus (1979: 4); so auch Hoerster (1990: 31): „Es ist nicht so, (...), daß der Anhänger der rechtspositivistischen Trennungstheorie im Bereich der Moralphilosophie bzw. der Rechtsethik Wertrelativist sein müßte.“ 16 Horst Dreier (1986: 298). 17 Für die Trennungstheorie bestreitet dies explizit Hoerster (1979). 18 Wobei man auch hier noch einmal unterscheiden müßte: Objektiv-universal oder objektiv-ethnozentristisch; d.h. wie weit ist die Reichweite der Objektivität? Besteht sie nur in einem bestimmten Kontext, wie einige Kommunitarier annehmen oder ist sie ubiquitär? 19 Sehr kritisch zu einem solchen Verständnis von Moral: Tugendhat (1996: 328), der in einem solchen Fall gar nicht mehr von Moral spricht, weil die Grundlage, von der aus moralische Urteile gefällt werden können, fehlt, damit Moral quasi obsolet wird. 20 Hierbei ist zu beachten, daß man die Kantische Unterscheidung von Legalität und Moralität nicht mit der Unterscheidung von Recht und Moral verwechseln darf; vgl. etwa Höffe (1979: 4).
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soll an dieser Stelle aber nicht näher erläutert werden. Er muß jedoch bei den folgenden Ausführungen im Auge behalten werden, bietet er doch ein wichtiges, meist nicht näher thematisiertes Problemfeld. Die Zuordnung von Recht und Moral kann nur gelingen, wenn man neben dem Rechtsbegriff auch den Moralbegriff klärt. 21 In der gegenwärtigen Diskussion wird darüber hinaus erhofft, aus der Zuordnung von Recht und Moral Prinzipien für Schranken gegen die quantitative Zunahme von Recht in der steigenden Verrechtlichung aller gesellschaftlichen Prozesse zu gewinnen. Dabei versprechen sich Vertreter der Verbindungstheorie, aus der moralischen Qualifizierung einen eingeschränkten Rechtsbegriff zu gewinnen, der gesellschaftliche Zusammenhänge gegen den Zugriff staatlich gesetzten Rechts absichert. 22 Einerseits soll die Aufnahme zusätzlicher materieller subjektiver Rechte in das Rechtssystem die Autonomie des Subjekts stärken und damit eine größere moralische Verantwortlichkeit in sozialen Beziehungen ermöglichen, 23 andererseits sieht man in der Verrechtlichung die Gefahr, die solidarischen und damit ungleichen Bindungen zwischen den Menschen durch Recht zu zerstören.24 Darunter versteht man solche, die nicht im – symmetrischen – Austausch von Rechten und Pflichten bestehen, sondern in der wechselseitigen Gewährung von Fürsorge und Zuwendung. Diese könnten einen asymmetrischen Charakter annehmen und seien in partikulären Gemeinschaften in affektiven Einstellungen verankert. 25 Anhänger der Trennungstheorie bringen dagegen das Argument vor, daß gerade die unmittelbare Einbeziehung moralischer Prinzipien in den Rechtsbegriff die Grenzen des Rechts und damit die Grenzen staatlicher Regulierung aufhebe; rechtsfreie Räume würden dann verschwinden, 26 die überhaupt erst eine moralische Entfaltung der Person ermöglichten. Dabei bleibt oft unklar, was mit ‚rechtsfreiem Raum‘ gemeint ist. Es könnte ein Raum innerhalb des Rechts sein, außerhalb des Rechts 27 oder aber ein Raum innerhalb des Rechts, der lediglich der Rechtsbewertung entzogen ist. 28 Darauf wird im Verlaufe der Arbeit näher eingegangen. 21 Vgl. etwa die ausgezeichnte Untersuchung zum Rechtspositivismus von Ott (1992), der alle Varianten des Rechtspositivismus aufzeigt, zum Moralbegriff aber sehr dünn bleibt. Wenn er etwa schreibt, daß „ein Richter nach ihnen (den rechtspositivistischen Lehren) juristisch, nicht aber moralisch verpflichtet, das unmenschliche Gesetz anzuwenden“ (1992: 30), bleibt der Gehalt der Aussage im unklaren, solange diese moralische Verpflichtung nicht näher erläutert wird. 22 Diese Intention findet sich z. B. bei Ellscheid (1979: 37 ff., 45 ff., 57 f.). 23 Honneth (1992: 283). 24 Vgl. Ellscheid (1979: 55 ff.) und Honneth (1995: 999 ff.). Honneth versucht, eine analytische Unterscheidung einzuführen, die zwischen einem Kantischen Rechtsmodell und einem Hegelschen Gefühlsmodell differenziert. 25 Vgl. auch Honneth (1994 e: 185 ff.). 26 Maus (1989: 191 ff.). 27 So ist wohl der status negativus von Jellinek konzipiert worden. Dieser hat aber in der Rechtsdogmatik eine andere Interpretation erfahren, vgl. Jellinek (1960); vgl. dazu auch Robert Alexy (1986: 233 ff.). 28 So explizit Arthur Kaufmann (1994: 204 f.): „(...) Verzicht auf die Wertung eines Verhaltens (...), aber nicht Verzicht auf jede rechtliche Regelung.“
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Ein dritter Weg bestehe darin, die Moral funktional durch das Recht zu ergänzen. Da die Subjekte überfordert seien, ihre Handlungskonflikte mittels einer abstrakten, unbestimmten postkonventionalen Moral im Einzelfall zu lösen, müsse Recht als funktionales Handlungssystem eine Entlastungsfunktion für das Subjekt einnehmen und könne somit eine generelle handlungsanleitende Alternative zu dem Wissenssystem Moral sein. 29 Diese Abgrenzungen werden analytisch, empirisch und/oder normativ mit dem Ziel vorgenommen, 30 unter Absehen von den spezifischen Inhalten der Normen eine generelle Regelung des Normenkonflikts zwischen Recht und Moral zu finden. Woher weiß man, daß eine generalisierende Verhältnisbestimmung der beiden Normenbereiche möglich ist? Das Gegenteil könnte angesichts der unterschiedlichen Regelungsbereiche des Rechts wahrscheinlich sein. Hier bietet es sich an, einen dritten Gesichtspunkt in die Verhältnisbestimmung beider Normenbereiche als Unterscheidungskriterium einzubeziehen: die Identität des Menschen, um so zusätzliche Argumente für die Zuordnung zu gewinnen.
2. Die Identität als neues Zuordnungskriterium Die generelle Unterscheidung der unterschiedlichen Anwendungsbereiche von Recht und Moral könnte angesichts der besonderen Identität der Menschen dazu führen, daß die spezifische Bedeutung von Recht für Handlungssituationen von Menschen verloren geht. Deshalb ist grundlegend zu fragen, was es bedeutet, wenn sich ein Handelnder auf „Recht“ bezieht. Dabei lassen sich analytisch zwei Begriffe von Identität unterscheiden: „numerische“ und „qualitative“ Identitat. Unter „numerischer Identität“ wird die formal bleibende Bestimmung als ein- und dieselbe Person verstanden. „Qualitative Identität“ meint hingegen die auf der Basis allgemeiner menschlicher Fähigkeiten erst individuell zu konstituierende Eigenart. 31 Sie ist das, was man im allgemeinen Sprachgebrauch unter der besonderen Identität eines Menschen versteht. Man benutzt dieses Verständnis, wenn man eine Person als „Persönlichkeit“ bezeichnet. Vgl. Habermas (1992: 106, 137, 143) und (1993: 660 ff.). Vgl. etwa Alexy (1992: 15 ff., 41 ff.); Alexy bestreitet, daß empirische Argumente eine dritte Gruppe bilden, denn „bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß die empirischen Argumente, wenn es um die Definition des Rechtsbegriffs entweder im Sinne der Trennungs- oder der Verbindungsthese geht, zu Bestandteilen analytischer oder normativer Argumente werden“ (S. 40, Fn. 18). Analytisch meint dabei die begriffliche Beziehung zwischen Recht und Moral, also eine semantische Untersuchung, während normative Zuordnungen festlegen, welche Beziehung richtigerweise zwischen ihnen bestehen soll. Empirische Zuordnungen orientieren sich schließlich daran, welche Beziehung zwischen den verschiedenen Gestalten in der sozialen und historischen Wirklichkeit bestehen; vgl. auch Hoerster (1979: 77). 31 Vgl. Henrich (1979: 133 ff.). Vorliegend ist mit „Identität“ stets die qualitative Identität gemeint, wenn nicht anders bestimmt. 29 30
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Dieses letztere Verständnis von Identität läßt sich generell – ohne Vorgriff auf ein bestimmtes Identitätsmodell – als das Selbstverständnis des Menschen bezeichnen, als ein Bewußtsein von den bestimmenden Merkmalen, durch die er zu einem Individuum wird. 32 Sie ist ein Bestimmungsgrund von Handlungen. Wo Handlungen einen Berührungspunkt zum Recht haben, könnte folglich dieses Selbstverständnis Bedeutung für das Recht erlangen. Bedeutungsvoll für die Praxis der Handlungen könnte sein, ob Recht moralisch oder rein juridisch begründet ist, denn intentionale Handlungen bedingen ein Urteil über die Bestimmungsgründe und Ziele einer Handlung. Die Art der Identität und damit der bestimmenden Handlungsmerkmale könnte ausschlaggebend dafür sein, aus welcher Sorte von Gründen sich ein Urteil zusammensetzt und wie dieses sich dann gegebenenfalls am Recht orientiert. Die Vermutung liegt nahe, daß eine Person mit einer moralischen Identität Handlungen vor sich selbst in einem anderen Licht rechtfertigt als eine Person, die letztlich allein an der eigenen, physischen Selbsterhaltung und -bestätigung orientiert ist und zu diesen Zielen gegebenenfalls auch moralische Werte und Ideale funktionalisiert. 33 Dies soll im folgenden hypothetisch ausgeführt werden: Rechte ermöglichen Handlungen. Bei jeder Anwendung eines subjektiven Rechts ergeben sich daher mindestens zwei Alternativen: das Recht durchzusetzen oder auf dieses zu verzichten. Fraglich ist, wie dieser Handlungsspielraum, den ein subjektives Recht gewährt, ausgefüllt wird. So gibt unser Rechtssystem keine – zumindest nicht explizit – Auskunft darüber, ob ein entstandener Anspruch 34 von dem Rechtsträger durchgesetzt, verglichen oder gar auf ihn verzichtet werden soll. Normalerweise wird dies dadurch gerechtfertigt, daß subjektive Rechte diese Entscheidungs- und Handlungsfreiheit einräumten, hierin ihr Sinn liege. 35 Damit verfolgt man aber einen bestimmten normativen – bspw. liberalen – Ansatz, der ungeprüft so nicht übernommen werden kann. Denn die eingeräumte Freiheit könnte normativ zu ganz bestimmten Zwecken aufgegeben sein, die sich aus dem Recht selbst nicht unmittelbar erkennen lassen, sondern nur aus der dahinterstehenden Idee. Somit ist die Bedeutung eines Rechtsanspruchs fraglich, der Möglichkeit, aber auch Verpflichtung bedeuten könnte. 36 Für die vorliegende Arbeit erwächst daraus die Aufgabe, den normativen Sinn eines subjektiven Rechts, seine Bedeutung, zu klären. 37 Vgl. bspw. Taylor (1994: 13 f.). Vgl. die Hinweise bei Nunner-Winkler/Edelstein (1993: 129 ff.). 34 Zu den verschiedenen Formen, durch die ein Anspruch entstehen kann, vgl. ausführlich unten, 36 ff. 35 Vgl. etwa Deutsches Rechtslexikon, 2. Aufl. 1992, Stichwort: „Subjektives Recht“, m. w. N. 36 Vgl. auch die Darstellung bei Vonlanthen (1964). 37 Vgl. den pessimistischen Befund von Kasper (1967: 7) über den Begriff des subjektiven Rechts in der herrschenden Zivilrechtslehre: „Eine genauere Durchsicht dieser Lehren ergibt (...), daß bei diesem Grundbegriff eine eingehende und befriedigende Angabe darüber fehlt, auf welche offene Frage mit ihm in der Rechtswissenschaft geantwortet werden soll.“ 32 33
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Auch moralisch begründete Rechte könnten die Gefahr eines Mißbrauchs bergen. Dabei ist zu unterscheiden, ob der Mißbrauch im Einzelfall angelegt ist oder aber in der allgemeinen Struktur des subjektiven Rechts liegt. Das deutsche Zivilrecht kennt dafür bspw. das Rechtsinstitut des „Rechtsmißbrauchs“, dessen systematische Stellung umstritten ist. Dieses Rechtsinstitut hat eine lange Tradition und findet sich schon in den Digesten der alten Römer. Durchgesetzt hat sich die Ansicht, nach der ein allgemeiner Grundsatz von Treu und Glauben das gesamte Recht durchzieht.38 Bereits Arthur Schopenhauer hat hierzu eine alte römische Weisheit aufgegriffen: „non omne quod licet honestum“, und Gustav Radbruch hat hierzu ausgeführt: „Man nennt es Schikane, wenn so das Recht ohne Rücksicht auf seine moralischen oder auch utilitaristischen Ziele, nur um seiner selbst willen verwirklicht werden will (...).“ 39 Bei Radbruch finden sich aber auch Stellen, die den Schluß vom moralisch begründeten Recht auf eine moralische Verwendung nahelegen; seiner Meinung nach „ist (es) meine Pflicht, mein Recht zu wahren.“ 40 Der Gebrauch des Rechts sei demnach nicht der Willkür überlassen: „Es gewährt dem Einzelnen Rechte, damit sie ihren moralischen Pflichten um so besser genügen können.“ 41 Dies würde aber dazu führen, daß dem Rechtsinhaber nicht nur die Pflicht seines Gegenübers zur Rechtsbefolgung gegenübertritt, sondern daß sich bereits in der Person des Rechtsinhabers selbst Recht und Pflicht treffen. Dem subjektiven Recht würde damit eine moralische Pflicht korrespondieren, die den Rechtsträger anweist, wie sein Recht zu gebrauchen ist. Mitte des 19. Jahrhunderts haben sich bereits zwei berühmte deutsche Rechtsgelehrte mit diesem Problem auseinandergesetzt: Rudolph v. Ihering und Josef Kohler, welche hierfür die Shakespearesche Figur des Shylock 42 zum Anlaß nahmen. Shylock wollte einen Anspruch gegen den Kaufmann Antonio aus einem Bürgschaftsvertrag auf ein Pfund von dessen lebendigem menschlichem Fleisch durchsetzen. Ihering vertrat hierbei seine berühmte These, daß man in jedem Fall für sein eigenes Recht kämpfen müsse, weil das eine Mitarbeit an dem Rechtsschutz im allgemeinen bedeute, und gelangte zu der Erkenntnis, auch die verabscheute Gestalt des Shylock als eine Art Kämpfer für das Recht Venedigs zu deuten. 43 Dagegen preist Kohler die Weisheit des Shakespeareschen Richters, weil er bewußt die Buchstaben des Gesetzes verletze, zugleich den Zugang zu einem neuen Vgl. zu dem Theorienstreit J. Schmidt (1995: zu § 242, Rn. 713 ff.). Radbruch (1956: 204). In der neueren Literatur hat sich z.B. Glendon (1991), mit den negativen Folgen innerhalb des privaten und politischen Lebens beschäftigt, die von einer Fixierung auf subjektive Rechtsansprüche herrühren. 40 Radbruch (1956: 140); daneben sind aber auch Stellen aufgeführt, wo er dies abschwächt: „Das Recht ist eben nur die Möglichkeit der Moral und eben deshalb auch die Möglichkeit der Unmoral“ (S. 141). 41 Radbruch (1956: 141). 42 Shakespeare (1998). Eine andere interessante Figur der Literaturgeschichte wäre die Person des Michael Kohlhaas, der versucht, seine Rechte gegen alle Widerstände durchzusetzen; vgl. hierzu: Kleist (1976). 43 Ihering (1992: insbes. 116 ff.). 38 39
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menschlichen Rechtssatz auftue und damit eine Ungerechtigkeit in der Sache verhüte. 44 Stimmen Kohler und Ihering noch darin überein, daß ein solcher Anspruch dem Gesetze nach nicht hätte entstehen dürfen, da er ein Verstoß gegen die Grundprinzipien der Rechtsordnung und der guten Sitten sei, unterscheiden sich doch beide in der Lösung dieses Dilemmas, wenn – unterstellt – eine (positive) Rechtsordnung einen solchen Vertrag als gültig ausweist: Abstrahiert man von der Frage nach dem Machtbereich des Richters, 45 kommt man zu dem hier interessanten Punkt. Für Kohler stellt Shylock das Paradigma eben des Menschen dar, der das Recht als grundlegendes Motiv für menschliches Handeln nimmt. Er sei nämlich der Mensch, dessen ganzes Streben darauf gerichtet ist, sein eigenes Recht bis aufs letzte durchzusetzen, ohne sich dabei von irgendeiner Norm, etwa der moralischen, bestimmen oder von seinem Vorhaben abbringen zu lassen. Ihering hingegen behauptet, daß gerade die moralische Selbstbehauptung die uneingeschränkte Durchsetzung des positiven Rechtsanspruchs verlange. Ihering gibt damit Shylocks egoistischer Variante der Rechtsdurchsetzung eine moralische Wendung, indem er eine Verknüpfung von uneingeschränkter Rechtsdurchsetzung und Selbstbehauptung, bzw. Selbstachtung in die Diskussion einführt. Die beiden Positionen vermittelnd, behauptet der amerikanische Rechtstheoretiker Joel Feinberg: „To claim that something is the case in circumstances that justify no more than calm assertion is to behave like a boor (...). But not to claim in the appropriate circumstances that one has a right is to be spiritless or foolish“46. Deutlich wird an diesen Positionen die argumentative Verschränkung von Recht und Moral. Einleuchtend erscheint die Position von Feinberg, solange man davon ausgeht, daß das Recht moralisch begründet ist oder einen moralischen Inhalt hat; zugleich stellt sich aber die Frage, ob es eine moralische Pflicht geben kann, positives, wertrelativistisches Recht durchzusetzen, welches selbst jede Verbindung zur Moral aufgegeben hat. Folglich ist hiermit ein strukturelles Problem des subjektiven Rechts angesprochen. Fraglich ist also, inwieweit die Verwendung der Rechtsposition auf die Begründungsstruktur allgemein zurückwirkt. Gegen einen solchen Begründungsansatz wird eingewandt, die Verwendung von Rechten liege auf einer anderen analytischen Ebene als deren Begründung: 47 „Die moralische Rechtfertigung des Instituts des subjektiven Rechts läßt sich nicht auf die Ausübung subjektiver Rechte logisch transferieren.“ 48 Zwischen moralisch begründeten Rechten und der Gerechtigkeit bestehe eine Differenz, wie der amerikanische Rechtstheoretiker William Galston Kohler (1919: 45 ff.). Dieser interpretatorische Aspekt der Auseinandersetzung beschäftigte sogar den frühen Schmitt (1912: 111 f., bes. 112 Fn. 1). 46 Feinberg (1992: 195). 47 Forst (1994: 113, Fn. 31); so wohl auch Peters (1991: 165 Fn. 39 a. E.). 48 Ellscheid (1985: 70), vgl. ders. (1979: 58 f.). 44 45
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behauptet: „Rights give reasons to others not to interfere coercivly with me in the performance of the protected acts however they do not in themselves give a sufficient reason to perform these acts. There is a gap between right and rightness.“ 49 Wenn ein solcher Automatismus nicht besteht, sondern jede Rechtsanwendung eine gesonderte Reflexion voraussetzt, dann stellt sich das Problem, welches die Werte sind, die zur Reflexion herangezogen werden und auf die sich ein Urteil darüber stützt, wie der Inhaber eines subjektiven Rechts handeln soll. Die Ausübung von Rechten könnte auf die Begründung zurückwirken, wenn in dem Individuum durch den Gebrauch moralisch legitimierter subjektiver Rechte seine eigenständige Reflexion unterbunden würde. 50 In diesem Fall könnte sich das Individuum keinem Rechtfertigungsdruck mehr ausgesetzt fühlen, was eine Grundvoraussetzung zu reflektiertem Urteilen sein könnte, wenn Recht als legitimes, alternatives Handlungssystem gedeutet würde. 51 Die moralische Begründung würde dann per se für eine legitime Ausübung des subjektiven Rechts bürgen, ohne daß das Individuum auf seine eigenen Wertideale zurückgreifen müßte. 52 Das Individuum müßte nicht mehr selbst die Handlung, gemessen an dem Maßstab von gerecht und ungerecht, beurteilen. Damit würde eine heteronome Verhaltensregel als Grundbestimmung legitimen Handelns herangezogen. So schreibt etwa Jürgen Habermas: „Das der Legalität als solcher innewohnende ‚ethische Minimum‘ verdankt sich darüber hinaus der Struktur einklagbarer Rechte, die auf moralisch einwandfreie Weise erst entmoralisierte Spielräume privater Willkür gewährleisten.“ 53 Als generelle Aussage würde das letztlich darauf hinauslaufen, daß der Gebrauch der subjektiven Rechte in legitimer Weise der Willkür anheimfallen kann. Die Rechtspraxis zeigt aber, daß eine Korrektur der Ausübungsmöglichkeiten der Rechte nötig ist, wie u. a. in der Kommentierung zu § 242 BGB (Stichwort: Rechtsmißbrauch) ersichtlich ist 54. Damit ist zugleich ein weiteres, strukturelles Problem angesprochen: Es muß die Frage beantwortet werden, wem die Korrektur der Ausübungsmöglichkeiten – von einem normativen Standpunkt aus – überlassen wird. Habermas’ Ansatz würde letztlich zu einem „Justizpaternalismus“ führen. Nicht das – willkürlich handelnde – Subjekt selbst, sondern die Rechtsprechung sorgt hier für eine staatlich geregelte, über den einzelnen stehende – und in diesem Sinne: paternalistische – Korrektur des Rechts49 Galston (1991: 8) (Herv. nicht im Original); vgl. dens. auch in seiner Replik auf Waldron (1983: 320 ff.): „To take rights seriously is to take rightness less seriously.“ (323). Vgl. dazu den die Debatte auslösenden Aufsatz von Waldron (1981: 21 ff.) „A Right to do Wrong“ und dessen Replik auf Galston (1983: 325 ff.). 50 Eine Beeinflussung von Anwendungskontext und Normenbegründung stellt auch Günther (1988) fest; vgl. auch Eckensberger (1997: 331). 51 So verstehe ich Habermas (1993: 667); vgl. auch ders. (1992: 505): „Individuelle Selbstbestimmung konstituiert sich freilich in der Ausübung von Rechten, die sich aus legitim erzeugten Normen herleiten.“ M. E. vernachlässigt Habermas in seinen Ausführungen, die Art und Weise der Ausübung. 52 Für „Die Notwendigkeit von Idealen“ plädiert bspw. Frankfurt (1993: 107 ff.). 53 Habermas (1996: 350). 54 Vgl. bspw. die Kommentierung zu § 242 BGB im Palandt.
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gebrauchs durch eine weit über den Wortlaut hinausreichende Auslegung von dem in § 242 BGB enthaltenen Grundsatz von Treu und Glauben. Diese strukturelle Gefahr sieht auch Herbert L. A. Hart, ein Befürworter der strikten Trennungstheorie: „Die Gefahr, daß das Recht und seine Autorität sich in den Vorstellungen der Leute davon, was Recht sein sollte, auflöst; und die Gefahr, daß das bestehende Recht die Moral in ihrer Funktion als letzten Maßstab des Verhaltens verdrängt und sich so der Kritik entzieht.“ 55 In Teilbereichen der Rechtssoziologie wird die Bezugnahme auf Recht als ein Wechsel von persönlichem Vertrauen zum Systemvertrauen gewertet 56, deren Ursache in der „Überforderung“ 57 der Subjekte in individuellen Beziehungsstrukturen zu sehen sei. Es erfolge dann eine Orientierung des einzelnen am jeweils eigenen (subjektiven) Recht. 58 Dabei werde von den Rechtsadressaten oftmals die „Unzulänglichkeit der schließlich erreichten Problemlösung“ 59 festgestellt, die verursacht werde, durch die „Übernahme überindividueller, formalisierter Muster der Ordnungsbildung in der Form subjektiver Rechte.“ 60 Einen Verweisungszusammenhang zwischen der Begründung und der Anwendung stellt dagegen Klaus Günther 61 fest. Bestehende Normen werden demnach nicht einfach „benutzt“, sondern zwischen einem hypothetischen Urteil in der Begründung und der kontextualisierten Anwendungsentscheidung bestehe ein Zusammenhang. Einerseits beeinflusse ein antizipierter Anwendungskontext die Normenbegründung, andererseits sei die Anwendung bzw. Kontextualisierung von Normen aus dieser Perspektive nicht losgelöst von den Bedingungen der Normenbegründung selbst vorzunehmen, obwohl eine rechtliche oder moralische Norm ihre Anwendung allein nicht regeln könne. Günther zeigt, daß die angemessene Anwendung der Rechtsnorm nur unter Rekurs auf die Moral erfolgen kann, wobei diese möglichen Anwendungsbedingungen in der Normenbegründung ihrerseits mitreflektiert werden müssen. Gerade die zunehmende Unbestimmtheit des Rechts, die erhebliche Entscheidungsspielräume zulasse, zeigt seiner Meinung nach, wie wichtig die angemessene Anwendung der Norm ist. Hierbei stützt sich Günther auf die strukturelle Untersuchung des Moralbewußtseins von Lawrence Kohlberg, 62 von dem er den Begriff des „postkonventionellen Entscheidungsniveaus“ übernimmt, welches erst eine angemessene Entscheidung ermögliche.63 Hart (1971: 19). Vgl. Blankenburg (1980: 85 f.). 57 J. F. K. Schmidt (1997: 457). 58 Vgl. Deggau (1989: 113 ff.) und J. F. K. Schmidt (1997: 453). 59 J. F. K. Schmidt (1997: 453). 60 J. F. K. Schmidt (1997: 458). 61 Günther (1988). 62 Vgl. Günther (1988: 147 ff.). 63 Dieses ist von einem präkonventionellen und konventionellem Moralbewußtsein sowie einer Reihe von Unter- und Zwischenstufen zu unterscheiden, vgl. Günther (1988: insbes. 162 ff.). 55 56
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Dies bedeutet aber, daß gerade die zunehmende Verrechtlichung der Gesellschaft moralisches Urteilen auf postkonventionellem Niveau immer nötiger werden ließ, also alles andere beansprucht, als von Moral zu entlasten. Diese Annahme wird auch von neueren Untersuchungen der Entwicklungspsychologie unterstützt: „Entwicklungspsychologisch betrachtet läßt sich also der Bezug auf rechtliche Regeln in einem gewissen Sinne gerade als Versuch verstehen, moralische Normen gegen die moralische Verweigerung einzelner Personen durchzusetzen.“ 64 Es sei gerade die moralische Verletzung, die mittels moralischer Ansprüche nicht gesühnt werden könne und deshalb ein Ausweichen auf das Rechtsmedium zur Folge habe. Recht diene damit in weiten Bereichen gerade zur Reparatur moralischer Verletzungen. Hier erscheint in psychologisierender Form wieder die Verknüpfung Iherings von Rechtsdurchsetzung und Selbstachtung: Indem man sein Recht durchsetzt, gewinnt man seine verletzte Selbstachtung zurück, die der andere durch eine Rechtsübertretung beschädigt hat. Dieser moralische Anspruch ist gleichzeitig der Grund dafür, daß der strenge Gesetzes- und Rechtsbegriff seinerseits wieder mit Moralvorstellungen in Konflikt geraten kann und eine angemessene Situationsentscheidung herausfordert, weshalb nicht die Rechtsdurchsetzung per se den moralischen Anspruch erfüllt. Diesem moralischen Gefühl entspricht dann in etwa die Äußerung: „Das habe ich nun dann so auch nicht gewollt“; wenn etwa das gerichtliche Urteil den finanziellen Ruin für den anderen bedeutet. In ihrer Untersuchung stellen Eckensberger und Breit fest, „daß eine ausgeprägte Gewissensorientierung (...) auch in der Ontogenese (des Moral- und Rechtsbewußtseins 65) erst auf die Rechtsperspektive folgt, hier also explizit ein rechtsfreier Raum entsteht, in dem eine Entscheidung ausschließlich an das (autonome) Gewissen gebunden ist.“ 66 Hier wird also eine Argumentationsfront zwischen einem moralischen Kontextualismus und einem rechtlichen Rigorismus aufgebaut, der zugunsten eines Dritten aufgehoben werden soll. Daran zeigt sich die Wichtigkeit der Unterscheidung, ob subjektive Rechte hinreichende Bedingungen für moralisch gerechtfertigte Handlungen darstellen oder nur deren notwendige Voraussetzung sind. Zur Beantwortung dieser Fragen muß zunächst untersucht werden, welche Pflichten dem Recht entsprechen: Dies können rechtliche, aber auch moralische Pflichten sein, äußere Pflichten und innere Pflichten, Pflichten des Rechtsträgers und Pflichten des Rechtsadressaten. Erst nach Klärung dieser Fragen kann eine Entscheidung getroffen werden, ob Recht einen Rahmen für willkürliche oder aber für rein moralische Handlungen begründet. 67
64 Eckensberger/Breit (1997: 329) mit der Bemerkung, daß „sich natürlich das Verständnis von Recht nicht auf diese Sichtweise reduzieren läßt, da es auch Regelungen jenseits aller Moralisierbarkeit enthält und von vornherein auf Kompromisse abzielt.“ 65 Eingefügt von M. S. 66 Eckensberger/Breit (1997: 329, Herv. im Original). 67 Vgl. hierzu auch Haksar (1978: 183 ff.), der in Auseinandersetzung mit dem Rechtspositivisten Hart zu dem Ergebnis gelangt, daß Rechte sehr wohl etwas Gemeinsames haben, näm-
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a) Recht als Handlungssystem? Mit guten Gründen wird vorgebracht, daß nur eine internalisierte Werteordnung Scham quasi „als Motor“ zur Erschließung des kognitiven Potentials von Konflikten einsetzen könne. 68 Würden diese inneren Werte verfallen, oder würden sie durch Recht ersetzt oder verdrängt, in Konflikten gar nicht mehr angesprochen, könne sich keine Instanz eines Gewissens (eines Rechenschaftsortes) konstituieren, auf die eine Person mit einer Identität angewiesen sei, um die eigene Besonderheit zu erschließen. 69 Dies sei nur möglich, wenn das Individuum „Rollendistanz“ einnähme 70 und somit in Distanz zu eigenem rollengemäßen Handeln reflektiere, um so eine Korrekturfunktion für eigene Handlungen zu erschließen und damit verantwortungsvoll in Konflikten umzugehen. 71 Dem entspricht etwa das oben bereits angesprochene „postkonventionelle Bewußtsein“. Durch die Distanzierung habe das Subjekt die Möglichkeit, den Erfolg oder Mißerfolg der Ziele und umgesetzten Handlungssituationen mit dem eigenen Leben in Einklang zu bringen und damit eine Selbstverständigung zu erreichen. Das Gewissen ist danach ein Ort, der die moralische Einheit des Individuums in all seinen Rollen gleichzeitig voraussetzt und konstituiert. Diese Form der Selbstbestimmung drückt sich etwa in Luthers Satz aus: „Hier stehe ich und kann nicht anders“. In einer ersten Lesart könnte dies so verstanden werden, daß Recht die Grenzen für die Handlungsausübung liefert. Dem Individuum ist es wegen der angedrohten rechtlichen Sanktion nicht möglich, anders zu handeln. In einer zweiten – moralischen – Lesart, kann die Person sich nicht dazu bringen, Handlungen auszuführen, die sie als „Verrat“ an ihren Idealen, die Teil ihrer Identität sind, begreifen müßte, auch wenn die Gelegenheit günstig und das Wissen nebst den Fähigkeiten gegeben wären. Damit läßt sich als Motiv für moralisches Handeln ein Anspruch auf Selbstbestimmung der Person neben einem Gefühl für Gerechtigkeit herleiten. Beide werden sanktioniert durch das eigene Gewissen und eigene Gefühlsregungen wie bspw. Scham. Beweggrund für moralisches Handeln wäre danach die freiwillige Selbstlich daß ihnen eine korrespondierende Pflicht entspricht, die aufgrund der Verletzung des Rechts entstanden ist. 68 Vgl. Honneth (1992: 223): Die Notwendigkeit der Ergänzung der kognitiven Basis der Moral um moralische Gefühle wie Scham und Zorn sieht auch Tugendhat (1996: 327). Neuere Versuche das Gefühl der Scham zu „wiederzubeleben“, unternehmen Williams (2000) und Schlosberger (2000). 69 Damit liegt hier die Auszeichnung einer internalisierten Werteordnung auf einer anderen analytischen Ebene als beispielsweise bei Max Weber. Weber versucht die Geltungsbedingungen einer Rechtsordnung aus der soziologischen Perspektive darzulegen und kommt zu dem Ergebnis, daß eine intrapsychische Begründung stabilere Ordnungen hervorbringt, vgl. Weber (1980: 16). 70 Enderlein spricht von „Ungebundenheit“ (1992: 206) als Voraussetzung zu begründetem Handeln. 71 Vgl. Luckmann (1979: 293 ff.).
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Kap. 1: Einleitung
bindung aus Einsicht in die Geltungsgründe moralischer Normen und Prinzipien.72 Demgegenüber ist das genuine Motiv für rechtliches Handeln nicht so einfach zu bestimmen. Nach weit verbreiteter Ansicht ist Recht für verschiedene Motive offen, weshalb sich in der Befolgung der Rechtsregel verschiedene Motive treffen können. Dies gilt allgemein als ein Vorteil des Rechts, weil niemandem bestimmte Motive aufgezwungen werden. Hieraus könnten sich aber auch Probleme ergeben: Je weniger eine „Hintergrundmoral“ als Basis für eigene Reflexionen herangezogen wird, desto größer könnte die Gefahr sein, Handlungen nur noch an egoistischen Motiven der Konfliktvermeidung und dem Ausweichen vor äußeren Sanktionen, wie etwa Zwang, zu orientieren. Diese Gefahr könnte angesichts des geteilten moralischen Wertehorizonts der Menschen in einem Gemeinwesen immer größer werden. Neben moralischen und moralisch-indifferenten Motiven könnten deshalb auch unmoralische Motive dominieren. Nicht mehr das Gegenüber in seinem eigenen Wert, „als Zweck an sich“, wie Kant sagt, würde in dem anderen gesehen, sondern nur mehr ein Mittel, das für eigenes Handeln als Mittel eingesetzt wird bzw. eigenen Zielen im Wege steht. So wird bspw. in der psychologischen Praxis zunehmend beobachtet, daß sich das Gebiet der „Moral“ verschiebt. Nicht mehr Handlungen in bezug auf andere unterliegen den moralischen Gefühlsreaktionen von Scham, sondern die Bezogenheit auf den eigenen Körper: etwa Scham wegen Übergewicht, Untergewicht, Körpergröße, Nasenform (...), was in der Psychologie allgemein als narzißtische Störung bezeichnet wird. 73 Damit verändert sich methodisch die Bestimmung des Gegenstandes der Moralforscher: Nicht mehr ein rein normatives Verständnis von Moral, sondern die Auszeichnung der Faktizität geht einher mit einer empirischen Gegenstandsbeschreibung. Nur mehr ein subjektives Gefühl der Verpflichtung ist Kriterium für Moral. 74 Nimmt man diese empirischen Argumente in eine Begründungstheorie auf, stellt man methodisch folglich eine Relation zwischen dem Sein und dem Sollen her, dann könnte dem Recht zunehmend eine andere Funktion zufallen: nämlich nicht mehr sekundäres Konfliktregelungssystem, sondern primäres Handlungsleitsystem zu sein. Wertmuster würden sich damit zunehmend verschieben. Moral fiele zugunsten eines irrationalen Leistungsmodelles aus, bei dem Bewertungen nicht mehr in kognitiv-moralischen Bahnen ablaufen oder gar moralisch motiviert wären. Statt dessen fänden Leistungen in gesellschaftlich-ökonomischen Werbewelten ihren Leistungsschlüssel, die mit kognitiv-moralischer Motivation nicht vereinbar wären; frei nach dem Motto: „Ich blättere durch Möbelkataloge und frage mich, welches Ge72 Dem entspricht bei der wohl bekanntesten psychologischen Theorie moralischer Entwicklung die Stufe 6: Das Rechte tun, weil es das Rechte ist; auf vorausgehenden Stufen gilt als das Motiv der Normbefolgung Sanktionsvermeidung bzw. das Streben nach sozialer Akzeptanz, vgl. Kohlberg (1995). 73 Vgl. ausführlich zum Narzißmus Lasch (1980). Tugendhat (1996: 328) will unter solchen Umständen nicht mehr von Moral sprechen. Zum Narzißmus vgl. auch die Bemerkungen von Sennett (1996: 406 ff.). 74 Vgl. etwa Blasi (1986: 55 ff.), der die Inhalte der Moral durch eine empirische Zusammenstellung der Phaenomene gewinnen möchte, die in bestimmten Kulturen oder von bestimmten Individuen faktisch als „moralisch“ definiert werden.
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schirr mich als Person definieren könnte.“ 75 Der rechtliche Freiraum eröffnet aber gerade dieser Irrationalität einen Rahmen der Handlungskoordinierung: Personen, die ihre Handlungen nur noch an ästhetischen Maßstäben messen.76 Dies wirft die Frage auf, welche Funktion Recht für gesellschaftliches Handeln bekommt. Ist Recht Konfliktregelung i. S. v. ultima ratio oder primäres Handlungsleitsystem 77 oder: Wann wird Recht aktualisiert und was ist die Aussage von Rechtsnormen? Man muß hierbei genau die Aussage von Rechtsnormen analysieren. Dabei bietet sich die Unterscheidung an, ob Rechtsnormen leges praeceptivae (Gebote), leges prohibitivae (Verbote) oder leges permissivae (Erlaubnis) darstellen und ob sich alle Handlungen in dieses Schema einteilen lassen. Es könnte nämlich Handlungsbereiche geben, die sich einer rechtlichen Bewertung entziehen. Teilweise wird vorgebracht, jedes menschliche Handeln unterliege der rechtlichen Bewertung von rechtmäßig und rechtswidrig, 78 d. h. alles, was nicht verboten sei, sei erlaubt. 79 Die Verständigungspotentiale der Moral müßten gar nicht erst ausgereizt werden. Für ein Handlungssystem moralischen Rechts würde das zur Folge haben, daß alle Handlungen, die erlaubt sind, legitim wären. Recht wäre dann mehr als nur eine Ausfallbürgschaft 80 für die Fällen, in denen die Handlungskoordinierung nicht anders gelingt. Andere sehen die Aussage von Recht in Imperativen, vertreten somit eine Befehlstheorie des Rechts, 81 unterschieden nach Geboten und Verboten. Wieder andere ergänzen diesen normativen Raum noch um einen rechtsfreien 75 Vgl. den 1999 im Kino gelaufenen, amerikanischen Film: „Fight Club“; vgl. hierzu die Kritik von Assheuer (2000: 43); vgl. auch Kellner (1994: 229): „Die postmoderne Identität (dreht sich) um die Freizeit, um Aussehen, Bilder und Konsum.“ 76 Die Definition der Identität über rein ästhetische Maßstäbe birgt auch noch ein bislang nicht thematisiertes Problem: Die moralische Identität ist konzeptionell auf die Anerkennung durch gleiche moralische Individuen angelegt, Honneth spricht insoweit von einem „Zwang zur Reziprozität“: „Wenn ich meinen Interaktionspartner nicht als eine bestimmte Art von Person anerkenne, dann kann ich mich in seiner Reaktion auch nicht als dieselbe Art von Person anerkannt sehen, weil ihm von mir ja gerade jene Eigenschaften und Fähigkeiten abgesprochen werden, in denen ich mich durch ihn bestätigt fühlen will“ (1992:64 f.). Demgegenüber ist die durch Äußerlichkeiten geprägte Gesellschaft in ihrer Anerkennungsstruktur prinzipiell hierarchisch geprägt: Die Identität des als schön Begehrten speist sich aus der Bewunderung des Nichtschönen; der Schöne begibt sich damit in die Abhängigkeit des fremden Blickes des Nichtschönen. Sähen alle gleich aus, würde dem Schönen der Spiegel der Anerkennung genommen. In diesem Sinne ist die Identität des Ästhetischen also auf eine hierarchisierte Gesellschaft angelegt. Vgl. zu dem Schönheitswahn die Ausführungen von Schüle (2002: 10 f.). 77 Hiergegen wendet sich schon im Titel Del Vecchio, Der „Homo Iuridicus“ und die Unzulänglichkeit des Rechts als Lebensregel (1937: 55 ff.). Er geht dabei von einer Moral aus, die „nicht für irgendeine Ungewissheit Raum läßt, sondern (...) für jeden erdenklichen Fall dem Subjekt den von ihm einzuschlagenden Weg und die von ihm zu erfüllende und zu unterlassende Handlung aufweisen“ (S. 74 f). 78 Vgl. die Nachweise bei Kaufmann (1994: 204 f.). 79 Zum Begriff der Erlaubnis s. a. Sforza (1966: 99 ff.). 80 Vgl. hierzu auch Peters (Fn. 30), S. 164. 81 Zur Aktualität der Befehlstheorie des Rechts vgl. die bei Larenz (1991) zit. Autoren.
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Kap. 1: Einleitung
Raum. 82 Gemäß der letzteren Theorie würde Recht als generelles alternatives Handlungssystem nicht funktionieren können, 83 da bestimmte Bereiche rechtlicher Bewertung nicht unterfallen. Das lediglich „Erlaubte“ wäre rechtlich indifferent und fiele in den Bereich außerhalb der Rechtsverhältnisse. Recht und Moral würden damit als zwei nicht gleichwertige Symbolsysteme in der Interaktion bewertet, denn es würde deutlich werden, daß zumindest bestimmte Handlungen einer anderen als nur einer rechtlichen Bewertung bedürften und somit ein anderer Bestimmungsgrund zusätzlich erforderlich wäre, oder daß diese Handlungen sogar einer rechtlichen Bewertung gar nicht erst zugänglich wären. Mit anderen Worten, es würde fraglich, ob Recht „eine interaktive Alternative zu spontanen und sedimentierten Interaktionsmustern des sozialen Bereichs“, vor allem auch des menschlichen Nahbereichs werden könnte. 84 Deshalb ist zu untersuchen, ob die Einordnung von Recht und Moral als Alternativen gerechtfertigt ist, oder ob man nicht von einem notwendigen Wechselverhältnis sprechen muß. 85 Diese Beobachtungen, die der genaueren Untersuchung erst noch bedürfen und zunächst nur plausibel, aber nicht begründet erscheinen mögen, könnten ein Argument für die Begründung der Trennungsthese liefern: Diese würde verdeutlichen, daß gerechte Handlungen nicht automatisch aus dem Rechtssystem folgen. Auch rechtmäßige – iSv. der Rechtsordnung gemäße – Handlungen gerieten unter Umständen unter Rechtfertigungsdruck. Die Trennungstheorie kennzeichnet somit, daß sie explizit Recht und Moral als zwei verschiedene Normsysteme bezeichnet, die einen unterschiedlichen Geltungsstatus einnehmen. Inhaltlich können sehr wohl Gemeinsamkeiten auftreten, sonst wäre nicht erklärbar, wie die Moraltheorie Argumente zur Beurteilung von Rechtsfragen liefern könnte, wenn sämtliche Rechtsinhalte aus dem Vokabular des Moralsystems ausschieden; bei völliger inhaltlicher Verschiedenheit wäre sie blind gegenüber Rechtsfragen. Nach dieser Form der Trennungstheorie muß demnach (fast 86) jede rechtliche Antwort einem moralischem Beurteilungskriterium entsprechen. Der Unterschied zur Verbindungstheorie besteht somit allein darin, der Verbindlichkeit des Beurteilungskriteriums eine andere Position einzuräumen. Der geltungstheoretische Unterschied erscheint jedoch zunehmend fragwürdig, da einige Vertreter der moralischen Ergänzung des Rechts konsequenterweise auch die Unterscheidung von autonomer und heteronomer Normbegründung aufgeben. Zum rechtsfreien Raum, vgl. Engisch (1984) und Comes (1976). Zum Recht als Handlungssystem, vgl. neben den bereits erwähnten Stellen bei Habermas (1992), auch Peters (1991: 27): „Recht als Handlungssystem (...) umfaßt alle intentional auf Recht bezogenen Handlungen.“ s. a. dort, S. 28 ff. und Kap. VIII. 84 So aber Ellscheid (1979: 47). 85 Vgl. hierzu auch Honneth (1995: 989 ff.), der in familiären Beziehungen ein von ihm – zum Zwecke der besseren Anschauung – radikalisiertes Kantisches Rechtsmodell mit einem Hegelschen Gefühlsmodell konfrontiert (997). 86 Mit Ausnahme etwa der Normen, die keinen moralischen Gehalt haben, wie etwa die Entscheidung, daß in Kontinentaleuropa die Autos rechts und nicht links fahren. 82 83
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Diese sehen eine Gefahr, wenn die Veräußerlichung des Rechts und die Verinnerlichung der Moral überhand nehmen. 87 Es käme dann zu unüberbrückbaren Gegensätzen. Deshalb sollten „Brückenprinzipien“ von moralischen und rechtlichen Regeln spezifiziert werden. In bezug auf das Gewissen des einzelnen unterscheiden sich dann Rechts- und Moralnormen nicht mehr. Dem Gewissen käme dann folglich keine konstitutive Funktion mehr zu, spezifisch moralisches Handeln zu regulieren. 88 Deshalb wendet sich die rechtspositivistische Trennungstheorie ebenso gegen Versuche der Normenbegründung, wie zum Beispiel gegen Habermas’ Diskurstheorie, nach der alle Konflikte zwischen einer universalistischen, aber „allein durch die vollkommen innerliche Instanz des Gewissens sanktioniert(en)“ Moral „mit der immer noch an ein konkretes staatliches Subjekt gebundenen öffentlichen Moral“ nur dadurch aufgelöst werden könnten, „daß die Dichotomie zwischen Innen/Außenmoral verschwindet, der Gegensatz zwischen moralisch und rechtlich geregelten Bereichen relativiert und die Geltung aller Normen an die diskursive Willensbildung der Betroffenen gebunden wird“ 89. Wenn tatsächlich die Auflösung moralischer Wertehorizonte als gesellschaftliche Diagnose zuträfe, könnte der argumentative Vorteil der Verbindungs- oder Ergänzungstheorie darin liegen, daß dann mittels des Rechts in seiner Funktion als Handlungssystem ein Mindestmaß an Moral in die gesellschaftlichen Integrationsstrukturen und Institutionen fließen könnte. 90 Wie bereits angedeutet, könnte das Recht diese Funktion nur übernehmen, wenn damit eine Änderung der Begründungsstrategie einherginge.
b) Der Stellenwert des Individuums für Recht und Moral Wenn somit moralisch legitimes Handeln nicht automatisch im Haben eines subjektiven Rechts indiziert ist, sondern ein Urteil über die Verwendung des subjektiven Rechts erfordert, dann ist die Frage nach der Bedeutung von Recht für das handelnde Individuum zu erörtern, und es ist zu klären, wie die Begriffe des Rechts, der Moral und der Identität zu verstehen sind, und in welcher Begrifflichkeit deren Verhältnis zueinander zu fassen ist. 91 Vor allem muß der Bedeutung des Individuums für das Recht und für die Moral nachgegangen werden. Vgl. Schluchter (1979: 151 ff.). Zur konstitutiven Rolle des Gewissens für eine Moral: Tugendhat (1993 b: 33 ff.). 89 Habermas (1973: 120–122). 90 Vgl. zu diesem Thema auch die interessanten Analysen von Roth (1991), der nach den Institutionen der Freiheit fragt, die nach Hegel „dem individuellen Handeln Orientierungshilfen, sinnvermittelte Handlungsmuster liefern“ (1991: 3) und versucht, die in ihre „Momente“ zerfallenen Institutionen in einen übergeordneten Rahmen, einer „allgemeinen Institutionentheorie“ zusammenfügen zu können (9). 91 Vgl. zu dieser Problemstellung schon die „Rede“ von Sinzheimer (1933: 5): „Was ist der Mensch? Die Frage ist keineswegs eine überflüssige Frage, sondern im Gegenteil die elementare, entscheidende Frage des Rechts überhaupt. (...) Sie ist der geheime Regulator des Rechtssystems.“ 87 88
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Kap. 1: Einleitung
Im Anschluß an Gustav Radbruch lassen sich analytisch drei Weltanschauungen aufzeigen, denen verschiedene Staatsauffassungen entsprechen, die jeweils dem Individuum einen unterschiedlichen Stellenwert einräumen: die individualistische Auffassung, die den Menschen als sittliche Persönlichkeit begreift und die Aufgabe des Staates darin sieht, die Freiheit des Individuums zu schützen, damit es sich selbsttätig zu dieser Persönlichkeit entwickeln kann; die überindividualistische Auffassung, die den Menschen als Mitglied der Nation sieht, deren Existenz vom Staat mit Hilfe seiner Machtmittel bewahrt und gefördert werden muß; und die transpersonale Auffassung, die das Individuum als Moment einer kulturell gestalteten Gesamtpersönlichkeit kennt, auf die auch der Staat in all seinem Tun verpflichtet ist. 92 Wie in der Arbeit zu zeigen versucht wird, kann allein aus der Zuordnung von Recht und Moral keine Aussage über die Verwendung von Rechten entnommen werden, verstehen sich doch zwei so grundverschiedene Theoretiker wie Hans Kelsen und Carl Schmitt als Trennungstheoretiker. 93 Dies könnte bereits an theorieinternen Unschlüssigkeiten liegen, jedoch ist der Gedanke naheliegend, daß erst der Rückgriff auf das dahinterstehende Menschenbild Schlüsse und Hinweise auf eventuelle Widersprüche und Lücken in der theoretischen Begründung zuläßt. Dahinter steckt die Idee, daß der Zuordnung von Recht und Moral normative Prämissen darüber zugrunde liegen, was es heißt, ein sinnvolles Leben zu führen. Ob dies nun individuelle, überindividuelle oder transpersonale Ansätze sind, stets ist das normative Leitbild einer bestimmten Identität des Menschen und seiner gesellschaftlichen Eingliederung von Bedeutung, 94 denn Normen beider Bereiche enthalten Verhaltensanweisungen; menschliches Verhalten ist der gemeinsame Bezugspunkt von Recht und Moral. Dies setzt eine Vorstellung davon voraus, wie sich eine menschliche Identität konstituiert und wie sich der Mensch in der Gesellschaft einordnet. Damit Recht seinen normativen Sinn entfalten kann, bedarf es klärender Überlegungen, wie Recht auf menschliches Handeln wirkt. Dafür werden gemeinhin zwei Alternativen, die sich auch kumulativ ergänzen können, angeboten: normative Richtigkeit und Zwang. Richtigkeit appelliert an die kognitive Struktur des Menschen und setzt voraus, daß Urteilen und Handeln eine Einheit bilden. Dies ist der Leitgedanke der alten sokratischen Ethik. Doch hat die empirische und theoretische psychologische Forschung gezeigt, daß hier Voraussetzungen gemacht werden, die zunehmend unplausibel sind 95 und Ergänzungen durch Theorien der volun92 Vgl. Radbruch (1956: 146 ff.); vgl. dazu auch Arthur Kaufmann (1994: 153 ff.). Man könnte eine ähnliche Klassifizierung auch anhand der neueren Einordnung von kommunitaristischen versus liberalen Theorien vornehmen. 93 Vgl. zu dem Verhältnis von Recht und Moral bei Carl Schmitt seine Schrift: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Individuums (1914: 11, 37, 67). Hierbei ist aber zu beachten, daß in der Sekundärliteratur zu Schmitt verschiedene Phasen unterschieden werden, vgl. Hofmann (1992). Zur Trennungsthese bei Hans Kelsen, vgl. dessen Aussagen in: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre (1923: 33 ff., 311 ff., 327 ff.). 94 Vgl. etwa den Titel von Schmitts Habilitationsschriftschrift: „Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen“ (1914). 95 Vgl. Edelstein/Nunner-Winkler (1993: 20).
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tativen Motivationsbestimmung bedürfen, 96 wobei sich hier die Erschließung der Gefühlsbasis anbietet. 97 So hat bspw. das Gefühl der Achtung als Motivation für moralisches Handeln eine weit zurückreichende Tradition. Darüber hinaus ist zu untersuchen, wie menschliches Handeln auf das Recht einwirkt. Damit wird auch das Ziel der Arbeit bestimmt. Es soll thematisiert werden, ob die Inanspruchnahme von subjektiven Rechten an Voraussetzungen geknüpft ist, für die das Rechtssystem selbst den Maßstab bereithält, bereithalten müßte, oder ob es auf außerrechtliche Normen angewiesen ist, um moralisch gerechtfertigte Handlungen zu gewährleisten. 3. These Aus diesen Vorüberlegungen ergibt sich als These der vorliegenden Untersuchung, daß für die Inanspruchnahme subjektiver Rechte die Zuordnung von Recht und Moral von entscheidender Bedeutung ist und unter dem Gesichtspunkt der Identität des Menschen vorgenommen werden muß. Diese drei Begriffe müssen aufeinander abgestimmt werden. 98 Ändert man nur einen von ihnen, ergeben sich hieraus vermutlich inhaltliche Konsequenzen für die anderen Begriffe. 99 Diese These ist in der Idee begründet, daß die Rechtsphilosophie nicht ohne überpositive Prinzipien auskommen kann, die sie mit der Moral verbindet. Dahinter steckt die Vermutung, daß diese Prinzipien gleichzeitig konstituierend für eine Ich-Identität sind: Rechtli96 Dies ist neben dem Begründungsproblem ein Hauptproblem der Kommunitarismusdebatte, nämlich die motivationale Verankerung der Moral im Menschen. 97 Vgl. die Ansätze in: Edelstein/Nunner-Winkler (1986), die sich v. a. kritisch mit einer Fortentwicklung des Ansatzes von Kohlberg auseinandersetzen, und das Modell von Tugendhat (1996). 98 Eine ähnliche Richtung schlägt wohl Peters (1993: 294) vor, obwohl dies von ihm selbst nicht behandelt wird: „Zu den Aufgaben einer kritischen Prüfung und rationalen Rechtfertigung einer Rechtsordnung müßte also die Rekonstruktion kategorialer Grundlagen (Begriffe wie Geltung, Verpflichtung, Verantwortlichkeit, Rechtsperson), von sozialkognitiven und soziomoralischen Schemata (Zurechnungen von Verantwortlichkeiten, grundlegende Gerechtigkeitsvorstellungen) und von ‚Tiefenstrukturen‘ oder ‚Hintergrundüberzeugungen‘ im Recht nach der Art von impliziten ‚Gesellschaftsbildern‘ mit empirisch-normativem Doppelcharakter gehören. Für das praktische Verhalten gegenüber dem Rechtssystem, etwa die ‚Mobilisierung‘ von Recht in gerichtlichen Verfahren, also die Art der Inanspruchnahme von Recht zur Durchsetzung von Ansprüchen und zur Regelung von Konflikten, sind noch andere kulturelle Elemente relevant: kulturelle Einstellungen wie institutionelle Faktoren; auch mögen hier rationalere und weniger rationale Formen vorliegen.“ 99 Damit überschneidet sich die Arbeit zum Teil mit dem Anliegen von Morlok (1993). Morlok ist an der im Rechtssystem enthaltenen Spannung zwischen objektiver Verbindlichkeit, die Voraussetzung für eine effiziente Handlungskoordinierung ist, und dem Selbstverständnis des Menschen im Recht interessiert und stellt die These auf, daß die subjektive und die objektive Perspektive im Recht integriert werden. Dabei orientiert er sich am positiven Recht und versucht eine Einteilung zu finden, in welchen Rechtsgebieten dem Selbstverständnis verstärkt Relevanz zukommen soll und inwieweit die Heranziehung subjektiver Kriterien für die rechtliche Entscheidung wichtig erscheint.
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Kap. 1: Einleitung
che Freiheit, moralisches Bewußtsein und (qualitative) Ich-Identität verweisen aufeinander. Die Art und Weise der Rechtsdurchsetzung, verknüpft mit der Art und Weise der Rechtsbegründung, führen zu unterschiedlichen Formen der Selbstachtung. Wenn die Zuordnung von Recht und Moral demnach eine Rolle bei der Konstituierung der Identität einnimmt, dann kann man auch sagen, daß diese Zuordnung eine Bedingung der Möglichkeit der handelnden und denkenden Einheit des Menschen darstellt – insoweit eine transzendentale Bedingung für die Einheit des Subjekts im Bereich des Praktischen abgibt. 100 Das Anliegen dieser Arbeit stellt sich angesichts der Beobachtung der Labilität von Identitäten in modernen Gesellschaften, in denen einerseits der „Ruf nach Recht“101 immer lauter wird, andererseits die politischen Voraussetzungen des demokratischen Rechtsstaates Gefahr laufen, sich immer mehr aufzulösen. 102 Derartiges Gefahrenpotential bergen bspw. die medialen Mächte, die sich bereits im politischen Prozeß etabliert haben, 103 aber auch Kulturströme, die einem radikalen, religiösen Identitätsbild nacheifern, wie sich in den Ereignissen des 11. September 2001 anschaulich gezeigt hat. Damit ist die Frage nach der Identität immer auch eine funktional gesellschaftliche, nämlich nach den moralisch-praktischen Voraussetzungen von politischem und sozialem Handeln und gleichzeitig eine Frage nach dem Umgang mit subjektiven Rechten und den Grenzen der Verrechtlichung sozialer Beziehungen.
II. Untersuchungsgang Der Anspruch der Arbeit als Vorüberlegung zu einer systematischen Theorie gibt den weiteren Aufbau vor: Das Zuordnungsverhältnis von Recht, Moral und Identität soll bei einzelnen Autoren analysiert und systematisch rekonstruiert werden. Dies soll klären, welche Bedeutung diese Autoren der Bezugnahme auf das Recht bei der Verwendung subjektiver Rechte beimessen. Ihre Begriffe und Argumente sollen geklärt und einer kritischen Würdigung unterzogen werden, damit sie ggf. für eine moderne Theorie aktualisiert werden können. Zunächst ist das Verhältnis zwischen dem objektiven und dem subjektiven Recht zu analysieren. Ob etwa das subjektive Recht nur ein Reflex aus einem objektiven Rechtssatz ist oder eine eigene Begründungsebene hat und somit dem objektiven Recht gleich- oder gar übergeordnet ist, wird zu klären sein. Neben der Frage, in welchem Verhältnis Moral und Recht zueinander stehen, ist dieser Gesichtspunkt für die Frage relevant, welche Verbindlichkeit das konkrete subjektive Recht für den 100 Eine ähnliche Fragestellung verfolgt auch Gerhardt (1999: 20), der die Behauptung aufstellt, daß alle Standards von Politik, Recht und Moral einzig und allein von einem umfassenden Begriff und Ideal individueller Lebensführung her verständlich zu machen sind. 101 Vgl. etwa Münch (1992). 102 Zu den sozialen Voraussetzungen des Rechtsstaates und der Demokratie vgl. die immer noch aktuellen Ausführungen von Böckenförde (1991: 344 ff.). 103 Als Musterbeispiel kann hier Italien dienen, wo staatliche und mediale Macht sogar in einer Person – Berlusconi – vereinigt sind.
II. Untersuchungsgang
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einzelnen gewinnt. Nur wenn das subjektive Recht mehr ist als das passive Gegenstück zur objektiven, äußeren Rechtspflicht, kann es im subjektiven Recht um das Subjekt selbst gehen; nur dann kann es seine eigene autonome und verantwortende Entscheidung in die Rechtsdurchsetzung einbringen. Die sich dabei ergebenden Unterschiede hängen davon ab, ob der Einzelne eine funktionale oder eine normative Position für die Rechtsverwirklichung einnimmt. Somit grenzt sich die Arbeit auch intentional von einer rein historischen ab; denn die theoretische Rekonstruktion wird in der Absicht vorgenommen, die Theoriediskussion weiterzuführen. Damit kommt der Auswahl der Autoren eine entscheidende Bedeutung zu: Die Rechtsphilosophie von Immanuel Kant hat immer noch einen großen Einfluß, wenn auch mehr nach dem Motto verfahren wird: „Keiner folgt ihm, aber ohne ihn geht auch nichts“. Deshalb soll in einem ersten Schritt (Kap. 2) sein begriffliches Verständnis von Recht, Moral und Identität herausgearbeitet werden. Kants Philosophie bietet als Systemphilosophie den Vorteil, daß die Begriffe in relativer Reinheit aufeinander abgestimmt sind und so unmittelbar aufeinander bezogen werden können. Seine klare Unterscheidung zwischen Recht und Moral, aber auch seine Differenzierung zwischen transzendentalem Recht und positivem Recht legen die Vermutung nahe, daß sich bei Kant ein Maßstab finden läßt, an dem sich moderne Theorien messen lassen müssen. Die Untersuchungen zu Kant lassen sich wiederum in zwei Bereiche aufteilen. Zunächst soll die Struktur des subjektiven Rechts analysiert werden, wie es sich einerseits aus Kants Naturrecht und andererseits aus dem positiven Recht ergibt (I.). Der Begriff des subjektiven Rechts wird dabei anhand der Terminologie der analytischen Strukturtheorie von Rechten untersucht, die einleitend in einem Exkurs kurz vorgestellt wird (1.). Dadurch läßt sich erkennen, daß Kant die subjektiven Rechte bereits im Vernunftrecht anhand ihrer Struktur differenziert und unterschiedliche Ergebnisse für die verschiedenen Beziehungen von subjektiven Rechten und Rechtspflichten findet (2.). Das Vernunftrecht dient Kant nicht nur dazu, ein äußeres (inter persones), sondern auch ein inneres (intra persona) Rechtsverhältnis zu normieren, das nicht mit dem moralischen Verhältnis zu verwechseln ist. Kant findet hierin eine Möglichkeit, wie die im Naturrecht begründeten Rechtsprinzipien in der Person selbst als dynamisches Element mit in den positiven Rechtszustand hinübergenommen werden können (3.). Er gewinnt dadurch einen entscheidenden Baustein für seine Theorie, der es ihm erlaubt, nicht den Fehler seiner Vorgänger zu machen, den positiven Rechtszustand als kongruierendes Bild dem Naturrecht nachzuempfinden, sondern der einzelnen Person selbst die Last für die Verwirklichung des Vernunftrechts im positiven Rechtszustand aufzugeben (4.). Insofern korrespondieren hier Freiheit und Verantwortung. Die basalen Rechtsprinzipien geben der Person einen Orientierungsrahmen, jedoch keine exakt bestimmte Antwort vor, sondern sie muß die Entscheidung im Rahmen der Freiheit verantworten. Wenn somit die Grundzüge des rechtlichen Verhältnisses intra persona und inter persones geklärt sind, kann daran anschließend der Blick auf die Identität der Person
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Kap. 1: Einleitung
gelenkt werden (II.). Hierbei nimmt der Begriff der Achtung eine zentrale Stelle ein. Die Achtungslehre soll unter dem Blickwinkel untersucht werden, welchen Einfluß der Achtung bei den Handlungen des Subjekts zukommt. Dies dient dem Brückenschlag von der Rechtsphilosophie zur Theorie der Identität. Hierbei soll u.a. thematisiert werden, ob ein und, wenn ja, welcher Zusammenhang zwischen der Rechtsentscheidung und der Wahl der eigenen Identität besteht (1.). 104 Daran anschließend sollen die gewonnen Einsichten am Beispiel des (oben bereits erwähnten) Shylock illustriert werden (2.). In einer Zwischenbetrachtung werden die gefundenen Ergebnisse festgehalten (3.). Für die Untersuchung soll das Kantische Modell immer wieder mit Theoriemodellen neueren Datums konfrontiert werden, um Kants Texte auf einen Beitrag zu neueren Fragestellungen abzuklopfen. Einigen Fragestellungen Kants wird vertiefter nachgegangen, als es für das Verständnis dieser Arbeit unbedingt erforderlich ist. Da Kants Modell der subjektiven Rechte, welches die Unterscheidung von Naturund positiven Rechten berücksichtigt, in der Sekundärliteratur bislang nur ein Schattendasein geführt hat, wird versucht, hier nicht nur einzelne, isolierte Bausteine seiner Theorie, sondern ein möglichst ganzheitliches Bild zu zeichnen. Zum Teil sind diese Abschnitte ausdrücklich als Exkurse gekennzeichnet. Mittels der gewonnenen Begriffe soll dann Kants Modell anhand von neueren Theorien verdeutlicht und zugleich aktualisiert werden (Kap. 3). Dieses Kapitel behandelt daher drei andere Theoretiker. Nur einer von ihnen zählt als ein direkter Nachfolger Kants: der „Neukantianer“ Hans Kelsen (I.). Neben Hans Kelsen werden noch Carl Schmitt (II.) und Hermann Heller herangezogen (III.). Die herausgearbeiteten begrifflichen Axiome der Kantischen Philosophie dienen hierbei der Illustration des zuvor gewonnenen Verständnisses. Je nachdem, wie man die Axiome Kants verschiebt, so die Untersuchungsthese, gelangt man zu einem individualistischen, überindividualistischen oder transpersonalistischen Rechtsverwirklichungsmodell. Die drei Theoretiker der Weimarer Republik bieten sich zu diesem Zweck aus mehreren Gründen an: 105 Zunächst läßt ihr umfassendes Konzept sie geeignet erscheinen. Ihnen ist der Versuch gemein, den Zusammenhang von Recht, Rechtsver104 Einen Zusammenhang zwischen der gerechten Handlung und der Persönlichkeit findet sich z. B. auch bei Rawls (1991: 288 f.): „Recht verstanden, leitet sich der Wunsch, gerecht zu handeln, von dem Wunsch her, möglichst vollständig das auszudrücken, was wir sind oder sein können, nämlich freie und gleiche vernünftige Wesen mit Wahlfreiheit. Deshalb scheint mir, spricht Kant davon, daß die Nichtbeachtung des moralischen Gesetzes keine Schuldgefühle, sondern Scham hervorrufe. Das ist völlig richtig, denn für ihn bedeutet ungerecht handeln auf eine Weise handeln, die unsere Natur als freie und gleiche Vernunftwesen nicht ausdrückt. Solche Handlungen berühren also unsere Selbstachtung, unser Selbstwertgefühl, und dessen Verlust empfindet man als Scham.“ (Herv. nicht im Original). 105 Diese drei Theoretiker werden auch in anderen Untersuchungen benutzt, um klare, konträre Positionen aufzuzeigen. Die Bildung des staatlichen Willens nimmt etwa Mori (2000: 194) zum Anlaß, die drei Genannten näher zu untersuchen. Er gelangt in seiner Einschätzung ihrer Positionen insofern zu einem ähnlichen Ergebnis wie hier, weil auch bei ihm Heller die beiden anderen Theorien vermittelt.
II. Untersuchungsgang
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wirklichung und den Gründen der Rechtsgeltung zu erfassen. Dabei werden die drei Begriffe Recht, Moral und Identität mehr oder weniger umfassend thematisiert. Scheint das für Recht und Moral bei Juristen nicht ganz überraschend zu sein, nimmt etwa die Aussage Hellers, daß „Allgemeine Staatslehre (...) nur als empirische Sozialwissenschaft möglich“ 106 ist und daß „Fortschritt und Begrenzung der Soziologie (...) vom Stande einer geisteswissenschaftlichen Psychologie“ 107 abhinge, doch eine Sonderstellung ein, die sich in veränderter Form auch bei beiden anderen Theoretikern finden läßt. In dem Aufsuchen der Rechtsgründe ziehen sie interdisziplinäre Argumente heran und reflektieren auch die Bestimmungen der Identität. Heller läßt keinen Zweifel aufkommen, daß seiner Ansicht nach die „das Kelsensche System fundierende Auffassung“ eines transzendentalen Ich „nicht dem heutigen Stande der Wissenschaft entspricht“. 108 Statt dessen stellt Heller in Anlehnung an die damalige Soziologie die Theorie einer „dialektischen-Ich-Entwicklung“ 109 auf. Dieser Kritik soll im Verlaufe der Arbeit nachgegangen und anschließend mit Schmitts Theorie konfrontiert werden. Darüber hinaus werden bei den Autoren nicht nur unterschiedliche Vorstellungen über die Normativität des Rechts angeboten, sondern gerade die Bedeutung des Menschen, des Individuums nimmt bei ihnen eine jeweils unterschiedliche Stellung ein. Sie vertreten nicht nur verschiedene Theorien der Konstituierung einer Identität, sondern messen der Bedeutung des Individuums eine unterschiedliche Wertigkeit zu. Läßt sich Kelsen etwa als Vertreter einer individuellen Staatszwecklehre einordnen, mißt Schmitt in seiner überindividuellen Konzeption dem Individuum nur mehr eine marginale Rolle zu. Heller hingegen baut seine Lehre um einen transpersonalen Staatsbegriff. Hiermit bilden Kelsen, Schmitt und Heller ein Dreigestirn, das bei ähnlicher Intention, nämlich der Bildung staatlicher Einheit, doch unterschiedliche Prämissen heranzieht und so geeignet erscheint, verschiedene Sichtweisen auf die zu untersuchenden Begriffe zu erhellen. Die Probleme staatlicher Einheitsbildung sollen aber selbst nicht Thema der Arbeit sein.110 Somit bleibt ausgespart, inwieweit moralisch gerechtfertigte Handlungen notwendige Voraussetzung für die Integration eines Gemeinwesens darstellen und etwa aus diesem funktionellen Aspekt eingeräumt werden müßten. Diese gesellschaftliche Perspektive bedarf nämlich einer vorausgehenden Betrachtung der individuellen Verwendung subjektiver Rechte. Denn fraglich ist, wie die Einheit des Individuums konzipiert ist und welche Antwort die genannten Autoren hierfür bereithalten. Bei der Analyse der drei Staatstheoretiker soll immer wieder auf Kant zurückgegriffen werden. So lassen sich etwa die Ausführungen Kelsens zum subjektiven Heller, Krisis, Bd. II, S. 26. Heller, Krisis, Bd. II, S. 28 (Fn. 81). 108 Heller, Krisis, Bd. II, S. 28 (Fn. 81). 109 Niemeyer (1983: 5, 6). 110 Aber auch in dieser Auseinandersetzung würden sich die Autoren für eine Gegenüberstellung mit Kant lohnen. Selbst Schmitt (1930: 28 ff., 29, 40 f.) hat für seine Ausführungen zur staatlichen Einheit immer wieder auf Gedanken Kants zurückgegriffen. 106 107
3 Schütze
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Kap. 1: Einleitung
Recht erst auf dem oben bereits angedeuteten Hintergrund der Kantischen Theorie richtig verstehen, wie sich bspw. an folgender Behauptung zeigt: „Gerade in dieser Vorstellung von dem ‚Recht‘ auf ein eigenes Tun oder Lassen, in der Auffassung des Rechts als ‚dürfen‘ steckt der spezifische Grundfehler des Naturrechts, das mit ‚Recht‘ die von der Staatsordnung frei gelassene Sphäre, das Nicht-Gebotene oder Verbotene – das Nichtgesollte, also Gedurfte identifizierte“. 111 Kelsen nimmt hier die Unterscheidung Kants von Geboten, Verboten und Erlaubnis auf, gibt ihr aber eine andere Wendung. Es zeigt sich, wie Recht, und damit auch das subjektive Recht, um seinen ethischen Pflichtcharakter gebracht wird, obwohl Rechtssätze in der Theorie Kelsens gesollte Handlungsfreiheiten statuieren. 112 Nur bekommt dieses Sollen bei Kelsen einen ganz anderen Status. Inwieweit das Individuum in der Theorie Schmitts zu freien legitimen Handlungen fähig ist, scheint angesichts der Aussage fraglich, daß der Staat „das einzige Subjekt des rechtlichen Ethos“ ist, und daß „das konkrete Individuum dagegen (...) vom Staat gezwungen“ wird, „und seine Pflicht wie seine Berechtigung (...) nur der Reflex eines Zwanges“ 113 sind. Herauszuarbeiten ist, welche Bedeutung Schmitt hier dem subjektiven Recht beimißt und welche Folgerungen sich hieraus für die Handlungen des einzelnen ergeben. Somit erscheint eine Beschäftigung mit diesen Autoren sinnvoll, um Aussagen über den Stellenwert subjektiver Rechte in Handlungen zu gewinnen: Erstens könnten in ihren Theorien Ansätze verborgen sein, die neue Aspekte in die aktuelle Diskussion bringen, und zweitens könnten ggf. unhaltbare Prämissen in ihrem theoretischem Gerüst Bedeutung für die aktuelle Diskussion haben. Schmitt, Kelsen und Heller nehmen für die moderne Staatsrechtslehre nach wie vor einen maßgeblichen Platz ein, und ihre Gedanken finden nicht nur in der Rechtsphilosophie, sondern auch in der Rechtsdogmatik große Beachtung. Insofern müßte die Rechtsdogmatik das Erbe dieser drei, soweit es Einlaß gefunden hat, kritisch überprüfen. Im letzten Teil der Arbeit (Kap. 4) werden dann die sich aus den Grundgedanken eröffneten Perspektiven ausblickhaft weiterverfolgt. Mehr als eine erste Veranschaulichung der ins Auge gefaßten Konzeption wird dort nicht angestrebt; es soll aber die Richtung angedeutet werden, in der man weiterarbeiten müßte, wenn sich die Überlegungen als haltbar erweisen.
111 112 113
Kelsen (1923: 571). Vgl. Kelsen (1923), in der auch dort abgedruckten Vorrede zur 1. Aufl., S. VI. Schmitt (1914: 85).
Kapitel 2
Historische Vergegenwärtigung: Kants ursprüngliche Idee – Recht, Moral und Identität bei Immanuel Kant I. Das subjektive Recht bei Kant Die bisherigen Überlegungen dienten dazu, in das Problemfeld einzuführen. Im folgenden Schritt die Theorie Kants insofern nachgezeichnet werden, als sie Aussagen zu der vorliegenden Fragestellung liefert. Um Ausführungen über den Umgang mit subjektiven Rechten machen zu können, ist zunächst der Begriff des subjektiven Rechts näher zu bestimmen. Was versteht Kant unter einem subjektiven Recht? Kann man überhaupt von dem subjektiven Recht sprechen, oder gibt es gar ein ganzes Bündel verschiedener subjektiver Rechte, die sich nicht auf einen Nenner bringen lassen und deshalb gesondert untersucht werden müssen? Hat ein subjektives Recht des Naturrechts die gleiche oder eine andere Struktur als ein subjektives Recht des positiven Rechts? Zu diesen Fragen lassen sich noch zahlreiche weitere hinzufügen, die im Verlaufe der Arbeit gestellt werden. Das Problem der Erörterung des Rechtsbegriffs wird dadurch noch vergrößert, daß Kant selbst den Begriff des subjektiven Rechts nicht wörtlich verwendet. 1 Die vorliegende Fragestellung wird bei Kant also nicht explizit beantwortet, sondern es bedarf eines gezielten Abfragens und Auslegens des Textes. Dabei gibt es einige Formulierungen Kants, die sich unmittelbar zur Ausleuchtung des Begriffs vom subjektiven Recht heranziehen lassen: Kant spricht stellenweise vom Recht als „Vermögen andere zu verpflichten“ 2; an anderen Stellen spricht er vom „Begriff des Rechts, sofern er sich auf eine ihm korrespondierende Verbindlichkeit bezieht“ 3. Hierbei ist zunächst augenfällig, daß sich das Recht auf eine ihm korrespondierende Pflicht bezieht. Statt „Verpflichtung“ wählt Kant auch den Begriff der „Bestimmung über einen anderen“: ein „persönliches Recht“ ist „der Besitz der Willkür eines anderen als Vermögen, sie durch die meine nach Freiheitsgesetzen zu einer gewissen Tat zu bestimmen.“ 4 1 Vgl. auch Kiefner (1969: 10): „Was im übrigen der Begriff des subjektiven Rechts als solches anlangt, so findet sich der Begriff bei Kant selbst nicht. Die Sache ist indes da, wie allein schon die Termini Sachenrecht und persönliches Recht erweisen; es fehlt nur der Oberbegriff.“ 2 Kant, MS-RL, S. 345 (AB 44), Herv. nicht im Original. 3 Kant, MS-RL, S. 337 (AB 32), Herv. nicht im Original. 4 Kant, zit. nach Eisler, S. 456.
3*
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Kap. 2: Historische Vergegenwärtigung
Andere Formulierungen nehmen ihren Ausgangspunkt bei dem Begriff der Freiheit: „Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.“ 5 Dieses nennt Kant auch das „angeborene Recht der Freiheit“ 6. Nach dieser ersten Annäherung an die Kantische Rechtstheorie ist das subjektive Recht danach entweder direkt auf die Verpflichtung einer anderen Person bezogen, oder es stellt eine Art Freiheitsraum dar, sofern die handelnde Person auf eine andere Person trifft, ohne mit dieser in eine nähere Beziehung zu treten. Der Pflichtbegriff dient zumindest nicht direkt zur Definition des subjektiven Rechts in der zweiten Formulierung. Dies könnte zur Folge haben, daß die verschiedenen Formulierungen zu unterschiedlichen Inhalten führen, sie könnten aber auch den gleichen Aussagegehalt haben, wenn die verschiedenen Begriffe sich aufeinander zurückführen ließen; eine Bedeutungsmehrheit des Oberbegriffs subjektives Recht würde damit ausgeschlossen, eine Begriffseinheit gewonnen. Um die Mehrdeutigkeit dieser Begriffe verstehen und erklären zu können, wird zunächst ein Exkurs über die analytischen Strukturmöglichkeiten von subjektiven Rechten eingeschoben. Auf diesem Weg werden die analytischen Möglichkeiten eines subjektiven Rechts aufgezeigt. Mit dem so gewonnen Begriffsverständnis kann dann der Kantische Begriff des subjektiven Rechts genauer untersucht werden.
1. Exkurs: Eine analytische Strukturtheorie von subjektiven Rechten Um innerhalb der Mannigfaltigkeit und Vielfalt der Anschauungen über den Begriff des subjektiven Rechts Aussagen treffen zu können, 7 versucht Robert Alexy 8 eine Strukturtheorie der Grundrechte als subjektive Rechte herauszuarbeiten. Er macht sich dabei die Vorarbeiten der analytischen Rechtstheorie, vor allem von Wesley Newcomb Hohfeld, 9 zu Nutzen. 10 Für die vorliegende Arbeit soll die Theorie Alexys so rekonstruiert werden, daß von den Besonderheiten der subjektiven Rechte als Grundrechte abstrahiert wird, so daß die Theorie einen allgemeingültigen Charakter bekommt; auf diese Weise soll sie dazu dienen, allgemeine Aussagen über die Strukturierung von subjektiven Rechten zu treffen. Alexy führt eine erste begriffliche Unterscheidung des subjektiven Rechts durch und gelangt so zu einem Drei-Stufen-Modell der subjektiven Rechte. Dabei differenziert er zwischen Gründen für subjektive Rechte, subjektiven Rechten als rechtKant, MS-RL, S. 345 (AB 45). Kant, MS-RL, S. 346 (AB 47). 7 Zu der Vielfalt der Bedeutungen des subjektiven Rechts – vgl. auch Vonlanthen (1964). 8 Alexy (1986). 9 Vgl. Hohfeld (1964). 10 Einen Abriß verschiedener analytischer Theorien der Rechte gibt Nino (1992: xi ff.). 5 6
I. Das subjektive Recht bei Kant
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lichen Positionen und Relationen und ihrer rechtlichen Durchsetzbarkeit. 11 Gründe für subjektive Rechte betreffen die normative Ebene. Letztere soll an dieser Stelle noch außen vor gelassen werden, da sie nicht die analytische Struktur von Rechten bestimmt. 12 Die Strukturtheorie soll für die vorliegende Arbeit ja gerade unabhängig von der spezifischen Geltungsfrage eine Darstellung der subjektiven Rechte ermöglichen. Dies betrifft nach Alexy die Darstellung der Rechte als „Positionen“ und „Relationen“. 13 „Position“ bezeichnet dabei die Stellung, die jemand durch eine individuelle Norm eingeräumt bekommt. Sie betrifft die rechtliche Position. 14 Alexy versteht darunter nicht nur definitive sondern auch prima-facie-Positionen. Definitiven und prima-facie-Positionen entspricht ungefähr die geläufige Unterscheidung von Regeln und Prinzipien. 15 Prima-facie-Positionen entbehren eines definitiven Festsetzungsgehalts, weil bei ihrer Anwendung die Möglichkeit eingeräumt werden muß, gegenläufige Gründe in die Argumentation miteinzubeziehen. 16 Wie das Verhältnis von Grund und Gegengrund festzusetzen ist, wird durch das Prinzip selbst nicht entschieden. Dafür braucht man weitere Entscheidungsnormen. Bei der argumentativen Abwägung der Rechtsprinzipien besteht vor allem darüber Uneinigkeit, ob die Rechtsordnung genau eine Lösung vorgibt – sog. Herkules-Richter, der ein Allwissen hat 17 –, oder aber dem Rechtsanwender ein Ermessensraum zusteht. Regeln verlangen demgegenüber genau das zu tun, was durch sie geboten wird; sie enthalten eine Festsetzung im Raum der tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten. 18 Diese Festsetzung kann an rechtlichen oder tatsächlichen Unmöglichkeiten scheitern, was zu ihrer Ungültigkeit führen kann; wenn sie aber nicht daran scheitert, dann gilt definitiv, was die Regel sagt. Diese Unterscheidung ist freilich noch etwas ungenau. Aufgrund des Stufenbaus der Rechtsordnung kann es etwa dazu kommen, daß durch ein grundlegendes Prinzip in eine Regel eine Ausnahmeklausel mitaufgenommen werden muß; je stärker das Gewicht in einer formellen, positiven Rechtsordnung den Prinzipien eingeräumt wird, desto stärker ist der prima-facie-Gehalt ihrer Regeln. 19 Trotzdem nähern sich dadurch Regeln und Prinzipien nur an, werden gleichwohl nicht identisch. Für PrinAlexy (1986: 164). Vgl. Alexy (1986: 159 ff.). 13 Vgl. Alexy (1986: 163 f.). 14 Hierzu ausführlich: Alexy (1986: 163 f.). 15 Ausführlich hierzu Alexy (1985), der auch einen kurzen historischen Abriß dieses Begriffspaares in der neueren deutschen Rechtstheorie aufzeigt (ebd., 13, 14). 16 Vgl. Alexy (1986: 87 f.). 17 Für dieses Modell steht vor allem die Rechtstheorie von Dworkin (1990); hierzu vgl. insbesondere Siekmann (1990: 15 f.). 18 Vgl. zu der Unterscheidung von Regeln und Prinzipien auch das Werk von Siekmann (1990: bes.: 52 ff.); zuletzt auch den Sammelband, der von Schilcher/Koller/Funk herausgegeben worden ist (2000). 19 Vgl. Alexy (1986: 89). 11 12
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Kap. 2: Historische Vergegenwärtigung
zipien müssen die Vorrangbedingungen im konkreten Fall jeweils neu festgelegt werden, Regeln hingegen beruhen grundsätzlich auf einer viel genaueren autoritativen Festlegung. Ihr prima-facie Charakter bleibt ein Ausnahmefall. Mit „Relation“ bezeichnet Alexy das normative Verhältnis des Rechtsträgers zu einem Gegenstand oder einer Person. 20 Dabei führt Alexy zweistellige Relationen ein, wenn nur die Beziehung zwischen zwei Personen bezeichnet wird; dreistellige Relationen ergeben sich demgegenüber, wenn das Verhältnis zwei Personen und einen Gegenstand betrifft. Die nächste Unterscheidung, die Alexy einführt, ist die Basis der analytischen Theorie der Rechte: eine Dreiteilung der als „Rechte“ zu bezeichnenden Positionen in (a) Rechte auf etwas, (b) Freiheiten und (c) Kompetenzen. 21 Subjektive Rechte stellen danach insgesamt ein Bündel unterschiedlicher rechtlicher Positionen und Ansprüche dar (d): a) Das Recht auf etwas Die Grundstruktur der Rechte auf etwas kann als eine dreistellige Relation aufgefaßt werden: a hat gegenüber b ein Recht auf G. Dabei ist „a“ Inhaber des subjektiven Rechts, „b“ die Person, gegen die sich der Anspruch richtet, und „G“ ist der Gegenstand des Rechts, eine Handlung des Adressaten. Als Gegenstand des Rechts lassen sich sowohl negative Handlungen (Unterlassungen) als auch positive Handlungen (Tun) denken. 22 Die Rechte auf negative Handlungen lassen sich noch weiter in Gruppen einteilen. Die erste Gruppe besteht aus Rechten darauf, daß der Adressat bestimmte Handlungen des Trägers des Rechts nicht ver- oder behindert. Die zweite Gruppe besteht aus Rechten darauf, daß der Adressat bestimmte Eigenschaften oder Situationen des Trägers des Rechts nicht beeinträchtigt, und die dritte Gruppe besteht aus Rechten darauf, daß der Adressat (Staat) bestimmte rechtliche Positionen des Trägers des Rechts nicht beeinträchtigt. Rechte auf positive Handlungen sind hingegen solche, die entweder eine faktische oder eine normative Handlung zum Gegenstand haben. Zwar meint Alexy hiermit vorwiegend Ansprüche gegenüber dem Staat, jedoch kann man den Begriff weiter fassen und hierunter auch solche Handlungen unter Privaten zählen, die etwa eine Reparaturleistung aus vorangegangener Schadenszufügung gewährleisten. Die Rechte lassen sich nicht nur in Hinblick auf ihren Gegenstand, sondern auch in ihrem Verhältnis zu dem Begriff der Freiheit bestimmen. Hierzu führt Alexy die 20 21 22
Vgl. Alexy (1986: 171 f.). Alexy (1986: 171). Alexy (1986: 173).
I. Das subjektive Recht bei Kant
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deontische Logik ein. Diese Normenlogik untersucht die mögliche Struktur von Normenaussagen, unter dem Gesichtspunkt „was sein soll“; d. h. sie stellt die Form möglicher Sätze normativer Aussagen auf und untersucht ihr Verhältnis. Die Normenlogik soll hier insoweit wiedergegeben werden, wie ein Verzicht auf ihre eigene Formal- und Zeichensprache überflüssig erscheint. Die deontischen Grundbegriffe sind die Begriffe des Gebots, des Verbots und der Erlaubnis. Auch hier tritt wieder die dreistellige Relation zwischen diesen Begriffen auf, die für das subjektive Recht in seinem relationalen Charakter typisch ist. Da hier nur die Frage relevant ist, ob aus der Inanspruchnahme des subjektiven Rechts auch eine moralische Handlung folgt, ist hier allein das Recht des a, nicht etwa eine korrespondierende Pflicht des b wichtig, 23 die ebenfalls zum Gegenstand der Normenlogik zählt. So kann die Aussage „a hat ein subjektives Recht gegenüber b“ folgende Variationen einnehmen: – Es ist a geboten, sein Recht auf die Handlung des b zu fordern. – Es ist a verboten, sein Recht auf die Handlung des b zu fordern. – Es ist a erlaubt, sein Recht auf die Handlung des b zu fordern. Die drei deontischen Operatoren lassen sich auch untereinander definieren. Daß es a geboten ist, die Handlung von b zu fordern, bedeutet, daß es a nicht erlaubt ist, die Handlung von b nicht zu fordern. Das Gebot und die Erlaubnis sind also gegenseitig definierbar. Dergleichen läßt sich auch von der Beziehung zwischen der Erlaubnis und dem Verbot aussagen. Daß es a verboten ist, die Handlung von b zu fordern, bedeutet, daß es nicht erlaubt ist, dies zu tun. Der Begriff der Erlaubnis ist für die Strukturtheorie der subjektiven Rechte von besonderem Interesse. Der Grundmodus der Erlaubnis besteht in der Negation des Verbots. Daß es a erlaubt ist, von b eine Handlung zu fordern, bedeutet demnach, daß es nicht verboten ist, dies zu tun. Damit ist die Bestimmtheit des Aussagegehalts aber relativ schwach. Was erlaubt i. S. v. nicht verboten ist, kann geboten sein. Wer die Meinung vertritt, daß die Wahrnehmung eines Rechts zugleich Pflicht ist, zielt, so Alexy, auf eine derartige Verbindung von Erlaubnis und Gebot. Jedoch ist der Fall denkbar, daß Erlaubnis die Abwesenheit von Gebot und Verbot meint. So kann es einmal erlaubt sein, eine Handlung zu tun oder eine Handlung zu unterlassen. Erster Fall kann dann als „positive“, letzterer als „negative Erlaubnis“ bezeichnet werden. Diese beiden Erlaubnisbegriffe kann man so zusammensetzen, daß ihr Produkt als „Freistellung“ bezeichnet werden kann. Die Freistellung wird im nächsten Abschnitt bei der Erörterung der Freiheit eine besondere Rolle spielen. b) Das Recht auf Freiheit Eine andere analytische Ebene der subjektiven Rechte betrifft den Begriff der Freiheit. Auch sie läßt sich als eine dreistellige Relation fassen; nämlich einer Be23
Vgl. Alexy (1986: 185 ff.).
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Kap. 2: Historische Vergegenwärtigung
ziehung zwischen der Person, die frei, bzw. unfrei ist („x“), dem Hindernis, dem sie ausgesetzt ist („y“), und das, was dieses Hindernis ver- oder behindert („z“). 24 Ein Satz über die Freiheit nimmt demzufolge folgende Form an: „x ist frei (nicht frei) von y, z zu tun oder z nicht zu tun“ 25, oder er läßt sich auf einen Satz dieser Form zurückführen. Diese „Freiheitsformel“ basiert auf der Prämisse, daß der Freiheitsgegenstand eine Handlungsalternative ist, somit ein „negativer“ Freiheitsbegriff. Dieser unterscheidet sich von einem „positiven“ Freiheitsbegriff, bei dem genau eine einzige Handlung, die gewisser Qualifikationen bedarf, Gegenstand der Freiheit ist. 26 Auch der Freiheitsbegriff läßt sich unterschiedlich mit den Modaltypen des Gebots, des Verbots und der Erlaubnis ausdrücken: Der Satz (1) „a ist frei von rechtlichen Verboten, diese Handlung zu tun oder zu unterlassen“, ist äquivalent mit dem Satz: (2) „Es ist a (rechtlich) 27 erlaubt, diese Handlung zu tun, und es ist a (rechtlich) erlaubt, diese Handlung zu unterlassen.“ Diese Umformung von (1) in (2) ist deshalb möglich, weil zwischen dem Freiheitshindernis und dem Freiheitsgegenstand eine analytische Beziehung besteht. 28 Das rechtliche Verbot ist das Verbot genau des Freiheitsgegenstandes. Wegen dieser Besonderheit ist es möglich, den Begriff der rechtlichen Freiheit statt auf die allgemeine dreistellige Freiheitsrelation („x ist frei von y, z zu tun“) unmittelbar auf den Begriff der Erlaubnis zu stützen. Um diesen Freiheitsbegriff näher zu erläutern, führt Alexy die weitere Unterscheidung zwischen bewehrten und unbewehrten Freiheiten ein. (1) Unbewehrte Freiheiten Unbewehrte Freiheiten sind das, was oben als „Freistellung“ bezeichnet wurde. Sie ist als „Erlaubnis“ die reduzierbare rechtliche Freiheit, etwas zu tun oder zu unterlassen. Zur Qualifizierung negativer rechtlicher Freiheit reicht also nur eine Seite dieser Konjunktion nicht aus. Die Erlaubnis, die Handlung zu tun, begründet keine rechtliche Freiheit, genauso wenig, wie die Erlaubnis, die Handlung nicht zu tun, also zu unterlassen. Von rechtlicher Freiheit läßt sich nach dieser Definition also erst Alexy (1986: 196). Alexy (1986: 198). 26 Zu den Ursprüngen der aktuellen Auseinandersetzung um Freiheitstheorien siehe grundlegend Berlin (1969). Vgl. auch Taylor (1994: 687). 27 Der Zusatz ‚rechtlich‘ ist erforderlich, weil das subjektive Recht nichts darüber aussagt, ob diese Handlung dem a auch faktisch möglich ist, etwa aus finanziellen Erwägungen, etc. 28 Alexy (1986: 202). 24 25
I. Das subjektive Recht bei Kant
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sprechen, wenn seitens des Rechts kein Gebot oder Verbot besteht, die Handlung zu tun oder zu unterlassen. Dabei lassen sich personell absolute und relative unbewehrte Freiheiten unterscheiden: „Relativ“ bedeutet hier die Relation zu einer oder mehreren bestimmten Personen. Als relative Freiheit ist a gegenüber b frei, als Absolute ist a demgegenüber in bezug zu allen Rechtssubjekten frei, diese Handlung zu tun oder zu unterlassen. Eine andere Perspektive auf diese dreistellige Relation bekommt man, wenn man die Freiheit als gegenständliche absolute und relative Freiheit einordnet: „a hat gegenüber b genau eine absolute Freiheit, wenn es a gegenüber b erlaubt ist, alle Handlungen vorzunehmen und zu unterlassen; er hat gegenüber b eine gegenständlich relative Freiheit, wenn es ihm gegenüber b erlaubt ist, mindestens eine Handlung vorzunehmen und zu unterlassen. Wenn jede Person personell und gegenständlich rechtlich absolut frei ist, besteht die von Hobbes im Naturzustand angenommene normative Situation;“ 29 es besteht dann ein rechtsfreier Zustand zwischen den Subjekten. Damit ist die unbewehrte Freiheit eine bloße Negation des Sollens, 30 nämlich eine Negation des Gebots und eine Negation des Verbots. Hierbei ist zu beachten, daß trotz dieser Negation keine Aussage über den primären Status der Sollens-Normen oder aber der Freiheit gemacht ist. Es läßt sich logisch ebenso denken, daß die Freiheit das Primäre ist und diese dann durch Gebote und Verbote eingeschränkt wird, wie auch, daß das Sollen das Primäre ist und durch Nicht-Gebote und Nicht-Verbote aufgehoben wird und damit die Freiheit erst schafft. Strittig ist, wie die Handlungsqualifikation als Erlaubnis zustande kommt. Sie kann durch explizite Erlaubnisnormen diese Eigenschaft bekommen, oder aber das Rechtssystem enthält sich normativer Aussagen über Gebote und Verbote, so daß dann das Tun oder die Unterlassung normlos zu einer Erlaubnis qualifiziert wird. (2) Bewehrte Freiheiten Bewehrte Freiheiten schließen anders als unbewehrte die Sicherung der Freiheit mit ein. Dies läßt eine Konstruktion zu, die als inhaltsgleicher Schutz die Freiheit so umfaßt, daß genau diese Erlaubnis, genau dieses Tun oder diese Unterlassung geschützt wird. Sie kann aber auch so bestehen, daß nur bestimmte Handlungen im Vorfeld oder Umfeld der Erlaubnis geschützt werden. Bildlich gesprochen kann die Bewehrung die Kreisfläche selbst, oder aber eine Mauer um den Kreis bezeichnen, wenn man den Erlaubnisraum mit der Kreisfläche gleichsetzt. Somit besteht die bewehrte Freiheit idealtypisch in einer Verbindung einer unbewehrten Freiheit und eines Rechts auf Nichthinderung von Handlungen. 31 Danach würde das Recht auf Nichthinderung von Handlungen der Mauer um die Kreisfläche entsprechen. 29 30 31
Alexy (1986: 204 f.). Alexy (1986: 205). Alexy (1986: 209).
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Kap. 2: Historische Vergegenwärtigung
Die Bewehrung kann aber auch in einem Recht auf eine positive Handlung bestehen. Diese ist vor allem in Relationen zwischen mindestens drei Rechtssubjekten denkbar, in denen beispielsweise a gegenüber b einen Anspruch auf Schutz vor c hat. Damit dient die Bewehrung dem Rechtsträger dadurch, daß die durch das subjektive Recht rechtlich eingeräumte Möglichkeit auf bestimmte Handlungen auch faktisch möglich sein soll; sie dient der Durchsetzung der faktischen Freiheit und der Realisierung des Rechts. Anders ausgedrückt: Faktische Hindernisse sollen beseitigt werden oder gar nicht erst entstehen.
c) Das subjektive Recht als Kompetenz Einen dritten Aspekt stellen subjektive Rechte als Kompetenzen dar. 32 Kompetenzen zeichnen sich dadurch aus, daß durch bestimmte Handlungen des oder der Inhaber/s der Kompetenz die rechtliche Situation geändert wird. Sie ermöglicht eine Erweiterung der rechtlichen Handlungsfähigkeit des Individuums. 33 Das entscheidende Abgrenzungsmerkmal zu anderen Handlungsmöglichkeiten besteht darin, daß damit Handlungen bezeichnet werden, die erst im Recht möglich sind; sie können nicht allein aufgrund von natürlichen Fähigkeiten vorgenommen werden, sondern sie setzen Regeln voraus, die für ihren Gebrauch konstitutiv sind. 34 Zu unterscheiden sind sie u. a. von Verhaltensnormen, die Handlungen bewerten, also eine regulative Wirkung haben, indem sie Verpflichtungen, Rechte auf etwas und Freiheiten statuieren. 35 Sie bilden somit, um bei dem Kreisbildnis zu bleiben, das Instrumentarium den Umfang des Kreises zu verändern. Abzugrenzen sind sie von Handlungen, wie z. B. deliktischen Handlungen, die auch die rechtliche Situation ändern, nämlich gegebenenfalls einen Schadensersatzanspruch begründen. Hierbei wird aber keine Kompetenz ausgeübt, denn es wird bei der Deliktshandlung nicht von einem Recht Gebrauch gemacht, sondern die Deliktshandlung besteht ja gerade in einer Überschreitung der eingeräumten Befugnisse. Kompetenzen beschränken sich also auf rechtmäßige Situationsveränderungen. Weiterhin muß man die Kompetenz von der Erlaubnis abgrenzen. Zwar sind Kompetenzhandlungen generell erlaubt, aber die Erlaubnis bezieht sich auf faktische Handlungen. 36 Die Erlaubnis erweitert nicht die natürliche Handlungsfähigkeit, sie verändert nicht den Umfang des Kreises, sondern sie bewegt sich im Kreis der Rechtsmöglichkeiten. Als Beispiel für ein Kompetenzrecht kann der privatrechtliche Eigentumserwerb oder aber das öffentlich-rechtliche Wahlrecht dienen. Alexy (1986: 211). Ausführlich hierzu auch Siekmann (1990: 48 f.). 34 Alexy (1986: 215) verwendet hierfür den Begriff „institutionelle Handlungen“, den er aus dem Englischen von Searle und Austin übernimmt. 35 Alexy (1986: 216). 36 Vgl. zu den Unterschieden Siekmann (1990: 48). 32 33
I. Das subjektive Recht bei Kant
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d) Das subjektive Recht als Bündel von Positionen? Bislang ging es um einzelne rechtliche Positionen. Jedoch kann es auch subjektive Rechte geben, die ein ganzes Bündel von unterschiedlichen Positionen darstellen. Fraglich ist zunächst, wie ein solches Bündel zustande kommt. Ob es etwa der Ausfluß einer einzigen Rechtsnorm ist, oder aber ihm zugleich ein Bündel von Normen entspricht? 37 Dies hängt davon ab, wie weit man den Begriff der Rechtsnorm faßt. Wenn man die Rechtsnorm so definiert, daß sie genau eine Rechtsposition einräumt, entspricht jeder Rechtsposition eine Rechtsnorm.38 Es lassen sich aber weitere Definitionen denken. Nach Alexy beinhaltet etwa ein Grundrecht des Grundgesetzes mehrere Normen und räumt ein Bündel von Positionen ein. Die Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG etwa gebe zugleich ein Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe und ein Recht auf positive Handlungen, etwa Teilhaberechte. Erst die Addition der einzelnen Positionen macht damit das Recht in seiner Gesamtheit aus. Weiterhin kommt auch bei Rechten die Unterscheidung von Regeln und Prinzipien zum Tragen, bzw. ob sie definitive oder prima-facie Positionen sind. Auch können sie relative Freiheiten und zugleich absolute Freiheiten statuieren. Dadurch, daß dem subjektiven Recht auch prima-facie-Positionen zugeteilt werden können, kann das subjektive Recht einen dynamischen Charakter bekommen, 39 während es als rein definitive Position statischen Charakter hat. Als dynamische Position eröffnet es für das Rechtssystem Entwicklungsmöglichkeiten. Diese können darin bestehen, Zielvorgaben für den Rechtsetzungs- und Anwendungsprozeß vorzugeben; es bietet aber zugleich die Möglichkeit, eine individuelle Anpassung zu finden.
2. Die Struktur des subjektiven Rechts bei Kant Im folgenden sollen die gewonnenen Erkenntnisse der aufgezeigten Strukturtheorie nun für die Kantischen Formulierungen des subjektiven Rechts fruchtbar gemacht werden: Die Kantischen Rechtsformulierungen sollen darauf untersucht werden, inwieweit (a) „Rechte auf etwas“, (b) Freiheiten und Kompetenzen eingeräumt werden. Dies soll nicht nur in analytischer Weise geschehen, sondern zugleich ist ihr normativer Geltungsanspruch mit zu rekonstruieren: Warum gibt es subjektive Rechte? Welche Bedeutung haben sie für das Recht? Welche Bedeutung haben sie für das Individuum? Da das Kompetenzrecht von der Grundstruktur der beiden anderen Rechte abweicht, wird es hier nur am Rande erwähnt. Das Kompetenzrecht geht auf Kompetenznormen zurück, nicht auf Verhaltensnormen. In diesem Sinne läßt sich nur schwer davon sprechen, eine Kompetenznorm solle ausgeübt werden; 37 Vgl. die Bestimmung des Grundrechts als Bündel von Positionen und Normen bei Alexy (1986: 224 f.). 38 So Alexy (1986: 224). 39 Alexy (1986: 228).
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Kap. 2: Historische Vergegenwärtigung
hier kann man nicht von einer Durchsetzung sprechen, da es keine Verhaltensnorm ist. Die Nichterfüllung einer Kompetenznorm führt nicht etwa zur Rechtswidrigkeit eines Aktes, sondern zu seiner Nichtigkeit. Ein anderes Urteil kann sich erst dann ergeben, wenn eine Kompetenznorm durch eine Verhaltensnorm „begleitet“ wird, die die korrekte Wahrnehmung der Kompetenznorm gebietet. In einer gewissen Weise sind Kompetenznormen mit der Struktur von Freiheitsrechten identisch, da die Einräumung von Kompetenzen den Freiheitsraum des einzelnen vergrößert. Da die ausführliche Erörterung der Kompetenzrechte insbesondere die komplizierte Begründung des Eigentums bei Kant genau darstellen müßte40 und da sie erst im öffentlich-rechtlichen Rechtszustand ausgeübt werden können, wird auf diese erst bei der Behandlung des positiven Rechts eingegangen werden, 41 soweit es für die Struktur der vorliegenden Arbeit notwendig erscheint. An dieser Stelle soll sich die Darstellung weitgehend auf das Kantische Naturrecht beschränken.
a) Das Recht auf etwas Zunächst soll gezeigt werden, in welcher Form Kants Rechtsdefinition „Rechte auf etwas“ normiert. Nach der bereits vorgestellten Strukturtheorie haben sie die Grundstruktur: a hat gegenüber b ein Recht auf G. Rechte auf etwas benötigen also einen Adressaten, der gegenüber dem Rechtsinhaber eine Pflicht hat. Deshalb bietet es sich hier an, die oben erwähnten Formulierungen Kants heranzuziehen, nach denen das subjektive Recht ein Vermögen ist, andere zu verpflichten: Recht ist ein „Vermögen andere zu verpflichten“ 42. Der Pflichtbegriff ist einer der Zentralbegriffe der Sittlichkeitslehre Kants: Es gibt innere und äußere Pflichten, Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen andere. Als rechtlichen Pflichtbegriff führt Kant in der Rechtslehre zunächst den äußeren Pflichtbegriff ein, d. h. er bezieht sich auf die Pflicht eines anderen Subjekts. 43 Verpflichten bedeutet nach Kant, jemanden zu einer Handlung zu verbinden. 44 Somit ist das Vermögen, einen anderen zu verpflichten, gleichlautend mit dem Satz, jemanden zu einer Handlung bestimmen. Kant selbst spricht in einer seiner Vorlesungen von einem „Recht wozu“ 45. Dieser Satz hat die Grundstruktur: a hat das Vermögen, b zu einer Handlung zu verpflichten. Er bildet eine dreistellige Relation. Vgl. hierzu insbesondere König (1999 a). Unten, 106 ff. 42 Siehe zu dieser Formulierung oben. 43 Vgl. Kant, MS-RL, S. 348 (AB 49), wo Kant darstellt, daß es auch Rechtspflichten gegen sich selbst geben kann, somit nicht nur im Verhältnis zu anderen. 44 Kant, MS-RL, S. 328 (AB 21): „Pflicht ist diejenige Handlung, zu welcher jemand verbunden ist. Sie ist also die Materie der Verbindlichkeit, und es kann einerlei (der Handlung nach) sein, ob wir zwar auf verschiedene Art dazu verbunden werden können.“ 45 Kant, Naturrecht Feyerabend, AA 27, Bd. 2.2, S. 1332: „Ich habe ein Recht wozu, wenn ich Grund habe, andren Willen zu nöthigen.“ (Herv. nicht im Original). 40 41
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Diese Bestimmung ist offen für verschiedene Interpretationen. In Analogie zu dem oben Gesagten ist es nun möglich, zu sagen: a ist es geboten, b zu G zu verpflichten; die Formulierung kann semantisch aber auch bedeuten: a ist es freigestellt, b zu G zu verpflichten; zuletzt wäre auch möglich, zu sagen, es ist a erlaubt, sein Recht auf die Handlung G des b zu fordern. Nur der Fall, daß es a verboten ist, b zu G zu verpflichten, stimmt mit dem semantischen Gehalt der Aussage nicht überein. Um diese Interpretationsweite zu verengen, muß nun geklärt werden, wie Kant das Wort „Vermögen“ versteht, wenn er davon spricht, daß Recht das „Vermögen andere zu verpflichten“ ist. Wenn diesem Wort ein normativer Sinn beigegeben ist, könnte es bedeuten, daß eine Verpflichtung besteht, dieses Recht wahrzunehmen. Ein Recht wäre dann gleichbedeutend mit einem Gebot. Ein Recht haben bedeutet dann, daß man von seinem Recht Gebrauch machen soll oder sogar muß. Es könnte sogar darin gipfeln, daß man zur Rechtsdurchsetzung gezwungen werden könnte. Genauso wäre es aber möglich, eine Erlaubnis bzw. Freistellung hierunter normativ zu erfassen. Somit müssen zur weiteren Interpretation normative Bestimmungen von Kant herangezogen werden, um den Inhalt dieser Aussage genauer zu bestimmen. Fraglich ist, ob ein solches kategorisches Rechtsgebot sich in die Kantische Rechtssystematik einpassen könnte. Auf den ersten Blick wirkt dies ein wenig befremdlich, da im allgemeinen Sprachgebrauch und Verständnis Rechte ja gerade deshalb eingeräumt werden, um über deren Gebrauch zu entscheiden, also eher der Freistellung entsprechen; Recht kommt im allgemeinen Sprachgebrauch zumeist die Bedeutung von freier Verfügung zu: 46 Über mein Recht kann ich frei verfügen; somit kann ich auf dieses verzichten oder es in Anspruch nehmen. Ein Gebot, ein subjektives Recht auszuüben, scheint diesem Rechtsinstitut demnach nicht angemessen zu sein. Dies korrespondiert auch mit dem alltagssprachlichen Verständnis von „Vermögen“. Es kennzeichnet eine positive Eigenschaft, etwas tun zu können; andererseits gibt es auch Formulierungen die dem Wort „Vermögen“ einen Pflichtcharakter geben: bspw. als Kapitalvermögen unterliegt es nach der deutschen Verfassung der Sozialpflichtigkeit (Art. 14 I 2 GG). Ein anderes Beispiel für den Pflichtcharakter des Vermögens läßt sich aus dem strafrechtlichen Unterlassungsdelikt gewinnen: Wer vermag, wenn es erforderlich und zumutbar ist, muß nach §323 c StGB in bestimmten Situationen Hilfe leisten. Je nach „Vermögen“ treffen einen Menschen in diesen Situationen verschiedene Pflichten. Ein geistig behinderter Mensch ist an einer Unfallstelle zu anderen Pflichten veranlaßt als etwa ein Arzt, dessen überlegenes Können – also sein Vermögen – die Hilfspflicht begründen kann. 47 Ge46 Vgl. etwa die Ausführungen in: Tilch (Hrsg.) unter dem Stichwort „Recht“: „Als subjektives Recht bezeichnet man den vom objektiven Recht den einzelnen Rechtssubjekten verliehenen rechtlichen Herrschaftsbereich gegenüber anderen Rechtssubjekten oder Rechtsobjekten. Es ist der Raum ihrer individuellen Freiheit, die individuelle Befugnis, das einzelne Recht. Musterbeispiel des subjektiven Rechts ist das Eigentum einer Person an einer Sache, das der Person nach §903 BGB das Recht gewährt, nach Belieben mit einer Sache zu verfahren und andere von jeder Einwirkung auszuschließen.“ (Herv. nicht im Original). 47 Vgl. Tröndle/Fischer, zu § 323 c, Rn. 5.
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nauso könnte auch das rechtliche Vermögen mit einer Pflicht korrespondieren. Vermögen würde dann nicht eine Wahlentscheidung, sondern eine zwangsbewehrte Pflicht bedeuten. Um dieses Verhältnis richtig zuordnen zu können, soll deshalb die dieser Frage zugrunde liegende Ebene näher untersucht werden, um den normativen Sinn des subjektiven Rechts zu ergründen: Warum werden subjektive Rechte bei Kant gewährt, oder noch anders ausgedrückt, wie werden sie begründet? Wenn die Durchsetzung eines subjektiven Rechts geboten sein könnte, ist es zumindest fraglich, weshalb dann überhaupt subjektive Rechte eingeräumt werden, könnten doch objektiv notwendige Rechtssätze – losgelöst von dem einzelnen Subjekt – ausreichen, die objektiv notwendige Handlung zu verwirklichen. Kann es unter dieser Prämisse überhaupt einen Kantischen Rechtsimperativ geben, der gebietet, subjektive Rechte durchzusetzen? 48 Diese Fragen laufen wiederum in einem gemeinsamen Punkt zusammen: Warum gibt es überhaupt Rechte? Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst der Blick auf die Begründung von objektivem Recht und subjektiven Rechten zu richten (1). Daran anschließend ist der Modus des „Rechts auf etwas“ entsprechend der deontischen Logik, die der analytischen Strukturtheorie zugrunde liegt, zu bestimmen (2).
(1) Die Begründung von objektivem Recht und subjektiven Rechten Die Existenz von Recht ist für uns heute etwas so Selbstverständliches, daß die Frage nach der Begründung von Recht überhaupt, nicht nach den Gerechtigkeitsbedingungen eines bestimmten Rechtssystems, befremdlich, vielleicht sogar sinnlos erscheinen mag, angesichts dessen, daß eine Welt ohne Recht für uns heute gar nicht (mehr) vorstellbar ist. Jedoch muß sich eine normative Theorie des Rechts über ihre Begründung im klaren sein. Jede begründungslogische Stufe muß immer weiter bis zu ihrer Grundprämisse zurückgeführt werden können, die erst die Begründung eines Rechtssystem mit all seinen Verästelungen ermöglicht. Mit dieser Frage gerät man in ein sehr schwieriges „Terrain“ der Kant-Interpretation. Man muß hierbei Stellung beziehen, ob Kant auch in den praktischen Schriften der transzendentalen Methode verhaftet bleibt oder aber andere methodische Wege eingeschlagen hat. Hierzu ist in einem ersten Schritt aufzuzeigen, was Kant unter der transzendentalen Methode versteht (a). Ausgehend von der Prämisse, daß es verbindliche Handlungen gibt (b), ist sodann zu zeigen, weshalb zu ihrer Verwirklichung nicht nur die Moral (c), sondern daneben das Recht benötigt wird (d).
48 Von einem „kategorischen Rechtsimperativ“ bei Kant geht Höffe (1995: 139) aus. Höffe rekurriert dabei auf eine Formulierung Kants (ebd.). Kritisch zu dieser Argumentation Höffes weiter unten.
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(a) Die transzendentale Methode im Bereich des Praktischen Mit der transzendentalen Methode hat Kant in der Erkenntnistheorie den Weg zwischen dem Rationalismus und dem Empirismus geebnet. Man versteht hierunter, vereinfacht gesagt, die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis von Gegenständen darzustellen: Transzendentale Aussagen müssen von empirischen Aussagen streng getrennt werden. Empirische Wissenschaften (wie etwa die Natur- und die Geschichtswissenschaften) untersuchen einen bestimmten Ausschnitt der erfahrbaren Welt und erweitern den Kenntnisstand über den entsprechenden Gegenstandsbereich. Grundlage für derartige empirische Aussagen ist die Erfahrung. Kant nennt diese Urteile synthetische Urteile a posteriori. Sie heißen im Gegensatz zu analytischen Urteilen synthetisch, weil sie das Satzsubjekt nicht nur zergliedernd in seine begrifflichen Bestandteile zerlegen, sondern gehaltserweiternd sind, d. h. dem Satzsubjekt Prädikate zusprechen, die in seinem Begriff noch nicht enthalten sind. Sie werden im Unterschied zu apriorischen Urteilen a posteriorische Urteile genannt, weil die Erfahrung der Geltungsgrund dieser gehaltserweiternden Aussagen ist.49 Anders als die empirischen Wissenschaften versucht demgegenüber die Transzendentalphilosophie, die Bedingungen der Möglichkeit empirischer Erkenntnis zu ergründen. Aus dieser Reflexion auf die Erkenntnisbedingungen resultiert eine Erkenntnis zweiter Stufe, die Gegenstand der Möglichkeit von Erkenntnis ist. Diese Frage nach der Möglichkeit von Erkenntnis bezieht sich auf den Geltungsgrund theoretischer und praktischer Erkenntnis. Die Transzendentalphilosophie bemüht sich damit um die Aufdeckung vorempirischer Bedingungen, ohne die im Bereich des Theoretischen die Objektivität der Erkenntnis und im Bereich des Praktischen die Objektivität des Handelns nicht möglich wäre. Es geht damit um eine grundlegende Fundierung, wie überhaupt allgemeine Aussagen „möglich“ sind.50 Wenn demnach Transzendentalphilosophie diejenige Wissenschaft ist, die den Geltungsgrund der theoretischen und der praktischen Erkenntnisse explizieren soll, hängt die Erfüllung dieser Aufgabe wesentlich davon ab, was im einzelnen unter Erkenntnis zu verstehen ist. Kant zufolge gibt es in der Mathematik, in den Naturwissenschaften und auch im Bereich des Praktischen synthetische Urteile, die allgemeingültig und notwendig sind. Zugleich verweist Kant zu Recht darauf, daß Urteile a posteriori diesen Geltungsstatus nicht erreichen können: „Findet sich also ein Satz, der zugleich mit seiner Notwendigkeit gedacht wird, so ist er ein Urteil a priori; ist er überdem von keinem abgeleitet, als der selbst wiederum als ein notwendiger Satz gültig ist, so ist er schlechterdings a priori. Zweitens: Erfahrung gibt niemals ihren Urteilen wahre oder strenge, sondern nur angenommene und komparative Allgemeinheit (durch Induktion), so daß es eigentlich heißen muß: so viel wir bisher wahrgenommen haben, findet sich von dieser oder jener Regel keine Ausnah49 Vgl. hierzu die Ausführungen Kants in der Kritik der reinen Vernunft, KrV, S. 51 ff. (A 6 ff., B 10 ff.). 50 Vgl. Kaulbach (1982: 10 f.).
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me.“ 51 Daraus folgert Kant, daß notwendige und allgemeingültige Urteile, von deren Wirklichkeit er ausgeht, 52 einen apriorischen Geltungsgrund haben müssen. Dabei ist zu unterscheiden, daß sich die theoretische Transzendentalphilosophie mit dem apriorischen Geltungsgrund theoretischer Aussagen beschäftigt, die praktische Transzendentalphilosophie mit dem von praktischen Aussagen. Die Methodik von Kant besteht darin, diesen Geltungsgrund in apriorischen Strukturen menschlicher Subjektivität zu verankern: 53 „Ich-denke, ist also der alleinige Text der rationalen Psychologie“, auf der eine „Transzendentalphilosophie“ aufbaut 54. So wie die Erkenntnislehre die numerische Einheit des Subjekts zum Gegenstand hat, so hat die Sittenlehre die qualitative Einheit des Subjekts zum Erklärungsgegenstand. 55 Damit wird schon in dieser allgemeinen methodischen Auseinandersetzung mit Kant deutlich, daß die Geltung von Recht und Moral letztlich nur über den Punkt der Identität zugeordnet werden kann, wenn ihr Geltungsgrund selbst in der Subjektivität des Menschen begründet ist, was aber ausführlich erst unten erläutert werden soll. Der Geltungsgrund dieser transzendentalen Aussagen selbst, die den apriorischen Geltungsgrund theoretischer und praktischer Aussagen auf den Punkt bringen, ist wiederum nicht die Erfahrung. Deshalb bilden die transzendentalen Aussagen selbst eine Teilklasse der apriorischen Aussagen. Die Begründung der transzendentalen Einsichten wird dadurch nachgewiesen, daß ohne die Annahme dieser transzendentalen Bedingungen das Faktum theoretischer und praktischer Aussagen nicht möglich wäre. Von daher ergibt sich, daß transzendentale Aussagen nach Kant von logischen und metaphysischen Annahmen unterschieden werden müssen. Erstere beschäftigen sich mit den Regeln folgerichtigen Denkens: 56 Während die (formale) Logik „es niemals mit der Möglichkeit der Erkenntnis ihrem Inhalte nach, sondern bloß der Form derselben, sofern es eine diskursive Erkenntnis ist, zu tun hat“, ist es Sache der Transzendentalphilosophie, „den Ursprung der Erkenntnis a priori von Gegenständen zu erforschen“. Demgegenüber befassen sich letztere mit den transzendenten Gegenstände wie Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. 57 Wie transzendenKant, KrV, S. 46 (B 3, 4). Vgl. Kants Ausführungen zu David Hume, dem er unterstellt daß er die Idee der synthetischen Sätze, gleichwohl er dieser Idee „unter allen Philosophen noch am nächsten trat“, nicht radikal genug zu Ende gedacht habe; KrV, S. 59 (B 20). 53 Näher hierzu unten, vor allem, so weit es die praktische Subjektivität betrifft. 54 Vgl. Kant, KrV, S. 342 (B 400 f., A 343 f.). 55 Ausführlich dazu unten, S. 180 ff. 56 Kant, zit. nach Eisler, Stichwort: „Transzendentalphilosophie.“ 57 Vgl. dazu Eisler, Stichwort: „Metaphysik“: Die „unvermeidlichen Aufgaben“ der reinen Vernunft, sofern diese über die Sinnenwelt hinausgeht, sind Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Vgl. auch Kant, KpV, S. 107 (A 4): „Der Begriff der Freiheit, so fern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, macht nun den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen, Vernunft aus, welche, als bloße Ideen, in dieser ohne Haltung bleiben, schließen sich nun an ihn an, und bekommen mit ihm und durch ihn Bestand und objektive Realität; (...)“. 51 52
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talphilosophische Sätze überschreiten sie die Erfahrung, diese aber nur, um die Bedingungen und damit die Grenzen möglicher Erfahrung zu reflektieren. Die Bedingung der Möglichkeit praktischer Erkenntnis, d. h. allgemeingültiger und notwendiger praktischer Urteile, erblickt Kant in der Autonomie des Menschen. So wie die reine theoretische Vernunft für den Bereich des Theoretischen gesetzgebend ist und dadurch erst die Voraussetzungen für objektiv gültige Erkenntnis schafft, ist reine praktische Vernunft für den Bereich des Handelns gesetzgebend und ermöglicht objektiv gültige praktische Urteile; Kant unterscheidet den Vernunftgebrauch, je nachdem, ob sich die Ideen reiner Vernunft auf die Heuristik der Verstandestätigkeit erkennender oder auf die Regulation des Willens begehrender und handelnder Subjekte bezieht. Ist damit die transzendentale Methode in ihren Grundzügen dargestellt, gilt es nun, die Eigenart der Kantischen Behandlung des Rechts präzise zu erfassen. 58 Das Ziel Kants ist, die apriorische Begründung von Recht und Staat anhand von Prinzipien praktischer Vernunft auszuweisen. Um diesem Ziel gerecht zu werden, muß der Begriff des Rechts als reiner Vernunftbegriff ausgewiesen werden. Diesem Ziel gemäß sind mittels der transzendentalen Methode die Bedingungen zu bestimmen, unter denen allein eine Vielzahl autonomer Subjekte unter gegenseitiger Wahrung ihrer Freiheit zusammenleben und damit ihre eigene (qualitative) Einheit praktisch herstellen können. Die Behandlung des Rechts aus Begriffen reiner Vernunft verlangt jedoch nicht, daß an keiner Stelle der Argumentation empirische Voraussetzungen einfließen. 59 Zunächst nimmt die Transzendentalphilosophie des Rechts ebenso wie die übrigen Teile der Transzendentalphilosophie ihren Ausgang von einem Faktum: 60 Ausgehend von einem bestimmten Faktum (in der Erkenntnislehre ist es die „Erscheinung“), wird nicht versucht, die Realität des Faktums selbst in einem indefiniten Begründungsschritt nachzuweisen, sondern die Möglichkeit dieses Faktums selbst wird erkundet. Nicht daß es eine Erscheinung gibt, hat Kant in der Kritik der reinen Vernunft zu beantworten versucht, sondern die Frage, wie es dem Menschen möglich ist, eine Erscheinung zu sehen. Die Prämisse der Erscheinung selbst wurde also nicht weiter hinterfragt. Ebenso wie jeder Mensch „Erfahrungen“ machen kann, deren Bedingungen Kant in der Kritik der reinen Vernunft nachweist, so geht Kant auch in der praktischen Phi58 In der Sekundärliteratur zur Rechtslehre ist es sehr umstritten, ob sich die transzendentale Methode in der Rechtslehre nachweisen läßt; vgl. ausführlich Kaulbach (1982: 9 ff.) m. w. N., der selbst die Auffassung vertritt, daß „die philosophische Vernunft nach Kants Auffassung durch die Züge des Rechtsdenkens maßgeblich bestimmt wird.“ (ebd., 8). 59 Vgl. Höffe (1996: 211 f.): „Aber was Kant nicht hinreichend deutlich werden läßt: ohne generelle empirische Elemente kommt eine philosophische Rechtslehre nicht aus.“ 60 Vgl. Lisser (1922: 15): „In der Rechtslehre hat Kant die transzendentale Deduktion wieder aufgenommen. So finden wir hier auch die beiden Grundbegriffe der kritischen Philosophie wieder: das Faktum der Wissenschaft und die darauf bezogene transzendentale Methode, die, von diesem Faktum ausgehend, dessen reine Grundbegriffe, die die Bedingungen seiner Möglichkeit darstellen, in ihm aufzuweisen und zu formulieren hat.“
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losophie von etwas aus, was vom „gemeinen sittlichen Bewußtsein“ geteilt wird. 61 Das sind die Prinzipien, in der Gestalt des „immer schon“ vollzogenen Handelns, Denkens und willentlichen Entscheidens, über die die gemeine Menschenvernunft sich nur nicht bewußt ist. 62 Um dieser Leistung willen tritt der Transzendentalphilosoph aus dem wirklichen, unmittelbaren Erkenntnis- und Handlungsbezug heraus, um von seinem distanzierten Standpunkt aus solche ursprünglichen, den Gegenstand des Erkennens als solchen bestimmenden Handlungen in den Blick zu bekommen. 63 Die Moralphilosophie geht daher von dem Faktum moralischer, d. h., notwendiger und allgemeingültiger Verbindlichkeit aus und fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit der objektiven Gültigkeit moralischer Verpflichtung. 64 Kant führt damit die Objektivität der Werturteile auf das Faktum des Sollens, also auf einen von der Wahrheit empirischer Aussagen verschiedenen Geltungsmodus, zurück. 65 Das Faktum, um dessen Erklärung sich eine Transzendentalphilosophie des Rechts damit zu bemühen hat, ist – analog zum Faktum des Sittengesetzes 66 – der Bestand kategorischer Rechtsprinzipien. 67 Daß das Zusammenleben von Menschen, die als solche sowohl der intelligiblen als auch der sensiblen Welt angehören, sich notwendigerweise rechtlich gestalten muß, und daß jede Rechtsordnung, soll sie diesen Namen verdienen, bestimmten Rechtsprinzipien gehorchen muß, dies alles gilt es in einer Transzendentalphilosophie des Rechts nachzuweisen. Der Ausgang vom Faktum des Sittengesetzes oder dem Faktum des Rechtsgesetzes, oder genereller gefaßt: 61 Vgl. Kant, MS-RL, S. 321 (AB 11): „(...) und jeder Mensch hat sie auch, obzwar gemeiniglich nur auf dunkle Art in sich (...); denn wie könnte er, ohne Prinzipien a priori, eine allgemeine Gesetzgebung in sich zu haben glauben?“ 62 Vgl. Kaulbach (1982: 10 und 17). 63 Vgl. Kaulbach (1982: 11). 64 Vgl. Beck (1974: 158 ff.). 65 Vgl. Habermas (2000: 547). 66 Vgl. Kant, KpV, S. 141 f. (A 56 f.): Das reine formale Sittengesetz ist apriori gültig. Das Bewußtsein dieses Grundgesetzes kann man ein „Faktum der Vernunft nennen“, weil man es nicht aus vorhergehenden Daten der Vernunft herausvernünfteln kann, sondern weil es „sich für sich selbst uns aufdrängt als synthetischer Satz a priori“. Das Sittengesetz ist kein empirisches, sondern „das einzige Faktum der reinen Vernunft, die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic iubeo) ankündigt. (...) Das vorher genannte Faktum ist unleugbar.“ 67 Anders Lisser (1922: 15): „Das Faktum der Wissenschaften ist hier das positive Recht, (...). Hier bewegt sich Kant wieder ganz in der Bahn, die durch die ‚Kritik der reinen Vernunft‘ vorgezeichnet hat: ‚daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange‘, bedeutet hier, es muß tatsächlich positives Recht vorliegen als das Material der philosophischen Kritik, die ohne solches Faktum durch anmaßliches Konstruieren mit der Rechtswissenschaft in dilettantischen Wettbewerb treten würde.“ Er nimmt den Ausgangspunkt bei dem positiven Recht. Insofern war er wohl durch den Neukantianismus geprägt, denn auch Kelsen geht in seinem Ansatz ähnlich vor; dazu ausführlich unten, S. 232 ff. Kritisch zu Kant und offensichtlich – ähnlich wie Lisser – durch den damals vorherrschenden Neukantianismus geprägt: Dulckeit (1932: 67) kommt in seiner Kritik [„(...) wenn Kant dem Problem des positiven Rechts und seiner Geltung nicht im mindesten gerecht zu werden vermocht hat.“ (ebd.)] zu dem Ergebnis, daß Kant nur das ‚Faktum‘ des positiven Rechts „hätte voraussetzen dürfen“ (ebd.).
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vom Faktum der Sittlichkeit überhaupt, stört die Reinheit der Transzendentalphilosophie nicht. 68 Ein solches Faktum bildet nur den Gegenstand der Transzendentalphilosophie, ist nicht zugleich der Geltungsgrund derselben. Damit ist Kants transzendentale Methode in ihren Grundzügen skizziert. Diese muß nun für den Untersuchungsgegenstand fruchtbar gemacht werden.
(b) Das Faktum der Sittlichkeit: Es gibt verbindliche Handlungen Kant geht von der Grundvoraussetzung aus, daß eine objektive Sittlichkeit – und damit objektiv gebotene notwendige Handlungen – notwendig ist. Problematisch ist für Kant die Erkenntnis der Sittlichkeit. Sie ist aus reiner praktischer Vernunft zu gewinnen, so daß letztlich „die Vernunft gebietet, wie gehandelt werden soll“ 69. Reine praktische Vernunft ist das Bestimmungsvermögen des menschlichen Willens jenseits empirischer Bestimmungsgründe (das sind die Triebe, Bedürfnisse und Leidenschaften, die Empfindungen des Angenehmen und Unangenehmen), und sie ist darauf gerichtet, das zu bestimmen, was der Mensch soll. Die praktische Vernunft gibt damit eine Antwort auf die Frage: „Was soll ich tun?“ 70 Kant behauptet, daß „alle sittlichen Begriffe völlig a priori in der Vernunft ihren Sitz und Ursprung haben.“ 71 Den metaethischen 72 Einstieg gewinnt Kant durch seine Normierung der Sittlichkeit als das, „was ohne Einschränkung gut“ 73 ist. Dabei stellt sich nun das Problem, rein aus der Vernunft heraus das uneingeschränkt Gute zu bestimmen. Da die reine Vernunft keine substantielle Sittlichkeit enthält, ist das uneingeschränkt Gute rein formal zu bestimmen. 74 Es ist aus praktischen Gesetzen der reinen Vernunft zu erkennen, die sich danach unterscheiden, ob sie das personale Handeln des Menschen oder aber die institutionelle Seite menschlichen Handelns anleiten. Nach einer vorläufigen Unterscheidung kann man sagen, daß den personalen Bereich die Moral und ihr Gesetz betrifft, den institutionellen Bereich hingegen das Recht normiert. 75 Vgl. auch Höffe (1996: 211 ff.). Kant, MS-RL, S. 321; vgl. auch Deggau (1983: 20). 70 Kant, KrV, S. 677 (B 833/A 805). 71 Kant, GMS, S. 39. 72 Vgl. Höffe (1996: 176), der durch eine überzeugender Argumentation darlegt, daß sich die Grundaussagen der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten nicht allein auf die Moralphilosophie beziehen, sondern das Grundgerüst der praktischen Philosophie insgesamt darstellen. Daraus folgt dann aber auch, daß hier eine „gründliche (...) Kritik der Kantischen Ethik hier ansetzen muß“ (ebd.). 73 Kant, GMS, S. 18. 74 Vgl. Kant, AA XXIII, Vorarbeiten, S. 257: „Das Princip des Rechts der Menschheit ist absolut und ohne Subject das der Menschen bedingt weil da das erstere der homo noumenon ist von dem es keine empirische Bestimmungen giebt es blos formal ist.“ 75 Vgl. Kant, AA XIX, R 7054: „Die practischen Gesetze aus der bloßen Idee der Freiheit sind moralisch. Die aus der innern Freiheit gehen auf alle Handlungen und sind ethisch; die bloß aus der Idee der äußern Freiheit sind (moralisch) juridisch und gehen bloß auf äußere Handlungen.“ 68 69
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Recht ist hierbei aber zunächst vorkonstitutionelles Recht. Es handelt sich damit um ein Verhältnis zwischen Menschen bzw. Personen und ist nicht an einen Staat gebunden. Damit ist der von Kant entwickelte Rechtsbegriff zunächst nicht der Strukturbegriff einer positiven Rechts- und Staatsordnung, sondern er formuliert die Koexistenzbedingungen freier Individuen schlechthin. 76 Recht wird nach Kant nicht erst durch einen Staat konstituiert, sondern Recht ist das Strukturprinzip, sofern sich zwei Individuen als freie im äußeren Verhalten zueinander verhalten. Kant bezieht also in die Gewinnung des Rechtsbegriffes die spezifische Situation des Menschen mit ein. Diese empirischen Tatsachen stehen aber, wie oben gezeigt, der Reinheit einer Transzendentalphilosophie nicht entgegen, solange sie nicht für die Geltungsfrage nutzbar gemacht werden. Erklärungen, die ein empirisches Überlebensinteresse, ein faktisches Interesse an Frieden und Sicherheit oder ein allgemeines Glücksstreben heranziehen und das Recht als probates Mittel zur Erreichung dieser empirischen (und damit kontingenten) Zwecke rechtfertigen, würden demgegenüber die Aufgabe einer apriorischen Begründung des Rechts verfehlen (ausführlich noch unten). Für den Menschen als ein vernünftiges Naturwesen, als homo phaenomenon, der sich der Vernunft zur Bewältigung seiner Lebensprobleme bedient, „kommt der Begriff der Verbindlichkeit noch nicht in Betrachtung.“ 77 (c) Moral: Es gibt verbindliche Handlungen, die ihre Erfüllungsbedingungen von der Spontaneität des Menschen abhängig machen Kant unterscheidet die Erkenntnis- von der Verwirklichungsfunktion objektiv gebotener Handlungen, d. h. die Vernunft muß in ihrer Gesetzgebung dafür Sorge tragen, daß die Handlungen, die sie als notwendig erkennt, auch verwirklicht werden. Dieses Problem stellt sich, weil nach Kant das Sittengesetz aus reiner praktischer Vernunft gewonnen wird. Kant nimmt hier eine psychologische Konstante im Menschen an. Aus dem Wissen um das Gebotensein einer Handlung folgt noch keine Ausführung der Handlung. Dieses weiterhin aktuelle Problem der kogniten Psychologie wird von Kant theorieimmanent erklärt: Vernünftige Wesen, von Kant noumenale Wesen genannt, handeln gemäß dem Moralgesetz. Für sie ist das Sittengesetz ein Sein. Der Mensch als Zwei-Welten Wesen, der sowohl der noumenalen als auch der phaenomenalen Welt angehört, muß zu Handlungen gemäß dem Sittengesetz erst bestimmt werden. Für ihn normieren die Sittengesetze ein Sollen, nach denen er handeln kann und soll. Deshalb reicht es nicht aus, die Sittengesetze als praktische Gesetze zu formulieren, sondern die Vernunft muß daneben ihre Verwirklichung sicherstellen. Das heißt, beim noumenalen Wesen stimmt die Motivstruktur immer schon mit dem Sittengesetz überein. Es gibt keine Disharmonie zwischen Wissen und Wollen. Erst beim endlichen Vernunftwesen, das ist ein der noumenalen Welt teilhaftig 76 77
Vgl. Kersting (1993: 99). Kant, AA, Bd. 6, S. 418.
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werdendes Wesen, das zugleich der phaenomenalen Welt angehört, ist die Triebfeder grundsätzlich durch die Umwelt bestimmt. Da empirische Beweggründe aber keine sittlichen sein können – sie sind absolut kontingent und damit nicht notwendig –, muß diese Triebfeder durch eine rein vernunftmäßige Motivation ersetzt werden. Wissen und Wollen müssen in der Handlung zur Deckung gebracht werden.78 Kant gelangt zu der Erkenntnis, daß das uneingeschränkt Gute auf personaler Seite nur durch die autonome Bestimmung des Subjekts selbst, durch den kategorischen Imperativ möglich ist. Den kategorischen Imperativ hat Kant in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ herausgearbeitet. Dieser ist ein Gesetz aus praktischer Vernunft, welches sich durch Allgemeinheit, Freiheit, Autonomie und reine Form auszeichnet. Dem kategorischen Imperativ kommt eine Bewertungsfunktion von Handlungsmaximen zu. Er lautet in der Grundform: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ 79 Maximen sind die „Regeln des Handelnden, die er sich selbst aus subjektiven Gründen zum Prinzip macht.“ 80 Die Regeln bezeichnen die Grundhaltungen, denen eine Vielzahl, auch Vielfalt konkreter Absichten und Handlungen ihre gemeinsame Richtung geben. Durch welche Handlungen diese Maximen zu erreichen sind, bleibt der subjektiven Präferenz des handelnden Subjektes überlassen. Jeder Mensch bildet seine Maximen in Auseinandersetzung mit seiner kontingenten Umwelt und seiner besonderen Lebenssituation. Deshalb ist auch die Allgemeinheit, die in jeder Maxime steckt, nur eine relative, subjektive Allgemeinheit, nicht eine objektive, absolute Allgemeinheit. Die Maxime, die für den einen Gültigkeit besitzt, muß sie noch nicht für jeden anderen automatisch auch haben. Trotzdem sortiert schon diese subjektive Verallgemeinerung die moralischen von den unmoralischen Lebensgrundsätzen aus. Da das Moralgesetz als Imperativ formuliert ist, wird es auf die Situation endlicher Vernunftwesen angewendet. Dem kategorischen Imperativ kommen damit für das personale Handeln des Menschen die zwei gesuchten Funktionen nebeneinander zu: Erstens kommt ihm eine Disjudikationsfunktion zu. Mit seiner Hilfe werden Handlungen, die den Filter der normierten Sittlichkeit nicht passieren, aussortiert. Zweitens hat er schon selbst für seine Ausführung gesorgt, für seine Exekutionsfunktion. Als Imperativ drückt er ein Sollen aus, welches durch den Zusatz des Kategorischen die Bedeutung des allgemeingültigen Sollens bekommt. 81 Der Imperativ drückt eine Nötigung aus, zu der sich der Mensch selbst bestimmen muß. Hier findet Kant die Triebfeder für die personale Seite des Handelns. Da er sich selbst be78 Hier besteht ein großer Unterschied zu neueren Tendenzen, die versuchen, die Motivation in Emotionen zu verankern, und dadurch die Verwirklichung der Moral gewährleisten wollen. Dies geht einher mit einer empirischen Bezugnahme auf der Begründungsebene. 79 Kant, GMS, S. 51. 80 Kant, MS-RL, S. 331 (AB 25). 81 Nach Höffe liegt die Aussage des kategorischen Imperativs erst in zweiter Linie in einer Bewertung der Maximen. „In erster Stelle fordert er uns auf, überhaupt sittlich zu handeln. In seiner kürzesten Form könnte er deshalb heißen: ‚Handle sittlich!‘“, Höffe (1996: 182).
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stimmt, der Wille direkt durch das Sittengesetz bestimmt wird, führt die Selbstnötigung zu einer autonomen Handlung. Das Sittengesetz führt zu einer autonomen und keiner heteronomen Bestimmung, weil deren Begriffe rein aus praktischer Vernunft jenseits der Empirie gewonnen werden. Dadurch bestimmt sich der Wille nach selbstgegebenen Gesetzen. Voraussetzung dieser Selbstbestimmung ist nach Kant die Freiheit als apriorische Bedingung der Möglichkeit von sittlichem Handeln: „Der Begriff der Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens.“ 82 Denn nur als Freiheit ist Kausalität denkbar, durch die das Sittengesetz den moralischen Willen bestimmt. Damit läßt sich an dieser Stelle festhalten: Sittliches Handeln ist erstens auf die moralische Spontaneität des Subjekts angewiesen. Da keine heteronome Bestimmungsgewalt zur Verfügung steht, wäre es im menschlichen Zusammenleben dem Zufall überlassen, ob gewisse objektiv gebotene Handlungen verwirklicht werden. Zweitens zielt der kategorische Imperativ nicht auf die Normierung von Handlungen, sondern ist eine Maximenethik. Der Mensch wird also nicht an dem gemessen, wie er handelt, welche konkreten Handlungen er durchführt, sondern welche Motive (Maximen) für sein Handeln bestimmend sind. Nur wenn er aus Achtung vor dem Sittengesetz handelt, ist er moralisch. Diese Verbindlichkeit ist nach Kant nicht bloß utopischer Wunschtraum, sondern durch das Faktum der Vernunft, das uns in unserer Eingebung durch den kategorischen Imperativ immer schon gegeben ist, beweist das Sittengesetz seine Wirklichkeit in seinem Anspruch, den Willen selbst zu bestimmen. „Ohne diese apodiktische Geltungsgewißheit könnten wir zwar Verbindlichkeit denken, jedoch nicht die Verbindlichkeit des Moralgesetzes als uns unabweisbar auferlegte erkennen. Verbindlichkeit, praktisches Gesetz, moralische Freiheit und Vernunftautonomie stehen in einem wechselseitigen Verweisungszusammenhang.“ 83 (d) Das äußere Rechtsverhältnis: Es gibt verbindliche Handlungen, die ihre Erfüllungsbedingung nicht von der menschlichen Spontaneität abhängig machen können Im menschlichen Zusammenleben reicht die autonome Willensbestimmung aus mehreren Gründen jedoch nicht aus. Zunächst besteht das Problem, daß das Moralgesetz auf die freiwillige Anwendung des einzelnen Subjektes angewiesen ist. Gewinnt der kategorische Imperativ über den Willen des Subjekts keine Macht, schafft es die Moral nicht „den Gesetzen der reinen praktischen Vernunft Eingang in das menschliche Gemüt, Einfluß auf die Maximen desselben (zu) verschaffen, d. i. die objektiv-praktische Vernunft auch subjektiv praktisch“ 84 zu machen, son82 83 84
Kant, GMS, S. 81 (BA 97). Kersting (1993: 123 f.). Kant, KpV, S. 287 (A 269).
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dern handelt der Mensch gemäß seinen empirischen Triebfedern, nach freier Willkür, kann es, von einem normativen Standpunkt aus gesehen, dazu kommen, daß die reine praktische Vernunft und das aus ihr folgende Sittengesetz die gebotenen Handlungen nicht von der moralischen Spontaneität der Menschen abhängig machen kann. Hinzu kommt, daß die Moral nur zur Bestimmung von Maximen taugt, nicht jedoch zur Bestimmung von Handlungen, die die Maximen umsetzen. Die Handlungen der verschiedenen Subjekte müssen aber abgegrenzt und aufeinander abgestimmt werden, weil sonst Willkür herrscht: „Denn urtheile ich das, was Recht ist, so können andre anders urtheilen, und sie richten sich nicht nach meinem Urtheil.“ 85 Diese Abstimmung soll das Recht leisten. Die rechtliche Handlung ist damit nicht nur eine subjektive, sondern eine objektive Forderung der praktischen Vernunft. Daraus folgt die Notwendigkeit der doppelten Gesetzgebung: Menschliches Zusammenleben ist nicht nur durch das Moralgesetz normiert, sondern auch durch das Rechtsgesetz. Kant definiert Recht als den „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“ 86 Damit bezieht sich das Rechtsgesetz nach dieser Definition erstens nur auf das äußere Verhältnis zwischen Personen. Es normiert ein äußeres Rechtsverhältnis der Menschen zueinander. Der Einfachheit der Darstellung wegen soll an dieser Stelle das innere Rechtsverhältnis, welches durch die inneren Rechtspflichten begründet wird, vorerst aus der Betrachtung ausgeschlossen bleiben, da es sich in diese Systematik zunächst nur schwer integrieren läßt (dazu ausführlich unten 87). Das heißt, im Gegensatz zu der Moral, die gerade die innere Seite des Handelnden betrifft, geht es dem Recht zunächst um die soziale Seite des Handelnden. Somit sind alle inneren Bedürfnisse und Empfindungen nur dann rechtlich relevant, wenn sie in ein äußeres Erscheinungsbild treten und sich in der äußeren Freiheit darstellen. Es geht dem Recht nicht um Bedürfnisse und Wünsche anderer. Rechtspersonen treffen nicht in ihren Gesinnungen aufeinander. Zweitens bezieht sich das Recht nach dieser Definition nur auf die Willkür der Handelnden. Recht ist notwendig, um menschliche Koexistenz in bezug auf ihre Freiheit zu regeln. Als Rechtspersonen begegnen Menschen einander nur in Hinblick auf ihre Handlungsfreiheit, sofern sie direkt oder indirekt Einfluß aufeinander haben können. Drittens bezieht sich Recht nicht auf den Zweck, den die Personen mit ihren Handlungen verbinden, beispielsweise, ob sie etwa mildtätige Gaben verschenken wollen, oder aber jemand anderem genußvoll Schmerzen zubereiten wollen, sondern Recht beschäftigt sich nur mit der Form, mit der sich Personen einander entgegnen. Das Recht „hat gar nichts mit dem Zwecke, den alle Menschen natürlicherweise haben (der Absicht auf Glückseligkeit), und der Vorschrift der Mittel dazu zu 85 86 87
Kant, Naturrecht Feyerabend, AA 27, Bd. 2.2, S. 1337. Kant, MS-RL, S. 337 (A 33, B 33). Siehe 92 ff.
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gelangen zu tun.“ 88 Es geht nicht um eine inhaltliche Bewertung der Handlungen, sondern nur um ihre formelle Übereinstimmung mit dem Rechtsgesetz. Formell vereinbar sind Handlungen, wenn sie sich „nach einem allgemeinen Gesetz zusammen vereinigen lassen“. 89 Trotz dieser drei Einschränkungen bleibt das Rechtsgesetz in dieser Form sehr offen. Es müssen weitere Bedingungen geklärt werde; denn zu dem Recht in seiner substantivistischen Form gehört nicht nur, ein Kriterium zu liefern, Recht von Unrecht zu unterscheiden. 90 Der „Inbegriff der Bedingungen“ von Recht muß auch die Bedingungen darstellen, unter denen der Begriff des Rechts angewandt und verwirklicht werden kann. Das Besondere ist nun, daß das (äußere) Rechtsgesetz nicht von dem Menschen verlangt, es sich zur Maxime mache. Das Rechtsgesetz besteht u. a. ja gerade deshalb, weil die innere Selbstbestimmung, die das Moralgesetz in der Form des kategorischen Imperativs verlangt, seine Verwirklichung nicht garantieren kann. Recht stellt sich insgesamt erst als eine Aufgabe, die Koexistenzordnung endlicher Vernunftwesen zu strukturieren, und zwar unter empirischen Verhältnissen. Neben der Verwirklichungsfunktion muß Recht zusätzlich eine Bestimmungsfunktion übernehmen: Die Gegenstände der Willkür müssen so zugeordnet werden können, daß nach einem eindeutigen Prinzip entscheidbar ist, ob der Akt Recht oder Unrecht ist. Demgegenüber brauchen noumenale Wesen brauchen kein Recht. Sie folgen dem Moralgesetz immer schon aus Einsicht und sie besitzen keine empirischen Gegenstände, die sie zuordnen müssen. Konsequenterweise ist das Rechtsgesetz nicht darauf bedacht, „daß ich es mir zur Maxime meiner Handlungen mache; denn ein jeder kann frei sein, obgleich seine Freiheit mir gänzlich indifferent wäre, oder ich im Herzen derselbe gerne Abbruch tun möchte, wenn ich nur durch meine äußere Handlung ihr nicht Eintrag tue.“ 91 Vom rechtlichen Standpunkt aus ist es nicht notwendig, daß ich das Rechthandeln mir zur Aufgabe mache. Das Rechtsgesetz bietet zunächst nur einen Gesichtspunkt, von dem aus Handlungen bewertet und Gegenstände (das „Mein und Dein“) zugeordnet werden können. Die Verwirklichung dieser Handlungen geschieht also nicht, wie beim Moralgesetz durch eine subjektive Selbstnötigung, sondern muß auf anderen Wegen gesichert werden. Nicht das Subjekt selbst muß sich gemäß dem Rechtsgesetz einschränken, sondern die Vernunft sagt nur, „daß sie (die Freiheit 92) in ihrer Idee darauf eingeschränkt sei und von anderen auch tätlich eingeschränkt werden dürfe.“ 93 Weiter heißt es: „Wenn die Ab88 Kant (AA, Bd. 8, S. 289); vgl. auch folgende Bemerkung: „Der eigene Nutzen ist kein Grund des Rechts. Der Nutzen vieler gibt ihnen kein Recht gegen einen.“ (19 R 6586). 89 Kant, MS-RL, S. 337 (AB 33). 90 Kant benutzt hierfür eine adjektivistische Formulierung von Recht: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann.“ 91 Kant, MS-RL, S. 338 (AB 34). 92 Eingefügt von M. S. 93 Kant, MS-RL, S. 338 (AB 34).
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sicht nicht ist, Tugend zu lehren, sondern nur was recht sei vorzutragen, so darf und soll man selbst nicht jenes Rechtsgesetz als Triebfeder der Handlung vorstellig machen.“ 94 Durch den letzten Satz wird die Besonderheit des Rechtsgesetzes herausgestellt. Zielt das Moralgesetz auf die Bestimmung der Triebfeder, so zielt das Rechtsgesetz lediglich auf eine Normierung von Handlungen. Recht ist ein Prädikat, das Handlungen zukommt. Warum man diese Handlungen ausführt, bleibt zunächst offen. Ein Gesetz, welches aus reiner praktischer Vernunft gewonnen ist, muß sich aus moralischer Einsicht befolgen lassen können, aber auch andere Beweggründe können zum Befolgen des Rechtsgesetzes motivieren. Anders als das Moralgesetz kann das Rechtsgesetz die von ihm normierten Handlungen nicht der Beliebigkeit des Subjektes überlassen. 95 Man muß dem Rechtsgesetz willentlich nicht folgen, erliegt dann aber der Gefahr, zu der rechtmäßigen Handlung gezwungen zu werden, notfalls durch vis absoluta, also unter Umgehung des Willens. Hier liegt die Pointe des Kantischen Rechtsgesetzes: Nicht durch Selbstbestimmung des Individuums besorgt das Rechtsgesetz seine Verwirklichung, sondern als Rechtsgrund einer Zwangsbefugnis. Die Exekutionsfunktion des Rechtsgesetzes wird nicht durch einen nötigenden Imperativ, sondern durch eine notfalls nötigende Zwangsgewalt hergestellt. „Die Berechtigung zur tätlichen Unrechtsabwehr ist also das rechtsphilosophische Gegenstück zum nötigenden moralischen Imperativ.“ 96 Wie ist diese heteronome Bestimmung der Handlung möglich, wenn das Rechtsgesetz verbindlich sein will, also ein Sollen normiert? Wie oben gezeigt, ist Verbindlichkeit bei Kant doch für solche Gesetze reserviert, die aus reiner Vernunft abgleitet sind, somit transzendentale Freiheit voraussetzen. Wie vertragen sich aber Freiheit und Zwang? (e) Rechtspflichten führen zur Notwendigkeit von Zwang und subjektiven Rechten Betrachtet man das Rechtsgesetz, zeigt sich, daß es wie das Moralgesetz ein formales und „negatives Prinzip“ 97 ist. Es sagt nur, welche Handlungen verboten oder nicht verboten und darum rechtmäßig sind, welche die Eigenschaft haben, „einem Gesetz überhaupt nicht zu widerstreiten.“ 98 Hingegen erlaubt das Rechtsgesetz nicht den Schluß von der Rechtmäßigkeit auf die Pflichtigkeit einer Handlung. Die Aussage des Gesetzes geht in genau die andere Richtung. Die Handlung, die sich mit dem Rechtsgesetz nicht verträgt, ist unrecht und darum verboten und wird deshalb aus dem Bereich der rechtmäßigen Handlungen verbannt. Durch diesen AusKant, MS-RL, S. 338 (AB 34). Vgl. Kant, AA XXIII, Vorarbeiten, S. 344: „Hier ist nun zu unterscheiden: 1. was ihn verpflichtet 2. wozu er verpflichtet wird, 3. wie er verpflichtet wird.“ 96 Kersting (1993: 105). 97 Kant, MS-TL, S. 519 (A 19). 98 Kant, MS-TL, S. 519 (A 19). 94 95
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schließungscharakter ist das Rechtsgesetz als ein „negatives Prinzip“ 99 qualifiziert. Handlungen, die das Rechtsgesetz passieren, sind demgegenüber erlaubt. Zu betonen ist, daß damit noch nichts über den Stellenwert der erlaubten Handlungen gesagt ist, ob diese etwa ausdrücklich rechtlich erlaubt oder einfach nur rechtlich indifferent sind. Das Überraschende liegt bei Kant nun darin, daß hiernach im Naturrecht positive Rechtspflichten nur als Gegenstand einer Unrechtshandlung in den Blick kommen. Indem jemand mit seiner (äußerlichen) Handlung, die nicht nach einem allgemeinen Gesetze mit der Freiheit, das ist Willkür anderer, nach einem allgemeinen Gesetz vereinbar ist, gegen das Rechtsgesetz verstößt, wird er schuldig: schuldig gegenüber dem Rechtsgesetz, aber auch gegenüber der verletzten Person. Dies ist nicht nur durch eine direkte physische Verletzung der Person, sondern auch durch eine Eigentumsverletzung möglich, d. h. durch Wegnahme oder Zerstörung eines Gegenstands der äußeren Willkür. Der Gegenstand der äußeren Willkür wird nach Kant als mit der Person und ihrer Freiheit verbundener Gegenstand angesehen. Diese Verknüpfung ist erforderlich, weil sonst nicht gezeigt werden könnte, wie andernfalls derjenige, der wider den Willen einer Person von einem ihr gehörenden Gegenstand Gebrauch macht, zugleich die Freiheit dieser Person affiziert, wenn die Person nicht zugleich einen empirischen Besitz an der Sache hat.100 Deshalb ist die Wegnahme eines Gegenstandes gegen den Willen eines anderen, auch wenn er zu der Sache in dem Augenblick nur ein „intelligibles“ Verhältnis hat, die Sache also nicht in den Händen hält, eine Handlung, die nach einem allgemeinen Gesetz nicht mit der Freiheit eines jeden anderen vereinbar ist; sie verletzt dessen Freiheit. Diese recht breiten Ausführungen zum erworbenen Recht des Eigentums sollen nur zeigen, daß der Konstruktion nach kein Unterschied besteht, ob die empirische Person – und damit das angeborene Menschenrecht – oder lediglich der intelligible Besitz 101 – und damit das erworbene Recht – verletzt wird. Beide Male wird die Freiheit der Person verletzt. 102 In der Kantischen Konstruktion kommt deshalb dem Verletzten ein Recht 99 Vgl. auch Kant, Naturrecht Feyerabend, AA27, Bd. 2.2, S. 1331: „Im Stande der Natur hat man bloß negative Verbindlichkeiten, daß ich alles unterlasse, was des andern Freiheit hindern kann:“ Kant geht sogar so weit, selbst die durch eine Verletzungshandlung bedingten Rechtspflichten als negative zu qualifizieren: „Die negativen Gesetze sind prohibitivae oder vetitae z.E. der Satz, du sollst bezahlen, was du schuldig bist, scheint eine affirmative Obligation zu seyn, und ist doch nur negativ, denn er steht unter dem Gesetze neminem laede“ (Herv. nicht im Original). 100 Vgl. Kant, MS-RL, S. 353 (AB 55): „Etwas Äußeres aber würde nur dann das Meine sein, wenn ich annehmen darf, es sei möglich, daß ich durch den Gebrauch, den einer von einer Sache macht, in deren Besitz ich doch nicht bin, gleichwohl doch lädiert werde.“ 101 Unter einem „intelligiblen Besitz“ versteht Kant „einen Besitz ohne Inhabung“, d.h. ohne empirische Berührung; vgl. Kant, MS-RL, S. 353 (AB 55). 102 „Das Rechtlich-Meine (meum iuris) ist dasjenige, womit ich so verbunden bin, daß der Gebrauch, den ein anderer ohne meine Einwilligung von ihm machen möchte, mich lädieren würde“; Kant, MS-RL, S. 353 (AB 55). Vgl. aber zu den begründunglogischen Unterschieden des angeborenen von dem erworbenen Recht die Analysen von König (1996 b: 178 ff., insbes. S. 191 ff.) der aufzeigt, daß der empirische Besitz mit dem Rechtssatz eine analytische Verbindung hat, während der intelligible Besitz ein synthetischer Rechtssatz ist.
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zu, das der Struktur des oben gezeigten „Recht auf etwas“ entspricht. 103 Kant selbst hat dieses Recht in einer Vorlesung als „Recht wozu“ bezeichnet. 104 Die Rechtspflicht besteht darin, „eine Verbindlichkeit, die da war, ungeschehen (zu 105) machen und also auf(zu)heben.“ 106 Folgendes Beispiel soll dies illustrieren: b nimmt a seinen Ball weg. Dies ist mit einem allgemeinen Gesetz nicht vereinbar, da dann – vereinfacht – der Zustand bestehen würde, daß jeder jedem jeden Ball wegnehmen könnte. 107 Keiner könnte mehr einen Ball als intelligibles Eigentum besitzen: Derjenige, der sich in den Besitz einer Sache bringt, die ihm nicht gehört, macht von seiner Freiheit einen Gebrauch, der nicht nach allgemeinen Gesetzen mit der Freiheit aller anderen bestehen kann, die den Besitz des Balles als einen ihre Freiheit erweiternden Gegenstand und damit als einen Teil ihrer eigenen Freiheit ansehen. 108 Zur Wiederherstellung des vorherigen, rechtmäßigen Zustandes normiert das Rechtsgesetz die Rechtspflicht, den Ball wieder herauszugeben. a steht gegen b ein Anspruch auf Herausgabe des Balls zu: a hat damit ein subjektives „Recht auf etwas“ gegen b („Recht wozu“ – zu dem Ball). Kant selbst bringt dies durch eine mathematische Formel zur Anschauung: Schuldigkeiten sind „negative Größen“, die nach bestimmten Handlungen verlangen, um dieses Defizit wieder auszugleichen. Der Ausgleich liegt nun in der Restitution: „Verdienst einer auctio iuris ist = 0, denn – a + a = 0.“ 109 Die Rechtspflicht ist das Gegenteil der Schuldigkeit. 110 Hier liegt 103 Meist unbeachtet bleibt die sozialkritische Dimension der kantischen Eigentumslehre, die Eigentum nur demjenigen zuspricht, der es sich erarbeitet hat: „Sehe ich, daß etwas in eines andern Gewalt ist, so kann ich ihm nicht Unrecht thuen. Der bloße Wille des andern kann mich bei der ihm zugehörigen Sache nicht einschränken, sondern nur die Sache, die ein Produkt der Freiheit ist, indem ich da der Freiheit des andern zuwider handle. Ich kann eine Sache zum Produkt der Freiheit machen, daß ich sie von einem Ort führe, die Form ändre etc.“ Kant, Naturrecht Feyerabend, AA 27, Bd. 2.2., S. 1344. Dies soll hier aber nicht weiterverfolgt werden. 104 Kant, Naturrecht Feyerabend, AA27, Bd.2.2, S.1332: „Ich habe ein Recht wozu, wenn ich Grund habe, andren Willen zu nöthigen.“ und weiter heißt es dort: „Ich habe Recht wozu, wenn ich jemand wozu zwingen kann.“ (Herv. jeweils nicht im Original). 105 Zusatz eingefügt von M. S. 106 Kant, AA, Bd. 19, R 6585. 107 Ausführlich zum rechtlichen Besitz, vgl. König (1996 b: 192 ff.). 108 Vgl. Kant, AA 23 S. 278: „An einen Gegenstand meiner Willkür (so fern ein andere ihn durch seine verändert) kann ich nur lädiert werden wenn ich ihn besitze (so daß er mich in meiner Freiheit verändern muß).“ 109 Kant, AA 19, R 6585 (Herv. nicht im Original). 110 Dabei sei hier aber außer acht gelassen, ob Kant hierbei immer an genau die gegenteilige Handlung denkt, oder etwa Naturalrestitution i.S. v. § 249 BGB oder aber eine andere Form von Restitution hierunter fällt. Ist also die Wiedergutmachung (+a) von der Handlung des Rechtsverletzers abhängig oder von dem Schaden des Rechtsträgers? Denn Gegenstand des Unrechts ist die Handlung, nicht der Schaden. Fraglich ist also, ob Kant das Handlungsunrecht oder das Erfolgsunrecht meint. Denn in der Formel –a + a = 0 kann a entweder für die Handlung oder für den Erfolg stehen. Da die Formel nicht lautet –a + x = 0, es Kant also auf die Gleichartigkeit der Unrechtsvariablen ankommt, kann nicht einmal die Handlung als negativ bewertet werden und die Restitution in einer vom Schaden (nicht der Handlung) abhängigen Wiedergutmachung bestehen. a kann nicht einmal Handlung und einmal Schaden sein; dann müßte die Formel vom Er-
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die funktionelle Begründung des „Rechts auf etwas“. Dieses Recht steht immer in Korrelation mit einer (äußeren) Rechtspflicht des Adressaten und bildet mit diesem ein normatives Korrespondenzverhältnis 111. In einer ersten Lesart entsteht es immer erst nach seiner Unrechtshandlung. In einer zweiten Lesart könnte man Kant so interpretieren, daß dieses Recht auf etwas immer schon besteht. 112 Es würde dann vor der Unrechtshandlung in einer negativen Größe bestehen, Unrechtshandlungen zu unterlassen. Es bekäme damit einen präventiven Charakter, im Gegensatz zur restitutiven Funktion nach einer eingetretenen Unrechtshandlung. Dies muß an dieser Stelle aber nicht entschieden werden. Da dieses präventive Unterlassungsrecht keine restaurative Funktion hat, ist es nicht unmittelbar auf eine bestehende Unrechtshandlung bezogen. Es hat die Funktion, einen bestimmten Freiheitsraum zu schützen. Von daher ist es im Rahmen dieser Untersuchung im Zusammenhang mit dem Recht auf Freiheit zu sehen (dazu unten). Bezogen auf die Frage der Untersuchung, ob aus der Inanspruchnahme eines subjektiven Rechts, eine moralisch legitime Handlung folgt, ist an dieser Stelle allein die restitutive Funktion interessant. Nur dieses Recht auf die Handlung –G (das „–a“ Kants soll hier gemäß der oben eingeführten Terminologie durch –G ersetzt werden) kann so in Anspruch genommen werden, daß ihm eine direkte positive Handlungspflicht eines Gegenüber entspricht. Zusammenfassend läßt sich also sagen: Äußere Rechtspflichten entstehen immer aus einer Unrechtshandlung, –G. Ihnen entspricht ein subjektives Rechts auf etwas, nämlich auf die Handlung +G. Offen geblieben ist bislang, woran genau die Unrechtshandlung ausgewiesen wird. Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, daß ein Unterschied besteht, je nachdem, ob die Rechtspflicht als Schuldigkeit aus einem Verstoß gegen das objektive Rechtsgesetz oder aus einem Verstoß gegen ein Recht auf Freiheit des Rechtsträgers resultiert. Kant kennt beide Möglichkeiten, und die Schuldigkeit bekommt damit einen formalen oder materialen Aspekt, je nachdem, ob man den Verpflichtungsgrund im Rechtsgesetz selbst oder im Recht auf Freiheit eines anderen erblickt. „Die Notwendigkeit einer Handlung um der Regel des Rechts willen heißt formale Schuldigkeit, um des Rechts der andern willen aber materiale Schuldigkeit.“ 113 gebnis her betrachtet werden –a + x = 0. Bei dieser Konstruktion würde die Argumentationslast auf dem Ergebnis = 0 liegen, nicht auf –a + a. Für die vorliegende Arbeit spielt dieser zweifellos interessante Punkt aber keine Rolle und soll deshalb nicht weiter verfolgt werden. 111 Kant, Naturrecht Feyerabend, AA27, Bd.2.2, S.1331: „Obligatio est activa i.e. obligantis und paßiva i.e. obligati, der eine verbindet, der andre hat Verbindlichkeit, z.E. der Gläubiger und Schuldner.“ 112 Dies mag auf den ersten Blick banal klingen, war aber Streitgegenstand einer großen Debatte, vgl. hierzu ausführlich: Aicher (1975). So aber wohl auch Kersting (1993: 192): „Rechtspflichten sind Unterlassungspflichten, (...)“, unter Bezugnahme auf Kant, „Omnis obligatio (erga alium) est vel indefinita (in Ansehung der Persohn und Handlung) vel definita, prior moralis, posterior iuridica“, AA 19, R 7012. 113 Kant, AA 19, R 7126.
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(2) Der Modus des Rechts auf etwas Nachdem das Recht auf etwas und seine Begründung dargestellt worden sind, ist zu klären, ob dem subjektiven Recht eine äußere Pflicht in der Person des Rechtsträgers korrespondiert. Gibt es eine normierte Rechtspflicht des Rechtsträgers, sein Recht durchzusetzen? Wenn ja, gibt es davon Ausnahmen, um bspw. auf sein Recht verzichten zu können? Oder anders gefragt: Welches sind die Bestimmungsgründe für den Umgang mit den subjektiven Rechten? Zur Beantwortung dieser Fragen ist im folgenden zu untersuchen, ob dem subjektiven Recht auf etwas eine Pflicht entspricht, dieses durchzusetzen. Es bietet sich an, hier die oben dargestellte Begrifflichkeit der analytischen Strukturtheorie aufzugreifen, wonach das Recht auf etwas drei Variationen annehmen kann (Gebot, Verbot und Erlaubnis) 114. Um den Modus des subjektiven Rechts entsprechend der deontischen Logik festzulegen, müßte das Recht entsprechende Gründe bereithalten. Dafür soll wegen der einfacheren Darstellungsmöglichkeit zunächst untersucht werden, welche Gründe dem Adressaten der Rechtspflicht zur Verfügung stehen, dem auferlegten Gebot zu folgen. Die Konfrontation des Rechtsträgers mit dem Adressaten des Rechts verdeutlicht den Unterschied beider Positionen, weil beim Rechtsadressaten eine parallele Verpflichtung festzustellen ist (a). Erst daran anschließend ist zu fragen, ob für den Rechtsträger selbst äußere Rechts- und/oder eine innere moralische Pflicht ausweisbar sind, die seinen Umgang mit dem Recht bestimmen (b). (a) Sind Rechtspflichten Gebote des Adressaten? Eine (äußere) Rechtspflicht hat nach dem oben Gezeigten immer eine restitutive Unrechtshandlung zum Gegenstand. 115 Durch die verwirklichte Unrechtshandlung bekommt der Verletzte ein subjektives Recht auf etwas. Dieses subjektive Recht ermöglicht ihm die Durchsetzung der Handlung, notfalls unter Zwangsanwendung: „mit dem Rechte (ist) zugleich eine Befugnis, den der ihm Abbruch tut, zu zwingen, nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft.“ 116 Die rechtliche Handlung durchzusetzen, ist also durch Fremdverpflichtung möglich. Es wird eine äußere Verpflichtung auferlegt. Demgegenüber ist dies bei der rein ethischen Handlung unmöglich, da ihr allein die Selbstverpflichtung entspricht. Die ethische Gesetzgebung bezieht sich auf die inneren Akte der Willkür. Das sind Zwecksetzungen der Handlungen, von denen Kant sagt, daß man zu ihnen nie durch andere, sondern nur durch sich selbst gezwungen werden kann. Der rechtlichen Nötigung entspricht deshalb eine intersubjektive Relation. 117 Der Träger des Rechts zwingt den Adressaten zu einer Dazu bereits oben, 36 ff. Die präventive Unterlassungshandlung als Rechtspflicht sollte ja ausgeblendet werden (s. o.). 116 Kant, MS-RL, S. 339 (AB 35). 117 Vgl. zum folgenden: Kersting (1993: 182 ff.). 114 115
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sittlichen, objektiv notwendigen Handlung; er zwingt ihn nicht zu einer bestimmten inneren Zwecksetzung. Von daher ist die äußere Rechtspflicht, und das ist der Unterschied zur moralischen Handlung, nur ein Handlungsprädikat. Nicht der Wille des Adressaten wird bestimmt, nur die Handlung wird normiert und von dem Zwang als Handlungsexekutionsfunktion begleitet. Die Besonderheit, die bei Kant aus der Verzahnung der Rechtsphilosophie mit der Moralphilosophie resultiert, ist aber nun, daß die äußere Rechtspflicht gleichzeitig eine „indirekt-ethische Pflicht“ 118 ist: „alle Pflichten (gehören) bloß darum, weil sie Pflichten sind, mit zur Ethik.“ 119 Die ethische Gesetzgebung umfaßt von daher alle Pflichten; sie geht, so betont Kant ausdrücklich, „auf alles, was Pflicht ist, überhaupt“. 120 Die Handlung könnte damit nicht nur Ergebnis einer Fremdverpflichtung, sondern auch einer Selbstverpflichtung sein. Durch die Ich-Doppelung als noumenales und phaenomenales Wesen wird hierbei die intersubjektive Relation in eine intrasubjektive Relation transformiert. Der homo noumenon nötigt den homo phaenomen zu der sittlichen Handlung. Im Rechtsverhältnis der Fremdverpflichtung ersetzt also der Rechtsträger den homo noumenon in der eigenen Person des Adressaten. 121 Der äußeren Gesetzgebung des (interpersonalen) Rechtsverhältnisses entspricht die innere Gesetzgebung des intrapersonalen Moralverhältnisses. Würde der Adressat auf sein inneres Gesetz hören, wäre die Fremdnötigung durch den Rechtsträger überflüssig. Damit ist jede (rechtliche) Fremdverpflichtung immer prinzipiell als (moralische) Selbstverpflichtung denkbar. Die innere Selbstverpflichtung geht nun direkt auf die Nötigung des Willens. Sie ist Ausfluß des kategorischen Imperativs. Aus dem Rechtsgesetz läßt sich hingegen, wie oben bereits dargelegt, kein äußerer Rechtsimperativ gewinnen, der gebietet, die Rechtspflichten zu verwirklichen, weil sich das Rechtsgesetz nur auf äußere Akte der Willkür, nicht auf die inneren Akte der Willkür bezieht. Die Exekutionsfunktion bekommt das Rechtsgesetz durch den äußeren Zwang. Das Rechtsgesetz zielt nicht auf den Willen, sondern lediglich auf die Handlung und damit höchstens indirekt auf den Willen. Dem Rechtsgesetz wird auch entsprochen, wenn das gebotene Verhalten nur aufgrund von empirischen, heteronomen Zwecken ausgeführt wird, etwa aus Angst vor Strafe oder aus der klugen Kalkulation wechselseitiger Vorteile. 122 Eine innere Pflicht als „Gebot“ kann aber immer nur ein direkt den Willen nötigendes objektives Prinzip sein. Nach Kant kommt „Gebot“ von Imperativ, „die ‚Formel des Gebots‘ heißt ‚ImperaKant, MS-RL, S. 326 (AB 17). Kant, MS-RL, S. 325 (AB 16). 120 Kant, MS-RL, S. 324 (AB 15). 121 Vgl. Kant, AA XXIII, Vorarbeiten, S. 345: „Recht u. Pflicht Zweck u. Pflicht sind Verhältnisse eben desselben Subjects aber in zwiefacher Person betrachtet nämlich jedesmal als obligantis nämlich durch seine Willkür oder seinen Willen jenes der Form der Freiheit dieses der Materie des Willens gemäß welche der Zweck ist.“ 122 Rechtliches Verhalten in diesem Sinne kann damit auch als wohlverstandenes Interesse an der Vermeidung von Nachteilen aufgefaßt werde; vgl. Brugger (1991: 895). 118 119
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tiv‘“ 123, also dem kategorischen Imperativ, als dem der Kantischen Philosophie allein angemessenen Imperativ. Ein Gebot gibt es nur als ein selbstgegebenes Gebot. Ein zusätzlicher Rechtsimperativ ist hingegen nicht möglich. 124 Diese Funktion übernimmt ja gerade der äußere Zwang, der den Rechtsadressaten nötigt, die geschuldete Handlung auszuführen. Damit entspricht der Rechtspflicht kein äußeres Rechtsgebot des Adressaten, welches sich aus dem Rechtsgesetz gewinnen läßt. Die Handlung des Adressaten ist zwar notwendig und verbindlich, aber eben nicht im strengen Sinne rechtlich geboten. Der Wille des Adressaten steht nicht unter einem äußeren Rechtsimperativ, der zugleich auf die Zwecksetzung der inneren Akte der Willkür gerichtet ist. Dies ist nur durch eine moralische Gesetzgebung möglich, denn jede Fremdverpflichtung ist, wie gezeigt, auch als Selbstverpflichtung konstruierbar. Da „die Selbstverpflichtung als intrasubjektive Relation zwischen dem Vernunftwesen Mensch als auctor obligationis und dem Sinnenwesen Mensch als subjectum obligationis“ 125 gedeutet werden könnte, entspricht jeder Rechtspflicht ein moralisches Gebot. Als solches läßt sich der gebotene äußere Akt der Willkür auch zu einem inneren Akt der Willkür machen. Das Rechtsgesetz ist „zwar ein Gesetz, welches mir eine Verbindlichkeit auferlegt, aber ganz und gar nicht erwartet, noch weniger fordert, daß ich, ganz um dieser Verbindlichkeit willen, meine Freiheit auf jene Bedingungen selbst einschränken solle.“ 126 Nicht um die Normierung der inneren Akte der Willkür, sondern um die äußeren Akte der Willkür, die „Recht oder Unrecht sein können (aut fas aut nefas)“ 127, zu bestimmen, ist das Rechtsgesetz vorgesehen. Die juridische Gesetzgebung läßt damit eine andere Triebfeder als die „Idee der Pflicht“ 128 zu. „Die Pflichtenlehre ist also hier (im Recht) 129 eine bloße Wissenslehre (doctrina scientiae).“ 130 Wissen und Eisler (1989: 267), Stichwort: Imperativ. Anders Höffe (1995: 139), aber ohne sich mit dieser Problematik auseinanderzusetzen, so daß offen bleibt, ob der Kategorische Rechtsimperativ eine theorieinterne Interpretation ist oder eine Fortentwicklung Höffes aus Kantischem Gedankengut heraus. Bei ihm bleibt dunkel, ob er die inneren Rechtspflichten aus dem Rechtsgesetz entwickelt. Wenn er sich auf die dritte Formulierung des Rechtsgesetzes bezieht, ist ihm zwar recht zu geben, daß diese als Imperativ formuliert ist (vgl. Kant, MS-RL, S. 338 [AB 34]), jedoch stellt Kant schon im Folgesatz klar, daß dieses Gesetz, „welches mir eine Verbindlichkeit auferlegt, aber ganz und gar nicht von erwartet, noch weniger fordert, daß ich, ganz um dieser Verbindlichkeit willen, meine Freiheit auf jene Bedingungen selbst einschränken solle, sondern die Idee sagt nur, daß sie in ihrer Idee darauf eingeschränkt sei und von andern auch tätlich eingeschränkt werden dürfe“. Wenn ich Kant hier richtig verstehe, wird durch diese Einschränkung jegliche Interpretation eines Imperativs, der zugleich die inneren Akte der Willkür bestimmt, von vornherein abgeschnitten: Das Recht hat überhaupt nur das zum Gegenstand, „was in Handlungen äußerlich ist“ (ebd., S. 339 [AB 36]). 125 Kersting (1993: 183). 126 Kant, MS-RL, S. 338 (AB 34). 127 Kant, MS-RL, S. 323 (AB 14). 128 Kant, MS-RL, S. 324 (AB 14, 15). 129 Eingefügt von M. S. 130 Kant, MS-TL, S. 503 (A IV). 123 124
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Wollen können in der Kantischen Theorie auseinanderfallen und demzufolge unterschiedlichen Gesetzgebungsweisen unterliegen. Gegenüber der Bestimmung der Gesinnung ist das Rechtsgesetz indifferent. Damit ist das Rechtsgesetz lediglich Erkenntnisprinzip verbindlicher Handlungen. Dem Rechtsadressaten ist also freigestellt, aus welchen Gründen er seine so erkannte Rechtspflicht erfüllt. Er kann dieser aus moralischen Erwägungen nachkommen, weil jede rechtliche Pflicht zugleich eine indirekt-ethische Pflicht ist (intrapersonell); ebenso kann er seinen Neigungen folgen, um insbesondere Zwang zu vermeiden (interpersonell). (b) Entspricht der Rechtspflicht des Adressaten eine Rechtspflicht auf seiten des Rechtsträgers? Das Problem, welches sich damit stellt, läßt sich so zusammenfassen: Wenn durch die rechtswidrige Handlung dem Rechtsverletzer eine Rechtspflicht auferlegt wird und sogar die praktische Vernunft legitimiert, daß die Rechtspflicht durch Zwangsanwendung vollstreckt werden kann – gerade dies zur Einräumung eines „Rechts auf etwas“ führt –, dann könnte die objektive Notwendigkeit der Rechtsverwirklichung dem Träger des subjektiven Rechts gebieten, sein Recht durchzusetzen, damit die Sittlichkeit Wirklichkeit wird? 131 Dieses Problem könnte zugespitzt auf eine moralteleologische Zweckausrichtung des Rechts hinauslaufen. Hiernach bekäme man ein Recht nur dann zugesprochen, wenn man davon einen moralisch-sittlichen Gebrauch macht. Noch einen Schritt weiter würde die Theorie gehen, wenn sie sogar einen Zwang normieren würde, das subjektive Recht zu vollstrecken. Dies könnte dann mit einem Recht des Staates korrespondieren, den Anspruch des Rechtsträgers stellvertretend oder gar als einen eigenen Anspruch durchzusetzen, damit das Recht Wirklichkeit gewinnt. Offensichtlich wäre damit, daß ein Rechtsverzicht, also die freiwillige Nichtdurchsetzung des Rechts ausgeschlossen wäre, ja sogar als Verfehlung angesehen werden müßte. Für eine solche Zuspitzung bräuchte man eine Voraussetzung: Jedem Recht müßte nicht nur die korrespondierende Rechtspflicht des Adressaten, sondern zugleich eine äußere Pflicht in der Person des Rechtsträgers entsprechen. Kant kennt aber eine solche Rechtspflicht nicht. Zwar korrespondiert nach Kant „aller Pflicht ein Recht, als Befugnis (facultas moralis generatim) betrachtet.“ 132 Bei Kant ist hier auf der Seite des Rechtsträgers aber nur eine intersubjektive, keine intrasubjektive Korrespondenz gegeben. Dem Recht selbst ist keine Pflicht beigege131 Wichtig erscheint aber an dieser Stelle festzuhalten, daß damit nicht einer moralteleologischen Rechtsauffassung zugestimmt werden soll. Bei solchen wird ein subjektives Recht unter der Bedingung eingeräumt, dies zur Verwirklichung transzendentaler Freiheit einzusetzen. Jedoch wird nicht unterschieden, ob es sich um ein „Recht auf etwas“, oder etwa ein Recht auf Freiheit handelt [vgl. die Darstellung und Nachweise bei Kersting (1993: 142 ff.)]. Hier hingegen wird das subjektive Recht eingeräumt, weil eine Rechtsverletzung stattgefunden hat. Den Rechtszustand wiederherzustellen ist Möglichkeit des subjektiven Rechts. 132 Kant, MS-TL, S. 512 (A 8).
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ben, dieses zu vollstrecken. Man könnte zwar von einem moralischen Standpunkt aus zu dem Ergebnis kommen, daß zumindest ein moralisches Gebot besteht, sein Recht durchzusetzen, weil sich nur so die Sittlichkeit verwirklicht. Jedoch würde bei dieser Interpretation die Eigenheit der Kantischen Konstruktion außer acht gelassen. In der moralischen Gesetzgebung ist ein Gebot die spezifische Ausprägung der Pflichtidee als Ausführungsgrund und hat als Forderung der praktischen Vernunft die Triebfeder zu bestimmen. Dies ist nur als intrapersonales Verhältnis möglich. Das Rechtsgesetz in seiner Normierung des äußeren Rechtsverhältnisses zeichnet sich hingegen gerade dadurch aus, daß die Pflichtidee nicht als Akt der inneren Willkür geboten ist und somit die Handlung nicht von der moralischen Spontaneität abhängt. Als Lösung würde sich nun anbieten, die Idee der inneren Pflicht gegen den äußeren Zwang auszutauschen. Zwangsandrohung und -anwendung würden jeweils der Rang einer Pflicht verliehen werden. Analog zur ethischen Gesetzgebung wäre die Triebfeder nicht durch die Idee der Pflicht bestimmt, sondern durch den Zwang. Dies wäre aber nur möglich, wenn der Zwangsanwendung der Charakter praktischer Notwendigkeit verliehen würde. Nur so könnte sie an der Verbindlichkeit des Rechtsgesetzes teilhaben. Daraus würde dann folgen, daß ein Rechtsverzicht praktisch unmöglich zu legitimieren wäre, weder aus moralischer noch aus rechtlicher Perspektive. Im Gegenteil müßte er als eine sittliche Verfehlung bezeichnet werden. Die Zwangsanwendung würde dann auf einer „innern Verbindlichkeit“ 133 beruhen. Damit würde die Konzeption des subjektiven „Rechts auf etwas“ lediglich der Verwirklichung der objektiven Sittlichkeit dienen. Die Option, gegebenenfalls auf die Durchsetzung zu verzichten, würde wegfallen. 134 Kant selbst will diesen Austausch aber gerade nicht: Wenn der Zwang analog zu einer inneren Verbindlichkeit konstruiert wäre, „scheint daraus zu folgen, daß man von seinem Rechte sogar nichts nachlassen könne, wozu uns ein Zwang erlaubt ist.“ 135 Dieses Ergebnis ist Kant gerade unerwünscht, und er wendet sich hiergegen strikt in seiner Rezension von Hufelands Naturrecht. 136 Der Zwang ist nicht Bestandteil des Kant, Rez. zu Hufelands Naturrecht, Bd. VI, S. 811 (A 115). Methodisch ließe sich das so begründen, daß durch die Unrechtshandlung vor allem das objektive Rechtsgesetz verletzt würde, also den formellen Aspekt der Schuldigkeit betrifft (s. o.) und der materielle Aspekt ganz in den Hintergrund treten würde. In etwa würde das der Argumentation Iherings entsprechen, der oben in der Einleitung bereits zu Wort kam: „Mein Recht ist das Recht, in jenem wird zugleich dieses verletzt und behauptet.“ (Ihering [1992: 114]). Da es nicht nur um die Verletzung des subjektiven Rechts auf Freiheit des Rechtsträgers gehe, sondern vor allem um das objektive Gesetz, dessen Verbindlichkeit und Notwendigkeit als Ausprägung allgemeiner Sittlichkeit, dieses sich behaupten müßte, ist es nach Ihering geboten, um sein Recht zu kämpfen, es auf jeden Fall durchzusetzen: „Der Widerstand gegen ein schnödes, die Person selbst in die Schranken forderndes Unrecht, d. h. gegen eine Verletzung des Rechts, welche in der Art ihrer Vornahme den Charakter einer Mißachtung desselben, einer persönlichen Kränkung an sich trägt, ist Pflicht. Er ist Pflicht des Berechtigten gegen sich selber – denn er ist ein Gebot der moralischen Selbsterhaltung; er ist Pflicht gegen das Gemeinwesen – denn er ist nötig, damit das Recht sich verwirkliche.“ (Ihering [1992: 79 f]). 135 Kant, Rez. zu Hufelands Naturrecht, Bd. VI, S. 811 (A 115). 136 Kant, Rez. zu Hufelands Naturrecht, Bd. VI, S. 809 ff. (A 113 ff.). 133 134
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Rechtsgesetzes, wie die Pflicht in die ethische Gesetzgebung eingeschlossen ist. Die rechtliche Gesetzgebung des äußeren Rechtsverhältnisses verzichtet auf eine Normierung der Ausführungsmotivation und läßt statt dessen die Bestimmung der Triebfeder offen: Die Gesetzgebung, die „mithin auch eine andere Triebfeder, als die Idee der Pflicht selbst, zuläßt, ist juridisch.“ 137 In einer ersten Lesart sagt dieses Zitat nur aus, daß die Pflicht nicht selbst Triebfeder ist. In einer zweiten Lesart geht sein Inhalt darüber hinaus. Die Pflicht ist nicht nur nicht die juridische Triebfeder, es gibt keine an Stelle der Pflicht nominierte Triebfeder, mithin also gar keine. Wie oben gezeigt, ist die Rechtslehre Erkenntnisprinzip des Wissens, nicht eine Bestimmungslehre des Wollens. Somit ist die Inanspruchnahme des subjektiven „Rechts auf etwas“ nicht geboten. Auch für den Rechtsträger gibt es keinen Rechtsimperativ. Rechtspflicht und Gebot sind in der Kantischen Terminologie keine synonymen Begriffe. 138 Es besteht zwar ein Korrespondenzverhältnis derart, daß jede äußere Rechtspflicht immer zumindest ein indirekt-ethisches Gebot ist. Jedoch auf der rechtlichen Ebene gibt es ein solches Verhältnis nicht. Rechtspflichten entsprechen keine Rechtsgebote, denn Gebote sind nur solche, die durch Selbstgesetzgebung gegeben sind. Durch die spezifische Unterscheidung von Moral und Recht besteht hier also ein Unterschied: Rechtspflichten sind Handlungspflichten und sowohl durch Eigen- als auch durch Fremdgesetzgebung möglich; Gebote sind Bestimmungen des Willens, die nur durch Eigengesetzgebung möglich sind. Das subjektive Recht als Recht auf etwas, das eine Befugnis zur Willkürbestimmung eines anderen gibt, normiert damit einen Bereich, über den niemand anders als das Rechtssubjekt selbst bestimmen kann. Deshalb kann es auch kein rechtliches (äußeres) Gebot für den Träger des Rechts geben, sein Recht durchzusetzen. (c) Kann die Rechtsdurchsetzung verboten sein? Der Frage, ob die Rechtsdurchsetzung etwa verboten sein könne, kann in Anknüpfung an das oben bereits eingeführte Beispiel des Balles nachgegangen werden. Ist es a (vom Recht her) geboten, seinen Ball von b zurückzuverlangen, notfalls die Forderung mit Zwang durchzusetzen, oder kann er auf dieses Recht verzichten? Oder ist ihm die Rechtsdurchsetzung gar verboten? Was könnte für ein Verbot sprechen? Man könnte den Fall derart konstruieren, daß a reich ist und keine Kinder hat, b hingegen arm ist und seinen Kindern kein Spielzeug kaufen kann. Damit seine Kinder etwas zu spielen haben, hat er dem reichen a den Ball weggenommen. Den a könnte in dieser Situation die Pflicht der „Wohltätigkeit“ treffen. 139 Wohltätigkeit Kant, MS-RL, S. 324 (AB 14). Anders etwa Kelsen (1960: 120): „Daß ein Verhalten geboten ist und daß ein Individuum zu einem Verhalten verpflichtet ist, daß sich so zu verhalten seine Pflicht ist, sind synonyme Ausdrücke.“ Dazu ausführlich unten, Kapitel III. 139 „Wohltätig, d. i. anderen Menschen in Nöten zu ihrer Glückseligkeit, ohne dafür etwas zu hoffen, nach seinem Vermögen beförderlich zu sein, ist“ nach Kant „jedes Menschen Pflicht.“ Kant, MS-TL, S. 589 (A 124). 137 138
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als Tugendpflicht könnte damit – hypothetisch – ein moralischer Grund gegen die Durchsetzung des Rechts sein. Und zwar ein moralischer Grund in der Struktur des Instituts, nicht etwa ein Grund, der im Belieben des a steht. Eine hypothetische moralische Pflicht, den Ball zu verschenken, würde sich mit dem moralischen Rechtsgebot kreuzen, Recht wirklich werden zu lassen und deshalb Rechte durchzusetzen. Recht und Moral würden in derselben Frage zu kontroversen Ergebnissen führen. Das Rechtsgesetz würde gerade ein subjektives Recht auf Durchsetzung des Anspruchs normieren, die Moral dem aber gerade entgegenstehen. Hieraus ließe sich ggf. folgern, daß die Rechtsdurchsetzung verboten ist. Dies ist nach der Kantischen Konstruktion jedoch nicht möglich. Kant schreibt in einer Notiz ganz allgemein: „Anderer Bedürfnis schränkt mein Recht nicht ein.“ 140 Aus der eigenmächtigen Umverteilung „entspringt nur das blinde Mitleid, welches auch die Gerechtigkeit in Unordnung bringt.“ 141 Nach Kant können sich moralische und vernunftrechtliche Pflichten nicht widersprechen. Wäre hier ein Widerspruch möglich, fiele das Kartenhaus der Kantischen Rechtsphilosophie in sich zusammen. „Es gibt keinen moralischen Grund, der Rechtsverletzungen rechtfertigen könnte.“ 142 Die Pflicht, die einem „Recht auf etwas“ entspricht, ist also immer verbindlich und deshalb einklagbar. Auf der Durchsetzungsebene bestehen keine von der Begründungsebene verschiedene Ausnahmemöglichkeiten: „Der ein Recht wieder jemand hat, kan ihn in allen Freuden Stöhren, ihn vom Altar wegholen. Alle Macht des Himmels steht auf der Seite des Rechts.“ 143 Wenn auch Wohltätigkeit als eine ethische Maxime nach dem kategorischen Imperativ ausweisbar ist, somit bedürftigen Kindern einen Ball zu besorgen, so bestimmt das Moralgesetz doch nur Maximen. Die moralischen Maximen müssen erst noch den Filter des Rechtsgesetzes durchlaufen, um sich zu rechtmäßigen Handlungen zu konkretisieren. Deshalb trifft Kant die Unterscheidung zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten: Das Rechtsgesetz bestimmt die Handlungen „vollkommen“. Die moralischen Maximen sind hingegen in ihrer Verwirklichung offen, eben „unvollkommen“ bestimmt. Somit prallt die eigenmächtige Wegnahme am Rechtsgesetz ab und ist keine rechtmäßige Handlung, die ethische Maxime der Wohltätigkeit zu erfüllen. Da das Recht den äußeren Rahmen vorgibt, können im Naturrechtsverhältnis keine moralischen Gründe gegen eine Rechtsdurchsetzung vorgebracht werden; erst recht können sie nicht dazu führen, daß die Inanspruchnahme des subjektiven Rechts verboten wäre. Bedenken ergeben sich aber aus anderen Stellen der Schriften Kants. So schreibt er, daß es eine moralische Unterlassung sei, „einen Armen, der mir schuldig ist, aus(zu)pfänden.“ 144 Die Auspfändung ist eine in Zusammenhang mit dem Recht vorgenommene Handlung, die hier gleichzeitig Gegenstand moralischer Gesetzgebung 140 141 142 143 144
5*
Kant, AA 19, R 7005. Kant, AA 20, 97. Kersting (1993: 196 f.). Kant, AA 19, R 7006 (Herv. nicht im Original). Kant, AA 19, R 7227.
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der Art sein soll, daß moralische Gründe gegen eine solche Auspfändung sprächen. Problematisch ist in diesem Zusammenhang, wie der Unterlassung der Auspfändung eine moralisch wertvolle Qualität zukommen kann, wenn doch der Auszupfändende einem anderen gegenüber schuldig ist, und damit seiner Rechtspflicht nicht nachgekommen ist, seine Verbindlichkeit zu tilgen? Gerade weil er die Verbindlichkeit nicht getilgt hat, steht dem anderem ein „Recht auf etwas“ zu (Anspruch auf Auspfändung). Besteht hier nicht insofern ein Widerspruch, als doch die Eigenart der Rechtsverbindlichkeit gerade ihre Qualifizierung als moralischen Notwendigkeit ist? Sonst hätte nach den Grundsätzen praktischer Vernunft ein „Recht auf etwas“ doch gar nicht erst entstehen, keine Rechtspflicht normiert werden können? Der Inanspruchnahme des subjektiven Rechts käme in diesem Fall die Befugnis zu unmoralischem Handeln zu, was sich mit den bisherigen Aussagen nur schwer vereinbaren ließe. 145 Der Widerspruch kann nur aufgelöst werden, wenn diese Stelle aus dem Nachlaß allein auf das positive Recht bezogen ist. Dafür gelten, wie unten noch zu zeigen sein wird, 146 die Voraussetzungen des Naturrechts nur begrenzt. Danach könnte die Auspfändung zwar mit den positiven Gesetzen im Einklang stehen, gleichzeitig könnte sie den naturrechtlichen Vorgaben widersprechen. Damit wäre aber ein Widerspruch zwischen dem (positiven) Recht und der Moral möglich. (d) Ist das subjektive Recht eine Erlaubnis? Da dem Rechtsträger die Inanspruchnahme des Rechts nicht verboten, aber, wie gezeigt, auch nicht geboten ist, sondern er über die Durchsetzung nach freier Willkür entscheiden kann, stellt sich damit die nächste Frage: Ist es a erlaubt,147 b zu der Handlung +G zu verpflichten? Kant scheint hierauf eine klare Antwort zu geben: „Eine Handlung, die weder geboten noch verboten ist, ist bloß erlaubt, weil es in Ansehung ihrer gar kein die Freiheit (Befugnis) einschränkendes Gesetz und also auch keine Pflicht gibt.“ Der anschließende Satz gibt aber Zweifel auf: „Eine solche Handlung heißt sittlich-gleichgültig (indefferens, adiaphoron, res merae facultatis).“ 148 Die hier in Frage stehende Handlung ist aber gerade nicht sittlich gleichgül145 Auch Kersting bereitet diese Stelle erstaunliche Probleme, so daß er angesichts desselben Sachverhalts zu zwei verschiedenen Interpretationen gelangt. Einerseits: „Jedoch so richtig es ist, daß es Handlungen gibt, die in rechtlicher Hinsicht tadelsfrei sind, aus moralischer Perspektive aber unterlassen werden sollten (beispielsweise das Auspfänden eines Schuldners), (...)“ (1993: 166). Andrerseits: „Sicher ist es verdienstlich, wenn ich davon absehe, ‚einen Armen, der mir schuldig ist, auszupfänden‘ (19, R 7227), doch ist die Durchsetzung meines Rechtsanspruchs trotz ihrer ruinösen Folgen für den Betroffenen in ethischer Hinsicht nicht tadelnswert“ (1993: 197). Einmal scheint die Moral Gründe gegen eine Durchsetzung zur Verfügung zu stellen, einmal lassen sich keine moralischen Gründe gegen denselben Sachverhalt einwenden. Kersting selbst scheint den Widerspruch in seiner Darlegung nicht gesehen zu haben. 146 Unten, 106 ff. 147 Zu dem Begriff der „Erlaubnis“, vgl. oben S. 68 m. w. N. 148 Kant, MS-RL, S. 329 (AB 21).
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tig. Das subjektive Recht (als „Recht auf etwas“) wurde dem Rechtsträger ja gerade deshalb eingeräumt, weil die Handlung von der Sittlichkeit gefordert wird. Nur deshalb ist das Recht mit der Befugnis zu zwingen ausgestattet. Aus dem systematischen Kontext läßt sich erschließen, daß Kant die Erlaubnis auf etwas anderes bezieht. Erlaubnis bezieht sich auf Handlungen, die mit dem Recht auf Freiheit gemeint sind. Darunter lassen sich Handlungen einordnen, die mit dem objektiven Rechtsgesetz nicht kollidieren, sondern im Gegenteil dessen subjektive Ausprägung darstellen. „Freiheit (Unabhängigkeit) von eines anderen nötigender Willkür, sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht.“ 149 Danach ist eine Handlung erlaubt, „die der Verbindlichkeit nicht entgegen ist, und diese Freiheit, die durch keinen entgegengesetzten Imperativ eingeschränkt wird, heißt die Befugnis (facultas moralis).“ 150 Bei dem „Recht auf etwas“ steht aber gerade eine Verbindlichkeit der Freistellung entgegen. Es gibt sogar einen moralischen Imperativ als ein indirekt-ethisches Gebot des Rechtsadressaten, der Rechtspflicht zu folgen. Da die Erlaubnis von Kant immer im Zusammenhang mit Moralbegriffen genannt ist, muß man hier zu dem Ergebnis gelangen, daß bei Kant „Erlaubnis“ kein Begriff seiner Rechtslehre, sondern der Tugendlehre ist. Dies läßt sich leicht an der Rechtspflicht des Adressaten darstellen. Vom Rechtsgesetz her ist es ihm weder geboten noch verboten, jedoch auch nicht „erlaubt“, der Rechtspflicht nachzukommen. Er ist nicht freigestellt, sondern das Rechtsgesetz macht hierzu überhaupt keine Aussage. Der Freistellung entspricht eine Bewertung, nämlich „nicht verboten, aber auch nicht geboten“, andernfalls käme man zu dem unhaltbaren Ergebnis, die Handlung sei sittlich-gleichgültig. Dies kann sie aber nicht sein, weil sie direkt mitmenschliche Handlungen berührt. Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, daß die Erlaubnis keine Kategorie eines „Rechts auf etwas“ ist. Der Verzicht eines Verbotes oder Gebotes führt weder dazu, daß die Handlung rechtlich indifferent und somit erlaubt wäre, noch dazu, daß sie nicht erlaubt wäre; sondern: tertium datur. Das Recht verzichtet auf eine Bewertung und unterstellt den Vollzug der freien Willkür des Rechtsträgers. Wie unten zu zeigen sein wird, spielt dies eine entscheidende Rolle für die praktische Theorie; hiermit eröffnet das Recht dem Subjekt eine Möglichkeit, seine Identität in die Rechtsverwirklichung miteinzubeziehen.
Kant, MS-RL, S. 345 (AB 45). Kant, MS-RL, S. 328 (AB 21). Vgl. auch Kant, Naturrecht Feyerabend, AA 27, Bd. 2.2, S. 1332: „Bei uns ist das Princip, daß eine Handlung mit der Freiheit aller nach einem allgemeinen Gesetz beisammen bestehe, diese Handlung ist erlaubt und wir haben Befugniß.“ (Herv. nicht im Original). 149 150
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(3) Zwischenergebnis Das Rechtsgesetz normiert Verhältnisse von Rechten und Pflichten. Als äußeres Rechtsverhältnis besteht es zwischen zwei „Persönlichkeiten“ 151, zwei Menschen, die selbst Träger und Adressaten von Rechten und Pflichten sein können. Nach Kant bestimmt es die unabdingbaren Voraussetzungen für eine intersubjektive Relation. Diese zwischenmenschliche Relation ist stets abzugrenzen von der intrasubjektiven Beziehung innerhalb des einzelnen Subjektes, die sich zwischen dem homo noumenon und dem homo phaenomenon abspielt. Nur durch letztere sind die inneren Akte der Willkür zu bestimmen. Das Rechtsgesetz mit seiner Normierung der äußeren Rechtsverhältnisse bestimmt hingegen nur die äußeren Akte der Willkür. Wenn eine Person gegen die von dem Rechtsgesetz normierten Verhältnisse verstößt, dann erhält die verletzte Person einen restitutiven Rechtsanspruch. Das Recht auf etwas stellt sich damit als eine Rechtsposition des Rechtsträgers dar, der eine korrespondierende äußere Pflicht des Rechtsadressaten entspricht, den ursprünglichen Rechtszustand wiederherzustellen. Das Recht auf etwas und die äußere Rechtspflicht sind damit gleichursprünglich. Es gibt aber kein äußeres Rechtsgebot, das Recht auch durchzusetzen, obwohl es nach dem reinen Vernunftrecht keinen moralischen Grund geben kann, sein Recht nicht durchzusetzen. Damit ist für Kant gezeigt worden, daß der Rechtsträger von äußeren Geboten freigestellt ist und mit seinem Recht auf etwas nach freier Willkür umgehen kann. Eine moralteleologische Interpretation, wonach man ein Recht nur hätte, um sittlich zu handeln, würde hingegen den Autonomiegedanken Kants verkennen.
b) Das Recht auf Freiheit Das subjektive Recht erschöpft sich nicht darin, ein „Recht auf etwas“ zu normieren. Dieses steht im Naturrecht – wie gezeigt – immer in Verbindung mit einer Unrechtshandlung. 152 Unrechtshandlungen lassen sich bei Kant entweder anhand des objektiven Rechtsprinzips (formaler Aspekt) oder anhand des jedem Individuum zugewiesenen subjektiven Freiheitsrechts (materialer Aspekt) ausweisen.153 Dieses subjektive Freiheitsrecht kann aber nicht wiederum das „Recht auf etwas“ sein, denn das „Recht auf etwas“ ist das, was einem aufgrund einer Unrechtshandlung eines anderen zukommt. Damit ist es die Folge einer Rechtsverletzung, die nicht 151 Vgl. Kant, Bemerkungen zur Rechtslehre, AA 20, S. 455: „Persönlichkeit ist die oberste Bedingung aller Rechtsverhältnisse.“ 152 Vgl. wiederholt: Kant, Naturrecht Feyerabend, AA 27, Bd. 2.2, S. 1331: „Im Stande der Natur hat man bloß negative Verbindlichkeiten, daß ich alles unterlasse, was des andern Freiheit hindern kann. Eine positive Verbindlichkeit ist, die sich auf ein ausdrückliches promulgiertes Gesetz bezieht, und sich vom affirmativen unterscheidet.“ 153 Vgl. Kant, AA 19, R 6667.
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gleichzeitig der Grund derselben sein kann. 154 Es hat nach der analytischen Strukturtheorie (s. o.) einen gänzlich verschiedenen Aufbau: a ist frei (nicht frei) von x (Freiheitshindernis), z zu tun (nicht zu tun).
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Damit begründet es nicht einen Anspruch gegen einen anderen. Dem Handelndem wird – metaphorisch ausgedrückt – ein Raum eröffnet, in dem er tun und lassen kann, was er will. Dahinter steht bei Kant das Konzept eines „Aktionsspielraumes“ 155, wonach das Subjekt frei ist, „nach eigenen Zwecken und nicht schlechterdings nach dem Zwecke anderer handeln zu müssen.“ 156 Das dominierende Merkmal dieses Rechts ist in der Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür zu sehen. Wird das Subjekt nicht von einem anderen genötigt, ist es frei, seine Zwecke zu wählen. Kennzeichnend für das Freiheitsrecht ist somit die Abwehr von Fremdbestimmung. Es ermöglicht – anders etwa als das „Recht auf etwas“ – keine Befugnis zur Fremdbestimmung. Jedoch gehören zu einem Freiheitsraum Grenzen. Die Grenzen des Freiheitsraumes werden durch das Verallgemeinerungskriterium des Rechtsgesetzes gesteckt. Damit genügt es den Grundanforderungen, die die Sittlichkeit an die Koexistenz von menschlichem Handeln stellt, und weist das Freiheitsrecht als praktisches Vernunftgesetz aus. 157 Kant bezeichnet dieses als das jedem Menschen allgemein zukommende Recht: „Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.“ 158 Im folgenden soll näher beleuchtet werden, wie Kant die Unabhängigkeit in rechtlichen Kategorien erfaßt. Es läßt sich zeigen, daß Kant in zwei Schritten vorgeht: In einem ersten Schritt konzipiert er einen Freiheitsraum, der in wechselseitiger allgemeiner Form begründet wird [dazu unten (1)–(3)], um dann in einem zweiten Schritt diesen Raum vor den faktischen Eingriffen anderer zu schützen, d. h. als bewehrtes Freiheitsrecht auszuweisen [dazu unten (4)]. Hervorzuheben an dieser zweiteiligen Vorgehensweise ist, und darin liegt die Besonderheit der Theorie Kants, daß er die Begründung trotz dieser beiden Schritte einstufig durchführt. 159
154 Diese Differenzierung übergeht Kersting (1993: 201, Fn. 196), wenn er schreibt: „Subjektives Recht und Rechtsgesetz sind gleichberechtigte Verpflichtungsinstanzen; jede Rechtspflicht ist durch das Rechtsgesetz und die subjektive Berechtigung in gleicher Weise begründbar.“ Er selbst lehnt das subjektive Recht auf Freiheit – als rechtlich normiertes Dürfen – ab (vgl. etwa ebd., Fn. 195). Wie dann diese „subjektive Berechtigung“ gefaßt sein soll ist mir nicht ganz klar. 155 Begriff nach Kaulbach (1973: 89); Kersting (1994: 185) spricht von einem „Recht auf selbstverantwortliche Lebensführung“. 156 Kant, AA 23, 341. 157 Vgl. Höffe (1995: 136). 158 Kant, MS-RL, S. 345 (AB 45). 159 Vgl. Höffe (1995: 140).
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(1) Ein Recht ohne äußere Pflicht Setzt man nun die Kantischen Theoreme in die oben genannte (Struktur-)Formel ein, so lautet das Recht auf Freiheit in seiner Grundstruktur: a ist frei (nicht frei) von rechtlichen Verboten, alle Handlungen z zu tun, die mit der Freiheit eines jeden anderen nach einem allgemeinen Gesetz bestehen können. Nicht die nötigende Willkür anderer ist etwa das Freiheitshindernis, denn hier geht es allein um rechtliche Hindernisse. Die nötigende Willkür anderer ist ein faktisches Hindernis. Diese müßte etwa in einer Formel der faktischen Freiheit Platz finden. 160 So zeigt sich gerade in dem Freiheitshindernis, nämlich den rechtlichen Verboten, dessen analytische Verbundenheit mit dem Freiheitsgegenstand. Der Freiheitsraum ist von vornherein mit den Freiheitsgrenzen verwoben. a ist nämlich genau insoweit frei von rechtlichen Verboten, wie der Freiheitsgegenstand rechtlich möglich ist. Sowohl das Freiheitshindernis als auch der Freiheitsgegenstand sind somit rechtlich normiert. Der Freiheitsgegenstand, die Handlung z, ist im Freiheitsrecht negativ bestimmt: a ist frei, alle Handlungen zu tun, die sich mit der wechselseitigen Willküreinschränkung vereinbaren lassen. 161 Hierin unterscheidet sich das Recht von der Moral, denn das Hindernis der moralischen Freiheit sind die sinnlichen Antriebe überhaupt. Das Recht ist nur Strukturprinzip menschlicher Handlungen aus der Notwendigkeit heraus, daß mehrere Menschen gemeinsam auf der Erde leben.162 Hingegen kümmert sich das Recht bspw. nicht um die Freiheit von den Begierden und sinnlichen Antrieben, soweit sie nicht das mitmenschliche Dasein berühren. Dies ist allein Gegenstand der Moral. Der Zweck des äußeren Rechts ist nicht, die positive Freiheit des Menschen zu verwirklichen, sondern die negative Freiheit des Menschen zu ermöglichen, das ist die Freiheit von nicht legitimierten Zwang anderer. Der Freiheitsgegenstand ist in dem Moralentwurf anders als in der Rechtstheorie bestimmt: nicht irgendeine Handlung ist Freiheitsgegenstand der Moral, sondern Freiheitsgegenstand ist nur eine richtige – allerdings nicht Handlung, sondern – Maxime 163, die gemäß den Gesetzen der praktischen Vernunft gewonnen wird. Der Freiheitsgegenstand wird dort also positiv bestimmt. 164 Kant drückt das für die Mo160 Alexy (1986: 200 ff.): „Daß durch unterschiedliche Einsetzungen für x, y und z unterschiedliche Freiheiten entstehen, zeigt die Fruchtbarkeit der dreistelligen Freiheitskonzeption.“ Dort auch ein Beispiel zum ökonomischen Freiheitsbegriff. 161 Höffe (1995: 129): „Während zur Tugend der Begriff der Willensfreiheit gehört, begnügt sich das Recht mit einem bescheidenerem Freiheitsbegriff. Es ist genau jener negative (kursiv von M. S.) Begriff, die Freiheit zu tun und zu lassen, was man wolle, (...)“. 162 Vgl. Höffe (1996: 215): „Kant fragt unter welchen Bedingungen die Subjekte ihre äußere Freiheit wahren und trotzdem zusammenleben können.“ 163 Zur Maximenethik Kants vgl. Höffe (1996: 186 ff.). 164 Vgl. auch Beck (1985: 181): „Die Freiheit des intelligiblen Charakters ist hingegen positiv.“
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ral an einer Stelle aus: „Die Freiheit der Willkür ist jene Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe; dies ist der negative Begriff derselben. Der positive ist: das Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein.“ 165 Freiheit ist in der Moral nicht die Freiheit von dem Zwang anderer, also die Freiheit von materieller Kausalität auf die Willensbestimmung, sondern Freiheit selbst als Kausalität der Willensbestimmung, das ist das Handeln nach dem Sittengesetz. Strukturiert man das Freiheitsrecht auf diese Weise, wird der Unterschied dieser Kant-Interpretation zu solchen, die Kant moral-teleologisch auslegen, deutlich: Nach diesen könnte die Handlung „z“ nur die „eine sittliche“ nicht irgendeine willkürliche Handlung sein. Die Rechtsfreiheit bestünde, um sittlich zu handeln. z würde im Sinne des Moralgesetzes positiv bestimmt: „Das subjektive Freiheitsrecht (...) ist nicht ein Recht zu willkürlichem beliebigen Tun, sondern das Recht auf ungestörte Betätigung des sittlichen Willens, das Recht auf Pflichterfüllung.“ 166 Danach käme dem Recht die teleologische Bestimmung zu, Pflichterfüllung aus sittlicher Freiheit zu ermöglichen, und hätte eine Schutzfunktion für die Willensfreiheit, 167 nicht für die allgemeine Handlungsfreiheit der freien, äußeren Willkür. Damit stünde das subjektive Freiheitsrecht in einem Korrelat zu der Pflicht. Die Rechtsfreiheit würde als „Befugnis zur Pflichterfüllung“ 168 gesehen. Setzt man die teleologische Variante in die Freiheitsformel ein, erhält man den Satz: a ist frei von rechtlichen Verboten, um sittlich zu handeln. Weil Freiheitshindernis und Freiheitsgegenstand jedoch analytisch verwoben sind (siehe oben), käme man nach dieser Ansicht konsequenterweise zu dem Ergebnis, daß immer wenn a nicht sittlich handelt, er nicht frei von rechtlichen Verboten ist. Diese Ansicht stellt jedoch den Ansatz Kants auf den Kopf: Kant sieht die Notwendigkeit des (äußeren) Rechts nicht darin, verbindliche (positive) Handlungen zu gewährleisten, sondern es sollen bestimmte unsittliche Handlungen vermieden werden, nämlich solche, die mit einer allgemeinen wechselseitigen Gesetzgebung nicht vereinbar sind („negative Gesetzgebung“, vgl. oben S. 61 ff.). Um diese ausweisen zu können, braucht er das Freiheitsrecht. 169 Allein für diesen Zweck ist Zwang legitimierbar. Die moralteleologischen Interpretation würde zu zahlreichen weiteren Problemen führen: Wie sollte bspw. die Überprüfbarkeit der sittlichen Einstellung, die demnach Voraussetzung für die Zuweisung eines subjektiven Rechts wäre, sichergestellt werden? Die moralische Einstellung zeigt sich nur in dem Willen, nicht in der Handlung, kann also der einzelnen Handlung von außen nicht angesehen werden. Diese ProKant, MS-RL, S. 318 (AB 6, 7); Herv. nicht im Original. Larenz (1943: 283). 167 Vgl. Höffe (1995: 85). 168 Schreiber (1966: 43). 169 Zu weiteren Funktionen des Freiheitsrechts vgl. auch unten: Warum subjektive Rechte, reicht das objektive Rechtsgesetz nicht aus? 165 166
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Kap. 2: Historische Vergegenwärtigung
bleme einer moralteleologischen Auslegung sollen hier im einzelnen aber nicht weiter erörtert werden. 170 Sie dienen allein zur Verdeutlichung der hier vorgenommenen Interpretation. An dieser Stelle interessiert allein, welche Folgerungen sich hier für das Verhältnis zwischen Recht und Pflicht ergeben. Nach der vorliegenden Interpretation ist das subjektive Freiheitsrecht kein Mittel für die transzendentale Freiheit. 171 Oben wurde zwar gezeigt, daß Kant das Recht einführt, weil es notwendige Handlungen gibt, die nicht der moralischen Spontaneität überantwortet werden können. Diesen Handlungen korrespondieren auch Rechtspflichten. Weiter wurde dort ausgeführt, daß im Naturrechtsverhältnis allen äußeren Rechtspflichten ein subjektives Recht (auf etwas) entspricht. 172 Dies gilt jedoch nicht umgekehrt. Nicht allen subjektiven Rechten entsprechen äußere Rechtspflichten. Dem subjektiven Freiheitsrecht entsprechen weder äußere, rechtliche noch innere, moralische Pflichten. 173 Die Rechtmäßigkeit einer Handlung impliziert keinen Schluß auf den Pflichtcharakter. Das subjektive Freiheitsrecht ist für äußere Rechtspflichten im aufgezeigten Sinne nur Erkenntnisgrund. Die Besonderheit gegenüber dem Recht auf etwas ist also, daß sich hier erst ein Schluß von der Rechtswidrigkeit einer Handlung auf die korrespondierende Rechtspflicht ziehen läßt. Das Recht des einen ist der Bestimmungsgrund der äußeren Rechtspflicht des anderen, nicht der eigenen Rechtspflicht. 174 Darüber hinaus gibt das Freiheitsrecht dem Individuum Raum, den Tugendpflichten nachzukommen, die nicht gleichzeitig indirekt-ethische Pflichten sind, sondern bloß direkt-ethische Pflichten, also solche, die sich nicht auf eine Dazu u. a. Kersting (1993: 142 ff.); Höffe (1995: 85); Kühl (1984: 59 ff.). Anders nochmals Larenz (1943: 282): „Das Recht schränkt die Willkür ein um der (transzendentalen) Freiheit willen. Kants ‚allgemeines Rechtsgesetz‘ verlangt von jedem, seine Willkür einzuschränken, nicht wie man oft angenommen hat, damit die Willkür aller anderen in möglichst großem Umfange bestehen könne, sondern damit die transzendentale Freiheit eines jeden, genauer: ihre Auswirkung durch Handlungen in der Sinnenwelt, nicht behindert werde.“ (Herv. nicht im Original). A. A., so wie hier, Höffe (1995: 85): „Zwar hat das Recht gegenüber der Freiheit eine Schutzfunktion, aber sie gilt (...) nicht gegenüber der sittlichen Freiheit, sondern der Handlungsfreiheit, der freien Willkür.“ 172 Vgl. Kersting (1993: 182): „(...) korrespondiert jeder Rechtspflicht ein subjektives Recht.“ Höffe (1995: 140): „Kant sieht (...) in der Zwangsbefugnis ein Definitionselement jeder moralischen Verpflichtung, sofern sie rechtlicher Natur ist“; also entspricht jeder Rechtspflicht eine Zwangsbefugnis. Da sich eine Zwangsbefugnis immer auch als das Haben eines subjektiven Rechts darstellen läßt, korrespondiert somit jeder Rechtspflicht ein subjektives Recht. 173 Ähnlich, aber ohne Verweis auf Kant, E. R. Bierling (1877: 324): „ja sogar gehe ich soweit zu behaupten, daß dem bloßen Dürfen oder Erlaubtsein niemals eine besondere, speciell correspondierende Pflicht gegenübersteht, daß vielmehr überall, wo dies scheinbar der Fall ist, nicht bloß ein Dürfen, sondern zugleich ein Anspruch vorliegt.“ 174 Vgl. Kant, Naturrecht Feyerabend, AA 27, Bd. 2.2: „Das Recht ist nichts andres, als das Gesetz der Gleichheit, der Wirkung und der Gegenwirkung der Freiheit, dadurch stimmt meine Freiheit mit der allgemeinen überein. Handelt jemand wider allgemeine Freiheit, und der andre widersteht ihm; so handelt dieser Widersacher der allgemeinen Freiheit gemäß, und also recht. So habe ich ein Recht andre zur Befolgung des Rechts zu zwingen. Alle Autoren haben das nicht zu erklären gewußt. Sie brachten das schon in die Definition; aber es folgt erst daraus.“ 170 171
I. Das subjektive Recht bei Kant
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rechtliche Materie beziehen. 175 Es eröffnet Raum für verdienstvolle Handlungen, die neben den rechtlichen und moralischen Handlungen, wie erwähnt, bei Kant eine eigene Kategorie darstellen. Diesen von dem subjektiven „Recht auf etwas“ zu unterscheidendem Bezug des subjektiven Freiheitsrechts zur Rechtspflicht bekommen all die nicht in den Blick, die diese bei Kant angelegte konzeptuelle Trennung nicht durchführen. 176 Damit ist das Freiheitsrecht, logisch gesehen, nichts anderes als eine bestimmte Kombination von Negationen des Sollens. Das Freiheitsrecht wird dem Subjekt Vgl. Kant, MS-RL, S. 325 f. (AB 17, 18); Höffe (1979: 22 ff.). Selbst bei Kersting (1993: 199 f.), der die m. E. klarste und vollständigste Darstellung der Kantischen Rechtsphilosophie aufbereitet hat, kommt dieser Unterschied nicht zur Geltung: „Wird das subjektive Recht bei den Kantianern als moralgesetzlich lizensiertes Dürfen aufgefaßt, steht für sie das Recht in einem Gegensatz zur Pflicht, wird es darum der Sphäre der Erlaubnis zugeteilt, so nimmt das subjektive Recht bei Kant den Charakter einer fremdgerichteten Bestimmungsbefugnis an. Die Kantianer waren nicht in der Lage, die Relation zwischen subjektivem Recht und Pflicht als normatives Korrespondenzverhältnis zu entwickeln. Das subjektive Recht war als Inbegriff sittengesetzlicher Handlungserlaubnis für sie eine Bestimmungsnische innerhalb des Herrschaftsgebiets des Moralprinzips und als immanentes Gegenstück zur moralischen Verpflichtung ohne jeden normativen Außenbezug. Ein Recht haben bedeutet für den Anhänger der absoluten Deduktion: nicht mehr Objekt moralischer Sollensgesetzlichkeit zu sein; nicht mehr dem verpflichtenden Imperativ zu unterstehen; für Kant hingegen bedeutet ein Recht haben: Subjekt äußerer Gesetzgebung zu sein, andere nach Maßgabe des Rechtsgesetzes verpflichten zu können. Statt eine freie Zone innerhalb der selbstgerichteten Willkürbestimmung des Moralgesetzes thematisiert der Begriff des subjektiven Rechts bei Kant eine Befugnis zur fremdgerichteten Willkürbestimmung.“ Des weiteren finden sich ebd. noch in zahlreichen Fußnoten Verweise auf andere Autoren, die ebenso der Ansicht sind, daß das „dürfen“ keine rechtliche Kategorie sei: etwa Fries (1803): „(...) (Der Begriff der Erlaubnis) ist für die Rechtslehre unbrauchbar, sie geht nur von der rechtlichen Verbindlichkeit, von der Rechtspflicht aus (...).“ Damit blendet Kersting aber eine Dimension des subjektiven Rechts bei Kant aus, obwohl er an anderer Stelle davon spricht, daß das Recht einen Freiheitsraum eröffnet (1993: 110 f.) bzw. ein Recht normiert, auf Durchführung „all jener Handlungen, die weder geboten noch verboten sind,“ (1993: 148), und auch nach seiner Interpretation ein jeder das Recht auf die gesetzliche Freiheit hat (1993: 182). Kant schreibt zwar auch, daß das subjektive Recht, „als (...) Vermögen, andere zu verpflichten,“ definiert wird, eine Definition, die dem von Kersting aufgestellten Behauptungen entgegenkommt, aber es stellt eben nur die eine Seite dar. Wie Kersting hier eine widerspruchsfreie Argumentation herstellen möchte, bleibt mir unklar. Unterteilt man demgegenüber das subjektive Recht analytisch in ein Recht auf etwas und ein Freiheitsrecht, kommt man der Wortwahl Kants viel näher und m.E. auch der von ihm gemeinten Bedeutung. Nur darf der – oben schon abgelehnte – Fehler nicht gemacht werden, hierauf den Begriff der Erlaubnis im Sinne von Kant anzuwenden. Dann käme man in der Tat in interpretatorische Schwierigkeiten. Anders als bei den Kantianern der „absoluten Deduktion“ wird das Freiheitsrecht hier auch nicht aus einer Gegensetzung gegen das Sittengesetz gewonnen, sondern aus dem objektiven Rechtsgesetz. Vgl. etwa die diametral verschiedene Argumentation Fichtes (1973: 24): „Alles, was das Gesetz nicht verbietet, dürfen wir tun. Was wir tun dürfen, dazu haben wir, weil dieses Dürfen gesetzlich ist, ein Recht (...). Was uns (...) das Sittengesetz bloß erlaubt, das zu tun haben wir ein Recht; wir haben auch das ihm entgegengesetzte Recht, es nicht zu tun. Das Sittengesetz schweigt, und wir stehen bloß unter unserer Willkür.“ 175 176
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nicht zugesprochen, um bestimmten rechtlichen Geboten nachzukommen, sondern es ist eine Negation von bestimmten Verboten. Die Handlungen, die verboten sind, stehen als Freiheitshindernis gerade der Freiheit entgegen und unterliegen so nicht dem Freiheitsrecht. In der Terminologie der deontischen Logik würde die Freiheit durch die Konjunktion der Erlaubnis 177 definiert werden. Jedoch ist dieser Begriff bei Kant konnotativ mit der Vorstellung verbunden, rechtlich und sittlich indifferente Handlungen zu betreffen (adiaphoron) 178. Weil Rechtsgesetz und Moralgesetz inhaltlich verschieden weit reichen, können sittlich verbindliche Handlungen, die lediglich rechtlich nicht gefordert werden können, in den Freiheitsraum fallen. Deshalb bietet es sich hier an, nicht von Erlaubnis i. S. v. Kant zu sprechen. Beispielsweise fällt nach Kant der Selbstmord in den rechtlich eröffneten Freiheitsraum 179; Kant wehrt sich gegen seine Unterstellung unter rechtliche Verbote, gleichwohl ist der Selbstmord nicht „erlaubt“, denn er ist nicht sittlich indifferent. Als Pflicht gegen sich selbst trifft jeden uneingeschränkt das moralische Verbot des Selbstmordes. 180 Es bietet sich hier an, einen eigenen Begriff hierfür einzuführen: den Begriff des Dürfens. 181 „Dürfen“ meint hier und im folgendem rechtliche Indifferenz, die aber keinen Schluß auf die moralische Indifferenz („sittlich-gleichgültig“, siehe oben) zuläßt. Von einem rechtlichen Standpunkt aus darf das Subjekt alle Handlungen vornehmen, die ihm in dem Freiheitsraum möglich sind, und alle diese Handlungen sind rechtlich gleichwertig; es normiert eine allgemeine Handlungsfreiheit.182 Das Freiheitsgesetz nimmt nur eine negative Ausgrenzung von Handlungen vor, die nicht nach einer wechselseitigen allgemeinen Gesetzgebung möglich sind, die der Anforderung, „einem Gesetz überhaupt nicht zu widerstreiten“ 183, genügen, sagt aber nichts über deren positive Gefordertheit aus. Die Handlungen, die nicht verboten sind, eröffnen den oben erwähnten Freiheitsraum. Ihnen entspricht im Innern 184 das Recht auf Freiheit. Wenn das Recht auf FreiVgl. Alexy (1986: 205). Kant, MS-RL, S. 329 (AB 21, 22); dazu bereits oben, 68. 179 Vgl. Kant, Naturrecht Feyerabend, AA 27, Bd. 2.2, S. 1334: „Der Autor (Feyerabend, M. S.) sagt: ich bin in natürlicher Weise verbunden, mein Leben zu erhalten, das sey Prinzip des Rechts. Aber das gehört gar nicht zum Recht, denn da kann ich mit meinem Leben machen, was ich will. Es ist bloße Tugendpflicht.“ 180 Vgl. etwa Höffe (1979: 31), Höffe (1995: 87), Höffe (1996: 216) und Kant, KPrV, S. 196 f. (A 135). „Eine vollständige Darstellung der Argumente (Kants) gegen die Erlaubtheit der Selbstvernichtung“ versucht Wittwer (2001, 180 ff.), jedoch blendet er die rechtliche zugunsten der moralischen Perspektive gänzlich aus. 181 Dies berührt einen der strittigsten Punkte in der Diskussion um das subjektive Recht, vgl. etwa Alexy (1986: 206 ff.), sehr instruktiv auch Aicher (1975), Schwabe (1977: 40 ff.) und J. Schmidt (1969: 55 ff.). 182 Zur Handlungsfreiheit bei Kant vgl. auch Brugger (1991: 894 ff.). 183 Kant, MS-TL, S. 519 (A 19). 184 Zur Innen- und Außenseiten von subjektiven Rechten, vgl. Aicher (1975: 14). 177 178
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heit in diesem Sinne interpretiert wird, dann kann es dieses nur als explizite Dürfensnorm geben. 185 Es normiert ein Recht ohne korrespondierende äußere Pflicht. 186
(2) Das Freiheitsrecht als „Dürfensnorm“ Die aufgestellten Behauptungen bezüglich des Freiheitsrechts sind aus dem Werk Kants nicht direkt ersichtlich, weshalb sie hier in Auseinandersetzung mit einigen – auf den ersten Blick entgegenstehenden – Kant-Zitaten verteidigt werden sollen. Neben der bereits zitierten Stelle aus der Einleitung der Metaphysik der Sitten, in der Kant die Frage stellt, ob „noch ein Erlaubnisgesetz erforderlich sei“ 187, gibt eine Äußerung Kants aus der Schrift „Zum ewigen Frieden“, die kurz vor der Rechtslehre erschienen ist, Zweifel auf. In einer Anmerkung zum 1. Abschnitt der Friedensschrift heißt es: „Ob es außer dem Gebot (leges praeceptivae), und dem Verbot (leges prohibitivae) noch Erlaubnisgesetze (leges permissivae) der reinen Vernunft geben könne, ist bisher nicht ohne Grund bezweifelt worden. Gesetze überhaupt enthalten einen Grund objektiver praktischer Notwendigkeit, Erlaubnis aber einen der praktischen Zufälligkeit gewisser Handlungen; mithin würde ein Erlaubnisgesetz Nötigung zu einer Handlung, zu dem, wozu jemand nicht genötigt werden kann, enthalten, welches, wenn das Objekt des Gesetzes in beiderlei Beziehungen eine Bedeutung hätte, ein Widerspruch sein würde.“ 188 Nach Kant wäre eine „Dürfensnorm“ somit nicht ausweisbar. In die gleiche Richtung drängt Kerstings 189 Interpretationsschrift: „Nach Kant ist ein erlaubendes Rechtsgesetz nicht nur nicht aus dem Sittengesetz herleitbar 190, sondern – und genau das bringt diese Stelle zum Ausdruck – als Produkt der Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft überhaupt 185 Alexy (1986: 206): „Die Qualifikation einer Handlung als erlaubt kann aus zwei Gründen erfolgen: Sie kann sich auf eine explizit statuierte Erlaubnisnorm stützen, sie kann aber auch damit begründet werden, daß das Rechtssystem keine Gebots- oder Verbotsnorm enthält, unter die die zu qualifizierende Handlung oder Unterlassung fällt. Im ersten Fall kann man von einer expliziten, im zweiten von einer impliziten Erlaubnis gesprochen werden.“ 186 In diese Richtung tendieren auch die Ausführungen von Wildt (1997: 161), der ebenfalls den Begriff des „Dürfens“ verwendet, im Sinne einer „moralischen Möglichkeit“. 187 Kant, MS-RL, S. 329 (AB 21, 22): „Eine Handlung, die weder geboten noch verboten ist, ist bloß erlaubt, weil es in Ansehung ihrer gar kein die Freiheit (Befugnis) einschränkendes Gesetz und also auch keine Pflicht gibt. Eine solche Handlung heißt sittlich-gleichgültig (...). Man kann fragen, ob es dergleichen gebe, und, wenn es solche gibt, ob dazu, daß es jemanden freistehe, etwas nach seinem Belieben zu tun, oder zu lassen, außer dem Gebotsgesetz (...) und dem Verbotsgesetz (...), noch ein Erlaubnisgesetz (...) erforderlich sei. Wenn dieses ist, so würde die Befugnis nicht allemal eine gleichgültige Handlung (...) betreffen; denn zu einer solchen, wenn „man sie nach sittlichen Gesetzen betrachtet, würde kein besonderes Gesetz erfordert werden.“ 188 Kant, Z. e. Fried., Bd. VI, S. 201 (BA 16). 189 Kersting (1993: 168 f.). 190 Zu diesem Vorgehen der „Deduktion“ vgl. Kersting (1993: 151 ff.).
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unmöglich. Da aber einer Rechtsmetaphysik keine anderen Prinzipien als die apriorische Gesetze der praktischen Vernunft zugrunde liegen können, muß das Rechtsgesetz als ein Pflichtgesetz auftreten, d. h. als ein Gesetz, das den Grund der praktischen Notwendigkeit bestimmter Handlungen enthält und sich allein dadurch vom Sittengesetz unterscheidet, daß es mit der Vorstellung der praktischen Notwendigkeit von Handlungen keinen bestimmten Ausführungsgrund verknüpft. Ein Erlaubnisgesetz ist als selbständige Norm eine contradictio in adjecto, da es das gesetzlich Unbestimmte als Gegenstand einer gesetzlichen Bestimmung ausgibt.“ Kants zentrales Argument gegen ein Erlaubnisgesetz bestehe darin, einen Widerspruch in einer dann vorliegenden Einheit von zufälligen Handlungen, die durch die Erlaubnis ausgewiesen werden, und notwendigen Handlungen, die durch die apriorische Gesetzgebung bestimmt werden, zu sehen; Erlaubnis und Gesetzgebung liessen sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen, somit definitorisch nicht vereinen. Wenn demnach bei Kant ein subjektives Recht auf Freiheit konzeptuell angelegt sein soll, dürfte dieser Vorwurf für das Freiheitsrecht nicht gelten. Würde man der Interpretation Kerstings folgen, müßten konsequenterweise alle durch das Rechtsgesetz ausgewiesenen Handlungen praktisch notwendig, und somit auf jeden Fall auszuführen sein. Dies ist jedoch problematisch: Welche der mit dem Freiheitsrecht vereinbaren – unendlichen – Handlungen sollen ausgeführt werden? Da es keine äußeren Rechtspflichten gibt, hat das Freiheitsrecht zumindest äußerlich nur einen negativen Charakter. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß es kein eigenständigen Inhalt hat, sondern nur eine Umformulierung des objektiven Rechtsgesetzes ist. Die sittliche Notwendigkeit als Grund der Gesetzgebung bezieht sich somit nur auf die Rechtspflichten, wegen derer die Rechtsgesetzgebung einzuführen ist. 191 Die Notwendigkeit liegt nicht in der Begründung von subjektiven Rechten, diese ergeben sich erst aus dem objektiven Rechtsgesetz als dessen subjektiver Ausformulierung. In dem rechtlich anerkannten Dürfen offenbart sich das objektive Recht als ein Bereich des subjektiven Rechts des Einzelnen, über den nur er selbst bestimmen kann. Damit ist kein Widerspruch zu der erwähnten Formulierung Kerstings aufgetan, daß das „Rechtsgesetz als ein Pflichtgesetz auftreten“ muß. Diese Funktion behält das Rechtsgesetz bei. Aber es wird ihm eine weitere Funktion aufgebürdet, nämlich subjektive Rechte auszuweisen. Das subjektive Recht ist kein eigenständiges Erlaubnisgesetz, sondern nur eine Umformulierung des objektiven Rechtsgesetzes und stellt sich als das Produkt der deontischen Zweiwertigkeit des Rechtsgesetzes dar: Das Rechtsgesetz weist nur verbotene und erlaubte Handlungen aus. Diesen erlaubten Bereich normiert das subjektive Recht auf Freiheit. Deontische Dreiwertigkeit, also eine Erweiterung auf Pflichthandlungen, gewinnt das äußere Rechtsgesetz erst durch das Handlungsunrecht eines anderen. Dieses wird entweder am Maßstab des objektiven Rechtsgesetzes oder aber des subjektiven Rechts auf Freiheit belegt, nämlich der Rechtspflicht auf die zum Handlungsunrecht konträren Handlung +G nachzukommen. Dies zeigt, daß das subjektive Recht kein eigenständiges Erlaub191
Dazu oben 54 ff.
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nisgesetz ist, denn es stellt nur eine Umformulierung des objektiven Rechtsgesetzes, bezogen auf das einzelne Subjekt, dar. Die Rechtsgesetzgebung bezieht sich bei Kant immer auf Handlungen aus Notwendigkeit und damit auf Rechtspflichten. Von daher spricht nichts gegen die Qualifizierung des Freiheitsrechts als Dürfensnorm.
(3) Das Freiheitsrecht als Recht zu unmoralischem Handeln Wegen des Fehlens von korrespondierenden Pflichten läßt das Rechtsgesetz sogar Handlungen zu, die eindeutig als Verstöße gegen die Sittlichkeit zu werten sind, wie insbesondere am Beispiel des Selbstmordes gezeigt werden konnte. 192 Kants Ausführungen zum Selbstmord belegen, daß aus der Perspektive des subjektiven Freiheitsrechts das Subjekt berechtigt ist, Selbstmord zu begehen. In bezug auf die äußere rechtliche Gesetzgebung und damit auf die soziale Koexistenz der Subjekte handelt der Selbstmörder rechtmäßig.193 Hingegen ist der Selbstmord nach Kant ein eklatanter Verstoß gegen die Pflicht zur eigenen Vollkommenheit, damit ein Verstoß gegen die moralischen Pflichten gegen sich selbst. 194 Daran zeigt sich, daß Recht ein Strukturprinzip von menschlichen Handlungen in sozialer Hinsicht, unter Berücksichtigung der Freiheiten anderer, und nicht von Handlungen schlechthin ist: Garantiert die rechtmäßige Inanspruchnahme zumindest in bezug auf andere immer eine legale Handlung, so läßt sich aus der Rechtmäßigkeit einer Handlung innerhalb des Freiheitsrechts keine Bewertung darüber gewinnen, ob Handlungen, die andere nicht berühren, auch moralisch sind, bzw. moralisch indifferent oder gar unmoralisch sind. Innerhalb des „Aktionsspielraumes“ hat man somit die Möglichkeit zu unmoralischen Handlungen. Daran zeigt sich wiederholt, daß Kants Modell einer Rechtsgesetzgebung äußerlich keine Pflichten normiert, solange man keine Unrechtshandlung gegen andere begeht. Recht und Moral können hier – anders als bei dem Recht auf etwas – divergieren. Insoweit ist das subjektive Recht auf Freiheit ein Recht zu unmoralischen Handeln, denn die Kehrseite der Rechtmäßigkeit ist, daß den Selbstmörder niemand rechtmäßigerweise an seiner Tat hindern darf: „Keiner thut andren Unrecht, wenn er bloß Handlungen an sich selbst thut.“ 195 Daraus folgt gleichzeitig, daß Recht dem Handelnden keine moralische Entlastungs- und Orientierungsfunktion bieten kann, soweit es Handlungen berührt, die nur das Subjekt selbst betreffen. Kants rechtliches System baut auf der Autonomie des Einzelnen Vgl. dazu oben, 72 ff. Kant, Naturrecht Feyerabend, S. 1334: „Aber das gehört gar nicht zum Recht, denn da kann ich mit meinem Leben machen, was ich will (Es ist bloße Tugendpflicht).“ 194 Kant, MS-TL, S. 554 ff. (A 71 ff.). Vgl. auch Vorarbeiten zur Rechtslehre, AA 23, S. 391: „Wenn also die Befugniß über Gegenstände nach Willkür zu verfügen das Recht überhaupt heißt so wird die über die Person durch das Recht der Menschheit in uns selbst eingeschränkt sein welchem wir keinen Abbruch thun dürfen und dessen Handlungen nicht zur Tugendlehre sondern zur Rechtslehre als bloße einschränkende Bedingung gehört.“ (Herv. nicht im Original). 195 Kant, Naturrecht Feyerabend, AA 27, Bd. 2.2, S. 1338. 192 193
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auf und hat sie zugleich zum Schutzgegenstand. 196 Das Freiheitsrecht ist nach dieser Interpretation, also ganz im Gegensatz zu einer moralteleologischen Auslegung, bei man zu unmoralischen Handeln kein Recht hätte, gerade ein moralisches, bzw. sittliches Recht zum unmoralischen Handeln in bezug auf die eigene Person. (4) Das Recht auf Freiheit als bewehrtes Freiheitsrecht Die Freiheitsausübung gegenüber anderen bedarf noch einer methodischen Ergänzung, damit man am rechtlich-legalen Handeln nicht gehindert werden kann. Das Freiheitsrecht weist nur eine bestimmte Position zu: – metaphorisch – einen bestimmten Freiheitsraum, auf den man ein Recht hat; es beinhaltet noch keine Sicherung der Freiheit. Es wäre jedoch überraschend, jemandem eine rechtliche Befugnis, ein Dürfen, zuzusprechen, ohne allen anderen rechtlich zu verbieten, das Gedurfte zu behindern. 197 Zu der Normierungsfunktion von Recht gehört deshalb auch eine Exekutionsfunktion. Das so verstandene Recht auf Freiheit bedeutet also keine Schutzlosigkeit der Freiheit. Das Freiheitsrecht ist so mit dem Recht auf etwas verwoben, daß immer dann, wenn eine Nichtbeachtung des Freiheitsraumes durch andere erfolgt, dem Träger des Freiheitsrechts zusätzlich ein Recht auf etwas, nämlich auf eine Restitutionshandlung gegen den Verletzer zusteht. Dabei handelt es sich bei Kant um einen inhaltsgleichen Schutz: 198 Die Handlungen, die unter das Dürfen fallen, profitieren von der rechtlichen Konstruktion, daß immer, wenn jemand diese Handlungen stört, gegen diesen dem Träger des Freiheitsrechts ein Recht auf etwas zukommt: „Gegen jeden Menschen, sofern er kein factum juridicum ausgeübt hat, ist Zwang unerlaubt. – Denn er kann nur rechtmäßig gezwungen werden, wenn er ein factum iuridicum injustum ausgeübt hat.“ 199 Diese unrechtmäßigen facta iuridica bedingen subjektive Rechte: „Eine That, woraus jemandem Recht entspringt ist Factum Juridicum.“ 200 Sie betreffen dabei nicht nur bestimmte Bereiche, wie etwa Körperverletzungen, sondern alle dem Rechtsgesetz widersprechenden Handlungen werden belangt.201 Von daher ist das Freiheitsrecht ein bewehrtes Recht, das Widerstand gegen Unrecht erlaubt: „Keiner thut andren Unrecht, wenn er bloß Handlungen an sich selbst thut. Ich kann daher einem andern widerstehen, wenn er meinem Gebrauch meiner Freiheit wider196 Kant, AA 23, S. 257: „Das Recht als Befugniß betrachtet gilt als etwas was allgemein nur eines seyn kann als unabhängig von der Verpflichtung blos auf die Freyheit der Willkür.“ Vgl. auch ebd., S. 278: „Ein Recht haben heißt etwas äußeres zu haben in dessen Gebrauch zu hindern kein öffentliches Gesetz (nach Freiheitsprincipien) möglich ist.“ 197 Zu diesem Gedanken vgl. Höffe (1995: 139). 198 Zu der Abgrenzung von Inhaltsgleichem Schutz und „protective Perimeter“ vgl. die Nachweise bei Alexy (1986: 208 ff.). 199 Kant, Naturrecht Feyerabend, AA 27, Bd. 2.2, S. 1339 (Herv. nicht im Original). 200 Kant, Naturrecht Feyerabend, AA 27, Bd. 2.2, S. 1338. 201 Höffe (1995: 139): „Wer jemandem eine rechtliche Befugnis zuspricht, der behauptet zugleich, es sei allen anderen rechtlich verboten, das der Befugnis entsprechende Tun oder Lassen zu hindern.“
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stehen will.“ 202 Der Widerstand besteht darin, den verletzten Freiheitsraum durch die Durchsetzung des erworbenen „Rechts auf etwas“ wiederherzustellen. (5) Exkurs: Kant als Vorbote Savignys Bemerkenswert ist, daß diese Verzahnung von dem Recht auf etwas und dem Recht auf Freiheit in einer ähnlichen Weise bei dem berühmten Rechtsgelehrten Carl Friedrich von Savigny zu finden ist. Dessen Theorie soll hier wegen der gedanklichen Nähe zu Kant kurz vorgestellt werden soll, um die Schlüssigkeit der Kantischen Gedanken darzulegen: Wenn Savigny, der nach eigenen Worten sogar der „Kant der Rechtswissenschaft“ werden wollte, 203 sich auch methodisch von Kant unterscheidet, so läßt sein „System“ doch weithin die Kantische Systematik durchscheinen. Seine methodischen Argumente zielen darauf ab, Kants Vernunftbegründung durch eine theologische zu ersetzen: „Der Wille Gottes ist also der tiefere Grund der Sittlichkeit und des Rechts.“ 204 Methodisch wird damit das kantische Faktum des Sollens durch eine theologische Dimension ersetzt. Aber trotz dieser theologischen Ausrichtung bleibt die Freiheit das Begründungsmerkmal des Rechts: „Die Quelle alles Rechts ist die Freiheit, d. h. der sich selbst bestimmende Wille,“ 205 der jetzt aber auf den göttlichen Willen ausgerichtet ist. Der Rechtszustand wird von Savigny als „Gebiet, worin“ der Wille einer Person herrscht, beschrieben. „Diese Macht nennen wir ein Recht dieser Person, gleichbedeutend mit Befugniß: Manche nennen es das Recht im subjectiven Sinn.“ 206 Das Privatrecht legt er so als ein kunstvolles Geflecht „subjectiver Rechte“ dar, welches der Autonomie des Einzelnen die zentrale Stellung einräume. Wenn nun „freye Wesen nebeneinander, sich gegenseitig fördernd, nicht hemmend, in ihrer Entwicklung“ bestehen sollen, „so ist dies nur möglich durch Anerkennung einer unsichtbaren Gränze, innerhalb welcher das daseyn, und die Wirksamkeit jedes Einzelnen einen sicheren, freyen Raum gewinne. Die Regel, wodurch jene Gränze und durch sie dieser freye Raum bestimmt wird, ist das Recht.“ 207 Das Recht diene so der Sittlichkeit, „aber nicht indem es ihr Gebot vollzieht, sondern indem es die freye Entfaltung ihrer, jedem einzelnen Willen innewohnende, Kraft“, sichere. 208 Die „Bestimmung durch eine Rechtsregel besteht (...) darin, daß dem individuellen Willen ein Gebiet angewiesen ist, in welchem er unabhängig von jedem fremden Willen zu herrschen hat.“ 209 202 203 204 205 206 207 208 209
Kant, Naturrecht Feyerabend, AA 27, Bd. 2.2, S. 1338. Zit. nach Wieacker (1959: 117). Savigny, zit. nach Kiefner (1982: 159). Savigny, zit. nach Kiefner (1982: 153), Herv. nicht im Original. Savigny, Bd. 1, S. 7. Savigny, Bd. 1, S. 331 f. Savigny, Bd. 1, S. 332. Savigny, Bd. 1, S. 333.
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Deutlich lassen sich hier die Parallelen zu Kants oben dargestellter Rechtstheorie erkennen. 210 Savigny geht sogar so weit, ein Recht auf Selbstmord anzuerkennen. 211 Dies ist in der Nachfolge Kants nur möglich, indem er sich von der Konstruktion der „frühen Kantianer der Deduktion“ losgesagt hat.212 Nach dieser wäre ein solches Recht, welches einen moralischen Pflichtbereich tangiert, nicht ausweisbar gewesen, und er beweist somit, daß er die Doppelkonstruktion des subjektiven Rechts bei Kant in seine Theorie miteinbezogen hat. Gleichzeitig muß er dafür eine gewisse Trennung von Recht und Moral postulieren: „Dieses Verhältnis des Menschen zum Menschen nennen wir das Recht, und die Regel desselben ist das Rechtsgesetz, dem Sittengesetz verwandt und zugleich von ihm verschieden. Es zeigt sich die Verwandtschaft darin, daß das Sittengesetz auch das ganze Rechtsgesetz in sich aufnimmt, wodurch die Gerechtigkeit nur als eine besondere Anwendung der Liebe erscheint: die Verschiedenheit aber darin, daß eine unsittliche Ausübung der Rechte möglich ist, die wir darum nicht minder als Rechte anerkennen müssen.“ 213 Savigny erkennt dabei die Pflichtseite der Rechtsbeziehung an, so daß er nicht den Fehler der frühen Kantianer beging, die in dem Recht lediglich ein „Dürfen“ sahen.214 Als ein enger Freund von Friedrich Jacob Fries 215 kannte er die Argumente gegen eine solche Konstruktion nur zu gut. 216 210 Vgl. auch Wieacker (1967: 375), der allerdings Kant moralteleologisch interpretiert; treffend aber seine Formulierung: „(...) entspricht Savignys Bestimmung des subjektiven Rechts, der Privatautonomie, des Rechtsgeschäfts und des rechtsgeschäftlichen Willens der Forderung Kants nach derjenigen Freiheit, die mit der Freiheit jedes anderen noch zusammen bestehen könne.“ Dort auch weitere Nachweise. Und weiter, ebd., S. 385: „Von seiner geistigen Mündigkeit an bis in seine großen dogmatischen Alterswerke hat Savigny an der Rechtstheorie und an der Freiheitsethik Kants festgehalten“, denn die negative Festlegung der „subjektiven Rechte“ durch Grenzziehung nach außen zum Zwecke der Willensherrschaft nach innen weise die „Gestalt einer formalen Freiheitsethik der sittlichen Autonomie“ auf, wie sie von Kant entwikkelt worden sei. Und a. a. O. (S. 397 f.) heißt es: „Die Grundlage (...) ist die Kantische Rechtslehre geblieben: das ‚selbstständige Daseyn‘ des Rechts, welches die autonome Person nicht erzwingen, sondern ermöglichen soll; das subjektive Recht als der Raum der Freiheit, die mit der Freiheit eines anderen noch zusammenbestehen kann; Rechtsgeschäft und rechtsgeschäftlicher Wille als Aktionsraum der autonomen Persönlichkeit.“ Deutlich auch Kiefner (1982: 167), der die erheblichen Schwankungen, ja fast schon Selbstwidersprüche zur eigenen Grundposition, herausarbeitet, denen Savigny bei der Ausarbeitung des Kapitels über die Rechtsverhältnisse (§52, System, Bd.I) unterlag: „Wenn sich etwas in Savignys Rechtstheorie kontinuierlich von den Marburger Anfängen bis in das System hinein erhalten hat, dann seine auf Kant beruhende Grundüberzeugung einer das Privatrecht konstituierenden Freiheitsethik.“ Zu den Verschiedenheiten bei aller Ähnlichkeit, Nörr (1994: 93 ff.). 211 Savigny, Bd. 1, S. 336. Zwar geht er in seiner Theorie des positiven Rechts davon aus, daß dies als Rechtsmißbrauch der Dispositionsbefugnis des Einzelnen entzogen ist (ebd.). Dies ändert jedoch nichts an dem Status des „Urrechts“, welches hier mit der Kantischen Konstruktion verglichen werden kann; vgl. auch Kaspar (1967: 64 Fn. 76). 212 Vgl. hierzu Kersting (1993: 151 ff.). 213 Savigny, zit. nach Kiefner (1982: 165). 214 Dazu ausführlich Kersting (1993: 199 f.). 215 Zu Fries vgl. Fn. 176. 216 Vgl. Rückert (1984: 242): Savigny „zeigt gründliches Unbehagen und an den aktuellen Naturrechtslehren und erhofft sich von Fries ein Urteil ‚unbestochen durch die Stimme der
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Auch der Zusammenhang von Freiheitsrecht und Recht auf etwas wird von Savigny in seinen Ausführungen über die Klage herausgearbeitet, freilich übersetzt in eine Theorie des positiven Rechts. Jede Klage setzt nach Savigny ein „Recht an sich“ – vergleichbar mit dem oben so bezeichneten „Recht auf Freiheit“ bei Kant – und eine Verletzung desselben voraus, so daß die Klage nur die besondere Gestalt sei, welches jedes „Recht“ infolge seiner Verletzung annehme: 217 „Der Inhalt dieses Verhältnisses läßt sich im Allgemeinen dahin bestimmen, daß wir von diesem Gegner die Aufhebung der Verletzung fordern. Dieser Anspruch gegen eine bestimmte Person und auf eine bestimmte Handlung hat demnach eine den Obligationen ähnliche Natur.“ 218 Hier wird die Relation von Freiheitsrecht und Recht auf etwas herausgearbeitet, die Savigny noch kurz zusammenfaßt: „Von diesem allgemeinen Standpunkt aus lassen sich zwei Bedingungen angeben, die bei jeder Klage vorausgesetzt werden: ein Recht an sich, und eine Verletzung desselben. Fehlt das erste, so ist eine Rechtsverletzung undenkbar; fehlt die zweite so kann das Recht nicht die besondere Gestalt der Klage annehmen.“ 219 Diese Darstellung der Idee vom Ineinandergreifen des Rechts auf Freiheit und des Rechts auf etwas läßt Savigny heute in der einschlägigen Fachliteratur als den Entwickler des Gedankensystems erscheinen, das in den Grundzügen noch in der heute herrschenden Lehre fortlebt, wenngleich die einzelnen Begriffsbestimmungen immer wieder abgewandelt worden sind und das System von der Pandektistik übermäßig dogmatisiert wurde. 220 Stimmt die hier vorgenommene Kant-Interpretation, dann läßt sich dieses System aber nicht erst bei Savigny, sondern schon bei Kant finden. 221
3. Die Bedeutung der subjektiven Rechte: Funktionaler oder normativer Status? Mit der bisherigen Rekonstruktion konnte gezeigt werden, daß sich Kants Rechtstheorie methodisch an seine kritischen Schriften anschließt. Menschliche Koexistenz nach Grundsätzen der praktischen Vernunft zu ordnen, führt zu dem objektiven Rechtsgesetz. Aufbauend auf den Grundbegriffen der Verallgemeinerung, Unabhängigkeit und Wechselseitigkeit, weist es dem Einzelnen einen Raum der Willkürfreiheit zu, in dem er tun und lassen kann, was er will, wenn sein Handeln Zeit.‘“ Rückert führt zwar zahlreiche Stellen auf, um die Lösung Savignys von Kant zu belegen, jedoch sind diese eher methodischer Art und gehen nicht auf die inhaltliche Ebene ein, sprechen insofern nicht gegen die hier vorgenommene Hypothese, der Nacheiferung Savignys in diesem Konzept der Kantischen Rechtslehre. 217 Savigny, Bd. 5, S. 4 ff. – Vgl. zu dem von Savigny nicht voll bewältigten Problem Kasper (1967: 65) m. w. N. 218 Savigny, Bd. 5, S. 5. 219 Savigny, Bd. 5, S. 6. 220 Kasper (1967: 65). 221 Den bedeutenden Einfluß von Kant auf Savigny stellt auch Kiefner im Anschluß an seine Untersuchungen von Julius Binder heraus (1969: 3 ff.). 6*
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mit der Willkürfreiheit aller anderen nach einem allgemeinen Gesetz vereinbar bleibt. Solange er sich in diesen Grenzen bewegt, genießt er einerseits durch die Rechtsordnung Schutz vor nötigender Willkür anderer und ist andererseits selber frei von rechtlichem Zwang. Das Ziel der Kantischen Rechtstheorie ist, solche verbindlichen Handlungen, die nicht der moralischen Spontaneität überlassen werden können, aber von der praktischen Vernunft kategorisch eingefordert werden, als äußere Rechtspflichten auszuweisen. Diese können ihrerseits mit Zwang durchgesetzt werden und bestimmen insoweit einen Bereich, der nicht der Selbstbestimmung des Einzelnen überlassen bleibt. Diesen Pflichten korrespondiert gleichzeitig der Bereich eines anderen Subjekts, der als dessen Recht bezeichnet werden kann, und die äußere Selbstbestimmung jenes Subjekts gewährleisten soll. Diese Bedingungen der äußeren Selbstbestimmung konstruiert Kant mittels des „Rechts auf Freiheit“ und des „Rechts auf etwas“. Unrechtshandlungen werden dabei als Verletzung des subjektiven Rechts auf Freiheit ausgewiesen. Kennzeichnend für die Systematik dieser Rechtstheorie ist jedoch, daß sich der durch das Freiheitsrecht bestimmte Freiheits- bzw. Aktionsspielraum auch als Gewährleistung des objektiven Rechtsgesetzes ausweisen läßt. Daraus ergibt sich die Frage, ob die Umformulierung des objektiven Rechtsgesetzes in ein subjektives Recht auf Freiheit nur ein analytischer Satz 222 oder aber ein synthetischer Satz ist, der ein neues Element einbringt und insofern begründet werden müßte? Noch grundlegender kann man – wie bereits oben – fragen: Warum gibt es bei Kant überhaupt subjektive Rechte? Die Relevanz dieser Fragestellung kann am einfachsten durch eine kurze, einführende Darstellung der drei Weimarer Staatstheoretiker aufgezeigt werden, die ausführlich erst im dritten Kapitel vorgestellt werden. Genau das Begründungsproblem, ob subjektive Rechte einen funktionalen oder aber normativen Status einnehmen, hierbei wiederum differenzierend zwischen einer individuellen, überindividuellen und transpersonalen Ausgestaltung, ist kennzeichnend für die unterschiedlichen Theorierichtungen von Carl Schmitt, Hans Kelsen und Hermann Heller. So behauptet etwa Kelsen, daß „die Statuierung von solchen subjektiven Rechten im technischen Sinne (...) nicht – wie die Statuierung von Rechtspflichten – eine wesentliche Funktion des objektiven Rechts ist. Sie stellt nur eine mögliche, keine notwendige inhaltliche Gestaltung des objektiven Rechts dar, eine besondere Technik, deren sich das Recht bedienen kann, aber durchaus nicht bedienen muß.“223 Nach Kelsen fällt damit die systematische Ausweisung der subjektiven Rechte der Beliebigkeit des Gestalters der jeweiligen Rechtsordnung anheim. Kant, der eine apriorische Theorie des Rechts begründen will, die jeder Rechtsordnung zugrunde liegt, kann eine solche Theorie nicht befriedigen, denn ein von rein empirischen Bedingungen abhängiges subjektives Recht wäre nicht notwendig. Die Beliebigkeit ist kein Begründungskriterium einer transzendentalen Rechtstheorie der praktischen Vernunft. 222 So wohl Kersting (1993: 202), dem „(...) auch das Menschheitsrecht als subjektiv-rechtliche Ausformung des reinen Rechtsgesetzes (...)“ erscheint. 223 Kelsen (1960: 141), Herv. nicht im Original.
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Einen anderen Weg geht Schmitt, indem er den Einzelnen zu einer Funktion des Rechts degradiert: „Für den Staat ist das Individuum als solches der zufällige Träger der allein wesentlichen Aufgabe, der bestimmten Funktion, die es zu erfüllen hat.“ 224 Weiter führt er aus: „Das Recht, von dem gezeigt wurde, daß es der Macht als bloßer Tatsache vorgehen muß, geht daher auch dem Individuum vor und kann, wenn dem so ist, nur ein objektives sein; es hat seinen Ursprung nicht in dem Meinen eines Einzelnen als solchen und zielt nicht auf diesen; es kennt überhaupt keinen Einzelnen.“ 225 Indem so der Einzelne zum Mittel des Staates wird, das Recht zu verwirklichen, negiert Schmitt den Wert des einzelnen empirischen Subjekts. Konsequent fährt er deshalb fort: „Die objektiv gültige Norm erfüllen heißt, vom Einzelnen aus gesehen, die eigene subjektive empirische Wirklichkeit verneinen. Die Souveränität der transzendentalen Einheit der Apperzeption vor dem konkreten Bewußtsein als psychologischem Faktum bedeutet, in die Rechtsphilosophie übertragen, nur die Belanglosigkeit des Einzelnen.“ 226 Beide Autoren wollen zwar mit ihren Thesen nicht Kant selbst wiedergeben, jedoch finden sich in der Frühschrift von Schmitt viele explizite Bezugnahmen auf den Königsberger Philosophen, den er aber auch später immer wieder als Kronzeugen für seine Behauptungen mißbraucht. Er beansprucht, daß erst dies den richtig verstandenen Kant darstelle. 227 Auch Kelsen hat seine Theorie in stetiger Auseinandersetzung mit Kant gefunden. Genauer wird auf die Positionen dieser beiden Staatstheoretiker erst unten eingegangen. Dann kann auch gezeigt werden, inwiefern sich die – hier noch unerwähnt gebliebene – Position Hellers Kant annähert. An Kelsen und Schmitt konnte gezeigt werden, daß in der Rechtstheorie unterschiedliche Ansichten über die Bedeutung von subjektiven Rechten vertreten sind, die von der Belibigkeit bis zur Notwendigkeit der subjektiven Rechte reichen. Im folgenden sind zunächst Kants eigene Aussagen auszuwerten: Weil Kant den autonomen Freiheitsbegriff der Moral – den freien Willen – nicht direkt in der Rechtstheorie umgesetzt hat – das objektive Rechtsgesetz baut, wie gezeigt werden konnte, nicht unmittelbar auf ihm auf – stellt sich hier wiederholt das Problem, wie es möglich ist, daß Rechte als notwendig ausgezeichnet werden, wenngleich ihre verpflichtende Durchsetzung nicht automatisch mit der Gewährung eines Rechts verknüpft ist. Das Schutzgut des Rechtsgesetzes ist die Willkürfreiheit. Der Inhalt des Schutzgutes beantwortet aber nicht die Frage nach dem Grund dieses Schutzes. Bei einer teleologischen Interpretation hätte man dieses Problem hingegen nicht. Das Rechtsgesetz wäre dann zum Schutz des „freien Willens“ konstruiert. Damit würde das Problem der beiden verschiedenen Willensbegriffe aufgehoben, weil unter diesen Bedingungen das subjektive Recht nur noch für moralische Handlungen des freien Willens in Anspruch genommen werden könnte. Jedoch wurde gezeigt, daß nach Kant die subjektiven Rechte auch für unmoralische Handlungen beansprucht werden können. Den unmoralischen Handlungen kommt der Verzicht auf 224 225 226 227
Schmitt (1914: 86). Schmitt (1914: 98 f.), Herv. nicht im Original. Schmitt (1914: 88 f.). Vgl. Schmitt (1914: 89, 100). Vgl. ausführlich unten, 218 ff.
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die Rechtsdurchsetzung faktisch nahe, weil auch der Rechtsverzicht bewirkt, daß die Sittlichkeit, um deretwillen das Recht als notwendige Handlung ausgewiesen ist, nicht verwirklicht wird. Die Frage nach dem funktionellen oder normativen Status der subjektiven Rechte berührt somit die oben bereits erörterte Frage nach der Gebotenheit der Rechtsdurchsetzung. 228 Wurde oben dieser Aspekt mehr unter dem Gesichtspunkt behandelt, ob das Recht selbst die Gründe für die Rechtsdurchsetzung bereithält, steht jetzt im Vordergrund, aus welchem Grund der Einzelne über das Recht verfügen kann. Hierzu soll einführend ein theoretisches Gedankenspiel dargestellt werden: Das mögliche Realisierungsdefizit, welches durch unmoralisches Handeln oder den Rechtsverzicht auftreten kann, ließe sich nicht nur durch eine moralteleologische Konstruktion, sondern auch durch die Einführung einer überindividuellen Instanz vermeiden. Diese könnte an Stelle des Rechtsträgers selbst den geschuldeten Rechtsanspruch einklagen oder aber dem Träger des Rechts eine Rechtspflicht auferlegen, sein Recht durchzusetzen. Die Durchsetzung der Wiederherstellungspflicht des Rechtsverletzers wäre dann nicht mehr von der Entscheidung des Trägers des subjektiven Rechts abhängig. 229 Wäre die Einrichtung einer solchen Instanz mit dem Naturrecht Kants nicht zu vereinbaren, da Kant eine überindividuelle Instanz erst im öffentlichen Rechtszustand der positiven Rechtsgesetzgebung als Staat selbst in seine Rechtskonstruktion miteinbezieht (dazu ausführlich unten 230), löste sich dieses Problem von selbst, sobald ein solcher Zustand errichtet ist. Eine solche überindividuelle Instanz könnte dann die Handlungen überwachen und bei Rechtsverletzungen ggf. einschreiten, wenn der Rechtsträger durch Rechtsverzicht die Realisierung der Sittlichkeit verhindert. Nicht nur das repressive Strafrecht sondern auch das restitutive Privatrecht würde so, unabhängig von subjektiven Rechten, durchgesetzt werden können. 231 Die Zwangsgewalt würde damit unabhängig von der Verletzung eines subjektiven Rechts, sondern allein von einer Überschreitung des objektiven Rechtsgesetzes her legitimiert werden. Die subjektiven Rechte würden hierdurch ihren aufgezeigten Status als normative Begründungsposition für das Zwangsrecht verlieren. Eine normative Theorie der subjektiven Rechte muß deshalb zeigen, daß Rechte für die Verwirklichung der Sittlichkeit nicht nur einen funktionalen Aspekt einnehmen. Vgl. oben, 61 ff. Der Stelle könnte somit eine Art Prozeßstandschaft zukommen; in einigen Fällen wäre auch an eine Art Verbandsschutz zu denken. 230 Unten, 106 ff. 231 Einen ähnlichen Gedanken verfolgt wohl auch Raiser (1978: 106): „Alle rechtliche Ordnung hat es mit Gerechtigkeit zwischen Menschen zu tun; so ist auch klar, daß hinter jeder solchen Ordnung ein bestimmtes Bild vom Menschen steht, also etwa der Gedanke der transzendentalen Freiheit, (...). Aber ein solches Bild führt nicht zwangsläufig und ausschließlich zur Denkform von Menschenrechten, vielmehr läßt es sich auch umsetzen in dem weiten Bereich von Institutionen, in denen menschenwürdiges Leben ermöglicht werden soll.“ Das heißt, den Subjekten übergeordnete Instanzen organisieren die Welt des Subjekts. 228 229
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In der Tat lassen sich bei Kant Stellen finden, nach denen das nicht notwendig mit dem subjektiven Recht verbunden ist. Auch dem Staat kann ein Zwangsrecht zukommen, unabhängig davon, ob der Verletzte seinerseits sein Recht – mit der damit verbundenen Zwangsbefugnis – in Anspruch nimmt. Diese Funktion übernimmt das Strafrecht: „Nun ist aber Strafe nicht ein Akt der Privatautorität des Beleidigten, sondern eines von ihm unterschiedenen Gerichtshofes, der den Gesetzen eines Oberen über alle, die demselben unterworfen sind, Effekt gibt.“ 232 Die staatliche Strafe ist also ein Zwang, der unabhängig von dem Individualwillen eintritt. Bei der Thematisierung des Strafrechts setzt Kant in den Passagen der Rechtslehre die Zwangsbefugnis als schon behandelt voraus. 233 Sie ist in dem Naturrechtsverhältnis begründet. In der Einleitung der Rechtslehre entwickelt Kant konsequenterweise in Paragraph D 234 die Befugnis zu zwingen aus dem objektiven Rechtsgesetz: „mithin ist mit dem Rechte (dem objektiven Rechtsgesetz) 235 zugleich eine Befugnis, den, der ihm Abbruch tut, zu zwingen, nach dem Satz des Widerspruchs verknüpft.“ Der Zwang ist bei Kant von daher nicht an das subjektive Recht allein gebunden. Die Befugnis zu zwingen wird erst durch eine Umformulierung mit dem subjektiven Recht verknüpft. Dies nimmt Kant erstmals in Paragraph E vor und später dann bei der „Allgemeinen Einteilung der Rechte“ in Abschnitt B der „Einteilung der Rechtslehre“. 236 Die Begründung des Zwanges ist folglich nicht an das subjektive Recht, sondern schon an das objektive Rechtsgesetz geknüpft. Somit wäre sowohl die Bestimmung des Freiheitsraum als auch die Durchsetzung der Rechtspflichten allein mittels des objektiven Rechtsgesetzes und einer damit verbundenen staatlichen Instanz möglich. Von daher liegt die Frage nahe, ob Kant nur das Begründungsproblem für solche Instanz zu der Einführung der subjektiven Rechte veranlaßt hat, oder ob es noch andere Gründe gibt, die dafür sprechen, dem Subjekt selbst die Entscheidungsmacht über seinen Rechtsraum zu überlassen. Dabei sind zwei Fragen zu trennen: Die Begründung einer Befugnis ist von dem Anlaß ihrer Erteilung logisch unabhängig.
a) Die funktionale Lesart der Rechte Funktionelle Argumente könnten für die Einräumung des subjektiven Rechts sprechen. Wenn auch die Verletzung des Freiheitsraumes eines Subjekts am objektiven Rechtsgesetz ausweisbar ist, so bräuchte man doch eine großen überindividuellen Überwachungsapparat, damit ein Dritter das Recht durchsetzen könnte. Viel einfacher erscheint es, dem Subjekt selbst ein Recht einzuräumen, auf dessen Ver232 233 234 235 236
Kant, MS-TL, S. 598 (A 136, 137). Kant, MS-RL, S. 487 (B 170): „Es fragt sich nur, ob (...)“; dazu Höffe (1995: 226 f.). Kant, MS-RL, S. 338 f. (AB 35). Eingefügt von M. S. Kant, MS-RL, S. 345 (AB 45).
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letzung es aufmerksam machen kann und gegebenenfalls selbst seinen Anspruch durchsetzt. Dann hätte das subjektive Recht nur eine funktionelle Bedeutung, und die bereits erwähnte Theorie Schmitts, daß dem empirischen Subjekt nur eine Funktion zur Verwirklichung des objektiven Rechts zukommt, fände in der Kantischen Theorie Widerhall. 237 Dagegen hätte der empirische Mensche keine Bedeutung für das Recht, da letztlich Rechtsgut nicht das phaenomenale, sondern das noumenale Wesen wäre, auf das die Rechtsordnung dann teleologisch ausgerichtet wäre. In diesem Fall wäre das subjektive Recht des Individuums nicht ein Recht auf seine freie Selbstverwirklichung als endliches Vernunftwesen; sondern in Anlehnung an die Interpretation der Selbstverwirklichung von Carl Schmitt, die in seiner Forderung eines „sei du selbst“ 238 kumuliert, würde man diese Aufforderung als eine „normative Konstruktion“ 239 verstehen. Selbstverwirklichung wäre allein auf die Existenz des noumenalen Subjekts bezogen. Damit würde der empirische Mensch aus dem Recht wegdefiniert. In der Konsequenz dieses Gedankens läge es dann, den Zweck des Rechts nicht mehr in dem konkreten Einzelnen zu sehen, sondern in der Rechtsidee allein, die ihre Verbindlichkeit von dem noumenalen Subjekt und seinen Gesetzen als überindividueller Instanz bezieht. Rechtsverzicht aus Motiven, die dem Einzelnen freigestellt sind, ist so aber nicht zu erklären. Somit wäre eine funktionale Begründung des subjektiven Rechts nur mit einer moralteleologischen Rechtsinterpretation Kants zu vereinbaren. Jemand hätte nur dann ein subjektives Recht, wenn er es moralisch gebrauchen würde. Voraussetzung für eine funktionale Begründung ist danach, dem realen, empirischen Willen des Subjekts jegliche Normativität für das Recht abzuerkennen. Damit verlieren die subjektiven Rechte aber an normativem Wert und könnten in dieser teleologischen Theorie ebenso gegen Pflichten ausgetauscht werden, da sie immer schon auf die noumenale Welt Ziele bezogen wären. 240 Das Recht wäre als Pflicht zu verstehen. Der Freiheitsbegriff der Kantischen Rechtslehre ist aber die Willkürfreiheit, nicht der freie Wille des noumenalen Subjekts, der in der empirischen Welt allein eine Idee bleiben muß. Die Willkürfreiheit umfaßt gerade das Recht, alles zu tun und zu lassen, was man will, solange es mit einer allgemeinen Gesetzgebung vereinbar ist. Es ist keine Freiheit um, sondern eine Freiheit zu, bzw. eine Freiheit von. 241 Recht ist nicht die Koexistenzordnung noumenaler, sondern endlicher Vernunftwesen. Der Zweck des Rechts ist, dieses menschliche Leben nach Vernunftmaßstäben zu ord237 Vgl. Schmitt (1914: 86, 98, 100). Hier nimmt er explizit auf Kant Bezug: „Aus den bisherigen Ausführungen ist aber bereits zu entnehmen, daß gerade darin die Richtigkeit der Kantischen Gedanken liegt und ihn eher deutlich der Vorwurf trifft, die Konsequenz nicht deutlich genug hervorgehoben zu haben.“ (ebd., S. 100). 238 Schmitt (1914: 86 Anm. 1). 239 Schmitt (1914: 87). 240 Vgl. Brugger (1981 b: 235); vgl. auch Dworkin (1990: 280 ff.), der aber die Rechtstheorie Kants verkennt, indem er sie als eine auf Pflichten und nicht auf Rechte gegründete Theorie einordnet, da er sich fälschlicherweise am kategorischen Imperativ und nicht am Rechtsgesetz orientiert. 241 Hierzu vgl. auch Böckenförde (1991: 42 ff.).
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nen, nicht aber Menschen ein reines Vernunftleben aufzuoktroyieren, sondern offen zu sein, für die selbstbestimmte Wahl, sich diesem Vernunftleben immer mehr anzugleichen. Diese Entwicklungsdynamik legt Kant in seinen Religionsschriften und seinen Stellungnahmen zur Historischen Entwicklung nieder:242 „Man kann die Geschichte der Menschengattung im großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich- und, zu diesem Zwecke, auch äußerlich-vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann.“ 243 Würde man hingegen eine funktionale Deutung der Rechtstheorie vornehmen, so würde man das Recht einseitig in seine objektive transzendentale Dimension auflösen, zu Lasten der empirischen Seite des Menschen, die das endliche Vernunftwesen – den Menschen ausgestattet, (auch) mit Willkürfreiheit und einer anthropologischen Konstitution, die empirische Bedürfnisse kennt – in die Theorie miteinbezieht. Dies läßt nur den Schluß zu, daß eine funktionale Lesart der subjektiven Rechte mit Kant nicht vereinbar ist. b) Die normative Lesart der Rechte Oben wurde bereits beschrieben, inwiefern Versuche, das Rechtsgesetz aus dem aufgeklärten Interesse der einzelnen Subjekte zu erklären, scheitern, Verbindlichkeit im Kantischen Sinne auszuweisen. Gründe a posteriori werden durch die transzendentale Methode ausgeschlossen. Dieser einseitige Blick auf die Interessen des Einzelnen könnte zwar die Einräumung eines Freiheitsraumes erklären, aber nicht begründen. Verbindlichkeit gewinnt Recht erst durch seine Verbindung mit Vernunftprinzipien. Dies führt zu einer normativen Lesart der Rechte bei Kant: (1) Unterscheidung: Grund – Inhalt des Rechts Dies führt zu der Frage, was die Voraussetzungen für Verbindlichkeit im Kantischen Sinne sind? Wenn man diese erkennt, wird einsichtig, warum die Person für Kant eine normative Position für die Rechte einnimmt, denn sie ist conditio sine qua non jeder Verbindlichkeit. Kant schreibt, daß der Mensch als Tier nicht Rechtssubjekt sein könnte, da er ganz dem naturgesetzlichen Determinismus unterliegen würde. Einem „Tier-Menschen“ könnte das Attribut der Willkürfreiheit nicht zukommen, erst recht nicht der freier Wille. Recht ist erst für den Menschen als endliches Vernunftwesen möglich. 242 So auch Deggau (1983: 14): „Zugleich muß die teleologische Struktur sowohl des Rechts wie letztlich auch der Moral, die insbesondere in der Postulatenlehre zum Vorschein kommt, in Rechnung gestellt werden; denn aus ihr ergibt sich eine spezifische Beziehung zwischen der inneren und der äußeren Gesetzgebung, sofern in dem Telos der geschichtlichen Entwicklung diese Differenz als aufgehoben vorgestellt wird.“ 243 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlichen Absicht, S. 45 (A 403).
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Als eben dieses wird er zugleich „als von physischen Bestimmungen unabhängige Persönlichkeit (homo noumenon)“ vorgestellt wie auch „als mit jenen Bestimmungen behaftetes Subjekt (homo phaenomenon)“244. Diese noumenale Seite im Menschen kann auch als Menschheit bezeichnet werden.245 Sie ist „das reine Wesen des Menschen ‚gegenüber der Tierheit in ihm‘“. 246 In den Vorarbeiten zur Tugendlehre schreibt Kant: Die noumenale Seite „ist (...) die oberste Bedingung aller Pflichtgesetze weil das Subject sonst aufhören würde ein Subject der Pflichten (Person) zu seyn und zu Sachen gezählt werden müßte.“ 247 Kraft der Menschheit in der eigenen Person ist man fähig, autonom zu handeln und „Subjekt des moralischen Gesetzes“ zu sein. 248 Nur als solcher ist der Mensch Zweck an sich selbst; nur durch die reine Menschheit249 steht dem Menschen Würde zu. Die Würde der Menschheit in der Person des Menschen muß „erhalten und geehrt“ 250 werden. Hier stellt sich auf den ersten Blick ein Paradox ein. Wenn der Mensch als moralisches Wesen Endzweck der Schöpfung ist, 251 muß die Vernunft doch Vorsorge tragen, daß dieser Endzweck erreicht werden kann. Insofern ist nicht einzusehen, warum im Recht gerade die Willkürfreiheit, mit der Möglichkeit, auch unmoralisch zu handeln oder zumindest auf die Durchsetzung moralisch legitimer Ansprüche zu verzichten, normative Auszeichnung finden soll. Die Auflösung dieses Widerspruches läßt sich nur finden, wenn man zwischen dem Grund und Inhalt des Rechts unterscheidet. Der Grund des Rechts ist die Menschheit. 252 Dem Menschen kommt nach Kant Recht „kraft seiner Menschheit“ 253 zu. Die Menschheit ist kein übergeordneter Begriff in dem Sinne, daß diese allen Menschen als Gesamtheit übergeordnet ist, sondern die Menschheit tritt in die Wirklichkeit immer nur als Menschheit in den je einzelnen Menschen auf und wird durch sie vermittelt. Insofern ist sie keine überindividuelle Instanz, sondern verwirklicht sich transpersonal durch die einzelnen Personen hindurch. Von einer individuellen Theorie unterscheidet sie die gemeinsame Bezugnahme auf die noumenalen Seite des Einzelnen, die für alle Subjekte gleich ist. Diese Gleichheit des noumenalen Teils in der Verschiedenheit der empirischen Kant, MS-RL, S. 347 (AB 48). Kant, „Die moralisch praktische Vernunft in uns, das ist die Menschheit (homo noumenon)“, Zitat nach Metzger (1917: 68 Fn. 2). 246 Eisler (1989: 352), Stichwort: Menschheit. 247 Kant, AA 23, 390. 248 Kant, zit. nach Eisler, S. 352. 249 Vgl. Eisler (1989: 349), Stichwort: Mensch. 250 Kant, KpV, S. 211 (A 157). 251 Kant, KU, S. 567 (A 406; B 410): Daß alles in der Welt „zu nichts da sein würde, wenn es in ihr Menschen (vernünftige Wesen überhaupt) gäbe; d. i. daß, ohne den Menschen, die ganze Schöpfung eine bloße Wüste, umsonst und ohne Endzweck sein würde.“ 252 So wohl auch Kersting (1993: 213). 253 Kant, MS-RL, S. 345 (AB 45). 244 245
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Subjekte ermöglicht überhaupt erst ein Zusammenwirken der Menschen nach einer vernünftigen Vorstellung. Auch wenn sich die Idee der Menschheit stets durch den Einzelnen hindurch verwirklicht, ist sie doch auf das selbe Ziel ausgerichtet: Die Idee der Menschheit in der endlichen Welt zu verwirklichen, ist nach Kant ein gemeinsames Projekt aller Menschen. Recht als Koexistenzordnung endlicher Vernunftwesen muß dies berücksichtigen. Die Menschheit in der eigenen Person ist der Grund dafür, daß endliche Vernunftwesen sowohl Pflichten gegenüber sich selbst haben als auch Pflichten gegenüber anderen Menschen, und zwar aufgrund der Menschheit in ihnen. 254 Nur als solchen kommt ihnen die Eigenschaft zu, Subjekte von Rechtsverhältnissen zu sein: 255 „Persönlichkeit ist die oberste Bedingung aller Rechtsverhältnisse.“ 256 Dabei gilt es aber im Recht nicht, zu einem Ergebnis zu gelangen, das die Einsichten der Moraltheorie verabschiedet. Moralisches Handeln ist immer nur als selbstbestimmtes möglich. Heteronome Moralbestimmung wäre nach der Kantischen Theorie schon per definitionem nicht möglich. Die Menschheit in dem Subjekt aus moralischer Perspektive zu verwirklichen, ist eine unvertretbare Aufgabe jedes Einzelnen. Was ein jeder der Menschheit in sich selbst schuldet, muß ein jeder allein verwirklichen. Nur der Einzelne selbst kann sich nötigen, den moralischen Geboten der Vernunft in sich selbst zu gehorchen und die Menschheit in sich selbst zu behaupten, 257 solange man keine äußeren Unrechtshandlungen begangen hat. Wenn der Freiheitsraum, der einem durch das objektive Rechtsgesetz zukommt, durch einen anderen verletzt wird, wird zunächst die Willkürfreiheit in diesem Subjekt verletzt. Willkürfreiheit kommt jedem insofern zu, als sie den Bereich beschreibt, in dem niemand einen anderen zu einer Handlung zwingen darf. Wenn man demgegenüber nur ein Recht hätte, um moralisch zu handeln, hätte die Pflicht, moralisch zu handeln, gar keinen Handlungsgegenstand. Diesen zu bestimmen, ist erst sinnvoll, wenn auch die rechtliche Möglichkeit besteht, nicht-moralisch oder gar unmoralisch zu handeln. Selbstbestimmung bekommt zu ihrem Wert erst dadurch ihren Wert, daß auch das Gegenteil möglich ist. 258 Nicht weil die unmoralische Handlung zu rechtfertigen ist, sondern weil Moralität erst in ihrem vollen Sinn verwirklicht wird, wenn sie vollkommen selbstbestimmt wahrgenommen wird, wird recht254 Vgl. auch Wenzel (1997: 182 ff.), der in dem Recht der Menschheit den Grund der Möglichkeit von „Selbst-“ und „Fremdverpflichtung“ sieht. Er sieht in dem Recht der Menschheit ein „Prinzip der Selbsterhaltung als Prinzip eines, sozusagen höheren Selbstinteresses“ (ebd., S. 183). 255 Vgl. König (1996 b: 165). 256 Kant, AA 20, R 455. 257 Kant, MS-TL, S. 569 (A 94): „Die Menschheit in seiner Person ist das Objekt der Achtung, die er von jedem anderen Menschen fordern kann; der er aber auch sich nicht verlustig machen muß.“ 258 Ähnlich verläuft auch die Argumentation von Waldron (1993: 83) gegen die moralteleologische Auffassung: „The areas of decision that we normally associate with rights would, on this account, be miles out of range.“
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liche Willkürfreiheit gesichert. 259 Der Schutz der Willkürfreiheit ist Folge der unauflöslichen Verknüpfung von Moralität und Selbstbestimmung bei Kant, die auf endliche Vernunftwesen angewendet wird. Deshalb ist Willkürfreiheit Schutzgut des subjektiven Rechts. Inhalt des Rechts ist die Vermittlung des Menschen in seinem Doppelcharakter: In seinem Verhältnis zu anderen ist der Mensch frei, sich über seine sinnlichen Bestimmungsgründe hinwegzusetzen und nur nach dem Vernunftgesetz(e) zu handeln, aber auch äußerlich frei seinen Begierden nachzugehen. Nur der Menschheit in sich, seinem Gewissen gegenüber, schuldet er Rechenschaft für seine Motive. 260 Die Menschheit überhaupt ist kein Bestandteil der Handlungswelt, sie tritt immer nur vermittelt durch die einzelnen Individuen auf. Im weiteren ist nun zu klären, wie diese Vermittlung vernünftig gestaltet werden kann. Hierbei nimmt das innere Rechtsverhältnis eine bedeutende Rolle ein. (2) Das innere Rechtsverhältnis In der „Einleitung zur Rechtslehre“ beginnt Kant mit einer inhaltlichen Differenzierung der Rechtspflichten, indem er sich an den Ulpianischen Forderungen des „honeste vive“, „neminem laede“ und „suum cuique tribue“ orientiert. Sie fordern, daß man als ehrenwerter Mensch leben (honeste vive), daß man niemanden verletzen (neminem laede) und daß man jedem das Seine zuteilen soll (suum cuique tribue). (a) „honeste vive“ Sich als ehrenwerter Mensch zu behaupten ist gleichzeitig eine Tugendpflicht, denn man darf sich nach Kant der Menschheit in einem selbst „nicht verlustig machen“ 261. Gibt diese innere Pflicht als Tugendpflicht keine systematischen Schwierigkeiten auf, 262 scheint sie als Rechtspflicht eine „contradictio in adjecto“ 263 darzustellen und läßt sich gar nicht in die Kantische Systematik der Pflichten mit ihrer Unterscheidung in innere Tugendpflichten und äußere Rechtspflichten 264 einordnen: 259 Vgl. Galston (1983: 323 f.): „Without the freedom do the wrong, there is no possibility of doing right in the full sense.“ 260 Kant, MS-TL, S. 573 (A 99, 100): „Jeder Mensch hat ein Gewissen, und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respekt (mit Furcht verbundener Achtung) gehalten, und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) macht, sondern es ist in seinem Wesen einverleibt.“ Vgl. König (1996 b: 165 f.). 261 Kant, MS-RL, S. 569 (A 94). 262 Im folgenden soll das Problem, wie sich diese vollkommenen Pflichten in das System der Tugendpflichten einpassen, nur insoweit aufgezeigt werden, wie es für die vorliegende Arbeit von Bedeutung ist. Vgl. hierzu etwa Kersting (1993: 217), v. a. aber Kant, Metaphysik der Sitten Vigilantius, AA 27. I.I. 263 Kersting (1993: 214).
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Sich hier zu behaupten und damit ein „rechtstreuer“ Mensch zu sein (honeste vive) ist die Pflicht des Subjekts: „im Verhältnis zu anderen seinen Wert als den eines Menschen zu behaupten, welche Pflicht durch den Satz ausgedrückt wird: ‚mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck‘. Diese Pflicht wird im folgenden als Verbindlichkeit aus dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person erklärt werden (lex iusti).“ 265 Aber nicht nur pflichtensystematisch stellt sich hier ein Einordnungsproblem, sondern auch in der Ausweisung als inneres Gebot. Innere Gebote, so das bisherige Ergebnis der vorliegenden Interpretation, sind aus dem objektiven Rechtsgesetz nicht zu begründen. 266 264 265 266 Die Frage ist nun, was Kant bewegt, von seiner strengen Aufteilung abzuweichen. 267 Anzuknüpfen ist hierfür wieder an dem strukturellen Problem des Rechtsverzichts. Für Kant steht in Zusammenhang mit dem Autonomiegedanken fest, daß die Restitution des Freiheitsraumes jeder für sich nur selbst veranlassen kann, indem man sein subjektives Recht durchsetzt. Eine Hinausweisung des anderen durch einen Dritten als Vertretung eines hypothetischen Willens wäre eine unzulässige Fremdbestimmung. Verzichtet jemand auf seinen Anspruch, verletzt er nur die Idee der Menschheit in sich, nicht die Idee der Menschheit in allen Menschen. Erst wenn durch seine Handlung die Willkürfreiheit aller Menschen, die durch das Recht geschützt ist, gefährdet wäre, würde ein Dritter die von der Idee der Menschheit geforderte Handlung durchsetzen können (hier tritt das Strafrecht auf, dazu unten, S. 99 ff.). Dabei ist zu bedenken, daß nicht nur durch Rechtsübergriffe in den Freiheitsraum anderer die Aufrechterhaltung rechtlicher Verhältnisse gefährdet wird, sondern ebenso durch einen generellen Verzicht auf die Durchsetzung der durch Unrechtshandlungen zugewiesenen subjektiven Rechte. Man stelle sich eine Welt voller Diebstähle vor, in der ein absoluter Verzicht auf Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustands herrscht. Hier würde ein rechtswidriger Zustand konserviert. Von daher scheint die Rechtsordnung nicht nur durch Zwangsbefugnisse aufrechtzuerhalten sein, sondern basiert darüber hinaus auf einer dieser entgegenkommenden inneren Einstellung der Subjekte. Eine utilitaristische Theorie könnte hier auf den uneingeschränkten Eigennutz der ihr zugrunde liegenden Akteure verweisen, ein Weg, der Kant versperrt ist, denn er kennzeichnet den Menschen nicht als uneingeschränkten Egoisten. 268 Statt dessen versucht er innere Rechtspflichten zu 264 Vgl. Kant, MS-RL, S. 347 (AB 47): „Alle Pflichten sind entweder Rechtspflichten (officia iuris), d. i. solche, für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist, oder Tugendpflichten (officia virtutis s. ethica), für welche eine solche nicht möglich ist“ 265 Kant, MS-RL, S. 344 (AB 43). 266 Vgl. oben, 61 ff. 267 Die Einordnung dieser inneren Rechtspflichten bereitet auch in der Sekundärliteratur zu Kant immer wieder große Probleme; vgl. bspw. Hess (1971: 22), der ihren Charkater als ‚innere Rechtspflichten‘ verkennt und deshalb zu dem Ergebnis gelangt, daß eine „Abgrenzung dieser Rechtspflichten (von den Tugendpflichten) nicht durchführbar erscheint“. 268 Vgl. etwa Höffe (1979: 208 ff.). Nach Höffe „nimmt Kant gegenüber Hobbes eine sachliche Veränderung, vor allem eine Vereinfachung der Argumentation vor“ (208); Kant „schließt
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finden, die man auch als die „inneren Bedingungen der äußeren Freiheit“ 269 bezeichnen kann. Die Pflicht, sich anderen als Rechtsperson zu präsentieren, ist erstens eine Forderung an die Sittlichkeit einer Person, und zwar aus der Perspektive der individuellen Moralität, wie Kant in einer Reflexion die ethische Dimension der inneren Rechtspflicht betont: „Der Grundsatz ‚honeste vive‘ ist das ethische principium und verlangt rectitudinem actionum internam, die Rechtschaffenheit (der Gesinnung),“ 270 und zweitens eine Forderung der Sittlichkeit an einen selbst aus der Perspektive der Sozialität (Recht). Jedoch ist diese innere Rechtspflicht auf Restitution des eigenen Freiheitsraumes nur durch Selbstzwang zu verwirklichen. 271 Erst in Verbindung mit der dritten inneren Rechtspflicht läßt sich zeigen, daß die Pflicht des „honeste vivere“ auch äußerlich erzwungen werden kann: als ehrenwerter Bürger in einem Rechtszustand zu leben (dazu unten) 272. Anknüpfend an das „honeste vive“, das demnach im Naturrecht zur Rechtsdurchsetzung strebt, ist für Kant der entscheidende Begründungsschritt für den Rechtsverzicht daher, zu unterscheiden, ob nur eine Person oder mehrere Personen durch eine Unrechtshandlung betroffen werden. Soweit nur die Willkürfreiheit einer Person betroffen ist, kann diese auf die Wiederherstellung verzichten, so daß ihr Selbstbestimmungsrecht gewahrt bleibt. Deshalb ist der Rechtsverzicht in der restitutiven Rechtsfunktion gegenüber einem einzelnen Subjekt wesentlicher Bestandteil des Rechts. Somit kommt der Willkürfreiheit, die Gegenstand des subjektiven Rechts ist, eine normative Position zu, nicht um moralisch zu handeln, sondern um Fremdbestimmung zu vermeiden, weil die Artikulation der Idee der Menschheit immer vermittelt wird durch den freien Willen des einzelnen. Fremdbestimmung ist erst als Befugnis, jemanden zu zwingen, zu rechtfertigen, wenn sein Handeln „als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit“ 273 qualifiziert werden kann. Also ist nicht nur die Befugnis zu zwingen mit dem Recht verbunden, sondern auch die Möglichkeit, darauf zu verzichten, soweit nur meine Willkürfreiheit betroffen ist. Auffassungen, die diese Möglichkeit verneinen und das empirische Individuum zur Funktion der Sittlichkeit degradieren, verwischen den Unterschied von Grund und Inhalt des Rechts. Wird der Freiheitsbegriff der Rechtslehre nicht von Hobbes’ anthropologische-pragmatische Überlegungen aus und argumentiert mit der schwächeren, gleichwohl zureichenden und schon deshalb sinnvolleren Prämisse“ (210) des unvermeidlichen Nebeneinanders. 269 Kersting (1993: 219). 270 Kant, AA, 19 R 7078. 271 Ähnlich auch Brandt (2002: 63). „Zur Erläuterung: Das ‚honeste vive‘ ist eine Rechtspflicht und keine Tugendpflicht, weil es mich zwar zu einer Handlungsweise auffordert, aber offen läßt, wie der Zwang zu ihr aussieht; ich kann und soll mich selbst dazu zwingen, und entsprechend taucht das ‚honeste vive‘ auch sogar bei Kant als ethische Pflicht auf; der Begriff der Rechtspflicht besagt jedoch wesentlich, daß ich auch von anderen rechtlich gezwungen werden kann, zum Beispiel in den Staat zu treten, der mich als Person allgemeinverbindlich bestimmt und beschützt.“ 272 Vgl. hierzu ausführlich: König (1996 b: 172). 273 Kant, MS-RL, S. 338 (AB 35).
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dem der Morallehre unterschieden, sondern beide Bereiche auf den freien Willen gestützt, ist Schutzgut des Rechtsgesetzes nicht mehr die Willkürfreiheit, sondern der freie Wille, mithin die Idee der Menschheit. Damit würde die Entscheidung über die Verwirklichung seines Freiheitsraumes vom einzelnen abgekoppelt. Die Handlungsmöglichkeit gegen die Idee der Menschheit in einem würde zum Rechtsverstoß. Der Mensch müßte sich allein durch seine noumenale Seite leiten lassen, wodurch sich Recht und Moral inhaltlich angleichen würden. Dann würde gleichgültig, ob jemand selbst oder ein anderer an seiner Stelle die Idee der Menschheit in einem durchsetzt. Genau diese Verwischung des Unterschiedes von Grund und Inhalt scheint Kant bei seiner bereits oben erwähnten Rezession von Hufelands „Versuch über den Grundsatz des Naturrechts“ gemeint zu haben. Dessen Bemühungen, den Zwang in den Rang einer Pflicht zu erheben, gehen auf nach Kant genau auf die Verkennung dieser Unterscheidung zurück. „Allein, daß die Befugnis zu zwingen, so gar eine Verbindlichkeit dazu, welche uns von der Natur selbst auferlegt sei, durchaus zum Grunde haben müsse, das scheint nicht klar zu sein; vornehmlich, weil der Grund mehr enthält, als zu jener Folge nötig ist. Denn daraus scheint zu folgen, daß man von seinem Rechte sogar nichts nachlassen könne, wozu uns ein Zwang erlaubt ist, weil diese Erlaubnis auf einer innern Verbindlichkeit beruht.“ 274 Der Grund des Zwangsrechts ist die Idee der Menschheit in dem Subjekt, welches dem Rechtsträger die Verbindlichkeit auferlegt (das „honeste vivere“), sein Recht zu behaupten. Dies ist aber nur eine innere Verbindlichkeit, und sie kann daher, wie gezeigt, nicht durch das äußere Rechtsgesetz begründet werden. Der Grund des Rechtsverhältnisses, die Idee der Menschheit in dem Rechtsträger und in dem anderen Beteiligten des Rechtsverhältnisses, enthält als Gebot also mehr als nur die Befugnis zu zwingen. Wenn man diese Verbindlichkeit aus der Idee der Menschheit in dem Subjekt zum Gegenstande des Rechts macht, dann kommt man zu der Folge, die Kant bei Hufeland kritisiert, nämlich sein Recht durchsetzen und Zwang anwenden zu müssen (dazu bereits oben 275). Wenn es nun richtig ist, daß die Idee der Menschheit immer nur durch das einzelne Subjekt unvertretbar verwirklicht werden kann, kann es keine überindividuelle Instanz geben, die an seiner Stelle darüber entscheiden kann, ob die Restitution des Freiheitsraumes erfolgen soll oder nicht. Dies führt zu der Schlußfolgerung, daß der Rechtsverzicht unabdingbarer Bestandteil des Anspruchs auf Selbstbestimmung ist. Gerade indem die Idee der Freiheit, die in dem noumenalen Subjekt verkörpert ist, nicht zum Inhalt, sondern nur zum Grund der Rechtsordnung gemacht wird, kann Kant einen Rechtszustand unter endlichen Vernunftwesen errichten, der die Selbstbestimmung zum Ziel und Zweck hat, ohne die Fehler einer moralteleologischen Interpretation zu begehen. Nimmt man diese Unterscheidung von Grund und Inhalt der Idee der Menschheit auf, lassen sich die erwähnten Theorien Kelsens und Schmitts mittels der Kanti274 275
Kant, Hufeland, in Bd. VI, S. 811 (A 115), Herv. nicht im Original. Vgl. oben, 64 ff.
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schen Theoreme einordnen. Schmitts Versuch, das empirische Individuum zur Funktion des Rechts zu machen, ist – nach der hier gewonnen Begrifflichkeit – nur möglich, weil die Idee der Menschheit nicht nur zum Grund, sondern auch zum Inhalt des Rechts gemacht wird. 276 Da dem einzelnen Subjekt kein Eigenwert zukommt, kann folglich nicht unterschieden werden, ob lediglich eine Verletzung des Individuums oder auch des Gemeinwesens vorliegt (dazu ausführlich unten 277). Mit jeder Unrechtshandlung geht nach Schmitt immer eine Gefährdung des gesamten Gemeinwesens einher, die strikt bekämpft werden muß. Kelsen hingegen gibt eine solche übergreifende Grundlage ganz auf und verbannt die Idee der Menschheit als Grund und als Inhalt aus dem Recht. Allein Heller, auf den bisher nur am Rande eingegangen wurde, kommt dem Ansatz Kants nahe. Bei den dreien läßt sich, nach einer vorläufigen Betrachtung, auch die eingeführte Unterscheidung von individuellem, überindividuellem und transpersonalem Ansatz einordnen. Kelsen kennt kein verbindendes sittliches Moment der Idee der Menschheit, insofern ist sein Ansatz individuell. Bei Schmitt liegt das ganze Gewicht auf der überindividuellen Ebene. Schließlich verwirklicht sich Sittlichkeit bei Heller durch den einzelnen hindurch, wobei die einzelnen aber untereinander verbunden sind, weshalb sein Ansatz als transpersonal gekennzeichnet werden kann und dem von Kant wohl am nächsten kommt. Diesen Arbeitshypothesen soll erst unten in Kapitel III weiter nachgegangen werden; sie lassen die Bedeutung der verschiedenen Interpretationen erkennen. (b) „neminem laede“ Die zweite Ulpianische Regel, „neminem laede“, läßt sich leichter in die Kantische Systematik einordnen. Sie bezieht sich auf die Rechte anderer Menschen in ihrem Verhältnis zu einem selbst, sofern man das Recht der anderen nicht verletzt. Grund dieser Rechtspflicht ist die Idee der Menschheit in anderen Personen.278 Aber wegen der Überschneidung mit dem objektiven Rechtsgesetz kann diese innere Rechtspflicht auch zum Gegenstand äußerer Zwangshandlungen werden. Insofern ist in dieser Rechtspflicht der Übergang vom „Recht der Menschheit“ zum „Recht der Menschen“ 279 angelegt. Grund einer äußeren Zwangshandlung ist nicht die innere Rechtspflicht, sondern die äußere Rechtspflicht. Kants ursprünglicher Plan beim Aufbau seiner Rechtslehre ging wohl auch von einer Zweiteilung in ein „Recht der Menschheit“ und in ein „Recht der Menschen“ 276 Ähnlich wohl auch Haensel (1926: 27 ff.), wenn er den homo noumenon zum Schutzgut des Rechtsgesetzes erklärt, und die Bedeutung des einzelnen Individuums, zugunsten der allen gemeinsamen Idee der Menschheit aufgibt, also deren Vermittlung über den je einzelnen verkennt; insbes. (ebd., 29): Haensel spricht von einer „objektivistische Wendung“ bei Kant. 277 Unten, 218 ff. 278 Vgl. König (1996 b: 170). 279 Vgl. Kant, MS-RL, S. 348 (AB 49).
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aus, so daß es in der Metaphysik der Sitten zwei juridische Kapitel hätte geben müssen. So heißt es bei Kant in einer Stelle aus den Nachlaß: „Auf die Art und weil es nur auf die Art der Obligation, ob sie stricte oder late sey, ankommt, kann es auch innere (ebensowohl als äußere) Rechtspflichten geben. Beyde würden also officia iuris heissen, die erstern officia iuris interni (erga se ipsum), die zweyten officia iuris externi sive juridica.“ 280 Die hiermit angedeutete rein sachliche Gliederung des Systems der Rechte, wo allerdings auf deren spezifische Geltungsart („erzwingbar“ oder nicht) keine Rücksicht genommen wird, hat Kant später dann wieder aufgegeben. 281 Deutlich wird dies bei der dritten Ulpianischen Pflichtenregelung, die die Konstruktion erkennen läßt, die die Möglichkeit von inneren Rechtspflichten zuläßt. (c) „suum cuique tribue“ Die Pflicht des „suum cuique tribue“ bezieht sich auf das Recht der Menschheit in einer jeden Person, also sowohl auf das Recht der Menschheit in der eigenen Person sich selbst gegenüber im Verhältnis zu anderen als auch auf das Recht der Menschheit in der Person der anderen. Man soll also nach Kant, der eine leichte Neuinterpretation der Ulpianischen Regeln vornimmt, in einen bürgerlichen Rechtszustand eintreten, „worin jedermann das Seine gegen jeden anderen gesichert sein kann (lex iustitiae)“ 282. Nur in einem Rechtszustand kann jedem das Seine gewährt werden, weil sonst niemand mit Recht etwa als das Seine bezeichnen könnte. 283 Als ein solch übergeordnetes Recht löst sich das Recht der Menschheit aus der Systematik der subjektiven Rechte und wird nicht mehr von einer bestimmten – an einer bestimmten Person ausgeübten – Unrechtshandlung abhängig. Deshalb kann seine Durchsetzung von jedermann eingefordert werden, auch seitens Dritter, bzw. seitens einer neutralen Instanz, dem Staat: „Der Mensch aber (...) im bloßen Naturstande benimmt mir diese Sicherheit, und lädiert mich schon durch eben diesen Zustand, indem er neben mir ist, obgleich nicht tätig (facto), doch durch die GesetzloKant, zit. nach Metzger (1917: 69); Herv. nicht im Original. Dazu einerseits Metzger (1917: 69 f.): Indem das projektierte Kapitel vom freien „inneren“ Recht wieder fallengelassen wird, wird der „Rechtslehre geradezu der Kopf weggeschnitten; (...) so scheint die ganze Verwirrung eben auf den Ausfall des Kapitels vom inneren Recht zurückzugehen, welches nach Lage der Sache die wichtigsten und für die Kantische Ethik der Menschenwürde am meisten bezeichnenden Wertbestimmungen hätte enthalten müssen.“ Andererseits Kersting (1993: 220), der ähnlich wie hier eine „Verrechtlichung des Konzepts des Menschheitsrecht bei Kant“ festzustellen meint. 282 Kant, MS-RL, S. 344 (AB 44). 283 Vgl. Kant, Naturrecht Feyerabend, AA 27, Bd. 2.2, S. 1337: „Wenn ich z. E. ein Wild schieße, und es läuft auf des andern Boden, und stirbt da; so glaube ich ein Recht zu haben es da zu hohlen. Der andre aber kann sagen was ich auf meinem Boden finde, ist mein. Nun kann ich nicht wollen, daß der andre nach meinem Willen sich ausrichten solle. Nun müssen daher äußere Gesetze mit dem Willen der Gesellschaft errichtet werden. Der Wille der also das Gesetz hervorbrachte, ist selbst für jeden ein Gesetz. Das bloße Naturrecht ist nicht hinreichend zur Execution.“ 280 281
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sigkeit seines Zustandes (statu iniusto), wodurch ich beständig von ihm bedroht werde, und ich kann ihn nötigen, entweder mit mir in einen gemeinschaftlich-gesetzlichen Zustand zu treten, oder aus meiner Nachbarschaft zu weichen.“ Diese „eintzige äussere natürliche Pflicht“ 284 entsteht also vor jeder bestimmten Unrechtshandlung und findet seinen Grund unmittelbar in dem Recht der Menschheit. Die praktische Vernunft normiert hier also innere Rechtspflichten, die schon vor allen aktiven Unrechtshandlung bestehen. Sie wirken nicht restitutiv, sondern disziplinieren den empirischen Willen selbst qua normativer Innenwirkung. Diese Rechtspflichten haben ihren Grund in der Idee der Menschheit. Bei diesen inneren Rechtspflichten macht sich die Idee der Menschheit aber nicht nur zum Grund, sondern auch zum Inhalt des Rechts. Es ist dies das Recht der Menschheit in unserer eigenen Person. Das sind die Mindestbestimmungen, die die Idee der Menschheit dem Einzelnen nicht frei überlassen kann, weil sie das Zusammenleben aller Menschen betreffen. Hier werden Pflichten normiert, die direkt in der noumenalen Seite des Menschen ihren Grund haben und ihren Inhalt finden. Deshalb sind sie kein Synonym für das angeborene Freiheitsrecht. Das angeborene Recht ist nur Grund für rein negative Pflichten und findet seinen Inhalt in dem Schutz der Willkürfreiheit und nicht in der Verwirklichung der Idee der Menschheit in allen Personen. Das Recht der Menschheit betrifft den Einzelnen in seiner Fähigkeit, allgemeine Gesetze geben zu können. Insofern ist der Inhalt des Rechts der Menschheit darauf gerichtet einen Zustand allgemeiner Gesetzgebung für alle Personen zu verwirklichen, die die Idee der Menschheit in der eigenen Person tragen. Diese unvertretbare Aufgabe ist jedem einzelnen Subjekt aufgegeben und kann nicht durch äußeren Zwang beeinflußt werden. Deshalb kann ihnen auch kein äußeres Gebot entsprechen (dazu bereits oben285). Die Einordnung der inneren Rechtspflichten in die Systematik von innerer Moral und äußerem Recht ist jedoch nicht frei von gewissen Schwierigkeiten. Es stellt sich damit die Frage, warum Kant hier von seiner dualistischen Einteilung innerer Pflichten – gleich ethische Pflichten – und äußerer Pflichten – gleich Rechtspflichten – abweicht. Der Anlaß muß darin liegen, daß Kant nach einer Möglichkeit sucht, vollkommen bestimmte innere Pflichten zu normieren, da grundsätzlich Tugendpflichten nur hinsichtlich ihres Zwecks, aber nicht hinsichtlich ihrer Handlung vollkommen bestimmt sind. Äußere Rechtspflichten sind hingegen vollkommen bestimmt, sind aber keine inneren Pflichten, denn, wie oben gezeigt, regelt das objektive Rechtsgesetz nur das äußere Verhalten. 286 Da Kants eigene Aussagen hierzu sehr spärlich sind, verbleibt jede Erklärung im Bereich des Spekulativen. 287 Es bietet sich die Annahme an, daß die Vernunft hier Kant, AA 19 R 7075, Herv. nicht im Original. Oben, 61 ff. 286 Kant, MS-RL, S. 318 (AB 7). 287 In den Reflexionen zur Moralphilosophie wird sogar die unterschiedliche Bezeichnung: rechtliche versus ethische Pflichten – nicht stringent benutzt, Kant, AA 23, R 7078: „Der Grundsatz ‚honeste vive‘ ist das ethische principium und verlangt rectitudinem actionum in284 285
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die Idee der Menschheit zum Inhalt des Rechts macht und Kant dadurch innere Pflichten für sein System erlangt, die mit Zwang durchgesetzt werden können. Der Sinn, sie als Rechtspflichten auszuweisen, liegt darin, hierdurch vollkommen bestimmte innere und zugleich äußere, zwangsbewehrte Pflichten vor jeder aktiven Unrechtshandlung zu erlangen. Das heißt, Kant versucht durch eine Verrechtlichung der Idee der Menschheit in jeder Person sowohl die Minimalforderungen der Sittlichkeit bezüglich der inneren Freiheit, das ist die Ermöglichung von Selbsterhaltung und von Selbstbestimmung als Individuum, als auch bezüglich der äußeren Freiheit, das ist die Möglichkeit zur Selbsterhaltung und Selbstbestimmung als Gemeinwesen, zu sichern. Dabei ordnet er die ethischen Elemente der Tugendlehre zu – und begründet dadurch die für die Tugendlehre untypischen vollkommenen Pflichten. Den verbleibenden rechtlichen Gehalt versucht er in den durch die Theoreme der juridischen Gesetzgebung und des objektiven Rechtsgesetzes abgesteckten Rahmen einzupassen, um so der inneren Rechtspflicht einen systemkonformen Platz zuzuweisen. 288 Der Unterschied der inneren Rechtspflichten zu den Tugendpflichten besteht also darin, daß diese sich immer auf die persönliche Sittlichkeit beziehen, jene hingegen Pflichten gegenüber sich selbst in bezug auf die Sittlichkeit des Gemeinwesens sind. Dieser soziale Bezug rechtfertigt ihre Bestellung als Rechtspflichten und verdeutlicht den Unterschied gegenüber den Tugendpflichten und begründet ihre partielle Durchsetzung auch durch äußeren Zwang. Insoweit ist aber die gängige Behauptung, daß bei Kant alle Pflichten gegen sich selbst „keine zulässigen Themen des Rechts“ darstellten, 289 nicht aufrechtzuerhalten.
(3) Das Strafrecht als normative Voraussetzung des Rechtsverzichts Die Frage nach der normativen Begründung des Rechtsverzichts läßt eine interessante Interpretation des Strafrechts für die Funktion der subjektiven Rechte zu: Wie oben schon angedeutet, wählt Kant bei der Gefährdung der Menschheit in allen Personen nicht den Weg, subjektive Ansprüche auf Restitution mittels Zwang seitens Dritter bzw. einer neutralen Instanz – bspw. des Staates-, durchzusetzen, sondern er beschreitet einen anderen Weg. Bei allgemeinen Rechtsübertretungen, durch die „das gemeine Wesen und nicht bloß eine einzelne Person (...) gefährdet wird“ 290, versucht er die Selbstbestimmung des einzelnen zu wahren, indem nicht eine restitutive Anordnung ergeht, sondern eine repressive, die nicht von der Freiheitsgefährternam, die Rechtschaffenheit (der Gesinnung). Der Grund-Satz ‚suum cuique tribue‘ die rectitudinem externam und justitiam positivam, d.: ‚Schaffe jedem Sicherheit vor sein Recht (iustitia distributiva): principium status civilis: ‚trete in den Zustand eines Bürgers oder unterwirf dich den Bedingungen der Bürgerlichen Verfassung‘.“ (Herv. nicht im Original). 288 Ähnlich auch Kersting (1993: 220 Fn. 228). 289 Höffe (1979: 31 f.); Kühl (1984: 91). 290 Kant, MS-RL, S. 452 (AB 196, 226). 7*
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dung des Einzelnen aus begründet wird. Statt dessen geht sie von einer Gefährdung der Menschheit aller aus. 291 Kant kennt diese Gedankenführung nicht zuletzt von John Locke, der zwischen einem individuellen Recht auf Wiedergutmachung und einem Recht auf Bestrafung unterscheidet. 292 Das erste Prinzip gilt nach Locke im Fall der individuellen Betroffenheit während das zweite Prinzip im Fall der generischen Betroffenheit Anwendung findet. Kant zeigt hier aber ein differenzierteres Bild auf, denn der Lockesche Gedanke eines naturrechtlichen Bestrafungsrechts beruht auf dem Gedanken der mathematischen Bestimmbarkeit der einzelnen Freiheitsbereiche. Locke benötigt hierzu anders als Kant nicht die Bestimmungen des positiven Rechts. Kant kennt demgegenüber nur das naturrechtliche Recht, gegen einen jeden anderen in einen öffentlichen Rechtszustand zu treten, der Voraussetzung zur Bestimmung der exakten Freiheitssphären ist, gleichzeitig aber die Implementierung des Strafrechts enthält. Der strafrechtliche Rechtsanspruch eines einzelnen Subjektes gegen die Rechtsverletzungen eines jeden anderen wird bei Kant also erst über das positive Recht vermittelt. Die Grundannahme von Kants Strafrechtstheorie ist, daß er Taten, die die Qualität einer Verletzung des Rechts der Menschheit eines jeden haben, auch als „öffentliche Verletzung der Gerechtigkeit“ 293 bezeichnet. So ist es folgerichtig, wenn er schreibt, „daß schon die bloße Idee einer Staatsverfassung unter Menschen (...) schon den Begriff einer Strafgerechtigkeit bei sich“ führt. 294 Ob neben diesem Strafanspruch auch der Verletzte seinen Anspruch durchsetzt, bleibt ihm überlassen. Das Gemeinwesen ist nicht an der Restitution des einzelnen in seiner Besonderheit interessiert, obwohl es ihm durch Rechtsgesetze und Institutionen die Möglichkeit hierzu verschafft, sondern an seiner eigenen Aufrechterhaltung, um damit die Freiheit aller, bei maximaler Selbstbestimmung, zu garantieren. Das heißt, Rechtsverletzungen sind für das Gemeinwesen in seiner Gesamtheit, also als Verbund aller Personen, immer nur insofern relevant, als durch die Rechtsübertretung am Einzelnen gleichzeitig die Allgemeinheit bedroht wird. 295 Bezeichnet das Recht der Menschheit ein „Prinzip der Selbsterhaltung“ 296, so ist immer genau zu unterscheiden, ob es sich lediglich um die Selbsterhaltung des einzelnen Subjekts oder des Gemeinwesens handelt. Ver291 Schon Locke (1995: 253) kennt diese Unterscheidung. Er spricht jedem Menschen das Recht zu, nicht nur seine eigenen Rechte zu verteidigen, sondern auch als Rechtsanwalt der Menschheit aufzutreten, d. h. auch für an anderen Menschen begangene Straftaten. 292 Zu Locke vgl. ausführlich Kersting (1994: 114). 293 Kant, MS-RL, S. 455 (A 199, B 229). 294 Kant, MS-RL, S. 487 (B 170); anders noch in KrV, S. 324 (A 317, B 373), wo er glaubt, in seiner Theorie auf Strafe überhaupt verzichten zu können: „Je übereinstimmender die Gesetzgebung und Regierung mit dieser Idee eingerichtet wären, desto seltener würden allerdings die Strafen werden, und da ist es denn ganz vernünftig (wie Plato behauptet), daß bei einer vollkommenen Anordnung derselben gar keine dergleichen nötig sein würden.“ 295 Vgl. Kant, MS-RL, S. 487 (B 170): „Verbrechen (als Verletzung der Staatssicherheit im Besitz des Seinen eines jeden).“ 296 Wenzel (1997: 183).
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nünftige Selbsterhaltung ist daran interessiert, die Fähigkeit, allgemeine Gesetze denken und handelnd umsetzen zu können, aufrechtzuerhalten. Ebenso wie das Recht auf etwas hat das Strafrecht eine Restitutionsfunktion, nämlich das geschehene Unrecht wieder aus der Welt zu bringen: Die Gesellschaft kann die Höhe der Strafe nicht willkürlich festlegen, sondern diese wird immer an der Tat und dem Täter im speziellen festgelegt: „Nur das Wiedervergeltungsrecht (ius Talionis) aber wohl zu verstehen, vor den Schranken des Gerichts (nicht in deinem Privaturteil), kann die Qualität und Quantität der Strafe bestimmt angeben.“297 Das heißt, die Bemessung der Strafe richtet sich im Prinzip nach ähnlichen Kriterien wie das privatrechtliche Schadensersatzrecht, das von Kant explizit als entsprechende Wiedergutmachung formuliert worden ist: „+a – a = 0“ (dazu bereits oben). 298 Aus dem Gesagten wird deutlich, daß sich die Möglichkeit des Rechtsverzichts nach Kant nicht allein aus dem objektiven Rechtsgesetz ableiten läßt. Diese Möglichkeit des Subjekts im Naturzustand ist im Privatrecht immer schon auf die Antizipation eines bürgerlichen Rechtszustandes hin entworfen, der das soziale Selbsterhaltungsinteresse durchsetzt, mithin das Recht der Menschheit in sozialer Perspektive. Die Begründung von Zwang hat also eine individuelle und eine soziale Komponente. Zwang ist an eine Handlung gekoppelt, die sich als „Hindernis der Freiheit“ 299 darstellt. Damit das einzelne Subjekt eine Befugnis zur Zwangsanwendung erlangt, muß sich die Rechtsverletzungshandlung aus der individuellen Perspektive als eine Einschränkung der Willkürfreiheit eines einzelnen, bestimmten Subjektes darstellen. Demgegenüber ist aus der sozialen Perspektive aller Subjekte Kant, MS-RL, S. 454 (A 197, 198; B 227), Herv. nicht im Original. Kritisch hierzu Maus (1992: 185 f.): „Wenn dagegen Kants Theorie der Kriminalstrafe einen Automatismus eigener Art entwickelt, der die Unpersönlichkeit des Strafens durch eine sachlogische Beziehung zwischen Tat und Strafe herstellt, so daß der Täter sich die Art seiner Bestrafung durch die Art seiner Tat automatisch ‚selbst‘ auf den Hals zieht, so ist hier die Abwesenheit persönlicher Herrschaft durch eine (äußerst rigoristische) theoretische Konkretisierung dieser Sachlogik erkauft. Kant tritt hier gleichsam selbst als Automatismus-Experte auf und nimmt vorweg, was erst der Automatismus des gesamten demokratischen Prozedere als Ergebnis ausweisen könnte, und macht sich des schlimmsten Vergehens schuldig, das er sonst einem aufgeklärten Absolutismus anlastet: Er schließt den Horizont der Zukunft, auf den gesellschaftliche Lernprozesse angewiesen sind.“ Mehr verteidigend tritt diesbezüglich Höffe (1996: 238 f.) auf, der mehr auf den formellen Bezug der Vergeltung als den materiellen Bezug bei Kant in den Vordergrund seiner Interpretation rückt, dabei die konkreten Hinweise Kants mehr überspielt und statt dessen mit dem Hinweis schließt: „Die Mühe und Not, einen gerechten Bezug zwischen den Straftaten und dem Strafmaß herzustellen, kann der Philosoph weder dem Gesetzgeber noch dem Richter abnehmen“ (239). Ob die Kritik von Maus berechtigt ist, ist weiter unten zu beantworten, denn die Kritik an der konkreten Straftheorie ist hier erst zu entscheiden, nachdem geklärt ist, welchen Bezug überhaupt die naturrechtlichen Vorgaben apriori für das positive Recht haben. Sind es nämlich keine durchgreifenden Vorgaben, sondern löst sich das positive Recht von dem Naturrecht in seiner Geltung, wird die Kritik von Maus für ein positives Strafrecht eo ipso obsolet. Denn dann ist das Strafrecht doch wieder an den demokratischen Gesetzgeber gekoppelt. 299 Kant, MS-RL, S. 338 (A 35, B 35). 297 298
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Voraussetzung für die Befugnis zur Zwangsanwendung, daß eine Handlung als Bedrohung des Rechtszustandes insgesamt empfunden wird. Im Strafrecht setzt sich die staatliche Gewalt deshalb nicht an die Stelle der angegriffenen Partei, 300 sondern neben diese, und sie setzt ihre eigenen Rechte, die ihr durch die Unrechtshandlung erwachsen sind, mittels der Strafgewalt durch. Dies wird am Begnadigungsrecht deutlich, da dieses zwar an die Vorgaben des Privatrechts gebunden ist, das Gemeinwesen aber nur den begnadigen kann, durch den Unrecht „ihm selbst widerfährt“ 301. Im Zivilrecht kann demgegenüber der Richter den Beklagten nicht begnadigen, da der Staat keine Verfügungsmacht über den Anspruch des Klägers hat. Grund dieser Überlegung ist die Einsicht Kants, daß die Verwirklichung der Sittlichkeit nicht allein der freien Willkür überlassen werden kann, da der absolute Rechtsverzicht genau wie entsprechende Rechtsübertretungen das gemeine Wesen in seiner Existenz gefährden können. Aus rechtlicher Perspektive muß ein Mindestmaß an Sittlichkeit gewahrt werden. Deshalb werden die Akte der willkürlichen Selbstbestimmung von einem Rahmen öffentlicher Strafgesetze umfaßt.
c) Zwischenergebnis: Das Recht als inneres und äußeres Rechtsverhältnis Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß Kants Naturrechtsmodell von der Idee geprägt ist, dem Einzelnen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, aber auch abzuverlangen. Fordert Kant von der Person in moralischer Hinsicht eine intrasubjektive Nötigung, um das Ziel der Autonomie zu erreichen, stellt er in rechtlicher Hinsicht dem Einzelnen einen Freiheitsraum zur Verfügung, in dem jeder willkürlich frei von Fremdbestimmung handeln kann, soweit er sich in den Grenzen des objektiven Rechtsgesetzes bewegt. Die Verwirklichung der Sittlichkeit in diesem Freiheitsraum ist eine unvertretbare Aufgabe jedes Einzelnen. Die allgemeine Regelung des Rechts trägt damit der Besonderheit der Subjekte und ihrer partikulären Zweckverfolgung Rechnung. 302 Recht dient insoweit nur der Verhinderung von Unrecht („Hindernis der Freiheit“) und ist keine Anleitung zum Glück. Naturrechtlich begründete Rechtspflichten setzen deshalb an der Unrechtshandlung an. Dabei ist zu beachten, daß die Unrechtshandlung aus doppelter Perspektive unter Forderungen der Sittlichkeit gestellt wird. Einerseits aus privatrechtlicher Perspektive: Für das interpersonale Rechtsverhältnis ist die Verletzung des allgemeinen Menschenrechts durch eine andere Person entscheidend. Das Menschenrecht garantiert einen äußerlichen Freiheitsbereich, in dem der Rechtsträger von niemand anderem zu einer Handlung zwingen darf. Nur der Verletzte selbst kann den Restitutionsanspruch gegen den Verletzer einklagen; er kann hierzu nicht vom Staat ge300 301 302
Vgl. auch Maus (1992: 73). Kant, MS-RL, S. 460 (A 206; B 236). Vgl. Kersting (1993: 205).
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zwungen werden. Der Einzelne ist als Opfer einer Unrechtshandlung rechtlich frei, sittlich adäquat auf die Rechtsüberschreitung zu reagieren, solange er selbst in den Grenzen des Rechts verbleibt. Kant hat durch dieses willkürliche Verfügenkönnen über den eigenen Freiheitsraum mittels des subjektiven Rechts einen Zustand geschaffen, in dem der Einzelne rechtlich frei von Verantwortung für die Sittlichkeit des Gemeinwesens ist. Somit ist dieser privatrechtliche Zustand einerseits für den Bourgeois offen; 303 das ist eine Person, die sich in ihrem Handeln nur von ihren eigenen Interessen leiten läßt, 304 im Gegensatz zu dem allgemeindenkenden, Verantwortung tragenden Citoyen. Andererseits ist dieser Zustand für eine moralische Ausfüllung des privaten Lebens offen. Diese moralische Verantwortung kann man nur selbst übernehmen. Als Adressat der Rechtsnormen ist jeder frei, in den rechtlich bestimmten Grenzen zu handeln. Damit wird dieser Zustand im Naturrecht von funktionellen Ansprüchen freigehalten und ist selbst normativ ausgezeichnet. Er ermöglicht die Selbstbestimmung des Individuums, nicht eine übergreifende Sittlichkeit. Soweit Rechte mit Verpflichtungen korrelieren, gilt für ihren Inhaber, daß 1. nur er deren Erfüllung normativ wirksam fordern und daß 2. höchstens er auf diese Erfüllung wirksam verzichten kann. 305 Deshalb muß nach Kant eine Theorie, die die Selbstbestimmung des Individuums zum Inhalt hat, für den Umgang mit dem subjektiven Recht zwei Eigenschaften einräumen: In dem geschützten Freiheitsbereich (Recht auf Freiheit) sind auch unmoralische Handlungen und für Rechtsansprüche gegen einen anderen (Recht auf etwas) ist der Rechtsverzicht zu ermöglichen. Das subjektive Recht ist somit im Privatrechtsverhältnis moralisch begründet, auch wenn es unmoralische Handlungen zuläßt: „A right to do wrong“ 306, wie es der amerikanischer Rechtstheoretiker Waldron treffend ausgedrückt hat. Kant behauptet sogar, daß der Rechtszustand sogar „ein Volk von Teufeln“ aufnehmen könne. Die „gute Staatsverfassung“ sei nicht auf die Moralität seiner Adressaten angewiesen. 307 Gleichwohl darf nicht verkannt werden, daß der Zweck des Rechts nicht ist, eine Koordinationsordnung für ein egoistisches „Volk von Teufeln“ bereitzustellen, sondern eine vernünftige Freiheitsordnung für vernünftige Subjekte zu institutionalisieren. Die Teufel wären denn auch nur Untertanen, keine Gesetzgeber ihrer Ordnung. Kant geht es hingegen um die Begründung von Moral- und Rechtsgesetzen: 303 Saage (1973: 33 ff., 83 ff.) verkennt die politische Dimension und damit die politische Einbindung des Individuums als Adressat und Autor, wenn er schreibt, Kants Staat sei eine Organisation egoistischer Besitzbürger; vgl. krit. auch Maus (1992: 23 f.) und Brandt (1982: 237 f.). 304 Vgl. Habermas (1992: 121). 305 Vgl. Wildt (1992: 166). 306 Vgl. den gleichlautenden Aufsatz von Waldron (1993: 63). 307 Vgl. Kant, Zum ewigen Frieden, S.224 (B 62, A 61): „Man kann dieses auch an den wirklich vorhandenen, noch sehr unvollkommenen organisierten Staaten sehen, daß sie sich doch im äußeren Verhalten dem, was die Rechtsidee vorschreibt, schon sehr nähern, ob gleich das Innere der Moralität davon sicherlich nicht Ursache ist (wie denn auch nicht von dieser die gute Staatsverfassung, sondern vielmehr, umgekehrt, von der letzteren allererst die gute moralische Bildung eines Volks zu erwarten ist).“
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dazu wäre dieser Ansatz nicht ausreichend. 308 Plakativ gesagt: „Gott“ muß zunächst den „Staat der Teufel“ schaffen. Die Willkürfreiheit, die unbeachtet der Motive das rechtliche Schutzgut darstellt, wird nur deshalb normativ eingeräumt, weil eine heteronome Bestimmung zu moralischen Handeln nicht möglich ist. Es ist der Bereich, der nur der Menschheit in einem selbst geschuldet wird.309 Grund und Inhalt des Rechts unterliegen im Privatrecht verschiedenen Anforderungen. Als eine weitere Besonderheit der Kantischen Rechtstheorie konnte ein zumeist vernachlässigter Punkt festgestellt werden: Bei der Betrachtung des Rechtsverhältnisses muß genau differenziert werden, welches Rechtsverhältnis gemeint ist. Jedes Rechtsverhältnis läßt sich analytisch in ein äußeres und ein inneres ausdifferenzieren. Das Innere eines Rechtsverhältnisses ist ein Verhältnis gegenüber sich selbst (oder der „Menschheit“ in einem), dessen Verbindlichkeit auf einem inneren „Akt des Gemüts“ 310 beruht: auf dem Akt, sich einen bestimmten Zweck zu setzen. Von diesem inneren Akt der freien Willkür kann man nun in Hinblick auf die Menschheit in der eigenen Person, der er geschuldet wird, sagen, daß er ebenso wie ein äußerer Akt der Willkür Recht oder Unrecht (aut fas aut nefas) sein kann. 311 Diese innere Zwecksetzung „kann durch keine äußerliche Gesetzgebung bewirket werden (weil es ein innerer Akt des Gemüts ist).“ 312 Den Zwang hierzu kann nur der innere Richter, das Gewissen ausüben, mit seiner Einschätzung des Wertes oder Unwertes der eigenen Person. 313 Das innere Rechtsverhältnis bestimmt demnach, wie das Subjekt die Möglichkeiten des äußeren, interpersonalen Rechtsverhältnisses durch Handlungen ausfüllt, und beurteilt sie auf ihre Übereinstimmung mit dem Recht der Menschheit. Im Naturrechtszustand wäre jede Rechtsverletzung immer zugleich eine Verletzung des Gebotes des „neminem laede“. Von daher konnte für die Naturrechtslehre gezeigt werden, daß prinzipiell jeder entstehende Anspruch in Form eines Rechts auf etwas durchzusetzen ist. Dies verlangt nicht nur die äußere Sittlichkeit von einer Person, sondern auch die innere Rechtspflicht des „honeste vive“. Das innere Rechtsverhältnis füllt damit den Raum aus, der dadurch entsteht, daß das subjektive Recht selbst durch keine äußere Pflicht angeleitet wird, sondern der äußerlich freien Willkür des Subjekts überlassen bleibt. Die innere Pflicht der Rechtsdurchsetzung ist hierbei nicht in dem verletzten äußeren Recht eines anderen begründet, sondern in dem vorrangigen Recht der Menschheit, welches Rechtsgrund der inneren Rechtspflichten ist. Schon jetzt läßt sich für das innere Rechtsverhältnis eine interessante Eigenschaft beobachten, die weiter unten noch genauer in den Blick kommen wird: Bei aller 308 Ebenso Schild (1978: 39 f., dort Fn. 3): „Zwar braucht es zur Befolgung des Rechts keiner Vernunft, sondern unter Umständen nur des Zwanges (weshalb auch Teufel der Ordnung gehorchen können aus Angst vor Übel), aber wohl zur Setzung.“ 309 Vgl. König (1996 b: 165). 310 Kant, MS-RL, S. 347 (AB 47). 311 Vgl. König (1996 b: 165). 312 Kant, MS-RL, S. 347 (AB 47). 313 Vgl. König (1996 b: 165 f.).
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Wechselhaftigkeit des positiven Rechts bleibt das innere Rechtsverhältnis inhaltlich in seiner formellen Struktur immer gleich. Unabhängig von allen Rechtspflichten, die durch das positive Recht festgelegt werden, ist das Subjekt intrapersonell immer nur gegenüber dem Recht der Menschheit in sich selbst verpflichtet. Stellt sich der Naturrechtszustand mit seinen Pflichtinhalten noch als eine partielle Deckung des inneren und des äußeren Rechtsverhältnisses dar, ist hierdurch eine systematische Konstruktion möglich, bei Divergenz beider Pflichteninhalte, im positiven Recht das Gewissen an die inneren Rechtspflichten zu knüpfen. Das Gewissen bezieht sich nach Kant auf eine konstante Form von Prinzipien und Gesetzen, die unabhängig von Raum-Zeit-Kontexten bestehen. (Äußere) Positive Rechtspflichten könnten nach Kant durchaus konträr zum inneren Rechtsverhältnis gedacht werden. Das würde dazu führen, daß sich der Inhalt des inneren und des äußeren Rechtsverhältnisses auftrennen würde, wenn das Individuum eine andere Konkretisierung der naturrechtlichen Prinzipien vornähme – und damit für sich als verbindlich ansieht – als der sozial gesetzgebende Wille. Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf den nächsten Punkt: Wenn die innere Seite des Rechtsverhältnisses bei aller Wechselhaftigkeit der äußeren Gesetze mit ihren formalen Gesetzen konstant bleibt, könnte das Individuum hiermit über ein Instrumentarium verfügen, um bei aller Normativität des positiven Rechts für sich selbst die handlungsanleitende Wirkung des Rechtsverhältnisses zu erkennen bzw. zu überprüfen und somit die Vorgaben der äußeren Gesetzgebung zu transzendieren. Im weiteren Verlauf der Arbeit sollen deshalb die Begriffe der individuellen und der sozialen Dimension diese Aufteilung der Verbindlichkeit demonstrieren. Mit individueller Dimension wird im folgenden das Verhältnis des einzelnen zum Recht bezeichnet, während der Begriff der sozialen Dimension die Verbindlichkeit des Rechts für den einzelnen gegenüber anderen zum Ausdruck bringt und sich sowohl auf Rechte gegenüber anderen als auch auf Rechtspflichten bezieht. Das heißt, ein bestimmtes Gesetz könnte aus verschiedenen, unten noch zu erwägenden Gründen gegenüber anderen Personen – also in der sozialen Dimension – unbedingte Verbindlichkeit beanspruchen und könnte gleichzeitig in der individuellen Dimension, die der einzelne aus seinem inneren Rechtsverhältnis für sich gewinnt, hiervon abweichen. Obgleich das innere wie auch das äußere Rechtsverhältnis ihren Grund in dem Recht der Menschheit haben, könnten hier Unterschiede aufkommen, wie Kant in einem Zitat aus den Vorarbeiten zur Rechtslehre erkennen läßt: „Ist eine Person nur befugt sich selbst zu zwingen so ist es das Recht der Menschheit in der eigenen Person d. i. das innere Recht; ist sie befugt andere zu zwingen so ist ihr Recht ein äußeres Recht.“ 314 Wozu jeder nur sich selbst zwingen kann, betrifft die innere Dimension, wozu ich einen anderen zwingen kann, betrifft die soziale Dimension. Dies führt zu der Frage, welche Funktion diesem kritischen Potential zukommt. 314
Kant, AA 23, 276, vgl. auch König (1996 b: 166 Fn. 13).
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Hier könnte ein Einfallstor sein, die innere Motivation der Personen in die Ausgestaltung der Rechtsverhältnisse miteinzubeziehen. Die Abhängigkeit der rechtlichen Verfassung von der motivationalen Einstellung der Menschen betont Kant immer wieder, wie aus einer Notiz hervorgeht: „Die Staatsverfassung stützt sich am Ende auf die Moralität des Volkes und diese wiederum kann ohne gute Staatsverfassung nicht gehörig Wurzel fassen.“ 315 Um dieses Modell der wechselseitigen Beeinflussung richtig verstehen zu können, muß eine differenzierende Antwort gegeben werden. Wie zu zeigen sein wird, ist hierbei die statische soziale Verbindlichkeit und die dynamische individuelle Verbindlichkeit von ausschlaggebender Bedeutung. Erst deren Ineinandergreifen kann die teleologische Rechtsentwicklung in der Kantischen Theorie entfalten.
4. Regeln und Prinzipien: Die Begründung und Anwendung der subjektiven Rechte im positiven Recht Die bisherige Betrachtung hat fast ausschließlich dem gegolten, was Kant „Naturrecht“ nennt. Deshalb ist im nächsten Schritt der Blick auf das positive Recht zu wenden. Schließlich ist der Naturrechtszustand nur ein methodischer Begründungsschritt für Kant, um die legitimitätsstiftenden Prinzipien des Rechts zu gewinnen. Im faktischen Staat weist das faktische, positive Recht die Rechtspositionen aus. Die apriorischen Forderungen des Naturrechts müssen deshalb in der phaenomenalen Welt durch eine konkretisierende Gesetzgebung ausgefüllt werden. Um den Verbindlichkeitsstatus des positiven Rechts für das Subjekt richtig einordnen zu können, muß genau dargestellt werden, wie Kant diese Forderungen in den staatlichen Institutionen umsetzt. Dabei zeigt sich, daß Kant eine Lösung sucht, die jenseits des klassischen Liberalismusverständnisses steht. Anstatt den freiheitlichen Rechtsstatus des Subjekts durch bestimmte Grundrechte abzusichern, sieht sein Vorschlag vor, die Freiheit durch ein prozedurales demokratisches Verfahren zu institutionalisieren. Von einem freiheitlichen Standpunkt des Naturrechts ergeben sich dabei einige Schwierigkeiten: Das öffentliche Rechtsgesetz ist keine analytische Umformung des objektiven Rechtsgesetzes, sondern ein Einfallstor für Gewährleistungen und Schutzpflichten und damit für Freiheitsgefährdungen, die analytisch in dem objektiven Rechtsgesetz nicht enthalten sind. Das öffentliche, positive Recht entwikkelt aus dem Kompetenztitel der Rechtssicherheit eine Gesetzgebungskompetenz, die eine eigene Dynamik entfaltet. 316 Für das rechtsanwendende Subjekt ist dabei von großer Bedeutung, ob es Grenzen dieser Eigendynamik gibt, die dazu führen, dem Recht den Legitimitätsanspruch abzuerkennen. Indem das positive Rechtssystem subjektive Rechte ausweist, die ihre Legitimität nur dem Gesetzgebungsprozeß des faktischen Souveräns und nicht unmittelbar dem objektiven Rechtsgesetz 315 316
Zitiert nach Metzger (1966: 110). Die Eigendynamik des positiven Rechts bei Kant betont auch Vosgerau (1999: 239 f.).
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verdanken, offenbart sich erst der Gehalt und die Tragweite der Unterscheidung des äußeren und des inneren Rechtsverhältnisses einer jeden rechtlichen Beziehung. Dies soll im folgenden aufgezeigt werden.
a) Das Begründungsverfahren des positiven Rechts Ungeklärt ist bisher, wie ein solcher Rechtszustand, der darauf gerichtet ist, die Selbstbestimmungsmöglichkeiten zu schützen, etabliert werden kann. Zu erinnern ist daran, daß hier eine Möglichkeit gesucht wird, positive Gesetze nach Kriterien praktischer Vernunft zu geben. Zielt die moralische Gesetzgebung als kategorischer Imperativ auf die Bestimmung und Beurteilung von Maximen, also unvollkommenen Pflichten, bestimmt das (naturrechtliche) objektive Rechtsgesetz Kriterien zur Beurteilung von Handlungen als vollkommene Pflichten. Von daher zeigt sich, daß die Bedingungen zur Gewinnung positiver Gesetze über die kriterialen Bestimmungen der beiden apriorischen Gesetze hinausgehen müssen. Im folgenden soll deshalb geklärt werden, wie subjektive Rechte in positiven Gesetzen begründet werden können: Nur aus dem positiven Recht allein, oder ragt das naturrechtliche, angeborene Freiheitsrecht in diese Sphäre legitimitätsstiftend hinein? Die Frage ist also, ob und wie zwischen dem Naturrecht und dem positiven Recht vermittelt wird. In der Sekundärliteratur wird diese Fragestellung in bezug auf das Verhältnis von Recht und Moral bei Kant meist unterschlagen. 317 Lediglich die Beziehung zwischen Naturrecht und Moral wird untersucht. Für eine Rechtstheorie ist aber das positive Recht letztlich ausschlaggebend, denn nach diesem werden Bewertungen vorgenommen. Ist aber das positive Recht mit dem Naturrecht nicht identisch, muß es gesondert in den Blick rücken. 318 Neben Schwierigkeiten in der Sache kommt für die Rechtslehre hinzu, daß Kant nach der Abfassung der Texte wegen seines fortgeschrittenen Alters nicht mehr viel Zeit blieb, die Systematik seiner Gedanken auf Konsistenz zu überprüfen. Zeitweise dachte Kant selbst daran, zwischen das apriorische Recht und die Lehre der positiven Gesetze eine vermittelnde „Rechtslehre überhaupt“ zu stellen. 319 Hier hätte dann die Vermittlung zwischen den beiden Bereichen erörtert werden sollen. Dazu ist es aber nicht gekommen. Folglich herrscht in der Sekundärliteratur zur Rechtslehre Uneinigkeit über die richtige Interpretation der „Vermittlungslehre“. 320 Dabei wird die Streitfrage regelmäßig auf die Geltung des angeborenen Menschen-/Freiheitsrechts innerhalb des positiven Rechts be317 Etwa bei Lisser (1922: 45 ff.); aber selbst Kersting nimmt in seiner vorzüglichen Monographie erhebliche Mehranstrengungen bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Naturrecht und Moral vor (1993: 134 ff.) und streift am Ende nur kurz das Problem der Verbindlichkeit positiven Rechts (1993: 502 ff.); deutlich aber bei Haensel (1926: 54 ff.). Die eigenständige Stellung des positiven Rechts bei Kant betont vor allem Vosgerau (1999: 227 ff.). 318 Diese Forderung wird auch von Deggau (1983: 14). 319 Nachweise bei Kühl (1984: 237 und 245). 320 Vgl. hierzu den Aufsatz von Kühl (1990) m. w. N.
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schränkt: Einerseits wird behauptet, daß bei Kant die Menschenrechte als Konstitutionsbedingungen in dem freiheitlichen Rechtserzeugungsprozeß aufgingen und gegenüber den positiven Gesetzen keine eigenständige Bedeutung wahren würden. 321 Der Gedanke der Freiheitsrechte als Abwehrrechte würde daher einem falschen, liberalen Verständnis der Grundrechte anhängen. Andere halten dagegen, daß Kants Theorie „den gleichzeitig staatlichen und vorstaatlichen Charakter von Freiheitsrechten“ betone. 322 Dritte hingegen insistieren mehr auf dem vorstaatlichen Charakter, dem auch in dem positiven Recht Verbindlichkeit zukomme, 323 wobei die Unterschiede der beiden letzten Ansichten nur marginal sind. Im folgenden soll versucht werden, die Gründe für die unterschiedlichen Weichenstellungen der vorangestellten Kant-Interpreten aufzuzeigen, um abschließend eine eigene Interpretation der Vermittlungslehre vorzunehmen. In den Darstellungen zur Ethik als auch zum Recht war bisher der Blick auf den einzelnen gerichtet. Recht überhaupt wurde als Bedingung seiner äußeren Willkürfreiheit dargestellt. Das Prozedere der positiven Rechtsgewinnung ist von diesem Ziel her zu bestimmen. Kant betont den Zweck und Grund für das positive Recht an einer Stelle der Rechtslehre, aus der besonders deutlich hervorgeht, weshalb die Subjekte auf einen Rechtszustand angewiesen sind: „Es ist nicht die Erfahrung, durch die wir von der Maxime der Gewalttätigkeit der Menschen belehrt werden, und ihre Bösartigkeit, sich, ehe eine äußere machthabende Gesetzgebung erscheint, einander zu befehden, also nicht etwa ein Faktum, welches den öffentlich gesetzlichen Zwang notwendig macht, sondern, sie mögen auch so gutartig und rechtliebend gedacht werden, wie man will, so liegt es doch a priori in der Vernunftidee eines solchen (nicht-rechtlichen) Zustandes, daß, bevor ein öffentlicher gesetzlicher Zustand errichtet worden, vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewalttätigkeit gegen einander sicher sein können, und zwar aus jedes seinem eigenen Recht, zu tun, was ihm recht und gut dünkt, und hiermit von der Meinung des anderen nicht abzuhängen; mithin das erste, was ihm zu beschließen obliegt, wenn er nicht allen Rechtsbegriffen entsagen will, der Grundsatz sei: man müsse aus dem Naturzustande, in welchem jeder seinem eigenen Kopfe folgt, herausgehen und sich mit allen anderen (mit denen in Wechselwirkung zu geraten er nicht vermeiden kann) dahin vereinigen, sich einem öffentlichen gesetzlichen äußeren Zwange zu unterwerfen, also in einen Zustand treten, darin jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt, und durch hinreichende Macht (die nicht das seinige, sondern eine äußere ist) zu Teil wird, d. i. er solle vor allen Dingen in einen bürgerlichen Zustand treten.“ 324 Kurz, es muß jedem das Seine durch eine 321 Kersting (1994: 206): „Nicht die Übereinstimmung mit materialen Gerechtigkeitsnormen qualifiziert ein Gesetz als gerecht, auch nicht seine Respektierung individueller, aller Gesetzgebung vorgelagerter Grundrechte, sondern allein die Art und Weise seiner Entstehung.“ Vgl. auch ebd. S. 207. 322 Maus (1992: 237). 323 Etwa Kühl (1984: 127) mit der Betonung auf dem „angeborenen Recht“. 324 Kant, MS-RL, S. 430 (A 163, 164; B 193, 194).
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verbindliche Macht zugesprochen und gesichert werden. Darin zeigt sich, daß der Rechtszustand auf die Verwirklichung des Rechts der Menschheit gerichtet ist. Damit findet sich hier der Inhalt der drei inneren Rechtspflichten wieder, der in eine äußere Gesetzgebung umzusetzen ist: Einem jedem ist seine Willkürfreiheit (honeste vive) in rechtlich gleich verteilten Grenzen (neminem laede) zu sichern, in dem jedem das Seine zu Teil wird (suum cuique tribue). 325 Kant führt dies in der Vorlesung „Naturrecht Feyerabend“ aus: „Neminem laede ist Principium justitiae communtativae, aber nicht distributivae. Zur justitia distributiva gehören äußere Gesetze, die für jedermann allgemein gültig sind, und jedem bestimmen, was Recht und Unrecht ist. Justitia commutativa hat ohne distributiva keinen Effectus. Es ist Principium dijudicationis, nicht executionis. Denn urtheile ich das, was Recht ist, so können andre anders urtheilen, und sie richten sich nicht nach meinem Urtheil. Durch justitia distributiva werde ich in meinem Eigenthum gesichert. Das ist der Status civilis, und da ist eine äußere Gesetzgebung und Gewalt. Das Principium der Justitiae distributivae heißt suum cuique tribuere. Tritt in den Zustand der justitiae distributivae! Thut man dies nicht, wenn man kann; so laedirt man die andre (...). Der Satz neminem laede heißt: du sollst keinem sein Recht und seine Sicherheit fürs Recht entziehen.“ 326 Fraglich ist, wie ein positives Rechtssystem zu konstituieren ist. Auch hier begegnet wieder eine Annäherung an eine transzendentale Fragestellung:327 Wie ist eine positive Gesetzgebung nach sittlichen Grundsätzen möglich? Nach Kant lassen sich mindestens zwei Möglichkeiten denken, positives Recht an sittliche Grundsätze anzubinden.
(1) Legeshierarchie Die erste Möglichkeit für eine Vermittlung der beiden Bereiche besteht in einer bloßen Nachzeichnung des Naturrechts durch das positive Recht. So heißt es bei Kant: „Dieses (das öffentliche Recht 328) enthält nicht mehr, oder andere Pflichten der Menschen unter sich, als in jenem (dem Naturrecht329) gedacht werden können; 325 Vgl. auch Brandt (2002: 63): „Das Privatrecht deckt sich mit dem ‚neminem laede‘; es wird so aufgebaut, daß es das äußere Mein und Dein als diejenige Rechtssphäre außerhalb meiner selbst (inneres Meines) bestimmt, in der ich mich als lädierbar erweise. (...) Das ‚suum cuique‘ ist drittens die Domäne des öffentlichen Rechts; mit ihr schließt vernunftnotwendig die Bestimmung des Rechts überhaupt. Hier zeigt sich noch einmal die innere Korrelation von Privat- und öffentlichem Recht: Sie verweisen aufeinander in der kategorialen Bestimmung des Rechts durch die drei Schritte der Substanz, Kausalität und Wechselwirkung; in ihnen entfaltet sich das einheitliche Prinzip des inneren und des äußeren Mein und Dein in der Bestimmung des allgemeinen Willen.“ 326 Kant, Naturrecht Feyerabend, AA 27, Bd. 2.2, S. 1337 (Herv. nicht im Original). 327 Vgl. Haensel (1926: 55 f., m. w. N. in Fn. 240). 328 Eingefügt von M. S. 329 Eingefügt von M. S.
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die Materie des Privatrechts ist eben dieselbe in beiden.“ 330 Diese und andere Äußerungen sind immer wieder in der Literatur im Sinne einer Begründung des Staatsrechts aus dem Vernunftrecht verstanden worden. 331 Die Gleichheit der Pflichten, von der Kant hier spricht, könne nur so verstanden werden, daß der eine Pflichtenbereich von dem anderen Pflichtenbereich seine Geltungskraft bezieht: Bei Kant gewänne das aus praktischer Vernunft abgeleitete natürliche oder moralische Recht so sehr die Oberhand, daß Recht in Moral aufzugehen drohe: „Recht wird zu einem defizienten Modus der Moral herabgestuft,“ 332 d. h. das positive Recht werde unter das Vernunftrecht „subsumiert“. Danach würden sich positives Recht und Naturrecht im rechtlichen Bild der Legeshierarchie begegnen. Solche Ansichten vernachlässigen aber das Problem, daß – wie gezeigt – Naturrecht gerade nicht für eine Regelungsordnung des Gemeinwesens ausreicht. Das Naturrecht zeigt ja gerade die Notwendigkeit einer öffentlichen Rechtsgesetzgebung auf, weil es die Rechtslage zwischen eigensinnigen, empirischen Wesen nicht abschließend bestimmen kann. In dieser „Unvollkommenheit“ 333 des Naturrechts ist die Forderung nach einer positiven Gesetzgebung begründet. Dem Gesetzgeber des positiven Rechts muß also eine Möglichkeit gegeben sein, positives Recht zu begründen, für welches nicht bereits eine apriorische Bestimmung vorliegt. Es müssen Pflichten normiert werden, die entgegen dem genannten Zitat von Kant noch nicht in der Naturrechtslehre enthalten sind. Konsequent schreibt Kant: „Überhaupt heißen die verbindenden Gesetze, für die eine äußere Gesetzgebung möglich ist, äußere Gesetze (leges externae). Unter diesen sind diejenigen, zu denen die Verbindlichkeit auch ohne äußere Gesetzgebung a priori durch die Vernunft erkannt werden kann, zwar äußere, aber natürliche Gesetze; diejenigen dagegen, die ohne wirkliche äußere Gesetzgebung gar nicht verbinden (also ohne die letztere gar nicht Gesetze sein würden), heißen positive Gesetze. Es kann also eine äußere Gesetzgebung gedacht werden, die lauter natürliche Gesetze enthielte; alsdenn aber müßte doch ein natürliches Gesetz vorausgehen, welches die Autorität des Gesetzgebers (d. i. die Befugnis, durch seine Willkür andere zu verbinden) begründete.“ 334 Positive Gesetze sind nicht durch die Gesetzgebung transformierte Naturrechtsgesetze, sondern genuine Gesetze durch den Gesetzgeber. Eine bloße inhaltliche Übereinstimmung reicht nach Kant für die Legitimität des positiven Rechts demzufolge nicht aus. Für die Gesetze des öffentlichen Rechts ist von entscheidender Bedeutung ein natürliches Gesetz, welches die „Autorität des Gesetzgebers“ begründet. Also ist für die Legitimität des positiven Rechts nicht eine Hierarchisierung, sondern eine bestimmte Art der Gesetzgebung bedeutend. Die KriteKant, S. 424 (AB 156). Etwa Haensel (1926: 47); wohl auch Ebbinghaus (1988: 301); zuletzt Habermas (1994: 663); weitere Nachweise bei Maus (1992: 153 Fn. 380); krit. zu Modellen der Legeshierarchie aber Kühl (1990: 87). 332 Habermas (1987: 6). 333 Maus (1992: 165). 334 Kant, S. 331 (AB 24). 330 331
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rien der Legitimität verweisen auf die vernünftige Gestaltung des Gesetzgebungsprozesses. 335 Dem Naturrecht kommt deshalb zunächst eine rechtskonstituierende, nicht eine rechtsnormierende Funktion zu, denn es zeigt die Notwendigkeit von positivem Recht überhaupt auf. (2) Die prozedurale Begründung des Rechts am Horizont des Rechts der Menschheit Die zweite Möglichkeit, positives Recht an sittliche Grundsätze anzubinden, besteht folglich darin, bestimmte prozedurale Kriterien der Rechtsgewinnung sittlich auszuzeichnen. Dabei ergeben sich in dem Kantischen Oeuvre zahlreiche Schwierigkeiten aus der Tatsache, daß Kant nicht immer ausdrücklich zwischen einem provisorischen Rechtszustand und einem peremptorischen Zustand unterscheidet. Deshalb gibt die Rechtstheorie vielfach Anlaß, Kant im Sinne einer absolutistisch-verstandenen Rechtsauffassung auszulegen, die im Anschluß an Hobbes dem staatlichen Recht den Charakter einer von allen Vorgaben befreiten „creatio ex nihilo“ gibt. 336 Dies würde bedeuten, daß Kant eine Rechtfertigung des (damaligen) status quo vornehmen würde und die normativen Vorgaben der Naturrechtslehre dahinter verschwinden würden. Eine solche Interpretation verkennt jedoch, daß Kant stets versucht hat, die Spannung zwischen der Rechtssicherheit und der Gerechtigkeit aufzulösen, und die Verwirklichung der letzteren der Verantwortung der Menschen durch ein prozedurales Rechtsmodell aufbürdet. Eine „absolutistische“ Interpretation würde Kants „Erlaubnisgesetz“ verkennen, 337 das ihm in seiner teleologisch ausgerichteten Rechtsverwirklichungstheorie dazu dient, das Provisorium vor den normativen Vorgaben zu verteidigen. Zeigt sich hierin doch letztlich eine Stärke der Theorie. 338 Dadurch öffnet sich die rigide Normativität pragmatischen Überlegungen und ermöglicht eine Anpassung an verschiedene empirische Gegebenheiten: „Dies sind Erlaubnisgesetze der Vernunft, den Stand eines mit Ungerechtigkeit behafteten öffentlichen Rechts noch so lange beharren zu lassen, bis zur völligen Umwälzung entweder alles von selbst gereift, oder durch friedliche Mittel der Reife nahegebracht worden; weil doch irgend eine rechtliche, obzwar nur im geringen Grade rechtmäßige, Verfassung besser ist als gar keine, welches letztere Schicksal (der Anarchie) eine übereilte Reform treffen würEbenso Maus (1992: 155). Vgl. Kersting (1993: 456). 337 Hierzu grundlegend: Brandt (1982: 245 ff.: 246, 248, 250 ff., 273 f.); dazu auch Maus (1992: 22). 338 Ähnlich Kersting (1994: 204), der hierin den Vorteil der Theorie von Kant gegenüber denen von Hobbes und Rousseau sieht: „Nach Hobbes ist der Staat, wenn er nur ist, immer auch das, was er sein soll. Seine Theorie entwickelt kein normativ-kritisches Potential. Rousseaus Gesellschaftsphilosophie hingegen vermag an keine bestehende Wirklichkeit anzuknüpfen. Sie entwickelt keine rationale Prinzipien, die auf die politischen Verhältnisse anwendbar wären und eine normative Grundlage für einen rechtsstaatlichen Reformismus bilden könnten.“ 335 336
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de. – Die Staatsweisheit wird sich also in dem Zustande, worin die Dinge jetzt sind, Reformen, dem Ideal des öffentlichen Rechts angemessen, zur Pflicht machen.“ 339 In der Rechtfertigung des status quo muß also die geschichtliche Dimension der Teleologie berücksichtigt werden. Alle gesellschaftliche Wirklichkeit hat nach Kant nur als vorläufige Ausnahme vor den Kriterien des Vernunftrechts Bestand. Das Erlaubnisgesetz ist damit kein rein normativer, sondern auch ein deskriptiver, insbesondere geschichtstheoretischer Begriff. Ein Erlaubnisgesetz 340 erlaubt etwas, das als solches eigentlich moralisch inakzeptabel ist, aber akzeptiert werden muß, um moralisch-rechtlichen Fortschritt zu ermöglichen. 341 Das Erlaubnisgesetz muß vor dem Hintergrund gesehen werden, daß nach Kant der schlimmste aller Zuständen der rechtlose Zustand ist. Kant sucht daher nach Kriterien, die gleichzeitig der bestehenden Rechtsordnung Normativität verleihen, so daß die bestehenden Rechtssätze Geltung haben, durchgesetzt werden und zusätzlich als inhärente Kriterien dienen können, an denen sich die Rechtsordnung selbst messen muß. Diese Kriterien sind nun keine aus dem positiven Recht selbst entwickelten Kriterien, sondern die Kriterien, denen das positive Recht überhaupt seine Geltung verdankt. Insofern gibt es, wie noch genauer zu zeigen sein wird, mehrere „Normativitätsstufen“, die die inherente geschichtliche Veränderung aufnehmen, so daß sich das angedeutete Spannungsverhältnis zwischen normativer Richtigkeit und der Notwendigkeit eines Rechtszustandes auf einer höheren Stufe auflöst. Das Kantische Modell strebt damit eine Dynamisierung der realen Welt an, die in der Verantwortung eines jeden Menschen liegt. Dahinter steckt die Idee, daß Kant hier ein dem inneren und äußeren Rechtsverhältnis des Subjekts paralleles System aufzeigt. Auch das Gemeinwesen hat damit ein äußeres und ein inneres Rechtsverhältnis. Darauf ist im folgenden näher einzugehen. (a) Die Bestimmung der Vertragskriterien und des allgemein vereinigten Willens Zunächst sind nun die Kriterien aufzusuchen, die eine Einschränkung der Willkür für die positive Gesetzgebung bewirken. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal, daß das aus der Idee der Menschheit folgende Recht der Menschheit einen Zustand allgemeiner Gesetzgebung fordert und damit Grund des Rechts ist. 342 Als Grund des Menschenrechts gibt es jedem Menschen das Recht, in seiner Willkürfreiheit nur Kant, Zum ewigen Frieden, S. 234 Anm. (B 79 A 74), Herv. nicht im Original. Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, daß „Erlaubnisgesetz“ hier nicht mit der Erlaubnis im Sinne der deontologischen Logik zu verwechseln ist (dazu oben, 36 ff.). Das Erlaubnisgesetz, von dem Kant hier spricht, berührt gerade nicht sittlich indifferente Handlungen, sondern, im Gegenteil, unsittliche Handlungen. Diese sind nur deshalb erlaubt, weil sonst ein rechtloser Zustand herrschen würde. 341 Vgl. hierzu auch Wildt (1997: 172) und Zaczyk (1995: 318). 339 340
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durch allgemeine Regeln eingeschränkt zu werden. Dieses Recht impliziert ein Anrecht auf die Bedingungen, unter denen diese allgemeinen Regeln formuliert und durchgesetzt werden können, also ein Recht auf die Verwirklichungsbedingungen von rechtlicher Freiheit. Dieses Recht ist die äußere Seite der inneren Rechtspflicht des „suum cuique tribue“: der Pflicht zum Staat und damit der Pflicht, den Natur342 zustand zu verlassen („principium exeundum e statu naturali“). Um nun die Bedingungen der Möglichkeit – die transzendentalen Voraussetzungen – der Verwirklichung des Rechts der Menschheit in sozialer Perspektive zu gewinnen, bedient sich Kant einer Hilfskonstruktion: Sie werden nach Kant von der Vernunft a priori mittels des Vertragsgedankens festgelegt. Dabei ist zu beachten, daß die Idee des Vertrags nicht dazu dient, den Rechtszustand überhaupt zu begründen, sondern nur gerechte Bedingungen festlegen soll, unter denen eben diese Kriterien gewonnen werden können. 343 Der Vertrag ist also erst der zweite Schritt in der Begründung vernünftigen Rechts, nachdem Kant bereits in einem ersten Schritt die Notwendigkeit von Recht gezeigt und das Naturrechtsgesetz vorgestellt hat. Der Vertrag, der das Fundament des positiven Rechts legen soll, entsteht aus einem „ursprünglich vereinigten Willen a priori“ 344, nicht etwa umgekehrt; andernfalls würde man sich in einem „Münchhausen-Dilemma“ verstricken: „Denn ein Wille, der nicht ursprünglich vereinigt ist, setzt Akte der einzelnen Willen voraus, sich zu einem gemeinsamen Willen zu verbinden, deren ‚Rechtlichkeit‘ sich nur aus dem Zusammenstimmung zu einem gemeinsamen Willen ergeben kann, der doch erst das Produkt der Vereinigung sein soll.“ 345 Als ein solcher, fern von empirischen Einflüssen, kommt dem Willen moralische (sittliche) Qualität zu, und er ermöglicht eine autonome Selbstbestimmung des Gemeinwesens. Er ist „Ursprung aller öffentlichen Verträge“ 346. Dieser Wille geht aus der fiktiven Vereinigung der noumenale Subjekte hervor. 347 Somit wird einsichtig, weshalb der Vertrag – wie Kant ver342 Ebbinghaus (1988: 439): „Es folgt m.a.W. die Verankerung des berühmten exeundum est e statu naturali in dem Willen, der will, daß das Recht der Menschheit in der eigenen Person Wirksamkeit unter Bedingungen der Menschheit haben können soll.“ 343 Diese Pointe des Kantischen Vertragsdenkens ist erst spät von Kants Interpreten und Kritikern wahrgenommen worden. Nicht zuletzt in der Wiederentdeckung dieses Gedankens liegt der große Verdienst von Rawls (1991) für die Wiederbelebung der rechtstheoretischen Begründungsdiskussion. 344 Kant, Gemeinspruch, S. 153 (A 249, 250). 345 König (1996 b: 201); so auch Maus (1992: 286): „(...) deutliche Vorrangigkeit des Willens vor dem Vertrag.“; anders Kersting (1993: 357): „Denn nach Rechtsbegriffen gibt es keine andere Möglichkeit der Konstituierung dieses gesetzgebenden Willens als den der vertraglichen Vereinigung aller.“ 346 Kant, MS-RL, S. 465 (A 214, B 244). 347 Diese Konstruktion hat Kant zahlreiche Kritik eingebracht. So merkt etwa Haensel (1926: 51) an: „Kann die Zusammenfassung der von der Vernunft geleiteten Willen zu einem anderen Ergebnis führen als der einzelne vernünftige Wille?“ In diese Bresche schlägt auch Dulckeit (1973: 41): „(...) der Einzelwille eines jeden homo noumenon, als deren Vereinigung ja der Gesamtwille erscheint, ist doch ebenfalls von sich aus schon vernünftig (...)“. Anders
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nehmlich erklärt – „keineswegs als ein Faktum vorauszusetzen nötig (ja als solches gar nicht möglich) (ist 348), sondern es ist eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat.“ 349 Der Begriff der Idee ist hier keineswegs in dem Sinne zu fassen, wie der rechtmäßige Staat oder der ewige Friede als Idee bezeichnet wird; dieser Vertrag ist keine Aufgabe, die einmal realisiert werden soll, sondern lediglich ein technischer Hilfsbegriff, weil er nicht zwischen phaenomenalen, sondern noumenalen Subjekten geschlossen wird. Als solcher soll er Kriterien festlegen, die selbst endlichen Vernunftwesen ermöglichen, eine möglichst vernünftige Bestimmung eines vereinigten Willens der phaenomenalen Subjekte durchzuführen. 350 Damit ist die weitere Aufgabe geklärt: Hat Kant in der Ethik gezeigt, wie mit Hilfe des Kategorischen Imperativs eine solipsistische Bestimmung des reinen Willens im Wege der monologischen Universalisierung der Maxime möglich ist, muß nun ein Weg aufgezeigt werden, der eine Universalisierung des sozialen Willens herbeiführt. Dabei ist aber bei der Willensbildung stets zwischen den beiden Ebenen zu differenzieren. Der apriorisch vereinigte Wille, der der fiktiven Vertragsschließung zugrunde liegt, dient dazu, Kriterien für eine positive Gesetzgebung nach Maßstäben praktischer Vernunft zu gewinnen. Dieser unterscheidet sich von dem a posteriori vereinigten allgemeinen Willen der Staatsbürger, die sich in einem Rechtszustand befinden und gemäß den Vertragskriterien zu einer Willensbestimmung des Gemeinwesens zusammenfinden, um positive Gesetze zu beschließen. Kant hält also auch für die öffentliche Gesetzgebung des Gemeinwesens an der Figur der Willensbestimmung fest. Die Idee dahinter ist, den Staat zu personalisieren. Wenn er den Staat als Person faßt, kann er die Idee der Selbstgesetzgebung auf deutet jedoch Kersting (1993: 356) diese Konstruktion: „Nichts berechtigt dazu, das Vertragssubjekt als homo noumenon anzusprechen. Die Verknüpfung zwischen Naturzustandstheorie und Vertragskonzept, die natürlich auch für Kant gilt, bestimmt den Vertragspartner als Naturzustandsbewohner und damit wesentlich als Privatrechtssubjekt“ (Herv. nicht im Original). Beiden Ansichten ist insofern recht zu geben, als daß noumenale Subjekte wegen ihrer reinen Geistigkeit gar kein Recht brauchen, daß dazu dient, endlichen Vernunftwesen Freiheiten und Gegenstände zur Ausübung dieser Freiheiten zuzuordnen. Diese Unschlüssigkeit Kants an dieser Stelle ist Folge dessen, das es sich nur um ein hypothetisches Gedankenmodell handelt. 348 Diese Einfügung von M. S. 349 Kant, Gemeinspruch, S. 153 (A 250). 350 Im Ansatz ähnlich wie hier Haensel (1926: 46): Die Vertragsidee dient „nur als Kriterium, wie das staatliche Recht (und auch das private) seinem Inhalt nach beschaffen sein müsse, nicht aber dazu, die Vernünftigkeit des Seins eines staatlichen Rechts zu erweisen;“ (Herv. nicht im Original). Anders dagegen Kersting (1993: 354): „Die Anwendung des Vertragskriteriums als Erkenntnismittel rechtmäßiger, den Prinzipien des bürgerlichen Zustandes entsprechender Gesetze wird keine Rechtmäßigkeitserkenntnis vermitteln können, die nicht unter Zuhilfenahme der Prinzipien der Freiheit und Gleichheit allein hätte gewonnen werden können.“ Kersting mag in der Annahme Recht zugeben sein, daß Freiheit und Gleichheit dadurch nicht als normative Werte erkannt werden, aber die Erkenntnis liegt darin, daß Freiheit und Gleichheit auch zur Gesetzgebung von positivem Recht erforderlich sind.
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dieses Gebilde übertragen. Dafür gleicht er den Staat an die natürliche Person an, denn er muß das „Selbst“ des Gemeinwesens bestimmen, soweit die Verschiedenheit der Zusammensetzung – hier ein Individuum, dort ein Gemeinwesen – eine solche Übertragung erlaubt. Er bezeichnet dafür das staatliche Subjekt als „an sich selbst Zweck“ 351. Genauso beschreibt Kant aber das Subjekt der individuellen Moral in der ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘. Das Subjekt, welches „Zweck an sich selbst“ 352 ist, ist das Subjekt aller Zwecke. Dies ist es als „vernünftiges Wesen“. Allgemeine „praktische Vernunft“ gewinnt das „vernünftige Wesen“ durch die Idee des „allgemein gesetzgebenden Willens“ 353. Der Staat wird also – analog der subjektiven Moraltheorie – als Subjekt, welches Zweck an sich selbst ist, konstituiert. 354 Der Unterschied besteht darin, daß das „Selbst“ der Staats-Selbst-Gesetzgebung auf das „Selbst“ der einzelnen Subjekte angewiesen ist. Der allgemein gesetzgebende Wille des Gemeinwesens kann nur durch eine Vereinigung der Subjekte in diesem Staat gebildet werden, da der Staat nach Kant selbst keine substantielle Einheit und nicht mehr als seine Staatssubjekte ist; d. h. er muß „aufsteigend“ über die einzelnen Subjekte vermittelt gedacht, also transpersonal gebildet und nicht einem überindividuellen Kollektivsubjekt zugerechnet werden. 355 Dabei darf aber nicht vergessen werden, daß ebenso wie im einzelnen Subjekt die Vernunft nur als gebietende, nicht als zwingende, und damit die Moralität des einzelnen garantierende Vernunft auftritt, sondern nur die Bedingungen der Möglichkeit einer moralischen Willensbestimmung des Gemeinwesens festlegen. 356 Der vereinigte Wille a posteriori kann sich nur durch Selbstbindung auf die Vorgaben des Willens a priori festlegen. Selbstbindung läßt sich aber per definitionem durch keinen äußeren Zwang besorgen. 357 Es wird aber unten noch zu zeigen sein, daß Kant provisorische Abweichungen von dieser Selbstbindung mittels des bereits erwähnten Erlaubnisgesetzes zuläßt, die aber als Ausnahmen dem Gedanken des Rechtsstaates inhärent sind und nicht dazu führen, daß das normative Prinzip der Selbstbestimmung ausgehebelt wird.
Kant, Gemeinspruch, S. 144 (A 233). Kant, GMS, S. 63 (BA 70). 353 Kant, GMS, S. 63 (BA 70), im Original hervorgehoben. 354 Insofern richtig: Maus (1992: 87): „Die demokratische Selbstgesetzgebung des Volkes hat als Organisationsprinzip die gleiche Struktur wie moralische Autonomie.“ 355 Anders Maus (1992: 185): „So ist auch bei Kant das normative ‚Selbst‘ der Selbstgesetzgebung auf jenes systematische ‚Selbst‘ angewiesen, das zugleich im Automatismus demokratischer Organisation angelegt ist.“ 356 Vgl. Maus (1992: 87): „Wenngleich weder rechtsbegründende Volkssouveränität noch moralische Selbstgesetzgebung in der Welt der Erscheinungen gerechte Ergebnisse umstandslos garantieren können, so sind sie doch als Prinzipien gleichursprüngliche Versionen des Gesetzes der Freiheit.“ 357 Vgl. Kant, AA, VI, 381 und Höffe (1995: 85). 351 352
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(b) Die Bestimmung der positiven Rechtskriterien Welches sind nun die Kriterien, die diesem Vertrag „entspringen“ 358? Der Vertrag formuliert nach Kant das „ideal der Gesetzgebung, Regirung und öffentlichen Gerechtigkeit,“ 359 mithin Bedingungen einer möglichen allgemeinen Gesetzgebung für Rechtsentscheidung und Rechtsdurchsetzung.360 Kant nimmt hier also eine Binnendifferenzierung der staatlichen Gewalt vor, die jedoch intern verschränkt bleibt und sowohl die Rechtsentscheidung als auch die Rechtsausführung normiert: „Ein jeder Staat enthält drei Gewalten in sich, d. i. den allgemein vereinigten Willen in dreifacher Person (trias politica): die Herrschergewalt (Souveränität), in der des Gesetzgebers, die vollziehende Gewalt, in der des Regierers (zu Folge dem Gesetz) und die rechtsprechende Gewalt (als Zuerkennung des Seinen eines jeden nach dem Gesetz).“ 361 Das Augenmerk Kants liegt auf der Gesetzgebung, denn Rechtsausführung und -vollstreckung sind dann nur noch Folgerungen des ersten Kriteriums. Die Gesetzgebung kann nach Kant „nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen“ 362; wohlgemerkt dem Willen des empirischen Volkes, denn es gilt jetzt wirkliche positive Gesetze zu erlassen, die nicht allein auf metaphysischen Annahmen basieren können. Wenn das „Volk“ nicht mehr nur eine Metapher für den abstrakten Willen der praktischen reinen Vernunft abgibt, so bedarf es der Normierung von Kriterien, wie eine solche Willensbildung funktionieren kann. Die „Prinzipien a priori“ 363, die durch den Vertrag normiert werden, bedingen die „Freiheit“, „Gleichheit“ und „Selbständigkeit“ des Staatsbürgers. Freiheit und Gleichheit finden ihre Ausprägung schon im natürlichen Recht des Menschen. Selbständigkeit kommt dagegen als rechtliches Kriterium erst für die positive Gesetzgebung hinzu. Sie ist die Voraussetzung eines aktiven Staatsbürgers, das heißt eines solchen, dem die Verfassung das Recht der Stimmgebung einräumt. 364 Kant sieht das entscheidende Merkmal der Selbständigkeit des Bürgers darin begründet, „daß er niemandem als dem gemeinen Wesen im eigentlichen Sinne des Wortes diene.“ 365 Gleichwohl sieht er das Unbefriedigende dieser Unterscheidung und bemerkt, – „es ist, ich gestehe es, etwas schwer, die Erfordernis zu bestimmen, 366 um auf den Stand eines Mitmenschen, der sein eigener Herr ist, Anspruch machen zu können.“ 367 Deshalb liegt es schon in der Vgl. Kant, Gemeinspruch, S. 151 (A 245): „Man nennt dieses Grundgesetz, das nur aus dem allgemeinen (vereinigten) Volkswillen entspringen kann, den ursprünglichen Vertrag.“ 359 Kant, AA 19 R 7734. 360 Vgl. Ebbinghaus (1988: 301). 361 Kant, MS-RL, S. 431 (A 165, B 195). 362 Kant, MS-RL, S. 432 (A 165, B 195). 363 Kant, Gemeinspruch, S. 145 (A 235). 364 Kant, MS-RL, S. 432 f. (A 166 ff. B 196 ff.). 365 Kant, Gemeinspruch, S. 151 (A 246 f.). 366 Herv. nicht im Original. 367 Kant, Gemeinspruch, S. 15 (A ). 358
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Selbstkritik Kants begründet, daß die Frage, „welche psychologischen und soziologischen Bedingungen zu dieser Selbständigkeit gehören, durch die eine reale, freie und gleichberechtigte Mitwirkung in der Politik möglich wird, (...) nur in einer wissenschaftlich aufgeklärten Auseinandersetzung gefunden werden“ kann. „Was in dieser Auseinandersetzung jeweils als geschichtlich-gesellschaftlich notwendige Bedingung allgemein anerkannt wird,“ 368 das erfüllt dann die rechtliche Kategorie der Selbständigkeit. 369 Dies soll gewährleisten, daß das Urteilsvermögen der Teilnehmer den Voraussetzungen des staatsbürgerlichen Prozederes genügt, 370 da ein unreflektiertes Einbringen von materiellen Interessen den Willen unvernünftig werden lassen könnte. 371 Kant geht aber davon aus, daß „auch dem gemeinste(n) Verstand“ 372 potentiell diese Eigenschaft und Fähigkeit hat, die er aber erst noch dadurch öffentlich beweisen muß, daß er den Stand der Selbständigkeit erreicht; dieser erweist sich durch Erlangung des die Selbständigkeit kennzeichnenden empirischen Merkmals. Keinem darf der rechtliche Weg zur Erlangung der aktiven Staatsbürgerschaft verbaut sein: „Denn daraus, daß sie fordern können, von allen anderen nach Gesetzen der natürlichen Freiheit und Gleichheit als passive Teile des Staates behandelt zu werden, folgt nicht das Recht auch als aktive Glieder den Staat selbst zu behandeln, zu organisieren oder zu Einführung gewisser Gesetze mitzuwirken: sondern nur, daß, welcherlei Art die positiven Gesetze, wozu sie stimmen, auch sein möchten, sie doch den natürlichen der Freiheit und der dieser angemessenen Gleichheit aller im Volk, sich nämlich aus diesem passiven Zustande zu dem aktiven empor arbeiten zu können, nicht zuwider sein müssen.“ 373 In der Sekundärliteratur ist immer wieder verkannt worden, daß es sich hierbei nicht um eine deskriptive, sondern eine normative Qualität des Menschen handelt. 374 Als solche ist sie eine transzendentale Bestimmung, die die rechtlich-sittli368 Schwartländer (1978: 91); in diese Richtung tendiert auch Brugger (1991: 899), der den „ökonomischen Selbststand als fundamentale aposteriorische, empirische Verwirklichungsbedingung der von Kant angezielten nicht nur auf das egoistische Privatinteresse bezogene Mitwirkung“ an den öffentlichen Gesetzen ansieht. 369 Schwächer als hier Höffe (1996: 231), der das moralische Profil in dieser Formulierung nicht so ausgeprägt sieht und statt Selbständigkeit in dem hier geforderten moralisch-praktischen Sinn, „Zurechnungsfähigkeit“ ausreichen lassen möchte. 370 Vgl. auch Alexy (1993: 17). 371 Auch Maus (1992: 24) sieht die „Verwechslung von deskriptiver und normativer Perspektive“, kommt aber gleichwohl zu einem anderen Interpretationsergebnis, indem sie auch die „Selbständigkeit“ als einen Begriff ansieht, der unter das „Erlaubnisgesetz fällt“ und „eine bloß provisorische Verbindlichkeit besitzt“. Dem kann nach dem oben Gesagten nicht gefolgt werden. 372 Kant, KpV, S. 136 (A 49). 373 Kant, MS-RL, S. 433 f. (A 168, B 198); Herv. nicht im Original. 374 Vgl. hierzu die Studien von Schwartländer (1978: 90 f.) und Habermas (1976: 182 f.). Letzterer kommt zu dem Schluß, „daß die interessierten Privatleute, zum Publikum versammelt, also in ihrer Eigenschaft als Staatsbürger, sich äußerlich so verhalten, als ob sie innerlich freie Menschen wären“ (183). Einen interessanten systematischen Interpretationsversuch unternimmt Schild (1981 b: 135 ff.; 145 ff.), der zu einem ähnlichen Ergebnis wie dem hier auf-
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che Freiheit zu verstehen versucht, und nicht eine Kategorie der pragmatischen Anthropologie 375. Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit bilden somit die Voraussetzungen in den Gliedern des Gemeinwesens, um zu seiner Willensbildung zu gelangen, die moralischen Kriterien genügt. Sie bilden nach Kant die transzendentalen Grundbausteine politisch-rechtlicher Freiheit, „nach denen allein eine Staatserrichtung möglich“ 376 ist. 377 Die Einheit dieser Trias konkretisiert sich in der empirischen Selbstbestimmung, die nicht Willkür ist, sondern als gesetzmäßige (unter dem Anspruch der Pflicht) den rechtlichen Rahmen für die Autonomie des Menschen begründet. Insofern kann man sagen, daß Freiheit und Gleichheit auf die moralische Selbständigkeit bezogen sind: Die ethische Autonomie, die der Willkürfreiheit zugrunde liegt, bedingt die Gleichheit auf immer gleiche (Willkür-) Freiheit und damit auch die Freiheit zur Ungleichheit, d. h. zum Anderssein, sofern diese mit dem Anderssein der anderen gesetzmäßig vereinbar ist, nämlich der individuellen Anwendung der Vernunftgesetze auf die empirische Umwelt des konkreten Subjekts. Die Selbständigkeit ist gleichfalls auf die (positive) Freiheit bezogen: Sie ist Ausdruck der Realisierung der Autonomie zugrundeliegenden Selbstbestimmungsmacht. 378 (c) Die Willensbildung des Gemeinwesens: Das Zwei-Stufen-Modell Die Willensbildung des Staates baut auf dieser individuellen Selbständigkeit auf, denn sie verläuft auf zwei Stufen. Die Prämisse dieser Methode ist die Einsicht, daß der allgemeine vereinigte Wille der „republica phaenomenon“ nicht losgelöst von den Menschen erkannt, sondern immer nur vermittelt über den Einzelnen gebildet werden kann. Deshalb ist der Wille auf einer ersten Stufe im Individuum zu bilden. Die Demokratie als Legitimationsprinzip von positiven Gesetzen besagt, daß es keine den Willensbildungssubjekten externe Richtigkeit gibt. 379 Schon in der „Kritik der reinen Vernunft“ hatte Kant dem öffentlichen Konsens der Räsonierenden untereinander die Funktion einer pragmatischen Wahrheitskontrolle zugeschrieben: „Der Probierstein des Fürwahrhaltens, ob es Überzeugung oder bloße Überredung sei, ist also äußerlich die Möglichkeit, dasselbe mitzuteilen und das Fürwahrhalten gezeigten gelangt und „Selbständigkeit“ als „Mündigkeit“ und „Selbstverantwortung“ ansieht, welches eine Voraussetzung sittlicher Personen sei (146). 375 Anders wohl Brandt (1982: 261 f.). In diese Richtung tendieren auch die Aussagen von Langer (1986: 105 ff, 137), nach der Kant hier kein prinzipientheoretisches letztes Wort, sondern immer nur reformpragmatische Kategorien aufgestellt habe. 376 Kant, Gemeinspruch, S. 145 (A 235). 377 Vgl. Lisser (1922: 26): „notwendige Bedingungen der Möglichkeit des Staates überhaupt“. 378 Vgl. auch Schild (1981 b: 161). 379 Kant, KrV, S. 688 (A 820, B 848); vgl. auch Höffe (1996 a: 402): Er nennt das: „Kants Demokratisierung der theoretischen Vernunft“; vgl. auch schon Habermas (1976: 180).
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für jedes Menschen Vernunft für gültig zu befinden.“ Deshalb verwirklicht jeder aktive Staatsbürger durch seine Person das Recht der Menschheit in der empirischen Welt, indem er die formalen Kriterien auf die Materie, Zwecke der phaenomenalen Welt, anwendet. Als solcher versucht er eine Universalisierbarkeit seines Willens herzustellen, der – im Rahmen der formellen Bestimmungen 380 – auf bestimmte materielle Zwecke gerichtet ist. Der Staatsbürger soll somit nicht seine Interessen als Bourgeois, die ihm die naturrechtliche Willkürfreiheit einräumte, durchsetzen, sondern in einem ersten Schritt eine Universalisierung durchführen, also eine moralische Willensbildung forcieren. Nach der Kantischen Begriffsbestimmung würde eine bloß der Mehrheitsregel verpflichtete Demokratie in die Nähe der „Barbarei“ rücken; 381 statt Beliebiges zu dürfen, ist der einzelne als Glied des Volkes auf normative Vorgaben verpflichtet. Hierbei soll er seine Urteilskraft anwenden, denn Urteilskraft ist das Vermögen, die besonderen Zwecke der phaenomenalen Welt unter die allgemeinen Gesetze des Vernunftrechts zu subsumieren. 382 Die erste Stufe ist notwendig, damit „deren jeglicher seine Bedenklichkeiten, ja sogar sein Veto, ohne Zurückhalten muß äußern können.“ 383 Damit werden die Gesetze durch ein Verfahren bestimmt, weshalb man bei Kant von einem prozeduralen Rechtsverständnis sprechen kann: Die Formalität des individuellen Universalisierungsvorganges verhindert jede von vornherein klassifizierende Antwort: Jede abweichende Ansicht oder Handlung kann zumindest als autonome Stellungnahme verstanden werden und ist als Ausdruck potentieller Autonomie anzuerkennen. Die hieraus resultierende Pluralität ist aber bei Kant nicht absolut, sondern beruht auf einer einheitlichen Grundlage, nämlich dem Recht der Menschheit in jeder Person. Hier liegt der gemeinsame Horizont der endlichen Vernunftwesen. Die Verschiedenheit – durch die je verschiedene empirische Individualisierung – ist durch die Gleichheit auf der noumenalen Ebene beschränkt.384 Wenn Kant dann formuliert, daß nur „der übereinstimmende und vereinigte Wille aller, so fern ein jeder über alle und alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein“ kann, dann heißt das: Auf der ersten Stufe führt ein jeder die Universalisierung monologisch durch, mithin überlegt ein jeder, ob diese Universalisierung für alle gelten kann, insofern beschließt „ein jeder über alle“. Dies schließt einen Perspektivenwechsel, einen idealen Rollentausch, ein. Leider sind die Ausführungen von Kant hierzu sehr knapp gehalten, so daß sich über das Universalisierungsverfahren bei Kant bisher 380 Deshalb spräche man nach Zaczyk (1994: 121) „besser (...) von formenden“ als von formalen Prinzipien. 381 Vgl. Höffe (1996 a: 402). 382 Ausführlich zur Urteilskraft unten. 383 Kant, KrV, S. 631 (B 766 f., A 738 f.). 384 Insofern ist hier ein Ansatzpunkt für die unten noch zu erörternde „Einheit in der Vielfalt“, für die Heller maßgeblich das Wort ergriff. Treffend Habermas (1986: 24): „Im Singular des transzendentalen Bewußtseins sind die empirischen Iche vorverständigt und im vorhinein harmonisiert.“
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keine einheitliche Interpretation herausgestellt hat. Wie so etwas aussehen kann, deutet Kant in der Kritik der Urteilskraft an. Da es ihm allerdings um ein ästhetisches Urteil geht, ist ein Bezug zur politischen Philosophie nur sehr vorsichtig herzustellen. 385 Aber ähnlich wie die Forderung der politischen Philosophie ein moralisches Urteil erfordert, welches von empirischen Bestimmungsgründen absieht und nur eine Anwendung auf die Empirie vorsieht, verlangt das ästhetische Urteil einen Gemeinsinn, den Kant durch die „Maximen des gemeinen Menschenverstandes“ erläutert. „Es sind folgende: 1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken.“ 386 Die mittlere Maxime lädt geradezu ein, auf die Moralphilosophie übertragen zu werden. Hierdurch möchte Kant die erweiterte Denkungsart anzeigen, die darin besteht „sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils“ hinwegzusetzen, wo zwischen so viele andere wie eingeklammert sind“. Dadurch versetzt man sich in einen „allgemeinen Standpunkt“, den man nur dadurch „bestimmen kann, daß“ man sich „in den Standpunkt anderer versetzt“ 387. Das Ziel, einen allgemeinen Standpunkt herzustellen, erklärt die normative Vorgabe der Selbständigkeit des aktiven Staatsbürgers. Dieser soll möglichst unabhängig von empirischen Beweggründen urteilen; nur so kann er eine möglichst hohe Annäherung an diesen allgemeinen Standpunkt erreichen, denn „empirische Beweggründe taugen zu keiner allgemeinen äußeren Gesetzgebung.“ 388 Schlußpunkt dieser normativen Reflexion ist also der Rückgriff auf den Menschen als autonome Person, von woher dieser rechtliche Prozeß Teil seiner Verbindlichkeit gewinnt. In diesem Reflektionsprozeß des „Selbst-denkens“ hat er den ‚Selbst-Stand‘ zu gewinnen, in denen er seine letzten Ideale nicht nur bewußt, sondern auch auf das Recht eines jeden anderen reflektiert. Er gewinnt also eine selbständige empirische Anwendung des Rechts der Menschheit. 389 Auf einer zweiten Stufe ist dann die „Einstimmung freier Bürger“ zu betreiben: Die von den einzelnen Staatsbürger vorgefilterten Zwecke und Gegenstände positiver Gesetze sind durch eine Universalisierung zwischen den einzelnen Staatsbürgern aufeinander abzustimmen: 390 „Das Gewicht verschiebt sich von dem, was jeder (einzelne) ohne Widerspruch als allgemeines Gesetz wollen kann, auf das, was alle in Übereinstimmung als universelle Norm anerkennen wollen.“ 391 Die Generalisierungsfähigkeit als Kriterium richtigen Rechts ist nur in diesem empirischen Verfahren zu lösen. Da die einzelnen nur eine Annäherung an den generellen Perspektivenwechsel vollziehen können, ist auf dieser zweiten Stufe des Gesetzgebungsverfahrens durch Argumentation zwischen den Subjekten über mögliche Ver385 386 387 388 389 390 391
Vgl. einerseits Höffe (1996 a: 402 f.), andererseits Bielefeldt (1996: 47). Kant, KU, S. 390 (B 158, A 156). Kant, KU, S. 391 (B 159, A 157). Kant, KpV, S. 137 (A 50). Ähnlich auch (1981 b: 236). Ähnlich beschreibt Habermas seine an Kant orientierte Diskursethik (1983: 77). So treffend von McCarthy auf den Punkt gebracht (1980: 371).
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schiedenheiten hinweg eine Universalisierung anzustreben: 392 „Einstimmung aller Urteile, ungeachtet der Verschiedenheit der Subjekte unter einander.“ 393 Hier beschließen nun alle (alle aktiven Staatsbürger, aber prinzipiell ist diese Idee, wie erwähnt, für alle Staatsbürger offen) über jeden („alle über einen jeden“), nämlich jeden Adressaten des Rechtsgesetzes. Da die Anwendung der Kriterien der Idee des Rechts der Menschheit immer nur vermittelt über den Menschen in die Wirklichkeit tritt, wird deutlich, daß aus der Vernunftidee der demokratischen allgemeinen und öffentlichen Gesetzgebung eine faktische intersubjektive Universalisierung folgen sollte, die nicht mit einem subjektlosen Kollektivismus zu verwechseln ist. 394 Kann sich die individuelle Ethik noch mit dem Subjektivismus der monologischen Perspektive zufriedengeben, da die so gewonnenen Maximen für die konkrete Handlungsumsetzung erst noch den Filter der Rechtsgesetze passieren müssen, ist ihr in sozialer Perspektive eine faktische Universalisierung als normative Forderung eingeschrieben. Nur so kann wirklich eine allseitige Berücksichtigung der Perspektiven des konkreten Gemeinwesens erreicht werden, d. h. die Selbstgesetzgebung als regulative Idee Wirklichkeit finden. 395 Nur für noumenale Wesen reicht eine Universalisierbarkeit ihrer Maximen aus. Diese würden alle zu demselben Ergebnis kommen, weil sich bei ihnen Wille und Vernunft vollständig durchdringen. In ihrem transzendentalem Bewußtsein drückt sich ein allgemein gültiges Weltverständnis aus. Für Menschen als endliche Vernunftwesen reicht eine monologische Universalisierung nicht aus. Sie haben erkenntnistheoretische Probleme, eine solche wirklich durchzuführen, denn subjektiv zufällige Bestimmungen bleiben stets im Spiel und der Wille wird niemals rein aus Vernunftgründen tätig. 396 Die Konkretisierung der naturrechtlichen Prinzipien ist auf eine rational nicht vollständig zu bändigende Urteilskraft angewiesen, die als „Naturgabe“ 397 bei den Menschen unÄhnlich Maus (1992: 156 ff.). Kant, KrV, S. 688 (B 849, A 821). 394 Vgl. Bielefeld (1991: 26). 395 Wenn diese Rekonstruktion des Kantischen Universalisierungsvorganges nicht ganz unplausibel ist, dann würde die Kritik von Habermas (1996: 48) an Kant obsolet. In seiner Kritik an Kant kommt er zu dem Schluß, den er für die Diskurstheorie neu zu begründen versucht: „Tatsächlich verlangt aber die reflexive Anwendung des Verallgemeinerungstests eine Beratungssituation, in der jeder genötigt ist, die Perspektive aller anderen einzunehmen, um zu prüfen, ob eine Norm aus der Sicht eines jeden von allen gewollt werden könnte.“ Das ist aber genau das Ergebnis, welches als zweistufige Normativitätskonstruktion bei Kant vorliegt. Anders noch Habermas (1976: 179). Dies mag an dem bewußt verzeichnenden, interpretatorischen Ansatz von Habermas liegen. Auch Brandt wirft ihm vor, Kant in einer „wichtigen und symptomatischen Weise zu verzeichnen“ (2002: 53): „Es wurde nur gezeigt, daß die von Habermas gesuchte systemische Interdependenz von privater und öffentlicher Autonomie bei Kant tatsächlich geleistet ist und daß Habermas sich durch eine schiefe Sicht der Theorie den Blick für diesen Befund verstellt“ (ebd., 67). 396 Vgl. auch Brugger (1980: 317 f.): „Darüber, daß als Ergebnis eines solchen Reflexionsprozesses eine Handlungsmaxime sich als moralisch oder rechtlich qualifizieren kann, kann keine jeden Zweifel ausräumende Gewißheit erlangt werden.“ 397 Kant, Gemeinspruch, S. 127 (A 202). 392 393
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terschiedlich ausgeprägt ist, so daß auch aus diesem Grund, neben den verschiedenen Interessen, die Anwendung und Konkretisierung der Naturrechtsprinzipien verschiede Ergebnisse zeitigen würde. 398 Neben diesen empirischen Determinationen fehlt es nach Kant dem empirischen Menschen aber auch an Phantasie, sich in die Lage eines jeden anderen versetzen zu können. Durch die Universalisierung innerhalb der Mitglieder einer konkreten Rechtsgemeinschaft werden bestehende partikuläre Präferenzen, die sich auf der ersten Stufe äußern, quasi transzendiert, da der vereinigte Wille „über diese Verschiedenheit des partikulären Wollens aller“ 399 hinausgeht. Da die Universalisierung aber nicht ubiquitär durchgeführt wird, stellt sich der Raum-Zeit-gebundene Wille einer konkreten Rechtsgemeinschaft innerhalb eines bestimmten Kontextes ein, die als souveräne Entscheidung des Gesetzgebers Rechtsklarheit über die vielstimmigen Anwendungsformen schafft (dazu noch unten). 400 (d) Die Rolle des Subjekts bei der Begründung des positiven Rechts Kant vertraut damit auf der Ebene der politischen Gesetzgebung des Gemeinwesens ebenso der Selbstgesetzgebung, wie er es schon bei der moralischen Gesetzgebung jedes einzelnen Individuums getan hat. Der Grund ist darin zu sehen, daß nach Kant sich niemand „unrecht“ tun kann: „volenti non fit iniuria“ 401. Unrecht kann hier nur als Begriff äußeren Rechts verstanden werden. Hier begegnet man einer ähnlichen Struktur, wie im vernunftrechtlich ausgewiesenen Recht auf Freiheit. Ebenso wie das Individuum nach vernunftrechtlichen Grundsätzen die Möglichkeit hat, Selbstmord zu begehen, ohne mit einer äußeren Zwangsreaktion rechnen zu müssen, bleibt die Handlung moralisch gesehen unrecht, als Verstoß gegen das Recht der Menschheit in einem selbst. Diese Doppeldeutigkeit von Unrecht hat Kant selbst gesehen, denn daß der Mensch sich selbst umbringen könne, „scheint ungereimt zu sein (volenti non fit inuiria)“ 402. Aber wie sich der Mensch als sittliche Person nur selbst erhalten kann, 403 so kann in gleicher Weise nur der republikanische Gesetzgeber sich nur selbst auf die normativen Vorgaben des Rechts verpflichten. In Ermangelung eines höheren „Rechtsprincips“ liefert das Verfahren der Rechtserzeugung die Vernunft dem Willen der Verfahrensbeteiligten aus, mangels materieller Vorkehrungen, wie sie im Grundgesetz etwa in Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz anzutreffen sind. Sowohl für das Individuum als auch für das Gemeinwesen baut Kant auf dem Gedanken des „volenti non fit inuiria“ auf. Der Gebrauch des lateinischen Ausdrucks für beide 398 Ähnlich Hess (1971: 156): „Die im Bereich der praktischen Philosophie zu leistende Konkretisierung aber verbleibt weitgehend der Urteilskraft jedes einzelnen Menschen überlassen.“ 399 Kant, Zum ewigen Frieden, S. 231 (B 74, A 69). 400 Vgl. auch Kühl (1990: 84). 401 Kant, MS-RL, S. 432 (A 165, B 196). 402 Kant, MS-TL, S. 554 (A 72). 403 Vgl. Kant, MS-TL, S. 555 (A 73).
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Phänomene mag ein Zufall sein, jedenfalls liegt es in der Konsequenz der Gedanken Kants, zu behaupten, daß die ungerechte Gesetzgebung des Gemeinwesens politischer Selbstmord ist, der – aus den gleichen Gründen wie der Selbstmord des Individuums – nicht von außen verhindert werden kann und darf (dazu bereits oben404). Soll damit aber nicht eine Auszeichnung des rein aus Interessen zusammengesetzten empirischen Willens einhergehen, der volonté de tous, die nach Kant, wie erwähnt, die Demokratie in die Nähe der Barbarei rücken würde, wird deutlich, welche hohe Begründungslast auf den einzelnen Teilnehmern des Gesetzgebungsprozesses lastet. 405 Mehr moralischen Impetus als die Verantwortung der einzelnen Teilnehmer kennt dieses Verfahren nicht. Wenngleich das so zustande kommende flexible Begründungsverfahren ein dezisionistisches Residuum beinhaltet, das in der Mehrheitsentscheidung residiert, so daß man die Frage stellen könnte: Warum dann überhaupt begründen und nicht gleich entscheiden, 406 wird doch deutlich, daß bei Kant die Normativität nicht in der Entscheidung selbst liegt. Eine größere Differenz als die zwischen einer willkürlichen Dezision und einer Dezision, die dann erfolgt, wenn alle Möglichkeiten der Diskussion und unparteiischen normativen Abwägung erfolgt sind, läßt sich kaum denken. Die Normativität ist an das Verfahren seiner Herstellung rückgebunden und nicht an die Macht, die der Entscheidende inne hat. Daher gilt es bei dem prozeduralen Begründungsverfahren Kants stets zwei Komponenten zu beachten: das Subjekt und das Verfahren. (e) Die Entlastung des Subjekts? Einige Interpreten geben der Rechtstheorie Kants hingegen eine Wendung dahin, daß seine Rechtstheorie das Subjekt von der Verantwortung entlaste. Sie behaupten, daß bei Kant das Verfahrensprozedere eine Art Normativitäts-„Automatismus“ garantiere und gleichsam „die Normativität des Rechts von faktischen Motivationen ganz unberührt“ bleibe, denn die „Verwirklichung der Rechtsidee (stütze sich 407) auf die Institutionalisierung von Mechanismen, die gleichsam bewußtlos Ergebnisse zeitigen, die vor den Kriterien der Rechtsidee bestehen können.“ 408 Nicht der demoOben, 79 ff. Anders wohl Maus (1992: 213): „Richtet sich die ethische Anforderung an die bewußte Motivation jedes einzelnen, so ist das staatsrechtliche Pendant (...) in die Struktur der Entscheidungsverfahren selber eingebaut;“ vgl. ebd. auch S. 191. 406 Vgl. Tugendhat (1980: 17). 407 Einfügung von M. S. 408 Maus (1992: 183) und ähnlich Kersting (1994: 205): „Man sollte beachten, daß diese auf Einmütigkeit und gleiche Partizipation aller Betroffenen sich stützende Gerechtigkeitskonzeption keinerlei moralische Voraussetzungen macht, auch keinen Gerechtigkeitssinn verlangt; es ist denjenigen, die hier zu einer gemeinsamen Beschlußfassung aufgerufen sind, nicht verwehrt, ihre eigenen Interessen zu verfolgen.;“ anders noch Kersting (1993: 452): „Diese Bedenken verflüchtigen sich allerdings, wenn man unterstellt, daß die Verfahrensbeteiligten selbst (Herv. nicht im Original) vernünftig sind, daß ihr Konsens den allgemeinen Willen zum Ausdruck bringe.“ 404 405
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kratisch tugendhafte Citoyen sei als Teilhaber am Gesetzgebungsprozeß gefordert, sondern „der Teilnehmer dieser Verfahren (...) gewinnt als Bourgeois, soweit seine partikularen Interessen den prozeduralen Automatismus als generalisierungsfähige passieren, die Qualität des Citoyen.“ 409 Die Folge dieser Überlegung ist, daß damit die oben herausgearbeitete erste Normativitätsstufe im Prozeß der Gesetzesgewinnung obsolet würde. Die Selbständigkeit der Bürger würde ihre Eigenschaft als Voraussetzung der Normativität des Rechts verlieren. Dagegen spricht aber, daß dann das Gesetzgebungsprozedere offen für alle Zwecke wäre, die die Rechtssubjekte in es hineinlegen würde, wenn allein die formale Institutionalisierung der Verallgemeinerung betrieben würde. Dieses Problem erkennt auch Ingeborg Maus, gibt dieser Erkenntnis aber eine positive Wendung und schreibt konsequenterweise: Nur die „völlige inhaltliche Unbestimmtheit garantiert, daß kein konkretes Interesse und kein besonderer Bourgeois von der Teilnahme am Verfahren ausgeschlossen wird.“ 410 Das ungefilterte Passieren aller partikularen Interesse in den Gesetzgebungsprozeß sei der Obolus der allgemeinen Wahlgleichheit, der dazu führe, daß eine Wahlrechtsvoraussetzung wie die „Selbständigkeit“ aus dem Ansatz herausfiele. Obwohl die Kritik vor allem an dem kategorischen Imperativ Kants gezeigt hat, daß allein die grammatische Form der Universalisierung keine hinreichende Bedeutung für gültige moralische Gebote abgibt, 411 da man offensichtlich auch unmoralische Inhalte dieser Form unterziehen kann, 412 würde die Legitimität des Rechts nicht leiden. 413 Maus wendet sich explizit gegen einen schlichten formal logischen Schluß der Universalisierung. Der empirische Prozeß der Verallgemeinerung würde allein für die Legitimität bürgen: Ein derart zustande gekommenes Recht hätte volle Verbindlichkeit. Implizit setzt Maus also voraus, daß der Prozeß der Verallgemeinerung die partikularen, bourgeoisen Interessen herausfiltert. Maus sieht hierin die „kopernikanische Wende des Naturrechts“ angelegt, da erst durch die Leistungen des Subjekts die Institutionen Objektivität gewännen, 414 die nicht in einer bloßen Nachzeichnung vorgegebener Naturrechtssätze lägen. Der Gesetzgeber sei nicht durch das Gesetz, sondern zu Gesetzen verpflichtet. 415 Durch dieMaus (1992: 216). Maus (1992: 216 f.). 411 Vgl. auch Habermas (1983: 74). 412 Nachweise etwa bei Höffe (1996: 189 ff.). 413 Ein ähnlich positivistisches Rechtsverständnis von Kant zeichnet Alexys Interpretation aus (1992: 189): „Kants Grundnorm ist ausschließlich an der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden orientiert. Auf den Inhalt des positiven Rechts, dem sie Geltung verleiht, kommt es so wenig an wie bei Kelsen.“ Anders als bei Kelsen würde zusätzlich noch eine moralische Verpflichtung bestehen, „jeder derartigen Norm zu gehorchen“ (1992:194). Alexy verkennt dabei die teleologische Struktur des Rechts und seine Gültigkeit, die sich in eine individuelle und eine soziale Dimension ausdifferenziert; dazu im Text. 414 Maus (1992: 158 f., 250 ff.). 415 Maus (1992: 158); dabei stützt sie sich auf ein Zitat von Kant (AA 19 R 7975): „Der sumus imperans ist nur durch die Natur eines Gesetzes überhaupt restringiert und nicht durchs Gesetz sondern zu Gesetzen verbunden.“ 409 410
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ses rein formale Rechtsverständnis würde der beste Menschenrechtsschutz ermöglicht. Maus setzt sich auf der Suche nach legitim begründeten positiven Recht insofern vom reinen Legalismus ab, der etwa jede Beziehung des legalen Prozederes zur praktischen sittlichen Vernunft leugnet, als sie das Prozedere selbst in seiner besonderen Ausformulierung für ausreichend ansieht, das positive Recht an sittliche Rechtsgrundsätze anzubinden. Nicht auf dem Einzelnen liege die Last, weshalb sie das Kriterium der „Selbständigkeit“ verwerfen zu können glaubt, auch nicht auf einem moralischen Konstitutionalismus; sondern nach dieser Lesart würde allein die prozedurale Ausgestaltung des Verfahrens legitime Ergebnisse gewährleisten, ohne auf materielle Verfassungswerte bindend festgelegt zu sein, wie es etwa das Grundgesetz in Art. 79 Abs. 3 vorsieht. Wenn aber die Betonung auf dem Verfahren liegt, ist fraglich, inwiefern dann ihre Behauptung zutreffend ist, daß das Recht durch die Subjekte hervorgebracht würde, da diese, von einem Standpunkt des Verfahrens aus, nicht mehr als eine funktionale Aufgabe erfüllen. 416 Wenn diese Unschlüssigkeit in ihren Annahmen von Maus gewollt ist, widerspricht sie jedenfalls den Voraussetzungen der Kantischen Autonomiegesetzgebung. Zwar ist es richtig, daß nach Kant alle auf diesem Wege zustande gekommenen Gesetze von der prinzipiellen Legitimationsverschaffung des Gesetzgebungsprozesses profitieren, einige aber in quasi parasitärer Form; sie fallen dann unter das oben erwähnte „Erlaubnisgesetz“. Neben dem zweistufigen Gesetzgebungsprozedere sieht Kant auch die Ausrichtung des Rechts auf bestimmte Rechtszwecke vor, was immer wieder verkannt wird. Wenn das Recht auf bestimte Rechtszwecke ausgerichtet ist, dann ist einsichtig, weshalb die öffentliche Rechtsgesetzgebung nicht wie ein „Automat“ funktioniert, sondern auf den „Input“ seiner Autoren angewiesen ist. (f) Die „Lehre“ der Rechtszwecke versus die „Leere“ der Rechtsuniversalisierung Maus blendet in ihrer Interpretation die Kritik aus,417 die schon gegen die angebliche „Leerheit“ des kategorischen Imperativs vorgebracht wurde: Neben der logischen Konsistenz ist die Verallgemeinerung nach Kant darauf angewiesen, daß man die Materie des Gesetzes auch „wollen kann“ 418; denn ungerecht sind die Gesetze, die „allgemein (...) und gegenseitig zu wollen unmöglich“ 419 sind. Bedingung der Möglichkeit eines sich selbst bestimmenden Willens ist also ein Zweck, ohne wel416 Auf Umwegen über das Verfahren kommt aber auch Maus (1992: 156 ff.) dazu, die argumentative Diskussion der Subjekte in das Verfahren zu integrieren, da die Beteiligten zur „Objektivierung subjektiver Interessen“ gezwungen würden. M. E. kann aber dies nicht von „Teufeln“ in dem von Maus anvisierten Verfahren geschehen, sondern setzt ein Subjekt voraus, das zur moralischen Diskussion fähig und willens ist, um nicht nur mittels Macht zu „überreden“, statt zu „überzeugen“. 417 Vgl. auch die Rezension von Joerden (1993). 418 Vgl. Höffe (1996: 192). 419 Kant, AA 19 R 6741 (Herv. nicht im Original).
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chen ein Wille gar nicht hervorzubringen wäre. Verbindlichkeit in reiner Form kann nach Kant nur ein unbedingter Zweck hervorbringen. Welche Zwecke das sind und wie sie zu bestimmen sind, ist immer noch eines der größten Probleme der Kant-Interpretation. 420 Beachtenswert ist, daß nur bestimmte Zwecke ausgezeichnet sind, als formeller Rahmen der Verallgemeinerung auch Normativität herzustellen. Hiervon ist zu unterscheiden, ob auch die Zwecke, die am Maßstab der „republica noumenona“ nicht auszeichnungswürdig sind, vom Normativitätsgehalt des eingerichteten Rechtsstaates profitieren. Diese würden dann in quasi „parasitärer“ Weise von dem Normativitätsgehalt der reinen Zwecke profitieren. Zwar umgeht auch die zweite Normativitätsstufe eine Auszeichnung der präferenzindividualistischen Schnittmenge der Nutzenmaximierungskalküle individueller Entscheidungsrationalität durch ihre universalistische Ausrichtung. 421 Will man sich jedoch vor formalistischen Mißverständnissen hüten und sich nicht der kritischen Tradition der angeblichen „Leerheit“ 422 des kategorischen Imperativs anschließen, indem man diese Vorwürfe in analoger Weise auf das Positivierungsverfahren überträgt, 423 muß eine Vorstufe in der Form eines Filters oder aber eines das Positivierungsverfahren beschränkenden Kataloges dafür sorgen, daß all diejenigen Normen eliminiert werden, die dieser Forderung „widersprechen“ 424. Daß man ein Gesetz „wollen können“ muß, bedeutet nicht nur die Sorge um die bloße logische Universalisierungsfähigkeit einer Maxime, sondern bedeutet die Sorge um die Konsistenz des je eigenen Wollens unter dem unbedingten Anspruch sittlicher Gesetzgebung. 425 Nun läßt sich bei Kant ein dreifacher Katalog formeller Zwecke finden. Äußerlich sind es die den allgemeinen Willen auszeichnenden Werte der Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit. Diese finden sich in ihrem Spiegelbild der inneren Rechtspflichten wieder: 426 „Honeste vive, Neminem laede und suum cuique tribue, sind die 420 Eine vehemente Verteidigung des kategorischen Imperativs nimmt Ralf Dreier (1981: 302 ff.) vor. 421 Vgl. Kersting (1997: 31 f.). 422 Etwa Hegel, Rph, § 135: „Daß kein Eigentum stattfindet, enthält für sich ebensowenig einen Widerspruch, als daß dieses oder jenes einzelne Volk, Familie usf. nicht existiere oder daß überhaupt keine Menschen leben. Wenn es sonst für sich fest und vorausgesetzt ist, daß Eigentum und Menschenleben sein und respektiert werden soll, dann ist es ein Widerspruch, einen Diebstahl oder einen Mord zu begehen; ein Widerspruch kann sich nur mit etwas ergeben, das ist, mit einem Inhalt, der als festes Prinzip zum voraus zugrunde liegt.“ Vgl. dazu die sehr instruktiven Ausführungen von Wildt (1982: 45 ff.). 423 Vgl. auch Kersting (1990: 67): „Das Rechtsgesetz ist folglich eine auf die Begründung von empirischen Pflichten spezialisierte Version des kategorischen Imperativs.“ Diese Nähe zum kategorischen Imperativ bezieht sich dann aber nicht nur auf das „denken-können“, sondern auch auf das „wollen-können“. 424 Kant, GMS, S. 54 (BA 57): „Man muß wollen können, daß eine Maxime unserer Handlungen ein allgemeines Gesetz werde.“ Vgl. zur Kantischen Verallgemeinerung und dessen Abgrenzung zu anderen Formen der Verallgemeinerung – insbesondere zu dem Ansatz von R. M. Hare – die Ausführungen von Höffe (1989: 227 ff.). 425 Vgl. Bielefeldt (1996: 51). 426 Kant, Naturrecht Feyerabend, AA, 27. 2.2., S. 1336.
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3 Hauptsätze der praktischen Philosophie, die diese nun in drei Theile theilen.“ Das „honeste vive“ verlangt nach strukturellen Freiheitsräumen, d. h. Bedingungen der Möglichkeit, ein sittliches, würdiges Leben zu führen, mithin Einräumung von Willkürfreiheit als Adressat der Rechtsnormen. 427 Das „neminem laede“ schützt diesen Freiheitsraum. 428 Beide Gebote stehen unter den Anforderungen der Gleichheit, da jedem Menschen bzw. der Menschheit in ihm die gleiche Achtung geschuldet wird. Schließlich fordert das „suum cuique tribue“, einen Rechtszustand zu etablieren, der darauf gerichtet ist, staatliche Willkür auszuschließen bei größtmöglicher Einräumung von Handlungsfreiheit, und dadurch jedem das Seine zu gewähren. Dafür wird eine „selbständige“ Ausübung der politischen Rechte vorausgesetzt. Diese wiederum finden einen Ausdruck in den drei Formen von subjektiven Rechten: das Recht auf Freiheit, als Einräumung von Willkürfreiheit in einem Bereich, in dem nur ein jeder selbst über die Verwirklichung des Rechts der Menschheit entscheiden kann; das Recht auf etwas, als Anspruch auf Ausgleich von Verletzungshandlungen, das Kompetenzrecht, als Ausübungsmöglichkeit von Selbständigkeit in rechtlichen Zusammenhängen. Unter letzteres fällt bspw. das Wahlrecht, mit dessen Hilfe Institutionen etabliert werden, die jedem das Seine sichern und zugleich dazu dienen, die Handlungsspielräume zu vergrößern. 429 Damit ist der Rechtszustand auf die Konstitutionsbedingungen des Rechts der Menschheit in der Wirklichkeit festgelegt. Hieraus, in Verbindung mit dem Autonomieprinzip, bezieht nach Kant der öffentliche Rechtszustand seine Normativität. Wie der gesetzgebende Wille des kategorischen Imperativs seine Normativität aus seiner Gerichtetheit auf bestimmte Zwecke, die man „wollen-kann“, bezieht, 430 ist auch das Rechtsgesetz zielbestimmt, wenngleich nur durch formelle Prinzipien.431 Dies sind aber keine eigenen Zwecke des Staates, sondern sie liegen in einer Har427 Ähnlich Lorz (1993: 289) aber mit anderer Begründung: „(...) auf der ‚juridischen‘ Ebene präsentiert sich diese Würde hingegen als reiner Anspruch darauf, den Spielraum zur autonomen Erfüllung der Pflicht gewährleistet zu bekommen, (...).“ 428 Vgl. Kant, Naturrecht Feyerabend, AA, 27, 2.2., S. 1336: „Das Recht bezieht sich aufs Princip neminem laede.“ 429 Vgl. Kant, Naturrecht Feyerabend, AA, 27, 2.2, S. 1339: „Die Ungleichheit des Rechts muß durch ein factum iuridicum entstehen, d.i.: wenn ich zu einem andern ein Recht habe, was er nicht zu mir hat. Wenn ich jemandem etwas leihe, so habe ich ein Recht zu ihm, das er nicht zu mir hat, das ist aber durch ein factum iuridicum.“ 430 Vgl. neben obengenannten Stellen, Wildt (1982: 128 f.): „(...) muß schon für so grundlegende ‚natürliche Pflichten‘ wie die Respektierung von Leben und physischer Freiheit durch die des ‚wollen-könnens‘ ergänzt werden“; und ebd.: „Nun hat sich (...) gezeigt, daß die Zweckformel als Prinzip allgemein möglichen Konsenses eine notwendige Ergänzung für die Gesetzesformel schon für den Bereich des Rechts darstellt.“. Vgl. auch Schwartländer (1968: 173): „Für Kant ist also mit dem Prinzip des Formalismus immer schon mitgegeben der ‚inhaltliche‘ Begriff der ‚Persönlichkeit‘ oder der ‚Menschheit‘ als eines Zweckes an sich. (...) Alle diese Ausführungen zeigen, daß sich für Kant das formale Prinzip wesentlich mit der ‚inhaltlichen‘ Bestimmung verbindet.“ 431 Vgl. Höffe (1996 a: 402): „(...) statt Beliebiges beschließen zu dürfen, ist das Volk auf normative Vorgaben verpflichtet.“
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monisierung der Rechtszwecke der Individuen und können nur über diese vermittelt werden. Kant definiert sogar „Staatssicherheit“ nur als jene Sicherheit, die dem „Besitz des Seinen eines Jeden“ zukommt, 432 also keine über diese Rechtssicherung hinausgehenden Wert. Jedoch ist damit nicht dem Utilitarismus der Weg in das Kantische System geebnet, sondern, wie erwähnt, kommt die positive Rechtsgesetzgebung einer systematischen Übertragung der ethischen Gesetzgebung nahe (siehe dazu oben 433). In einem strikten Sinne ist zwar nur der sich als autonomes Subjekt aufführende Mensch „Zweck an sich selbst“, aber als Verwirklichungsbedingung des Rechts der Menschheit ist auch der (transpersonal vermittelte) Staat „Zweck an sich selbst“ 434 und seine Einheit Ziel der Rechtsverwirklichung. Insofern sind die auf das individuelle Subjekt gerichteten Rechtszwecke in einem eingeschränkten Sinn auch bei Kant Kollektivzwecke. Deshalb ist das Kriterium positiver praktischer Gesetzgebung, fundiert in dem Recht der Menschheit, selbst praktisches Gesetz: „Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat, was als Zweck an sich selbst, ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm allein, der Grund eines möglichen (...) praktischen Gesetzes liegen.“ 435 Der Wert des Staates bekommt damit zwar einen Eigenwert, jedoch immer nur mittelbar auf die Rechtssicherheit des Individuums gerichtet. Die Rechtszwecke sind damit als Legitimitätsvoraussetzung der Definitionsmacht der aktiven Staatsbürger vorgegeben, bedürfen aber gleichzeitig der Rechtsgemeinschaft, um in der phaenomenalen Welt Konkretheit zu gewinnen. 436 Damit sind die Rechtszwecke keine rechtstranszendenten Zwecke, 437 sondern Zwecke, die rechtsinhärent sind. So läßt es sich erklären, daß im Wege der Erlaubnisgesetzgebung Gesetze von dem legitimationsverbürgenden Rechtsgesetzgebungsverfahren profitieren, die nicht das vollständige zweistufige Prozedere durchlaufen haben. Der Kollektivzweck „Rechtssicherheit“ vermittelt auch diesen Rechten Legitimität. Damit wird die Vermutung unterlegt, daß Kant den Staat analog zur Person konstruiert. 438 Er nimmt hier eine strukturelle Übertragung der ethischen Selbstverpflichtung des einzelnen Subjekts auf das zusammengesetzte „Kollektivsubjekt“ vor, analog zu dem Verfahren, nach dem die freiwillige Selbstverpflichtung des einzelnen Subjekts mittels der transzendentalidealistischen Ich-Verdoppelung gelöst wird: Die Normativität des Versprechens wird hergestellt, indem die noumenale als verpflichtende Seite des Menschen die phaenomenale als obligierte Seite bindet; genauso verpflichtet die Gesamtheit in ihrer noumenalen Perspektive die Gesamtheit als phaenomenale Wesen. Der Unterschied liegt aber darin, daß nicht ein Kollektivsubjekt, das noumenale, ein anderes Kollektivsubjekt, das phaenomenale bindet, 432 433 434 435 436 437 438
Kant, MS-RL, S. 487 (B 170). Oben, 112 ff. Kant, Gemeinspruch, S. 144 (A 233). Kant, GMS, S. 59 (BA 64). Vgl. auch Brugger (1988: 115). Vgl. Kersting (1990: 73): „Es gibt keinen rechtstranszendenten Zweck.“ Dazu oben, 112 ff.
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sondern daß diese beiden Gesamtheiten durch die einzelnen Menschen hindurch als Autoren der positiven Gesetzgebung vermittelt und zusammengesetzt werden; es bedarf einer Vermittlung durch das einzelne Subjekt. Gerade deshalb kann nach Kant – entgegen der Interpretation von Maus – die Forderung nach der „Selbständigkeit“ nicht aufgegeben werden. Sowohl in der ethischen wie auch in der positiv-rechtlichen Gesetzgebung ist Zwang, als verpflichtender Zwang auf die konstitutiven Elemente der moralischen Gesetzgebung, nur als Selbstzwang möglich. Das heißt, die positive Gesetzgebung ähnelt damit strukturell mehr der ethischen als der naturrechtlichen Gesetzgebung. Beide sind angewiesen auf eine Willensbestimmung durch den empirischen Menschen, der in der Rechtsausübung nicht durch eine äußere Verbindlichkeit in seiner Rechtsausübung über die Grenzen des Rechts hinaus festgelegt werden kann. Anders stellt sich das Naturrecht dar, das in seiner Grundkonzeption vor allen erworbenen Rechten so angelegt ist, daß die Freiheitsräume analytisch „mit mathematischer Genauigkeit“ 439 ausgewiesen werden, wobei ein jeder das gleiche Recht bekommt 440 (dazu bereits oben). Solange der Besitz ein rein empirischer und nicht ein intelligibler ist, lassen sich die Unrechtshandlungen als analytische Rechtssätze ausweisen, weil eine Verletzung des inneren Meinen, zu dem auch der empirische Besitz gehört, „einfach bereits deshalb Unrecht ist, weil ich in meinem angeborenen Recht, meiner Freiheit, lädiert werde und dies ‚im geraden Widerspruch‘ zum Axiom des Rechts steht.“ 441 Erst die synthetischen Rechtssätze, 442 durch die intelligibler Besitz möglich wird, verlangen einen allgemeinen Willen und zeigen die Notwendigkeit eines öffentlichen Rechtszustandes auf: einen apriorischen Willen, der durch die Vertragsbildung die Konstitutionsprinzipien positiver Gesetzgebung ausweist, und einen empirischen allgemeinen Willen, durch den dann die Rechtsidee Wirklichkeit erlangt. Die hypothetische Universalisierbarkeit allein würde – entgegen der oben geäußerten Ansicht von Maus – das Prinzip der Selbstbestimmung außer Kraft setzen, von dem her die Universalisierung erst ihre Normativität bezieht. Die Universalisierbarkeit ist lediglich ein Hilfsmittel, um die Autonomie des Willens zu erkennen; beide müssen miteinander verbunden werden, denn nach Kant gilt: „Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten“ und gründet allein ihre Verbindlichkeit. 443 Die Universalisierbarkeit allein würde Autonomie demgegenüber als einen abstrakten Formalismus auslegen, der verkennen würde, daß sich in der Universalisierung – dem rechtlichen ErkenntKant, MS-RL, S. 340 (A 37, 38, B 37). Vgl. auch Kant, Naturrecht Feyerabend, AA, 27, 2.2, S.1338: „Alle sind einander gleich, nicht am Verstande, Kräften, sondern am Recht.“ 441 Vgl. König (1996 b: 191), mit Zitat von Kant, MS-RL, S. 358 (AB 63) und Verweis auf Kant, MS-RL, S. 340 (AB 37): „Das Rechte (rectum) wird, als das Gerade, teils dem Krummen, teils dem Schiefen entgegen gesetzt.“ 442 Hierzu ausführlich König (1996 b: 191 ff.). 443 Kant, KpV, S. 144 (A 59). 439 440
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nisprinzip empirischer Menschen – die sittliche Persönlichkeit in der Wirklichkeit entfaltet, in der sich das moderne Freiheitsbewußtsein zum Ausdruck bringt. Der abstrakte Formalismus mit dem Anspruch auf Wahrheit würde nur ein auf anderen Prämissen basierendes objektives Denken propagieren, das letztlich in der Tradition des naturrechtlichen Ordogedankens steht. 444
(g) Kollektive Zwecke als Möglichkeit, das moralische „Reich der Zwecke“ in das Recht zu transformieren Die oben aufgezeigte Strukturverwandtschaft der positiv-rechtlichen und der ethischen Gesetzgebung zeigt sich auch darin, daß eine inhaltliche Abgrenzung zwischen positivem Recht und Ethik – anders als gegenüber dem Naturrecht – schwer fällt. Das positive Recht übersteigt den Bereich der vernunftrechtlichen Grenzen. Sind die naturrechtlichen Pflichten eindeutig negativer Art 445 und stellen damit Nichtinterventionspflichten dar, die der Restitution vorhergehender Unrechtshandlungen dienen, ist das Wohlergehen der Eigenverantwortung der Subjekte überlassen, denn die eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit sind den Tugendpflichten reserviert. 446 Im Gegensatz dazu erwächst dem Staat eine Kompetenz durch die über das natürliche Privatrecht hinausweisende Aufgabenzuteilung, zu seiner eigenen Erhaltung beizutragen, und dafür bspw. Wohlfahrtsleistungen, also positive Leistungen, zu gewähren: „Der allgemeine Volkswille hat sich nämlich zu einer Gesellschaft vereinigt, welche sich immerwährend erhalten soll, und zu dem Ende sich der inneren Staatsgewalt unterworfen, um die Glieder dieser Gesellschaft, die es selbst nicht vermögen, zu erhalten.“ 447 Wäre also beispielsweise eine Steuerpflicht, die dazu dient, „zur Erhaltung ihrer Mitbürger“ 448 beizutragen, eine mit dem natürlichen Privatrecht nicht zu vereinbarende „Moralisierung des Rechts“, so bezieht das positive Recht aus dem Kompetenztitel der Erhaltung und Verwirklichung des Rechts der Menschheit, dem die innere Rechtspflicht des „suum cuique tribue“ entspricht, die legitime Möglichkeit, Rechtspflichten zu normieren, die inhaltlich ebenso als ethische Pflichten ausweisbar wären. Dies läßt sich bspw. an der moralischen Verpflichtung der Reichen zeigen, für bedürftige Arme Geld zu spenden. 449 Diese konkretisiert die moralische Maxime der Vgl. Schwartländer (1978: 48) und Heintel (1978: 19 ff.). Vgl. Kant, Naturrecht Feyerabend, AA, 27, 2.2., S. 1338: „Meine Rechte gegen andre sind negativ; die nemlich original sind, das sind jure connata“; vgl. auch ebd., S. 1339: „Jure connata sind ante factum juridicum. Die sind alle negativ, sind keine Rechte, den anderen zu zwingen, aber ihm zu widerstehen, wenn sie ihm Unrecht thun.“ 446 Kant, MS-TL, S. 515 ff. (A 13 ff.). 447 Kant, MS-RL, S. 446 (A 186 f., B 216 f.). 448 Kant, MS-RL, S. 446 (A 187, B 217). 449 Vgl. Wildt (1997: 162). 444 445
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Wohltätigkeit, die laut Kant zu haben „jedes Menschen Pflicht“ 450 ist. Wohlfahrtspflichten als rechtliche Pflichten auszuweisen, wäre jedoch mit der axiomatischen Bestimmung des Freiheitsraumes durch das angeborene Freiheitsrecht nicht vereinbar: Dem Naturrechtsubjekt ist weder ein Eingriff in sein Vermögen zugunsten anderer zuzumuten, noch ist die Durchsetzung von bestimmten Arten der Bedürfnisbefriedigung dem Wohlfahrtsadressaten anzusinnen. Die kollektiven Zielsetzungen des positiven Rechts, die nicht mit der rein negativen Funktion des Vernunftrechts übereinstimmen, werden im Staate so komplex, daß das Menschenrecht eine Ausformung bekommt, die sich vom Naturrecht erheblich unterscheidet. Zwar geht es nicht darum, und insofern unterscheidet sich die positive Gesetzgebung von der Ethik für „fremde Glückseligkeit“ 451, das „Volk (...) wider seinen willen glücklich zu machen, sondern nur zu machen, daß es als gemeines Wesen existiere“ 452. Positives Recht erschöpft sich damit nicht in der Regelung interpersonaler Konflikte, sondern dient auch als Organisationsmittel für „kollektive Zielsetzungen“. Dies ist kein Verstoß gegen die Rechtsidee, da der Rechtszustand als „Zweck an sich“, formeller Zweck positiv-rechtlicher verbindlicher Regelungen sein kann: „Wenn die oberste Macht Gesetze gibt, die zunächst auf die Glückseligkeit (die Wohlhabenheit der Bürger, die Bevölkerung u. dergl.) gerichtet sind: so geschieht dieses nicht als Zweck der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung, sondern bloß als Mittel, den rechtlichen Zustand (...) zu sichern.“ 453 Das heißt, auch bei einer inhaltlichen Übereinstimmung von Rechtspflichten und Tugendpflichten ist das Recht nicht auf die Verrechtlichung von Tugendpflichten gerichtet: „Weh aber dem Gesetzgeber, der eine auf ethische Zwecke gerichtete Verfassung durch Zwang bewirken wollte! Denn er würde dadurch nicht allein gerade das Gegenteil der ethischen bewirken, sondern auch seine politische untergraben und unsicher machen.“ 454 Glückseligkeit als höchst subjektive Intention wäre gar keiner Universalisierung fähig, 455 weil darüber „die Menschen gar verschieden denken“ 456. Aber um den Rechtszustand überhaupt aufrechtzuerhalten und damit seine „Servicefunktion“457 für den einzelnen wahrnehmen zu können, scheint es zunächst so, als ob der Staat eigene Rechtszwecke verfolgen würde, anstatt lediglich für eine Kompatibilisierung der Freiheitssphären zu sorgen und Mittel für eine geeignete Rechtsdurchsetzung Kant, MS-TL, S. 589 (A 124). Kant, MS-TL, S. 524 (A 27). 452 Kant, Gemeinspruch, S. 155 (A 253). 453 Kant, Gemeinspruch, S. 155 (A 252 f.). 454 Kant, Religion, S. 754 (A 124; B 132). 455 Kant, Gemeinspruch, S. 154 (A 252): „In Ansehung der ersteren (der Glückseligkeit) kann gar kein allgemein gültiger Grundsatz für Gesetze gegeben werden. Denn, so wohl die Zeitumstände, als auch der sehr einander widerstreitende und dabei immer wieder veränderliche Wahn, worin jemand seine Glückseligkeit setzt (worin er sie aber setzen soll, kann ihm niemand vorschreiben), macht alle feste Grundsätze unmöglich, und zum Prinzip der Gesetzgebung für sich allein untauglich.“ 456 Kant, Gemeinspruch, S. 145 (A 234). 457 Maus (1992: 66). 450 451
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des einzelnen Subjekts zur Verfügung zu stellen; in Wirklichkeit ist es aber nur ein Mittel des Rechts der Menschheit, welches auf die sittliche Freiheit des Menschen bezogen ist. 458 Somit gibt nach Kant letztlich die „Freiheit“ und nicht die „Glückseligkeit“ den Kompetenztitel für eine auf Wohlfahrt gerichtete Gesetzgebung ab. Kant bleibt also seinem Anliegen treu, das er bereits in der Kritik der reinen Vernunft entworfen hat: „Eine Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, daß jedes Freiheit mit der andern ihrer zusammen bestehen kann (nicht von der größten Glückseligkeit, denn diese wird schon von selbst folgen), ist doch wenigstens eine notwendige Idee, die man nicht bloß im ersten Entwurfe einer Staatsverfassung, sondern auch bei allen Gesetzen zum Grunde legen muß“, und obgleich eine vollkommene Verfassung niemals zustande kommen möge, so sei „die Idee doch ganz richtig, welche dieses Maximum zum Urbilde aufstellt, um nach demselben die gesetzliche Verfassung der Menschen der möglich größten Vollkommenheit immer näher zu bringen“ 459. Erkennt man somit an, daß das Recht sich auch mit Zwecken befaßt, und zwar mit transpersonal vermittelten Kollektivzwecken, während die individuellen Zwecksetzungen der Tugendlehre überlassen werden, dann muß Kants These relativiert werden, die Rechtslehre beschäftige sich im Unterschied zur Tugendlehre nicht mit Zwecken, sondern nur mit Pflichten. 460 Folglich müßte sich für die Rechtslehre wie für die Tugendlehre ein „Reich der Zwecke“ vorstellen lassen, welches nach Kant gekennzeichnet ist durch „eine systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche objektive Gesetze, d. i. ein Reich, welches, weil diese Gesetze eben die Beziehung dieser Wesen aufeinander als Zwecke und Mittel zur Absicht haben, ein Reich der Zwecke (freilich nur ein Ideal) heißen kann“ 461. Dieses Reich der Zwecke in der Rechtslehre dient dem positiven Recht, wie aus der oben zitierten Stelle hervorgeht, als „Urbild“. Welchen Status dieses „Urbild“ nun für das positive Recht einnimmt, ist strittig, je nach dem, wie stark man dieses Urbild im Sinne der Ideenlehre Platons zeichnet. Indem dieser Streitstand im nächsten Abschnitt an der Frage aufgezeigt werden soll, ob die rechtlichen Prinzipien einen konstitutiven oder einen regulativen Status einnehmen, wird deutlich, wo die Weichen der Kant-Interpretationen gestellt werden [dazu unten b)]. Doch zuvor soll kurz illustriert werden, inwiefern der Inhalt des Naturrechts vom positivem Recht abweichen kann [(h)]. Nur scheinbar ergibt sich daraus eine Funktionalisierung der Person [(i)].
458 Vgl. Bielefeldt (1988: 104): „Die Rechtsordnung, die die sittliche Freiheit des Menschen niemals direkt zum Gegenstand haben darf, soll in dieser gleichwohl ihren normativen Grund finden.“ 459 Kant, KrV, S. 323 f. (A 316 f.; B 373 f.), Herv, nicht im Original. 460 Kant, MS-TL, S. 508 ff. (A 1 ff.). Vgl. dazu Ralf Dreier (1986: 18); s. a. Brugger (1988: 109) und Wildt (1997: 165 ff.). 461 Kant, GMS, S. 66 (BA 75).
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(h) Die Selbsterhaltung des Staates als Kompetenztitel zur Begründung von Rechtspflichten – Soziale Rechte Es wurde bereits kurz das Problem gestreift, daß das positive Recht Rechtspflichten ausweisen könne, die im Naturrecht nicht begründbar wären. Es gilt nun zu klären, was dies für den Einzelnen bedeutet. Ermöglicht diese Konstruktion etwa eine Funktionalisierung des Individuums für das Recht, die oben doch für das Naturrecht ausdrücklich abgelehnt worden ist? Dies soll im folgenden kurz am Beispiel der „sozialen Rechte“ aufgezeigt werden. Soziale Rechte fallen in die Gruppe der Leistungsrechte gegen den Staat, das sind Rechte auf positive Handlungen des Staates, wie bspw. das Recht auf Schutz. Sie sind also dem Begriffe der „Rechte auf etwas“ zuzuordnen. Soziale Rechte können durch verschiedene Argumentationsgänge begründet werden. Sie können etwa helfen, faktische Ungleichheiten zu beseitigen, die eine gleichartige rechtliche Inanspruchnahme der anderen subjektiven Rechte verhindern. Ein anderes Ziel kann aber sein, die Privatautonomie und/oder die politische Autonomie des einzelnen herzustellen. Dies kann seinen Grund in der Würde des einzelnen Individuum haben, kann aber auch überindividuell begründet werden, wenn bspw. die Individuen durch die sozialen Rechte in die Lage versetzt werden sollen, an der politischen Mitbestimmung teilzuhaben, damit aus demokratischen Gesichtspunkten eine möglichst große Universalisierung der Interessen betrieben werden kann, um die Sittlichkeit des Rechts für das Gemeinwesen zu verwirklichen. 462 Deshalb ist die Aussage zu indifferent, Kant plädiere für einen „freiheitsfunktionalen Sozialstaat“463. Darunter könnte man sowohl eine Funktion für die individuelle, als auch für die staatliche Freiheit subsumieren. Im folgenden sind daher die normativen Prämissen der Autonomie des Subjektes im Recht herauszuarbeiten, um eine differenzierende Lösung anbieten zu können. Nach Kant sollen soziale Gewährleistungen bestimmte menschliche Bedürfnisse befriedigen, die zur Selbsterhaltung des Menschen notwendig sind.464 Die Selbsterhaltung ist nach Kant zunächst Pflicht gegen sich selbst aus dem Recht der Menschheit in einem selbst. 465 Soweit die Selbsterhaltung nur einen selbst berührt, fällt die Selbsterhaltung des einzelnen in den Bereich, den das Recht auf Freiheit absteckt. 462 Vgl. aus neuerer staatstheoretischer Sichtweise U. K. Preuß (1990: 125 f.), der sozialstaatliche Leistungsrechte als eine notwendige Bedingung für politische Selbstbestimmung ansieht, an der „die demokratische Gesellschaft insgesamt“ interessiert ist, damit „die durch die Bürger gefällten Entscheidungen eine – wie immer definierte – Qualität haben“. 463 Kersting (1993: 64) unter Berufung auf Höffe (1981: 255), der diese Aussage aber nicht als genuine Kant-Interpretation ausführt, sondern für sie eigene normative Fortentwicklung Kantischen Gedankenguts plädiert. 464 Vgl. Kant, MS-RL, S. 446 (A 187, B 217) Der Staat hat „die Mittel derjenigen, die es, selbst den notwendigsten Naturbedürfnissen nach, nicht sind, herbei zu schaffen“. 465 Argumentum e contrario: Kant, MS-TL, S. 555 (A 73): „Das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zernichten, ist eben so viel, als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach, so viel an ihm ist, aus der Welt vertilgen.“
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Deshalb besteht nach vernunftrechtlichen Grundsätzen grundsätzlich auch die rechtliche Möglichkeit, sich nicht selbst zu erhalten und somit Selbstmord zu verüben. Insoweit ist die Pflicht des Menschen, für die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse zu sorgen, nur eine ethische und keine äußere rechtliche Pflicht und wird deshalb von Kant in der Tugendlehre behandelt. 466 Wenn aber durch die mangelnde Selbsterhaltung das Recht der Menschheit aller Menschen betroffen ist, das ist die Erhaltung des Rechtszustandes, bekommt der Staat einen Kompetenztitel, Gesetze zu geben, „die zunächst auf Glückseligkeit (die Wohlhabenheit) der Bürger (...) gerichtet sind“ 467, inhaltlich aber darauf gerichtet sind, die zu dem „Dasein nötige Vorsorge“ sicherzustellen, 468 wenn die einzelnen dazu selbst nicht in der Lage sind. Der Freiheit wird aber „mächtiger Abbruch getan“, um diese „mütterliche Vorsorge des Staates für einzelne Glieder“ herbeizuführen, „indes diese doch auch durch die Besorgnis äußerer Gefahr gerechtfertigt wird“ 469. Der Gesetzgebungskompetenztitel für den Staat ist demnach die Sicherung des „rechtlichen Zustandes“ 470, der die Freiheit aller Bürger bedingt. 471 Wohlfahrtsleistungen sind in der Freiheit des Gemeinwesens, also in der gemeinsamen Freiheit aller, begründet, wenngleich sie ihren absoluten Grund in der Freiheit der einzelnen hat. Damit wird die Erhaltung des einzelnen zum Mittel für den Zweck der Erhaltung des Staates. Die prinzipielle Bedeutung der Rechtsordnung für die Freiheit des einzelnen muß also relativiert werden, denn erst im Rahmen der Rechtsordnung können Menschenrechte überhaupt gewährleistet werden. 472 Bei der Anwendung der Zweck-Mittel-Formel muß also zwischen „Nah-“ und „Fernzweck“ differenziert werden. „Salus civitatis (nicht civium) suprema lex esto bedeutet nicht: Das Sinnenwohl des gemeinen Wesens (die Glückseligkeit der Bürger) solle zum obersten Prinzip der Staatsverfassung dienen; denn dieses Wohlergehen, was ein jeder 466 Vgl. Kant, MS-TL, S. 553 (A 70): „Die, wenn gleich nicht vornehmste, doch erste Pflicht des Menschen gegen sich selbst, in der Qualität seiner Tierheit, ist die Selbsterhaltung, seiner animalischen Natur.“ 467 Kant, Gemeinspruch, S. 155 (A 253 f.). 468 Zu dem Begriff der „Vorsorge“, vgl. auch: Kant, MS-RL, S. 446 (A 187, B 217): „weil ihre Existenz zugleich als Akt der Unterwerfung unter den Schutz und die zu ihrem Dasein nötige Vorsorge des gemeinen Wesens ist.“ Richter (1995: 347) versucht, von diesem Zitat ausgehend, in die Rechtslehre Kants ein „Recht auf Daseinsvorsorge“ hineinzulesen. 469 Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, S. 99 (A 23). 470 Kant, Gemeinspruch, S. 155 (A 253). 471 Deshalb soll hier auch nicht weiter der Ansatz von Schmidt-Klügmann (1985: 391, 400 ff.) diskutiert werden, der den Versuch unternimmt, „im privaten Rechtsverhältnis eine Verpflichtung zur Gewährung sozialer Leistungen aufgrund der Bedürftigkeit des anderen“ (397) zu begründen, dieses aber schließlich selbst ablehnt (400 f.); sehr kritisch dazu Wildt (1997: 173 Fn. 27). Dieselbe Argumentation klingt auch bei Höffe (1996: 214) durch, wird aber auch von ihm verworfen: „Ein weiteres Argument Kants zugunsten einer sozialstaatlichen Solidargemeinschaft könnte man aus der Pflicht ableiten, die Mitmenschen nicht zu erniedrigen, weshalb man die ‚Wohlthätigkeit entweder als bloße Schuldigkeit oder geringen Liebesdienst‘ vorstellen soll (...). Doch handelt es sich hier um eine Tugend- und keine Rechtspflicht.“ 472 Vgl. Heintel (1981: 242).
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nach seiner Privatneigung, so oder anders, sich vormalt, taugt gar nicht zu irgend einem objektiven Prinzip, als welches Allgemeinheit fordert; sondern jene Sentenz sagt nichts weiter, als: Das Verstandeswohl, die Erhaltung der einmal bestehenden Staatsverfassung ist das höchste Gesetz 473 einer bürgerlichen Gesellschaft überhaupt; denn diese besteht nur durch jene.“ 474 Wohlfahrtleistungen 475 sind an die Bedingung des kollektiven Selbsterhalts – als Nahzweck – geknüpft, nicht an die individuelle Freiheitssicherung. Danach stellt sich hier unweigerlich ein Problem ein: Die Institutionalisierung staatlicher Leistungen in der normativ ausgezeichneten Form sozialer Rechte wäre unmöglich. Nach dem Ergebnis der bisherigen Untersuchungen finden subjektive Rechte ihre normative Begründung in der Prämisse, daß sie dem Individuum gewährt werden, weil nur es selbst über deren Ausfüllung bestimmen kann (dazu bereits oben). Würden die Rechtsadressaten aber ggf. auf die Inanspruchnahme sozialer Leistungen verzichten, wäre der Rechtszustand, zu dem man ein Recht, zu zwingen, jedem gegenüber hat, gefährdet. Von daher entspricht der Leistungsgewährung, wenn sie unter der Prämisse der notwendigen Staatserhaltung gewährt wird, eher eine Pflicht zur Annahme der Leistung als ein Recht, über diese Leistung zu disponieren. 476 Das Recht auf etwas würde also durch eine äußerliche Verhaltensnorm im Sinne einer Rechtspflicht ersetzt. Das heißt, an ein Recht auf soziale Leistungen wäre eine Pflicht zur Annahme der Leistung geknüpft. Damit wären die Wohlfahrtspflichten aber überindividuell begründet. Dem „Heil des Staates“ 477 kommt zwar keine Dignität zu, die über den Rechtsstaat hinausgeht. 478 Sie ermöglicht aber individuelle Freiheitseinschränkungen, so daß sozialstaatliche Umverteilungen prinzipiell stattfinden kann. 479 Hierin zeigt sich also das Novum des positiven Rechtszustandes: Es können Rechtspflichten institutionalisiert werden, denen keine Überschreitung des eigenen „Rechtskreises“ vorausgeht. Dies wären die bestimmenden Merkmale des Rechts auf etwas im NaturDiese Hervorhebung von M. S., sonst schon im Original. Kant, Anthropologie, S. 686 f. (B 329, A 331). 475 Zu diesem Begriff vgl. auch die Ausführungen von Hruschka (1987: 950) und von Habermas (1992: 105), der zwischen funktionalen und normativen Aspekten sozialer Rechte unterscheidet. 476 So im Ergebnis auch Wildt (1997: 173): Kant gab zwar dem Staat das Recht, „die Armen zu unterstützen, aber (nahm) keine Rechtspflicht des Staates dazu (an), die ihrerseits in Rechten der Armen auf Unterstützung begründet wäre“; vgl. auch Kant, MS-RL, S. 446 (A 187, B 217): „Von Staatswegen ist also die Regierung berechtigt (Herv. nicht im Original.), (...)“; vgl. auch Finnis (1987: 452 ff.). 477 Kant, MS-RL, S. 437 (A 172, B 202). 478 Vgl. Höffe (1996: 214): „Der Sozial- und Wohlfahrtsstaat darf (...) nirgendwo zu lasten des Rechtsstaats entwickelt werden.“ 479 Vgl. Wildt (1997: 172), Höffe (1996: 214) und Kant, MS-RL, S.446 (A 187, B 217): „Von Staatswegen ist also die Regierung berechtigt, die Vermögenden zu nötigen, die Mittel der Erhaltung derjenigen, die es, selbst den notwendigsten Naturbedürfnissen nach, nicht sind, herbei zu schaffen.“ 473 474
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rechtszustand (dazu oben). Rechte können im positiven Rechtszustand nicht nur deshalb gewährt werden, weil niemand anderes über die Durchsetzung der Rechtspflichten, die das objektive Rechtsgesetz statuiert, entscheiden kann, sondern auch aus funktionellen Überlegungen heraus. Aus dem gleichen Anlaß können sie auch als Verhaltensnormen im Sinne von durchsetzbaren Rechtspflichten normiert werden. Im Naturrecht wäre mangels eines überindividuellen Rechtszwecks dergleichen nicht möglich. Aber wie schon bei der Darlegung der Zweck-Mittel-Formel gezeigt wurde, ist dies nur ein scheinbarer überindividueller Zweck, der letztlich in dem Selbstzweck des Individuums seinen Grund hat. Bei Kant behält jedes Individuum jederzeit seinen Wert als Zweck an sich selbst. Deutlich wird diese Wertschätzung in Konfrontation mit der gänzlich verschiedenen Argumentation Carl Schmitts: „Die Kantische Forderung, daß der Mensch immer selbst ein Zweck sei und nie zum Mittel werden dürfe, gilt daher nur, solange die Voraussetzung der Autonomie erfüllt ist, d. h. nur für den zum reinen Vernunftwesen gewordenen Menschen, nicht für ein Exemplar irgendeiner biologischen Gattung.“ 480 Hier geht der empirische Mensch unter der abstrakten Menschheit unter, wird zur Funktion des Rechts. Dies ist eine Gefahr, die in Form des Kompetenztitels der Selbsterhaltung des Staates zu bestehen scheint. Bei Kant ist die Argumentation jedoch differenzierter und läßt sich nur verstehen, wenn man das Rechtssubjekt in die verschiedenen Rollen seiner Rechts-Stati aufteilt.481 Festzuhalten ist: An den sozialen Rechten konnte gezeigt werden, daß nach Kant im Zustand öffentlicher Gesetzgebung Rechte möglich sind, denen eine äußerliche Rechtspflicht in ein und derselben Person korrespondiert. Diese Rechte bekommen damit für die Gemeinschaft einen funktionalen Status und werden nicht deshalb gewährt, weil sie nur den Rechtsträger selbst berühren, sondern allein aus funktionellen Üerlegungen heraus.
(i) Die Aufteilung der Autonomie? Damit zeichnet sich in der Kantischen Rechtstheorie eine Trennung von Staat und Gesellschaft ab. Um die bekannten Formulierungen von Georg Jellinek 482 zu übernehmen: Der öffentliche Status unterscheidet sich von dem privaten Status des Rechtssubjekts, dem Status negativus. Nach den eben gewonnenen Einsichten könnte man nun zu dem Ergebnis kommen, daß der öffentliche Status, um hier den Status positivus und den Status activus zusammenzuziehen, somit nach Kant funktional für den Status negativus ist. Schmitt (1914: 89). Vgl. ausführlich zu der Anwendung der Zweck-/Mittel-Formel im Recht, Kühl (1990: 78). 482 Jellinek (1963: 94 ff.), vgl. dazu die kritische, sehr instruktive Darstellung von Alexy (1986: 229 ff.). 480 481
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Allgemeinverträgliche Freiheit ist die Sphäre der privaten Zwecksetzung und Zweckrealisierung: „Niemand kann mich zwingen, auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein“483. Da die Nichtausdehnung des aktiven Staatsbürgerstatus nach Kant keine Minderung des „Menschseins“ bedeutet, 484 sondern der aktive Staatsbürgerstatus funktional darauf gerichtet ist, die Sittlichkeit der positiven Gesetze zu gewährleisten, weshalb ja gerade die Hürde der „Selbständigkeit“ rechtlich normiert wird, liegt darin keine Mißachtung des Rechts der Menschheit in jeder Person. Sondern dadurch erhält „der Staat (civitas) seine Autonomie“ 485, wozu er eine Verbindung mit dem Prinzip der Gewaltenteilung eingeht. Der aktive Staatsbürgerstatus ist demnach nicht konstitutiv für die Autonomie des einzelnen Bürgers; er knüpft nur an die „Selbständigkeit“ an, die der Bürger in privatrechtlichen Rechtsverhältnissen gewonnen hat, so daß dieser Status für den einzelnen lediglich deklaratorisch in bezug auf seine eigene Autonomie ist, während er für die Autonomie des Staates konstitutiv ist, weil dieser sich nur so „nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält“ 486. Wie schon oben erwähnt wurde, sieht Kant das entscheidende Merkmal der Selbständigkeit darin, „daß man niemanden als dem gemeinen Wesen im eigentlichen Sinne des Wortes diene“ 487. Dies läuft auf einen funktionalen Zusammenhang des öffentlichen und des privaten Status hinaus. Um hier einige Formulierungen von Jürgen Habermas aufzunehmen, schneidet sich Kant mit der funktionalen Deutung den Argumentationsgang selbst ab, die Gefahr der „sozialstaatlichen Entmündigung“ 488, die in dem Sozialstaatsprinzip je nach Begründung und Ausführung prinzipiell angelegt ist, durch eine „Verfahrensteilhabe als Mitwirkung am Prozeß der Rechtsverwirklichung“ 489 zu umgehen, indem der positive Rechtsstatus in einen normativen Zusammenhang mit dem aktiven Staatsbürgerstatus gebracht wird. Dann könnten die potentiellen Adressaten als Autoren des Rechts selbst über die Wohlfahrtsleistungen entscheiden, mithin wären private und öffentliche Autonomie gleichursprünglich, 490 so daß hierdurch der aufgezeigte Wohlfahrtspaternalismus umgangen werden könnte. Hier scheint der Schlüssel zu Kants Sozialstaatsverständnis zu liegen: Wenn man bei Kant private Autonomie (als Rechtsadressat) und öffentliche Autonomie (als Rechtsautor) im Rechtssubjekt als normativ aufeinander bezogen interpretieren will, so daß beide Rollen in einem notwendigen Bedingungsverhältnis stehen, welKant, Gemeinspruch, S. 145 (A 235). Vgl. Kant, Die Nichtausdehnung des aktiven Staatsbürgerstatus, „ist gleichwohl keineswegs der Freiheit und Gleichheit derselben als Menschen, die zusammen ein Volk ausmachen, entgegen“. 485 Kant, MS-RL, S. 437 (A 172, B 202). Dies ist Anlaß, etwa von Dworkin (1990: 14), das der Staat in einem solchen Modell eine „geisterhafte Entität“ sei. 486 Kant, MS-RL, S. 437 (A 172, B 202). 487 Kant, Gemeinspruch, S. 151 (A 246 f.); Herv. nicht im Original. 488 Vgl. Habermas (1992: 495). 489 Habermas (1992: 495 f.). 490 So Habermas (1992) und (1996: 293). 483 484
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ches nur durch Zuweisung subjektiver Rechtspositionen aufrecht erhalten werden kann, dann müßte konsequenterweise eine normative Forderung bei Kant dahingehend vorliegen, daß allen Menschen die Möglichkeit zukommen soll, Autonomie zu erreichen. Recht wäre dann dazu da, Selbstbestimmung zu ermöglichen, und soziale Rechte wären gegebenenfalls notwendige Bedingungen zur Ermöglichung eben dieser Form von Selbstbestimmung. In diese Richtung weisen die Interpretationen, die aus dem Merkmal der „Selbständigkeit“ soziale Grundrechte herleiten wollen. 491 Diese moralteleologische Ausrichtung wurde aber oben für das Naturrechtsverhältnis verneint. Die Rechtsbegründung geht nicht dahin, individuelle Selbstbestimmung zu ermöglichen, sondern Fremdbestimmung allgemeinverträglich zu verhindern, 492 etwa das Wegnehmen eines Gegenstandes aus meinen Händen gegen meinen Willen, denn der unerlaubte Zwang ist mangels Verallgemeinerungsfähigkeit „sittlich-unmöglich“ 493. Aktive Staatsbürgerschaft ist nur funktional für die Autonomie des Staates, zu der auch die Gesetzgebung zählt, so daß sie mehr einer Kompetenz denn einem subjektiven Recht vergleichbar ist. Sie zeichnet sich durch ihre „Fremdnützigkeit“ aus, ist von ihrem normativen Auftrag her unverzichtbar und indisponibel, da der aktive Staatsbürger als Wähler Teil der Gesetzgebung ist und somit über seine Rolle als Privatrechtsadressat hinaus in die Sphäre der staatlichen Institutionen hineinragt. Die Autonomie, die hier gewonnen wird, ist nicht die Autonomie des einzelnen Rechtsautors, sondern die übergreifende Autonomie des Gemeinwesens. Diese ist aber nicht konstitutiv für die Autonomie des Einzelnen, denn anders als bei Rousseau geht individuelle Autonomie nicht in der Autonomie des Gemeinwesens auf, da individueller Wille und Gemeinwille nicht zwingend übereinstimmen, würde hierdurch doch die spezifische Unterscheidung zwischen Legalität und Moralität eingeebnet; sonst wäre auch die Ersetzung von Einstimmigkeitsdurch Mehrheitsentscheidungen überflüssig (s. o.). Handlungen gemäß dem positiven Recht sind legal, vermitteln aber nicht kategorisch die Autonomie moralischen Handelns, denn dies ist unabdingbar auf eine bestimmte Motivstruktur festgelegt. Dadurch entkoppelt sich die Autonomie des einzelnen und die Autonomie des Staates. 494 Der öffentliche Status als Autor des Rechts ist aber gerichtet auf die Autono491 Vgl. etwa Schild (1981 b: 152): Von daher eröffnet das Prinzip der ‚Selbständigkeit‘ „die Möglichkeit, das Problem des Sozialstaatsprinzips und der sozialen Menschen- und Grundrechte zu thematisieren.“ Und zwar „nicht über die Gleichheit (etwa als Chancengleichheit) zu begründen, sondern auf ein drittes, neben Freiheit und Gleichheit stehendes Prinzip zu stützen“ (ebd., S. 154); vgl. auch Brugger (1980: 296 f.): ‚Selbständigkeit‘ eröffnet die Möglichkeit, „das Problem des Sozialstaatsprinzips und der sozialen Menschenrechte im Rahmen transzendentaler Argumentation (...) zu thematisieren“; vgl. auch Schwartländer (1978: 89 ff., 115 f.) und (1981: 211 ff.)., wobei in diesem Ansätzen aber unklar bleibt, inwieweit sie noch als ‚KantInterpretationen‘ auftreten oder aber eine Fortentwicklung Kantischen Gedankenguts vornehmen. Vgl. auch Schild (1981 a: 264). 492 Vgl. Schild (1978 a: 44). 493 Kant, KpV, S. 189 (A 123). 494 Vgl. aus heutiger Sicht Isensee (1981: 89): „Die demokratische Selbstbestimmung des Volkes ist von der Selbstbestimmung des Individuums zu unterscheiden.“
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mie des Gemeinwesens. 495 Der einzelne Bürger gewinnt hierbei nicht seine eigene Autonomie, sondern ist integrales Element des Staatsrechts und gewinnt durch gerechte Gesetze nur seine rechtliche Freiheit; das ist die Möglichkeit nach freier Willkür als Privatrechtssubjekt handeln zu können. Der private Rechtsstatus ist nicht dazu da, private Autonomie herzustellen, sondern knüpft an die moralische Fähigkeit an und schützt diese, wenn und soweit Einschränkungen nach praktischer Vernunft nicht rechtfertigungsfähig sind. Die moralische Fähigkeit ist konstitutiv für den privaten Status, nicht etwa umgekehrt. Da hiermit gezeigt werden konnte, daß jedenfalls im Privatrechtsverhältnis das subjektive Recht seine Auszeichnung als normative geschützte Freiheitssphäre behält, ist diese Frage im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter zu vertiefen
(3) Zwischenergebnis Die Analyse des Begründungsverfahrens des positiven Rechts hat gezeigt, daß positives Recht nach Kant nicht einfach im Sinne einer Legeshierarchie dem Naturrecht untergeordnet wird, sondern durch ein vom Naturrecht vorgegebenes prozedurales Verfahren erzeugt wird. Das Rechtsprinzip verliert seine liberalistische Funktion als Koordinierungsfunktion inhaltlich vorgegebener Freiheitsräume zugunsten eines demokratischen Verfahrens der Rechtserzeugung, welches die Qualität und Quantität der Freiheitsräume inhaltlich bestimmt. Kant zeichnet hierbei jedoch nicht ein rein formalisiertes Verfahren aus, sondern die Verbindlichkeit des positiven Rechts lebt von der Inkorporierung bestimmter, als Prinzipien gefaßter Zwecke. Gleichwohl wird der materiell gebundene Rechtsstaat, wie ihn etwa das Grundgesetz in Art. 79 Abs. 3 GG vorsieht, von Kant abgelehnt. Trotz der materiellen Vorgaben tragen die einzelnen Subjekte als Autoren des Rechts die Verantwortung für die Verwirklichung der Rechtsidee. Bei der Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte entlastet das Recht seine Bürger nicht. Weder aus der formellen Zweckausrichtung, noch durch Selbstbestimmung oder durch ein bestimmtes Verfahren, sondern erst durch das Zusammenwirken dieser drei Faktoren beziehen positive Gesetze ihre prinzipielle Legitimation. Deshalb müssen die Mitglieder der Gesetzgebung nach Kant selbst vernünftig sein. 496 Sie bringen die Materie der Gesetze in das Prozedere ein und führen damit auf der ersten Stufe eine Art Auswahlverfahren der rechtlichen Inhalte durch. Auf der zweiten Stufe sind sie es, die mit ihrer politischen Urteilskraft 495 Vgl. Isensee (1981: 74): „Nur dem Ganzen kommt echte Selbstbestimmung zu: Volkssouveränität. (...) Der einzelne Bürger aber ist nicht autonom, sondern nur integrales Element des Staatsvolkes.“ Eine Sicht die je nach Ausgestaltung aber wiederum nahe an die oben bereits kritisierte Auffassung von Carl Schmitt geraten kann. Vgl. auch den Ansatz von Schwartländer (1978: 103 f.): „Mit dem Titel sittlich-institutionell will ich besonders darauf aufmerksam machen, daß der Sinn dieser Rechte nicht angemessen verfaßt und verwirklicht wird dort, wo sie nur als subjektiv-öffentliche Rechte des einzelnen, als Individualrechte – dazu noch mit ‚privatem‘ Charakter behandelt werden.“ 496 Vgl. Kersting (1993: 452).
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die Einstimmung der verschiedenen Auffassungen vollbringen müssen. Von daher wird deutlich, weshalb nach Kant die „Selbständigkeit“ der aktiven Staatsbürger so bedeutsam ist, wenn man diese auf dem oben aufgezeigten Weg auslegt und damit das kritische Potential des Begriffes zur Geltung bringt und nicht an der von Kant gewählten historischen Konkretisierung festhält. Es ist das Vertrauen Kants, daß das Zuordnungsverhältnis der für das Gesetzgebungsprozedere wichtigen Zwecke, wozu, wie gezeigt, auch das Menschenrecht zählt, von den Subjekten neben anderen Werten in den Universalisierungsvorgang mit eingeschleust wird. Für die Zuordnung von Recht und Moral ergibt sich aus diesem Begründungsverfahren eine entscheidende Konsequenz. Es konnte gezeigt werden, daß sich das Recht durch das Gesetzgebungsprozedere aus dem naturrechtlichen Automatismus löst, welcher den Tugendpflichten und Rechtspflichten je einen abgegrenzten Bereich zugeordnet hat, sieht man von der Schwierigkeit der Einordnung der inneren Rechtspflichten an dieser Stelle einmal ab. Die Grenze zwischen Recht und Moral (i. e. S.) kann im positiven Recht der Republik in bezug auf die Zwecke und Maximen folglich nur formell (verfahrensrechtlich) und nicht materiell (gegenstandsbezogen) bestimmt werden. Dies legt die Vermutung nahe, daß es im Anwendungsbereich der positiven subjektiven Rechte wichtig ist, sich als Rechtsträger über die Legitimität oder Illegitimität seines Rechts bewußt zu sein. Dies soll im nächsten Abschnitt überprüft werden. Damit der Untersuchungsgegenstand nicht zu breit wird, soll die Anwendung der staatsbürgerlichen Kompetenzrechte weitestgehend ausgeblendet bleiben; sie sollten bislang nur soweit gestreift werden, wie es für die Darstellung des Begründungsverfahrens des Rechts notwendig war. Das Hauptaugenmerk der Arbeit liegt jedoch mehr auf den im Privatrechtsverhältnis begründeten Rechten.
b) Die Rechtsanwendung im positiven Recht: Die Verbindlichkeit eines subjektiven Rechts Für das einzelne Rechtssubjekt, dem durch ein Gesetz ggf. ein subjektives Recht eingeräumt wird, ist in einer Anwendungssituation (und entsprechend für die Fragestellung dieser Untersuchung) von entscheidender Bedeutung, welche Verbindlichkeit von einem solchen positiven Gesetz ausgeht; ob ein solches Recht überhaupt eine legitime Handlungsoption begründet und welche Art von Verpflichtung von einem solchen Recht ausgeht. Dazu ist zunächst aufzuzeigen, ob und – falls ja – wie die Legitimität eines derartig zustande gekommenen Gesetzes überprüft werden kann. Für einen Vertreter einer Legeshierarchie-Theorie ergäbe sich insoweit kein Problem, als das positive Recht nur auf seine Vereinbarkeit und Übereinstimmung mit den naturrechtlichen Vorgaben überprüft werden müßte. 497 Für ein prozedurales 497 Dies ist natürlich etwas vereinfacht, wie sich nicht zuletzt an der Kritik des Bundesverfassungsgerichts zeigt, das zumindest soweit es die Überprüfung des positiven Rechts betrifft, in dem Grundgesetz eine klare, hierarchische Vorgabe hat.
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Rechtsverständnis scheidet diese Option aus. Daher bietet es sich an, die Perspektiven des Überprüfens genau auseinander zu halten. Man kann bei der Gesetzgebung zwischen einer Fremd- und einer Selbstüberprüfung unterscheiden, d. h. zwischen einer externen (2) und einer internen (3) Perspektive des Betrachters, je nach dem, ob das Subjekt eigene oder fremde Rechtsansprüche einer Überprüfung unterzieht. Doch zuvor soll Kants methodisches Verständnis von dem Gebrauch der Rechtsprinzipien und -regeln herausgearbeitet werden (1). Dieser Untersuchungsabschnitt ist von der Hypothese geleitet, daß das unterschiedliche Verständnis der Kant-Interpreten sich danach differenezieren läßt, ob sie den Rechtsprinzipien einen regulativen oder konstitutiven Status beimessen. (1) Entscheidungssituationen: Recht als Regel- oder Prinzipienmodell? Es ist sinnvoll, zwischen den verschiedenen Entscheidungssituationen, in denen auf Rechtsnormen zugegriffen wird, genau zu unterscheiden. Es empfiehlt sich, drei Arten solcher Situationen auseinanderzuhalten, da sie, wie zu zeigen sein wird, nach der Kantischen Rechtslehre jeweils einen verschiedenen Zugriff auf die Rechtsnormen, differenziert nach Prinzipien und Regeln, ansinnen: 498 – Die Entscheidungssituation des Gesetzgebers, der die positive Rechtsordnung einer Gesellschaft bestimmt. – Die Situation der Judikative und Exekutive, die gehalten sind, im Rahmen der Rechtsordnung Entscheidungen zu treffen bzw. ihr Handeln von diesen anleiten lassen. – Die Situation des Rechtsadressaten, der vor der Entscheidung steht, ob und wieweit er welche Normen des positiven Rechts befolgen bzw. ausfüllen soll. Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit kommt der Perspektive des Rechtsadressaten zu, weshalb die beiden anderen nur dort gestreift werden sollen, wo ihre Darstellung zur Abgrenzung unerläßlich ist. Dazu soll zunächst der Blick auf Kants Theorie der Begriffe gelenkt und daran aufgezeigt werden, welche Rolle die Prinzipien in Kants Theorie einnehmen. Große Probleme entstehen aber – durch die schon oben festgestellte – oftmals verwirrende Großzügigkeit Kants in terminologischen Dingen, das heißt, viele Begriffe werden mehrdeutig verwendet, was vermutlich auf die eigene Ambivalenz Kants in der Vermittlungslehre des Rechts zurückzuführen ist. Dies hat zur Folge, daß bei der Interpretation der von Kant benutzten Begriffe oftmals über den Wortlaut hinweg gegangen werden muß. Wie bereits oben in den methodologischen Einführungen kurz gestreift wurde,499 geht Kant davon aus, daß „alle Begriffe (...) der Materie nach entweder gegebene 498 499
Vgl. hierzu auch Enderlein (1992: 283 ff.). Vgl. oben, S. 47 ff.
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(conceptus dati) oder gemachte (conceptus factii)“ sind. Von den gemachten, d. h. zu beliebigen Zwecken künstlich gebildeten Begriffen, kann hier abgesehen werden, weil die Rechtstheorie ja gerade ein notwendiges Gebot der Vernunft, und damit kein beliebiges Produkt ist. Die gegebenen Begriffe „sind entweder a priori oder a posteriori gegeben. Alle empirisch oder a posteriori gegebene Begriffe heißen Erfahrungsbegriffe.“ 500 Sie entstammen ihrem Inhalte nach der sinnlichen Wahrnehmung, werden durch Vergleichung gewonnen und erhalten durch den Verstand lediglich die Form der Allgemeinheit. Hingegen sind die a priori „gegebenen“ Begriffe entweder Verstandes- oder Vernunftbegriffe. Die ersteren heißen nach Kant „Kategorien“. Sie dienen der konstitutiven Ordnung der Mannigfaltigkeit sinnlicher Wahrnehmungen, indem sie einen „Vorgriff auf alle möglichen Erfahrungen“ 501 bedeuten. Interessant für die vorliegende Arbeit ist nun, daß sie wie die empirischen Begriffe als Regeln fungieren, d. h. derart, daß immer dann, wenn eine Wahrnehmung die Merkmale eines Begriffes aufweist, sie unter diesen mit Hilfe der Urteilskraft subsumiert 502 werden kann. In diesem Sinne definiert Kant den Verstand (als) auch als ein (von der Vernunft und der Urteilskraft zu unterscheidendes503) „Vermögen der Regeln“ 504. Die reinen Vernunftbegriffe nennt Kant, unter expliziter Bezugnahme auf den von Platon begründeten Wortgebrauch, „Ideen“ 505. Ideen überhaupt definiert er in Anlehnung an Platon als „Urbilder“ 506 oder „Archetypen“, die in der Sinnenwelt immer nur annäherungsweise realisiert sind. Sie sind demgemäß transzendentale Ideen als notwendige Vernunftbegriffe, „denen kein kongruierender Gegenstand in Sinnen gegeben werden kann (...), die aber nichtsdestoweniger ihre Realität haben und keineswegs bloße Hirngespinster“ 507. Näherhin unterscheidet er theoretische Ideen – Welt, Seele und Gott – und praktische Ideen, worunter bspw. der gute Wille und das gerechte Recht fällt. Weiter trennt er zwischen regulativem und konstitutivem Gebrauch der Ideen. Eine „regulative“ Verwendung bedeutet im Gegensatz zu einem „konstitutiven“ Gebrauch, daß solche Ideen nicht etwa unsere Erkenntnis erweitern, indem sie „objektive Erfahrung und objektive Erfahrungsbegriffe begründen“ 508, wie die Kategorien 509, sondern daß sie dazu dienen, „den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln (hier gemeint i. S. v. PrinKant, Logik, S. 523 (A 143), Herv. im Original. Höffe (1996: 34). 502 Kant, KrV, S. 184 (B 171; A 132): „(...) ist Urteilskraft das Vermögen, unter Regeln zu subsumieren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus dati legis) stehe, oder nicht.“ 503 Vgl. Kant, KrV, S. 183 (A 130): Die oberen Erkenntnisvermögen sind: „Verstand, Urteilskraft und Vernunft“. 504 Kant, KrV, S. 184 (B 171, A 132). 505 Kant, KrV, S. 321 ff. (B 369 ff., A 312 ff.). 506 Kant, KrV, S. 323 f. (A 316 f.; B 373 f.). 507 Kant, KrV. S. 322 (B 371, A 314). 508 Kant, zit. nach Eisler, S. 304, Stichwort: „konstitutiv“. 509 Kant, zit. nach Eisler, S. 461, Stichwort: „regulativ“. 500 501
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zipien) 510 in einen Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius), d. i. ein Punkt ist, aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz außerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen“ 511. Die Ideen übernehmen somit eine wichtige Funktion in der Einheitsbildung, weil sie erlauben, Erkenntnisse auf ein Ziel hin auszurichten. Da sie aber Ideen sind, darf man nicht den Fehler machen, sie als objektive Gegenstände zu betrachten. Nach Kant sind „die transzendentalen Ideen (...) niemals zu konstitutivem Gebrauch, so daß dadurch Begriffe gewisser Gegenstände gegeben würden, und in dem Falle, daß man sie so versteht, sind sie bloß vernünftelnde (dialektische) Begriffe.“ 512 „Vernünftelnd“ ist dabei aber noch ein ausgesprochen positiver Ausdruck, denn nach Kant beinhaltet es doch eine ironische, abwertende Aussage.513 Im Gefolge der Kantischen Methodenlehre kann die konstitutive Anwendung einer Idee nur auf einem Mißverständnis der grundlegenden Annahmen beruhen. Die Vernunft gebietet nur, den Ideen zumindest annäherungsweise Realität zu verschaffen. Sie dürfen nicht selbst mit der Realität verwechselt werden. Den praktischen Ideen entsprechen praktische Prinzipien, die sich als Maximierungs- oder Optimierungsgebote formulieren lassen. Theoretisch wie praktisch ist den Ideen ein spezifischer Prinzipienbegriff zugeordnet, weshalb Kant die Vernunft (im engeren, vom Verstande verschiedenen Sinne) auch als „Vermögen der Prinzipien“ 514 definiert. Mit Hilfe dieses Begriffsverständnisses kann man nun zeigen, daß die Autoren, nach denen die Verbindlichkeit des objektiven Rechtsgesetzes und des angeborenen Menschenrechts gegenüber dem positiven Recht als dessen verbindliche Geltungskriterien eingeklagt werden könnten, diesen – fäschlicherweise – einen konstitutiven Status beimessen, der einem Regelcharakter gleich kommt, anstatt diese als regulative Prinzipien zu behandeln. Aufgrund dieser Verwechslung kommt man zu unterschiedlichen Geltungsbedeutungen der Rechtsprinzipien für das positive Recht. Erst eine differenzierte Unterscheidung läßt erkennen, wo und wie die Rechtsprinzipien des Naturrechts, „das auf lauter Prinzipien a Priori beruht“515, in das positive Recht hineinwirken. Dies soll im folgenden näher erläutert werden.516 Dabei ergibt sich die Schwierigkeit, daß Kant die begriffliche Unterscheidung und Anwendung in der RechtslehEingefügt von M. S. Kant, KrV, S. 565 (B 672, A 644). 512 Kant, KrV, S. 565 (B 672, A 644). 513 Vgl. etwa die Passage in der Rechtslehre, in der er eine zwecklose Betrachtung mit eben diesem Ausdruck versieht: „(...) das sind für das Volk, (...), ganz zweckleere, und doch den Staat mit Gefahr bedrohende Vernünfteleien; (...)“; Kant, MS-RL, S. 438 (A 174, B 204). 514 Kant, KrV, S. 312 (B 356, A 299). 515 Kant, AA XXIII, Vorarbeiten, S. 134. 516 Vgl. hierzu neben Ralf Dreier (1986: 7 ff.) auch Langer (1986: 15 ff.), die Kants Rechtstheorie als „Reform nach Prinzipien“ einordnet, ohne sich aber explizit mit dem Unterschied von Regeln und Prinzipien auseinanderzusetzen; vgl. auch Kühl (1984: 237 ff.), der davon aus510 511
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re selbst nicht explizit vorgenommen hat, sondern in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ zwar den Begriff des Prinzips mit bezug auf den Begriff der Idee überhaupt einführt, ihn aber an jener Stelle in erster Linie auf den theoretischen Vernunftgebrauch hin konzipiert. 517 Die Frage, inwieweit eine strukturelle Ähnlichkeit oder Verschiedenheit zwischen praktischen und theoretischen Ideen und Prinzipien besteht, wird dort nicht erörtert. 518 Es können nur Vermutungen über Kants unterschiedliche Auffassung beider Arten von Prinzipien aufgestellt werden. Jedenfalls stand zum Zeitpunkt der Abfassung der „Metaphysik der Sitten“ für Kant fest, daß man sich von Prinzipien a priori nicht unmittelbar zu empirischen Regeln wenden dürfe, vielmehr sei ein Übergang erforderlich, „um eine Verknüpfung zwischen beiden zu vermitteln (...)“. Gerade hier sah er wohl selbst den Ansatzpunkt, zwischen sein apriorisches Vernunftrecht und die positive Rechtsordnung eine vermittelnde „Rechtslehre überhaupt“ zu schieben, die bei ihm aber aus Altersgründen ausgeblieben ist.519 Wegen dieser Schwierigkeit kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit keine vollständige Ausarbeitung diese Konzepts vorgetragen werden, soll aber dennoch thesenartig eingeführt werden, indem die verstreuten Hinweise in einen systematischen Zusammenhang gebracht werden, um zumindest die Plausibilität dieses Konzepts aufzuzeigen. Wie gezeigt, sind nach Kant praktische Prinzipien ihrer Struktur nach Maximierungs- oder Optimierungsgebote. 520 Davon ist ein praktischer Regelbegriff zu unterscheiden, der dadurch gekennzeichnet ist, daß immer dann, wenn der Tatbestand der Regel erfüllt ist, als praktische Folge ein Gebot, ein Verbot oder ein Dürfen statuiert wird, welches den Charakter eines „definitiven Gebots“ 521 hat. Regeln in diesem Sinne enthalten Festsetzungen im Raum des tatsächlich und rechtlich Möglichen. Die Festsetzungen sind insbesondere dort unerläßlich, wo die praktische Vernunft kollidierende Prinzipien enthält, die im Gesetzgebungsprozeß, wie die einzelnen Prinzipien des Rechts der Menschheit eine Abwägung erfordern, deren Ergebnis als Regel formuliert werden muß. Die Abwägung ist die für die Prinzipien kennzeichnende Form der Rechtsanwendung. Die Abwägung ist aber offen und wird von jedem anders vorgenommen. Das Problem der dem positiven Recht zugrunde liegenden Grundsätze ist, daß sie als Optimierungsgebote miteinander kollidieren können. geht, daß es sich bei dem Freiheitsprinzip um ein regulatives, nicht operationiales Prinzip handelt; vorher schon Höffe (1979: 29): „So sind die Menschenrechte als Grundrechte erst allgemeine Prinzipien, die häufig nur regulative, nicht auch schon operationale Bedeutung haben“; vgl. auch Brugger (1988: 119). Nicht ganz eindeutig ist die Darstellung von Bielefeldt (1996: 55), der die „Freiheit“ als „konstitutives Rechtsprinzip“ definiert. 517 Vgl. Kant, KrV, S. 311 ff. (B 355 ff., A 298 ff.). 518 Kühl (1990: 84) vermutet, daß die Urteilskraft als „sittlich-politische Urteilskraft in der Rechtslehre wohl wegen deren Grundlegungscharakter nicht näher untersucht“ worden sei. 519 Vgl. dazu die Untersuchung von Blühdorn (1973: 363) und die Bemerkungen von Kühl (1984: 237). 520 Vgl. dazu die Ausführungen von Alexy (1985: 13 ff.), der sich aber auf das moderne Recht bezieht und keine Kant-Interpretation vornimmt. 521 Zur Wortwahl vgl. Alexy (1995: 216).
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Deshalb müssen sie im Prozeß der Gesetzgebung gegeneinander abgewogen werden, um ein richtiges Ergebnis zu finden, das dann für alle verbindlich die Rechtsregel festlegt. Als regulative Idee setzt der Begriff der Richtigkeit nicht voraus, daß es auf jede praktische Frage genau eine richtige Antwort gibt. Denn es ist „ein principium der Vernunft, welches als Regel postuliert, was von uns im Regressus geschehen soll, und nicht antizipiert, was im Objekt vor allem Regressus an sich gegeben ist. Daher nenne ich es ein regulatives Prinzip der Vernunft“ 522. Wenn man hier richtigerweise den Ausdruck „Regel“ als Prinzip versteht – eine Interpretation, die hier wegen der weiten Begriffsspanne Kants notwendig ist –, dann zeigt sich auch hier, daß die Prinzipien selbst noch nicht die strikte Lösung der Rechtsanwendung beinhalten. Trotzdem bleibt nach Kant ein absolut richtiges Ergebnis das anzustrebende Ziel der Rechtsbegründung und -anwendung. Die Teilnehmer des Universalisierungsvorganges müssen von der Richtigkeit ihres Standpunktes überzeugt, können sich dessen aber nicht sicher sein: Sowohl das Gesetz „N“ als auch das Gesetz „nichtN“ könnten – theoretischerweise – Ergebnis des realen Universalisierungsvorganges sein. Das positive Gesetz, als Regel formuliert, ist also nur relativ richtig, nämlich in Relation zu dem zugrunde liegenden Universalisierungsvorgang. Von diesem bezieht es seine Verbindlichkeit. Diese relative Richtigkeit geht demzufolge von einer absoluten Richtigkeit der prozeduralen Konzeption aus. Alles, was Ergebnis der Prozedur ist, ist (relativ) richtig. 523 Insofern ist das rechtliche Regelsystem inhaltlich offen, für alle Ergebnisse, die durch das Verfahrensprozedere in es hineingesetzt werden. Dieser Gedanke scheint auch Maus in ihrer – oben vorgestellten – weiten Bestimmung des prozeduralen Verfahrens vorgeschwebt haben. Für die Rechtsanwendung ist nun entscheidend, daß, wenn es keine höhere Legitimationsquelle als den allgemein vereinigten Willen der Gesetzgebung gibt, dem die Aufgabe zukommt, auf die Rechtszwecke ausgerichtete positive Gesetze durch Anwendung auf die Prinzipien zu erlassen, daß dann im Staat weder die Exekutive noch die Judikative einen eigenen Zugriff auf die Prinzipienebene für sich in Anspruch nehmen können. Ihre Aufgaben und ihre Anwendungsfelder sind durch die Regeln genau bestimmt. 524 Ein eigener Zugriff würde das Problem provozieren, an welchem Maßstab die gefundene Lösung gemessen werden könnte (dazu noch unten). Kant, KrV, S. 472 (B 537, A 509). Im Ergebnis ähnlich Kersting (1993: 407 f. Fn. 130): „Die Untadeligkeit des Gesetzgebers, das jedem Rechtsstreit entzogene positiv-rechtliche Zuhöchstsein des Souveräns weisen jede Möglichkeit ab, den Gesetzgeber einer höchstrichterlichen Normenkontrollkompetenz zu unterwerfen.“ Dabei geht Kersting jedoch von der absoluten Unfehlbarkeit des Gesetzgebers aus (ebd., S. 409); vgl. hierzu kritisch die Bemerkungen S. 131. 524 Somit löst Kant eines der Hauptproblem der damaligen Gerichtsbarkeit: „Konnte sich der Untertan auch gegen eine rechtswidrige Beschränkung seiner Handlungsfreiheit an den Richter wenden? War die ‚natürliche Freiheit‘ ein schutzfähiges Privatrecht?“, vgl. hierzu Rüfner (1962: 32, 38, 39 f., 43). 522 523
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Ein eigener Zugriff würde deshalb nur zu Rechtsunsicherheit führen, zu deren Vermeidung nach Kant ja gerade jeder in einen öffentlich-rechtlichen Rechtszustand übertreten muß, um auf diese Weise jedem das seine zu sichern. Aus diesen Ausführungen kann man für Kant nur den Schluß ziehen, daß er von einem reinen Regelmodell des positiven Rechts ausgeht, wenn er von der Striktheit des Rechts spricht. 525 Ein Prinzipienmodell des positiven Rechts würde demgegenüber genau wieder Teile dieser Unsicherheit in diesen Rechtszustand einführen. Dies deckt sich mit Kants sämtlichen Ausführungen zur Anwendung des Rechts durch den Juristen, dem er stets vorhält, nur die Gesetze anzuwenden 526 und zu vollziehen 527, nicht jedoch sein eigenes Urteil an die Stelle des Gesetzes zu setzen. Jedoch ist es nicht richtig, Kant zu unterstellen, er hätte nicht gesehen, daß auch das Regelmodell keine vollkommene Rechtssicherheit garantieren könne. 528 Kant wollte aber hierdurch eine größtmögliche Bindung der Exekutive und Judikative an die Gesetze der Legislative erreichen. Auch Kant wußte, daß die Einzelfälle eben „nur selten die Bedingung der Regel adäquat erfüllen“ 529, der Regel nämlich, unter die sie subsumiert werden sollen. 530 Eine Gesetzesformel kann, wie Kant in einer Nachlaßreflexion notiert, „niemals so genau bestimmt werden, daß sich nicht Fälle finden sollten, die unter die Bedingung des Gesetzes gehören, welchen aber der Anspruch des Gesetzes nicht anpaßt“, 531 so daß „eine genau bestimmte Norm der Rechtspflege (ius certum) zu hoffen“, „beinah vergeblich sei“ und „die Dogmatik nicht eine solche klare und auf alle Fälle bestimmte Norm enthalte“ 532. Er sieht die Rechtsregeln selbst als abwägungsfreie Normen, und siedelt das Problem der (positiven) Rechtserkenntnis nur auf der Interpretationsebene dieser Regeln an. Dieses versucht er durch eine genauere Unterweisung der Urteilskraft der Rechtsanwender in den Griff zu bekommen. Da die Urteilskraft auch als „Verstand, der nicht vor Jahren kommt“, bezeichnet wird, „dessen Stelle nicht durch eine allgemeine Vorschrift kann ersetzt werden“ 533, liefert die Zeitstruktur und Entwicklungsbedürftigkeit der Urteilskraft und ihrer Ausbildung Kant auch ein Argument zur Rechtfertigung des Berufsbeamtentums, wie er nebenbei bemerkt. Der Beamte ist „seinen ihm auferlegten Geschäfte völlig gewachsen“, und er verfügt über eine „durch Übung erlangte reife Urteilskraft“ nur unter der Voraussetzung, daß er „durch hinlängliche Zeit hindurch“ auf Z. B. Kant, MS-RL, S. 339; 341 f. Kant, MS-RL, S. 228: „(...) vorhandene Gesetze anwenden (...)“. 527 Kant, MS-RL, S. 235. 528 Dieser Vorwurf findet sich etwa bei Alexy (1995: 22 f.) und Ralf Dreier (1986 ff.). Eine Untersuchung des methodischen Bewußtseins von Kant findet sich bei Wieland (1996). Vgl. etwa Kant, AA 19, R 5237: „Gesetze sollen ohne Ausnahmen sein (...); aber Regeln sind niemals ohne Ausnahme.“ Problematisch ist demnach für die Rechtsanwendung, wer diese Ausnahmen zu den Rechtsregeln bestimmen soll. 529 Kant, KrV, S. 185 (B 173, A 134). 530 Hierzu Wieland (1996). 531 Kant, AA 23, R 430. 532 Kant, Der Streit der Fakultäten, S. 287 f. (A 20). 533 Kant, AA 18, R 5237. 525 526
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seine Amtstätigkeit vorbereitet worden ist. 534 Auf die Unsicherheiten der Abwägung meint er so verzichten zu können. 535 Von daher wird einsichtig, weshalb eine konstitutive Funktion der Rechtsprinzipien, das heißt, diesen würden eine verbindlich geltend zu machende Rechtswirkung zukommen, auszuschließen ist. 536 Dem steht ihr Prinzipiencharakter entgegen. Sie bedürfen der aufeinander bezogenen Abwägung in konkretisierenden Rechtsregeln. Die Aufnahme der Empirie in den Abwägungsprozeß führt dazu, daß die Regeln historisch und geographisch bedingt sind. Deshalb haben nach Kant „Regeln eine bloße Gemeingültigkeit“. Im Gegensatz dazu stehen die apriorischen Grundsätze, die auch praktische (notwendige) Gesetze, genannt werden können: „Gesetze haben Allgemeingültigkeit“ 537. Die Regeln werden als Ausformung der Prinzipien von Kant auch „die Anwendung des Gesetzes in concreto“ genannt. Sie bezeichnen etwas, „was sich nicht a priori erkennen läßt“, 538 denn aus dem Prinzipienrecht lassen sie sich ja gerade nicht analytisch ableiten. 539 Regeln sind empirische und damit – im Verhältnis zu den analytischen Vernunftrechtskategorien – synthetische Sätze. 540 Kant geht nach dem modernen Verständnis damit über das Modell des vorstaatlichen apriorischen Regelmodells hinaus, wie es etwa der bereits erwähnte Locke anstrebte. Locke versuchte, die naturrechtlichen Regelungen durch ein der Mathematik analoges konstruktives Verfahren der Definitionen und Axiomatisierung aufzustellen, 541 so daß eine vollkommene Bestimmtheit der Rechtspositionen schon im Rahmen des Naturrechts möglich ist. Demzufolge würde kein Erkenntnisproblem der Übereinstimmung von Naturrecht und positivem Recht bestehen, sondern lediglich ein Durchsetzungsproblem des Naturrechts. Auch Kant kennt im Naturrecht, vor allen erworbenen Rechten, nur ein Durchsetzungsproblem, kein VerwendungsproKant, MS-RL, S. 449 (A 191, B 221). Von daher ist der Einwand von Ralf Dreier (1986: 28) nicht ganz richtig, „daß sich Kant mit den Problemen der richterlichen Auslegung und Anwendung des positiven Rechts sowie dessen Lückenhaftigkeit so gut wie nicht befaßt“: Nur meint Kant hierbei auf die Prinzipientheorie nicht mehr rekurrieren zu können, sondern mit Hilfe der Urteilskraft allein die Problem zu lösen. Deshalb ist Dreier recht zu geben (ebd.), wenn er feststellt, daß Kant „die rechtsbegrifflichen Konsequenzen seiner Prinzipientheorie nicht entfaltet hat“. 536 Vgl. auch Kant, Anthropologie, S. 687 f. (B 329 f., A 331 f.): „Eine weltbürgerliche Gesellschaft (...): welche an sich unerreichbare Idee aber kein konstitutives Prinzip (der Erwartung eines, mitten in der lebhaftesten Wirkung und Gegenwirkung der Menschen bestehenden, Friedens), sondern nur ein regulatives Prinzip ist.“ 537 Kant, AA, 19 R 5226. 538 Kant, AA, 19 R 5238. 539 Dies verleitet Kühl (1990: 84) zu der Feststellung: „Der Geschlossenheit der apriorischen Rahmenkonstruktion steht so die Offenheit eines inhaltlich unabschließbaren Rechtssystems gegenüber.“ 540 Vgl. dazu Ausführungen oben, 47 ff. 541 Vgl. Locke (1979: 350; 531 ff.; 548 ff.). Vgl. hierzu auch Siep (1992: 83, 88), Kersting (1994: 109 ff, 193) und Maus (1992: 45). 534 535
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blem, jedoch ist dies für Kant nur eine theoretische Annahme, da die Rechte nicht genau bestimmbar sind. In seinem Prinzipienmodell begibt sich Kant der Möglichkeit, das prinzipiell gefaßte Menschenrecht gegen die staatlichen Regelungen verbindlich auszuspielen: „Die Idee des Sozialcontracts ist nur die Richtschnur der Beurtheilung des Rechts und der Unterweisung der Prinzipien (...)“; aus diesem lassen sich keine „wirklichen rechte“ ableiten, weshalb dem Rechtssubjekt „kein strictes recht sondern nur ein ideales“ 542 zukommt. Wenn die Prinzipien einmal durch den vereinigten allgemeinen Willen in Regeln umgesetzt sind, kennt Kant kein höheres Prinzip, um dieses Problem aufzulösen: „Der Grund davon ist: weil bei einer schon subsistierenden bürgerlichen Verfassung das Volk kein zu recht beständiges Urteil mehr hat, zu bestimmen: wie jene soll verwaltet werden. Denn man setze: es habe ein solches, und zwar dem Urteile des wirklichen Staatsoberhauptes zuwider: wer soll entscheiden, auf wessen Seite das Recht sei? Keiner von beiden kann es, als Richter in seiner eigenen Sache, tun. Also müßte es noch ein Oberhaupt über dem Oberhaupte geben, welches zwischen diesem und dem Volk entschiede; welches sich widerspricht.“ 543 Diese Passage bezieht sich nicht nur auf den Konstitutionalismus, wie man vorschnell vorbringen könnte, sondern, wie aus anderen Stellen deutlich wird, dieses grundlegende Problem gilt auch gegenüber vom Volk gegebenen Gesetzen. 544 Die Ablehnung des konstitutiven Gebrauchs der praktischen Ideen hat neben einer erkenntnistheoretischen auch eine praktische Notwendigkeit: das Problem der Letztentscheidung, d. h. der Frage des „quis iudicabit“ 545. Da der Inhalt des Universalisierungsvorgangs, bzw. die Entscheidung bei Mehrheitsentscheiden, nur relativ richtig ist, gibt es keine verbindlichen Kriterien für die inhaltliche Beurteilung; sonst würde das Problem der Entscheidung über den Inhalt nur um eine Stufe verschoben, so daß man letztlich in einen unendlichen Regreß hineingeriete. Kant hat dieses Problem der Anwendung der Urteilskraft in seinen allgemeinen Ausführungen in der Kritik der Reinen Vernunft gesehen, wo er die Methodik etwas ausführlicher darlegt: „Die allgemeine Logik enthält gar keine Vorschriften für die Urteilskraft und kann sie auch nicht enthalten. Denn da sie von allem Inhalte der Erkenntnis abstrahiert, so bleibt ihr nichts übrig, als (...) formale Regeln alles Verstandesgebrauches zustande zu bringen wollte sie nun allgemein zeigen, wie man unter diese Regeln subsumieren, d. i. unterscheiden sollte, ob etwas darunter stehe oder nicht, so könnte dieses nicht anders als wieder durch eine Regel geschehen. Diese aber erfordert ebendarum, weil sie eine Regel ist, auf neue eine Unterweisung der Urteilskraft“. 546 Ohne die Auszeichnung einer Entscheidung bekäme man also immer wieder ein Entscheidungsproblem auf einer höheren Stufe: „Zu dem (...) BeKant, AA, 19, R 7737. Kant, Gemeinspruch, S. 156 (A 255). Vgl. auch Kant, MS-RL, S. 440 (A 177, B 207): „(...) die Frage alsbald in die Augen fällt: wer denn in diesem Streit zwischen Volk und Souverän Richter sein sollte“ und vgl. Kant, Naturrecht Feyerabend, AA, 27.2.2., S. 1391: „Da keiner im Volke valide decidieren kann.“ 544 Vgl. Kant, MS-RL, S. 441 (A 178 ff, B 298 ff.). 545 Vgl. Deggau (1983: 269). 546 Kant, KrV, S. 184 (A 132, B 171). 542 543
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griff, welcher die Regel enthält, muß ein act der Urteilskraft hinzukommen, wodurch der Praktiker unterscheidet, ob etwas der Fall der Regel sei oder nicht; und, da für die Urteilskraft nicht immer wiederum Regeln gegeben werden können, wonach sie sich der Subsumtion zu richten habe (Weil das ins Unendliche gehen würde), so kann es Theoretiker geben, die in ihrem Leben nie Praktische werden können, weil es ihnen an Urteilskraft fehlt: z. B. Ärzte und Rechtsgelehrte, die ihre Schule gut gemacht haben, die aber, wenn sie ein Consilium zu geben haben, nicht wissen, wie sie sich benehmen sollen.“ 547 Die Frage nach einer Norm, die die Anwendung von Normen reguliert, würde, wenn man sie konsequent fortführen würde, in einen unendlichen Regreß führen. 548 Da nun aber eine solcher indefiniter Regreß zu keiner Lösung führt und die Überleitung des Theoretischen in das Praktische herausfordert, muß eine Entscheidungsstufe normativ ausgezeichnet werden. Aus diesem Grund hat Kant diese Entscheidungsstufe mit dem republikanischen Prinzip verwoben; so geht die Verbindlichkeit der Entscheidung von der autonomen Entscheidung des Gemeinwesens aus. Das Regelmodell verkörpert somit in Verbindung mit der Gewaltenteilung genau die Aufgabe des öffentlichen Rechts: die Zuteilung von Rechtspositionen gemäß öffentlicher, genau bestimmter Gesetze, „durch welche jedem das Seine bestimmt und gegen jedes Anderen Eingriff gesichert werden kann“ 549, mithin Rechtssicherheit. („suum cuique tribue“)
(2) Die Perspektiven der Rechtsüberprüfung: extern An dieser Stelle sind die gewonnenen Erkenntnisse auf die Überprüfung des Rechts anzuwenden. Dabei scheint die Überprüfung des Rechts aus einer externen Perspektive für Kant zunächst eine unproblematische Aufgabe darzustellen. So schreibt Kant explizit, daß der „Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes“ darin bestehe, eine Universalisierbarkeitsprüfung bezüglich der Gesetzesmaterie durchzuführen, „als (ob) sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes habe entspringen können.“ 550 Die Metapher des „Probiersteins“ diente zahlreichen Interpreten der Kantischen Rechtslehre als Anzeichen dafür, daß Kant 547 Kant, Gemeinspruch, S. 127 (A 202); vgl. auch AA XXIII, S. 369: Zum Geschäft des Juristen gehöre es nicht, über die Gesetzgebung zu vernünfteln, sondern die gegenwärtigen Gebote des Landesrechts zu vollziehen, da dieses das jetzt vorhandene Recht sei. Wenn den Juristen aber ihre Geschicklichkeit, für alle Stätte gerecht zu sein, den Wahn einflöße, auch „über Prinzipien einer Staatsverfassung überhaupt nach Rechtsbegriffen (mithin a priori, nicht empirisch) urteilen zu können“, so könnten sie diesen „Überschritt“ nicht anders als mit dem „Geist der Schikane“ tun. 548 Vgl. Wieland (1996: 7) und Deggau (1983: 269 f.): „Mithin wäre ein regressus ad infinitum gesetzt, das Recht für den endlichen Menschen also nicht mehr entscheidungsfähig und seiner Sicherungsfunktion beraubt.“ Vgl. auch Kaulbach (1982: 231 ff.). 549 Kant, Gemeinspruch, S. 155 (A 253). 550 Kant, Gemeinspruch, S. 153 (A 250).
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ein Verfahren kennt, den Willen des Regenten auf seine Übereinstimmung mit den vernunftrechtlichen Vorgaben zu überprüfen. Jedoch würde jede Kritik an einem Gesetz oder einem ausgewiesenen Recht eine hypothetische Universalisierung bedingen, die ihr Ergebnis über das des Gesetzgebers stellen würde; dies würde aber genau auf das oben erwähnte Problem der Letztentscheidung hinauslaufen. Jeder Versuch, die Naturrechtsprinzipien gegen ein positiviertes Recht auszuspielen, würde diesen einen konstitutiven Status einräumen, denn nur so könnte deren unbedingte Geltung eingeklagt werden. Dies ist aber, wie oben gezeigt wurde, abzulehnen. Aus diesem Grunde kann man nur zu dem Ergebnis kommen, daß Kant eine verbindliche Kritik der positiven Gesetze von einer externen Perspektive heraus ablehnt. Das Beispiel des Probiersteins dient nämlich einen anderen Zweck, der unten (3) noch vorzustellen sein wird. Insofern läßt sich das auf die positiven Gesetzen übertragen, was bereits in der Literatur zu dem kategorischen Imperativ vorgebracht wurde: „So gesehen sind Beispiele für die Wirkungsweise des kategorischen Imperativs, soweit sie von einem anderen als dem Handelnden vorgetragen werden (...) tauglich zur Veranschaulichung, tauglich zur Beratschlagung und Hilfe, aber keinesfalls tauglich als Teil der Begründung selbst, sei es zu ihrer Befestigung, sei es zu ihrer Erschütterung. (...) Die unauflösliche Verbindung zwischen Subjektivität und Allgemeinheit, die im kategorischen Imperativ notwendig anwesend ist, verhindert es, daß bei der Beurteilung einer Handlung von außen etwa die Feststellung ihrer Unvereinbarkeit mit dem allgemeinen Gesetz dazu führen kann, Subjektivität gleichsam wegzuwischen und das gefundene Ergebnis als verbindlich zu qualifizieren. Denn jede Beurteilung von außen kann höchstens als gleichförmige Einsicht geltend machen, keineswegs aber sich selbst einfach an die Stelle des Handelnden setzen. (...): Zwingende Ergebnisse gibt es in der Moral ausschließlich als Selbstzwang.“ 551 Hier wird wiederholt, was schon oben festgestellt werden konnte: Die externe Perspektive taugt nach Kant nicht zur objektiven Beurteilung der Gesetzgebung. Die subjektiven Universalisierungsverfahren sind auf die Selbstgesetzgebung – und wie unten noch zu zeigen sein wird – auf die Selbstüberprüfung hin ausgelegt. Dieselbe Struktur trifft man aber auch in der Republik an. Nicht die Universalisierbarkeit allein, sondern die selbstbestimmte Universalisierung verbürgt die Legitimation der Gesetze in sozialer Perspektive. Dem Subjekt ist unbenommen, die Meinungsfreiheit zu beanspruchen, um eine kritische Öffentlichkeit herzustellen. Diese darf aber die Legitimität der Gesetze nicht berühren, sondern kann nur versuchen, im Wege der Kritik und Beratschlagung auf den Gesetzgeber einzuwirken (dazu unten). Ein weiteres Argument gegen die externe Überprüfung läßt sich daraus gewinnen, daß Kant, Realist genug, die utopische Forderung einer immerwährenden Einstimmung zu erkennen, statt dem philosophischen Universalisierbarkeitsurteil, der Mehrheitsregel die normative Auszeichnung zukommen läßt, das Gesetzgebungsprozedere abzukürzen bzw. nicht überbrückbare Meinungsverschiedenheiten zu lö551
Zaczyk (1994: 112 f.), Herv. nicht im Original.
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sen. Hierdurch kann die Mehrheitsentscheidung zum Organisationsmittel der Demokratie werden. 552 Das Erfordernis einer Einigung würde zu einem Immobilismus führen, 553 der mit der Forderung nach Gesetzen nicht vereinbar wäre. Deshalb baut Kant die einschränkenden Realisationsbedingungen der bürgerlichen Vertragsgesellschaft in seine Konzeption mit ein: „Es müssen aber auch Alle, die dieses Stimmrecht haben, zu diesem Gesetz der öffentlichen Gerechtigkeit zusammenstimmen; denn sonst würde zwischen denen, die dazu nicht übereinstimmen, und den ersteren ein Rechtsstreit sein, der selbst noch eines höheren Rechtsprincips bedürfte, um entschieden zu werden. Wenn also das Erstere von einem ganzen Volk nicht erwartet werden darf, mithin nur eine Mehrheit der Stimmen (...) dasjenige ist, was allein man als erreichbar voraussehen kann: so wird doch selbst der Grundsatz, sich diese Mehrheit genügen zu lassen, als mit allgemeiner Zusammenstimmung, also durch einen Contract, angenommen, der oberste Grund der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung sein müssen.“ 554 Die Richtigkeitsgewähr, die von der Einstimmigkeit unter Bedingungen direkter Mitbestimmung ausgeht, wird übertragen auf Mehrheitsentscheidungen. 555 Der auf der Basis der Vertragsbedingungen zustande gekommene Wille soll durch die allgemeine Teilhabe der (aktiven) Staatsbürger dessen inhaltliche Allgemeinheit verbürgen, 556 also eine Berücksichtigung der verschiedenen Interessenlagen der Rechtsadressaten. Damit ist die demokratische Mehrheitsentscheidung nicht nur Organisationsprinzip, sondern zusätzlich Legitimationsprinzip, da die allgemeine Entscheidungsform die Richtigkeit verbürgt und somit dem Gesetz seine notwendige Legitimation verschafft. Nicht die Mehrheitsentscheidung an sich, sondern die Mehrheitsentscheidung, die auf ein bestimmtes Verfahren verpflichtet ist, dient als Legitimationsquelle positiver Gesetze. Mit der Einführung einer Form der Mehrheitsregel nehmen die Subjekte also die Gefahr auf sich, unter Mängeln der Gerechtigkeit, die durch die Regel der Einstimmigkeit behoben werden könnte, leiden zu müssen, um die Vorteile der wirksamen Gesetzgebung zu gewinnen. Die Mehrheitsregel ist insofern die in Kauf zu nehmende Prämisse der demokratischen Republik im Unterschied zum moralischen Konstitutionalismus. Diese Prämisse ist aber gerade deshalb akzeptabel, weil niemand gerechtfertigterweise für sich in Anspruch nehmen kann, einen bevorzugten Zugriff auf die Gerechtigkeit zu haben und deshalb beanspruchen könnte, seine Universalisierung sei gegenüber einer anderen Universalisierung durch ein Plus an Gerechtigkeit ausgezeichnet. Die Mehrheitsregel ist deshalb der hypothetischen Verallgemeinerung vorzuziehen. Aus epistemischen Gesichtspunkten muß man deshalb zu dem Schluß kommen, daß der faktische Wille des rechtlichen Gesetzgebers sich nicht aus einer externen 552 Vgl. Schwartländer (1981 b: 216). Die Möglichkeit, statt einer Mehrheitsentscheidung, eine autoritäre Entscheidung einer Schiedsinstanz herbeizuholen, wird demgegenüber von Kant nicht erwähnt. 553 Vgl. auch Hesse (1991: 59, Rn. 142). 554 Kant, Gemeinspruch, S. 152 f. (A 248 f.). 555 Vgl. Kersting (1993: 450) und Brugger (1991: 899). 556 Vgl. Maus (1989: 207).
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Perspektive überprüfen läßt. 557 Dem Gesetzgeber kommt damit eine uneingeschränkte Prärogative der Gesetzgebungsmaterie und der Bestimmung seiner Legitimität zu. Lediglich die Subsumtion der Exekutive unter die Regel ist für den Richter nachprüfbar, denn „in dieser Subsumtion kann allein das Unrecht bestehen aber nicht in der Sanction der Gesetze, weil die allein das Recht bestimmen.“558 Folglich besteht in der Kantischen Theorie ein fundamentaler Unterschied zwischen der Gesetzgebungsmethode, deren Aufgabe in der Anleitung der Konkretisierung der Prinzipien liegt, und der Gesetzesauslegung und -anwendung. Da der Richter grundsätzlich keine andere Position zum Gesetzgebungsprozeß als das einzelne Rechtssubjekt hat, sind Kants Aussagen zu dem Richter auf das Subjekt übertragbar: „Das richterliche Amt ist jederzeit ein Geschäft des subditi, denn der Richter ist genöthigt, dem Gesetz gemäß zu urtheilen und kan unrecht thun.“559 Der Richter – in seiner externen Perspektive – kann also im Gegensatz zu dem Gesetzgeber selbst dem Recht „unrecht“ tun – (dazu bereits oben 560) – also „iudex fit iniuria“ –, genauso wie das einzelne Subjekt das rechtliche Regelsystem übertreten kann und damit dem Recht „unrecht“ zufügt. Die externe Überprüfung ist auch nicht durch die scheinbar klare Zweck/Mittelformel möglich, die in Anknüpfung an die Zweck/Mittelformel des kategorischen Imperativs in der Sekundärliteratur auch in die Rechtsgesetzgebung hineininterpretiert wird, 561 ihre Konkretisierung bleibt jeweils von einer Entscheidung des Beur557 Vgl. aber Ralf Dreier (1986: 18), der in den praktischen Grundsätzen – unter Berufung auf Kant – einen Doppelcharakter angelegt sieht. Die meisten von ihnen könnten, „je nach Gebrauch, der von ihnen gemacht wird, sowohl als Prinzip wie als Regel verstanden und formuliert werden. Das gilt (...) auch für den kategorischen Imperativ. Er dient als Prinzip, wenn er so verstanden wird, daß er es zur Pflicht macht, im größtmöglichen Maße nach verallgemeinerungsfähigen Maximen zu handeln. Er dient als Regel, wenn er als Kriterium verwendet wird, wonach eine Handlung stets und nur dann moralisch richtig ist, wenn ihre Maxime (unter den gegebenen Bedingungen) verallgemeinerungsfähig ist.“ In analoger Weise möchte er einen Doppelcharakter in den Rechtsbegriff hineininterpretieren: Wenn den praktischen Grundsätzen folglich ein Regelcharakter inhärent sein soll, dann wären positive Gesetze am Naturrechtsgesetz überprüfbar, mithin Verstöße gegen das angeborene Menschenrecht verbindlich geltend zu machen. Dies würde aber fundamental dem bisher herausgearbeiteten Ergebnis widersprechen. Neue Argumente, die die bisherigen Überlegungen anzweifeln könnten, bringt er jedoch nicht vor. Mit dieser Regel hätte man ein Kriterium in der Hand, das oben aufgeführte Problem des „höheren Prinzips“ entscheiden zu können. Wenn Dreier jedoch nur meint, daß man hiermit ein Kriterium zur Selbstüberprüfung habe, dann stimmt seine Aussage mit den hier gezeigten Ergebnissen überein, wie im folgenden zu zeigen sein wird, müßte aber spezifiziert werden. Ähnlich wie Dreier auch Höffe (1979 b: 207): „Bei Kant ist der Vertrag ausschließlich eine normative Idee der praktischen Vernunft, der letzte Maßstab zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit positiven Rechts, so wie der kategorische Imperativ das höchste Beurteilungskriterium für die Moralität von Maximen ist.“ Vgl. auch Kersting (1983: 298). 558 Kant, AA, 19, R 7781. 559 Kant, AA, 19, R 7791. 560 Oben, 122 ff. 561 Etwa bei Ralf Dreier (1996: 291 ff.), Kühl (1990: 78), m. w. N.
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teilenden abhängig. 562 Dies zeigt, daß selbst mit Hilfe der Zweck/Mittel-Formel als Kriterium zur Beurteilung von Rechtsakten keine verbindlichen Aussagen getroffen werden können. Festzuhalten ist somit, daß es nach dem oben Gesagten keine externe Möglichkeit der Überprüfung des positiven Rechts auf die Übereinstimmung mit den Legitimitätskriterien mit konstitutiver Wirkung für die Legitimität des Rechts geben kann. (3) Die Perspektiven der Rechtsüberprüfung: intern Man muß also genau unterscheiden: Die externe Überprüfung geschieht durch eine Person, die nicht selbst die Gesetzgebung durchführt. Werden demgegenüber die positiven Gesetze vom Gesetzgeber selbst überprüft, um diese möglicherweise durch neue Gesetze zu revidieren, oder werden die positiven Gesetze vom Rechtsadressaten daraufhin überprüft, wie er deren Gültigkeit für sich selbst anerkennt, um dann adäquat die Freiheitsräume und Handlungsoptionen der subjektiven Rechte auszufüllen, dann handelt es sich beide Male um eine interne Überprüfung. Hierbei würde nicht die (soziale) Verbindlichkeit des Gesetzes für das Gemeinwesen kritisiert. Demgegenüber ist bspw. die Überprüfung durch ein (Verfassungs-)Gericht, das nach der Regelanwendung zu der Einsicht der Nichtverträglichkeit der Norm und damit zu deren Nichtigkeit kommen würde, oder aber die Überzeugung der Unrechtmäßigkeit eines einzelnen Rechtsadressaten, nicht lediglich eine interne Überprüfung. Es würde nicht nur den betreffen, der für die Veränderung der Gesetze, bzw. deren individuelle Ausfüllung zur Rechtsdurchsetzung verantwortlich ist, sondern eine Person jenseits des eigenen Rechtskreises. Eine externe Prüfung ist aber auf ein verbindliches Kriterium angewiesen, wenn diese in legitimitätsstiftender Weise neues Recht anstelle des alten setzen soll. Wie oben gezeigt, stellt sich das Problem des Rechts der Menschheit aber gerade in dem Mangel eines kongruierenden Gegenstandes in den Sinnen dar: „Der Idee einer Staatsverfassung überhaupt“ kann nach Kant „kein Beispiel in der Erfahrung untergelegt werden“ 563. Würde die bloße Regelgemäßheit als Rechtskriterium genügen, dann würde das Kriterium der Universalisierbarkeit gegen das Prinzip der selbstbestimmten Universalisierung ausgespielt, als ob es ein (absolut) richtiges „Bild“ des Rechts geben würde, und diesem folglich konstitutive Bedeutung fälschlich untergeschoben, so wie es Platon mit seiner Ideenlehre getan hat.564 Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Formulierungen Kants etwas näher, so sieht man, daß die Einführung des „Probiersteins der Rechtmäßigkeit“ sowohl in dem „Gemeinspruch-Aufsatz“ als auch in der „Metaphysik der Sitten“ immer nur auf eine Selbstüberprüfung des Gesetzgebers hinausläuft: „In dieser Beurteilung, 562 563 564
Vgl. diesbezüglich insbesondere den Versuch von Brugger (1996 a: 86 ff.). Kant, MS-RL, S. 499 (B 187). Dazu Habermas (1976: 186).
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ob jene Maßregel klüglich genommen sei oder nicht, kann nun zwar der Gesetzgeber irren, aber nicht in der, da er sich selbst fragt, ob das Gesetz auch mit dem Rechtsprinzip zusammen stimme oder nicht.“ 565 Dieser Konzeption entspricht der Ansatz einer dauernden Revidierbarkeit der Gesetze: eine Konstitution „soll nicht anerben sondern muß jedesmal als neuer geschlossener Verein betrachtet werden und das Volk ist beständig als constituierend anzusehen“ 566. Deshalb bezieht Kant ausdrücklich das Recht des Gesetzgebers auf Irrtum mit ein, 567 denn die Theorie der „Prinzipien a priori“ 568 bedarf der „Versuche und Beispiele“, um Praxis zu werden. 569 „Da zeigt sich nun daß der Zustand eine bloße Idee sei zu der man zwar Grundsätze hat die Ausführung des Objekts aber welches Übersinnlich ist nur durch Annäherung nach einem regulativen Princip kann gedacht werden.“ 570 Folglich ist die Verwirklichung der Rechtsidee nicht mit der Staatsgründung abgeschlossen, sondern darauf ausgerichtet, das Recht der Menschheit in Reformen approximativ umzusetzen. Damit zeigt sich, daß die durch positives Recht ausgewiesenen subjektiven Rechte, sowohl die durch das Recht eingeräumten Freiheitsrechte als auch Kompetenzrechte in Form von Gestaltungsrechten, einen Freiraum für die individuelle Anwendung der Rechtsprinzipien bereitstellen müssen und nicht ihrerseits voll geregelt sein können. Deshalb kann das äußere Recht auch keine Gründe für die Durchsetzung des Rechts bereithalten. Wenn Wahl- und Beteiligungsrechte bereits inhaltlich voll geregelt wären, könnte das Recht selbst keine neuen Inhalte mehr aufnehmen und wäre somit um seine Dynamik gebracht oder aber gänzlich inhaltslos; es könnte sich nur an feststehende Inhalte angleichen. Damit ist aber kein Widerspruch zu dem Regelmodell intendiert. Geregelt sind einerseits die Freiraumgrenzen, also die Rechte auf Freiheit, genauso die Rechtspflichten, die den Rechten auf etwas korrespondieren, sowie die Kompetenzrechte: Nur dort, wo dem Subjekt Freiräume zugesprochen sind, lebt die Prinzipienebene wieder auf. Dadurch gelingt es ihnen, die statische positive Rechtsordnung, die nach Kant die Rechtssicherheit verbürgt, an die teleologische Struktur des Rechts der Menschheit anzuknüpfen, so daß eine dynamische Entwicklungsmöglichkeit für das Kant, Gemeinspruch, S. 155 (A 253); Hervorhebung von M. S.; vgl. ebd., auch S. 153. Kant, AA, 23, 343. Ob in dem Gedanken der ständigen Konstitution bereits die Vorwegnahme der Integrationslehre Smends (1956: 299 ff.) gesehen werden kann, müßte einmal gesondert untersucht werden. 567 Anders Kersting (1994: 206): „Rousseau und Kant hingegen gewinnen aus der normativen Bestimmung der Unfehlbarkeit den Souveränitätsbegriff: Souverän kann nur der sein, der die Unfehlbarkeitsbedingungen erfüllt, der notwendig richtige Gesetze macht, eben der vereinigte Volkswille.“ Vgl. aber Kant, Gemeinspruch, S. 161 (A 265): „Denn, daß das Oberhaupt auch nicht einmal irren, oder einer Sache unkundig sein könne, anzunehmen, würde ihn als mit himmlischen Eingebungen begnadigt und über die Menschheit erhaben vorstellen.“ 568 Kant, AA, 23, 134. 569 Kant, AA, 23, 136. 570 Kant, AA, 23, 141. 565 566
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Recht besteht, die durch die Teilhaberechte in das positive Recht umgesetzt werden kann. Positive Gesetze sind nicht theoretisch zu erkennen, sondern praktisch zu bilden. Moderne Demokratie ist also auf die überschießende Subjektivität angewiesen, die in den subjektiven Handlungsspielräumen über den status quo hinausgeht. Andernfalls würde das Institutionensystem absterben und jede Kraft zur Erneuerung einbüßen. Kant schreibt deshalb in der „Anthropologie“, daß dem „regulativen Prinzip“ der „weltbürgerlichen Gesellschaft“, „als der Bestimmung des Menschengeschlechts, nicht ohne gegründete Vermutung einer natürlichen Tendenz zu derselben, fleißig nachzugehen“ sei. 571 Deshalb ist es dem einzelnen Subjekt nicht verwehrt, allgemeine öffentliche Kritik an den Gesetzen und den ausgewiesenen Rechtspflichten zu üben, wobei ihnen der „Probierstein“ helfen kann, aber dieser kommt eben keine konstitutive Wirkung zu. Sie nimmt nur den Status einer „subjektiven“ Meinungsäußerung 572 über die Gesetzgebungen ein, „über die ihr zwar öffentlich vernünfteln, euch aber selbst nicht zu widerstrebenden Gesetzgebern aufwerfen könnt“ 573. Der Kritik kommt damit neben der politischen auch eine höchst subjektive Wirkung zu, nämlich das eigene Denken zu überprüfen. In seiner Anthropologie erklärt Kant, „warum das gelehrte Volk so dringend nach der Freiheit der Feder schreit; weil wenn diese verweigert wird, uns zugleich ein großes Mittel entzogen wird, die Richtigkeit unserer eigenen Urtheile zu prüfen, und wir dem Irrthum preis gegeben werden“ 574. Nähmen demgegenüber die Prinzipien in der Rechtslehre einen geltungstheoretischen Status ein, würde dadurch die positive Gesetzgebung von der Idee der autonomen Gesetzgebung entkoppelt: Die rein inhaltliche (Fremd-)Überprüfung ist nicht möglich, wie Kant immer wieder betont: 575 „Der Wille des summi imperantis muß jederzeit recht (d. i. irreprehensibel) seyn, weil sein Wille bestimmen soll, was recht ist und das oberste principium iustitiae publicae seyn soll.“ 576 Kant, Anthropologie, S. 687 f. (B 329 f, A 331 f.). Vgl. Deggau (1983: 270): „Alle seine entgegenlautende Auffassung ist nur unwesentliche Privatmeinung: jene sind per se rechtmäßig.“ 573 Kant, MS-RL, S. 498 (B 187). 574 Kant, AA, VII, S. 128 f., Herv. nicht im Original; vgl. Scheffel (1982: 200): „Dementsprechend besteht das Recht des Volkes gegen den Herrscher nicht darin, ihn zwingen zu dürfen, nach diesem Prinzip zu verfahren, sondern lediglich darin, frei und öffentlich die Gesetzgebung des Staatsoberhaupts nach dem genanten Prinzip der Rechtmäßigkeit öffentlicher Gesetze (...) beurteilen zu dürfen.“ 575 Zutreffend Kersting (1994: 206), der aber nicht zwischen einer individuellen und einer sozialen Verbindlichkeit unterscheidet: „Nicht die Übereinstimmung mit materialen Gerechtigkeitsnormen qualifiziert ein Gesetz als gerecht, auch nicht seine Respektierung individueller, aller Gesetzgebung vorgelagerter Grundrechte, sondern allein die Art und Weise seiner Entstehung: die Gerechtigkeit eines Gesetzes wird durch das Verfahren seiner Genese garantiert. Und da dieses Verfahren unter begrifflicher Perspektive direkt-demokratisch ist, stehen für Kant (...) die Begriffe der Souveränität, Gerechtigkeit und Demokratie in einem unauflöslichen Verweisungszusammenhang.“ 576 Kant, AA 19, R 7756, Herv. nicht im Original; vgl. auch ebd., 7792: „Der summus imperans muß irreprehensibel und eben darum aus seinem Rechte irresistibel seyn.“ 571 572
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Kap. 2: Historische Vergegenwärtigung
Daß die innere Überprüfung des Gesetzes durch das Rechtssubjekt selbst vorgenommen werden soll, um dessen Gültigkeit für den einzelnen zu bestimmen, wird deutlich durch eine Andeutung Kants im „Beschluß“ der Rechtslehre, nämlich, wie Kant erläutert, daß den Gesetzen nur „gehorcht“ werden müsse, „in allem, was nicht dem inneren Moralischen widerstreitet“ 577. Dies kann aber nur für den Bereich gelten, der dem einzelnen freigestellt ist, d. h. er unterlegt der moralischen Forderung, kein unsittliches Recht anzuwenden. Jedoch, und das stellt Kant immer wieder klar, ist das Subjekt nicht berechtigt, aus einem solchen moralischen Unwerturteil heraus Widerstand zu leisten; denn das wäre eine Handlung mit allgemeiner rechtlicher Wirkung, die aber die externe legitimitätsvernichtende Kritik voraussetzen müßte. Wegen deren Unmöglichkeit ist nach Kant deshalb lediglich ein passives „widerstehen“ legitim: 578 Die Rechtsadressaten können „sich niemals widersetzen aber doch widerstehen, d. i. weigern, das an sich moralisch unmögliche zu thun und darüber alles erdulden“. 579 Auf subjektive Rechte übertragen, bedeutet dies, daß der einzelne sein Recht nicht durchsetzen braucht, letztlich nach seinem Gutdünken mit der äußerlichen Willkürfreiheit verfahren kann. Insoweit ist er nur seinem inneren Rechtsverhältnis verpflichtet. Das rebellische Subjekt, das sich unzufrieden mit der Sittlichkeit der Gesetze zeigt, wird durch den Rechtsstaat in die Bahnen des Reformismus gedrängt und kann nur in den gewährten Handlungsspielräumen über den status quo hinausgehen.580 Kant, MS-RL, S. 497 (B 185). Vgl. auch Kant, MS-RL, S. 441 (A 181, B 211): es ist „kein aktiver Widerstand (...), sondern nur ein negativer Widerstand“ erlaubt. Ausführlich mit dem Widerstandsrecht Kants beschäftigt sich Unruh (1993: 194 ff.), der gleichfalls ein „aktives Widerstandsrecht“ für Kant ablehnt (213). 579 Kant, AA, 19, R 7680; vgl. auch ebd., 7975: „(...) so ist kein Widerstand erlaubt. Aber in Dingen der Moralität gleichwohl seinen Gehorsam zu verweigern und alles über sich ergehen zu lassen. Denn da kann man über sich disponieren.“ 580 Inwieweit sich hier ein Vergleich mit der Theorie von Mead aufdrängt, dessen „I“ immer versucht, über die aufgegebene Normativität des „Me“ hinauszugehen und sich dort einzubringen, soll am Ende noch kurz angesprochen werden; vgl. etwa Brunkhorst (1997: 223), der aber übersieht, daß dieser Ansatz prinzipiell schon bei Kant angelegt ist, und dessen Theorie vielleicht helfen kann, über die Aporien von Mead hinwegzukommen; vgl. kritisch zu Mead: Elke Beck (1991: 25 ff., 31). Interessant ist ein Vergleich mit Mead aber auch deshalb, weil Mead diese Struktur vor allem für moralisches Handeln entwickelt hat. Bei Kant ist wegen der individuellen Ausformulierung der Moral, gar kein rebellisches „I“ gegen die Gruppenmoral möglich, sondern seine Ansprüche können nur über das Recht vermittelt werden. Das Subjekt Kants ist also gar nicht darauf angewiesen, von außen die Achtung zu bekommen, um sich als moralisch zurechenbares Subjekt verstehen zu können. Dem Sklaven genügt es, sich als moralisch fähiges Subjekt selbst zu entdecken, um seine moralische Gleichwertigkeit mit allen anderen Menschen einzusehen und Selbstachtung entwickeln zu können. Hier liegt ein gravierender Unterschied der subjektiv formulierten Moral zu der Gruppenmoral. Anders sehen es Autoren in der Nachfolge Meads, etwa Honneth (1992: 192): durch die moralische Anerkennung, sich selbst als moralisch zurechnungsfähiges Subjekt entdecken; und Forst (1994: 433 ff.): Um sich als moralische Person verstehen zu können und Selbstachtung 577 578
I. Das subjektive Recht bei Kant
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Festzuhalten bleibt deshalb, daß Kant keine Möglichkeit kennt, die vernunftrechtlichen Prinzipien gegen die positivierten und konkretisierten Regeln auszuspielen. Deshalb läßt sich die Behauptung nicht aufrechterhalten, daß das angeborene Menschenrecht auch gegenüber dem positiven Recht seine Gültigkeit behält, diesem nur „nicht die Bedeutung von Zwangsrechten, die man notfalls durch Gewalt ertrotzen darf“, zukommt. 581 Nach der hier verwendeten Terminologie würde in dieser Auslegung das angeborene Recht somit ein Recht auf Freiheit darstellen, dem lediglich die „Bewehrung“ fehlen würde. Dies ist aus den genannten Gründen jedoch nicht möglich, denn als Prinzip fehlt ihm die Konkretisierung. 582 Die Qualifikation als „Doppelcharakter der Freiheitsrechte, zugleich staatliche und vorstaatliche Rechte zu sein“ 583, verkennt die Kantische Einteilung in Prinzipen und Regeln, der eine konstitutive Wirkung für die Rechtslehre zukommt. Der Mensch steht gerade nicht in zwei Rechtssystemen, einem naturrechtlichen und einem positivrechtlichen, die beide nur miteinander abgeglichen werden müssen, 584 und bei einem Widerspruch, wenn sich das letztere nicht vor dem ersteren rechtfertigen ließe, würde jenes seiner allgemeinen Verbindlichkeit verlustig werden. Dies würde voraussetzen, daß auch das Vernunftrecht eine eindeutige Antwort gibt. Wie gezeigt, kann aber eine Konkretisierung immer nur eine relative Verbindlichkeit für sich in Anspruch nehmen. Nur die subjektive Verbindlichkeit, die für die Anerkennung und Ausfüllung der Handlungsspielräume wichtig ist, rekurriert auf das Vernunftrecht; hier ist eine Konkretisierung der Prinzipien möglich und sogar gefordert. Keinesfalls ist jedoch eine objektive verbindliche Kritik möglich, die zum Widerstand führen könnte: „Wenn jeder dann den Rechtsgehorsam aufkündigen darf, wenn die staatlichen Anordnungen seinen vernunftrechtlichen Vorstellungen widerstreiten, dann wird sich kein rechtlicher Zustand als gesellschaftliche Friedensordnung, geschweige denn als institutioneller Rahmen einer geordneten Rechtsverwirklichung etablieren können.“ 585 Nach Kant liegt der Grund nicht in der Übergewichtung des Prinzips der Rechtssicherheit gegenüber der Gerechtigkeit, 586 sondern in den thematisierten epistemologischen Voraussetzungen. 587 ausbilden zu können, muß die Würde durch andere geachtet werden (435, mit Verweis auf Honneth). Im einzelnen siehe dazu unten. 581 So Höffe (1996: 232 f.), so wohl auch Maus (1992: 68 f.). 582 Vgl. Kant, Gemeinspruch, S. 161 (A 264): „Wenn man mir nun bei diesen Behauptungen den Vorwurf gewiß nicht machen wird, daß ich durch diese Unverletzbarkeit den Monarchen zu viel schmeichele: so wird man mir hoffentlich auch denjenigen ersparen, daß ich dem Volk zu Gunsten zu viel behaupte, wenn ich sage, daß dieses gleichfalls seine unverlierbaren Rechte gegen das Staatsoberhaupt habe, obgleich diese keine Zwangsrechte sein können.“ 583 Maus (1992: 237). 584 So etwa Haensel (1926: 56) und Dulckeit (1973: 56 ff.); kritisch auch Kersting (1993: 491 ff.). 585 Kersting (1993: 492). 586 So etwa Ralf Dreier (1986: 21). 587 Brugger (1996 a: 87) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Stufung der Rechtsreflexion“.
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Kap. 2: Historische Vergegenwärtigung
c) Die Rechtsanwendung im positiven Recht durch das einzelne Subjekt Nachdem nun die Begründung des öffentlichen Rechtszustandes, die Gewinnung der positiven Rechtsgesetze und der Verbindlichkeitsstatus eines durch dieses positive Recht ausgewiesenen subjektiven Rechts untersucht worden sind, stellt sich die Frage, welche Folgerungen sich hieraus für die Rechtsanwendung durch das einzelne Subjekt ergeben. Ziel des positiven Privatrechts ist es nach Kant, jeden äußeren Akt der freien Willkür so einordnen zu können, ob er recht oder unrecht ist; hierzu sind die Festlegungen des öffentlichen Rechtszustandes erforderlich. 588 Mehr Informationen kann das äußere Rechtsverhältnis dem Subjekt jedoch nicht vermitteln. Das äußere Recht legt nicht seinerseits die Anwendung der Rechtsmöglichkeiten fest. Das äußere Rechtsverhältnis hält für den Umgang mit dem subjektives Recht keine Gründe bereit: weder für das Recht auf Freiheit, das bewehrte Handlungsfreiräume eröffnet, noch für das Recht auf etwas, das die Rechtsdurchsetzung – oder einen Verzicht (inklusive aller Zwischenstufen) – ermöglicht noch für das Kompetenzrecht. Fraglich ist damit, welche Maßstäbe bei der Rechtsanwendung heranzuziehen sind. Auszugehen ist dabei von Folgendem: Alle positiven Gesetze, damit aber auch alle ausgewiesenen Rechte und Pflichten, sind nach Kant „Pflicht für gerecht zu halten“ 589. Dieser Pflichtbegriff kann nicht mit dem Pflichtbegriff der Tugendlehre identisch sein, wonach alle Rechtspflichten indirekt-ethische Pflichten sind. Die durch das positive Recht ausgewiesenen Pflichten vermitteln keine stärkere Verbindlichkeit als die Gesetze selbst und sind deshalb ebenfalls nur relativ richtig (dazu oben 590). Durch den Kompetenztitel der staatlichen Selbsterhaltung in Verbindung mit dem Erlaubnisgesetz hat sich der durch das positive Recht ausgewiesene Rechts- und Pflichtenkreis von seinem naturrechtlichen Prinzipienvorbild inhaltlich entfernt. Von daher stellt das positive Recht für den Rechtsträger selbst keine Maßstäbe zur Rechtsverwirklichung bei. Deshalb läßt die Ausweisung eines Rechts durch die Rechtsordnung keinen Schluß auf die Sittlichkeit seiner Durchsetzung zu. Das subjektive Recht bietet eben nur Rechtsmöglichkeiten, über die niemand anders als der Rechtsträger selbst entscheiden kann. Trotzdem führt dieses Modell über die Hintertür zu einer Entlastung des Subjekts. Denn wie ein Gesetz kann auch die Ausübung eines Rechts nicht von einem Dritten legitimitätsvernichtend kritisiert werden. Hierfür müßte der Dritte nämlich unter Rückgriff auf die Prinzipien sein Urteil über die Verwendung des Rechts an die Stelle des Rechtsträgers setzen können. Dieser Rückgriff auf die Prinzipien für die Bildung eines solchen Urteils kann aber nur den Rang einer bloßen Meinungsäußerung einnehmen und damit keine verbindliche Kritik üben. Da an der Ausübung des Rechts somit keine konstitutive Kritik durch einen Dritten geübt werden kann, ent588 589 590
Vgl. König (1996 b: 171). Kant, Gemeinspruch, S. 153 (A 250). Oben, S. 141 ff.
I. Das subjektive Recht bei Kant
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lastet das Recht damit in der interpersonalen, sozialen Dimension. Kant kennt keine expertokratische Korrektur des wie auch immer ausgeübten Rechts. Zwar ist das Kantische Vernunftrecht auf seine teleologische Verwirklichung ausgelegt, jedoch vertraut Kant hier dem Willen der einzelnen, verantwortenden Individuen und nicht dem hypothetischen, überindividuellen Willen einer staatlichen Instanz. Die einzelnen sollen transpersonal – d. h. ein jeder Mensch soll durch sich hindurch – die noumenale Welt in die empirische Welt umsetzen. Ein Modell, das jemanden ein Recht nur dann zuweist, wenn er es auch sittlich ausübt, ist mit Kant nicht vereinbar, da hier eine Überprüfung der Gesinnung vorgenommen werden müßte. Dagegen entlastet das Recht nicht vor dem eigenem Gewissen. Auf der Anwendungsebene sinnt das Recht dem Rechtsträger an, die Rechtsprinzipien in Form des inneren Rechtsverhältnisses wieder heranzuziehen. In jedem inneren Rechtsverhältnis muß das Subjekt bei der Ausübung selbst die Rechtsprinzipien konkretisieren, da es keine vorgeprägten Regelungen vorfindet. Da im positiven Recht das Recht seine Legitimität nur einem prozeduralen Rechtsmodell verdankt, hat das Subjekt keine Gewißheit, daß die das Recht ausweisende Rechtsregel seinen Ansprüchen an die Sittlichkeit eines Rechtsanspruches genügt. Konnte oben dargestellt werden, daß es überhaupt keine moralischen Gründe gegen die Durchsetzung eines Rechts im Naturrechtsverhältnis nach Kant geben kann, ist dieser Automatismus im positiven Recht aufgegeben; eine Konsequenz daraus, daß das Recht nur mit relativer und keiner absoluten Richtigkeit gegeben ist. Forderte das Gebot des „honeste vivere“ im Naturrechtsverhältnis von dem Rechtsträger, sein Recht durchzusetzen, fordert das gleiche Gebot im positiven Rechtsverhältnis, jedes äußere Rechtsverhältnis auf die Übereinstimmung mit dem inneren Rechtsverhältnis zu überprüfen. Durch die Eigenständigkeit der positiven Gesetze ist demnach nicht mehr nur der Rechtsverzicht, sondern auch die Rechtsdurchsetzung in Hinblick auf ihre Legitimität zu hinterfragen. Wie im einzelnen die Entscheidung über die Rechtsmöglichkeiten zu treffen ist, soll weiter unten an dem Beispiel des Shylock demonstriert werden, nachdem das Kriterium der personalen Identität näher eingeführt worden ist. Wenn das Subjekt im Recht seine Selbsterhaltung bewahren soll, muß zunächst geklärt werden, wer dieses „Selbst“ des Subjekts überhaupt ist. Zusammenfassend gilt es demnach, mit dem äußeren Rechtszustand Verhältnisse von allgemeiner Freiheit, Gleichheit und Wechselseitigkeit zu etablieren, ohne auf die Gesinnung des Menschen Zugriff zu nehmen. Diese interpersonalen Verhältnisse sollen aber zugleich moralische Verhältnisse (im weiteren Sinne) sein. Dies erreicht Kant durch den Kunstgriff, das äußere Rechtsverhältnis an das innere Rechtsverhältnis anzuknüpfen. Im Rahmen des regelgeprägten äußeren Rechtsverhältnisses kann der Einzelne auf die Prinzipienebene des inneren Rechtsverhältnisses zugreifen. Im Verbund sorgen sie somit dafür, daß das einzelne Subjekt nicht nur moralisch denken, sondern auch sittlich handeln kann. Recht hat damit eine Entlastungsfunktion im sozialen Bereich, weil es von der Legitimität des Naturrechts profitiert, ohne jedoch zugleich ein alternatives Wissenssystem zur Moral zu werden. Kant setzt auf die Verschränkung beider Bereiche. Trotz dieser Verknüpfung kann
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Kap. 2: Historische Vergegenwärtigung
jedoch das innere und das äußere Rechtsverhältnis niemals zur Deckung gebracht werden, sondern nur im Wege der Weiterentwicklung versucht werden, das Recht durch die transpersonale Umsetzung an das Vernunftrecht immer mehr anzupassen. Damit stellt sich aber die Frage, warum dann überhaupt an diesem Sysyphos-Modell weiterarbeiten und nicht gleich ganz damit aufhören? Warum hat der Mensch dann die Motivation, sittlich zu handeln? Um den Bedeutungsgehalt der Rechte zu erschließen, soll deshalb versucht werden, die Motivationsstruktur des Subjekts durch eine Untersuchung des dahinter stehenden Identitätsbildes zu erkennen.
II. Recht und Selbstachtung: Transzendentale Einheit im Bereich des Praktischen An dieser Stelle soll nun versucht werden, die Bedeutung des Rechts und den Umgang mit Rechten für das Subjekt zu erschließen. Im folgenden soll untersucht werden, ob und inwiefern hierbei dem Achtungsbegriff eine Schlüsselfunktion zukommt. Achtung hängt nach Kant eng mit der Selbsterhaltung des Subjektes zusammen, nicht der physischen, sondern der psychischen Selbsterhaltung, deren notwendiger Bestandteil die Selbstachtung ist. Hierzu ist zunächst der Achtungsbegriff Kants einzuführen und dessen Zusammenhang mit dem Recht zu klären:
1. Der Begriff der Achtung und das Recht Der Achtungsbegriff wird in der Rechtstheorie zum Teil benutzt, um eine normative Begründungsstrategie für subjektive Rechte zu entwerfen, die den normativen Sinn von Rechten nicht in der Abwendung von Unrechtsgesetzen und -handlungen, sondern in einem positiven Aspekt für die Selbstachtung des Menschen sieht.591 Dabei sehen sich einige Vertreter dieser Richtung selbst als in der Kantischen Tradition stehend an (z. B. John Rawls 592 und Ronald Dworkin 593). Hinter diesen Begründungsstrategien steckt die Frage, welche Funktion subjektive Rechte für das Individuum erfüllen. Illustrativ hat dies Joel Feinberg in seinem Aufsatz „The Nature and Value of Rights“ in einem theoretischen Gedankenexperiment dargestellt, 594 der als Vgl. Massey (1983 b: 255 f.). Vgl. Rawls (1979: 283 ff.) und (1992: 189 ff.): „Durch ihre öffentliche Zustimmung zu den Grundfreiheiten drücken die Bürger in einer wohlgeordneten Gesellschaft ihre gegenseitige Achtung füreinander als vernünftige und vertrauenswürdige Personen und die Anerkennung für den Wert aus, den alle Bürger ihrer Art zu leben beimessen. Daher ermöglichen die Grundfreiheiten den beiden Gerechtigkeitsgrundsätzen, die Erfordernisse der Selbstachtung wirksamer als die anderen Alternativen zu erfüllen“ (191); krit. zu der Unterscheidung von Rawls, vgl. Wildt (1992: 155). 593 Vgl. hierzu etwa Brugger (1988: 109 ff.). 594 Feinberg (1992: 185 ff.). 591 592
II. Recht und Selbstachtung
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einer der wichtigsten neueren Versuche, eine Verbindung zwischen Selbstachtung und subjektiven Rechten herzustellen, 595 bezeichnet werden kann. Feinberg entwirft eine fiktive Gesellschaft, in der ein ungewöhnlich hohes Maß an sozialer Wohltätigkeit und wechselseitiger Rücksichtnahme herrscht, obwohl die Institution sozial verbürgter Rechte vollkommen unbekannt geblieben ist. Dieses Modell erweitert er noch in zwei Schritten, indem er sowohl ein Bewußtsein moralischer Verpflichtungen als auch ein System objektiver Rechte in seinen „Nowheresville“ genannten Sozialverband einfügt. Von einem derart konstruierten Gemeinwesen kann Feinberg schließlich mit guten Gründen annehmen, daß es das Wohlergehen seiner Bürger auf mindestens so hohem Niveau garantieren würde, wie dies heute in den mit individuellen Grundrechten ausgestatteten Gesellschaften geschieht: Alles, was hier durch legalisierte Ansprüche den Menschen an Hilfeleistung und Respekt zukommt, wird dort durch altruistische Neigungen und ein Gefühl einseitiger Verpflichtungen gewährleistet. Daß Gesellschaften vom Typ „Nowheresville“ gleichwohl etwas Entscheidendes fehlt, mit dem wir aufgrund unserer moralischen Intuitionen im allgemeinen rechnen, ist nun der Punkt, der Feinberg in seinem Gedankenexperiment interessiert; durch eine Analyse dessen, woran es jenen fiktiven Gemeinwesen bei allem Reichtum an moralischen Praktiken ermangelt, will er den Stellenwert erkunden, den individuelle Rechte für den einzelnen besitzen. 596 Feinberg kommt in seinem Aufsatz zu der Einsicht, daß einem Menschen die Möglichkeit, Selbstachtung ausbilden zu können, verwehrt bleibt, wenn ihm nicht gewisse Rechte zugesprochen werden: 597 „Having rights, of course, makes claiming possible; but it is claiming that gives rights their special moral significance. This feature of rights is connected in a way with the customary rhetoric about what it is to be a human being. Having rights enables us to ‚stand up like men‘, to look others in the eye, and to feel in some fundamental way the equal of anyone. To think of oneself as the houlder of rights is not to be unduly but properly proud, to have that minimal self-respect that is necessary to be worthy of the love and esteem of others. Indeed, respect for persons (this is an intriguing idea) may simply be respect for their rights, so that there cannot be the one without the other; and what is called ‚human dignity‘ may simply be the recognizable capacity to assert claims. To respect a person then, 595 Feinberg (1992: 185 ff.); siehe auch die Rekonstruktion von Honneth (1992) anhand von Hegel und G. H. Mead, nach dem die Achtung der Person im Recht eine wesentliche Voraussetzung für eine gelingende Selbstverwirklichung ist; vgl. die Arbeiten von Wildt (1982) und (1992); vgl. daneben aus dem englischsprachigen Raum die Arbeiten von Rawls (1979: 493 ff.) und Dworkin (1990: 19): „Die Ableitung einzelner Rechte aus dem abstrakten Recht auf Achtung, das als grundlegend und axiomatisch betrachtet wird.“; siehe auch die Arbeiten von Massey (1983 a: 246 ff.) und (1983 b: 57 ff.). 596 Kritisch dies Experiment aufnehmend, Wildt (1992: 148 ff.), v. a. S. 154. Wildt stellt die berechtigte Frage, ob subjektive Rechte nur notwendige oder hinreichende Bedingung für Selbstachtung sind. 597 Vgl. Wildt (1992: 148 ff.).
11 Schütze
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Kap. 2: Historische Vergegenwärtigung
or to think of him as possessed of human dignity, simply is to think of him as a potential maker of claims. (...) More than anything else I am going to say, these facts explain what is wrong with Nowheresville.“ 598 Feinberg betont in dieser Passage die Wichtigkeit des eigenen Glaubens an die eigenen Rechte, um Selbstachtung ausbilden zu können. Dieser Glaube gibt den Rechten ihre moralische Bedeutung.599 Unklar bleibt jedoch, warum man überhaupt Selbstachtung ausbilden soll. Diese Prämisse kann auf verschiedenen Annahmen beruhen. So kann in einem teleologischen Modell Selbstachtung in ein Konzept praktischer Selbstverwirklichung eingebunden werden 600 und von daher die moralischen und rechtlichen Implikationen erklären: Recht und Moral bekämen dann die Bedeutung eines Mittels für den Zweck der „intersubjektiven Bedingungen personaler Integrität“ 601. Darauf ist unten noch einmal zurückzukommen. Demgegenüber weist ein deontologisches Modell der Selbstachtung nur eine subsidiäre Rolle zu. Es geht um die Rechtfertigung von Normen, die keine bestimmten Ziele vorwegnehmen. 602 Danach wird der Rechtsbegriff Kants so interpretiert, daß er mit jeder Zweckbetrachtung unvereinbar sei, so daß Selbstachtung mehr eine „begleitende“ Rolle zukomme. Ein anderer, neuerer Versuch, die Selbstachtung in einem Konzept der Selbstverwirklichung einzuordnen, wird von dem Sozialphilosophen Axel Honneth unternommen, der die Abgrenzung seines Ansatzes zu dem von Kant mit folgenden Worten beschreibt: „Von der auf Kant zurückgehenden Tradition weicht unser Ansatz deswegen ab, weil es ihm nicht nur um die moralische Autonomie des Menschen, sondern um die Bedingungen seiner Selbstverwirklichung im ganzen geht.“ 603 Inwieweit Honneths Unterscheidung treffend ist, soll noch untersucht werden. Jedenfalls läßt sich zeigen, daß nach Kant die Bedeutung subjektiver Rechte tiefer liegt als ihre alleinige Bedeutung für Selbstachtung,604 nämlich die Ermöglichung von moralischer Selbstbestimmung. Kant geht es um ein Konzept von praktischer Selbstbestimmung und damit um das Behaupten und Herstellen von Identität. Gerade dieser Punkt der Selbstachtung läßt sich in Kants Rechtstheorie einbeziehen. Dabei kann aber schon jetzt vorweggenommen werden, daß Kant eine weit differenziertere Sicht auf diese Problematik entwirft, als sie gemeinhin festgestellt wird. Sie ist eingebunden in das gesamte moralische und sittliche Konzept. Dies soll im folgenden etwas näher untersucht werden. Feinberg (1992: 195). Vgl. zu Feinberg auch Massey (1983 a: 257). 600 Vgl. Honneth (1992: 275 ff.). 601 Honneth (1992: 274). 602 Vgl. auch Forst (1994: 418 f.). 603 Honneth (1992: 276). 604 Vgl. Massey (1983 a: 257): „The importance of respecting oneself must derive from the prior importance of having rights. One cannot then use the importance of self-respect (understood in the terms Feinberg suggests) to explain the importance of rights.“ 598 599
II. Recht und Selbstachtung
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a) Die Formen der Achtung: Respekt und Reverenz Der Ausgangspunkt für die Untersuchung der Selbstachtung ist der Begriff der Achtung: Dieser hat bei Kant eine moralische Bedeutung. Der Erkenntnisweg der moralischen Infrastruktur des Menschen führt automatisch zum Begriff der Achtung: Kant geht davon aus, daß das Subjekt unabhängig von dem empirischen Kontext, in dem es sich bewegt, sich jederzeit seine moralische Fähigkeit, das ist die Fähigkeit gemäß dem moralischen Gesetz zu handeln, vor Augen führen kann. Um derentwillen ist der Mensch Zweck an sich selbst und kann sich dadurch seiner moralischen Gleichwertigkeit mit allen anderen Menschen vergewissern: „Der Mensch, der sich auf solche Weise als Intelligenz betrachtet, setzt sich dadurch in eine andere Ordnung der Dinge und in ein Verhältnis zu bestimmenden Gründen von ganz anderer Art, wenn er sich als Intelligenz mit einem Willen, folglich mit Kausalität begabt, denkt.“ 605 Dem korrespondiert das erste Gebot aller Pflichten gegen sich selbst, das Kant als erweiterte Form der Aufschrift des delphischen Orakels präsentiert: „Erkenne (erforsche, ergründe) dich selbst nicht nach deiner physischen Vollkommenheit (der Tauglichkeit oder Untauglichkeit zu allerlei dir beliebigen oder auch gebotenen Zwecke), sondern nach der moralischen, in Beziehung auf deine Pflicht.“ 606 Dadurch nimmt der Mensch wahr, daß er „eine Würde (einen absoluten innern Wert) (besitzt), wodurch er allen andern vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt, sich mit jedem anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann.“ 607 Allein die Selbsterkenntnis der moralischen Fähigkeit ist hiernach ausreichend zur Ausbildung von Selbstachtung: denn „daraus, daß wir einer solchen inneren Gesetzgebung fähig sind, daß der (physische) Mensch den (moralischen) Menschen in seiner eigenen Person zu verehren sich gedrungen fühlt, zugleich Erhebung und die höchste Selbstschätzung, als Gefühl seines inneren Werts (valor), nach welchem er für keinen Preis (pretium) feil ist, und eine unverlierbare Würde (dignitas interna) besitzt, die ihm Achtung (reverentia) gegen sich selbst einflößt.“ 608 Selbstachtung wird als ein Gefühl beschrieben (reverentia, im folgenden als „Reverenz“ übersetzt): „Wenn es demnach heißt: Der Mensch hat eine Pflicht der Selbstschätzung, so ist das unrichtig gesagt, und es müßte vielmehr heißen: das Gesetz in ihm zwingt ihm unvermeidlich Achtung für sein eigenes Wesen ab, und dieses Gefühl (welches von eigener Art ist) ist ein Grund gewisser Pflichten, d. i. gewisser Handlungen, die mit der Pflicht gegen sich selbst zusammen bestehen können, nicht: er habe eine Pflicht der Achtung gegen sich; denn er muß Achtung vor dem Gesetz in sich selbst haben, um sich nur die Pflicht überhaupt denken zu können.“ 609 Es ist ein Gefühl, das sich durch moralisches Handeln einstellt: „Die unmittelbare Bestim605 606 607 608 609
11*
Vgl. auch Kant, GMS, S. 94 (BA 117), Herv. nicht im Original. Kant, MS-TL, S. 576 (A 104), Herv. nicht im Original. Kant, MS-TL, S. 569 (A 93). Kant, MS-TL, S. 570 (A 96). Kant, MS-TL, S. 534 (A 41 f.).
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Kap. 2: Historische Vergegenwärtigung
mung des Willens durchs Gesetz und das Bewußtsein derselben heißt Achtung, so daß diese als Wirkung des Gesetzes aufs Subjekt und nicht als Ursache desselben angesehen wird.“ 610 An anderen Stellen benutzt Kant den Begriff der Achtung im Sinne von Respekt, den man einer anderen Person schuldet, welche nicht als Mittel, sondern als Zweck an sich selbst behandelt werden soll: „Achtung, die ich für andere trage, oder die ein anderer von mir fordern kann (observantia aliis praestanda), ist also die Anerkennung einer Würde (dignitas) an anderen Menschen, d. i. eines Werts, der keinen Preis hat, kein Äquivalent, wogegen das Objekt der Wertschätzung (aestimii) ausgetauscht werden könnte. Die Beurteilung eines Dinges, als eines solchen, das keinen Wert hat, ist die Verachtung.“ 611 Der Unterschied zwischen Respekt und Reverenz, 612 der leider an vielen Stellen mangels Stringenz der Kantischen Terminologie nicht deutlich wird, wird von Kant in einer Bemerkung betont, die in dem Kontext mit den „Pflichten gegenüber anderen“ steht. Dort schreibt Kant, daß Respekt kein Gefühl, sondern in einem praktischen Sinn eher eine Grenze unserer Selbstschätzung durch die Würde in der anderen Person ist: Respekt ist „eine Maxime der Einschränkung unserer Selbstschätzung, durch die Würde der Menschheit in eines anderen Person, mithin die Achtung im praktischen Sinne (observantia aliis praestanda)“ 613. Respekt drückt somit eine Art Grenze der Entfaltungsmöglichkeiten des Subjekts aus, nämlich bei der Verwirklichung seiner existentiellen Projekte die anderen als Zweck an sich selbst zu respektieren und nicht nur den eigenen Neigungen nachzugehen. Anders als bei der Reverenz besteht eine Pflicht, anderen Menschen Respekt entgegenzubringen, sie nicht als Mittel zu benutzen. 614 Hinter den beiden Begriffen verbirgt sich ein Konzept der Abstufung der Achtung. Zu ihrer Darstellung ist zunächst der Gegenstand der Achtung zu bestimmen. 615 Schwierigkeiten ergeben sich auch hier, weil Kant seiner Theorie der Selbstachtung kein besonderes Kapitel widmet, sondern Erörterungen im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zu der Achtung von Personen generell zu finden sind: Die Achtung bezieht sich auf die Fähigkeit zur Gesetzgebung in einem jeden Menschen. Die Raffinesse seiner Konstruktion liegt darin, daß Kant, GMS, S. 28 Anm. (BA 17). Kant, MS-TL, S. 600 (A 139). 612 Diese Unterscheidung wurde erstmals von Mary Gregor (1963: 181) hervorgehoben, sie hat ihr aber eine andere Bedeutung gegeben; vgl. dazu auch Walker (1989: 97 f.), der die Unterscheidung einerseits als Gefühl (respect) anderseits als Motiv (reverence) einführt. Vgl. auch die Arbeit von Hruschka (1993: 193 ff.), der versucht, den kantischen Achtungsbegriff für die Rechtslehre fruchtbar zu machen. Hruschka gelangt zu dem Ergebnis, daß gegenseitige Achtung im kantischen Sinne eine tatsächliche Voraussetzung des Rechtsstaates sei (203 ff.). 613 Kant, MS-TL, S. 585 (A 118), vgl. auch ebd. S. 601 (A 140). 614 Vgl. wiederholt Kant, MS-TL, S. 606 f. (A 148). 615 Vgl. zu dieser Aufgabenstellung auch Tugendhat (1993 a: 306 f.), der selber drei Ebenen unterscheidet, die aber analytisch zusammenhängen (307): Achtung als Rechtssubjekt, Achtung der Freiheit und Achtung der Leistungsfähigkeiten. 610 611
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wegen der dualistischen Aufspaltung der Person in einen noumenalen und einen phaenomenalen Teil sich nur geringfügige Differenzen ergeben, ob die Achtung eine andere Person oder einen selbst betrifft. 616 Der Gegenstand der Achtung ist das Gemeinsame einer jeden Person mit allen anderen Personen. Der noumenale Teil ist bei allen Menschen gleich. Die achtende Person steht der noumenalen Welt in sich aber genauso gegenüber wie der noumenalen Welt in anderen Personen. Hiermit gewinnt Kant die entscheidende methodische Weichenstellung, um die Achtung eines anderen Menschen und die Selbstachtung zu verknüpfen. Kant gelingt hierdurch die Annäherung an eine intersubjektive Perspektive. Im einzelnen: Der Respekt, der jeder Person geschuldet wird, bezieht sich auf den noumenalen Teil 617 der Person: „Die Menschheit in seiner Person ist Objekt der Achtung, die er von jedem Menschen fordern kann.“ 618 Mit der Menschheit meint Kant die Fähigkeit der Gesetzgebung: „Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur Achtung fürs Gesetz.“ 619 Achtung kommt damit jedem Menschen zu, der die moralische Fähigkeit hat. 620 Diese Achtung ist die Basis für das positive Gefühl der (Selbst-)Achtung (Reverenz), das sich bei eigenem oder fremden moralischen Handeln einstellt: „Ich bin nicht verbunden, andere (bloß als Menschen betrachtet) zu verehren, d. i. ihnen positive Hochachtung zu beweisen. Alle Achtung, zu der ich von Natur verbunden bin, ist die vor dem Gesetz überhaupt (revere legem), und dieses, nicht aber andere Menschen überhaupt zu verehren (reverentia adversus hominem), oder hierin ihnen etwas zu leisten, ist allgemeine und unbedingte Menschenpflicht gegen andere, welche, als die ihnen ursprünglich schuldige Achtung (observantia debita), von jedem gefordert werden kann.“ 621 Es ist der Respekt gegen einen anderen, dessen Würde, der ein bestimmtes Handeln erforderlich macht, 622 „worauf ein jeder Mensch (...) rechtmäßigen Anspruch hat.“ 623 Diese Basis ist der „positive Grund“ 624 für das moralische Gefühl, „welches 616 Vgl. die Ausführungen von Kant zum Gewissen als Gerichtshof über Personen: „Daß aber der durch sein gewissen Angeklagte mit dem Richter als eine und dieselbe Person vorgestellt werde, ist eine ungereimte Vorstellungsart von einem Gerichtshofe; denn da würde ja der Ankläger jederzeit verlieren. – Also wird sich das Gewissen des Menschen bei allen Pflichten einen anderen (als den Menschen überhaupt), d. i. als sich selbst zum Richter seiner Handlungen denken müssen, wenn es nicht mit sich selbst im Widerspruch stehen soll.“ 617 Kant, MS-TL, S. 569 (A 93): „Denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht bloß als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d. i. er besitzt eine Würde (einen absoluten innern Wert).“ 618 Kant, MS-TL, S. 569 (A 94). 619 Kant, GMS, S. 28 Fußnote (BA 17). 620 Auf die Probleme, die sich hieraus in Zusammenhang mit geistig Behinderten und Tieren ergeben, weisen die Kants Kritiker hin. Vgl. etwa Rehbock (1998: 1015). Für die vorliegende Arbeit glaube ich aber, diesen Einwand vernachlässigen zu können. 621 Kant, MS-TL, S. 606 f. (A 148), Herv. nicht alle im Original. 622 Vgl. wiederholt Kant, MS-TL, S. 600 (A 139). 623 Kant, MS-TL, S. 600 (A 140). 624 Kant, KpV, S. 195 (A 133).
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durch einen intellektuellen Grund gewirkt wird“ 625. Demgegenüber ist die Reverenz, daß, was ich einem Menschen für sein moralisches Handeln entgegenbringe – ihn verehre –, nicht nur für seine basale Würde. Festzuhalten bleibt damit: Kant kennt zwei verschiedene innere Einstellungen gegenüber Personen, wobei man mit Kant eigentlich sagen müßte, daß sich die Einstellung der Achtung auf das Gesetz in ihnen bezieht.626 Demnach hat man Respekt für die potentielle moralische Fähigkeit der Menschen und Reverenz für moralisch handelnde Personen. 627 Reverenz stellt sozusagen eine „Achtung zweiter Ordnung“ dar; die Achtung, die sich einstellt, wenn man sich des Sittengesetzes würdig zeigt. Anders als Respekt ist sie ein steigerungsfähiger Begriff. 628 Diese Form der Achtung kennt also eine Abstufung, anhand derer ihr Mehr oder Weniger zu bestimmen sein muß. Die Reverenz kann man einem Menschen auch ganz entziehen, im Gegensatz zu dem Respekt: „Nichts desto weniger kann ich selbst dem Lasterhaften als Menschen nicht alle Achtung versagen, die ihm wenigstens in der Qualität eines Menschen nicht entzogen werden kann; ob er zwar durch seine Tat sich derselben unwürdig macht.“ 629 Ich kann aber aufhören diesen Menschen zu verehren, da „ich nicht verbunden bin, andere zu verehren.“ 630 Im Unterschied zu dem Respekt, den ich jedem Menschen allein aufgrund seiner moralischen Fähigkeit zuspreche, macht Kant bei der Reverenz ein gravierendes Problem aus: Die Qualität von Handlungen anderer Menschen kann ich nicht erkennen. Um beurteilen zu können, ob sie moralisch handeln, müßte ich ihre innere Einstellung erkennen können; ihre Handlung kann stets nur ein „Beispiel“ des moralischen Gesetzes abgeben 631. Darüber kann ich aber nichts wissen: „der menschliche Richter (kann) das Innere anderer Menschen nicht durchschauen.“ 632 Die Handlung allein sagt nichts über den Wert oder Unwert einer Person aus: „Man nennt aber einen Menschen böse, nicht darum, weil er Handlungen ausübt, welche böse (gesetzwidrig) sind; sondern weil diese so beschaffen sind, daß sie auf böse Maximen in ihm schließen lassen.“ 633 Diese Aussage läßt sich auch auf „gute“ Handlungen übertragen. Nach Kant ist Reverenz immer dann möglich, wenn auf der phaenomenalen Ebene Kant, KpV, S. 194 (A 130). Vgl. Kant, GMS, S. 28 Anm. (BA 17). Hieran setzt eine breite Kritik an, etwa die Radikalisierung der Schillerschen Kant-Kritik, die dann auch Hegel aufnimmt, vgl. hierzu Wildt (1982: 94 ff.). 627 Vgl. Massey (1983 b: 63). 628 Auch Stephan L. Derwall läßt sich in seinem einflußreichen Aufsatz „Two Kinds of Respect“ (1977/78: 36 ff.) von der Überzeugung leiten, daß wir zwei Formen der Achtung anhand des Kriteriums unterscheiden müssen, ob sie evaluative Abstufungen voraussetzen oder umgekehrt gerade ausschließen; vgl. dazu Wildt (1992: 155 ff., 158) und Honneth (1992: 181 ff.). 629 Kant, MS-TL, S. 601 (A 141), Herv. nicht im Original. 630 Vgl. wiederholt: Kant, MS-TL, S. 606 f. (A 148). 631 Vgl. Kant, GMS, S. 28 Anm. (BA 17). 632 Kant, Religion, S. 754 (A 124; B 132). 633 Kant, Religion, S. 666 (BA 5). 625 626
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ein Anzeichen auftritt, das die Präsumption des guten und damit gesetzgebenden Willens des anderen rechtfertigt: „Fontanelle sagt: vor einem Vornehmen bücke ich mich, aber mein Geist bückt sich nicht. Ich kann hinzusetzen: vor einem niedrigen, bürgerlich-gemeinen Mann, an dem ich eine Rechtschaffenheit des Charakters in einem gewissen Maße, als ich mir von mir selbst nicht bewußt bin, wahrnehme, bückt sich mein Geist, ich mag wollen oder nicht, und den Kopf noch so hoch tragen, um ihn meinen Vorrang nicht übersehen zu lassen. Warum das? Sein Beispiel hält mir das Gesetz vor, das meinen Eigendünkel niederschlägt, wenn ich es mit meinem Verhalten vergleiche, und dessen Befolgung, mithin die Tunlichkeit desselben, ich durch die Tat bewiesen vor mir sehe. Nun mag ich mir sogar eines gleichen Grades der Rechtschaffenheit bewußt sein, und die Achtung bleibt doch.“ 634 Hier zeigt sich ein konzeptioneller Unterschied zwischen der Achtung der eigenen Person und der anderer Personen: Im interpersonalen Umgang ist nicht die moralische Würdigkeit nach ihren eigenen Maßstäben, die Beurteilung des eigenen Handelns durch andere Menschen selbst ausschlaggebend, sondern mein Wille anerkennt ihre Würde (Respekt) und ihre moralische Handlung (Reverenz) nach meinen eigenen Maßstäben. 635 Dieses Verfahren der Maßstabsbildung ist nach Kant ein universelles, und damit ist der Maßstab der Achtung ein objektiver, 636 nämlich das moralische Gesetz; das heißt: würdig geachtet zu sein, macht sich jemand durch sein Handeln gemäß dem Sittengesetz, wie es sich als Konkretisierung und Anwendung durch die beurteilende Person darstellt. Deshalb läßt sich auch nicht sagen, daß die Reverenz anderen gegenüber „legales“ Verhalten betreffe. Weil das Kantische Konzept der Achtung nicht grundsätzlich zwischen der Achtung meiner selbst und der Achtung anderer unterscheidet, sondern auf die Achtung von Personen schlechthin bezogen ist, ermöglicht durch die Aufspaltung der Person in einen noumenalen und phaenomenalen Teil, betrifft der Gegenstand der Achtung immer moralisches Handeln und nicht bei anderen lediglich legales Verhalten. Legales Handeln ist damit notwendiges, aber nicht hinreichendes Kriterium der Achtung.637 Der einzige Unterschied der Achtung in bezug auf die eigene Person ist, daß hierbei die Person über ihre eigene moralische Qualität ein Urteil fällt, und sie selbst weiß, in welcher Form sie eine Willkürbestimmung vorgenommen hat. Somit kann die moralischen Qualität selbst erkannt werden, wobei diese „Introspektion“ aber auch bei sich selbst nicht „mit strenger Gewißheit (...) das Innere der Gesinnung“ aufdecken kann, denn „ja selbst die innere Erfahrung des Menschen an ihm selbst läßt ihn die Tiefen seines Herzens Kant, KpV, S. 197 f (A 137). Vgl. Schild (1981 a: 254). Somit stellt sich hier ein ähnliches Problem, wie bei der Ausfüllung der rechtlichen Kategorie der „Selbständigkeit“, denn die moralische Willensbestimmung kann ich von außen nicht feststellen, sondern nur nach bestimmten Maßstäben bewerten, allenfalls ihre legale Qualität beurteilen. 636 Zu der Unterscheidung zwischen einem objektiven und einem subjektiven Konzept von Achtung bzw. zwischen einem objektiven und einem psychologischen Achtungskonzept vgl. Massey (1983 a: 246 ff.) und Wildt (1992: 153 ff.). 637 Vgl. auch Ricken (1989: 248 f.). 634 635
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nicht so durchschauen, daß er von dem Grunde seiner Maximen, zu denen er sich bekennt, und von ihrer Lauterkeit und Festigkeit durch Selbstbeobachtung ganz sichere Kenntnis erlangen könnte“ 638. Damit wird von Kant ein subjektives Achtungskonzept, das auf einem relativen Achtungsbegriff oder besser einem Ehrbegriff aufbaut, abgelehnt. Denn Respekt ist nicht subjektiv, er ist objektiv gegen jedermann geschuldet. Ein auf Neigungen oder empirischen Gründen aufbauendes Achtungskonzept kann dagegen immer nur relativistisch sein und erfüllt damit nicht die moralischen Voraussetzungen, die Kant an eine universelle Moral stellt. 639 Kant lehnt nicht nur die Begründung der Moral auf einem relativistischen Gefühlsmodell ab, sondern auch ein derartiges Achtungskonzept. b) Das Entstehen der Selbstachtung Trotz dieser Ungewißheit bedeutet dann sich selbst zu achten, konsistent mit seinem eigenem Status als moralisches Wesen zu verfahren und sich selbst als Zweck und nicht nur als Mittel zu betrachten. Dies erfordert moralisches Handeln bezüglich der Pflichten gegen sich selbst wie bezüglich der Pflichten gegen andere. „Vollständige Würde“ 640 erhält man erst, indem man eine vollständig tugendhafte Einstellung einnimmt. 641 Hierin zeigt sich die Steigerungsfähigkeit der Achtung in Form der Reverenz. So kann man sagen, daß jemand seine Selbstachtung verliert, der sich unterwürfig oder kriecherisch 642 verhält, sich demütigt und erniedrigt, unaufrichtig, feige und willensschwach ist, also immer wenn jemand die Pflichten gegen sich selbst vernachlässigt, die von Kant, in Lüge, Geiz und Kriecherei 643 unterteilt werden: „Wer Kant, Religion, S. 715 (B 78, A 72). Kant, KpV, S, 193 (A 129 f.): „Alle Neigungen zusammen (die auch wohl in ein erträgliches System gebracht werden können, und deren Befriedigung alsdenn eigene Glückseligkeit heißt) machen die Selbstsucht (solipsismus) aus. Diese ist entweder die der Selbstliebe, eines über alles gehenden Wohlwollens gegen sich selbst (philautia), oder die des Wohlgefallens an sich selbst (arrogantia). Jene heißt besonders Eigenliebe, diese Eigendünkel. Die reine praktische Vernunft tut der Eigenliebe bloß Abbruch, indem sie solche, als natürlich, und noch vor dem moralischen Gesetz, in uns rege, nur auf die Bedingung der Einstimmung mit diesem Gesetze einschränkt; da sie alsdenn vernünftige Selbstliebe genannt wird. Aber den Eigendünkel schlägt sie gar nieder, indem alle Ansprüche der Selbstschätzung, die vor der Übereinstimmung mit dem sittlichen Gesetze vorhergehen, nichtig und ohne alle Befugnis sind, indem eben die Gewißheit einer Gesinnung, die mit dem Gesetze übereinstimmt, die erste Bedingung alles Werts der Person (...) und alle Anmaßung vor derselben falsch und gesetzeswidrig ist. Nun gehört der Hang zur Selbstschätzung mit zu den Neigungen, denen das moralische Gesetz Abbruch tut, so fern jene bloß auf der Sittlichkeit beruht.“ 640 Diesen Begriff übernehme ich von Massey (1983 b: 60): „complete dignity“. 641 Vgl. auch Massey (1983 a: 251). 642 Vgl. Kant, MS-TL, S. 571 ff. (A 96 ff.). 643 Vgl. Kant, MS-TL, S. 562 ff. (A 83 ff.); und dazu König (1996 b: 168 ff.). 638 639
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sich aber zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, daß er mit Füßen getreten wird.“ 644 Sich selbst zu achten, bedeutet immer auch, sich als Person zu behaupten. 645 Wer sich selbst demütigt, indem er seine legitimen und vitalen Interessen blind für andere aufopfert, ist kein Objekt der Achtung als autonome Person und deshalb auch kein Objekt der entsprechenden personalen Selbstachtung.646 Selbstachtung hat also zwei verschiedene Aspekte: Immer wenn sich jemand den geschuldeten Respekt entgegenbringt und demgemäß handelt, sich nicht als Mittel, sondern als Zweck behandelt, und damit eher ein „negatives“ 647 der Selbstschätzung der eigenen Neigungen abtrünniges Gefühl hervorruft, hat er die „positive“ Einstellung der Reverenz gegenüber sich selbst. Alles unmoralische Handeln ruft demgegenüber Mißachtung hervor. Hier zeigt sich die Dimension des intersubjektiven Achtungsansatzes von Kant. Da der Maßstab für die Selbstachtung und Achtung anderer Personen ein objektiver und dadurch übereinstimmender ist, führt nach Kant jede Verachtung („d. i. ihnen die dem Menschen überhaupt schuldige Achtung weigern“648) anderer Menschen immer auch zur eigenen Mißachtung. Weil sich die Achtung auf die Menschheit in jeder Person bezieht, führt die Mißachtung einer anderen Person zugleich zur Mißachtung der Menschheit in der eigenen Person. Der Verstoß der Pflichten gegen andere ist immer zugleich ein Verstoß der Pflichten gegen sich selbst. Hingegen bringt der sich selbst achtende Mensch auch anderen Menschen die Einstellung des vollkommen tugendhaften Menschen entgegen. Sich selbst achten (respektieren) heißt dann, sich als gleichwertige Person mit moralischen Fähigkeiten zu verstehen und alle anderen Menschen als prinzipiell Gleichwertige anzuerkennen. Dementsprechende Handlungen führen zu dem positiven Gefühl der Reverenz gegenüber sich selbst, oder, um eine andere Formulierung zu gebrauchen, man ist für sich selbst Person, die durch das moralische Gesetz bestimmt wird. Selbstachtung bezieht sich demnach nicht auf einen subjektiven Kant, MS-TL, S. 572 (A 98). In den Vorarbeiten zur Rechtslehre finden sich auch Stellen, an denen Kant die Formulierung des Rechtsverhältnisses an die Zweck-/Mittel-Formel der Moralphilosophie anknüpft: „(...) nicht blos als Mittel zu irgend einem Zweck des Andern dienen zu dürfen (genöthigt werden zu können),“ Kant, AA, XXIII, S. 341. 646 Vgl. Wildt (1992: 170). 647 Vgl. Kant, KpV, S. 192 f. (A 128 f.): „Denn alle Neigung und jeder sinnliche Antrieb ist auf Gefühl gegründet, und die negative Wirkung aufs Gefühl (durch Abbruch, der den Neigungen geschieht) ist selbst Gefühl. Folglich können wir a priori einsehen, daß das moralische Gesetz als Bestimmungsgrund des Willens dadurch, daß es allen unseren Neigungen Eintrag tut, ein Gefühl bewirken müsse, welches Schmerz genannt werden kann, und hier haben wir nun den ersten, vielleicht auch einzigen Fall, da wir aus Begriffen a priori das Verhältnis eines Erkenntnisses (hier aus reiner praktischer Vernunft) zum Gefühl der Lust oder Unlust bestimmen konnten. (...) Die reine praktische Vernunft tut der Eigenliebe bloß Abbruch, indem sie solche, als natürlich, und noch vor dem moralischen Gesetze, in uns rege, nur auf die Bedingungen der Einstimmung mit diesem Gesetze einschränkt.“ 648 Kant, MS-TL, S. 601 (A 140). 644 645
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Maßstab der Achtung, etwa wie eine bestimmte Person sich selbst verwirklicht, sondern auf einen objektiven Maßstab, wie „Ich“ mich als allgemein-wollende Person verwirklicht sehe und handle. Das moralische Bewußtsein behauptet damit von sich objektive Aussagen, die allgemein verbindliche Aussagen zum Ausdruck bringen. Würde diese Unterstellung entfallen, indem man individuell subjektive Ausdrücke an seine Stelle setzt, wie „es gefällt mir“, würde es sich aufdrängen, das moralische Bewußtsein insgesamt entfallen zu lassen, und zwar weil in ihm ein Maßstab moralischer Normen vorausgesetzt ist, der für die Individuen als wechselseitig verbindlich angesehen wird. Ohne diesen intersubjektiven Maßstab würde die Möglichkeit zu loben und zu tadeln entfallen, und es würden gleichzeitig die darauf aufbauenden sogenannten moralischen Gefühle entfallen, wie Entrüstung, Groll und Scham bzw. Schuldgefühl. 649 Die moralischen Gefühle nehmen bei Kant – wie die Ausführungen zur Achtung belegen – für die Konstitution des Menschen eine zentrale Rolle ein: „Ohne alles moralische Gefühl ist kein Mensch; denn bei völliger Unempfänglichkeit für diese Empfindung, wäre er sittlich tot und, (...) die Menschheit (würde sich) in die bloße Tierheit auflösen.“ 650 Festhalten läßt sich an dieser Stelle, daß die Achtung, gleich welcher Form, von Kant nicht benutzt wird, um ein moralisches Konzept zu begründen. Sondern sie stellt ein Gefühl dar, welches durch einen intelligiblen Grund bewirkt wird. Dieser selbst und nicht seine Wirkung begründet das Konzept das Achtung. Darüber hinaus ist die Kantische Unterscheidung von zwei Formen der Achtung, die aufeinander aufbauen, bemerkenswert. Die erste und grundlegende Achtung nennt Kant Respekt. Hierunter versteht er die Achtung, die jedem Menschen gegenüber zu erbringen ist, sogar die Selbstachtung. Durch die Konzeption des Menschen als gleichzeitig phaenomenal und noumenal gelangt Kant zu einer Annäherung an ein intersubjektives Konzept. Die Achtung eines Anderen ist analytisch mit der Selbstachtung verknüpft. Achtung ist aber nicht nur an die moralische Fähigkeit gebunden, sondern kennt auch eine Form, die die moralische Handlung berücksichtigt: Reverenz. Sie ist anders als der Respekt eine steigerungsfähige Form der Achtung. Sie läßt sich zu- oder aberkennen. Die Vernunft gerät hierbei aber an ihre Erkenntnisgrenze, so daß ihr Handlungen nicht mit Gewißheit zugerechnet werden können. Sie hat aber trotzdem eine enorme Bedeutung: In Verbindung mit der Aufspaltung der Person und der analytischen Verknüpfung von Achtung und Selbstachtung gelingt es Kant durch die Reverenz, sein intersubjektives Modell weiterzuentwickeln. Für die vorliegende Fragestellung gewinnt die Reverenz an Bedeutung, weil sie Handlungen zum Gegenstand hat. Rechte werden durch Handlungen angewendet. Deshalb ist im weiteren Verlauf der Arbeit insbesondere der Zusammenhang von Reverenz und Recht zu untersuchen. Zugleich hat sich gezeigt, daß der Unterschied der Achtung seiner selbst und anderer nur in der Erkenntnis der Gesinnung liegt, daß der Maßstab aber derselbe ist. Kant verfolgt damit ein objektives Achtungskonzept. 649 650
Hierauf weist Tugendhat (1996: 328) hin. Kant, MS-TL, S. 531 (A 37).
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c) Der Zusammenhang von Recht und Selbstachtung (1) Setzt der Glaube an die eigenen Rechte das Haben von Rechten voraus? Wenn man an dieser Stelle die oben erwähnte Fragestellung Feinbergs aufnimmt, ergibt sich die Frage, ob wir zu dem Glauben, uns als mit gleichen Rechten bzw. dem gleichen Menschenrecht ausgestattet zu verstehen, das Haben von Rechten voraussetzen müssen. Darauf beruhte der oben vorgestellte Argumentationsgang von Feinberg. Es geht also um die Alternative, „ob man emanzipiert wird oder sich selbst emanzipiert“. 651 Kant hat sich diese Frage in den Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten notiert, in dieser Schrift aber selbst nicht ausdrücklich gestellt und nur indirekt beantwortet. Nach dem bisher Gesagten läßt sich jedoch aufzeigen, daß die Theorie von Feinberg, bezogen auf Kant, zu einem Zirkelschluß gelangt. 652 Feinbergs Prämisse ist die Annahme, daß Selbstachtung ein wichtiger Wert ist. Diese könnten wir nur ausbilden, wenn wir uns als moralische Subjekte verstehen können, wozu die Fremdzuschreibung von moralischen Rechten die notwendige Voraussetzung sei. Der Zirkel bei Feinberg besteht darin, die Wichtigkeit von Rechten mit einer konstitutiven Rolle für die Selbstachtung zu verbinden, deren Bedeutung wiederum darin liegt, selbstachtend Rechte in Anspruch nehmen zu können. 653 Also sei das Haben der Rechte Voraussetzung für den Glauben, daß sie einem zustehen. Bei Kant ist aber gerade die moralische Fähigkeit der Grund der Rechte. Nach Kant reicht die Erkenntnis der moralischen Fähigkeit aus, sich selbst achten zu können. Als eine sich selbst achtende Person braucht sie nicht die Zuschreibung von Rechten, um sich selbst achten zu können; im Gegenteil, da sie sich selbst achtet, weiß sie sich würdig, Rechte haben und ggf. einklagen zu können. Die Rechte bekommen ihre moralische Bedeutung also nicht dadurch, daß sie uns als moralische Subjekte erscheinen lassen; sie haben folglich keine konstitutive Funktion für Selbstachtung. Dies würde der Kantischen Annahme entgegenlaufen, daß sich moralische Autonomie der Idee nach a priori erweisen lassen soll, während hiernach die moralische Autonomie durch Zuweisung empirischer Rechte hervorgerufen würde. Die Erkenntnisleistung des Subjekts vollzieht sich nach Kant allein mittels der solipsistischen Anwendung der praktischen Vernunft. Der Glaube an die praktische Gültigkeit einer (moralischen) Norm oder eines Rechts ist nämlich in ein reines Wollen inkarniert, und der empirische Glaube an die moralische Autonomie und das eigene (moralische) InneKant, Handschriftlicher Nachlaß, AA XXIII, 279. Vgl. auch Massey (1983 a:) und (1983 b: 70), und Wildt (1992: 163, bes. Fn. 71). Zu dem Konzept von Honneth vgl. insbesondere die Ausführungen von Forst (1994: 422 f.), der nicht von einem Zirkelschluß, sondern von einem „Dilemma“ spricht. 653 Selbstverständlich besteht zwischen Rechten und Selbstachtung auch in anderen Modellen ein Zusammenhang, der aber nicht notwendig ein Zirkel zu sein braucht; vgl. zu dem „Zirkelargument“ insbesondere: Massey (1983 a: 255 ff.). 651 652
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haben naturrechtlicher Rechte sind in dem apriorischen Glauben aufgehoben.654 Der Zuordnung subjektiver Rechte kommt selbst also keine konstituierende moralische Bedeutung zu, sondern sie basiert auf den Grundannahmen der Sittlichkeit. Die moralische Fähigkeit selbst stellt den Grund für die Zuschreibung von (naturrechtlichen) Rechten dar, weil sie der Abwehr von illegitimen Zwang dienen. Selbstachtung kann dann, wie noch zu zeigen ist, gegebenenfalls als Erklärung dazu dienen, weshalb jemand seine Rechte durchsetzt. Es wird vertreten, daß Selbstachtung als Triebfeder fungieren könne. 655 Danach ließe sich in der Achtung ein subjektiver Bestimmungsgrund der Sittlichkeit finden, der aber ganz auf die praktische Vernunft zurückgeführt würde: „so ist die Achtung fürs Gesetz nicht Triebfeder zur Sittlichkeit, sondern sie ist die Sittlichkeit selbst, subjektiv als Triebfeder betrachtet, indem die reine praktische Vernunft, dadurch daß sie der Selbstliebe im Gegensatz mit ihr alle Ansprüche abschlägt, dem Gesetze, das jetzt allein Einfluß hat, Ansehen verschafft.“ 656 Demnach wäre es die Selbstachtung des Subjekts selbst, die den Einsatz für die subjektiven Rechte erforderlich macht. 657 Hier wäre dann eine systematische Einbeziehungsmöglichkeit für die innere Rechtspflicht des „honeste vivere“ möglich. Darauf komme ich unten zurück. Bevor man also vorschnell die Theorie der konstitutiven Funktion von Rechten für Selbstachtung übernimmt, muß gesehen werden, daß Theorien dieser Art einen von Kant gänzlich verschiedenen Identitäts- und Moralbegriff verwenden. Sie beruhen in der Regel auf der Annahme der sozialen Genese der moralischen Identität der Person, die mit einer intersubjektiven Genese moralischer Inhalte korreliert; also anders als bei Kant, bei dem lediglich der formalen Prozedur intersubjektive Verbindlichkeit zukommt, während sich die Inhalte solipsistisch generieren. Dieser Unterschied wird deutlich bei einer Konfrontation des Kantischen Modells mit dem Ansatz von George Herbert Mead, wie er sich in der Interpretation von Honneth darstellt. Mead analysiert die Interaktionsmuster von Menschen. Er kommt zu dem Ergebnis, daß das Selbstbewußtsein sich nur über die Spiegelung des eigenen Verhaltens bei einer zweiten Person und dessen Reaktion bildet. Im Laufe dieses Bildungsprozesses wächst das „Du“ der zweiten Person zu einem immer abstrakter werdenden „generalisierten Anderen“ heran. Aus der Analyse des kindlichen Spiels folgert er, daß das Kind mit dem Übergang zum Spiel die Fähigkeit erlangt, sein eigenes Verhalten an einer Regel zu orientieren, die es aus der Synthetisierung der Perspektiven aller Mitspieler gewonnen hat. Ebenso vollzieht sich nach Vgl. Wildt (1982: 92). Vgl. Paton (1962: 66 ff.) und Schwartländer (1968: 136 ff. und insbesondere 140 ff.): „Kants Bestimmung der Achtung als des moralischen Grundgefühls, das zugleich auch als moralische Triebfeder wirksam ist“ (140). 656 Kant, KpV, zit. nach Schwartländer (1968: 140). 657 Vgl. Wildt (1992: 155, 167): Das „engagierte Ernstnehmen eigener Rechte (ist) auch eine Art von Selbstachtung.“ 654 655
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Mead der Prozeß der Sozialisation überhaupt in Form einer Verinnerlichung von Handlungsnormen, die aus der Generalisierung der Verhaltenserwartungen aller Gesellschaftsmitglieder hervorgegangen sind. Indem das Subjekt lernt, die normativen Erwartungen einer größeren Anzahl von Interaktionspartnern in sich zu verallgemeinern, so daß es zur Vorstellung sozialer Handlungsnormen gelangt, erwirbt es die abstrakte Fähigkeit, an den normativ geregelten Interaktionen seiner Umwelt teilnehmen zu können. Jene verinnerlichten Normen sagen ihm sowohl, welche Erwartungen es an alle anderen legitimerweise richten darf, als auch, welche Verpflichtungen es ihnen gegenüber berechtigterweise zu erfüllen hat. Hieraus folgert Honneth in seiner Mead-Analyse: „Rechte sind gewissermaßen die individuellen Ansprüche, von denen ich sicher sein kann, daß der generalisierte Andere sie erfüllen wird. Insofern bemißt sich an der sozialen Gewährung solcher Rechte, ob ein Subjekt sich als ein vollständig akzeptiertes Mitglied seines Gemeinwesens begreifen darf; daher kommt ihnen im Bildungsprozeß des praktischen Ich eine besonders signifikante Rolle zu: ‚Wenn man sein Eigentum in der Gemeinschaft bewahren will, ist es von größter Wichtigkeit, daß man ein Mitglied dieser Gemeinschaft ist, da die Übernahme der Haltung der anderen garantiert, daß die eigenen Rechte anerkannt werden (...). Dadurch erhält man eine Position, erreicht man die Würde, Mitglied der Gemeinschaft zu sein.‘“ 658 Diese Rechte geben die Basis für Selbstachtung ab: „Die Erfahrung, von den Mitgliedern des Gemeinwesens als eine Rechtsperson anerkannt zu werden, bedeutet für das einzelne Subjekt, sich selber gegenüber eine positive Einstellung einnehmen zu können; denn jene billigen ihm dadurch, daß sie sich zur Respektierung seiner Rechte verpflichtet wissen, umgekehrt die Eigenschaften eines moralisch zurechnungsfähigen Aktors zu.“ 659 Das heißt, der Zusammenhang, der zwischen der Erfahrung der Anerkennung und Sichzusichverhalten besteht, ergibt sich aus der intersubjektiven Struktur der persönlichen Identität. 660 Die Voraussetzungen gelingender Selbstverwirklichung 661 bedingen also den Inhalt und die Zuordnung von Recht und Moral, denn nur moralische Rechte ermöglichen die Ausbildung von Selbstachtung. 662 Demnach ist die Zuschreibung von Rechten im Ziel der Achtung begründet; es handelt sich um ein teleologisches Modell der Selbstachtung. Das praktische, handelnde Ich kann sich erst mittels der Fremdzuschreibung von Rechten bilden und erkennen und ist von der Aufnahme in die moralische Gemeinschaft abhängig, die intersubjektiv eine Gruppenmoral konstituiert. Damit verändert sich die quasi transzendentale Ausgangsfrage von Sittlichkeit, bezogen auf das Recht: Honneth fragt also, welche Arten von Rechten sich die Aktoren gegenseitig zusichern müssen, um zu einem gelungenem Verhältnis von Selbstachtung zu gelangen. 663 658 659 660 661 662 663
Honneth (1992: 127) unter Einschließung eines Zitates von Mead (1991: 242 f.). Honneth (1992: 129, vgl. auch 128); vgl. auch Habermas (1988: 187 ff.). Vgl. Honneth (1992: 277). Vgl. Honneth (1992: 278). Vgl. Honneth (1992: 177) und Wildt (1992: 167). Vgl. Honneth (1992: 178 ff.).
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Diese Fragestellung ist im Vergleich zu der Kants grundlegend verschieden. Sein Moralbegriff hat zwar universelle formale Strukturen, deren Vollziehung durch die Bildung moralischer Maximen aber gerade solipsistisch geschieht. Die (phaenomenale) moralische Gemeinschaft kann mangels Introspektion gar keine verbindliche Aussage über die moralische Fähigkeit einer Person machen und somit gar kein konstitutives Urteil über die moralische Zurechnungsfähigkeit des einzelnen Subjekts abgeben. Sie kann diese nur anerkennen, was sich in dem rechtlichen Respekt, der jedem entgegengebracht wird, ausdrücken soll. Die Anerkennung drückt sich in der Einräumung eines status negativus aus, in dem jedem Freiheit und Gleichheit zukommen. Respekt kann man nach Kant – im Unterschied zur Reverenz – nicht konstitutiv einer Person ab- oder zuerkennen. Dieser Interpretation des Achtungskonzeptes könnte jedoch die Kategorie der „Selbständigkeit“ widersprechen, wie sie oben herausgearbeitet wurde.664 Diese basiert nicht auf der moralischen Fähigkeit allein, sondern beinhaltet eine Entscheidung darüber, wie sich die Realisierung der moralischen Fähigkeiten im Subjekt in der Wirklichkeit ausgedrückt haben, die dem Erfordernis des „sui iuris“ genügen. Da das Gebot des „wirtschaftlich sein“ 665 von Kant als moralische Pflicht aufgestellt wird, kann Eigentum beispielsweise als Zeichen selbstverdienter (moralischer) Leistung bewertet werden. Wenn dieses Kriterium aber für empirische Evaluierungen offen ist (s. o.), muß es in verschiedenen Kontexten unterschiedlich ausgefüllt werden, wobei der formale Maßstab von Kant festgelegt ist, nämlich der „Stand eines Menschen, der sein eigener Herr ist“ 666. Demnach ließe sich die These vertreten, daß der Selbständige vollwertigen Rechtsstatus zugesprochen bekommt, weil er auch einen vollwertigen moralischen Standpunkt eingenommen hat, also seine moralische Fähigkeit in moralisches Handeln umgesetzt hat, da der Status der „Selbständigkeit“ „bloß vom Vermögen (i. S. v. Fähigkeit) 667, dem Fleiß und dem Glück eines jeden Gliedes des gemeinen Wesens“ abhängig sein soll. 668 Jedoch besteht hier dieselbe Problematik wie bei der Reverenzerweisung anderen gegenüber. Mangels Introspektion läßt sich die moralische Qualität nicht von außen ablesen, sondern nur nach äußeren Kriterien festlegen. Deshalb lassen sich hier keine feststehenden (transzendentalen) inhaltlichen Kriterien angeben, sondern sie bedürfen der Festlegung durch den politischen Gesetzgeber. Hier läßt sich nun feststellen, daß Kant die rechtliche Freiheit und Gleichheit mit dem moralischen Respekt gleichsetzt, der jedem zukommt, wie es eine Stelle in der Tugendlehre sogar ausdrücklich nahelegt: „Die Pflicht der freien Achtung gegen andere, weil sie eigentlich nur negativ ist (sich nicht über andere zu erheben)“, ist „so der Rechtspflicht, niemandem das seine zu schmälern, analog“ 669. Diese Analogie 664 665 666 667 668 669
Oben, S. 116 ff. Vgl. Kant, MS-TL, S. 571 (A 96). Kant, Gemeinspruch, S. 151 (A 245, 246 Fn.). Eingefügt von M. S. Kant, Gemeinspruch, S. 152 (A 248). Kant, MS-TL, S. 585 f. (A 119).
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kommt auch an anderer Stelle zum Vorschein, in der Kant Recht und Moral aufeinander bezieht: In bezug auf Freiheit und Gleichheit sind „alle für gleich zu achten“ 670. Weiterhin kennen sowohl Respekt als auch das angeborene Freiheitsrecht nur einen negativen Pflichteninhalt, so daß Respekt vom Inhalt her der inneren Rechtspflicht des „neminem laedere“ korrespondiert. 671 Durch Unterlassung der Achtung (Respekt) geschieht „dem Menschen Abbruch in Ansehung seines gesetzlichen Anspruchs“ 672, und die Verletzung des Achtungsanspruchs ist schlicht „ungerecht“ 673. Reverenz hingegen als selbstverdiente Steigerungsform der Achtung läßt sich der „Selbständigkeit“ zuordnen, denn beide sind erst durch entsprechendes Handeln zu erwerben, und auf beide gibt es keinen einklagbaren Anspruch gegen andere bzw. gegen den Staat; sie beruhen also auf der Ausführung von „positiven Pflichten“. 674 Deshalb liegt der Schluß nahe, daß die „Selbständigkeit“ auch an die innere Rechtspflicht des „honeste vivere“ anknüpft (dazu bereits oben 675). 676 Wenn jemand rechtlich ehrenhaft handelt, also eine bestimmte Eigenschaft gewinnt, dann nehme ich ihm gegenüber eine Haltung der Reverenz ein. Der „honeste“ Mensch behauptet sich also in seiner „dignitas“, gewinnt bestimmte Eigenschaften, die mir eine bestimmte Haltung abgewinnen. Dieser Modus der inneren Haltung zeigt aber, daß es sich hierbei um eine moralische Kategorie handelt, weil Recht keinen Zugriff auf die innere Haltung des Menschen bewirken soll. Ich selbst habe aber meine eigene Anwendungsform des objektiven Maßstabs für Reverenz und bin nicht auf die externe Anerkennung angewiesen, um Selbstachtung auszubilden, oder um selbst zu beurteilen, ob ich den „Selbst-Stand“ erreicht habe; deshalb kann die Zuerkennung der rechtlichen Selbständigkeit durch den Staat keine konstitutive Funktion für meine Selbstachtung haben, sondern lediglich an den privat erzeugten „Selbst-Stand“ anknüpfen und diesen in das rechtliche System zum Zwecke der staatlichen Willensbildung aufnehmen, weil es in dieser Konzeption keine Verantwortung des Gemeinwesens für die Autonomie der Glieder des Gemeinwesens gibt. Kant kennt nur einen moralischen Anspruch auf Anerkennung der rechtlichen Zurechnungsfähigkeit bzw. der moralischen Handlungsfähigkeit, der das innere Recht betrifft: „ein jeder Mensch hat rechtmäßigen Anspruch auf Achtung von seinen Nebenmenschen“ 677, der mit dem angeborenen Kant, Gemeinspruch, S. 150 (A 244); Herv. nicht im Original. Insofern richtig Hruschka (1993: 202). 672 Kant, MS-TL, S. 603 (A 143). 673 Kant, MS-TL, S. 604 (A 144 f.). 674 Da Hruschka (1993: 202) die Achtungsformen bei Kant nicht differenziert, entgeht ihm diese Unterscheidung in positive und negative Pflichten der Achtung. 675 Oben, 125 ff. 676 Vgl. auch König (1999 a: 146): Dies „folgt aus der Rechtspflicht des honeste vivere: diese fordert, daß jedermann sein Recht gegenüber anderen behauptet, und dies heißt, daß er sein Recht ausüben soll, allgemein gesetzgebendes Glied in einem Reich der Zwecke zu sein.“ 677 Kant, MS-TL, S. 600 (A 139), Herv. nicht im Original; vgl. auch ebd., S. 629 (A 183): „Alle moralischen Verhältnisse vernünftiger Wesen, welche ein Prinzip der Übereinstimmung 670 671
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Menschenrecht insofern übereinstimmt, als beide die moralische Fähigkeit zum Gegenstand haben; dieser moralische Rechtsanspruch kann als moralischer aber nicht durchsetzbar sein, weil er sonst einen externen Zwang der Maximenbildung darstellen würde: Ich hätte ein einklagbares Recht, daß ein anderer die Achtung meiner Person sich zur Maxime machen würde.678 Dies ginge weit über einen Anspruch legalen Verhaltens hinaus; moralische Ansprüche zeichnen sich aber gerade dadurch aus, daß sie nur durch Selbstzwang Wirklichkeit gewinnen können. Deshalb kann dieser Achtungsanspruch kein (äußerer) juridischer Anspruch sein, sondern diesem moralischen Rechtsanspruch korrespondiert ein juridischer Anspruch, nämlich durch legales Verhalten meinen Freiheitsraum zu beachten: ein Anspruch auf Freiheit und Gleichheit. Hierbei bleibt zu berücksichtigen, daß dieser Anspruch noch einen „prinzipiell“ gefaßten Charakter hat und diesem so lange kein Regelcharakter zukommt, wie er nicht vom staatlichen Gesetzgeber in die Regelordnung inkorporiert wird. Wenn hingegen jemand in seinen Handlungen das Recht der Menschheit beachtet, sowohl in bezug auf sich selbst als auch anderen gegenüber, so sind seine Handlungen „verdienstlich“, wie Kant an einer Stelle schreibt: „Die Achtung fürs Recht (ist) verdienstlich. Denn der Mensch macht sich dadurch das Recht der Menschheit, oder auch der Menschen, zum Zweck und erweitert dadurch seinen Pflichtbegriff über den der Schuldigkeit (officium debiti)“ 679. Dieses rechtmäßige Handeln erfüllt also gleichzeitig eine ethische Forderung: „Das Rechthandeln mir zur Maxime zu machen, ist eine Forderung, die die Ethik an mich tut.“ 680 Dadurch erfüllen sie zugleich das Kriterium der Reverenz. Wenn also Selbständigkeit auf Verdienst beruht, dann kann diese Kategorie nicht einfach von außen an den Menschen herangetragen werden. Ihre Vorenthaltung seitens des Staates ist also nicht willkürlich, solange jemand noch nicht den Status des „sui iuris“ erreicht hat. Kant betont, daß die Erreichung der Selbständigkeit nicht nur nicht durch äußere (rechtliche) Hindernisse versperrt sein darf, 681 sondern vom Willen des Individuums allein abhängig sein muß, das heißt, insofern er einen moralischen Willen hat: Selbständigkeit hat der, der „nicht bloß Teil des gemeinen Wesens, sondern auch Glied desselben, d. i. aus eigener Willkür in Gemeinschaft mit anderen handelnder Teil desselben sein will“ 682. Hat er ihn hingegen erreicht, so kann er sich sowohl selbst respektieren, als auch „reverentia“ erweisen, also „vollständige Selbstachtung“ entgegenbringen. des Willens des einen mit dem des anderen enthalten, lassen sich auf Liebe und Achtung zurückführen, und so fern dies Prinzip praktisch ist, der Bestimmungsgrund des Willens in Ansehung der ersteren auf den Zweck, in Ansehung des zweiten auf das Recht des anderen.“ 678 Insoweit ist Forst (1994: 420) in seiner Analyse der Kommunitarismusdebatte Recht zu geben, wenn er „zwischen dem Respekt von Rechtspersonen und der Achtung moralischer Personen“ unterscheidet. Hingegen parallelisiert Lübbe-Wolff (1982: 287 und dort FN. 7) beide Begriffe. 679 Kant, MS-TL, S. 521 (A 21 f.). 680 Kant, MS-RL, S. 338 (A B 34); vgl. auch Hruschka (1993: 203). 681 Vgl. Kant, MS-RL, S. 434 (A 169, B 199). 682 Kant, MS-RL, S. 432 f. (A 166, B 196), Herv. nicht im Original.
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Somit beruhen die Zuordnung von Formen der Achtung und Arten von Rechten beide auf einem gemeinsamen Gegenstand: der moralischen Fähigkeit und dem moralischen Handeln. Hierin zeigt sich, daß die oben genannte transzendentale Fragestellung Honneths mit der Kantischen Rechtstheorie unvereinbar ist. Selbstachtung ist nicht das Ziel der praktischen Vernunft, sondern begleitet moralisches Handeln, wie Kant schreibt: „Achtung (ist das) Gefühl, welches die Ausübung dieser Pflichten begleitet.“ 683 Für das dahinter stehende Identitätsbild ist bedeutend, daß auch dieser steigerungsfähige Achtungsbegriff nicht die Besonderheit der Person in ihren konkreten Eigenschaften und Fähigkeiten in den Blick nimmt, sondern daß hier die empirische Anwendung allgemeiner Normen evaluiert wird, nämlich die Eigenschaften, die sie zu einer „selbständigen“ Person machen. Hierbei geht es nicht um den besonderen Charakter dieses oder jenes Menschen, sondern genauso wie die allgemeine Eigenschaft, die ihn überhaupt erst zur moralisch-rechtlichen Person macht – die moralische Fähigkeit und rechtliche Zurechnungsfähigkeit –, ist auch die Reverentia an allgemeine Eigenschaften angebunden. Dies ist nur aufgrund des objektiven Maßstabs möglich. Festzuhalten bleibt somit, daß bei Kant der Glauben an die eigenen Rechte nicht an die positivrechtliche Zuschreibung von Rechten (das Haben) durch äußeres Recht gebunden ist. Dieser Glaube ist nach Kant allein an die moralische Fähigkeit einer jeden Person gebunden, die ein jeder durch reflexives Denken sich selbst zuschreiben kann. Selbstachtung bekommt die Person dafür, daß sie entsprechend ihrer moralische Fähigkeit handelt. Deshalb kann die Selbstachtung kein Begründungskonzept für Rechte liefern, derart, daß für Selbstachtung die Fremdzuschreibung subjektiver Rechte notwendig ist. Rechte stehen nach Kant einer Person allein wegen ihrer moralischen Fähigkeit zu. Im folgenden ist daher Kants Verknüpfung von Recht und Selbstachtung zu untersuchen ist. (2) Selbstachtung als Triebfeder für die moralische Inanspruchnahme von Rechten Der amerikanische Kant-Interpret Stephen J. Massey vermutet, daß „respecting oneself requires recognizing and properly valuing one’s possession of equal basic rights“ 684. Nach Kant sei nicht nur das Erkennen der eigenen Freiheitsrechte, sondern auch ihre Wertschätzung eine notwendige Voraussetzung der Selbstachtung. Ihre Wertschätzung ist auf das positive Handeln und auf die Selbstbehauptung der eigenen Person gerichtet. Dies wirft die Frage auf, inwieweit Selbstachtung funktional für eine moralische Inanspruchnahme von subjektiven Rechten in die Rechtstheorie einbezogen werden kann. Eine Antwort könnte sein, daß Selbstachtung als Triebfeder für legitime recht683 684
Kant, MS-TL, S. 584 (A 116). Massey (1983 b: 73).
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liche Handlungen dient. Man könnte auf diese Weise eine Gefühlsbasis für moralisches und legitimes rechtliches Handeln bei Kant aufdecken, um so seine Theorie des moralischen Kognitivismus durch voluntative Elemente zu ergänzen. 685 Wenn das Konzept der Selbstachtung auch nicht den Sinn des moralischen Sollens begründet, so fragt sich doch, inwieweit es die moralische Motivation ein Stück weit erhellen kann. 686 Hierfür müßte man klären, wie dieses gefühlsmäßige „begleiten“ von Kant gemeint ist, welches im Achtungsbegriff beinhaltet ist, und inwieweit es Motiv von Handlungen sein kann. Nun gibt es bei Kant in der Tat Stellen, die Achtung als Triebfeder zur Sittlichkeit erscheinen lassen, wenn er bspw. schreibt: „Achtung fürs moralische Gesetz ist also die einzige und zugleich unbezweifelte moralische Triebfeder“ 687. An anderer Stelle wird jedoch ausgeschlossen, daß beim sittlichen Handeln jemals etwas anderes als das Gesetz selbst diese Triebfeder sein kann, wenn er betont, daß „die Triebfeder des menschlichen Willens aber (...) niemals etwas anderes, als das moralische Gesetz sein könne, mithin der objektive Bestimmungsgrund jederzeit und ganz allein zugleich der subjektiv-hinreichende Bestimmungsgrund der Handlung sein müsse“. 688 Die Anstrengungen, die Kant im Verlaufe seiner Arbeiten darauf verwendet, das Gefühl der Achtung angemessen zu beschreiben, und die Entwicklung, die er diesem Begriff angedeihen läßt, 689 „deuten darauf hin, daß einer einfachen Behandlung dieses Gefühls Schwierigkeiten in der Sache entgegenstehen“ 690. Es ist daher nicht verwunderlich, daß die Lehre von der Achtung für das Gesetz als Triebfeder in der Sekundärliteratur umstritten ist. In der Regel besteht die Übereinstimmung, daß der Beitrag, in der Achtungslehre die Lösung für den subjektiven Bestimmungsgrund des moralischen Lebens zu sehen, unzureichend ist,691 und sich hierin die gesamte Problematik der Aufteilung in noumenale und phaenomenale Welten zeigt. Man kommt zu dem Widerspruch, daß die moralische Gesetzgebung eine Befolgung aus Pflicht verlangt, Achtung aber als Triebfeder eine sinnliche Gefühlsbestimmung wäre. 692 685 Zu der Verknüpfung des Kognitivismus und des Voluntarismus bei Kant, vgl. Ludwig (1997: 9 ff.). 686 Zu dieser Unterscheidung vgl. auch Tugendhat (1986: 35), der selbst allerdings mit dem Achtungsbegriff den Sinn des moralischen Sollens erklären möchte. Vgl. hierzu auch Wildt (1997 b: 120 Fn. 5). Zu der Achtung als Triebfeder vgl. auch Klein (1969: 189): Achtung als Triebfeder sei nichts Pathologisches. 687 Kant, KpV, S. 199 (A 139). 688 Kant, KpV, S. 191 f. (A 127). 689 Hierzu vgl. Funke (1974: 48 ff.), Beck (1974: 201, 208), Paton (1962: 66 ff.), Schwartländer (1968: 128 ff.), König (1994: 198 ff.) und – sehr kritisch – Walker (1989: 97 ff.). 690 König (1994: 200). 691 Nachweise vgl. Fn. und Nachweise bei König (1994: 201). 692 Vgl. Paton (1962: 66 f.). Sehr instruktiv zum Begriff der Achtung bei Kant ist die Darstellung von Gondek (1994: 144 ff.), der einen Vergleich mit der ästhetischen Erhabenheit vornimmt.
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Unstrittig ist jedenfalls, daß Achtung – wie gezeigt – nicht als Grund der Moral dient, sondern die Sittlichkeit in einem rationalen Vernunftkonzept begründet ist. Rationalität im Bereich praktischer Fragen ist also nicht gleichbedeutend mit Zweckrationalität, um Selbstachtung ausbilden zu können. 693 Das Gefühl der Selbstachtung setzt die Erkenntnis der Verbindlichkeit voraus. Diese Verbindlichkeit ist rein kognitiv erschlossen. 694 Ich möchte deshalb im folgenden die schwierige Diskussion der Triebfederbestimmung umgehen. Stattdessen soll die Idee der Selbstachtung auf eine andere Weise für die vorliegende Arbeit fruchtbar gemacht werden. Es hat sich gezeigt, daß ohne moralisches Handeln das Subjekt keine Selbstachtung ausbilden kann. Von daher ist nach der Bedeutung der Selbstachtung für das handelnde Subjekt zu fragen. (3) Selbstachtung und die Bedeutung des Umgangs mit Rechten für die Individuen: Bewußtsein der Selbstbestimmung Um die Bedeutung des Umgangs mit subjektiven Rechten für das Individuum zu erschließen, muß weiter geklärt werden, welcher Umgang mit Rechten dem Gefühl der Selbstachtung korrespondiert. Wurde schon dargestellt, daß es das Engagement für subjektive Rechte ist, welches Selbstachtung bewirkt, soll dieses Engagement nun stärker in den Blick rücken. Dabei wird sich zeigen, wie die Ebenen des Rechts, nämlich das Recht der Menschheit, das Naturrecht und das positive Recht, mit der Moral und der Selbstachtung verzahnt sind. Auf diese Weise können die Bedingungen qualitativer Ich-Identität identifiziert werden („Ich verstehe mich als so-undso“) 695, die es Kant erlauben, von dem Ich der praktischen Selbstbestimmung zu sprechen. 696 Selbstbestimmung ist dabei ein Modus der Selbstbezüglichkeit.
693 Vgl. hierzu aus neuerer Sicht (unabhängig von Kant): einerseits Tugendhat (1984: 132 ff.) und andererseits Habermas (1991: 146 ff.), der das Achtungskonzept von Tugendhat scharf kritisiert (148). 694 Nach Enderlein (1992: 193) besteht „das Gefühl der Achtung (...) in nichts anderem als dem Bewußtsein der Willensbestimmung durch das Gesetz bzw. durch die Vorstellung vom Gesetz ohne Vermittlung anderer Einflüsse.“ 695 Vgl. Tugendhat (1993 b: 41). Zu den Definitionsproblemen mit einem Verweis auf Tugendhat, vgl. Wildt (1982: 240 Fn. 71), der eine Unterscheidung zwischen emotional-affektiver und voluntativ-praktischer Identität einführt. 696 Zu dem Unterschied von Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung vgl. schon die Differenzierung im Titel bei Tugendhat (1993 a): Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Vgl. zu diesem Problem auch Wildt (1982: 14 ff., 197 ff., 259 ff.) und Habermas (1988: 19), der diesen beiden Begriffen noch als Drittes die „Selbstverwirklichung“ hinzufügt. Mit dieser Unterteilung antwortet Kant auf das bis dahin gestellte Dilemma, das menschliche Selbstbewußtsein alternativ „substanzegologisch“ oder rein empirisch (als seelenlose Erfahrungsreihe rein mentaler Zustände) einzuordnen; vgl. Sturma (1985: 15), und Elke Beck (1991: 40), vgl. auch Böckerstette (1982: 260 ff.).
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(a) Die Bedingungen qualitativer Ich-Identität: Selbstbezüglichkeit Erst in letzter Zeit ist in der Sekundärliteratur zu Kant in das Blickfeld gelangt, daß sich bei Kant mehrere „Formen des Selbstbewußtseins“ 697 unterscheiden lassen. Bis dato stand fast ausschließlich das theoretische Selbstbewußtsein im Rampenlicht der Kant-Rezeption. Dabei geht es nicht um die Behauptung, das „Ich“ wäre – entgegen Kants ausdrücklicher Ablehnung – „ein so vielfärbiges, verschiedenes Selbst“, wie es Vorstellungen habe, 698 sondern um verschiedene Formen seiner Einheit – von „modi des Selbstbewußtseins im Denken“, wie Kant es selber beschreibt. 699
(b) Theoretisches Selbstbewußtsein Das Selbstbewußtsein ist von Kant zunächst in erkenntnistheoretischer Hinsicht untersucht worden. Kant versucht hiermit das Problem zu lösen, wie die Einheit des Bewußtseins bei der Vielheit der Erscheinungen in Raum und Zeit möglich ist.700 In der Kritik der reinen Vernunft führt Kant es als subjektivitätstheoretische Grundlegung einer jeden als Erfahrung ausgewiesenen Erkenntnis ein. Das „Ich-denke“, die reine Apperzeption, „muß alle Vorstellungen begleiten können“, denn sonst wären sie nicht meine Vorstellungen. 701 Daher hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine „notwendige Beziehung auf das: Ich-denke“. 702 Das „Ich-denke“ der Apperzeption drückt, als allgemein bleibende, abstrakte Voraussetzung des menschlichen Denkens und Erkennens, eine numerische 703 (quantitative) Identität aus; das ist, daß ich mir als „identisches Subjekt“ bewußt bin, weil ich die mir gegebenen Vorstellungen als „meine“ Vorstellungen zu einer Einheit zusammenfasse. 704 Ich erkenne mich als stets Vgl. Recki (1989: 887 ff.). Vgl. Kant, KrV, S. 137 (B 134). 699 Kant, KrV, S. 346 (B 406 f.). 700 Zugleich sind die reinen Denk- und Anschauungsformen die Bedingungen der Erkenntnis von Gegenständen überhaupt. Deshalb betont Kant: „Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, und haben darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteile a priori“; KrV, S. 201 (A 158, B 197). 701 Zum Verständnis dieses zentralen Bezugspunkts der Kantischen Erkenntnislehre vgl. jüngst Deppermann (2001: 129 ff.), der eine sprachanalytische Interpretation „mit einer texthermeneutischen Perspektive“ vornimmt (ebd., 130). 702 Zit. nach Eisler, S. 245, Stichwort: „Ich“. 703 Vgl. Kant, KrV, S. 341; dazu ausführlich Henrich (1976: 76 ff.). 704 Kant, KrV, S. 136 ff. (B 131 ff.): Sie ist „dasjenige Selbstbewußtsein (...), was, indem es die Vorstellung Ich-denke hervorbringt, die alle anderen muß begleiten können, und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter begleitet werden kann. Ich nenne auch die Einheit derselben die transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins, um die Möglichkeit der Erkenntnis a priori aus ihr zu bezeichnen.“ Vgl. hierzu auch Frank (1991: 416 ff.), der dort auch 697 698
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denselben, unterschieden von allem, was mir äußerlich an Besonderheit begegnet, und ich erkenne die Gegenstände als stets dieselben in bezug auf ihre (M-)Einheit (als mir gehörige Einheiten) im Bewußtsein an, indem ich sie mir begrifflich aneigne und reflexiv ihre Bedeutung zu erfassen versuche. 705 Man kann es auch so ausdrükken, daß das Bewußtsein der numerischen Identität die Bedingung des „PersonSeins“ ist: „Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle anderen auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person und, vermöge der Einheit des Bewußtseins, bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person“. 706 Der Begriff der numerischen Identität gewinnt seine Bedeutung besonders auf der zeitlichen Achse menschlichen Daseins (sog. „diachrone Identität“ 707): Wie kommt es, daß ich zum Zeitpunkt t 1, t 2, t 3, (...), tn derselbe Mensch bleibe? Warum ist das Kind, welches ich mit 12 Jahren war, dieselbe Person, die mit 26 Jahren selbst ein Kind bekommen hat? 708 Und mit 60 Jahren vielleicht ein Opa sein wird? Eventuell im Alter von 50 Jahren eine andere Person umgebracht hat. Das „Ich-denke“ ist nach Kant die Verknüpfung dieser verschiedenen Zeitpunkte im Selbstbewußtsein und macht den Menschen zur Person: „Was sich der numerischen Identität seiner Selbst in verschiedenen Zeiten bewußt ist, ist insofern eine Person.“ 709 Kant sieht diese Kontinuität im theoretischen Denken durch das „Ich-denke“ gewährleistet, das die äußeren Umstände über die Zeit hinweg stets auf einen Fixpunkt hin zentriert. Sommer macht in diesem Zusammenhang auf einen interessanten Punkt aufmerksam: Reine Vernunft und das Ich schließen sich gegenseitig aus, da das Ich stets empirisch rückgebunden ist, so vernünftig es auch denkt und handelt. 710 Als reine Vernunft könnte es nur Bewußtsein, aber kein Selbstbewußtsein geben, da dieses Selbst stets auf die kontingente Leiblichkeit angewiesen ist: „Ohne Kontingenz mag es Bewußtsein geben, aber kein Selbstbewußtsein.“ 711
den Begriff der „Identität“ näher kennzeichnet: „Mit ‚Identität‘ (Kant sagt auch: ‚synthetisierende Einheit‘) ist dagegen jene andere Eigenschaft des Ich gemeint, kraft deren es sich nicht nur, (...), gleichsam traversal auf alle Vorstellungen beziehen läßt, sondern diese Vorstellungen auch horizontal untereinander verketten“ (416). 705 Vgl. Lampe (1993: 9 f.). 706 Kant, Anthropologie, S. 407 (BA 3, 4). 707 Zu diesem Begriff vgl. Quante (1999: 1). 708 Diese Frage hat schon die alten Griechen beschäftigt. Plutarch schildert eine Szene des Komödiendichters Epicharm, in der ein Mann sich weigert, seine Schulden zu begleichen unter dem Hinweis, so wie jedes Ding sich ständig wandele, sei auch er nicht mehr jener, der das Geld entgegengenommen habe. Der Gläubiger versetzt dem Schuldner daraufhin einen Schlag und kontert dessen Protest: Er sei ebenfalls nun ein anderer als jener, der geschlagen habe. 709 Kant, KrV, S. 341 ff., vgl. Eisler (1989: 409). 710 Vgl. auch Kant, KrV, S. 355 (B 422 Anm.): „Das Ich-denke (...) ist ein empirischer Satz.“ 711 Sommer (1988: 171 f.).
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(c) Praktisches Selbstbewußtsein: „Identität des Wollens“ Den Menschen macht nach Kant aber noch mehr aus. Die „Person“ kann zur „Persönlichkeit“ werden. Als „Persönlichkeit“ läßt sich die durch das Gesetz bestimmte moralische Identität verstehen, wobei die ständige Schwierigkeit besteht, daß Kant seine Terminologie nicht konsequent durchhält. „Person“ und „Persönlichkeit“ werden teilweise synonym verwendet; 712 zumeist werden die beiden Begriffe aber unterschieden, eine Kurzzusammenfassung dieser Idee gibt Kant an einer Stelle der Rechtslehre: „Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind. Die moralische Persönlichkeit ist also nichts anders, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen“ 713. Dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechend, muß man zunächst als zurechnungsfähiges Subjekt betrachtet werden. Zurechnung bedeutet die Einstufung als intelligibles Wesen, 714 also das, was fähig ist, Ursachen durch vernunftgewirktes Wirken zu setzen. Den intelligiblen Charakter muß die Person aber nicht nur haben, sondern auch davon Gebrauch machen: 715 Insofern die Handlungen dem Gesetz entsprechen, ist die Person frei, da sie selbstbestimmt handelt. 716 Als freier Mensch i. d. S. hat der Mensch – als moralisch-selbstbestimmtes Wesen – Persönlichkeit. Als „Persönlichkeit“ wird die handelnde, also auch die rechtsdurchsetzende Person bezeichnet. Daher ist zu fragen, ob dieser Persönlichkeit ein „modi des Selbstbewußtseins“ entspricht. Die „Persönlichkeit“ läßt sich am besten durch eine Abgrenzung zum theoretischen Selbstbewußtsein erschließen. Dieses wird auch die „psychologische“ Personalität genannt, das ist „das Vermögen, sich seiner selbst in den verschiedenen Zuständen seiner Identität des Daseins bewußt zu werden.“ 717 Hiermit ist aber immer nur ein theoretisches Bewußtsein gekennzeichnet. Kant sucht daneben nach einem Bewußtsein, welches auf das Handeln ausgerichtet ist, wie aus seiner bildhaften Darstellung deutlich wird: „Der Mensch wäre Marionette, oder ein Vaucansonscher Automat, gezimmert und aufgezogen von dem obersten Meister aller Kunstwerke, und das Selbstbewußtsein würde es zwar zu einem denkenden Automat machen, in welchem aber das Bewußtsein seiner Spontaneität, wenn sie für Freiheit gehalten Zu den terminologischen Schwierigkeiten vgl. auch Ricken (1989: 236 ff.). Kant, MS-RL, S. 329 (AB 22). Dort findet sich auch eine Abgrenzung zur Sache: „Sache ist ein Ding, was keiner Zurechnung fähig ist.“ (330, AB 23). 714 Vgl. Eisler (1989: 621), Stichwort: „Zurechnung“ m. w. N. 715 Vgl. Kant: „Zurechnung (imputatio) in moralischer Bedeutung ist das Urteil, wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdann Tat (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird; welches, wenn es zugleich die rechtlichen Folgen aus dieser Tat bei sich führt, eine rechtskräftige (imputatio iudiciaria s. valida), sonst aber eine nur eine beurteilende Zurechnungsfähigkeit (imputatio diiudicatoria) sein würde.“ 716 Deshalb wird die These von Teicherts Kant-Interpretation, wonach „nicht vernünftige Menschen, wie etwa Demente oder Kleinkinder“ keine Personen seien (2000: 204), Kant nicht gerecht; krit. zu Teichert auch Fuchs (2001: 385). 717 Kant, MS-RL, S. 329 (AB 22). Vgl. auch Kant, AA 19, R 6319: „Die Identität der Person betrifft das intelligible Subjekt bei aller Verschiedenheit des empirischen Bewußtseins.“ 712 713
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wird, bloße Täuschung wäre, indem sie nur komparativ so genannt zu werden verdient, weil die nächsten bestimmenden Ursachen seiner Bewegung, und eine lange Reihe derselben zu ihren bestimmenden Ursachen hinauf, zwar innerlich sind, die letzte und höchste aber doch gänzlich in einer fremden Hand angetroffen wird.“ 718 Hier wird deutlich, daß Kant eine Differenzierung vorzunehmen versucht, die zwischen den Kategorien des theoretischen „Selbstbewußtsein“, d. h. der abstrakten und allgemeinen Voraussetzung menschlichen Denkens, und einem Bewußtsein, mit dessen Hilfe der Mensch sich selbst bestimmt, unterscheidet. Kant verdeutlicht seine Unterscheidung an einer Stelle in den Nachschriften: „Gleichwie die identität der apperception ein (principium der) synthesis a priori vor alle mögliche Erfahrung ist, so ist die identität meines wollens der Form nach ein principium der Glückseligkeit aus mich selbst, wodurch alle Selbstzufriedenheit a priori bestimmt wird.“ 719 Die Identität der Apperzeption ist das „ich-denke“ aus der Kritik der reinen Vernunft. Demgegenüber ist mit der Identität des Wollens eine Identität gemeint, die ein Subjekt in allen Handlungen als denselben erscheinen läßt; d. i. eine „Identität der Person“ als Persönlichkeit, die die Verantwortungsfähigkeit des moralisch-praktisch Handelnden bezeichnet, 720 das die bestimmende Ursache des Denkens und Handelns als Freiheit beschreibt. Eine starke Lesart Kants führt somit zu einer Unterscheidung des theoretischen von dem praktischen Ich. 721 Dies kann an einem Beispiel illustriert werden: Angenommen, ich fordere etwas von einer anderen Person aufgrund eines subjektiven Rechts ein, dann läßt sich das für das theoretische Selbstbewußtsein auch folgendermaßen ausdrücken: „Ich weiß, daß ich etwas tue, nämlich ein Recht einfordere“. Dabei bleibt der Einzelne formal ein und dieselbe Person, ob er nun sein Recht einfordert, oder aber auf dieses verzichtet, gleichgültig, ob diese Entscheidung auf seinen Gefühlen, seiner Willkür oder seinem freien Willen beruht. Die Person weiß aber nicht, warum es dieses Recht einfordert. Um in der Sprache von Kants Metapher zu bleiben: Der Mensch Kant, KpV, S. 227 (A 181), Herv. nicht im Original. Kant, AA 19 R 7204 (Herv. nicht im Original). 720 Zu dieser begrifflichen Unterscheidung vgl. E. Beck (1991: 41). Vgl. auch Paton (1962: 331): „Das Zentralproblem und zugleich die größte Schwierigkeit liegt darin, daß wir hinsichtlich der objektiven Prinzipien der praktischen Vernunft ein Selbstbewußtsein des notwendigen Verfahrens der praktischen Vernunft haben sollen, und nicht bloß ein theoretisches Bewußtsein neben einem blinden oder unbewußten Willen.“ Die Aktualität dieses Gedankens zeigt sich in einem Aufsatz von Frankfurt (1993: 107 ff.), der schreibt, daß für die Person die Selbstbindung ihres Willens an rationaler Kritik zugängliche Ideale, Überzeugungen und Werte konstitutiv sei: „Nur durch diese Selbstbestimmung des Willens kann eine Person Autonomie gewinnen: sie tut, was sie tut, weil sie eine bestimmte Person sein will und nicht, weil sie ein Produkt einer kausal wirksamen Sozialisationsgeschichte oder Spielball augenblicklicher Impulse, Neigungen oder Gefühle ist.“ [Zitat nach Nunner-Winkler/Edelstein (1993: 17)]. 721 Habermas ((1988: 27) spricht deshalb von einer „Doppelstellung des Subjekts als einer gegenüber allem und einer unter vielen“. Diese Doppelstellung ist aber nicht zu verwechseln mit dem noumenalen und dem phaenomenalen Ich. 718 719
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wäre eine „Marionette“, deren Antrieb von außen gesteuert würde, dies könnte er sich aber denkend bewußt machen. Wenn dies anders sein soll, dann muß die Kausalität meiner Handlung anders gedacht werden, um gleichzeitig dem Begriff der Freiheit, aber auch meiner empirischen Verfassung gerecht zu werden. Fremdsteuerung – das ist Täuschung durch die Neigungen – läßt sich vermeiden, wenn „dieselbe Handlung, die, als zur Sinnenwelt gehörig, jederzeit sinnlich bedingt, d. i. mechanisch-notwendig ist, doch zugleich auch, als zur Kausalität des handelnden Wesens, sofern es zur intelligiblen Welt gehörig ist, eine sinnlich unbedingte Kausalität zum Grunde haben, mithin als frei gedacht werden könne.“ Benötigt wird also ein „unwidersprechlicher und zwar objektiver Grundsatz der Kausalität, welcher alle sinnliche Bedingung von ihrer Bestimmung ausschließt.“ 722 Die Selbstliebe kann diesen Grund nicht darstellen. Wenn man die Glückseligkeit zum höchsten Bestimmungsgrund der Willkür macht, dann ist die Lust oder Unlust am Gegenstand der Handlung stets empirisch bedingt und damit kontingent. 723 Der sich im Sinne der Willkür Entscheidende macht sich darin zum Spielball seiner Interessen und Leidenschaften, auch sozialen Umstände und bestimmt sich selbst als bloßes Mittel, diese Bedürfnisse zu befriedigen, was bedeutet, daß im eigentlichen Sinne er von ihnen bestimmt wird. Voraussetzung für Selbstbestimmung ist – als praktisches Ich – ein Wissen davon, daß die Person über ein bestimmtes Motiv für seine Handlungen verfügt, welches nicht zufällig ist. Selbstbestimmung wird ihm also durch einen bestimmten Grund für sein Handeln vermittelt: „Ich weiß, daß ich ein Recht einfordere, und ich weiß, warum ich dieses Recht einfordere, nämlich, weil es richtig ist.“ Wenn ich mir über den Grund bewußt bin, bin ich nicht lediglich eine „Marionette“ im dargestellten Sinne. Deshalb stellt sich die Frage, inwieweit das Subjekt über einen letzten Grund verfügt, in dem es sich in seiner Identität finden kann, das heißt, daß es sich über den letzten Grund seines Daseins nicht täuscht. 724 Aber Kant hat diesen Grund in dem Sittengesetz längst gefunden: 725 Er „bedarf keines Suchens und keiner Erfindung; er ist längst in aller Menschen Vernunft gewesen und ihrem Wesen einverleibt, und er ist der Grundsatz der Sittlichkeit. Also ist jene unbedingte Kausalität und das Vermögen derselben, die Freiheit, mit dieser aber ein Wesen (ich selber), welches zur Kant, KpV, S. 232 (A 188). Vgl. Kant, KpV, S. 128 ff. (A 39 ff.), und König (1994: 163 ff.). Vgl. auch die von König herausgearbeitet Unterscheidung von moralischen Wohlwollen gegen sich selbst und dem pathologischen Wohlgefallen (ebd.: 202 ff. und 223 f.). 724 Vgl. zu dieser Problemstellung auch Schwartländer (1968: 121): „Der Seinssinn oder die Bestimmung des Endzwecks kann sich also nach Kant nur gründen in einer letzten Selbstbestimmung des Menschen, d.i. in einer Bestimmung, die sich nicht auf irgendwelche natürlichen Vorgegebenheiten bezieht, diese befördernd oder entwickelnd, sondern von ihnen völlig unabhängig sich selbst hervorbringt. Diese ist allein wahrhaft ‚praktisch‘“. 725 Vgl. auch Höffe (1996: 200): „Autonomie bedeutet (...) zu seinem eigentlichen Selbst zu finden, dem moralischen Wesen, der reinen praktischen Vernunft.“ 722 723
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Sinnenwelt gehört, doch zugleich als zur intelligiblen gehörig nicht bloß unbestimmt und problematisch gedacht (welches schon die spekulative Vernunft als tunlich ausmitteln konnte), sondern sogar in Ansehung des Gesetzes ihrer Kausalität bestimmt und assertorisch erkannt, und so uns die Wirklichkeit der intelligiblen Welt, und zwar in praktischer Rücksicht bestimmt, gegeben worden, und diese Bestimmung, die in theoretischer Absicht transzendent (überschwenglich) sein würde, ist in praktischer immanent.“ 726 Der letzte Grund, durch die Handlungen zu Selbstbestimmten werden, ist also das Sittengesetz. Hierüber kann der Einzelne sich nicht täuschen, weil die Handlung so jenseits aller empirischen Neigungen bestimmt wird. Fraglich ist nur, wie die Selbstbestimmung vollzogen wird: 727 Die Verknüpfung der intelligiblen Welt und der Sinnenwelt vollzieht sich durch die Selbstbezüglichkeit des praktischen Selbst; damit ist die selbstreflexive Verfassung des praktischen Bewußtseins benannt. Dieser Modus der Selbstbezüglichkeit zeichnet die moralische Einstellung aus. Sie ist uns immer schon gegeben, unserem Handeln „immanent“. Das Selbstverhältnis des Menschen zu sich selbst wird von Kant in verschiedenen Konstellationen erfaßt. So kennt er die „innere Selbstprüfung“ 728 und „Selbstschätzung“ 729, ein Handeln aus „selbstsüchtiger Absicht“ 730 und die „Selbstverachtung“ 731. Im praktischen Verhältnis kennt Kant nicht nur die „moralische Selbsterhaltung“ 732, sondern auch etwas, das es nach dem strengen Begriffen der Kantischen Erkenntnistheorie gar nicht geben dürfte: „moralische Selbsterkenntnis“. Diese wird nicht selten zu einer „Höllenfahrt des Selbsterkenntnisses“: „Das moralische Selbsterkenntnis, das in die schwerer zu ergründenden Tiefen (Abgrund) des Herzens zu drängen verlangt, ist aller menschlicher Weisheit Anfang.“ 733 Diese Selbstbezüglichkeit wird an einer Stelle sehr genau veranschaulicht, an der Kant vom „moralischen Selbstbewußtsein“ spricht und damit das Gewissen meint. Die Reflexivität dieses moralischen Selbstbewußtseins veranschaulicht und problematisiert Kant, indem er sagt, „dieses doppelte Selbst, einerseits vor den Schranken des Gerichtshofes, der doch ihm selbst anvertraut ist, zitternd stehen zu müssen, anderseits aber das Richteramt aus angeborener Autorität selbst in Händen zu haben, bedarf einer Erläuterung, damit nicht die Vernunft mit sich selbst gar in WiderKant, KpV, S. 232 (A 188, 189), Herv. im Original. Walker (1989: 104) wirft Kant vor, die Problematik des freien Willens nicht gelöst zu haben: „(...) the problem of how noumenal free choice can affect the phenomenal world. Kant has no adequate answer to it, though we have seen his attempted solution is not quite so immediately and obviously hopeless as it appears to be if one just considers the Grundlegung.“ Das Problem ist (105), „of how a requirement can be both rational and binding.“ 728 Kant, KpV, S. 211 (A 157). 729 Kant, KpV, S. 259 (A 231). 730 Kant, GMS, S. 23 (BA 9). 731 Kant, GMS, S. 57 (BA 61). 732 Kant, MS-TL, S. 551 (A 67). 733 Kant, MS-TL, S. 576 (A 104). 726 727
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spruch gerate.“ 734 Die „Erläuterung“ besteht in der Differenzierung zwischen „Ich, der Kläger und doch auch Angeklagter“ 735. Das Verhältnis ist so gedacht, daß „der Mensch (homo phaenomenon)“ der Person als dem homo noumenon „zur Erhaltung anvertraut war“ 736: „Ich, der Kläger und doch auch Angeklagter, bin eben derselbe Mensch (numero idem), aber als Subject der moralischen, von dem Begriffe der Freiheit ausgehenden Gesetzgebung, wo der Mensch einem Gesetz Untertan ist, das er sich gibt (homo noumenon), ist er als ein Anderer als der mit Vernunft begabte Sinnenmensch (specie diversus).“ 737 Mit dieser Zuordnung des Klägers zur moralischen Person, des Angeklagten zum Sinnenmenschen variiert Kant nur das, was er bereits in der „Kritik der praktischen Vernunft“ über den Gegensatz zwischen dem „pathologisch bestimmbare(n) Selbst“ und derjenigen Instanz eingeführt hat, mit der zusammen es erst „unser ganzes Selbst“ ausmacht. 738 Das Bestimmende ist die Reflexion zwischen dem moralischen und dem sinnlichen Ich. In dieser Reflexion zeigt sich nun das entscheidende Element, sollen nicht Kläger und Angeklagter vollkommen aneinander vorbeireden. Der Angeklagte, der hier der bloße homo phaenomenon sein soll (das bloß pathologische Selbst), also das, was für eine transzendentale Analyse als solches nicht zählt, muß im Stande sein, zu verstehen und anzuerkennen, was ihm der homo noumenon vorwirft – er muß demnach seinerseits wiederum auf ein intelligibles Inneres, einen homo noumenon bezogen sein. Er ist, wie Kant es bezeichnend formuliert, der mit Vernunft begabte Sinnenmensch – und nur an diese Vernunft kann sich die Anklage, können sich die Forderungen der reinen Vernunft richten. Die Persönlichkeit ist folglich ein Vermögen der Person, die zugleich zur Sinnenwelt und zur intelligiblen Welt gehört. Die zur Sinnenwelt gehörende Person ist ihrer eigenen Persönlichkeit, aufgrund derer sie zur intelligiblen Welt gehört, unterworfen. In diesem Selbstverhältnis komme ich zur Selbstbestimmung. Das praktische Vermögen ist vollzugsorientiert gedacht: Ich stelle mich selbst in einer jeden Situation, in der die Frage aufkommt, was ich tun solle, unter den Anspruch einer Verbindlichkeit, ich gebe mir selbst dabei die Regel, ich mache mir etwas zur Maxime, ich stehe schließlich unter dem Gebot des Kategorischen Imperativs. Natürlich geschieht auch hier eine dauernde Verknüpfung von Vorstellungen zu Urteilen und Gedanken. Wenn ich mich selbst auf diese normativ orientierte Art und Weise konzipiere, dann: denke ich. Ich komme so immer wieder auf das bekannte (theoretische) „Ich-denke“ zurück. Aber ich tue etwas anderes, als nur zu denken. Das Denken ist immer schon auf ein Handeln hin entworfen, dieses handelnd um734 735 736 737 738
Kant, MS-TL, S. 574, Anm. (A 101). Kant, MS-TL, S. 574, Anm. (A 101). Kant, MS-TL, S. 555 (A 74). Kant, MS-TL, S. 574, Anm. (A 101). Kant, KpV, S. 194 (A 131).
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zusetzen. Der Vollzug gehört zum Denken, so daß das „Ich“ die Reflexion nicht nur als Subjekt des Denkens, sondern auch als Subjekt des Handelns vollzieht. Das Denken ist von vornherein praktisch orientiert. Hierin zeigt sich der entscheidende Unterschied: Während das denkende Selbst in der theoretischen Einstellung auf die Bestimmung der Gegenstände und damit letztlich intentional auf Anderes seiner selbst bezogen ist, richtet sich seine – nur am Anderen seiner selbst realisierbare – Intention in der praktischen Einstellung des Handelns letztlich auf die Bestimmung seiner selbst. In solcher Bestimmung fängt das Subjekt nicht einfach nur etwas an, hier wird nicht bloß wie schon in aller Objekterkenntnis ein spontaner Anfang gesetzt – sondern hier bezieht sich das Selbst in praktischer Weise auf sein eigenes Von-vorne-anfangen-können. In der Einsicht, daß das freie Handeln nichts anderes ist als Selbstbestimmung, diese aber nicht anders faßbar ist denn als Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung, liegt somit bereits der entscheidende Hinweis, wieso Kant ausdrücklich im praktischen Selbstverhältnis „das eigentliche Selbst“ erkennen kann. Hier kann jetzt auf die oben gewonnenen Einsichten aus Kants Lehre der Selbstachtung zurückgegriffen werden. Die Selbstachtung übernimmt eine besonders bedeutsame Funktion, die man erst nach der Einsicht erkennen kann, „daß Kant mit der Achtungslehre nicht in erster Linie eine Lösung für das Problem anstrebt, wie sich eine Übertretung des Sittengesetzes vermeiden läßt“ 739, sondern wie praktischen Vernunft im Modus der Selbstbestimmung Realität gewinnt. 740 Selbstachtung ist damit weniger eine Triebfeder zur Sittlichkeit, löst aber auch nicht das Problem des Übertretens der Sittlichkeit zu. 741 Vielmehr ist das Auftreten der Achtung an die Art der Gründe gebunden, die das Subjekt in Entscheidungssituationen heranzieht, so daß „sich die Achtung fürs Gesetz im Kern gegen die Verwechslung von subjektiven und objektiven Gründen des Fürrichtighaltens von Maximen (des Handelns) und damit gegen etwas, was man als Überredung im praktischen Denken bezeichnen könnte“ 742, richtet. 743 „Da die Gründe des Fürrichtighaltens von Maximen im Wollen bestimmter Zwecke bestehen, kann man auch sagen, daß die Achtung fürs Gesetz sich gegen das Wollen von Zwecken richtet, die nicht vollständig und daher ungeeignet sind, praktische Gesetze zu begründen.“ 744 Kant führt die Analyse der Wirkung des König (1994: 201). Vgl. König (1994: 228): „In der Achtung fürs Gesetz erweist sich die Vernunft als ein realer Grund, dessen Größe die Größe aller Gegengründe (unendlich) übersteigt.“ 741 So könnte man aber einige Stellen, insbesondere die Bezeichnung der „Achtung“ als „Wächter“ verstehen: „Die Achtung für uns selbst im Bewußtsein unserer Freiheit“ gilt Kant als „der beste, ja unser einziger Wächter (...), das Eindringen unedler und verdorbener Antriebe vom Gemüte abzuhalten.“ Kant, KpV, 299. 742 König (1994: 201). 743 Dieser Gedanke findet sich ansatzweise schon bei Rousseau: „Ob ich zustimme oder widerstehe (...), ich fühle ganz deutlich in mir, ob ich getan habe, was ich tun wollte.“ Vgl. auch Böckerstette (1982: 176). 744 König (1994: 201). 739 740
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moralischen Gesetzes auf das Gemüt ausdrücklich als Ersatz für die Unmöglichkeit des Nachweises ein, „wie ein freier Wille möglich sei.“ 745 Damit vergewissert sich das Subjekt im Gefühl der Selbstachtung seiner Selbstbestimmung und hat damit eine Möglichkeit, einen letzten Grund seines Daseins zu finden, um sich damit seiner moralisch-praktischen Identität zu vergewissern. Selbstachtung begleitet also ein Handeln gemäß bestimmter Zwecke. Einzig angesichts des Kontrastes von sinnlicher Affizierung einerseits und dem Selbstverständnis als eines frei handelnden Wesens andererseits stellt sich beim Menschen dieses „vernunftbewirkte“ Gefühl ein, welches ihn „die Erhabenheit seiner übersinnlichen Existenz spüren läßt“. 746 Der Mensch erlangt eine praktische Konsistenz seiner Identität, indem er selbstbestimmt handelt. Man könnte daher für die Achtung sagen, daß sie auf dem Gebiet der praktischen Vernunft die Funktion ausfüllt, die in der spekulativen Philosophie Kants dem „Ich-denke“, das alle meine Vorstellungen begleiten können muß, zukommt: Sie ist die Begleiterin aller meiner praktischen Vernunfthandlungen. Sie gibt sozusagen den transzendentalen Voraussetzungen des „Ich-handle“ die Daseinsgewähr: In der Anwendung der praktischen Vernunft durchdringt und transzendiert das Subjekt die Situation in zeitlicher und naturkausaler Hinsicht. In der Anwendung des Vernunftgesetzes müssen die Gründe für eine Handlung über die Kontingenz der konkreten Situation hinausreichen. So muß bspw. die historische Entstehung des konkreten Rechtsanspruches bei den Anwendungsreflexionen miteinbezogen werden. Damit wird auch die frühere Handlung des Subjekts in der Reflexion bedacht. Nach Kant kann das Subjekt seine eigene Konsistenz, die sich in den Handlungen äußert, etwa zum Entstehungszeitpunkt eines Rechts t 1 und zum Durchsetzungsmoment t 2, nur dann wahren, wenn das „Ich-handle“ über das bloß theoretische Selbstbewußtsein des „Ich-denke“ hinausgeht. Die Bestimmung des Willens soll nicht von der Kontingenz der empirischen Neigung, sondern von dem Handelnden selbst ausgehen. Kant sieht hier die Lösung in der Anwendung des praktischen Vernunftgesetzes. Das „Ich-handle“ im Zeitpunkt t 1 und t 2 bleibt dadurch immer das Gleiche, bzw. bestimmt sich dadurch überhaupt erst zu seiner eigenen Identität. Dabei darf aber nicht vergessen werden, daß die Entscheidungssituationen für das „Ich-handle“ meiner speziellen Lebensgeschichte entnommen sind. Das „Ich-handle“ bezieht sich damit auf die Zufälligkeit meiner Geburt, die Leiblichkeit meiner Existenz und die Einmaligkeit meiner Lebensgeschichte. Im Prinzip der Selbstbestimmung ist damit beides zusammengefaßt: Selbstbestimmung als beharrliches Handeln aus einem Prinzip und Selbstbestimmung als Anknüpfung kontingenter Widerfahrnisse an spontane Intentionalität. 747 In dieser Kant, KpV, S. 192 (A 129); vgl. auch Gondek (1994: 146). Kant, KpV, S. 211 (A 158). 747 Statt des Prinzips der Selbstbestimmung zeichnet Sommer (1988) das Prinzip der Selbsterhaltung aus und nennt die sich dadurch konstituierende Identität eine „Identität im Übergang“, die zwischen der Vielheit von Handlungen einer „bleibt“ und „wird“. 745 746
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Selbstbestimmung findet Kant die Lösung für das praktische Invarianzproblem, das konzeptionell garantieren soll, daß ich im Handeln dasselbe Subjekt bleibe, das alle möglichen wechselnden Erfahrungen macht. In diesem Handeln kann das Subjekt ein „praktisches Sichzusichverhalten“ 748 finden. Würden nur die situationsabhängigen Neigungen das Wollen affizieren, blieben die Handlungen immer subjektiv zufällig. Damit würde ein Problem bestehen, die Identität des Menschen über die Zeit hinweg zu wahren. Moralität käme danach die Eigenschaft einer notwendige Bedingung von vertikaler Identität zu, d. h. im Verlaufe der Zeit ein und derselbe zu bleiben. Die Möglichkeit eines Bruchs der praktischen Identität besteht vor allem in Grenzfällen. Die psychologische Forschung zeigt, daß unmoralisches Handeln die Personen notwendig in Konflikte, mindestens in Gewissenskonflikte, bringt, die die Konsistenz ihrer Selbstinterpretationen und ihres Präferenzsystems, ihre volle Handlungsfähigkeit und letztlich den Sinn ihres Lebens in Frage stellen, es sei denn sie lebten ohnehin im Zustand der Selbstentfremdung und Sinnverlust. 749 Als Beispiel mag hierfür eine strafrechtlich relevante Tat dienen, die nach § 20 StGB als entschuldigt gelten würde, d. h. den Täter würde kein gesetzlicher Schuldvorwurf treffen. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn eine Person im sog. Affektzustand eine erhebliche Verletzung oder gar einen Totschlag ausgeführt hätte. 750 Darunter versteht man die Ausschaltung der Steuerungsfähigkeit des Handelnden, weil er in so starkem Maße von seinen situationsbedingten Neigungen zur Handlung veranlaßt wurde, daß eine tiefgreifende Bewußtseinsstörung eintritt, die zum völligen Verlust der Selbstbestimmung führen kann. 751 Die Rechte und die Achtung der Anderen werden durch die Neigungen völlig aus dem Bewußtsein verdrängt. Das Gegenüber verliert die Würde und wird zum bloßen Objekt; das Recht seines Willens, nicht dem eigenen Willen zu folgen, wird aberkannt. Nach einer solchen Tat könnte eine Interpretation der eigenen Handlung etwa folgenden Inhalt haben: „Ich konnte nicht anders handeln. Ich war nicht mehr Ich. Ich war nicht mehr Herr meiner Sinne“. Die Handlung wäre mit dem Selbstverständnis der Person nicht in Übereinstimmung zu bringen, da die Handlung vollkommen von Neigungen affiziert wurde. Gleichwohl wäre es möglich, daß die Person während der Handlung ein Bewußtsein davon hätte, was sie gerade tut; sonst würde ihr auch die Einsichtsfähigkeit fehlen. 752 Dieser Begriff ist von Tugendhat (1993 a: 144 ff.) entlehnt. So wird etwa Personen, die eine große Diskrepanz zwischen dem Verhalten und den geltenden sozialen Normen aufzeigen und v. a. durch andauernde Verantwortungslosigkeit und Mißachtung sozialer Normen charakterisiert und unfähig zum Erleben von Schuldbewußtsein sind, nach der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen eine „dissoziale Persönlichkeitsstörung“ diagnostiziert, vgl. ICD-10, Dilling/Mombour/Schmidt (1992: F 60.2); vgl. zur „dissozialen Persönlichkeitstörung“ auch: Margraf (1999), Kap. 21, Stichwort: „Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörungen“: „Fehlende Schuldgefühle und Normverletzungen gehen im Extrem so weit, daß die Betroffenen nicht in der Lage scheinen, vorausschauend zu planen und zu handeln.“ (Herv. nicht im Original). 750 Vgl. hierzu Tröndle/Fischer, § 20, Rn. 10 b. 751 Vgl. Tröndle/Fischer, § 20, Rn. 10 und Jescheck/Weigend (1996: 439 ff.). 752 Vgl. Tröndle/Fischer, § 20, Rn. 5. 748 749
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Im deutschen Strafrecht wird deshalb zwischen der Unrechtseinsichtsfähigkeit (intellektueller Faktor) und der Steuerungsfähigkeit (voluntativer Faktor) unterschieden. 753 Dem entsprechen bei Kant das „Ich-denke“ als Voraussetzung des Selbstbewußtseins und das „Ich-handle“ als Voraussetzung der Selbstbestimmung. Im vorliegenden Fall wäre ich – als in Rage geratener Schläger – sozusagen eine „Marionette“ meiner Neigungen, um bei der oben genannten Metapher Kants zu bleiben. Es gibt dann für die Person kein Warum im moralischen, sondern nur im naturkausalen Sinn. Das grundlegende Invarianzproblem, soweit Kant sich damit beschäftigt hat, bezieht sich somit nicht nur auf eine Monokultur der Erkenntnis; es geht nicht allein um die Einheit und Beharrlichkeit des wahrnehmenden und erkennenden, sondern auch des handelnden Subjekts 754. Es geht um die praktische Identität. Personale Identität ist damit als „ein selbstreferentieller und empirisch nicht identifizierbarer Veränderungsprozeß über die Zeit hinweg“, 755 nicht bloß passiv gegeben, sondern durch selbstbestimmtes Handeln aktiv herzustellen. 756 Das Tun selbst, der aktive Prozeß hat bei Kant den Wert: „Nur durch das, was er tut, ohne Rücksicht auf Genuß, (...), und unabhängig von dem, was ihm die Natur auch leidend verschaffen könnte, gibt er (der Mensch) 757 seinem Dasein als der Existenz einer Person einen absoluten Wert.“ 758 Indem ich mich aber über den letzten Grund meines Handelns nicht täusche, habe ich die Möglichkeit, der externen, kontingenten Kontextualität mit dem praktischen Selbstverhältnis der Selbstbestimmung zu begegnen. 759 Nach 753 Eine ausführliche psychologische Erklärung versuchen Jescheck/Weigend (1996: 415 ff.) darzustellen: „Auch bei den Affekttaten, die unter Umgehung des Ichzentrums durch unmittelbare Entladung bei starker Verengung des Bewußtseins geschehen, beruht der Schuldvorwurf auf der mangelnden Kontrolle der tiefenseelischen Antriebe durch die Kräfte der personalen Schicht in der Vorphase der Affektspannung.“ (Herv. von M. S.). Die Kontrolle bezieht sich gerade auf die Wahrung der Rechte anderer und die eigene Selbstbehauptung, als Wahrung der Würde der eigenen Person, die darin liegt, sich nicht gehen zu lassen. 754 Vgl. Recki (1998: 891), die drei Weisen der Selbsttätigkeit bei Kant ausmacht: „Ich-denke“, „Ich-handle“, „ich fühle“; letzteres soll ein Selbstgefühl bewirken. Dieser Punkt kann für die vorliegende Arbeit aber außer Betracht bleiben, da er für Handlungen und damit für den Umgang mit Recht irrelevant ist. 755 Vgl. Sturma (1997: 174). In diese Richtung gehen auch die Ausführungen von Schwartländer (1968: 238): „Der Mensch ist Person durch seine sittliche Freiheit oder unbedingte Verantwortung, darin gründet seine Würde, sein absoluter Wert. Aber der Mensch ist Person als ‚Subjekt‘ des moralischen Gesetzes.“ 756 Sommer (1988: 10) macht bei Kant die Selbsterhaltung als das Grundprinzip der Vernunft bei Kant aus: „unser erkennender Weltbezug und unsere handelnde Realitätszuwendung sind gleichermaßen getragen von einer Intention auf Identität des Ich, Erhaltung des Selbst, Beharrung in synthetischer und systembildender Aktivität“ (Herv. nicht im Original). Dabei liegt auch bei Sommer der Schwerpunkt auf dem Handeln (15): „Ein Ding, das erst so ist und dann anders, ohne dabei selbst ein anderes zu werden, wahrt seine Identität trotz des Übergangs vom So-Sein zum Anders-Sein, den es erleidet. Ein Subjekt indes gewinnt seine Identität erst in den Übergängen.“ (Herv. im Original). 757 Eingefügt von M. S. 758 Kant, KU, zit. nach Schwartländer (1968: 53). 759 Vgl. Sturma (1997: 283).
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Kant gibt also allein die moralische Ordnung eine sichere Orientierung,760 die die Person in der kontingent erscheinenden natürlichen Welt nicht gewinnen kann. 761
(4) Exkurs: Die Dynamik des sinnlichen Vernunftmenschen – Schuld An dieser Stelle soll in einem kurzen Exkurs der bereits mehrfach erwähnte Prozeß der Dynamik aufgegriffen werden. Dieser ist als das Bestreben des mit Vernunft versehenen Sinnenmenschen zu verstehen, die Vernunft mit der Sinnenwelt zu verbinden. Die Vernunft soll so zur Entfaltung gebracht werden; Kant bündelt dies in seiner geschichtsteleologischen Auffassung. Diese Konzeption gilt für jedes einzelne Individuum, nicht nur für den Staat in seiner Gesamtheit. Der Einzelne bestimmt und gewinnt hierdurch seine Identität. Meine These ist, daß der Versuch, eine moralische Identität zu entwickeln, einem grundlegendem Denken der Schuld untersteht, oder genauer: einem transzendentalem Verständnis des Schuldigseins. Dahinter versteckt sich als Erklärung die Spaltung des Menschen in einen noumenalen und phaenomenalen Teil, die nach Kant niemals zur Deckung gelangen können (s. o.). Der phaenomenale Mensch steht gegenüber dem noumenalen in einem Verwirklichungsdefizit. Da er der Forderung der Vernunft in Form einer Pflicht nie ganz nachkommen können wird, kann man auch sagen, der Mensch stehe in der Schuld. Die wesentliche Erklärung hierfür gibt Kant in der Abhandlung aus der Religionsschrift über das radikale Böse. In deren drittem Teil unterscheidet er die verschiedenen Grade, anhand derer man die „angeborene Schuld“ beurteilen kann, welche „die Bösartigkeit der menschlichen Natur“ bewirkt. 762 Die Bösartigkeit ist nicht notwendig die Bosheit. Man kann mit Kant – gemäß der transzendentalen Ordnung – nach dem Schweregrad unterscheiden zwischen der „Gebrechlichkeit der menschlichen Natur, zur Befolgung seiner genommenen Grundsätze nicht stark genug zu sein“ 763, und ihrer „Unlauterbarkeit“, die sie die wirklich moralische Handlung mit jener verwechseln läßt, die nur äußerlich der Pflicht entspricht; am Ende bleibt dann nur noch das „Laster“, das als Neigung, Handlungen zu begehen, die dem moralischen Gesetz zuwiderlaufen, in den Bereich der Bosheit fällt. Aber diese Grade gehen alle drei aus der Bösartigkeit der mensch760 Den Zusammenhang zwischen gerechten Prinzipien und der Einheit der Person betont auch Rawls (1991: 608): „Natürlich entwickelt man seine Ziele Schritt für Schritt, nicht alle auf einmal; doch man kann im Rahmen der Gerechtigkeit einen Lebensplan aufstellen und befolgen und dadurch die Einheit der Persönlichkeit herstellen.“ 761 Diese Vorstellung ist in der philosophischen Gedankenlehre ein schon lang gehegter Weg, die natürliche Dingwelt um ein moralisches Reich zu ergänzen; vgl. anschaulich bei Kirste (2000: 28). 762 Kant, Religion, S. 680 ff. (A 24 ff., B 26 ff.). 763 Kant, Religion, S. 686 (A 33 B 36).
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lichen Natur hervor, das heißt – in aller transzendentalen Strenge – aus einer angeborenen Veranlagung, welche diese Natur als freie Natur begründet. Wenn nun auf dieser dritten Stufe – dem „Laster“ die Verurteilung stets der Schuld gilt, insofern diese vorsätzlich ist („dolus“), so wird die „angeborene Schuld (reatus), welche so genannt wird, weil sie sich so früh, als sich nur immer der Gebrauch der Freiheit im Menschen äußert, wahrnehmen läßt, und nichts desto weniger doch aus der Freiheit entsprungen sein muß, und daher zugerechnet werden kann, (...) und in ihren zwei ersteren Stufen (der Gebrechlichkeit und der Unlauterbarkeit) als unvorsätzlich (culpa) (...) beurteilt werden“ 764. Das bedeutet, daß man schuldig sein kann, ohne je die Absicht gehabt zu haben, Böses zu tun; oder sogar: daß man immer schon, vor jeder böswilligen Absicht, schuldig ist. Und eben dieses Schuldigsein ist die Bedingung der Möglichkeit des Ethischen. Es gibt also – auch wenn Kant einen solchen Ausdruck nicht verwendet (er zieht es vor, vom „faulen Fleck unserer Gattung“ zu sprechen) – ein für die Menschheit in ihren ethischen, also auch in ihren rechtlichen Dimensionen konstitutives transzendentales Schuldigsein. Und deshalb beschließt Kant jene Passage folgendermaßen: „So möchte wohl vom Menschen allgemein wahr sein, was der Apostel sagt: ‚Es ist hier kein Unterschied, sie sind allzumal Sünder – es ist keiner, der Gutes tue (nach dem Geist des Gesetzes), auch nicht einer.‘“ 765 Überträgt man diesen Gedankengang auf das Recht, so leuchtet ein, daß sich das einzelne Individuum nicht mit der Verwirklichung des positiven Rechts zufriedengeben kann. Sein Schuldigsein fordert es heraus, ständig die Rechtsidee im Rahmen des positiven Rechts zu verwirklichen; dafür muß der einzelne aber das Rechtsverhältnis unter Rückgriff auf die vernunftrechtlichen Prinzipien auf eine „höhere“ Stufe bringen. Jedoch wirken diese in der Religionsschrift vorgebrachten Behauptungen mittels der Erklärung der „Erbsünde“ auf den ersten Anschein sehr antiquiert. Versucht man jedoch, die transzendentale Ontogenese des Subjekts durch eine Physiogenese zu umgehen, also unter Rückgriff auf ein empirisches Entwicklungsmodell, ist dieser Teil der Kantischen Identitätstheorie immer noch als modern anzusehen: Die Analogie zu diesem Modell des Schuldigseins findet sich in der Ich-Entwicklung bei Sigmund Freud. 766 Kant, Religion, S. 686 f. (A 33 f. B 36 f.). Kant, Religion, S. 688 (B 39 A 35); vgl. hierzu ausführlich Ricken (2001: 252). 766 Vgl. aber auch die Parallelen, die Baas (1994: 93 ff.) zu Lacan und Heidegger zieht. Das „Schuldigsein“ steht auch im Zentrum der existenzialen Auslegung des „Daseins“ in „Sein und Zeit“: jedes ontische Verschulden, d. h. sein Auftreten in der empirischen Welt, ist nur auf der Basis eines ursprünglichen – ontologischen – Schuldigseins möglich. Dieses ruft mit der Stimme des Gewissens: „Was ruft das Gewissen dem Angerufenen zu? Streng genommen – nichts. Der Ruf sagt nichts aus (...). Dem angerufenen Selbst wird ‚nichts‘ zugerufen, sondern es ist aufgerufen zu ihm selbst, das heißt zu seinem eigensten Sein-können. Der Ruf (...) ist (...) ein Vor-(nach ‚vorne‘)Rufen des Daseins in seinen eigensten Möglichkeiten.“ (1986: 273). Was sich dem handelnden Subjekt so erschließt ist der Modus der „Eigentlichkeit“, mit anderen Worten die Selbstbestimmung. 764 765
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Folgende Bemerkung bildet quasi ein Echo auf Kant: „Die Psychoanalyse bestätigt hier was die Frommen zu sagen pflegen, wir seien alle Sünder.“ 767 Auch bei Freud ist das Schuldigsein ein wichtiger Theoriebaustein. Im Aufsatz über das „Ich und das Es“ bindet Freud das Gewissen an das Handeln, jener Instanz, die er ÜberIch oder Ichideal nennt. Dessen Herrschaft über das Ich tritt in Form eines kategorischen Imperativs auf. Das Schuldgefühl ist somit nicht ein Sekundäreffekt des Über-Ich, sondern es ist die eigentliche Bekundung des Über-Ich im Ich: „Die Spannung zwischen den Ansprüchen des Gewissens und den Leistungen des Ich wird als Schuldgefühl empfunden.“ 768 Mit anderen Worten: Das Ethische geht aus dem Schuldgefühl hervor. 769 Freud bezieht dies aber nicht auf ein ursprüngliches und autonomes moralisches Vermögen zurück, sondern stützt sich auf die analytische Philosophie. Auf diese Weise wird das „Schuldgefühl“ als Gefühl stets auf den Angsteffekt zurückbezogen; es fällt sogar „ganz mit der Angst vor dem Über-Ich zusammen“, welches durch eine Identifizierung mit dem väterlichen Vorbild entsteht. Das Schuldgefühl ist damit der eigentliche Affekt der Subjektivität; man könnte mit Freud auch sagen, die Subjektivität (Identität) stellt sich nur auf dem Weg über diesen Affekt ein, von dem man alle weiteren Bekundungen des Gewissens ableiten muß, und vor allem den „kategorischen Imperativ Kants“, der „so der direkte Erbe des Ödipuskomplexes“ ist. 770 In der Vermittlung zwischen „Es“ und „Über-Ich“ ist ein „Ich“ zu bilden, so daß dem Über-Ich eine große identitätskonstituierende Funktion beikommt. Genauso 771 muß der Mensch nach Kant bei seiner „Selbstentfaltung“ zwischen dem Schuldgefühl, seiner Sinnlichkeit und dem Vernunftanspruch vermitteln. 772 In der Einleitung Vgl. auch die Ausführungen von Jaspers (1958: 127 f.).: „Das radikal Böse wird der Punkt, an dem sich Kants Religion in eigentlicher Tiefe entzündet.“ 767 Freud, Totem und Tabu, S. 89. 768 Freud, Das ich und das Es, S. 265. 769 Vgl. auch Schwartländer (1968: 223) und (224 f.): „Damit ist bereits der entscheidende Punkt genannt, auf den es in dieser ganzen Erörterung ankommt: die in der Erfahrung des Bösen in der menschlichen Natur sich meldende Verantwortung des Menschen“ (Herv. im Original). 770 Freud, Das ökonomische Problem des Masoschismus, S. 380. 771 Bei Kant und Freud besteht noch in anderer Hinsicht eine Parallele. Woran der Mensch letztlich gemessen wird, ist nicht seine objektive Handlung, seine Erscheinung, wie sie sich für andere Menschen präsentiert, sondern die Bemessung richtet sich nach seinen Fähigkeiten, wie er mit seiner Verfassung umgeht: „Das (...) erstellte diagnostische Profil zeigt einen Persönlichkeitstypus, bei dem Handeln negativ bewertet wird und alles Gewicht auf die Gefühlstönung gelegt wird. Auch das ständige Interesse für die Motive anderer führt in ganz ähnlicher Weise zu einer Entwertung von deren Handeln; es kommt nämlich nicht darauf an, was sie tun, es kommt auf die eigenen Phantasien darüber an, was die anderen beim Handeln empfinden. Der Wirklichkeit wird auf diese Weise ihre ‚Legitimität‘ entzogen.“ (Sennett [1996: 409]). Das Selbst bestimmt sich einzig aus seiner Motivation. Zu den Problemen, die hieraus für eine Förderung des Narzißmus entstehen können, vgl. die interessante Studie von Sennett (1996). Was das für die Rechtsanwendung bedeuten könnte, kann hier aber nicht weiter verfolgt werden. 772 Vgl. zu diesem Gedanken auch Schild (1981 a: 251). 13 Schütze
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zur Rechtslehre nennt Kant diesen Prozeß das „Leben“ 773. Dem Begehrungsvermögen geht es um die Beziehungen der Vermögen der Seele zu den moralischen, das heißt den ethischen (Tugendlehre) und rechtlichen (Rechtslehre) Gesetzen. Das transzendentale Schuldgefühl ist somit ein wichtiger Impuls des „Lebens“, durch den die Prinzipien der Sittlichkeit in der empirischen Welt entfaltet werden. Dieser Impuls ist die Möglichkeit der Spontaneität, die Gesellschaftsentwicklung voranzutreiben, andernfalls würde sie – außengesteuert – als (praktische) Vernunftgesellschaft aussterben. Es ist die Voraussetzung für Erneuerung und Fortschritt. Der kategoriale Unterschied zu der oben bereits angesprochenen Theorie von Mead liegt darin, daß bei Kant die Anerkennungsinstanz bzw. der Richter, der die Einstellungen beurteilt, im Subjekt selbst liegt (Gewissen), 774 während bei Mead die Anerkennung durch einen anderen Menschen diese Funktion übernimmt und damit die Dynamik der moralischen Entwicklung vorantreibt. 775 Bei Kant ist der noumenale Mensch sozusagen eine vorgesellschaftliche Instanz; er ist ein ontologisches Kriterium der Dynamik. Bei Mead hingegen ist reformerische/rebellische Subjektivität – das „Ich“ – keine „vorgesellschaftliche Instanz, die tief im Innern des Subjekts schlummert: Kein „I“ ohne „Me“, keine rebellische Subjektivität ohne soziale Institutionen. Genau dieser Punkt ist der Anstoß der Kritiker am sog. „Atomismus“ Kants, um sich von ihm abzuwenden: „Sogar wenn sich eine Person auf sich selbst zurückzuziehen scheint, um mit ihren eigenen Ideen zu leben, lebt sie in Wirklichkeit mit den anderen Personen, die gedacht haben, was sie gerade denkt.“ 776 In diesem Gegensatz zeigt sich etwas ganz Wesentliches: Bei Kant ist der Bezug zum anderen, auch wenn er bereits intersubjektive Züge trägt, immer eine Beschränkung durch den anderen. In dieser Beschränkung wird aber gleichzeitig Selbstbestimmung möglich, weil nur durch den Respekt des Anderen, der in der Beschränkung zum Ausdruck kommt, moralische Handlungen möglich sind und damit Bedingung der Selbstbestimmung sind. Bei Theoretikern im Gefolge Meads sind die Institutionen, zu denen der Gesellschaftsgeist geronnen ist, überhaupt erst die Möglichkeit, durch das in ihnen tradierte Wissen über sie hinauszugehen, hierin ihre Autonomie zu gewinnen. Zwar könnte man auch bei Kant die Beschränkung im Recht als Möglichkeit zur moralischen Perspektive und damit zur Autonomie interpretieren, aber bei Mead ist dies an psychogenetische Entwicklungen, bei Kant an ontologische Voraussetzungen geknüpft. Demnach gelänge nach Kant auch dem völlig Vereinzelten die moralische Perspektive durch Blick auf sein noumenales Wesen, nach Mead hingegen bildet sich diese moralische Perspektive erst mittels des Blikkes auf andere. 777 Insofern fällt bei Kant die Verantwortung letztlich allein auf den Kant, MS-RL, S. 315 (AB 1). Vgl. dazu auch Recki (2001: 224 Fn. 2). 775 Vgl. schon den Titel des Aufsatzes von Honneth (1994 a: 78 ff.): „Die soziale Dynamik von Mißachtung“. 776 Mead (1968: 436). 777 Dies wird zu Beispiel deutlich an folgender Textpassage: „Die Identität entsteht im Verhalten, sobald das Individuum sich selbst als Objekt erfährt. Das geschieht, wenn das Indivi773 774
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Einzelnen zurück. Nach Kant könnte ein Subjekt also niemals sein unsittliches Handeln – bspw. einen unsittlichen Anspruch einzufordern – durch Verweis auf die sein Recht vermittelnde positive Rechtsordnung vor sich selbst exculpieren. Das Schuldigsein fordert stets die Orientierung an den zugrunde liegenden Prinzipien.
2. Recht, Achtung und Identität Nachdem die einzelnen Begriffe von Recht, Achtung und Identität eingeführt worden sind, soll im folgenden versucht werden, ihr Zusammenspiel aufzuzeigen.
a) Das Beispiel des „Shylock“ Diese Gedankengang läßt sich an dem eingangs erwähnten Beispiel von der Shakespeareschen Figur des Shylock illustrieren. 778 Hierfür soll die bereits in der Einleitung erwähnte Stellungnahme Iherings 779 ausgeführt werden (1), um diese dann der Position Kants gegenüberzustellen (2).
(1) Die Sichtweise Iherings In dem „Kaufmann von Venedig“ läßt Shakespear Shylock und Antonio einen Vertrag schließen, aus dem Shylock ein Anspruch zusteht, aus dem Leibe des Antonio ein Pfund Fleisch zu schneiden. Nach Ihering muß Shylock diesen Anspruch unbedingt durchsetzen, denn „das Recht (ist) Lebensbedingung der Person, die Behauptung desselben ihre eigene moralische Selbsterhaltung. Die Gewalt, mit der das Rechtsgefühl gegen eine ihm widerfahrende Verletzung tatsächlich reagiert, ist der Prüfstein seiner Gesundheit.“ 780 Weiter führt er aus, daß es die „Pflicht eines jeden gegen sich selbst (ist), eine Mißachtung des Rechts in seiner Person mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln zu bekämpfen“781. Die Selbstachtung beansprucht also die Durchsetzung des positiven Rechtsanspruchs, ohne die Gültigkeit des positiven Rechts, durch welches der positive Rechtsanspruch gewährleistet wird, zu prüfen, wenn sich in der Rechtsübertretung eine irgendwie geartete „Mißachtung“ der duum eine Haltung einnimmt oder sich einer Gebärde bedient, die ein anderes Individuum üblicherweise gebraucht, und wenn es selbst auf diese Haltung oder Gebärde regiert oder reagieren möchte“ [Mead (1987: 293)]. Die Identität ist wiederum Voraussetzung, um die moralische Perspektive einnehmen zu können. 778 Oben, S. 18 ff. 779 Iherings Position wird hier bewußt zugespitzt; vgl. zu Ihering etwa Ralf Dreier (1993). 780 Ihering (1992: 101); zu Ihering vgl. auch die Ausführungen von Schelsky (1970: 86 ff.), der Ihering als den Vertreter herausstellt, der das Recht nicht nur auf die Person bezieht, sondern bei dem Autonomie und Integrität als „politische und moralische Aufgabe“ (86) gesehen werden. 781 Ihering (1992: 81). 13*
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Person ausdrückt. Auch nimmt die innere Motivation – Ihering spricht von einer „Stufenleiter der Motive“ 782 – der Durchsetzung nicht den Pflichtcharakter von einem objektiven Standpunkt aus: „Die Wahrheit bleibt Wahrheit, auch wenn das Subjekt sie nur unter dem engen Gesichtswinkel seines eigenen Interesses erkennt und verteidigt. Haß und Rachsucht sind es, die den Shylock vor Gericht führen, um sein Pfund Fleisch aus dem Leibe des Antonio zu schneiden, aber die Worte, die der Dichter ihn sprechen läßt, sind in seinem Munde ebenso wahr wie in jedem andern. Es ist die Sprache, die das verletzte Rechtsgefühl an allen Orten und zu allen Zeiten stets reden wird; die Kraft, die Unerschütterlichkeit der Überzeugung, daß Recht doch Recht bleiben muß; der Schwung und das Pathos eines Mannes, der sich bewußt ist, daß es bei der Sache, für die er eintritt, nicht bloß um seine Person, sondern um das Gesetz handelt.“ 783 Ihering macht in dieser Passage auf zwei für ihn wesentliche Punkte aufmerksam: (1.) Recht muß Recht bleiben, und (2.) in der Rechtsdurchsetzung des subjektiven Anspruchs geht es nicht nur um die Person des Shylock, sondern auch um das seinen Anspruch ausweisende Gesetz Venedigs. 784 Der erste Punkt ist schon von Kant bekannt; oben 785 erschien es zunächst als Paradox, daß das Recht notwendige Handlungen ausweist, die sogar durch Zwang durchgesetzt werden könnten, gleichzeitig aber keine (äußere) Pflicht beinhaltet, dieses Recht durchsetzen zu müssen, sondern die Entscheidung darüber dem Rechtsträger freistellt. Ihering greift dieses Problem auf, löst es aber anders; da er die Funktion des subjektive Rechts nicht nur in dem Schutz des Einzelnen sieht, sondern immer zugleich das Gemeinwesen mitbetroffen ist, zieht er dem Paradox von vornherein den Zahn. Da das Recht aber noch an den Willen des einzelnen geknüpft bleibt, muß er sich mit einem Kunstgriff helfen, um die Rechtsdurchsetzung zu garantieren: Die Selbstschätzung ist nach Ihering an das gebunden, was jemand für seine Rechte hält, 786 was ihm wiederum durch das positive Recht vermittelt wird. 787 Hier findet sich also eine automatische Verknüpfung von Selbstachtung und positivem Recht. Ihering liefert weder für das Recht, noch für die Achtung einen objektiven Maßstab (d. h. prinzipiengeleiteten, naturrechtlichen), sondern verbindet diese beiden Kategorien derart miteinander, daß die Rechtsdurchsetzung des positiv gewährleisteten Anspruchs von der Selbstachtung 782 Ihering (1992: 123): „(...) von dem untersten des reinen Interessenkalküls aufsteigend zu dem idealeren der Behauptung der Persönlichkeit und ihrer ethischen Lebensbedingungen, um schließlich anzulangen bei dem Gesichtspunkt der Verwirklichung der Idee der Gerechtigkeit – der höchsten Spitze.“ 783 Ihering (1994: 169), Herv. nicht im Original. 784 Diese Verbindung ist allerdings schon bei Shakespeare angelegt, wenn er Shylocks Anklage mit den Worten Salieros wiedergibt, daß seine Rechtsverletzung gleichzeitig eine Verletzung der Freiheit Venedigs bedeute: „Er (Shylock) liegt dem Doge früh und spät im Ohr, und klagt des Staats verletzte Freiheit an, wenn man sein Recht ihm weigert“ (1998:54). 785 Oben, 70. 786 Ausdrücklich zu Ihering vgl. Wildt (1992: 169). 787 Ihering (1992: 73): „Ich wende mich dem Kampf um das subjektive oder konkrete Recht zu.“
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gefordert ist, wenn sich der Verletzte in der Rechtsübertretung mißachtet fühlt.788 Er stellt auf das subjektive Empfinden des Individuums ab – seine „ethische Selbstbehauptung“, wie er an anderer Stelle schreibt 789 –, ein Recht zu haben und dementsprechend Opfer einer Rechtsverletzung zu sein. Shylock fühlt sich in der Verweigerung seines Erfüllungsanspruchs mißachtet, und ohne die Gültigkeit des Anspruchs an überpositiven Kriterien zu überprüfen, sieht es Ihering als eine Pflicht „des Berechtigten gegen sich selber – denn es ist eine Gebot der moralischen Selbsterhaltung“ und als Pflicht „gegen das Gemeinwesen – denn er ist nötig, damit das Recht sich verwirkliche“ 790. In der Rechtsdurchsetzung erhält also das Subjekt seine Selbstachtung zurück, zugleich sieht Ihering dadurch die dynamische Rechtsidee in Verwirklichung gesetzt, so wie es für Kant in den Räumen des positiven Rechts unter Rückgriff auf das Naturrecht auch zutrifft (s. o.). Hier ist also der kategoriale Unterschied zu Kant angesiedelt. Die Rechtsidee verwirklicht sich nach Kant im subjektiven Recht gerade dadurch, daß der einzelne über sein positives Recht unter Rückgriff auf die Prinzipienebene reflektiert. Bei Ihering hingegen verwirklicht sich das Recht, indem ein Mehr des positiven Rechts in die faktische Welt implementiert wird. Damit stehen sich Reflexion und Ausführung gegenüber. Danach ist es nur konsequent, daß nach Ihering Shylock seinen Anspruch durchsetzen muß, denn „es ist nicht mehr der Jude, der sein Pfund Fleisch verlangt, es ist das Gesetz Venedigs selber, das an die Schranken des Gerichts pocht – denn sein Recht und das Recht Venedigs sind eins; mit seinem Recht stürzt letzteres selber“ 791. Ihering koppelt also die Erhaltung der Person mit der Erhaltung des Gemeinwesens auch in den Privatrechtsansprüchen derart zusammen, daß immer beide die Pflichthandlung fordern, so daß nicht zwischen den verschiedenen 788 Vgl. Ihering (1992: 79) und (1992: 38 f.): „Die Empfindlichkeit der Person, des Rechtsgefühls ist bei den Individuen sehr verschieden.“ Dies ändert Ihering erst in seiner späteren Schrift „Der Zweck im Recht“, wo die „soziale Achtung“ den Wert eines Individuums hervorhebt, soweit er sich in Kriterien der gesellschaftlichen Relevanz intersubjektiv messen läßt (1905: 388 ff.): „Die Achtung enthält das Werturteil der Gesellschaft, das sich in Form der öffentlichen Meinung kund gibt“; vgl. dazu auch Honneth (1992: 180 ff.). Falls dies auch schon von Ihering für den „Kampf ums Recht“ so angelegt war, muß er sich zumindest vorhalten lassen, daß dies aus seiner Darstellung des Shylock nicht hervorgeht. Der subjektiven Definition der Achtung entspricht auch die subjektive Definition des Interesses bei Ihering, die in seiner Rechtstheorie miteinander verzahnt sind; vgl. kritisch hierzu Kelsen (1923: 573). Zu den Unausgewogenheiten im Werke Iherings, der immerhin seine beiden Hauptwerke unvollendet hat stehen lassen, vgl. Ralf Dreier (1993: 233 ff. bes. 242 ff.): Insbesondere seine Theorie der „ethischen Selbstbehauptung und den ethischen Idealismus“ hat Ihering nicht abschließen können, auf die er in der Vorrede zu Band 2 verweist, die „zeigen wird, daß noch Niemand bisher die Fahne des ideal Sittlichen auf so festem Grunde befestigt hat wie ich“ (1905: XIII f.). Es bleibt aber die Frage, ob der Boden für seine Fahne doch nicht so fest war? 789 Vgl. auch Dietze (1997: 23). 790 Ihering (1992: 79 f.). 791 Ihering (1992: 117).
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Rollen, (status) des Subjekts unterschieden wird,792 sondern im Gegenteil gerade aufeinander aufbauen: „Das Privatrecht, nicht das Staatsrecht ist die wahre Schule der politischen Entwicklung eines Volkes, und will man wissen, wie dasselbe erforderlichen falls seine politischen Rechte und seine völkerrechtliche Stellung vertheidigen wird, so sehe man zu, wie der Einzelne im Privatleben sein eigenes Recht behauptet“. 793 Ihering inszeniert einen „Kampf ums Recht“, der sich zugleich als ethische Selbstbehauptung der Person darstellt. 794 Tragend für sein Konzept ist, daß er das Konzept eines subjektiven Achtungsanspruches verfolgt. Hieraus folgt, daß das einzelne Subjekt seine Ansprüche immer nur am positiven Recht verifizieren muß. Selbstschätzung ist an das gebunden, was man für sein eigenes Recht hält. Es gibt für den einzelnen keinen darüberstehenden objektiven Maßstab. Dies verbindet Ihering so mit der Moral, daß eine moralische Pflicht zur Behauptung von Selbstachtung und Würde im „Kampf ums Recht“ besteht. 795 Die Begründung eines Rechts steht damit immer im Anwendungszusammenhang. Die Gefahr eines solchen Modells, bei dem die Erhaltung des Individuums und des Gemeinwesens derart verknüpft werden, ist die Funktionalisierung des Subjekts für das Recht an sich. 796 Wenn der Kampf für die Person und für das Gesetz derart in einer sittliche Pflicht vereinigt werden, ist höchst fraglich, inwieweit dem Subjekt noch ein Beurteilungsspielraum zukommt, über die Durchsetzung des einzelnen Subjektiven Rechts zu entscheiden. 797 Dies wird unten bei der Darstellung von Carl Schmitt verdeutlicht, der diese Position ins Extrem weiterentwickelt, indem er der Pflicht der Rechtsdurchsetzung jedes Moralische nimmt und 792 Vgl. Ihering (1994: 73): Dieser Kampf ums Recht wiederholt sich „in allen Sphären des Rechts (...): in den Niederungen des Privatrechts so gut wie auf den Höhen des Staatsrechts und Völkerrechts.“ 793 Ihering (1992: 125), vgl. dazu Dietze (1997: 82). 794 Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Schelsky in seiner Ihering-Rezeption (1973: 73): „In der Verfolgung seines Rechts bildet und bestätigt sich nicht nur die Identität und Integrität der Person, sondern diese handelt sich im gleichen Prozeß dauernd in die Gesellschaft hinein, ein Integrations- und Sozialisationsprozeß der Person, dem auch der erwachsene Mensch dauernd unterworfen ist, d. h. den er an sich selbst vollziehen soll und muß.“ 795 Dies sieht Ihering auch für die tragische Figur des Michael Kohlhaas; vgl. dazu auch Wildt (1992: 128, Fn. 3). 796 Diese Gefahr hat sich dann auch in der Berufung auf Ihering durch einige Anhänger der Faschisten des Dritten Reiches bemerkbar gemacht: Auf einer Schulungsveranstaltung für junge Dozenten, dem „Kitzeberger Lager“, eröffnete Karl August Eckhard im Mai 1935 den Kampf mit dem Schlachtruf „Recht oder Pflicht?“. Ihering habe mit seiner schneidigen Attacke gegen die Definition des subjektiven Rechts als Willensmacht nicht das verdiente Echo gefunden. Nun aber sei die Zeit reif zum Abschied von einem individualistischen Begriff; vgl. hierzu Hattenhauer (1982: 133). 797 Dies ist zu berücksichtigen, wenn auch Iherings Erkenntnisinteresse weniger normativ, als deskriptiv ist: Denn er möchte, „die verborgenen Triebfedern, die letzten Gründe, den geistigen Zusammenhang der gesamten Rechtsentwicklung“ erforschen (Ihering [1953: 16]). Ihering unternimmt insbesondere in seinem Werk „Der Zweck im Recht“ (1905) einen psychologisch orientierten Versuch, das Recht aus realen Ursachen zu erklären, indem er dem Recht ein handlungstheoretisches Fundament verleiht; vgl. hierzu auch D. Schütze (1998: 82 ff.).
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statt dessen den Handelnden nicht näher ausgeführten, metaphysischen Rechtspflichten unterwirft.
(2) Die Sichtweise Kants Kant hat sich nicht ausdrücklich zu Shakespeare geäßert. Trotzdem soll versucht werden, eine hypothetische Antwort vor dem Hintergrund der gewonnen Erkenntnisse zu finden. Kants Sichtweise würde sich wahrscheinlich von Iherings unterscheiden: Der positiv-rechtlich gewährte Anspruch des Shylock wäre nach Kant lediglich deshalb durchsetzbar, weil er in der sozialer Dimension verbindlich ist. 798 Ein Außenstehender, weder ein Privater Dritter noch ein Gericht, könnte also Shylock an seiner Rechtsdurchsetzung hindern. Shylocks berechtigte Antwort auf die Frage eines Dritten, warum er sein Recht durchsetze, wäre also ganz einfach: „weil ich ein Recht habe“. Das Sich-Beziehen auf positives Recht hätte nach Kant in diesem Fall die Bedeutung, daß jemand in den Grenzen einer bestimmten rechtlichen Möglichkeit seinem Eigendünkel und seiner Selbstliebe nachgeben und sich von den Erwartungen des homo noumenon in einem selbst und in anderen Personen absetzen kann. 799 Der Rechtsanspruch könnte von anderen zwar kritisiert werden, aber nur im Range einer kritischen Meinungsäußerung, aber nicht den (sozialen) Legitimitätsstatus des Anspruchs grundsätzlich in Frage stellen. Dieser Anspruch, genauer: ein Recht auf etwas gegen eine andere Person – ist von der Rechtsordnung gegen jeglichen Zugriff von außen geschützt und damit bewehrt. Die Rechtsordnung stellt das rechtsdurchsetzende Mittel des Zwanges zur Verfügung, falls sich der Adressat dem Begehren des Rechtsinhabers verweigert. Anders als bei Ihering ist die Verbindlichkeit dieses Anspruchs nicht mit einer Pflicht gegenüber dem Gemeinwesen gleichzustellen, diesen Anspruch auch durchzusetzen. Dadurch ist der Rechtsträger frei, mit Hilfe der inneren Rechtspflichten des „honeste vivere“, des „neminem laedere“ und des „suum cuique tribuere“ eine gerechtfertigte Wahl zu treffen. Das einzelne Subjekt wird mittels des Strafrechts – wie dargestellt – im Privatrechtsverhältnis von der Verantwortung gegenüber dem Gemeinwesen freigestellt, die Rechtsidee zu verwirklichen. Durch diese systematische Trennung gewinnt Kant die Möglichkeit, die soziale Verbindlichkeit des positiven Rechtsanspruchs zu begründen, diese aber in individueller Dimension in Frage zu stellen. Dieser Trennung liegt ein Konzept der lediglich relativen Richtigkeit der positiven Gesetze zugrunde, wie es oben dargestellt wurde. Anders aber als im Naturrecht bewirkt dieses Konzept der relativen Richtigkeit, daß man sich nicht das gesamte poVgl. ausführlich oben, Seite 140 ff. Für Radbruch (1956: 141) ist das Shylock das Beispiel eines „nackten Interessenkampfes ohne jeden moralischen Hintergrund, (...) bloßer Machtstreit einer gänzlich leeren Rechthaberei ohne jeden (...) Interessengehalt.“ 798 799
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sitive Recht zur ethischen Maxime machen muß; d. h. die Durchsetzung des Anspruchs selbst muß der Einzelne sich nicht stets zur Maxime machen. Im positiven Recht ist die ethische Maxime in den Freiräumen also nicht auf die Verwirklichung des positiven Rechts, sondern auf das Recht der Menschheit gerichtet800 – in einem selbst und allen anderen Menschen. Im positiven Recht besteht eben kein Automatismus, daß Gesetze – und damit auch Rechte – materiell sittlich sind und mit dem Ergebnis des eigenen Universalisierungsverfahren zwingend übereinstimmen müssen. Deshalb besteht im positiven Recht kein notwendiger Zusammenhang zwischen einem Recht Haben und richtig Handeln. Dieses Ergebnis der Kantischen Rechtslehre kann mit den Worten Georg W. F. Hegels wiedergegeben werden, der als quasi vorweggenommene Antwort Kants an Ihering verstanden werden kann: „Hat jemand kein Interesse als sein formelles Recht, so kann dieses reiner Eigensinn sein, wie es in einem beschränkten Herzen und Gemüte oft zukommt; denn der rohe Mensch versteift sich am meisten auf sein Recht, indes der großartige Sinn darauf sieht, was die Sache sonst noch für Seiten hat. Das abstrakte Recht ist also nur erst bloße Möglichkeit und insofern gegen den ganzen Umfang des Verhältnisses etwas Formelles. Deshalb gibt die rechtliche Bestimmung eine Befugnis, aber es ist nicht absolut notwendig, daß ich mein Recht verfolge, weil es nur eine Seite des ganzen Verhältnisses ist. Möglichkeit ist nämlich Sein, das die Bedeutung hat, auch nicht zu sein.“801 Angewendet auf den vorliegenden Fall, ergibt sich damit die Folgerung, daß Shylock allen, die ihm etwa die Unsittlichkeit seines Rechtsersuchens vorwerfen, entgegnen kann, daß das Recht selbst ihm sein Vorgehen ermögliche. Gegenüber anderen ist dies eine sinnvolle Begründung. Diese Antwort legen schon die Worte Shakespeares nahe: „Ihr fragt, warum ich lieber ein Gewicht/Von schnödem Fleisch will haben, als dreitausend/Dukaten zu empfangen? Darauf will ich/Nicht Antwort geben; aber setzet nun,/Daß mir’s so ansteht: ist das Antwort g’nug?“ 802 Der positiv ausgewiesene Rechtsanspruch ist für Shylock eine ausreichende Antwort den ihn kritisierenden Personen gegenüber (soziale Dimension). Ihre Kritik kann ihm sein Recht nicht entziehen oder dessen Legitimität verbindlich zerstören. Aber das positive Recht gibt dem Rechtsinhaber gegenüber ihm selbst nur einen ungenügenden 800 Deshalb gilt im positiven (Kantischen) Recht auch nicht die Behauptung von Galston (1983: 323): „To take rights seriously is to take rightness less seriously“. Diese Problematik ergibt sich nur, wenn, wie im Naturrecht, die objektive Sittlichkeit feststeht; wie gezeigt gab es aber auch im Naturrecht Gründe für die Einräumung von subjektiven Rechten, obgleich die Sittlichkeit hier auf ihre notwendige Verwirklichung verzichtet. Wenn man das Konzept der relativen Richtigkeit beachtet, gibt es aber keinen Widerspruch zwischen der Wahlfreiheit der subjektiven Rechte und der Richtigkeit, denn Rechtsbegründung und Rechtsanwendung können in ihrem sittlichen Anspruch auseinanderfallen. Dies verkennt Galson in seiner Kritik an Waldron: „If we have at our disposal compelling accounts of virtue and right conduct, why should we not employ them as binding guides for individual development and action?“ (ebd., S. 323). Vgl. auch die Replik von Waldron (1983: 325 ff.). 801 Hegel, Rph, § 37 Zusatz, S.96, Herv. nicht im Original; vgl. auch, ebd., §38 Zusatz, S.97: Es soll im Rechtsverhältnis eine „Reflexion auf höhere Verhältnisse“ vorgenommen werden. 802 Shakespeare (1998: 64), Herv. nicht im Original, vgl. dazu auch Kohler (1919: 36).
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Grund für seine Rechtsdurchsetzung. Da er mit seinem Anspruch nicht für das Gemeinwesen Verantwortung trägt, muß er sich selbst gegenüber die Gültigkeit des geltenden Rechts rechtfertigen. Im positiven Recht stehen das subjektive Recht und das richtige Handeln auf zwei verschiedenen Begründungsebenen: Rechtsbegründung und Rechtsanwendung. Wenn Shylock sich also fragt: „Was soll ich tun?“, dann soll er nach Kant zunächst die Gültigkeit des durch die Rechtsregel ausgewiesenen Rechtsanspruchs an der Prinzipienebene messen und seine für ihn selbst gültige Konkretisierung finden. Die moralische Qualität (im weiteren Sinne), die in sozialer Dimension die Verbindlichkeit des Rechts gewährleistet, entlastet den Anspruchsinhaber in individueller Dimension nicht. Eine ähnliche Differenzierung nimmt Kohler in seiner Replik auf Ihering an: „Und wenn Shylock zusammensinkt, so tut er es nicht unter der Wucht des falschen Richterspruches, sondern er tut es, weil die Stimme des weisen Daniel im eigenen Herzen des Wucherers, der doch auch ein Mensch ist, den wunden Punkt getroffen hat, und damit seinen ganzen mühsamen logischen Aufbau über den Haufen wirft. Wenn er sich in seinem Rechte gekränkt fühlt, warum hat er nicht die Scheingründe des weisen und gerechten Daniel mit der Schärfe seines Verstandes in ihr nichts aufgelöst? (...) Er war sich eben von jeher in seinem Innern bewußt, daß sein Bestreben ein materiell ungerechtes war; er erachtete es aber durch die augenblickliche Gesetzgebung als gedeckt und gesichert (...).“ 803 Was Kohler hier als „Inneres“ bezeichnet, entspricht Kants innerem Rechtsverhältnis, welches für alle Menschen gleichermaßen gilt. Es ist nicht nur der äußere, sondern zugleich der innere Richterspruch, der ihn demütigt und die Mißachtung der anderen und vor sich selbst erfahren läßt. Die Verbindlichkeit des positiven Rechts trifft also zwei Aussagen: Erstens: Ein anderer kann den Rechtsträger nicht wirksam an der Durchsetzung hindern, ohne daß dieser einen Abwehranspruch zugesprochen bekommt; die Legitimität des Anspruchs ist also nicht konstitutiv zerstörbar, so daß nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte von der grundsätzlichen Legitimität des positiven Rechts profitieren. Der amerikanische Rechtsphilosoph Jeremy Waldron spricht hier von Rechtsfunktion als „function of protecting choices“804. Darin manifestiert sich nach Kant die rechtliche Freiheit als Ungezwungenheit im Sinne des „einzigen, ursprünglichen, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehenden Rechts“ als „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür“ 805. Das äußere Meine, daß ich „durch Erwerbung einer aktiven Obligation auf die Freiheit und das Vermögen des anderen“ erhalte, steht zu meiner Disposition: „Das äußere Meine ist dasjenige außer mir, an dessen beliebigen Gebrauch mich zu hindern Läsion (Unrecht) sein würde“. 806 Die subjektiven Gründe, die für den Rechtsinhaber ausschlaggebend sind, müssen die anderen nicht überzeugen. Das Recht stellt somit einen objektiven 803 804 805 806
Kohler (1919: 44 f.). Waldron (1993: 85). Kant, MS-RL, S. 345 (AB 45), vgl. auch Wildt (1997: 169 ff.). Kant, MS-RL, S. 357 (AB 61).
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Grund im Verhältnis zu anderen zur Verfügung. Daher reicht die private Autonomie so weit, wie das einzelne Rechtssubjekt nicht Rede und Antwort stehen, für seine Handlungspläne und Motive keine öffentliche Rechtfertigung betreiben muß. Hier offenbart sich das Recht als Bedingung von negativer Freiheit. Zweitens: Die Einräumung des Rechts, bekommt für den einzelnen die moralische Qualität, daß nur er selbst über die Durchsetzung entscheiden kann, weil nur er selbst hiervon betroffen ist. Aufgrund seiner moralischen Würde kann das Individuum Entscheidungen mit Konsequenzen für seine normativ-rechtliche Position treffen; 807 so können im Privatrecht Personen auf bestimmte Güter (Ansprüche) verzichten oder sie durchsetzen, um ihre Projekte (Lebenspläne) zu verfolgen. Das Recht auf etwas sichert hier also einen Handlungsspielraum, 808 wie er für das Recht auf Freiheit maßgeblich ist, wobei hier der Bezug zu einer anderen Person das entscheidende Merkmal ist. Das Recht auf etwas im zumeist zivilrechtlichen Bereich ist damit die gesetzlich anerkannte und geschützte Möglichkeit, über die korrelative Pflicht einer anderen Person frei zu entscheiden, insbesondere die andere Person von ihrer Pflicht zu entbinden. Die Erzwingbarkeit des positiven Rechtsanspruchs geht einher mit der möglichen Ablehnung dieses Anspruchs. Das moralisch eingeräumte Recht gewährleistet keine moralische Handlung, nicht einmal eine legale Handlung i. S. d. objektiven Rechtsgesetzes, sondern seine Inanspruchnahme muß gesondert gerechtfertigt werden. Es entlastet nicht von der moralischen Verantwortlichkeit vor dem eigenen Gewissen. 809 Im positiven Recht Diesen Ansatz verfolgt auch Nino (1991, Teil II). Vgl. Wildt (1997: 170 ff.), der aus dem Handlungsspielraum Leistungsansprüche gewinnen möchte, aber Probleme hat, diese in der Rechtstheorie zu verankern. 809 Vgl. Kersting (1993: 180): „Aber es ist ein Fehlschluß, aus der für die Rechtslehre charakteristischen Verknüpfung der mit der Triebfeder des Zwangs eine Verminderung des Anspruchs der reinen praktischen Vernunft an das verpflichtete Subjekt abzuleiten; nicht um eine ethische Entlastung des Verpflichteten geht es der praktischen Vernunft als einer rechtlichen, sondern darum, die Erzwingbarkeit von Schuldigkeitspflichten seitens des Berechtigten zu sichern.“ So auch Maus (1992: 188): „Hatte Kant systematische und normative Momente verbunden, um moralische Ergebnisse zu ermöglichen, so dient heute der Hinweis auf systematische Anschlußzwänge der Entlastung von moralischer Verantwortung.“ Anders aber Habermas (1993: 667), der auch eine Entlastung in individueller Dimension annimmt: Das Recht „entlastet die Urteilenden und Handelnden Personen von den erheblichen kognitiven, motivationalen und – wegen der für positive Pflichten oft erforderlichen moralischen Arbeitsteilung – organisatorischen Anforderungen einer auf das subjektive Gewissen umgestellten Moral. Das Recht kompensiert sozusagen die funktionalen Schwächen einer Moral, die, aus der Beobachterperspektive betrachtet, häufig kognitiv unbestimmte und motivational ungesicherte Ergebnisse liefert.“ Noch weitergehend spielt Habermas die subjektive Ausformulierung des Moralgesetzes gegen das Rechtsgesetz bei Kant so aus, als ob dies von moralischen Ansprüchen entlasten sollte. Hierbei liest er unberechtigterweise seine intersubjektive Diskursethik in die kantische Moralgesetzgebung hinein, als ob auch diese auf eine intersubjektive Kommunikation angewiesen sei, um moralische Ergebnisse zu verwirklichen: „Für einen Aktor, der seine Entscheidungen kraft subjektiver Freiheit faßt, spielt es (...) keine Rolle, ob die Gründe, die für ihn den Ausschlag geben, auch von anderen akzeptiert werden könnten. Deshalb läßt sich die private Autonomie eines Rechtssubjekts wesentlich als die negative Freiheit verstehen, sich aus 807 808
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kann die individuelle Rechtsdurchsetzung nicht generell als indirekt-ethische Pflicht gedeutet werden; die relative Richtigkeit des positiven Rechts besteht nicht vor dem Gewissen: Von der Handlung, „die ich unternehmen will, muß ich nicht allein urteilen, 810und meinen, sondern auch gewiß sein, daß sie nicht unrecht sei, und diese Forderung ist ein Postulat des Gewissens.“ Richtigkeit stellt sich hier nur her in dem, was Kant das „Selbst-Denken“ nennt. Durch das „Selbst-Denken“ erreicht man einen „Selbst-Stand“, eine Distanz zum kontingenten Kontext. Damit ist die Möglichkeit gegeben, die Zufälligkeiten der konkreten Situation und durch diese Abstraktion die eigene Identität situationsunabhängig zu erschließen. Deshalb ist die Freiheit der Anspruchsvoraussetzung als rechtliche eine Willkürfreiheit, über die von außen kein verbindliches rechtliches Urteil möglich ist, solange sie sich in den Grenzen der positiven Rechtsordnung hält. Dabei fordert das innere Rechtsverhältnis aus dem Recht der Menschheit von dem Berechtigten das „honeste vivere“, das heißt, er soll nicht aus Servilität auf seinen Anspruch verzichten 811, sondern „wirtschaftlich“ sein, 812 und nicht die Menschheit in seiner Person mißachten durch eine (falsche) Demutshaltung, die nicht dem Gesetz, sondern anderen Menschen gilt. 813 Er soll auch kein Maximum an Rechten durchsetzen, wenn damit eine Verletzung von Naturrechten eines anderen einhergeht, also insbesondere Freiheit und Gleichheit, das heißt, er muß den anderen achten. Die unreflektierte Rechtsdurchsetzung kann nämlich zur Entwürdigung des Adressaten der korrelierenden Rechtspflicht führen. 814 Nur wenn er den anderen in die Achtung mit einbezieht – die noumenale Person in einem selbst und in dem anderen –, kann er moralisch handeln, was dem Recht des „neminem laedere“ entspricht. Er muß sich also nicht das positive, sondern das Recht der Menschheit zur Maxime setzen. dem öffentlichen Raum gegenseitiger illokutionärer Verpflichtungen auf eine Position wechselseitiger Beobachtung und reziproker Einwirkung zurückzuziehen. Die private Autonomie reicht so weit, wie das Rechtssubjekt nicht Rede und Antwort stehen muß. (...) Das Kantische Rechtsprinzip, das ein Recht auf subjektive Handlungsfreiheiten statuiert, läßt sich dann so verstehen, daß ein Rechtskode in Gestalt subjektiver Rechte konstituiert werden soll, welche die Rechtssubjekte gegen die Zumutungen kommunikativer Freiheit immunisieren.“ Damit verkennt Habermas die positive Seite des Kantischen Rechtsmodells. Denn nicht vor dem moralischen Anspruch soll Recht schützen, sondern gerade erst diese ermöglichen, nämlich ein selbstbestimmtes Leben in Selbstachtung leben zu können. Habermas unterscheidet nicht zwischen der individuellen und der sozialen Dimension des Rechts. Der Abbruch der Kommunikation ist der entscheidende Punkt der sozialen Dimension, wie er oben auch schon von Shakespeare erfaßt wurde. Autonomie wird aber erst durch positives Recht möglich. Moralgesetz und positives Recht stehen in einem Wechselverhältnis. Deshalb wird auch der folgende Satz den Ausführungen Kants nicht gerecht: „Daraus ergibt sich bei Kant eine Unterordnung des Rechts unter die Moral, die mit der Vorstellung einer im Medium des Rechts selbst verwirklichten Autonomie unvereinbar ist“ (1993: 153). 810 Vgl. oben, S. 118 ff. 811 Zu der Zuordnung des „honeste vivere“ zu dem „Verbot der Kriecherei“ vgl. König (1996 b: 169); zur Rechtsbehauptung generell (1999: 146). 812 Vgl. Kant, MS-TL, S. 571 (A 96). 813 Vgl. Kant, MS-TL, S. 569 ff. (A 94 ff.). 814 Vgl. hierzu auch Ellscheid (1979: 50).
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Eine positive Rechtsordnung, die ihre Legitimität einem moralischen Begründungsverfahren verdankt, stellt nach Kant also nicht auch die Gründe für die Durchsetzung, der durch sie gewährten Ansprüche zur Verfügung. Bei Kant spitzt sich dieser „Argumentationsmangel“ noch durch den Regelcharakter der Normen zu, die keinen Zugriff auf die zugrunde liegenden Prinzipien erlauben. 815 Waldron nennt dies die „function of moral guidance“ 816, die das positive Recht nicht übernehmen könne. Die Legitimität des positiven Rechts hat nach Kant ihre Grenzen also da, wo die Normen der „relativen Richtigkeit“ an der „absoluten Richtigkeit“ des Verfahrens und der Zwecke zu überprüfen sind. Dies ist, nach den oben gefundenen Ergebnissen, dem Berechtigten stets möglich, ohne die Legitimität des Rechtssystems insgesamt und damit die Rechtssicherheit zu gefährden. Anders als im Naturrecht (und anders als bei Ihering) ist positives Recht also nicht immer durchzusetzen, obwohl dies doch zumindest legale Handlungen gewährleisten würde, die nach Kant zumindest die Moralität des Subjekts befördern könnten, indem es sich diese Verhaltensweise – wenn auch durch Zwang – aneignet. Shylock steht nach Kant also in zwei Rechtsordnungen: (1) einer regelgeformten positiven Rechtsordnung, aus der sich das äußere Rechtsverhältnis ergibt, und (2) einer naturrechtlichen, prinzipiengeformten Rechtsordnung, die ihm durch sein inneres Rechtsverhältnis vermittelt wird. 817 Selbstachtung verschafft ihm im Umgang mit subjektiven Rechten erst der Rückgriff auf die Prinzipienebene, wenn er sich das Recht der Menschheit zum Zweck macht und damit seine Würde in der Selbstgesetzgebung beweist. Hier besteht also der konstitutive Zusammenhang von Recht und Selbstachtung bei Kant; es ist das praktische Engagement für die eigenen Rechte und die Rechte anderer als notwendige Bedingung für Selbstachtung und Selbstbehauptung. 818 Das entscheidende Argument ist darin zu sehen, daß die Behauptung der eigenen Person – um die es auch Shylock geht – nur eine Behauptung als moralische Persönlichkeit sein kann. Dies impliziert neben der Achtung des eigenen Rechts auch die Achtung der Rechte von Antonio. Wie im einzelnen nun die Konkretisierung des subjektiven Rechts durchzuführen ist, soll hier nicht stellvertretend für Shylock durchgeführt werden, da, wie gezeigt, diese unvertretbare Konkretisierung auch nur mehr ein Vorschlag sein könnte, der aber keine Verbindlichkeit für eine andere Person hat: Erst die autonome Konkretisierung gewinnt nach Kant Verbindlichkeit. Natürlich ist meine moralische Intuition, in Shylocks Begehren einen krassen Verstoß gegen das Recht der Menschheit zu sehen. Eine Rechtsordnung, die überhaupt einen solchen Vertrag zuläßt, ist zu 815 Zu dem erweiterten Begründungsvorrat für Rechtsentscheidungen durch inhärente Prinzipien, vgl. Dreier (1986: 25 ff. und 29 ff.). 816 Waldron (1993: 85). 817 Kant, AA 19, R 7209, spricht von den „Prinzipien der Verbindlichkeit“. 818 Vgl. auch Kohler (1919: 45): gegen Ihering gewendet, formuliert er: „Shylock ist kein Kämpfer für das Recht.“ Vielmehr kommt sein Vorgehen in dem schon den Römern bekannten Satz zum Ausdruck: „summum ius summa inuiria“ (45 f.).
II. Recht und Selbstachtung
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kritisieren, aber darum geht es in der vorliegenden Arbeit nicht. An dem vorliegenden Beispiel soll nur aufgezeigt werden, was die Inanspruchnahme eines Rechts erfordert, um moralische Ergebnisse zu gewährleisten, und welche Bedeutung der Handelnde damit verbindet. Das Bewußtsein der eigenen Rechte, das ist das Recht der Menschheit in der eigenen Person, wird also nicht durch das positive Recht vermittelt. Dies wäre nach Kant gar nicht möglich, da die positiven Rechte lediglich „relative“ Richtigkeit für sich in Anspruch nehmen können, das Recht der Menschheit aber „absolute“ Richtigkeit hat. Nur so kann sich die Person nach Kant mittels eines objektiven Maßstabes ihrer Selbstachtung versichern, indem sie sich als autonomes Wesen erfährt. Die Respektierung der eigenen Rechte (und die der anderen) im Handeln ist also Voraussetzung dafür, daß sich das positive Gefühl der Reverenz einstellt. Im Achtungsbegriff konkretisiert sich die Bedeutung des Einsatz für Rechte.819 Das Gefühl der Achtung vermittelt dem Menschen die Gewißheit der Selbstbestimmung und damit die Möglichkeit, seiner Identität gewahr zu werden und treu zu bleiben. Durch das Gefühl der Selbstachtung bekommt er die Gewißheit, in seinem Handeln nicht durch sein pathologisches Ich – seine Neigungen – bestimmt zu werden. Selbstachtung ist damit also immer an einen objektiven Maßstab jenseits der kontingenten Handlungskontexte geknüpft. Für das durchzusetzende Recht bedeutet dies, daß es in seinem Entstehungs- und seinem Anwendungszeitpunkt den inneren Rechtspflichten genügen muß. Anders als bei Ihering ist für Kant nicht ausschlaggebend, was jemand subjektiv für seine Rechte hält, sondern durch die Zugehörigkeit zu zwei Rechtsordnungen unterliegt das positivgesetzliche Recht immer auch der subjektiven Konkretisierung der inneren Rechtspflichten. Indem das Subjekt ein Recht wahrnimmt, kann es sich auf sich selbst stellen, wenn es ein selbstbestimmtes Handeln und damit den Stand der „Selbständigkeit“ erreicht. Damit konkretisiert sich im Recht konkrete Freiheit. 820 Nur ein sich selbst achtender und behauptender Mensch kann ein Leben als Persönlichkeit führen und eine Identität ausbilden. Durch das sittliche Denken bildet das Subjekt sich nach Kant nicht nur ein Urteil, sondern auch sich selbst zu einer Persönlichkeit und Individuum mit einer (qualitativen) Identität. Und umgekehrt führt der Wunsch, eine Identität auszubilden, dazu, Rechte sittlich zu verwenden. Das eigene Urteil über die Verwendung des Rechts ist damit Bedingung der Möglichkeit sittlichen Handelns. Jeder Mensch ist nach Kant in seinem Gewissen der bestellte „Richter“ über seine Taten, also auch über die Taten, zu denen jeder auf unvollkommene Weise gegenüber anderen verpflichtet ist und zu deren Erfüllung er nur sich selbst zwingen kann. Die eigene Urteilskompetenz kann nicht aufgegeben 819 Damit ist bei Kant die Achtungslehre Hegels schon angelegt, der sie als Voraussetzung der Autonomie der Rechtsperson bestimmt (Rph, §36, S. 95): „Sei eine Person und respektiere die anderen als Personen.“ Das ist, positiv ausgedrückt, die Anerkennung der personalen Fähigkeit, Recht zu setzen, d. h. der Privatautonomie. 820 Anders Ellscheid (1979: 98).
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Kap. 2: Historische Vergegenwärtigung
werden. Sittlichkeit impliziert das Selbst-Denken in sittlichen Fragen. Wenn dieses Selbst-Denken an dem Ort des Gewissens ausgeführt wird, kann die Institution Recht diese Instanz nicht entlasten, aber helfen, diese vorzustrukturieren. Insofern sind Recht, Moral und Identität durch eine Auffassung übergreifender Sittlichkeit miteinander verbunden. Der Kreis schließt sich: An die Selbständigkeit knüpft der öffentliche Rechtsstatus nach Kant an. Indem man diesen moralisch ausfüllt, erhält der Bürger die Bedingungen des Staates: „Wer sich selbst erhalten will, muß Bürger werden und sichert, indem er dies wird, die Selbsterhaltung des Staates.“821 Der Staat erhält seinerseits das Korsett des positiven Rechts und damit die Bedingungen des bürgerlichen Rechtszustandes für jedes einzelne Subjekt. Schließlich ist noch auf ein Problem hinzuweisen, das sich aus dieser Konzeption des subjektiven Rechts ergibt. Wenn für Shylock in der Rechtsanwendung die prinzipienvermittelnden Rechte des anderen mitzureflektieren sind, um ihm die gebotene Achtung seiner Person entgegenzubringen, impliziert dies grundsätzlich, die Willensfreiheit und -entscheidung des Antonio, einen solchen Vertrag einzugehen, zu respektieren. Hier gelangt also ein fürsorglicher Aspekt in das Rechtsverhältnis, der darauf hinausläuft, die Würde des anderen derart zu achten, daß sich der andere seiner Würde nicht selbst begibt. Trotz der allgemein gewährten Vertragsfreiheit hätte Shylock mit Antonio einen solchen Vertrag gar nicht erst abschließen dürfen, ungeachtet dessen, daß Antonio sich „freiwillig“ seiner Rechte begibt. Die praktischen Schwierigkeiten, die sich aus der Vertragsfreiheit ergeben, diskutiert Kant zum Teil in §§ 24–27 der Rechtslehre 822 anhand des Ehevertrages. Kant greift für diese Fälle, in denen sich widerstreitende Zwecke gegenüberstehen, auf das „Erlaubnisgesetz“ zurück, das schon dafür herhalten sollte, materiell ungerechte Staatsverhältnisse zu legitimieren 823 Dies gilt nur für Fälle, in denen nicht gegen die elementarsten Pflichten gegen selbst verstoßen wird, wie Kant in der Tugendlehre ausführt: die „erste Pflicht des Menschen gegen sich selbst (...) ist die Selbsterhaltung in seiner animalischen Natur.“ 824 Da durch den Vertrag zwei Willen zu einem neuen Vertragswillen zusammengeschlossen werden, ist es ein Widerspruch in sich selbst, daß durch den Vertragsinhalt der vertragsschließende Wille selbst aufgehoben wird. Nichts anderes bedeutet es, wenn durch den Vertrag sich jemand zum Tode verpflichtet und damit seinen vertragsschließenden Willen vernichtet. Er würde sich durch den Vertrag seiner Persönlichkeit begeben: „Der Persönlichkeit kann der Mensch sich nicht entäußern, so lange von Pflichten die Rede ist, folglich so lange er lebt, und es ist ein Widerspruch, die Befugnis zu haben, sich aller Verbindlichkeit zu entziehen, d. i., frei so zu handeln, als ob es zu dieser Handlung gar keiner Befugnis bedürfte. Das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Person vernichten, Sommer (1988: 41). Kant, MS-RL, S. 389 ff (AB 106 ff.). 823 Vgl. König (1999: 142 m. w. N.); Kant, Naturrecht Feyerabend, AA 27, Bd. 2.2, S. 1517; vgl. zu dem Erlaubnisgesetz auch Bielefeldt (2001: 83 f.). 824 Kant, MS-TL, S. 553 (A 703). 821 822
II. Recht und Selbstachtung
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ist eben so viel, als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach, soviel an ihm ist, aus der Welt vertilgen, welche doch Zweck an sich selbst ist; mithin über sich als bloßes Mittel zu ihm beliebigen Zwecke zu disponieren, heißt die Menschheit in seiner Person (homo noumenon) abwürdigen, der doch der Mensch (homo phaenomenon) zur Erhaltung anvertraut war.“ 825 In dem Kapitel „Von der Selbstentleibung“ 826 spricht Kant sogar explizit aus, daß der Organverkauf“ ein krasser Sittenverstoß sei. Wenn man dann annimmt, daß nach damaligen venezianischem Recht der Vertrag wirksam wäre, dann dürfte er jedenfalls nicht durchgesetzt werden, auch unter Berücksichtigung des Gedankens der Vertragsfreiheit. Die Achtung der Vertragsfreiheit, und damit die Achtung des Willens einer anderen Person stößt nach Kant also an sittliche Grenzen. 827
b) Exkurs: Rechtsverzicht – Konstitutiv für die Willens- oder Interessentheorie? Die bisherige Definition des Rechts als verbindliche Bestimmungsmacht über die Rechtspflicht eines anderen gewinnt ihre Verbindlichkeit aus einem Konzept, zu dem gehört, daß das Subjekt auf sein Recht verzichten kann. Das Recht ist nicht auf eine übergeordnete Sittlichkeit, sondern auf die autonome Sittlichkeit der Individuen ausgerichtet, die sich durch den Einzelnen hindurch, d. h. transpersonal verwirklicht und dabei eine Verknüpfung der wechselseitigen Perspektiven durchführt. Der Staat und das Recht dürfen nicht den Anspruch erheben, Freiheit stellvertretend für die Person zu verwirklichen. Positives Recht muß etwas Äußeres bleiben, das Selbstbestimmung ermöglicht, indem es feste Freiheitsgrenzen errichtet, die Ausfüllung jedoch den Individuen überläßt: Freiheit verwirklicht sich nach Kant immer nur durch den Menschen, der seine Möglichkeiten und Fähigkeiten ausschöpft und dabei den Bezug auf den anderen immer im Auge behält. Für ein sinnvolles Leben ist moralisches und rechtliches Handeln nach Kant jedenfalls unabdingbare Voraussetzung. Dazu gehören ist die Achtung eigener Rechte und die der anderen Menschen. Nach der Gegenüberstellung von Ihering und Kant ist nun fraglich, ob sich hier eine generelle These ableiten läßt, daß für Willenstheorien konstitutiv sei, auf Rechtsansprüche verzichten zu können, für Interessentheorien jedoch nicht. 828 Dies müßte sich in der Definition des subjektiven Rechts wiederfinden. Ihering gilt als Begründer der sog. Interessenjurisprudenz. Das subjektive Recht ist danach ein rechtlich geschütztes Interesse. Kelsen hat schon früh diese Konzeption kritisiert: „Ob ein subjektives Recht besteht, ist (...) nur aus dem objektiven Recht zu beantworten. Und Kant, MS-TL, S. 555 (A 73). Kant, MS-TL, S. 554 ff. (A 72 ff.). 827 Diesen Grenzen in bezug auf Kant weiter nachzugehen, muß aber einer gesonderten Untersuchung vorbehalten bleiben. 828 Diesen Gegensatz behauptet Wildt (1992: 162). Dabei stellt er der Willenstheorie von Hart die Interessentheorien von R. B. Brandt, D. Lyons und J. Raz gegenüber. 825 826
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Kap. 2: Historische Vergegenwärtigung
daher ist es, im Grunde genommen, nur eine Reduktion des subjektiven auf das objektive Recht, die Ausschaltung des subjektiven auf die Einschaltung des objektiven Rechts, wenn die Interessentheorie mit Rücksicht auf die Belanglosigkeit des konkreten Individualinteresses gegenüber der objektiven Rechtsnorm das subjektive Recht nicht als das subjektiv geschützte konkrete Individualinteresse, sondern als das rechtlich geschützte Durchschnittsinteresse bezeichnet. (...) Das rechtlich geschützte Durchschnittsinteresse ist nur mehr der Ausdruck für die Tatsache, daß die Rechtsordnung den Zweck hat, gewisse Durchschnittsinteressen zu schützen.“ 829 Nach Kelsens Ansicht geht es dem Recht also nicht um die Durchsetzung konkreter Individualinteressen, sondern letztlich um die Durchsetzung des objektiven Rechts. Diese Kritik stimmt mit der oben vorgenommen Interpretation Iherings überein: Die Idee des Rechts fordert seine Durchsetzung, dem einzelnen verbleibt also anders als bei Willenstheorien keine Wahl. 830 Insofern wird nach der Interessentheorie der konkrete einzelne zur Funktion des Rechts. Zu beachten sind aber Ausformungen der Interessentheorie, die den Ausgangspunkt bei den konkreten einzelnen Interessen nehmen, die im Ergebnis dazu führen, daß man den Rechtsverzicht methodisch auch bei der Interessentheorie berücksichtigen könnte. Bspw. geht die im aktuellen deutschen Verwaltungsrecht herrschende „Schutznormtheorie“831 ganz im Sinne der Ausführungen Kelsens davon aus, dem einzelnen ein subjektives Recht einzuräumen, wenn und soweit die objektive Rechtsnorm auch den Interessen von einzelnen im Unterschied zur Gesamtheit zu dienen bestimmt ist. Dabei sind aber die Grundrechte etwa bei der Auslegung der Rechtsnorm heranzuziehen, so daß die Gewährung von subjektiven Rechten nicht willkürlich ist. Auch hieraus könnte sich eine funktionelle Deutung des einzelnen ergeben. Aber man muß die Frage für die Verwaltungslehre und die Rechtsphilosophie unterschiedlich beantworten, denn für die Verwaltungslehre sind zunächst die objektiven Rechtsnormen gegeben. Erst aus einer Zusammenschau lassen sich dann die subjektiven Rechte aus dem Gesetzestext erschließen. Hiermit ist aber nicht zwingend etwas über den Grund der Rechte ausgesagt. Dies zeigt sich besonders deutlich an der Ausformung des gerichtlichen Schutzes, den die subjektiven Rechte erfahren: Sowohl vor den Verwaltungsgerichten als auch dem Verfassungsgericht ist bei einer vom Verletzten angestrebten Klage lediglich eine beschränkte Überprüfung des Rechts vorzunehmen (§ 113 I 1 VwGO bzw. §§ 90, 92 BVerfGG). Die Klage und Überprüfung wird im Interesse des Klägers durchgeführt. Anders hingegen bei den Normenkontrollklagen auf der Verwaltungs- (etwa § 47 VwGO) oder der Verfassungsebene (Art. 93 I Nr. 2 GG iVm. §§ 13 Nr. 6, 76 ff BVerfGG) wird das gesamte Recht auf einen Rechtsverstoß hin untersucht. Zumindest auf der Verfassungsebene hat der einzelne hierfür gar keine KlaKelsen (1925: 55 f.). Vgl. Alexy (1986: 165): „Während für Jhering der Zweck im Mittelpunkt steht, sieht die Willenstheorie die u. a. in der Klagebefugnis zum Ausdruck kommende Kontrolle des Berechtigten über die ihm durch eine Norm eingeräumte Position als zentral an. Er kann, muß aber nicht klagen; was er tut, hängt von seiner freien Wahl, seinem Willen ab.“ 831 Vgl. Kopp/Schenke, zu § 42, Rdnr. 83 ff. 829 830
III. Zwischenbetrachtung: Die Einheit durch Prinzipien
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gebefugnis. 832 Demnach läßt sich auch eine Interessentheorie zur einen oder anderen Seite hin ausrichten. Dabei trifft das Recht immer wieder auf das Problem, daß die individuelle Subjektivität der Rechtsanwender und -adressaten einerseits und die Unverbrüchlichkeit und Gleichheit des Rechts andererseits zwei Pole eines Spannungsfeldes bilden. 833 Deshalb wird immer wieder versucht, die Nichtidentität der Perspektiven der sozialen Ordnung und des konkreten einzelnen, empirischen Menschens zugunsten einer abstrakten Rechtsperson aufzulösen.834 Dient das Recht aber nur mehr dieser, dann werden die subjektive und die objektive Dimension des Rechts identisch, und die Rechtsperson kann für das objektive Recht instrumentalisiert werden. Ebenso ließe sich eine Willenstheorie auf einen abstrakten (überindividuellen) Willen oder auf einen konkreten Willen ausrichten. Je nachdem geht es bei der Rechtsverwirklichung mehr um das Gemeinwesen oder aber die individuelle Person. Da beide Theorieansätze demnach in der einen oder anderen Richtung auflösbar sind, läßt sich kein abstraktes Urteil über die Möglichkeit und Bewertung eines Rechtsverzichtes in der Interessen- oder Willenstheorie gewinnen, sondern hängt von dem konkreten Ansatz ab.
III. Zwischenbetrachtung: Die Einheit durch Prinzipien, oder: Achtung als Gefühl der Vergewisserung der eigenen Identität vor einem moralischen und rechtlichen Horizont Nach Kant ist Identität nur mittels des Bezuges zu Prinzipien denkbar: „Ich kan nur, wenn ich nach principien a priori handle, immer eben derselbe in der Art meiner Zweke seyn, innerlich und äußerlich.“ 835 Der einzelne findet hier einen Grund, über den er sich bei aller Kontingenz nicht täuschen kann. 836 Dadurch ist es ihm 832 Zu der mehr subjektiven oder objektiven Ausrichtung der einzelnen Verfahren vor dem Verfassungsgericht, vgl. Benda/Klein (1991: 127 f.); interessant wäre hier auch ein Bild der subjektiven Rechte auf der Ebene des EU-Rechts durchzuführen, da es Anzeichen gibt, daß hier eine mehr funktionale Sicht auf das einzelne Individuum geworfen wird, da der europäische Rechtsschutz eine objektive Rechtskontrolle praktiziert; vgl. hierzu etwa Classen (1995: 2461). 833 Vgl. auch Morlok (1993: 10). 834 Vgl. nur die Äußerung von Radbruch (1927: 5): „Nicht auf die wirklichen einzelnen Menschen, die über diese Erde wandeln, auf jede ihrer Grillen, Launen, Spleens, auf das ganze Herbarium wunderlicher Pflanzen, das wir Menschheit nennen, können Rechtsordnungen zugeschnitten werden. Vom empirisch-konkreten Menschen führt der Weg nicht zur Rechtsordnung, sondern zur Verneinung jeglicher Rechtsordnung.“ 835 Kant, AA 19, R 7204. 836 Vgl. auch Sturma (1997: 346): „In folgenreichen Entscheidungssituationen ist die Selbstachtung der tiefere moralische und existentielle Grund für die Einsicht, die Grenze der Zumutungen sich selbst gegenüber erreicht zu haben. Personen sind imstande, in der Alltagserfahrung Klarheit darüber zu gewinnen – oftmals ohne die Gründe dafür im einzelnen benennen zu können –, daß bestimmte Handlungen nur unter Verlust des Selbstwertgefühls begangen oder
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Kap. 2: Historische Vergegenwärtigung
möglich, zu einer Einheit – einer Identität – auch im praktischen Gebrauch zu kommen: Die „Idee der Einheit (...) im Gebrauch der Freiheit. Dieser letzte Grund ist nicht gering zu schätzen. Denn die Selbstbestimmung aus principien giebt allein einen Grund der Einheit der praecognition aller Handlungen her.“ 837 Kant ist bei der Selbstbestimmung über die gängige Interpretation der Aufschrift des delphischen Orakels: „Erkenne Dich selbst“ hinausgegangen. In der Selbsterkenntnis kann der Mensch sich als des Sittengesetzes fähige Person wahrnehmen, verbunden mit der Aufforderung, sich als „Persönlichkeit“ zu präsentieren. In der Untersuchung der Kantischen Theorie konnte gezeigt werden, daß Kant als notwendige Voraussetzung für Selbstbestimmung, immer wieder die Wichtigkeit der inneren Rechtspflicht des „honeste vivere“ betont. Mit dem „honeste vivere“ bezeichnet er eine Lebenspraxis, die zur physischen und psychischen Selbsterhaltung beitragen soll und damit durch eine Sorge für sich selbst ausgezeichnet ist. Dies bedeutet, auf sich selbst zu achten, sich nicht unter Wert zu verkaufen, sich nicht kriecherisch zu verhalten, zusammenfassend: sich als moralische Persönlichkeit zu behaupten. Kant knüpft hiermit an die alte griechische Praxis des epimelesthai sautou an, was soviel heißt wie „auf sich selbst achten“, „Sorge um sich selbst“, „sich um sich selbst kümmern“. In alten griechischen Texten war das Gebot, sich selbst zu erkennen, stets mit der Maxime der Sorge um sich selbst verknüpft, und erst dieses Erfordernis, auf sich selbst zu achten, brachte die Delphische Maxime ins Spiel. Sie ist der gesamten griechischen und römischen Kultur inhärent, implizit seit jeher und explizit seit Platons Alkibiades I 838. Die Sorge für sich selbst hat im weiteren geschichtlichen Verlauf und insbesondere unter Einfluß der frühen und mittelalterlichen christlichen Theologie eine andere Wendung genommen. Sie scheint zunächst nur schwer mit der christlichen Ethik in Einklang zu bringen zu sein, die den Schwerpunkt auf die Askese und Nächstenliebe setzt: Sich selbst zu erkennen erschien paradoxerweise als der Weg, auf dem man zur Selbstlosigkeit gelangte. 839 Das „Erkenne dich selbst“ hat das „Achte auf dich selbst“ in den Schatten geunterlassen werden können. Dieser Bewußtseinszustand, der sowohl von sich selbst als auch von anderen ausgesagt werden kann, wird von Kant auf die Grundlagen menschlicher Existenz zurückgeführt.“ 837 Kant, AA 19, R 7204. 838 Platon, Alkibiades I. (1993: insbes. 182 ff.): Sokrates belehrt den heranwachsenden Alkibiades, daß er, um der persischen Staatskunst etwas entgegensetzen zu können, sich zunächst an deren sittlicher Bildung ein Beispiel nehmen solle: Die einzige Gegenwehr besteht, wie er dartut, in der wahren Sorge für sich selbst, nämlich in dem eifrigen Streben nach Einsicht und Tüchtigkeit auf dem Grunde der empfohlenen Selbsterkenntnis: „Nun meinst Du doch nicht etwa, es würde dir schaden, wenn du für dich Sorge trügest?“ (182). Die Selbsterkenntnis und die darauf gründende Sorge für sich selbst besteht in dem Streben, ein tüchtiger, guter Mann zu werden. Sokrates betont immer wieder die Sorge für sich selbst, gibt ihr einen moralische Wendung: Diese Sorge ist aber immer verbunden mit der Selbsterkenntnis: „Darum, mein Teuerster, folge mir und dem delphischen Spruche: ‚Erkenne dich selbst‘“ (188) (Herv. nicht im Original). Indem Platon die Menschen lehrt, auf sich selbst acht zu geben, lehrt er sie, auf die Stadt bzw. den Staat acht zu geben. Diese Verbindung entspricht der oben gezeigten Darstellung von Kant. 839 Vgl. Foucault (1993: 31).
III. Zwischenbetrachtung: Die Einheit durch Prinzipien
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drückt. 840 Der französische Sozialphilosoph Michel Foucault gelangt in seiner Analyse der „Technologien des Selbst“ zu dem Fazit, daß das „Christentum“ gekennzeichnet ist durch eine „Gehorsamsbeziehung“, die „bestimmt (ist) durch den Verzicht auf eigenen Willen und das eigene Selbst,“ d. h., die Selbstachtung zu vernachlässigen. Bei Kant hingegen beschränkt sich der Wille nicht auf die Implementierung vorgegebener materialer Normen, sondern fungiert als Organ innerer Gesetzgebung, die gleichwohl unter dem nötigenden Anspruch einer theoretisch unbegreiflichen Verbindlichkeit steht und sich so als das strikte Gegenteil eines selbstgenügsamen subjektiven Beliebigkeit in normativen Fragen erweist: 841 „Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, daß er auch als selbstgesetzgebend und eben um dessenwillen allererst dem Gesetze (davon er sich selbst als Urheber betrachten kann) unterworfen angesehen werden muß.“ 842 Nun zu behaupten, Kant knüpfe genau an diese alte griechische Tradition an, bedürfte noch genauerer Untersuchungen, die den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würden. Jedoch konnte am Begriff der Achtung aufgezeigt werden, daß bei Kant die Achtung anderer immer mit der Selbstachtung, und damit der Sorge um sich selbst, analytisch verbunden ist, und umgekehrt. Für die Rechtstheorie, spezieller für den Umgang mit subjektiven Rechten, ist daran besonders bedeutsam, daß dieselben Prinzipien, die der rechtlichen Anwendung von subjektiven Rechten zugrunde liegen, über diese Konzeption auch mit der Selbstbestimmung verbunden sind. 843 Umgang mit Recht setzt gegenseitigen Respekt voraus, und die Persönlichkeitsgestaltung verlangt einen „moralischen“, selbstbestimmten Umgang mit Recht: „Die Idee des moralischen Gesetzes allein (...) ist die Persönlichkeit selbst.“ 844 Hier greift Kants zweiter Begriff von Achtung: die Reverenz als auf Handlungen bezogene Achtungsform. Als steigerungsfähiger Begriff eröffnet er die Möglichkeit, sich als Individuum im Handlungsvollzug zu einem selbstachtenden Menschen und damit zu einer moralischen Persönlichkeit zu konstituieren. Kant gewinnt damit ein Modell, das der Autonomie des Individuums einen großen Rahmen einräumt, da die Selbstkonstituierung nur durch selbstbestimmtes Handeln möglich ist. Kant gelingt es, die Einheit der Person in der Aufteilung ihrer praktischen und theoretischen Vernunft herzustellen, obwohl er die Person zuvor in einen phaenomenalen und einen noumenalen Teil aufgespalten hat. Die Person ist eine Einheit in allen Handlungsbereichen, soweit sie gemäß den praktischen Vernunftprinzipien handelt. 840 Sehr instruktiv ist der geschichtliche Bedeutungswandel der „Sorge für sich selbst“ und des „Erkenne dich selbst“ bei Foucault (1993: 24 ff.) nachgezeichnet. 841 Vgl. Bielefeldt (2001: 71). 842 Kant, GMS, AA 4, S. 431. 843 Eine ähnliche Aktualisierung der alten platonischen Selbstsorge nimmt Gerhardt (1999: bes. 35 ff. und 110 ff.) vor. Die Selbstsorge führt nach Gerhardt nahtlos über in die Selbsterkenntnis. Der daran angeknüpfte Selbstbegriff leite danach über die Selbstorganisation zum Selbstbewußtsein und zur Selbststeigerung, die, ethisch gesehen, in der Selbstverantwortung und der Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung wie Selbstverwirklichung ihre Befriedigung findet. 844 Kant, Religion, S. 674 (A 17; B 18, 19).
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Kap. 2: Historische Vergegenwärtigung
Dabei ist zu betonen, daß die Sittlichkeit nach Kant erst durch selbstbestimmte Handlungen des Menschen, durch die Verwirklichung der noumenalen Welt in und durch einen jeden einzelnen Menschen hindurch, – transpersonal –, Realität gewinnt. Sittlichkeit in jeglicher Hinsicht ist stets an autonome Reflexionen des Individuums rückgebunden. Zwar finden sich auch bei Kant Stellen, die auf eine Funktionalisierung der Person für das Recht oder den Staat hindeuten. Hier zeigt sich jedoch bei genauerer Betrachtung, daß das Recht immer eine dienende Funktion für den Menschen behält. Sogar eine sehr wichtige, denn ohne Recht könnte der Mensch letztlich keine (qualitative) Identität erlangen, weil sich jegliches Handeln nach Kant nicht isoliert abspielt, sondern immer zugleich die Freiheitsräume anderer betrifft und so stets auf den anderen Menschen ausgerichtet ist. Sittliches Handeln bekommt damit nach Kant eine existentielle Dimension. Freiheit im Zustand unter anderen Menschen ist erst mittels des Rechts möglich. Unrechtliches und damit unsittliches Handeln würde immer die Mißachtung einer anderen Person zur Folge haben und damit schließlich durch Kants interpersonelles Achtungskonzept auch zur eigenen Mißachtung führen. Selbstachtung erfordert deshalb nicht nur die Erkenntnis der moralischen Fähigkeit (Respekt) einer jeden Person, sondern daneben auch das moralische Handeln (Reverenz). 845 Hierin findet Kant eine erste Annäherung an eine intersubjektive Theorie. Die gewonnenen Analysen von Recht, Moral und Identität geben nunmehr die begrifflichen Mittel an die Hand, die die eigentliche Herausforderung der Kantischen Analyse ausmachen: daß bei der Herausbildung der eigenen Identität der andere mit zu berücksichtigen und daß dieser Zusammenhang auch bei der Verwendung von Rechten zu reflektieren ist; daß ein subjektives Recht bei Kant nur deshalb vom Recht her der Willkür anheimgegeben wird, weil es einen Bereich ausmacht, über den kein anderer entscheiden kann. Die Untersuchung der vernunftrechtlichen Rechtsposition hat das unerwartete Ergebnis hervorgebracht, daß nach Kant für das Vernunftrecht nicht die Rechtsdurchsetzung, sondern vielmehr der Rechtsverzicht problematisch ist. Auf den ersten Blick ist bedenklich, daß eine notwendige Handlung, die als Rechtspflicht des Rechtsadressaten ausgewiesen ist, zur willkürlichen Disposition des Rechtsträgers gestellt werden kann. Damit wird nach Kant aber nicht jeder verpflichtet, in „Kohlhaasscher“ Manier um seine Rechte zu kämpfen. Der Rechtsverzicht ist wegen der auf der Selbstbestimmung des Subjekts aufbauenden Rechtskonstruktion nach Kant unabdingbarer Bestandteil einer jeden auf Autonomie gegründeten Rechtsordnung. Recht ist eben mehr als nur die Abwendung fremden, rechtswidrigen Zwanges. Dies gilt schon für die Naturrechtsordnung. Erst recht gilt dies für die positive Rechtsordnung, da die prozedurale Begründung des Rechts nicht im Sinne einer Legeshierarchie dem Vernunftrecht unterworfen und damit allgemein bewertbar ist. Eine allgemein verbindliche Bewertung der Rechtspositionen ist aber nicht legitimitätserzeugend oder -vernichtend möglich, weil – entgegen Kant – sonst der regulative Gehalt der Rechtsprinzipien zugunsten 845
Vgl. auch Massey (1983 b: 67).
III. Zwischenbetrachtung: Die Einheit durch Prinzipien
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eines konstitutiven Gebrauchs eingetauscht würde. Deshalb kann die positive Rechtsordnung auch keine Gründe für die Rechtsdurchsetzung selbst bereithalten („function of moral guidance“), sie kann nur in der sozialen Dimension von fremden Zwang und Rechtfertigungsdruck entlasten („function of protecting choices“). Bezogen auf die Identität des Subjekts handelt, es sich dabei aber mehr um ein entlastendes Provisorium. Vor sich selbst bleibt der Einzelne stets aufgerufen, das ausgewiesene Recht kritisch anhand der naturrechtlichen Prinzipienebene zu überprüfen, wobei er sich dadurch als Gesetzgeber bewähren muß, um die Reverenz, und damit die Achtung der anderen, aber auch seiner selbst zu erlangen. Das überraschende Ergebnis der Untersuchung ist, daß die rechtsmethodische Auseinandersetzung über die Anwendung der Prinzipien- bzw. Regelordnung des Rechts in die Gestaltung der Identität des Subjekts hineinreicht. Von daher konnte gezeigt werden, daß die transzendentale Einheit des Subjekts im Bereich des Praktischen nach Kant auf das Recht in seiner Aufgliederung als inneres und äußeres Rechtsverhältnis angewiesen ist. Das äußere regelgeprägte Rechtsverhältnis stellt den Rahmen für die Selbsterhaltung des Subjektes bereit. Es garantiert vor allem die Selbsterhaltung als physisches Wesen, indem es Freiräume und Abwehrrechte für die Handlungen des Subjektes durch Regeln bestimmt. Damit ist aber noch nicht die psychische Selbsterhaltung gewährleistet. Die Identität im praktischen Bereich ist nach Kant erst noch im Handlungsvollzug herzustellen. Indem die Person sich durch das innere Rechtsverhältnis auf die Prinzipien bezieht, die sie als moralische Person ausmachen, hat sie die Chance – zusammen mit dem kategorischen Imperativ – sich über die verschiedenen Zeitzustände hinweg als eine Person zu konstituieren. Die Kontingenz des Lebens verlangt nach Kant ein Leben aus einem Prinzip heraus.846 Die inneren Prinzipien sind demnach eine Möglichkeit, die dem Menschen verraten, was er tun muß, wenn er will, daß das, was er jetzt will, sich mit dem, was er vorher wollte, und dem, was er sogleich wollen wird will, zu einer einheitlichen Identität zusammenfügt („Identität des Wollens“). Damit erweisen sich das äußere und das innere Rechtsverhältnis neben dem Zusammenspiel von Regeln und Prinzipien als die Schlüsselbegriffe für die Zuordnung von Recht, Moral und Identität. Die Rekonstruktion von Kants transzendentaler Rechtstheorie erhält durch diese Begriff einen „appeal“: Rechte, begründet durch Regeln und Prinzipien, sind Möglichkeiten für Autonomie, nicht Autonomie selbst. Sie sind die transzendentalen Konstitutionsbedingungen eines „Ich-handle“. Die Endlichkeit des Geistes ist damit kein Moloch, sondern wird zur Auszeichnung: Das Leben wird zur Aufgabe, in reflektierter Lebensführung praktische Einheit der Person herzustellen. Nach Kant schuldet sich das der Mensch selbst. Um dieser Idee eine theoretisch vertretbare Gestalt zu geben, soll auf indirektem Wege ihre Plausibilität geprüft werden: anhand einer theoriegeschichtlichen und illustrativen Auseinandersetzung mit dem Werk der drei Staatstheoretiker Schmitt, 846 Zu diesem Gedanken vgl. auch Sommer (1988: 75, 175), der allerdings das Rechtsprinzip aus seiner Betrachtung außen vor läßt.
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Kap. 2: Historische Vergegenwärtigung
Kelsen und Heller. Die gewonnenen Begriffe sollen helfen, deren verschiedene rechtliche Theorieansätze zu dekonstruieren. Die Idee dahinter ist, daß man mit Hilfe von Kants System aufzeigen kann, wo andere Theorien die Weichen stellen.
Kapitel 3
Systematische Aktualisierung: Kant individualistisch, überindividualistisch und transpersonalistisch interpretiert I. Begriffliche Einführung: Die antinomische Trias von Radbruch Die bisher an verschiedenen Stellen benutzten Begriffe der individualistischen, überindividualistischen und transpersonalistischen Rechtsanschauung sollen nun für das dritte Kapitel stärker fruchtbar gemacht werden. Unter Bezugnahme auf Kant sollen sie dazu dienen, die verschiedenen Weichenstellungen bei den drei Staatstheoretikern der Weimarer Republik zu symbolisieren:
1. Gustav Radbruch Gustav Radbruch führt in seiner „Rechtsphilosophie“ eine begriffliche Trias ein, mittels derer er analytisch drei verschiedene Weltanschauungen und Sozialmodelle voneinander unterscheidet, die jeweils dem Individuum im Recht eine verschiedene Bedeutung einräumen. Mit ihrer Hilfe typisiert er den Inhalt des Rechts, der aus einer Antinomie der „Gerechtigkeitsidee“ und der „Rechtssicherheit“ bestehe. 1 Ihr Spannungsverhältnis wird mittels des dritten materialen Rechtsprinzips, der Zwekkidee, in der einen oder anderen Richtung hin stärker gewichtet. Als Zwecke nennt er „drei Arten von Gegenständen, die absoluter Werthaftigkeit fähig sind: menschliche Einzelpersönlichkeiten, menschliche Gesamtpersönlichkeiten, menschliche Werke.“ Daraus ergeben sich „Individualwerte, Kollektivwerte und Werkwerte.“ Gemäß diesen Zwecken könne das Recht „individualistisch“, auf den Einzelnen und seine „Freiheit“ als obersten Wert bezogen sein, „überindividualistisch“ oder kollektivistisch und damit auf die Gemeinschaft ausgerichtet sein, deren Glied er ist und die dem einzelnen erst seinen sozialen Sinn gebe. Schließlich kann das Recht „transpersonalistisch“ verstanden werden und damit seinen Wert nach der Eignung für den Schutz eines gewissen objektiven, obersten „Gutes“ oder eines Kreises von Kulturgütern bestimmen, in deren Verwirklichung sowohl der Sinn des menschlichen Einzeldaseins als auch seines Gemeinschaftslebens erblickt wird. Radbruch 1
Radbruch (1956: 146 ff.).
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Kap. 3: Systematische Aktualisierung
selbst faßt die drei Auffassungen wie folgt zusammen: „Die Ideale dieser drei sozialen Formen des menschlichen Zusammenlebens sind: Freiheit, Macht, Kultur.“ 2 Die transpersonale Auffassung unterscheidet von den beiden anderen Ansichten ihre Ausrichtung auf einen Wert außerhalb des Menschen bzw. der Gemeinschaft, wodurch sie aber gerade auch den beiden anderen Werten diene. Es bestehe eine Wechselwirkung: Persönlichkeit entstehe und entwickle sich nicht durch Egoismus, sondern „durch die sachliche Hingabe an das Werk“. 3 Das Werk verweist darüber hinaus auf die Gesamtheit, „in einer Wechselwirkung, deren Ring nirgends durchbrochen werden kann.“ 4 So gehören diese drei Kategorien immer zusammen, erfahren nur eine unterschiedliche Gewichtung: „Es ist also nur die Betonung eines Gliedes in einem geschlossenen Ring, nicht die Durchbrechung dieses Ringes, wenn bald die Einzelpersönlichkeit, bald die Gesamtpersönlichkeit, bald die Werkkultur als der Endzweck des individuellen und kollektiven Lebens angesprochen wird. Die drei möglichen Rechts- und Staatsauffassungen ergeben sich aus der Betonung verschiedener Elemente eines unteilbaren Ganzen.“ 5 2. Begriffliche Neuausrichtung Die Einteilung von Radbruch soll für die vorliegende Arbeit leicht uminterpretiert werden, um so eine Einteilung zu finden, mit deren Hilfe man die Weichenstellung bei Theorien in der Nachfolge Kants hinsichtlich der Bedeutung des Rechts für den Einzelnen und die Bedeutung des Einzelnen für das Recht erkennen kann. Diese Bedeutungsverschiebung ist notwendig, weil in der Arbeit gezeigt wurde, daß für die genannten Schlüsselbegriffe nach Kant ausschlaggebend ist, wer wie welche Prinzipien zu welchen verbindlichen Regeln transformiert. Die Einteilung bezeichnet weniger den Zweck einer bestimmten Rechtstheorie als vielmehr eine Erkenntnismethode. Die Neuausrichtung wird im folgenden kurz erläutert: a) „Individualistisch“ Vor diesem Hintergrund ist unter einer „individualistischen“ Auffassung eine Theorie zu verstehen, die zu einem sittlichen Relativismus führt. Ihre Ausrichtung auf den einzelnen als höchsten Wert führt aber nicht zu einem absoluten Subjektivismus, solange die zugrunde liegenden Prinzipien von Kants praktischer Philosophie anerkannt werden. Die Prinzipien gewinnen ihre Verbindlichkeit nur in der Anwendung durch das jeweilige konkrete Individuum. Positives Recht als soziale Ordnung erfährt keine Auszeichnung durch die zugrundeliegenden praktischen Prinzi2 3 4 5
Radbruch (1965: 27 ff.). Radbruch (1956: 154). Radbruch (1956: 154). Radbruch (1956: 154); vgl. dazu auch König (1999 b).
I. Begriffliche Einführung: Die antinomische Trias von Radbruch
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pien. Es besteht damit kein Begründungszusammenhang zwischen Recht und Moral. Damit ist zugleich der Verwendungszusammenhang abgeschnitten. Recht ist für diese Theorie nur eine der Willkür geöffnete Sphäre. Die (private) Moral und das (öffentliche) Recht sind vollkommen voneinander unabhängig. Der Einzelne kann deshalb beliebige Gründe gegen das positive Recht bestimmen, ja sogar dem positiven Recht die Geltung für sich persönlich ganz aberkennen. Schon Radbruch hat die individualistische Methode an einem bestimmten Identitätsmodell ausgerichtet: Für diesen Standpunkt sei die Konzeption eines „isolierten Individuums“ charakteristisch, „das durch kein Band mehr mit anderen Individuen verbunden ist als durch die Bänder, die das Recht selbst knüpft“ 6, als „individualitätsloses Individuum, dem naturwissenschaftlichen Atom vergleichbar und oft verglichen, in tausendfacher Vervielfältigung, in unendlicher Spiegelung doch stets sich selber gleich,“ 7 als abstrakten wurzellosen Menschen. Dies soll im folgenden an der Theorie des Rechtstheoretikers Hans Kelsen dargestellt werden. b) „Überindividualistisch“ Eine „überindividualistische“ Theorie gleicht dem moralischen Konstitutionalismus: Das Recht wird unabhängig von den einzelnen empirischen Menschen auf den homo noumenon Kants bezogen, bzw. auf die Gesellschaft der homines noumenes. Recht wird damit auf die absolute Sittlichkeit ausgerichtet: Das Recht der Menschheit wird zum Inhalt des positiven Rechts. Grundsätzlich müßte dies zu einer Identität von Recht und Moral führen. Der einzelne empirische Mensch wird damit allein in den Dienst der Rechtsidee gestellt. Dies soll an der Rechtstheorie des frühen Carl Schmitt gezeigt werden. c) „Transpersonalistisch“ Die regulativen Ideen der Kantischen praktischen Philosophie liegen sowohl der Moral als auch dem Recht zugrunde. Auch hier können sie wie bei der individualistischen Theorie nur durch die einzelnen Personen hindurch verwirklicht werden, aber für das Recht besteht ein spezielles Verfahren, das mit Verbindlichkeit ausgezeichnet ist. Es besteht zwar ein Erkenntnisproblem des gerechten, angemessenen Rechts. Dies steht aber im Spannungszusammenhang mit der Einsicht, daß Recht für menschliches Zusammenleben absolut notwendig ist. Hieraus leitet sich einerseits eine der überindividualistischen Theorie vergleichbare Wertschätzung des Staates als Zweck an sich selbst ab, der über eigene Autonomie verfügt. Andererseits ist das Individuum sowohl Fernzweck für den Staat als auch Zweck an sich selbst. Bei der transpersonalen Ausrichtung ist zu beachten, daß nicht der eine 6 7
Radbruch (1956: 159). Radbruch (1956: 159).
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Kap. 3: Systematische Aktualisierung
Zweck dem anderen Zweck aufgeopfert werden darf, sondern beide in ihrer wechselseitigen Verschränkung sich einander ergänzen. In der transpersonalen Theorie darf nicht der einen Perspektive Priorität vor der anderen Perspektive eingeräumt werden. Die wechselseitige Verschränkung, wie sie vor allem in Kants Geschichtsteleologie offenbar wird – da die Institutionen nur durch die Individuen, die Individuen aber nur durch die Institutionen eine vollkommene Entfaltung ihrer sittlichen Anlagen leben können – bedeutet, daß bei der Verwirklichung der allgemeinen Rechtsprinzipien durch die Individuen immer auch der Andere und der Staat, bzw. bei der Verwirklichung durch den Staat stets die Individuen, mitreflektiert werden. Der Transpersonalismus handelt also nicht von dem Staat oder den Individuen schlechthin, sondern vom Staat und den Individuen, die die Zwecke ihrer Widerparte zugleich mitdenken. Von daher kann man sagen, daß die Rechtsverwirklichung sich jenseits („trans“) der juristischen Person Staat bzw. jenseits der individuellen natürlichen Person abspielt. Transpersonal aber immer auch in dem Sinn, daß die Verwirklichung nicht durch einen moralischen Konstitutionalismus, sondern durch die Personen hindurch geschieht. Beiden dient die Ausrichtung auf die zugrundeliegenden Rechtsprinzipien zur Erlangung ihrer Autonomie. Die Prinzipien verwirklichen sich in dieserer demokratischen Idee durch die einzelnen hindurch. Das heißt, durch die Anbindung an Prinzipien, die regulativen Ideen, gewinnt das Recht seine Dynamik, die sich nur entfalten kann, wenn dem Einzelnen subjektive Rechte eingeräumt werden. Innerhalb des eingeräumten Rechtsraums ist die Person aufgerufen, einen verantwortenden Gebrauch von ihren Rechtsmöglichkeiten zu machen. Hierbei übernimmt das Rechtsgewissen eine konstitutive Rolle, weil es an die Prinzipienebene gebunden ist und damit im Menschen Moral und Recht verbindet. Diese Idee soll weiter unten an Hermann Heller aufgezeigt werden.
II. Carl Schmitt: Der Mensch als Funktion „homo iuridicus“ Carl Schmitt ist nicht gerade als Theoretiker bekannt, der sich mit dem einzelnen Individuum unter soziologischen und psychologischen Aspekten auseinandersetzt. Das Individuum verschwindet zumeist, auch in der Sekundärliteratur, aus dem Focus des Schmittschen Arbeitsfeldes; die Bedeutung des Individuums wird nur am Rande gestreift. 8 Und doch ist sein Werk in diesem Punkt recht fruchtbar: Schmitt unternimmt in seiner – von der Rezeption zumeist vernachlässigten – Habilitationsschrift „Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen“ von 1914 eine Verhältnisbestimmung rechtlicher Begriffe, die seiner Ansicht nach Vor8 Vgl. etwa die kurzen Ausführungen des ansonsten vorzüglichen Buches über Schmitt bei Hofmann (1992: 45).
II. Carl Schmitt: Der Mensch als Funktion „homo iuridicus“
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aussetzung für die „Möglichkeit der Rechtswissenschaft als Wissenschaft“ ist. 9 Erst nach dieser begrifflichen Klärung könne sich die Rechtswissenschaft an die Bearbeitung des Rechts machen, wie er in ablehnender Auseinandersetzung mit dem neukantianischen Normativismus seiner Zeit behauptet. 10 Letzter begreift das Recht als ein Faktum, um es einer transzendentalen Analyse zu unterziehen. Nach Schmitt kann jedoch kein Rechtspositivismus betrieben werden, bevor nicht die Frage der Legitimität des Staates geklärt sei. 11 So geht es Schmitt in dieser Arbeit um die engere Fragestellung „nach dem Verhältnis von Recht und Staat, nach der Definition des Staates und den Konsequenzen, die sich für das Individuum im Staate ergeben“. 12 Das Grundproblem, zu dessen Lösung er damit beitragen möchte, ist die Rechtsverwirklichung. 13 Dabei kommt Schmitt zu dem Ergebnis – dies sei hier vorweggenommen –, daß der Staat seine Aufgabe als Mittler zwischen dem Recht als „reinem Sollen“ und dem empirischen Menschen als „reinem Sein“ findet. Im Einzelnen: Das Recht „als eine reine, wertende, aus Tatsachen nicht zu rechtfertigende Norm“ 14 geht dem als Macht erscheinenden Staat vor, da die Macht einmal nichts für das Recht beweist und weil jeder irgendwie geartete Versuch einer Qualifikation der Staatsmacht notwendig eine Bewertung enthält, normativ sein muß und sich daher stets als Unternehmen zum Zwecke der Rechtfertigung der Macht entpuppt. Mit Schmitts eigenen Worten: „In jeder Verneinung der Berechtigung des Rechts, wie sie in der Definition der Macht enthalten ist, versteckt sich das Unterfangen, dafür die Berechtigung der Macht darzutun; die Definition erniedrigt nicht das Recht, sondern erhebt die Macht, sie war möglich, weil vorher die Macht schon als Recht gedacht war.“ 15 Der einzige Sinn und Zweck des Staates besteht darin, daß er „die Verbindung dieser Gedankenwelt“ der reinen, wertenden Norm „mit der Welt realer empirischer Erscheinungen“, welche in den Individuen als empirische Einzelwesen verkörpert erscheint, „vollstreckt“. 16 „Das Individuum aber, als empirisches EinzelSchmitt (1914: 12). Vgl. auch Hofmann (1992: 17). 11 Vgl. Schmitt: „Im Mittelpunkt der Diskussion steht heute die Frage nach dem Recht, als der gegenüber Tatsachen gleichgültigen Norm, nicht aber die nach dem Staat als Realität“ (1914: 10); und: „Es ist demnach nicht angängig, sich mit der landläufigen Methode einverstanden zu erklären, die einen Komplex von Normen, welche der Staat, als eine besondere Macht, emaniert, auf den lediglich faktischen Willen dieses Staates gründet, innerhalb dieses Komplexes aber mit den Mitteln juristischer Argumentation arbeitet und den vernünftigen und richtigen Willen ermitteln will, obwohl der Geltungsgrund der Norm bloß ein tatsächlicher ist“ (1914:21). 12 Schmitt (1914: 14), Herv. nicht im Original. 13 Es liegt nahe, daß Schmitt hier die Problemstellung Hegels aus § 1 der Rechtslehre aufnimmt: „Die philosophische Rechtswissenschaft hat die Idee des Rechts, den Begriff des Rechts und dessen Verwirklichung zum Gegenstande.“ Der Einfluß Hegels auf Schmitt muß aber einer anderen Arbeit vorbehalten bleiben. 14 Schmitt (1914: 2). 15 Schmitt (1914: 29). 16 Schmitt (1914: 2). 9
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wesen, verschwindet, um vom Recht und dem Staat, als der Aufgabe Recht zu verwirklichen, erfaßt zu werden und selbst seinen Sinn in einer Aufgabe und seinen Wert in dieser abgeschlossenen Welt nach ihren eigenen Normen zu empfangen.“ 17 Das Bezeichnende an Schmitt ist damit für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit, daß er zu einer fast unbeschränkten Funktionalisierung des Individuums kommt. Zwar sieht auch Schmitt, daß der Mensch mehr ist als nur eine Funktion für das Recht und den Staat, doch betreffe dies einen anderen Bereich. Aufgrund seiner analytischen und normativen Unterscheidungen kreiert er mehrere Sphären für das Individuum, denn er schreibt explizit: „Es sei wiederholt daran erinnert, daß nur von der Bedeutung des Einzelnen im Staate gesprochen wird, nicht etwa von religiösen Dingen.“ 18 Demnach kommt dem Menschen in „religiösen Dingen“ eine andere Bedeutung zu. Hier verbleibt Schmitt jedoch in nebülösen Andeutungen und führt dieses Konzept auch später nicht weiter aus. Schmitts Ausführungen werden vielfach unter ausdrücklichen Bezug auf Kants praktische Philosophie entwickelt, so daß sich seine spezifische Kant-Interpretation, bzw. sein eigenes Kontrastprogramm zu dem Königsberger Philosophen gut darstellen läßt. 19
1. Methode: Recht und Moral als zwei unüberbrückbare Sollenssphären Ausgangspunkt von Schmitts Überlegungen ist, daß Recht und Moral, an anderen Stellen verwendet er synonym für Moral auch der Begriff der Sittlichkeit, verschiedenen Sollens-Sphären angehören. 20 Anders als einige Neukantianer seiner Zeit lehnt er die „Einheitlichkeit der ethischen und rechtlichen Gesetzgebung“ 21 ab. 22 Seiner Ansicht nach führt „der Gedanke, (daß) das Recht die äußeren Bedingungen für die Ethik“ 23 schaffe, zu einem Staat und Recht, welche „in Polizeizwecken“ aufgehen würden. 24 Dem stehe entgegen, daß die „Sittlichkeit (...) unabhängig von der äußeren Kultur“ sei; darin liege – so Schmitt unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Schmitt (1914: 2 f.), Herv, nicht im Original; s. a. S. 68. Schmitt (1914: 91 Fn. 1). 19 Anders als Hofmann (1992: 54 Fn. 75) glaube ich sogar, in den Frühschriften einen stärkeren Bezug zu Kant als zu Hegel ausmachen zu können; vgl. etwa die Stellen, an denen er auf Kant (1914: 11, 21, 56, 57, 58, 59, 60, 89, 98, 100) bzw. Hegel (1914: 80, 86, 90, 109) Bezug nimmt, die Neukantianer nicht eingeschlossen. 20 Schmitt (1914: 63). 21 Schmitt (1914: 60). 22 Schmitt (1914: 63): „Bei der Ethik ist es das getrennte Wollen des Einzelnen für sich, beim Recht sind es dann eben mehrere Wollen im numerischen Sinne. Es fehlt jede Einheitlichkeit von Recht und Sittlichkeit“. 23 Schmitt (1914: 65). 24 Schmitt (1914: 65). 17 18
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Kant – die „Berechtigung des kategorischen Imperativs“. 25 Dieser gelte, anders als das konkrete Recht, unabhängig von den äußeren Bedingungen und seinem Kontext. Dies führt Schmitt zu der Behauptung, „die Heteronomie (des Rechts) (läßt) sich mit der Autonomie (der Moral) auf keinem Weg vereinbaren“. 26 Denn – so Schmitt – „der Einzelne, an den sich die Kantische Ethik wendet, und die Mehreren, die im Recht eine Rolle spielen, sind unter keinen einheitlichen Oberbegriff zu zwängen.“ 27 Hieraus zieht Schmitt eine brisante Schlußfolgerung. Wenn zwischen Recht und Ethik, Heteronomie und Autonomie eine strikte Sphärentrennung vorgenommen werde, könne das Recht keine Grenze an der Autonomie des Individuums finden: „Kein Individuum hat im Staate Autonomie“. Das Individuum habe im Staate keinen Wert. Der Staat könne dem Einzelnen im Recht nur den Wert nach Normen vermitteln, aus dem der Staat selbst seinen Wert gewinne: „Die Autonomie bedeutet im Recht etwas anderes wie in der Ethik, wo das Individuum als ihr Inhaber angesehen wird. Diese letzte Art der Autonomie mit der des Rechts in irgendeine verwandtschaftliche Nähe zu bringen, heißt von falschen Antithesen seinen Ausgang nehmen, nämlich denen von Recht und Individuum oder der uralten von Staat und Individuum, während richtigerweise das Individuum ausscheiden muß und nur Staat und Recht sich gegenübertreten.“ 28 Der Einzelne hat nur soviel Bedeutung, „als er Beamter sei“ 29, d. h. daß er dem Staat, und damit als letztem Glied in der Kette der Rechtsverwirklichung dem Recht dient und darin seine Funktion erfülle. Zwang als Auswirkung auf das reale Sein fällt also aus dem Recht als „reines“ Sollen heraus. In der Welt des Rechts ist das Recht absolut. Von daher sei alles, was der Staat an Recht verwirklicht, verbindlich. Da dem Staat als einzigem die Aufgabe zukommt, Recht zu verwirklichen, muß er die „höchste Gewalt“ sein: „Erst der Staat bringt den Imperativ in das Recht“ 30. Dies drückt sich in der Zwangsgewalt des Staates aus. Nach Schmitt hat der „Rechtscharakter einer Norm (...) mit ihrer Erzwingbarkeit nichts zu schaffen.“ 31 Dies resultiert aus Schmitts Vorstellung, die Rechtsnorm als reines Sollen habe mit dem Sein, welches Zwang überhaupt erst notwendig mache, keine Gemeinsamkeit. „Für Inhalt, Form oder Richtigkeit der Rechtsnorm ist es gleichgültig, wie es faktisch in der Welt aussieht. Der Zwang oder die Erzwingbarkeit berühren nicht das Wesen der Norm, da sie nur das Erzwungene, das, was zwangsweise der Norm entsprechend gemacht wurde, angehen, sie können darum auch nicht das Unterscheidungsmerkmal zu anderen Normen sein.“ 32 25 26 27 28 29 30 31 32
Schmitt (1914: 66). Schmitt (1914: 66), Klammerzusätze von M. S. Schmitt (1914: 66). Schmitt (1914: 101). Schmitt (1914: 91). Schmitt (1914: 55). Schmitt (1914: 55). Schmitt (1914: 56).
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Kap. 3: Systematische Aktualisierung
Man erkennt an dieser Eigenschaftsbestimmung eine Gemeinsamkeit mit Kant: den ubiquitären Anspruch der Rechtsprinzipien. Anders als Schmitt sieht Kant die Funktion des Rechts neben seiner Freiheitsraumabgrenzung aber gerade in seiner Erzwingbarkeit, wie oben anhand der Struktur des bewehrten Freiheitsrechts für Kant gezeigt werden konnte. 33 Dies gilt bereits für die Idee des Rechts, also das von Schmitt so bezeichnete reine Sollen. Nicht erst der Staat gibt nach Kant an, welche Handlungen rechtlich erzwingbar sind. Nach Kant und Schmitt gibt zwar übereinstimmend der Staat den konkreten Inhalt des positiven Rechts an, aber das Strukturprinzip des Zwanges und seine Legitimation sind bereits im Vernunftrecht enthalten. Eine der Hauptfunktionen der Kantischen Rechtslehre ist der Versuch, eine Begründung zu finden, wie Zwang mit einer allgemeinen Freiheitsgesetzgebung nach Grundsätzen der praktischen Vernunft zu vereinbaren ist. Das verkennt Schmitt in seinen Ausführungen, wenn er schreibt: „Wird der Zwang etwas Wesentliches und das ist bei Kant der Fall, weil er daraus folgert, daß Rechtspflicht immer nur eine äußere Handlung sein kann – so muß der Zwang sich aus dem Wesen der Rechtspflicht ergeben, das heißt, eine Rechtspflicht ist eine Pflicht, die ihrem Wesen nach zur Erzwingung drängt. Dieses Drängen, diese Tendenz hätte jedoch, da der Zwang sich nur auf das äußerliche, auf die empirische Welt beziehen kann, eine Richtung auf das Empirische, Erfahrungsgemäße, er könnte sich also nur aus dem empirischen, konkreten Inhalt der Norm ergeben, den zur Charakterisierung der Rechtsnorm zu verwerten, aber ebenfalls als einer ‚gröbsten und verderblichsten Irrtümer‘ bezeichnet werden muß. Gehört nämlich das Recht in Wahrheit zu der Art von Normen, die, wo ihr Begriff in Frage steht, nicht von der Erfahrung gelernt werden können, wird mit dem Postulat der Reinheit Ernst gemacht, dann sinkt jede Beziehung zum Zwang und alle Tendenz zur Erzwingbarkeit zum accidentale herab, es wird eine beiläufige Begleiterscheinung; was Zwang und Erzwingbarkeit ist, kann nur von der Erfahrung gelernt werden, Tendenz zum Zwange kann nur ein Erfahrungswesen haben, nicht aber eine reine Norm.“ 34 Schmitts Kant-Interpretation ist insofern zuzustimmen, als der konkret erzwingbaren Handlung im positiven Recht durch die lediglich relative Anbindung an die regulativen Prinzipien des Naturrechts etwas Zufälliges („accidentelles“) anhaftet; wenn er jedoch behauptet, daß nur die Erfahrung die Notwendigkeit von Zwang lehren könne und dies mit einer „reinen“ Theorie des Rechts nicht zu vereinbaren sei, dann betreibt er Metaphysik, die weit hinter die transzendentalanalytische Methode Kants zurückfällt. Es bleibt unklar, was das Recht bei Schmitt überhaupt sein soll. Er verläßt den Bereich der Rekonstruktion von (Rechts-) Erkenntnis zugunsten spekulativer Annahmen, die nicht begründet werden. Seinen Ausführungen über das Recht haften Unklarheiten an, die sich auch später nicht aufhellen: Was ist Recht? Was bedeutet reines Sollen? Wovon geht Schmitt aus, um zu der Idee des Rechts zu kommen, wenn er es nicht als ein Faktum nimmt und versucht, dessen transzendentalen Bedingungen 33 34
Oben, S. 46 ff. Schmitt (1914: 58 f.).
II. Carl Schmitt: Der Mensch als Funktion „homo iuridicus“
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zu erforschen? Trotz seiner heftigen Kritik an den Neukantianern, daß zuerst ihr begriffliches Verhältnis zueinander bestimmt werden müsse, bleibt er selbst eine Antwort schuldig. Fraglich ist auch, was der Inhalt des Rechts sein soll. Nach Schmitt ist die Norm zwecklos: „Die Norm kann kein Wollen, keinen Zweck tragen.“ 35 Durch den Zweck würde ein Seins-Element in das reine Sollen eintreten, der nicht sein kann.36 Erst im Staat tritt das Zweckelement in das Recht ein. 37 Der Staat bringe das positive – zweckhafte – Recht hervor: „Auf der einen Seite steht (...) das Recht, das vor dem Staate war (...); auf der anderen Seite das staatliche Recht, als dienendes, zweckbestimmtes, vermittelndes Recht.“ 38 Dieser „Dualismus“ findet sich „innerhalb jedes einzelnen empirischen Rechtssatzes“ wieder 39 und kann analytisch auseinandergehalten werden. Wie dies vor sich gehen soll, bleibt leider im Dunkeln, denn nach Schmitt „gehört (es) nicht in diesen Zusammenhang“ 40. Dies gilt auch für den Inhalt des Rechts, von dem Schmitt andeutungsweise so viel sagt, daß es ein „Naturrecht ohne Naturalismus“ sei. 41 Deshalb behauptet Schmitt, daß mit seiner Rechts- und Staatskonstruktion noch kein „Parteiprogramm“ 42 vorweggenommen sei. Bei Kant ist hingegen die Ausrichtung auf einen Zweck dem Recht immanent. Als Zwecke dienen die inneren Rechtspflichten. 43 Bei seiner strikten Trennung von Recht und Moral kann Schmitt auch nicht von dem Faktum einer übergreifenden Sittlichkeit ausgehen. Vor allem aber kann man aus dieser Ablehnung des Zwanges auf der Sollensebene einen Schluß ziehen: Es kann keinen inneren Zwang der Subjekte geben, rechtlich zu handeln. Damit verkennt er ein wesentliches Merkmal der Kantischen Rechtskonstruktion; denn eine Fremdverpflichtung ist nach Kant immer auch als Selbstverpflichtung denkbar, und dem äußeren Zwang korrespondiert stets ein innerer Zwang. Konsequenterweise muß er auch den Begriff der inneren Pflicht von dem Begriff des Rechts entkoppeln. Die Pflicht stellt sich bei Fortführung seines Gedankens vom Zwangs-Argument erst für Menschen, die das Empirische berühren: „Die Pflicht (ist) nur der Reflex eines Zwanges.“ 44 Von daher paßt für das positive Recht auch besser der Begriff des „Befehls“ („Imperativ“), der um den moralischen Pflichteninhalt entleert ist. Dies scheint seiner Vorstellung nahezukommen, da, wie bereits gezeigt, nach Schmitt „erst der Staat den Imperativ in das Recht“ bringt. Von daher kann er kei35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
Schmitt (1914: 34). Schmitt (1914: 35). Schmitt (1914: 53). Schmitt (1914: 75). Schmitt (1914: 75 f.). Schmitt (1914: 77). Schmitt (1914: 76). Schmitt (1914: 8). Vgl. oben, 125. Schmitt (1914: 85).
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Kap. 3: Systematische Aktualisierung
ne Verbindung zwischen dem moralischen Handeln und dem rechtlichen Handeln herstellen. Selbstbestimmung kann sich im Recht nicht zeigen, wenn sie im oben dargestellten Kantischen Sinn verstanden wird. Seine Äußerungen passen sich in die Ausführungen ein, nach denen im Recht keine Autonomie des einzelnen Individuums möglich sei. Weshalb er das gleiche Problem nicht beim (inneren) kategorischen Imperativ sieht, bleibt unklar. Dessen Berechtigung in seinem reinen SollensStatus, unabhängig von empirischen Einwirkungen, erkennt er an. Dieser ist nicht an empirische Bedingungen rückgebunden. Das Problem des Zwangselements, das in der Anwendung des kategorischen Imperativ auf den empirischen Menschen enthalten ist, stellt sich aber methodisch in analoger Weise zu der Rechtskonstruktion. Schmitt ist hier inkonsequent bzw. bleibt für seine unterschiedliche Behandlung eine Antwort schuldig. Auch zu dem kategorischen Imperativ gehört Zwang: in der Form von Selbstzwang. Wenn das das Recht keine innere Anleitung bietet, bleiben nur äußere Befehle. Konsequenterweise hat der Einzelne seine Rechte für den Staat wahrzunehmen, in eben diesem Sinne ist er „Beamter“: „Für den Staat ist das Individuum als solches der zufällige Träger der allein wesentlichen Aufgabe, der bestimmten Funktion, die es zu erfüllen hat.“ 45 Der Staat ist nicht für die „Persönlichkeit“ 46 da. „Die objektiv gültige Norm erfüllen heißt, vom Einzelnen aus gesehen, die eigene subjektive empirische Wirklichkeit verneinen. Die Souveränität der transzendentalen Einheit der Apperzeption vor dem konkreten Bewußtsein als psychologischen Faktum bedeutet, in die Rechtsphilosophie übertragen, nur die Belanglosigkeit des Einzelnen.“ 47 Was auch immer Schmitt hiermit ausdrücken möchte, es zeigt sich an dieser Stelle doch eine Ungereimtheit seines Werkes. Schmitt benutzt Kant, um zu zeigen, daß im Recht nur „der zum reinen Vernunftwesen gewordene Mensch“ 48 Bedeutung hätte, denn „nur insofern es ein vernünftiges Wesen ist, hat es Autonomie.“ 49 Sein „Wesen bestimmt sich nicht nach empirischen Momenten, es liegt vielmehr seinerseits in einem Wert, den eine Norm, wie Kant sagen würde: ein Gesetz konstituiert.“ 50 Schmitt bezieht den Wert des Menschen ganz auf das Vernunftgesetz. Demgegenüber ergibt sich nach Kant der Wert nicht aus dem Gesetz, sondern der Mensch selbst hat den Wert, den er mittels des Gesetzes erkennen kann. Nach Kant hat der Mensch auch ein „Sein“. Ein Sein, das zum „Sollen“ fähig ist. Anders scheint das Recht bei Schmitt an dem empirischen Menschen keine Grenze zu finden, weil er kein reines Vernunftwesen ist. Konsequenterweise müßte sich dann das (reine) Recht auf Vernunftwesen beziehen lassen, die mittels der morali45 46 47 48 49 50
Schmitt (1914: 86). Schmitt (1914: 86). Schmitt (1914: 88 f.). Schmitt (1914: 89). Schmitt (1914: 88). Schmitt (1914: 88).
II. Carl Schmitt: Der Mensch als Funktion „homo iuridicus“
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schen Gesetzgebung Autonomie haben. Damit wären in der reinen Sollenssphäre doch Recht und Moral vereinigt, was vorher immer ausgeschlossen worden ist. Als Lösung dieser Widersprüche bietet sich die Vermutung an, daß Schmitt hier eine Art homo iuridicus vor Augen gehabt haben muß. Schmitt hält nämlich daran fest, daß die „Autonomie im Recht etwas anderes wie in der Ethik (bedeutet).“ 51 Das heißt, ihm kommt es nicht auf den Wert des Rechts für das Individuum an, sondern die Bezugnahme auf ein reines Vernunftwesen wird von ihm für die überindividuelle Ausrichtung des positiven Rechts – das ist das Recht des Staates – instrumentalisiert. Der Einzelne hat keine Entscheidungsbefugnis, die seine Person und seine Situation miteinbezieht: „Das Recht hat seinen Ursprung nicht in dem Meinen eines Einzelnen als solchen und zielt auch nicht auf diesen; es kennt überhaupt keinen Einzelnen.“ 52 Von daher ist das Recht nur ein „objektives“. Subjektive Rechte im Sinne von Kant dürfte es konsequenterweise nicht geben. Leider schreibt Schmitt hierzu nichts. Von seiner funktionalistischen Perspektive aus könnten sie nur dazu dienen, Vollzugsdefizite des Rechts funktionell zu beseitigen. Die Grundfunktion des Rechtsverzichts in der Kantischen Theorie, als Möglichkeit, über ein Recht zu entscheiden, weil es nur den Rechtsträger betrifft und insofern Ausfluß der Würde seiner Person ist, hat in dieser Konstruktion keinen Platz. Bei Kant bleibt das Recht ein Mittel für den Menschen, um in sittlichen Verhältnisssen zu leben; bei Schmitt ist der Mensch Mittel für das Recht. Wenn sich das Recht demnach nur an dem reinen Vernunftmenschen orientiert, dann ist der Schritt von Schmitt nur konsequent, den Staat als eine „überindividuelle Instanz“ 53 darzustellen. Hierin sieht sich Schmitt sogar von Kant bestätigt, der nach seiner Interpretation bei „Pflichten und Rechten des Souveräns gegenüber den Gehorchenden (...) nicht mehr wirkliche Menschen im Auge habe; (...) gerade darin (liegt) die Richtigkeit des Kantischen Gedankens.“ 54 Also ist seiner Ansicht nach das Recht auf einen Vernunftmenschen bezogen, der seine Autonomie im Recht hat; diese kann nach dem oben Gesagten nicht mit der moralischen Autonomie identisch sein. Was er damit hingegen meint, wird von ihm wiederum nur angedeutet. Der Begriff der Autonomie im Recht ist auf den Staat ausgerichtet, der dadurch ausgesprochen individualistische Züge erhält: 55 „Es gibt eine Autonomie im Recht, aber ihr Träger ist nur der Staat als das einzige Subjekt des ‚Ethos im Recht‘“ 56. Der Staat allein hat Zugriff auf das reine Recht, auf die Rechtsprinzipien. In eben diesem Sinne ist Schmitts Rechtsverwirklichungsmodell überindividuell, weil die Individuen selbst keinen Zugriff auf die Rechtsprinzipien haben. Der Staat Schmitt (1914: 101). Schmitt (1914: 98 f.). 53 Schmitt (1914: 85); an anderer Stelle spricht er von der „überpersönlichen Dignität des Staates“ (84). 54 Schmitt (1914: 100). 55 Vgl. auch Hofmann (1992: 56) und Waldecker (1916: 340 f.). 56 Schmitt (1914: 101). 51 52
15 Schütze
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Kap. 3: Systematische Aktualisierung
kann damit seine Autonomie erreichen, er ist „Inhaber der Autonomie im Recht“ 57. Er entspricht folglich dem „Vernunftmenschen“: „Die Kantische Forderung, daß der Mensch immer selbst Zweck sei und nie zum Mittel werden dürfe, gilt daher nur für den zum reinen Vernunftmenschen gewordenen Menschen.“ 58 Wenn derjenige, der im Recht Autonomie hat, der Staat ist, dann muß er konsequenterweise einem Vernunftmenschen entsprechen. Damit wird der Staat zum Individuum sui generis. 59 Die Besonderheit des so gewonnenen staatlichen Individuums besteht in seiner Funktion als Schnittstelle zwischen den beiden Bereichen Sein und Sollen; der Mensch als Individuum kommt ja nur als Sein in die Betrachtung des Rechts, als empirisches Individuum, welches das staatliche Recht verwirklichen soll. 60 Diese Trennung der Autonomiebereiche und ihre Bedeutung für den Einzelnen ist grundlegend für Schmitts Arbeitshypothese. Die Einheit von Recht und Moral, die er bei einigen Neukantianern feststellt, habe ihren „Grund in der Vernachlässigung der Betrachtung des Staates und den Folgerungen, die sich aus dem Wesen des Staates für die rechtsphilosophische Konstruktion der Individualität ergeben.“ 61 Festzuhalten bleibt an dieser Stelle: Das Recht drückt nach Schmitt ein reines Sollen aus, welches erst durch die vermittelnde Funktion des Staats verwirklicht wird. Der einzelne empirische Mensch hat hierbei nur eine Funktion im Vollzugsschema. Dem Rechtsimperativ, der durch den Staat in das positive Recht gelangt, korrespondiert keine moralische Pflicht des Einzelnen. Und doch scheint es für den Einzelnen eine Verbindlichkeit zu geben, sich in dieser Rolle einfinden zu müssen. Moralische Autonomie kann er hierbei nicht gewinnen, auch die von Schmitt vorgebrachte – aber nicht erläuterte – rechtliche Autonomie ist für ihn als empirisches Wesen nicht erreichbar. Da die moralische Autonomie und das Recht verschiedene Sollenssphären ohne jeden Berührungspunkt betreffen, kann das Recht an der Autonomie des Einzelnen weder eine Grenze noch einen Zweck finden. Die große sich daraus ergebende Frage „Was ist Recht?“ bleibt unbeantwortet. Schmitts Ausführungen machen nur Sinn, wenn auf diese Weise die Legitimität des Staates mit seinem positiven 57 Vgl. die Formulierung von Schmitt (1914: 101) für das einzelne Individuum: „Die Autonomie bedeutet im Recht etwas anderes wie in der Ethik, wo das Individuum als ihr Inhaber angesehen wird.“ 58 Schmitt (1914: 89). 59 Diese Konstruktion verkennt m. E. Waechter (1993: 39 f.), wenn er in seiner Schmitt-Interpretation zu dem Ergebnis kommt, daß Schmitt – wie zuvor Hobbes – von dem einzelnen Individuum ausgehe, und der „Einzelne in die Rolle des Schöpfers“ einziehe. Nicht der isolierte Einzelmensch wird m. E. zum schöpfenden Subjekt, sondern der als Subjekt personifizierte Staat. Fixpunkt ist damit – entgegen Waechter – nicht der „isolierte Einzelmensch“, sondern der Staat als isoliertes Subjekt (42). In diesem Sinne ist m. E. dann auch der Staat ein solipsistisches Subjekt, nicht der Einzelmensch (vgl. S. 71). 60 Diesen entscheidenden Unterschied vernachlässigt Waechter (1994: 73), der schreibt, daß die Einheit des Staates „einem Modell der Herstellung der Einheit der individuellen Person folgt.“ Waechter läßt außer Betracht, daß dieses Modell der Herstellung der Einheit der Person, nicht das Modell von Schmitt für die individuelle Person ist. 61 Schmitt (1914: 11).
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Recht gezeigt werden könnte. Die Legitimität seiner Staatskonstruktion lebt davon, das reine, nichtstaatliche, originäre Recht als absolut gültig erschlossen anzuerkennen und dieses Recht als absoluten und maßgeblichen Wert rational zu bejahen. 62 Auch später hat Schmitt sein Paradoxon von „Naturrecht ohne Naturalismus“ nicht mehr genauer dargestellt. 63 Die Antithese von originärer, reiner Rechtsnorm und staatlicher Rechtsverwirklichungsnorm ist im Laufe seiner Arbeiten einer anderen Problemstellung gewichen. Das transzendentale Sinngebilde der reinen Rechtsnorm bleibt inhaltslose Arbeitshypothese und wird von der neuen Frage überlagert, wie sich staatliche Rechtsverwirklichungsnorm und technische Aktionsregel zueinander verhalten. 64 Dieses Problem ist in der Frühschrift schon angelegt: „Der Rechtsgedanke, der in der Welt vollstreckt und dem äußerer Gehorsam erzwungen werden soll, bedarf einer Anerkennung der Wirklichkeit darin, daß er mit einem präzisen Inhalt formuliert wird, wobei die Präzision des Inhalts (nicht der Form) in funktioneller Abhängigkeit von der Entfernung zur Vollstreckung steht. Der Rechtsgedanke, der einer Umgestaltung der Wirklichkeit zur Richtschnur dienen soll, muß positiv werden, d. h. sein Inhalt wird durch einen Akt souveräner Entscheidung gesetzt, er wird zur Satzung und in konkreter Fassung ausgesprochen.“ 65 Daran kann man erkennen, daß die Frühschrift ihre Bedeutung für das weitere Werk behält, weil sie seinen späteren Gedanken einen danach nicht mehr in derartiger Form aufgezeigten Rahmen vorgibt. 66
2. Die Identität im Recht als Kriterium Was der Mensch nach Schmitt in der Ausfüllung seiner Funktion gewinnt, ist seine Individualität als Rechtsperson: „Wenn überhaupt von Individualität gesprochen Vgl. auch Hofmann (1992: 73). Erst recht hat Schmitt den Begriff des „Naturrechts“ in seiner früheren Schrift – „Gesetz und Urteil“ – offen gelassen (1912: 16): „Es ist möglich, heute vom Naturrecht zu reden, ohne für einen Ideologen oder Phantasten gehalten zu werden (...).“ Weitere Ausführungen zu seinem Verständnis von „Naturrecht“ folgen nicht. 64 Vgl. Hofmann (1992: 76); auch Otten (1995: 32) kann den Inhalt nur negativ angeben: „Ein Naturrecht, das aus einem Corpus angebbarer, universal gültiger Rechtssätze besteht, ist hier gerade nicht gemeint.“ Und weiter heißt es bei ihm: „Das prästabile ‚Recht‘ besteht aus den überempirischen ‚Normen‘ des Rechtsgedankens, die weder begründbar sind, noch an irgendeiner Stelle expliziert werden.“ 65 Schmitt (1914: 78). 66 In diese Richtung gehen auch die Ausführungen von Rumpf (1972: 16): „Daß sich schon in dieser frühen Abhandlung leitende Ideen und Motive abzeichnen, die im folgenden Werk Carl Schmitts zur Entfaltung kamen, wird jedem Kenner klar geworden sein.“ Rumpf als „Kenner“ idS. glaubt sogar, in diesem Werk – ohne jede Begründung – „vorstaatliche Menschenrechte“ ausmachen zu können (17). Daß im späteren Werk keine wesentlichen Änderungen an diesen Grundaussagen vorgenommen wurden, zeigt auch Otten (1995: 44) auf. 62 63
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werden kann, so liegt darin schon die Definition des mit Individualität präjudizierten Gegenstandes als eines Zurechnungspunktes nach Normen.“ 67 Individualität erscheint nach Schmitt nie „als lediglich empirische Tatsache.“ 68 Weiter schreibt er: „Das leibliche konkrete Individuum ist (...) eine gänzlich zufällige Einheit.“ Die Individualität entsteht erst unter einer wertenden Betrachtung: „Die Einheit, die in der Individualität liegt und ihren Wert ausmacht, kann immer nur ein geistiges Band sein, das in normativer Betrachtung gewonnen wird.“ 69 Wenn man die Individualität hier nicht als „numerische“ Identität, sondern als „qualitative“ Identität auffaßt, besteht in seiner Definition sogar eine Übereinstimmung mit der allgemeinen Definition von Identität, wie sie oben eingeführt worden ist: „als Bewußtsein von den bestimmenden Merkmalen, durch die man zu einem Individuum wird.“ Es bedarf einer normativen Betrachtung, seine bestimmenden Merkmale auszumachen. Bei Schmitt geht es nicht darum, in dieser Identität seine Selbstbestimmung zu erfahren, sondern im Gegenteil seine Funktion für etwas Übergeordnetes zu finden, eben „Beamter“ zu sein. In diesem Sinne wird von ihm auch die Forderung des „sei du selbst“ 70 verstanden. Es geht nicht um die eigene Selbsterhaltung, sondern um die Verwirklichung des Rechts. Erst die Hingabe an das Recht bringe die Person hervor. Auch nach Kant bedarf die Bildung der qualitativen Identität einer Verwirklichung der Rechtsprinzipien, aber nicht um ihrer selbst willen, sondern um die Selbstbestimmung des Menschen zu erreichen: Das „Erkenne dich selbst“ 71 wird von Kant als Postulat aufgestellt, sich in seiner Zwei-Welten-Konstitution zu erkennen und sich in der Welt zu verantworten. Jeder ist dazu aufgerufen, diese Prinzipien zu verwirklichen und damit die Dynamik des geschichtlichen Prozesses voranzutreiben. Der Mensch entwickelt damit seine Fähigkeiten und konstituiert eine rechtsstaatliche Welt. Auf dem wechselseitigen Bezug der Perspektiven basiert das Gerüst Kants. Bei Schmitt hingegen konstruiert sich das Recht, vermittelt durch den Staat, den Menschen: „Somit ist nicht der Staat eine Konstruktion, die Menschen sich gemacht haben, er macht im Gegenteil aus jedem Menschen eine Konstruktion.“ 72 Wenn die Identität normativ verstanden wird, „einer Norm entnommen ist“ 73, dann kann sie im Recht nach Schmitt nur rechtlich verstanden werden. Die Trennung von Recht und Moral wird also nicht durchgeführt, um moralische Gründe zu gewinnen, die die Verwendung des isolierten Rechts beeinflussen könnten. Im Gegenteil, die Trennung wird von Schmitt mit dem Ziel vollzogen, daß der Mensch, soweit er in der rechtlichen Sphäre handelt, ganz im Recht aufgeht. Dieses „Reich des Rechts hat keine faktischen Grenzen“, es gibt „im Recht keinen rechtlo67 68 69 70 71 72 73
Schmitt (1914: 4). Schmitt (1914: 7). Schmitt (1914: 7). Schmitt (1914: 86). Kant, MS-TL, S. 569 (A 93); dazu bereits oben, 209 ff. Schmitt (1914: 93). Schmitt (1914: 102).
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sen Raum“ 74. Moralische Gründe lassen sich konzeptionell weder für noch gegen eine bestimmte Anwendung des Rechts vorbringen. Daher läßt sich auch sagen, daß nach Schmitt die Rechts- und die Moralbegriffe keine gemeinsame Sprache haben, einander unverständlich sind. Deshalb lassen sich Argumente der einen Sprache nicht gegen Argumente der anderen Sprache ausspielen. Ein „interdisziplinärer Diskurs“ wäre nicht möglich. 75 Hier liegt der zentrale Punkt, in dem sich Schmitt von anderen Theoretikern seiner Zeit absondert. Denn daraus folgt, daß jeder kritischen Prüfung des positiven Rechts unter sittlichen Maßstäben der Weg abgeschnitten ist. Das Recht bedarf keiner Rechtfertigung vor dem Individuum. Da das Naturrecht inhaltslos ist und nur die staatliche Dezision das Recht verwirklicht, mangelt es dem Recht an einem normativen Regulativ. Bei Kant ist gerade dieses Regulativ, nämlich die Idee des Rechts, wie sie oben aufgezeigt wurde, das, was Recht, Moral und Identität verbindet. Da das Recht nach Schmitt vor dem Individuum nicht zu rechtfertigen ist, kann das Individuum auch das Recht in seiner Anwendung nicht rechtfertigen, weil es keine Alternative dazu gibt. Die Durchsetzung des subjektiven Rechts bedarf konsequenterweise auch keiner Rechtfertigung vor anderen noch vor dem einzelnen selbst. In der Rechtsanwendung kann der Mensch deshalb keine selbstbestimmte Identität finden, sondern nur seine rechtliche Identität vollziehen. Diese Schwierigkeit der Verbindung von Recht und Moral problematisiert Schmitt nicht, wenngleich für ihn diese Bestimmung der Identität elementar ist; denn die Zuordnung von Recht und Moral müsse stets unter Beachtung der Folgerungen, „die sich für die rechtsphilosophische Konstruktion der Individualität ergeben,“ 76 vorgenommen werden. Seine Individualitäts-, bzw. Identitätsvorstellung kann demnach so rekonstruiert werden, daß seiner Meinung nach der Mensch in mehreren „Sphären“ steht: Neben dem aufgezeigten homo iuridicus gibt es wohl auch den homo oeconomicus. Dieser Gedanke wird an einer Stelle angerissen, wenn er den „Kapitalisten“ beschreibt, der wie der homo iuridicus ein „Diener einer Aufgabe“, ein „Beamter“ an den Werten der Kapitalvermehrung ist. 77 Wenn die Sphären alle voneinander abgetrennt sind, müßte es konsequenterweise zusätzlich noch den „homo moralicus“ geben, der seiSchmitt (1914: 36). Schluchter (1968: 225) kommt zu einer ähnlichen Interpretation und versucht hier für Schmitt einen möglichen Ausweg aus dieser Theorie-Sackgasse zu finden: „Nun ließe sich denken, daß Schmitt, analog seiner Bestimmung des Verhältnisses von Recht und Staat, das Individuum zum Träger eines ‚Ethos der Sittlichkeit‘ stempelt und es als Instanz der Verwirklichung der Moral dem Staat als Instanz der Verwirklichung des Rechts entgegenstellt. Denn dann könnte er seinem Lehrsatz entsprechen, die Norm könne nicht mit der Norm, sondern nur die verwirklichte Norm könne mit der verwirklichten Norm ‚streiten‘. Aber Schmitt macht keine Anstrengung, eine solche Komplizierung seines Gedankenganges vorzunehmen.“ 76 Schmitt (1914: 11). 77 Schmitt (1914: 91). 74 75
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ne private Autonomie im moralischen Bereich findet. Eine befremdlich erscheinende Konstruktion, die für die vorliegende Arbeit nicht weiter zu verfolgen ist. 78 Das vollkommene Aufgehen des empirischen Menschen im Recht ist also nur möglich, weil die Rollen des Menschen in hermetisch abgetrennten Sphären entworfen werden, die keine Berührungspunkte untereinander haben. Dies ist die Folge der rigorosen Trennung von Recht und Moral. 79 Schmitt bietet keinen Vorschlag an, diese Rollen zu einer Einheit zusammenzubringen. Recht ist damit nur Voraussetzung für die Identität im Recht, nicht die der Person im ganzen. Auf der Suche nach einer Antwort für die Frage, „nach jener Einheit, welcher der einzelne Mensch unterworfen ist und unterworfen sein soll“ 80, geht ihm die Frage verloren, wie die Einheit des Menschen möglich ist, der dieser Einheit unterworfen ist; erst recht hat er hierfür keine Antwort. Schmitt steigert den Eigensinn der Bereiche ins Extreme. Die Vielheit wird zur rationalen Unvereinbarkeit gegensätzlicher Bereiche. Radikaler läßt sich die Vielheit nur noch in der absoluten Auflösung einer Einheitsvorstellung überhaupt denken, wie sie im Postmodernismus vorgestellt wird, 81 von deren Fürsprechern Schmitt zum Teil als Argumentationslieferant für ihre Theorie herangezogen wird.82 Schmitt selbst sieht dieses Problem ansatzweise in seinen späteren Schriften und versucht, die Einheit in dieser Vielheit unter dem – aus der Religionswissenschaft entnommenen – Begriff „Homousie“ zu subsumieren und dadurch die Einheit als Vorstellung zu retten: Wesenseinheit des wesentlich Verschiedenen. 83 Dieses Kon78 Dieses Problem des Menschen in seinen verschiedenen Sphären übersieht M. Kaufmann (1988: 218 ff.), der bei Schmitt eine anthropologische Konstante, angelehnt an Hobbes’ Bild des boshaften Menschen, feststellt. 79 Inwieweit dies auch für seine späteren Schriften gilt, ist für die vorliegende Arbeit irrelevant, da sein Werk hier nur in systematischem Interesse herangezogen wird: um eine überindividuelle Rechtstheorie vorzustellen. Inwieweit Hofmann (1992: XIII) hier eine „transpersonale“ Theorie verkörpert sieht, ist mir unklar. Dies mag aber daran liegen, daß er diesen Begriff nicht erläutert. Inhaltlich sind seine Folgerungen jedenfalls deckungsgleich mit den hier Vorgestellten. 80 Otten (1996: 26). 81 Dazu unten, 249 ff. 82 Vgl. etwa Derrida (1991: 65, 67, 97, 99). 83 In der christlichen Religion hat der Begriff der „Homousie“ seine Bedeutung in dem sog. „arianische Lehrstreit“ anläßlich des 1. ökumenische Konzil zu Nicäa (325) gewonnen: Dieser behandelte Fragen zur Trinitätslehre, die im 2. und 3. Jahrhundert auftraten und auch im 4. Jahrhundert noch nicht völlig geklärt waren. Nach dem Ausschluß der Monarchianer aus der Kirchengemeinschaft hatte sich als Lehrmeinung herauskristallisiert: Christus ist eine göttliche und gleichzeitig vom Vater verschiedene Person. Beide Personen waren also göttlich; doch in welchem Verhältnis standen sie zueinander? Vorerst gab es darüber keine verbindliche Lehrmeinung. Während im Orient der Sohn dem Vater unter geordnet wurde (Subordinatianismus), wobei jedoch an seiner Göttlichkeit nicht gezweifelt wurde, lehrte die römische Kirche die „Homousie“ (Wesensgleichheit bzw. Wesenseinheit) zwischen Vater und Sohn (nicht zu verwechseln mit „Homöusie“ – Wesensähnlichkeit). Das Symbol (Glaubensbekenntnis) von Nicäa lautete schließlich: „Wir glauben an einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer all des, das sichtbar und unsichtbar ist; und an einen Herrn Jesus Christus, den Sohn Gottes, der als Einziggeborener aus
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zept weist weit über die frühen Schriften hinaus. Letztlich kann es nur den überzeugen, der der religiösen Einsicht in die Einheit der Dreifaltigkeit folgt. 84 Selbst wenn man hierin eine Lösung zur Einheitsstiftung sähe, ist nach Schmitt rechtliches Handeln nicht Ausdruck der Selbstbestimmung. Recht ist keine Voraussetzung moralisch autonomen Handelns, weil beide Bereiche keine Berührungspunkte haben. Rechtliches Handeln ist damit Ausdruck der Selbstbefreiung – nämlich der Befreiung des Selbst von reflektiertem Handeln und Verantwortung. Dies ist die konsequente Folge der Externalisierung der Handlungsmotive. Die Dialektik des Verhältnisses von Sein und Sollen führt zur Selbstaufhebung des faktischen Subjekts, welches nur noch als Eingliederung in die Gemeinschaft überlebt. Im Recht erfährt das Subjekt damit keinen Spannungszustand, sondern die Dialektik von Sein und Sollen wird einseitig aufgelöst zugunsten der Erhebung und Weihung an einen „höheren“ Zweck. In einer ersten kritischen Stellungnahme kann damit festgehalten werden, daß bei Schmitt mit der Aufgabe der verbindenden Prinzipien von Recht und Moral auch die Basis für die Einheit der menschlichen Identität verloren geht. Damit einhergehend schwindet die politische Handlungsfähigkeit des Individuums zugunsten eines Aufgehens in dem vom Staat dezisionistisch vorgegebenen positiven Recht. Zwar kennt auch Schmitt in seiner (späteren) Verfassungslehre rechtliche Prinzipien, 85 doch immer überwiegt, auch in den späten Schriften, das dezisionistische („politische“) Element. 86 Die rechtlichen Prinzipien gelten nur für das Recht. Rechtsverwirklichung ist kein angeleiteter Konkretisierungsprozeß, keine Aufnahme der Realität in einem ausgezeichneten Verfahren, sondern letztlich Dezision: „(...) die empirische Macht kann das Mittel des Rechts in dem Sinne eines Mediums sein, insofern in ihr ein Zustand verwirklicht werden soll, der als rechtmäßig bezeichnet werden muß, und dem Vater gezeugt ward, das heißt aus dem Wesen des Vaters, Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrhaftiger Gott aus wahrhaftigem Gott, geboren, nicht geschaffen, eines Wesens (homousios) mit dem Vater, durch welchen alles geworden ist, sowohl was im Himmel wie was auf Erden ist, der um uns Menschen und um unseres Heiles willen herabgestiegen ist und Fleisch geworden ist, der Mensch ward, litt und am dritten Tage auferstand, aufgefahren ist gen Himmel (und) kommen wird, um Lebende und Tote zu richten; und an den Heiligen Geist. Die aber sagen: ‚es gab eine Zeit, da er nicht war‘, und: ‚ehe er geboren ward, war er nicht‘, und: ‚aus Nichtseiendem ist er geworden‘, oder die behaupten, er sei aus einer anderen Hypostase oder Wesenheit (als der Vater), oder der Sohn Gottes sei (geschaffen oder) wandelbar oder veränderlich, die verdammt die katholische und apostolische Kirche.“ 84 Vgl. dazu die Darstellung bei Waechter (1994: 68 ff.), der auch zu einer ablehnenden Bewertung kommt, da diese Begrifflichkeit „juristisch unbrauchbar“ sei. 85 Vgl. etwa Schmitt (1989: 200). Auch in seiner Schrift Politische Theologie (1934) kritisiert er den Liberalismus, der zu stark auf drei unpersönliche Mechanismen vertraue: auf gesetzliche Normierung, den freien Markt und darauf, daß sich in Diskussionen stets die Wahrheit durchsetze werde. Statt langwieriger (prinzipiengeleiteter) Diskussionen fordert er die „Entscheidung“, die er vom Ausnahmezustand her definiert: Im Ausnahmezustand bewährt „die Existenz des Staates (...) eine zweifellose Überlegenheit über der Geltung der Rechtsordnung“ (ebd., 19). 86 Schmitt (1989: 200): „Daraus folgt, daß in jeder Verfassung mit dem rechtsstaatlichen Bestandteil ein zweiter Bestandteil politischer Formprinzipien verbunden und vermischt ist“ (Herv. im Original).
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zwar durch eine als rechtmäßig zu bezeichnende Macht.“ 87 Das Ziel der Rechtsverwirklichung ist nicht die Möglichkeit rechtlicher Beurteilung jedes Falles in seiner individuellen Besonderheit, sondern vielmehr eine bestimmte Gestaltung der Wirklichkeit nach überindividuellen Rechtsregeln, 88 deren Inhalt nur vage angedeutet und damit zu einer prophetischen Angelegenheit wird. Die mangelnde Rechtfertigung vor dem Individuum spiegelt sich in der mangelnden Reflexion des Individuums in der Rechtsanwendung. Die Identität im Recht schafft den „homo iuridicus“. Die für die Moderne typische reflexive Haltung zu den vorgegebenen Rollen ist damit nicht möglich, weil es keine Basis gibt, keinen Fixpunkt, von dem aus eine Reflexion über die verschiedenen Rollen in ihren verschiedenen „Sprachen“ möglich wäre. Nach Schmitt muß sich nicht die Entscheidung legitimieren, sondern die Entscheidung selbst ist die Legitimation, schafft damit ihre eigene Legitimationsgrundlage. 89 Sie steht damit ohne jede Beziehung zu Moral und qualitativer Identität. Die Durchsetzung des von der Rechtsordnung zugewiesenen subjektiven Rechts ist damit in jedem Fall „legitim“; legitim in einer Weise, die vom allgemeinen Sprachgebrauch abweicht, weil hierin keine moralische Aussage zum Ausdruck kommt. Für die Einheit des Menschen als Persönlichkeit hat das Recht seine Bedeutung verloren, die ihm nach Kant zukommt. Die Frage der Selbstverwirklichung des faktischen Subjekts hat nach Schmitt im Recht keinen legitimen Standort. 90
III. Hans Kelsen: Verantwortung ohne Horizont 1. Methode: Recht ist nicht vorgegeben, sondern aufgegeben Nach Kelsen 91 ist die Rechtserkenntnis auf die Erkenntnis von Rechtsnormen gerichtet. 92 Rechtsnormen drücken ein „Sollen“ von Verhaltensweisen aus. Dabei verSchmitt (1914: 35). Schmitt (1914: 78): „Der Rechtsgedanke, der einer Umgestaltung der Wirklichkeit zur Richtschnur dienen soll, muß positiv werden, d. h. sein Inhalt wird durch einen Akt souveräner Entscheidung gesetzt, er wird zur Satzung und in konkreter Fassung ausgesprochen.“ 89 Vgl. Waechter (1993: 30). 90 Nur am Rande sei bemerkt, daß die mangelnde Identität, die sich am deutlichsten in dem Fehlen von kontinuitätsstiftenden Prinzipien zeigt, durch das Freund/Feind-Schema, und damit der völkischen Identität, versucht wird herzustellen: Es ist der Versuch, die mangelnde moralische Identität durch andere Kriterien zu kompensieren. Staaten, die auf die völkische Identität zielen, zeichnen sich zumeist durch das Fehlen angewandter Moral aus, was nicht zuletzt im Kosovo-Krieg vor Augen geführt wurde. 91 Hans Kelsen in das hier zu untersuchende Trio einzureihen, bedarf vorab noch einer näheren Erklärung. Soll er hier als Vertreter der individuellen Rechtsverwirklichung dargestellt werden, muß doch zunächst geklärt werden, warum nicht ein „ausgewiesener Kantianer“ ausgewählt wurde. Als solche würden sich vor allem Rudolf Stammler und Gustav Radbruch vorstellen lassen, wobei Radbruch vielleicht noch eher der transpersonalen Richtung zugeschrie87 88
III. Hans Kelsen: Verantwortung ohne Horizont
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wendet Kelsen den Begriff „Sollen“ in einem weiteren Sinn als der übliche Sprachgebrauch: Eine Norm kann ein Verhalten nicht nur gebieten, sie kann es auch erlauben oder ermächtigen. Auch das „Dürfen“ aufgrund einer Erlaubnis und das „Können“ aufgrund einer Ermächtigung sind im „Sollen“ inbegriffen. 93 Die spezifische Existenz einer Norm ist ihre „Geltung“. Unter Geltung versteht Kelsen nicht etwa die faktische Geltung, bspw. im Sinn der „Wirksamkeit“ der Norm, sondern die „Soll-Geltung“. Die faktische Wirksamkeit einer Norm ist hingegen Seins-Tatsache. Hierin offenbart sich der methodische Ausgangspunkt von Kelsen: die Unterscheidung von Sein und Sollen: „Daraus, daß etwas ist, kann nicht folgen, daß etwas sein soll; und daraus, daß etwas sein soll, kann nicht folgen, daß etwas ist.“ 94 Kelsen versucht dieses Sollen nach dem Muster von Kants erster Kritik zu strukturieren. Er ist bemüht, eine transzendentale Rechtstheorie nicht als Ethik, ben werden könnte. Stammler hat versucht in Anlehnung an die Kritik der reinen Vernunft eine allgemeingültige, von jeder konkreten Rechtserfahrung freie Rechtswissenschaft zu fundieren [Stammler (1911: 33)]. Stammler kommt – ganz ähnlich wie die oben durchgeführte Kant-Interpretation, die sich freilich auf die zweite Kritik stützt – zu einer Unterscheidung zwischen dem kontingenten, aposteriorischen Inhalt des Rechts, den Stoff desselben, und den allgemeinen, formalen Begriffen als den transzendenten Formelementen, die die empirische Vielfalt zu einer gegliederten Einheit zusammen fügen. Mit Hilfe der – in seinen Untersuchungen – gewonnenen logischen Apriori der Rechtsbegriffe und der Rechtsidee versucht er dem kontingenten positiven Recht, regulative – nicht konstitutive – Kriterien als Maßstab beizugeben [Stammler (1902: 313 f.)]. Diese können das jeweils positiv gesetzliche Recht nur anleiten, aber nicht als absolute Rechtsprinzipien positives Recht derogieren. Leicht läßt sich das in der obigen Kant-Interpretation herausgeschälte Zwei-Rechte-System in ihren Grundzügen hierin wiederfinden, wenngleich Stammler einen gänzlich anderen methodologischen Weg eingeschlagen hat. Er schreibt Kant weiter, anstatt ihn zu interpretieren bzw. zu rekonstruieren. Auf die Rechtsidee als Idee der Gerechtigkeit und damit auf einen obersten Rechtswert schlechthin bleibt auch alles positive Recht bei dem bereits erwähnten „Neukantianer“ Gustav Radbruch bezogen [Radbruch (1956: 91)]. Der gravierende Unterschied zu Kant liegt in seinem methodischen Wertrelativismus, der auf der Annahme der wissenschaftlichen Unerkennbarkeit letzter Werte beruht. Gerade aus dieser Unmöglichkeit kann die philosophische Geltung des positiven Rechts begründet werden – die jedoch im Laufe der Jahre durch die geschichtliche Erfahrung um eine (absolute) Ungerechtigkeitsformel (sog. Radbruchsche Formel) erweitert wurde. Ganz Kant verhaftet bleibt er in seiner Begründung der Notwendigkeit von Recht überhaupt für eine Gesellschaft, da angesichts des Wertrelativismus jemand festsetzen müsse, „was rechtens sein soll“, um so „den Widerstreit entgegengesetzter Rechtsanschauungen durch einen autoritären Machtspruch zu beenden.“ [Radbruch (1956: 179)]. Schon diese kurzen Ausführungen lassen erkennen, welche Richtung eine Untersuchung der beiden Autoren einschlagen müßte, die auch fruchtbar erscheint. Für Hans Kelsen spricht jedoch, daß keiner der (Neu-)Kantianer radikaler war und den Individuen ähnlich hohe Leistungen abverlangt hat. Indem er die Idee des objektiv geltenden, richtigen Rechts vollkommen aufgibt, treibt er die Anforderungen an die individuellen moralischen Leistungen ganz weit. Des weiteren bietet sich Kelsen an, da er mit dem frühen Carl Schmitt einige Gemeinsamkeiten hat, deren unterschiedliche Fortentwicklung jedoch zu gänzlich verschiedenen Lösungen führen. 92 Kelsen (1960: 4). 93 Kelsen (1960: 4, 5). 94 Kelsen (1960: 5).
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sondern als Logik zu konstruieren. 95 Ihre moralische (sittliche) Verbindlichkeit bleibt unbeachtet (ausführlich dazu weiter unten). Rechtsnormen müssen in ihrem Gegenstandsbereich nach zwei Seiten hin abgegrenzt werden: Zum einen von den Naturtatsachen, dem Sein, zum anderen von den übrigen Sollens-Normen, die sich auf menschliches Verhalten beziehen, vor allem der Moral. Letzteres Problem löst er, insofern er sich ausdrücklich nur auf positives Recht bezieht. Für ersteres sind aufwendigere Schritte zu vollziehen. Kelsen ist methodisch insoweit Neukantianer, 96 als daß er deren methodische Prämisse teilt: nämlich daß die Methode den Gegenstand bestimme und nicht umgekehrt. 97 Im Gefolge der kopernikanischen Wendung Kants erzeugt das Denken seine Gegenstände mittels transzendental begründeter, vor aller Erfahrung entwickelter Kategorien. Kelsen steht dabei vor dem Problem, daß seiner Ansicht nach dem Recht keine vorgegebene, zu erkennende Idee zugrunde liegt, erst recht kein „Ding an sich“. Sondern es gibt als Erkenntnisgegenstand nur das, was im Akte der Rechtserkenntnis in der Form eines synthetisch rechtswissenschaftlichen Urteils erst erzeugt wird. In dieser Funktionalisierung des Gegenständlichen, in der vollkommenen Negation des „Dings an sich“, liegt der entscheidende Unterschied zu Kant. Recht ist nicht vorgegeben, sondern aufgegeben; da er im Unterschied zu Kant das Faktum des Sollens nicht anerkennt, ist Rechtsgeltung etwas zu Konstruierendes, ein reines Artefakt. Dabei muß aber beachtet werden, daß die Aufgabe der Rechtswissenschaft lediglich darin besteht, Geltung hervorzubringen, nicht das Rechtsmaterial quasi wie einen „deus ex machina“ hervorzuzaubern. 98 Kelsen selbst hat hierfür das Gleichnis des König Midas gewählt: „In dieser Hinsicht gleicht das Recht dem König Midas. So wie alles, was dieser berührte, sich in Gold verwandelte, so nimmt alles, worauf sich das Recht bezieht, Rechtscharakter an.“ 99 Zunächst bestimmt er dafür das „Sollen“ der Rechtsnorm als vorhandene Wirklichkeit. Dadurch wird das juristische Sollen zu einer Quasi-Natur und – ganz in Übereinstimmung mit Kelsens Verständnis von Kants erster Vernunftkritik – wird 95 Zur transzendentalen Methode bei Kelsen vgl. die differenzierenden Ausführungen von Paulson (1984: 685 ff.). 96 Eine differenzierende Betrachtung für die verschiedenen Phasen Kelsens nimmt Paulson (1984: 679 ff.) vor: Kelsen hätte sich erst ab den späten 20er Jahren zum Neukantianer entwickelt. 97 Vgl. hierzu nur die Kritik von Heller, Krisis, Bd. II, S. 19 f.: „Kelsens Rechtsrationalismus aber, der auf nichts so stolz ist als auf seine Methodenreinheit, vollzieht gerade diese von Lask als so verderblich gekennzeichnete Verwischung methodologischer Grenzlinien, weil er, die Kopernikanische Wendung unbesehen auf die Kulturwissenschaften und die Jurisprudenz übertragend, keinerlei nichtrationalisierbare Gehalte und Gegebenheiten anzuerkennen geneigt ist.“ 98 Vgl. aber die Kritik von Heller, Krisis, Bd. II, S. 21: „Und nun springt als echter deus ex machina ‚ein ganz spezieller, höchst komplizierter und ausschließlich rechtsinhaltlicher Begriff des Staates‘ auf die Bühne, von dem niemand weiß, woher er kam, von dem aber soviel feststeht, daß er nicht aus der reinen Rechtslehre stammt und daß sich die ‚reine‘ Staatsrechtslehre seiner trotzdem immer wieder ausdrücklich und viel, viel öfter noch stillschweigend nolens volens bedienen muß.“ (Herv. im Original). 99 Kelsen (1960: 282).
III. Hans Kelsen: Verantwortung ohne Horizont
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die Theorie des Rechts zur Theorie einer Quasi-Naturwissenschaft.100 Recht wird als „Quasi-Ding an sich“ aufgefaßt, um so die kategorialen Voraussetzungen seiner Erkenntnis zu bestimmen. Dieses Quasi-Faktum des Rechts ist allerdings nicht allein auf eine Strukturierung des gegebenen (faktischen) Rechts hin fingiert, sondern „des positiven Rechts schlechthin“ 101. Um das Recht nun als Recht überhaupt betrachten zu können, setzt Kelsen eine Grundnorm als normativitätsstiftende Voraussetzung aller Rechtlichkeiten. Er versucht hier in bewußter Parallelisierung zum theoretischen „Ich-denke“ des Selbstbewußtseins bei Kant, welches die Einheit meiner Erfahrungen mittels der Kategorien von Raum und Zeit bündelt und mir die Gegenstände der objektiven Welt als meine Vorstellungen zusammenfaßt, 102 eine Instanz zu kreieren, die die Einheit des Rechts generiert. Und wie der synthetisierende Verstand „ohne Anschauung leer“ bleibt, so Kelsen, ebensowenig steuert die Grundnorm 103 dem je kontingenten Normenbestand etwas Inhaltliches bei: „So wie die transzendental-logischen Bedingungen der Erkenntnis der Naturwirklichkeit in keiner Weise den Inhalt der Naturgesetze, so kann die Grundnorm nicht den Inhalt der Rechtsnorm, bzw. der die Rechtsnormen beschreibenden Rechtssätze bestimmen. So wie man den Inhalt der Naturgesetze nur aus der Erfahrung, so kann man den Inhalt der Rechtssätze nur aus dem positiven Recht gewinnen. Die Grundnorm schreibt dem positiven Recht ebensowenig einen bestimmten Inhalt vor, wie die transzendental-logischen Bedingungen der Erfahrung dieser Erfahrung einen Inhalt vorschreiben.“ 104 Weiter führt er an anderer Stelle aus: „Die Reine Rechtslehre ist (...) eine monistische Rechtslehre. Ihr zufolge gibt es nur ein Recht, das positive Recht. Die von der Reinen Rechtslehre festgestellte Grundnorm ist kein von dem positiven Recht verschiedenes Recht, sie ist nur sein Geltungsgrund, die transzendental-logische Bedingung seiner Geltung und hat als solche keinen ethisch-politischen, sondern einen erkenntnistheoretischen Charakter.“ 105 Hierin offenbart sich ein fundamentaler Unterschied zu Kants Methode: Kant selbst hat die transzendentalen Voraussetzungen der theoretischen Erkenntnis an das Selbstbewußtsein des Menschen geknüpft: an das „Ich-denke“. Der Mensch kann die objektive Welt nur mittels dieses Selbstbewußtseins erkennen. Für den praktischen Bereich hat Kant ein „Ich-handle“ eingeführt.106 Kant hat so die transzendenVgl. auch Höffe (1995: 72). Kelsen (1960: 1). Hierin ähnelt er noch Kant, der gleichfalls „zu aller positiven Gesetzgebung die unwandelbaren Prinzipien“ herausfinden möchte [MS-RL, S.336 (AB 31)], dies jedoch unter dem Aspekt der Legitimität betreibt. 102 Siehe dazu bereits oben, 180. 103 Erst recht hat Schmitt den Begriff des „Naturrechts“ in seiner früheren Schrift – „Gesetz und Urteil“ – offen gelassen (1912: 16): „Es ist möglich, heute vom Naturrecht zu reden, ohne für einen Ideologen oder Phantasten gehalten zu werden (...).“ Weitere Ausführungen zu seinem Verständnis von „Naturrecht“ folgen nicht. 104 Kelsen (1960: 208, dort: Fn. **). 105 Kelsen (1960: 443 f.). 106 Siehe oben, 182 ff. 100 101
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Kap. 3: Systematische Aktualisierung
talen Voraussetzungen des Selbstbewußtseins und der Selbstbestimmung als Ausgangsfrage gewählt; Kant geht vom Menschen aus. In dessen Selbsterkenntnis bzw. dessen Selbstbestimmung bündelt sich die Einheit der Mannigfaltigkeit und Vielfalt der Welt. Kelsen hingegen bezieht die Grundnorm nicht auf die Selbstkonstitution des Menschen; sie ist weder Voraussetzung des Selbstbewußtseins noch der Selbstbestimmung. Der Grundnorm, als transzendental-logische Voraussetzung des juristischen Positivismus entspricht kein „Ich-handle“ oder dergleichen; der Mensch braucht sie nicht zur Selbstbestimmung: Die Norm ist quasi ohne den Menschen konstruiert. Damit ist sie dem Menschen etwas Äußeres. 107 Dies ist eine methodologische Folge Kelsens: Würde man die Grundnorm etwa als transzendentale Voraussetzung eines „Ich-handle rechtlich“ deuten, dann würde sie eine psychologische Bedingung darstellen, die nach Kelsen dem Sein angehören würde. 108 Denn sie würde eine naturwissenschaftlich zu beachtende Kausalbedingung des Handelns betreffen. Die Grundnorm hat ihre einheitskonstituierende Wirkung nur unter dem Gesichtspunkt des Sollens, nicht des Seins. Dadurch wird die Grundnorm ein Artefact. Eine Norm besteht nicht in Raum und Zeit; sie gehört nicht zu den wahrnehmbaren Gegebenheiten der Außenwelt, sondern ist der Sinn eines in Raum und Zeit gegebenen Willensaktes. Bei den mit dem Recht in irgendeinem Zusammenhang stehenden Tatbeständen (z. B. Verwaltungsakt oder Rechtsgeschäft) könne man nämlich stets zwei Elemente unterscheiden: das eine sei ein in Raum und Zeit vor sich gehender, äußerer Vorgang menschlichen Verhaltens; das andere sei dessen rechtliche Bedeutung. Dies läßt sich gut an einem Beispiel illustrieren. Wenn etwa ein Kaufmann einem anderen einen Brief bestimmten Inhalts schreibt und der andere mit einem Gegen-Brief antwortet, dann ist dieses sinnlich wahrnehmbare Geschehen als solches nicht Gegenstand spezifisch juristischer Erkenntnis. 109 Was einen Tatbestand zu einem Rechts- (oder Unrechts-)Akt macht, ist nicht sein kausalgesetzlich bestimmtes Sein, sondern der objektive Sinn, der mit diesem Akt verbunden ist. Diesen objektive Sinn – im Beispiel: daß ein Vertrag geschlossen wurde – erhält der Akt erst durch eine Norm, die sich auf ihn bezieht, so daß er nach ihm gedeutet werden kann. Die Norm fungiert als Deutungsschema. Sie ist für den Menschen Artefact, nicht Konstitutionsbedingung des Selbstbewußtseins, der Selbstbestimmung oder der Selbstverantwortung. Kelsen bezeichnet deshalb die Grundnorm auch als Parallele zu Kants transzendentalem Faktum: „Indem die Norm – in Analogie zu Kants Erkenntnistheorie – die Frage beantwortet, wie es möglich ist, das Sollen, das der subjektive Sinn, und d. h. zwischenmenschliche Beziehungen als Rechtsverhältnisse zu 107 Auch Raz (1974: 104 ff.) hebt hervor, daß im Werk Kelsens stärker der Blickwinkel der Rechtswissenschaft als der des einzelnen Bürgers herausgearbeitet ist. 108 Gerade in dem Fehlen einer geisteswissenschaftlichen Psychologie sieht Heller den Mangel von Kelsens Theorie begründet, vgl. etwa Krisis, Bd. II, S. 16: „Eine Vermittlung zwischen Sein und Sollen gibt es nicht, also, der ‚Reinheit der Methode‘ wegen, auch keine geisteswissenschaftliche Psychologie.“ 109 Beispiel nach Kelsen (1960: 2, 4).
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deuten, stellt sie nichts anderes als die transzendental-logische Begründung der Geltung des positiven Rechts dar.“ 110 Zwei Punkte verdienen an dieser Stelle besonderer Beachtung: – Der objektive Sinn des Aktes ist zu unterscheiden von seinem subjektiven Sinn. Dies zeigt sich beispielsweise in der Figur des Inhaltsirrtums gem. § 119 I Fall 1 BGB. Der Erklärende will das, was er, äußerlich betrachtet, erklärt, doch verbindet er mit dem äußerlich Erklärten einen andere rechtliche Bedeutung: „Der Erklärende weiß, was er sagt, er weiß aber nicht, was er damit sagt“ 111, zum Beispiel: Die Bestellung von „25 Gros Rollen WC-Papier“ (= 3600 Rollen) in der Annahme, es handele sich um „große“ Rollen. Der Besteller will (innerlich) nur 25 große Rollen WC-Papier bestellen. Kelsen selbst nennt ein anderes Beispiel: Ein Schriftstück kann vom Erblasser subjektiv als Testament gemeint sein, während es dieser Qualität – gewisser Formfehler wegen – vom Standpunkt des objektiven Rechts aus ermangelt. 112 – Der Deutung als Rechtsakt liegt eine Entscheidung, ein Wahlakt zugrunde: Ohne die normativitätsstiftende Grundnorm können Zwangsakte nur als Machtakte in den Blick geraten, nicht als Rechtsakte. Ob ich das Recht aus dieser Perspektive deute oder nicht, bleibt aber eine vom Menschen willkürlich bestimmte Entscheidung. Folglich kann das Recht, welches erst durch den gewählten Blick der Grundnorm Normativität erhält, nicht absolute Verbindlichkeit für sich beanspruchen, da es an die Beliebigkeit eines Wahlaktes in Form einer möglichen Deutung geknüpft ist. Deshalb kann das positive Recht, welches erst durch die Grundnorm seine Geltung bekommt, keinen Gehorsamsanspruch begründen, sondern bleibt vom subjektiven Belieben des Betrachters abhängig. 113 Jede juristische Rechtsbetrachtung hängt nach Kelsen von der hypothetischen Annahme der Grundnorm ab: Die Grundnorm „schreibt nicht vor, daß man Befehlen des Verfassungsgebers gehorchen soll. Sie bleibt Erkenntnis auch in ihrer erkenntnistheoretischen Feststellung, daß die Grundnorm die Bedingung ist, unter der der subjektive Sinn des verfassunggebenden Aktes und der subjektive Sinn der Verfassung gemäß gesetzten Akte als ihr objektiver Sinn, als gültige Norm gedeutet wird, auch wenn er von ihr selber so gedeutet wird.“ 114 Festzuhalten bleibt an dieser Stelle: Die Geltung des positiven Rechts beruht auf der Fiktion der Grundnorm. Sie bedeutet, kausale Zwangsakte als normunterstellte Rechtsakte verstehen zu können. Wichtig ist, diesen geltungstheoretischen Blick nicht mit einem legitimationstheoretischen zu verwechseln. Die Allgemeine 110 111 112 113 114
Kelsen (1960 b: 1427). Palandt zu § 119 Rn. 11. Vgl. Kelsen (1960: 2). Vgl. auch H. Dreier (1986: 49 f.). Kelsen (1960: 208).
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Rechtslehre ist keine Rechtsethik. 115 Kelsen meint damit in moralischer Hinsicht, einen Vorteil gewinnen zu können: Nur wenn man das positive Recht von der konventionellen Moral absetze, außerdem die normative Rechtsbetrachtung von der deskriptiven unterscheide, könne man eine Rechtsbestimmung als tatsächlich geltend und zugleich sittlich verwerflich, mithin als ungerecht ansprechen. Die Reine Rechtslehre will einen Rechtspositivismus entwerfen, der eine wissenschaftliche Rechtsdogmatik und komplementär zu ihr eine Gerechtigkeitsbeurteilung ermöglicht. Aus der thematischen Abgrenzung von Kants normativer Rechtsphilosophie wird – inhaltlich – ein fundamentaler Unterschied: Die Gerechtigkeitsperspektive scheidet schon aus dem Programm der Rechtstheorie aus.116 Die konsequente Folge davon ist, daß nach Kelsen jeder beliebige Inhalt zum Rechtsinhalt werden kann: „Es gibt kein menschliches Verhalten, das als solches kraft seines Gehaltes ausgeschlossen wäre, Inhalt einer Rechtsnorm zu sein.“ 117 Da jeder Inhalt in diesem Sinne gesollt ist, kann es keine analytische Verknüpfung zu einer Moral geben – diese müßte sonst auch jeden beliebigen Inhalt haben können –, kraft derer Recht erst verbindlich würde: „Keiner positiven Rechtsordnung kann wegen des Inhalts ihrer Normen die Geltung abgesprochen werden.“ 118 Darin zeigt sich die für ihn charakteristische, rechtspositivistische Trennung von Recht und Moral, als „die wesentlichste Konsequenz des Rechtspositivismus“ 119. Kelsen begründet dies mit seiner Annahme, daß es höchst verschiedene und einander widersprechende Moralsysteme gebe 120 und die gegenteilige These eines moralischen Rechts auf eine unkritische Rechtfertigung der eigenen staatlichen Zwangsordnung hinausliefe. Eine solche Legitimierung des positiven Rechts könne die Rechtswissenschaft nicht leisten. 121
115 Vgl. auch Höffe (1989: 153) und (120): „Während die ‚unwandelbaren Rechtsprinzipien‘ Kants die Legitimität des positiven Rechts betreffen, interessiert sich Kelsen allein für die positive Geltung.“ 116 Zu Kelsens Kritik an Kants Ethik vgl. ders. (1960: 368–374, 420–425). 117 Kelsen (1960: 201). Zu diesem auf den ersten Anschein sehr kritikwürdigen Ansatz vgl. die Bemerkung von Höffe (1989 b: 160): „Setzt man Kelsens rechtsethischen Skeptizismus beiseite und konzentriert sich auf die Theorie positiver Rechtsgeltung, so entpuppt sich der provokative Satz, jeder beliebige Inhalt könne Recht sein, als nicht vollständig, aber weitgehend richtig. Er ist nicht, wie gern behauptet Ausdruck eines radikalen Rechtspositivismus, wiederholt vielmehr die grundlegende Einsicht Hobbes’: Weil das positive Recht nicht dadurch in Geltung tritt, daß es als sittlich richtig erkannt wird (‚non veritas facit legem‘), sondern weil es von der entsprechenden Rechtsautorität beschlossen worden ist (‚sed auctoritas facit legem‘), hat die positive Geltung zunächst keine andere Bedingung als den Willen (und die Macht) der Rechtsautorität. Unter dieser Bedingung kann man aber von keinem Inhalt sagen, er könne nicht Recht werden – außer von den Inhalten, die dem Begriff einer Rechtsautorität prinzipiell widersprechen.“ 118 Kelsen (1960: 224). 119 Kelsen (1965: 468). 120 Kelsen (1960: 403): Er nimmt an, daß tatsächlich sehr viele, verschiedene und einander möglicherweise widersprechende „Gerechtigkeitsnormen“ existieren. 121 Kelsen (1960: 70 f.).
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Die für die Begründung des Rechts ausschlaggebenden Prämissen finden sich in seiner Interpretationslehre wieder: Als Folge seines Dogmas von der prinzipiellen Unwissenschaftlichkeit aller moralischen Argumentation in Verbindung mit der Einsicht, daß die Interpretationsmethoden der Begriffsjurisprudenz keine eindeutigen Ergebnisse liefern, 122 ergibt sich eine Interpretation der Rechtsentscheidung als letztlich willkürlicher „Willensakt“ 123, als „Dezision“ 124. Der Rechtssatz Kelsens kann zwar – ausgehend von der Grundnorm – immer mehr individualisiert werden, indem eine unendliche, weil logisch nicht begrenzte, Vielzahl von tatsächlichen Größen tatbestandsmäßig in Bezug genommen wird, als ein hypothetisches rechtswissenschaftliches Urteil. Konkret wird es erst durch eine Entscheidung, die die Rechtsanwendung vollendet. Nach Kelsens Regelmodell sind nämlich Rechtsanwendungsakte nur zum Teil vorbestimmt. Innerhalb des so eröffneten Ermessensfreiraumes ist jede Entscheidung „richtig“. Prinzipiengeleitete Abwägungen kommen innerhalb dieses Regelmodells des Rechts nicht vor. 125 Dies ist eine konsequente Folge von Kelsens Standpunkt, daß intersubjektiv geltende moralische – d. h. naturrechtliche – Prinzipien nicht ausweisbar sind. Deshalb können sie auch das positive Recht nicht beeinflussen. Damit ist gezeigt worden, daß der Dezision sowohl bei der Begründung als auch bei der Anwendung des Rechts eine Schlüsselrolle in Kelsens Rechtskonstruktion zukommt. Zwar endet auch im Prinzipienmodell die Abwägung mit einer Entscheidung, doch diese ist kategorial verschieden von dem sog. Dezisionismus. Kelsen kommt es darauf an, einen kritischen Standpunkt gegenüber dem positiven, aktuellen Recht einnehmen zu können, d. h. den heteronomen Regeln des Rechts eigene Wertungen entgegensetzen zu können. Prägnant faßt dies Horst Dreier zusammen: „Nicht obwohl, sondern weil die wissenschaftliche Jurisprudenz konkurrierende außerjuristische Imperative nicht anerkennt, kann es zum Konflikt zwischen Rechtspflicht und Moralpflicht kommen, der dann wiederum mit intersubjektiver, wissenschaftlicher Verbindlichkeit nicht zu entscheiden ist: das hat ‚jeder mit sich‘ und seinem Gewissen auszumachen.“ 126 Kelsen setzt also an die Stelle der moralischen Verbindlichkeit keine Dimension einer nebulös gehaltenen rechtlichen Verbindlichkeit, wie es Schmitt getan hat; er setzt Recht nicht absolut, sondern versucht – geradezu konträr – eine Möglichkeit des Subjekts zur Distanzierung von der Rechtsordnung zu schaffen. Anders als Kant sieht er die Möglichkeit zur Distanzierung des Subjekts nicht in dem Rückgriff auf eine Moral und positives Recht verbindende Prinzipienebene, auf die der Einzelne jeweils in der Inanspruchnahme von einer Rechtsposition (sittlich) verpflichtet ist, sondern in einer autonomen Rechtsordnung. Ohne auf eine verbind122 123 124 125 126
Kelsen (1960: 349 f.). Kelsen (1960: 351). H. Dreier (1986: 146); vgl. auch M. Kaufmann (1988: 273 f.). Vgl. Enderlein (1992: 47), M. Kaufmann (1988: 271 ff.) und Sickern (1990: 133 f.). H. Dreier (1986: 195 f.), Herv. im Original, unter Einschluß eines Zitates von Rommen.
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liche Naturrechtsebene zurückgreifen zu müssen, die positives Recht derogieren würde, habe der Mensch so theoretisch die Möglichkeit, sich auch von der Verbindlichkeit der Rechtspflichten zu entbinden, ohne einen sittlichen Verstoß begehen zu müssen. Jedoch kann er nach Kelsen nicht die Geltung der Rechtsnorm bestreiten, denn Kelsen wendet sich dagegen, daß „jedes rechtsunterworfene Subjekt die Geltung des Rechts für sich mit der Begründung aufheben (könne), daß die ihm vom Recht auferlegte Pflicht nicht sittlich sei.“ 127 Die legitimationstheoretische Derogation ist demnach von der geltungstheoretischen zu unterscheiden.128 Hierbei ist zu beachten, daß Kelsen der klassischen Antinomie Naturrecht versus positives Recht verhaftet bleibt. Das von Kelsen stets kritisierte Naturrecht ist ein Modell, welchem legitimes positives Recht genau korrespondieren müßte: „Eine Beurteilung des positiven Rechts als gerecht oder ungerecht erfolgt insbesondere vom Standpunkt der Naturrechtslehre, demzufolge das positive Recht nur gilt, wenn es dem einen absoluten Gerechtigkeitswert konstituierenden Naturrecht entspricht. (...) Wenn die Norm eines positiven Rechts nur insofern gilt, als sie dem Naturrecht entspricht, dann ist, was in der Norm des positiven Rechts gilt, nur das Naturrecht. Das ist in der Tat die Konsequenz einer Naturrechtslehre, die neben, ja über dem positiven Recht die Geltung eines Naturrechts behauptet, und dabei den Geltungsgrund des positiven Rechts in diesem Naturrecht sieht. Das heißt aber: daß, dieser Theorie nach, in Wahrheit nur das Naturrecht, nicht das positive Recht als solches als gültig angesehen werden kann.“ 129 Damit wendet er sich gegen ein hierarchisches Regelmodell des Naturrechts, dem genau eine positiv-rechtliche Regelung entsprechen würde. Demgegenüber entwirft er ein Modell des positiven Rechts, das von allen Fesseln der Sittlichkeit befreit ist, um das positive Recht gegebenenfalls einer radikalen Kritik unterwerfen zu können. Dieses Recht nennt er „dynamisch“ 130, weil es nur der Geltung durch die Grundnorm verpflichtet ist; tertium non datur. Das Prinzipienmodell, wie es oben für Kants Lehre herausgearbeitet worden ist, welches Kriterium für die Gültigkeit des positiven Rechts, zugleich aber Hilfe für die notwendige Anwendungskonkretisierung des Rechts ist, verkennt er. 131 Seine Kritik wendet sich gegen ein Naturrechtsmodell der mathematischen Bestimmbarkeit der Rechte, das eher dem bereits erwähnten Konzept von John Locke als dem von Kant gleicht: „Der Naturrechtslehre zufolge gilt Recht, weil sein Inhalt dem Naturrecht als eine Norm absoluter Gerechtigkeit entspricht. 132 Kelsen (1960: 468). Vgl. auch Jesch (1961: 436): „Wer sich gegen ungerechtes Recht auflehnt, leugnet nicht seine Geltung, sondern bekämpft es gerade wegen dieser Geltung, um es zu verändern.“ 129 Kelsen (1960: 359), Herv. im Original. 130 Kelsen (1928: 292). 131 Zu diesem Resümee gelangt auch Ott (1992: 264), der einer starken Version des Naturrechts (d. h. Naturrecht derogiert positives Recht) eine schwache Version gegenüberstellt (d. h. Naturrecht ist ein Maßstab zur Bewertung des positiven Rechts). 132 Kelsen (1960 b: 1427). 127 128
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Als eine weitere Folge seiner Anschauung ergibt sich seine Blindheit gegenüber dem reformerischen, dynamischen Gehalt dieser Prinzipien. Insbesondere das „suum cuique tribuere“ hat nach Kelsen einen konservativen Charakter. 133 Dies mag auf ein „statisches“ 134 Naturrechtsmodell, in Form eines Regelmodells zutreffen, nicht jedoch auf ein Prinzipienmodell, da im Gegenteil in dieser Arbeit gezeigt werden konnte, daß hierin der dynamische Charakter des Rechts enthalten ist, sowohl bei der Begründung als auch der Anwendung der positiven Rechtsgesetze. Sein scheinbar argumentativer Vorteil durch die Kontrastierung zweier reiner Modelle die Idee plastisch anschaulich darzustellen (Regelmodell des positiven Rechts und Regelmodell des Naturrechts), ist damit teuer erkauft.135 Der Preis liegt in der Nichteinbeziehung der Modelle, die zwischen diesen beiden Positionen liegen. 136
2. Die Grundnorm als Voraussetzung der Einheit der Rechtsordnung und nicht des Menschen Die Grundnorm ist nach Kelsen Voraussetzung für die Einheit der Rechtsordnung. Sie ist dagegen keine Bedingung für die Einheit der Person. Bei Kelsen kommt der Mensch als Ganzes – als Einheit –, ganz ähnlich wie bei Schmitt, nicht in den Blick; er scheidet ihn aufgrund seiner methodologischen Prämissen aus der Betrachtung aus: Der Mensch als psycho-physischer Organismus, welcher der Welt des realen Seins angehört, darf nach Kelsen nicht mit dem ideellen Bedeutungsinhalt des Rechtsbegriffs „Person“ gleichgesetzt werden und kann nicht als angebliches Rechtssubjekt Angelpunkt der Rechtsordnung sein, weil der Rechtsbegriff „Person“ in normativer, lediglich den Bereich des reinen Sollens intendierender Sicht nur eine Funktion des Rechts bezeichnen kann. „Rechtsperson“ ist also nicht anderes als der Inbegriff aller hypothetischen Urteile, die das Verhalten des Menschen zum Inhalt haben. Damit wird der Begriff zu einer Art Metapher zur Bezeichnung der Einheit des Normbereichs und hat die Funk133 Kelsen (1960: 367); vgl. auch die weiteren Ausführungen von H. Dreier (1986: 171 m. w. N.). 134 Kelsen (1928: 292). 135 Vgl. auch Höffe (1989: 154): „Vielleicht hat Kelsen die Bedeutung der Differenz, die zwischen einer Legitimationstheorie (‚Rechtsethik‘) und seiner Geltungstheorie des Rechts (‚Allgemeine Rechtslehre‘) besteht, nicht klar genug gesehen, weshalb er aus Angst, andernfalls den rein positiven Rechtsbegriff zu gefährden, den Gerechtigkeitsstandpunkt insgesamt verworfen hat.“ 136 Ähnlich Höffe (1989: 123): „Die Antinomie der Rechtstheorie läßt sich auflösen, sobald man das Verhältnis von (positivem) Recht und (kritischer) Moral bzw. politischer Gerechtigkeit nicht länger unter der einfachen Alternative ‚Trennung (= Positivismus) oder Einheit (= Moralismus)‘ diskutiert, man also die beiden Positionen nicht mehr als strenges Entweder-Oder auffaßt, statt auf beiden Seiten eine schwächere Lesart gegen eine stärkere Deutung absetzt.“
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tion als „anthropomorphe“ 137 Kennzeichnung einer Teilrechtsordnung im Ganzen des funktionalen Stufenbaus des Rechts zu dienen: „In diesem Sinne kann man sagen, daß die physische Person ein Komplex von Rechtsnormen ist, und zwar der Inbegriff all jener Rechtsnormen, die das Verhalten eines Menschen – sei es als Pflicht, sei es als Berechtigung – zum Inhalt haben.“ 138 Weiter führt Kelsen aus: „Gegenüber dem Gesamtsystem der Rechtsnormen, der Totalrechtsordnung, stellt die physische Person ein mehr oder weniger willkürlich abgegrenztes Teilsystem, eine keineswegs absolut, sondern nur relativ selbständige Teilrechtsordnung dar. Bezeichnet man das Rechtssubjekt als ‚Träger‘ dieser Teilrechtsordnung (...), so ist das nur eine Personifikation dieser Teilrechtsordnung selbst.“ 139 Mittels der Rechtsnorm als Deutungsschema wird der faktische Willensakt, dieses subjektive Wollen eines Menschen, einer Rechtsperson als objektiv gesollt zugerechnet. 140 Die Zurechnung ist die Verknüpfung, die nicht zur kausalgesetzlich bestimmten Seinswelt gehört. 141 Die Deutung betrachtet also den subjektiven Sinn eines Willensaktes, das intentionale Verhalten eines Menschen, und subsumiert ihn unter eine Norm. 142 Damit stellt die Norm für Kelsen den objektiven Sinn eines Willensaktes dar. Nicht der Willensakt des faktischen Menschen als solcher, sondern sein objektiver Sinn mache die Norm im eigentlichen Sinne aus. Insofern die Handlung durch die Deutung in einen Rechtsakt verwandelt, d. h. in einen Tatbestand des objektiven Gesollten transformiert wird, besteht die Möglichkeit, dieses sog. rechtliche Wollen – womit nach Kelsen explizit „nicht der Wille des Menschen gemeint ist“ 143 – einer (Rechts-) Person zuzurechnen: „Zugerechnet wird der den Zwangsakt bedingende Tatbestand der physischen Person als der Einheit einer Teilordnung, der das Verhalten eines Menschen – im bedingenden Tatbestand – normierenden Rechtsnorm.“ 144 Norm ist somit für Kelsen kein soziales oder physisches Faktum, sondern ein objektives Deutungsschema, welches an ein Faktum herangetragen wird. Damit ist die Person im Recht – ganz ähnlich wie bei Schmitt – von der moralischen Dimension abgeschnitten und in den Staat als Rechtsordnung eingeordnet. Doch besitzt bei Kelsen nur die (Rechts-)Person diesen Status, nicht der Mensch, dem bei Schmitt die wesentliche Rolle zufällt, das Sein zu verkörpern, um so die Verbindung von Sein und Sollen theoretisch herstellen zu können.
Kelsen (1925: 62). Kelsen (1925: 63). 139 Kelsen (1925: 64). 140 Vgl. R. Dreier (1981: 249). 141 Vgl. Kelsen (1960: 79 ff.). 142 Vgl. auch Stemmer (2001: 838 ff.), der versucht anhand von Kelsens Deutungsakt die Grundstruktur des moralischen Pflichtbegriffs herauszuarbeiten. 143 Kelsen (1925: 65). 144 Kelsen (1925: 66). 137 138
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3. Die Identität nach Kelsen Kelsen isoliert den einzelnen Menschen von allen absoluten Werten, die ihn bei der Inanspruchnahme von Rechten leiten könnten: So bleibt nur die relativistische, überdies dezisionistische 145 Antwort übrig, daß jeder seine Wahl treffen müsse und „niemand anderer, nicht Gott, nicht die Natur und auch nicht die Vernunft als objektive Autorität sie abnehmen“ 146 könne. Der Gehalt dieser Aussage wird jedoch in seiner ganzen Tragweite erst dann erkennbar, wenn man Kelsen in seinem Identitätsmodell zu Ende denkt (dazu ausführlich unten, Seite 249 ff.) und wenn man sein Identitätsmodell mit der verantwortenden Entscheidung nach Heller konfrontiert. 147 Doch zunächst soll Kelsen selbst zu Wort kommen: Da Kelsen kein moralisch verbindliches Recht kennt, kann es den Menschen nicht anleiten und infolgedessen auch keine Entlastungsfunktion einnehmen, 148 weder in sozialer noch in individueller Dimension. Wenn für jeden Menschen die Nichtverbindlichkeit des positiven Rechts ersichtlich ist, wäre mit Kelsen die Antwort Shylocks auf seine Kritiker: weil ich ein Recht habe, oder in Shylocks Worten: „Daß mir’s so ansteht“ 149, keine kommunikationsbeendende, legitime Antwort. Weil das positiv gesetzte, allseits variable, jederzeit änderbare und kontingente Recht nicht mehr von einer „selbstverständlichen Autorität sittlicher Traditionen zehren“ kann, 150 versagt die exkulpierende Berufung auf eine ihm innewohnende und fundierende Gerechtigkeit. Dies gilt sowohl für den Gesetzgeber als auch für den Rechtsadressaten bzw. Anspruchsinhaber eines Rechts, d. h. sowohl in der individuellen als auch in der sozialen Dimension. Fraglich ist, ob es nach Kelsen überhaupt eine legitime Antwort Shylocks geben könnte, denn Kelsen setzt für seine Rechtslehre ein radikal subjektivistisches und individualistisch entworfenes, autonomes Subjekt voraus. 151 Wurde dargestellt, daß 145 Die Dezision – als nicht weiter aufklärbarer Akt – ist von Kelsen vor allem in Zusammenhang mit der Rechtsinterpretation eingeführt worden: „In der Anwendung des Rechts durch ein Rechtsorgan verbindet sich die erkenntnismäßige Interpretation des anzuwendenden Rechts mit einem Willensakt, in dem das rechtsanwendende Organ eine Wahl trifft zwischen den durch die erkenntnismäßige Interpretation aufgezeigten Möglichkeiten. (...) Durch diesen Willensakt unterscheidet sich die Rechtsinterpretation durch das rechtsanwendende Organ von jeder anderen Interpretation.“ 146 Kelsen (1960: 442). Vgl. auch H. Dreier (1986: 231): „Die Entscheidung, ob dem positiven Recht zu folgen sei, wird mit der rechtswissenschaftlichen Qualifizierung als ‚Recht‘ in keiner Weise präjudiziert, sie bleibt vielmehr – ohne daß die Reine Rechtslehre hierbei irgendeine Hilfestellung leisten könnte – als letztlich unbegründbare Dezision dem Urteil des Einzelnen anheimgestellt.“ 147 Dazu unten, 256 ff. 148 Vgl. auch H. Dreier (1986: 241). 149 Dazu bereits oben, 199 ff. 150 Habermas (1995: 266); vgl. auch Ellscheid (1979: 51). 151 Vgl. hierzu die Kritik von Heller, Krisis, S. 28 Fn. 81: „Daß diese das Kelsensche System fundierende Auffassung nicht dem heutigen Stande der Wissenschaft entspricht“; und die Kritik
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selbst bei Kant – entgegen vielstimmiger Kritik 152 – bereits die intersubjektive Perspektive angelegt ist, so trifft auf Kelsen der „Atomismus“-Vorwurf zu. 153 Dies folgt daraus, daß Kelsen die Idee der Menschheit sowohl als Grund wie auch als Inhalt aus dem Recht, ja sogar ganz aus der Theorie, verbannt und an seine Stelle einen Wertrelativismus setzt. Es gebe keine bestimmenden Gründe, derer sich der Einzelne sicher sein kann. Der Rechtsanspruch sei für den Einzelnen reine Möglichkeit, keine Verpflichtung vom Standpunkt des Rechts aus. Doch entgegen der oben aufgezeigten Kantischen Konstruktion wird die „Möglichkeit“ nicht durch Rechtsprinzipien angeleitet, die bei Kant, als korrespondierende innere Rechtspflichten, die Dynamik des Rechts in seiner sittlichen Zielbestimmung erklären. Wie schon Schmitt bleibt auch Kelsen bei seinen Betrachtungen eine Antwort auf die Frage, warum es überhaupt Recht geben soll, schuldig. Indem er das Recht als Quasi-Natur begreift, kann er dafür keine Begründung liefern, ebensowenig wie eine normative Begründung für die Existenz der Natur-Welt möglich wäre. Positives Recht ist eben nur das Ergebnis einer möglichen Deutung von faktischen Abläufen. Eine Begründung kann auch nicht von der Moral gegeben werden. Dafür müßte diese allgemein-verbindlich sein, um zu einer allgemeinen Begründung zu taugen. Kelsen bleibt seinem Relativismus verhaftet. Damit verbliebe als Erklärungsmuster nur noch die historische Dimension, die als kausalgesetzliches Sein nach Kelsen keinesfalls ein „Sollen“, auch kein moralisches „Sollen“, produzieren kann. Er bietet auch keine Lösung für das Problem an, welche Bedeutung Recht für das Individuum hat. Diese Frage und deren Antwort verbannt er in die seiner Ansicht nach kausalgesetzlich funktionierende Psychologie154: Motivationales Handeln sei allein als ein „Kausalverhältnis“ zu untersuchen. 155 Er verkennt dabei die für eine Identität konstituierende Werteausrichtung, d. h. die Gerichtetheit auf normative Leitwerte, die über den momentanen Stand hinauszielen: „Ideale“.156 Zwar benennt von H. Dreier (1986: 290): „Die nicht nur für uns heute entscheidende Frage dürfte aber sein, ob eine derartige Vorstellung menschlicher Subjektivität und Individualität, von Autonomie und Selbstbestimmung überhaupt noch angemessen oder nicht bereits hoffnungslos antiquiert ist.“ 152 Der Vorwurf von Heller in Fn. (oben) bezieht sich eigentlich auf Kant und erst in der Schlußfolgerung auf Kelsen. 153 So schon Alexander Hold-Fernek: „Insofern (...) macht sich in der Lehre (...) die atomistisch – individualistische Einstellung geltend“ [zitiert nach Kelsen (1926: 23)]. Kelsen hat in seiner Erwiderung gegen die polemische Streitschrift Hold-Ferneks leider hierauf nicht eingehend geantwortet. 154 Kelsen (1960: 25): „Von einem psychologisch-soziologischen Standpunkt aus gesehen, ist die Funktion einer jeden gesellschaftlichen Ordnung: ein bestimmtes Verhalten der Menschen, die dieser Ordnung unterworfen sind, herbeizuführen (...). Diese motivierende Funktion leisten die Vorstellungen der Normen, die bestimmte menschliche Handlungen gebieten oder verbieten.“ 155 Kelsen (1926: 10). 156 In diese Richtung zielte schon die Kritik von Heller, Staatslehre, S. 100: „Weil der Mensch durch diese Normenvorstellungen und wesentlich durch sie zum Menschen wird, nennen wir ihn wesensmäßig utopisch. Es ist deshalb verfehlt (...) mit Kelsen ein Reich des Seins
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auch Kelsen die Ausrichtung auf Werte und Normen, jedoch nur als kausalgesetzliches Sein. Eine Verbindung zwischen der spezifischen Verbindlichkeit des Sollens und dem Sein kann er nicht herstellen. Er kann mithin nicht klären, woher der Mensch die Dynamik erlangt, mit der er sein Rechtssystem weiterentwickelt. 157 Dies führt auch dazu, daß ihm die Bausteine fehlen, das Selbst des Menschen zu bilden, welches er doch immer in dem autonomen Subjekt voraussetzt. 158 Dies ist die methodische Folge seiner strikten Trennung von Sein und Sollen. Erst recht bleibt ihm damit versagt, eine normative Begründung für subjektive Rechte abzuliefern: Ein subjektives Privat-Recht im technischen Sinne liegt für ihn dann vor, wenn die Rechtsordnung einem Individuum die Rechtsmacht verleiht, durch gerichtliche Klage die Nichterfüllung einer ihm gegenüber bestehenden Rechtspflicht geltend zu machen: 159 Das „Recht (ist) nur ein Reflex dieser Pflicht.“ 160 Rechte bestehen nicht wegen des Menschen, der als ihr Inhaber angesehen wird, sondern zur Durchsetzung von Rechtspflichten. Der Inhaber des Rechts ist nach Kelsen Objekt der Rechtspflicht: „Da das Reflexrecht mit der Rechtspflicht identisch ist, kommt das Individuum, dem gegenüber die Pflicht besteht, da es nicht Subjekt dieser Pflicht ist, rechtlich als ‚Subjekt‘ nicht in Betracht.“ 161 Schon bei Kants Rechtskonstruktion konnte gezeigt werden, wie sich jede Rechtsverletzung sowohl am subjektiven Recht als auch am objektiven Recht ausweisen läßt, was überhaupt erst die Frage aufkommen ließ, warum es denn subjektive Rechte gäbe. Da Kelsen das Recht ganz von der Pflicht her bestimmt, die Pflicht im moralischen Sinn aber aus der Perspektive des Rechts nicht verbindlich ist, kann dies erst recht nicht das subjektive Recht selbst sein. Von daher sind Kelsens ausführliche Erörterungen über das subjektive Recht als Dürfen, Können oder Sollen, hier nicht ausgiebig zu analysieren, weil sie von vornherein keine legitimierende Verbindlichkeit für die Person des Rechtsinhabers bei der Rechtsdurchsetzung haben können. Da es nach seiner Theorie noch nicht einmal subjektive Rechte geben muß, könnte nach seiner Ansicht theoretisch sogar ganz auf subjektive Rechte verzichtet werden, 162 denn jedes subjektive Recht sei zugleich als Pflicht des Gegenüber ausweisbar. 163 und der nur kausalen Natur, das auch die Gesellschaft umfaßt und durch die naturwissenschaftliche Methode der Soziologie bestimmt wird, gegenüberzustellen einem Reich des reinen Sollens und der nur normativen Geltung, dem angeblich Staat und Recht angehören.“ 157 Vgl. zu der fundamentalen Rolle von Geltungsansprüchen bei der Konstituierung der Lebenswelt auch Habermas (1992: 23 ff.). 158 Vgl. auch H. Dreier (1986: 293), der bemängelt, daß Kelsen „ein extrem hohes Maß an subjektiver Freiheit und Autonomie voraussetzt, ohne daß die dafür unerläßlichen präpolitischen Voraussetzungen angemessen diskutiert und als notwendige Determinanten des radikal subjektivistischen und individualistischen Entwurfs in einen umfassenderen gesellschaftstheoretischen Kontext gestellt worden wären.“ 159 Kelsen (1960: 149). 160 Kelsen (1960: 133). 161 Kelsen (1960: 134). 162 Vgl. Kelsen (1923: VII f.). 163 Vgl. Kelsen (1923: 568 ff.).
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Die konstituierende Funktion der Rechte bekommt er so nicht in den Blick, weil er diesen in seinem Vokabular keine Stelle zuordnen kann. Nur der Vollständigkeit halber sei deshalb bemerkt, daß Kelsen der Ansicht ist, jede Handlung könne einer juristischen Bewertung unterzogen werden, wie er in Auseinandersetzung mit der Theorie seines Lehrers Jellinek vertritt. Jellineks Ausgangspunkt sei, so Kelsen, unter der Kategorie der Erlaubnis nur rechtlich relevante Handlungen zu verstehen. Kelsen vertritt dagegen eine weite Auffassung seiner Kategorie des „Dürfens“, welche der Erlaubnis ähnelt: „Als erlaubt hat alles zu gelten, was nicht verboten ist, das heißt mit keiner Handlungsfolge versehen ist.“ 164 In dieser Hinsicht ähnelt Kelsen also ganz deutlich dem oben herausgearbeiteten Standpunkt von Kant, nur sind Kelsens Kategorien um ihren sittlichen Gehalt gekürzt. In Verbindung mit der dargestellten Ablösung der juristischen Person von der moralischen und sogar von der natürlichen Person 165 löst sich das subjektive Recht damit auch von seiner Funktion als Schutz von subjektiver Freiheit ab. Da es keine Begründung für Rechte gibt, kann es auch keine normative, rechtliche Begründung für die Durchsetzung von Rechten geben. 166 Das Rechtssystem ist in diesem Sinne vollkommen autonom 167 und muß mit seiner selbsterzeugten Fiktion der „Rechtsperson“ auskommen. Hier treffen sich Kelsen und Schmitt, denn auch nach Schmitt ist die Welt des Rechts eine „abgeschlossenen Welt“ 168, die nicht nur gegenüber der Wirklichkeit, sondern auch gegenüber der Moral „Autonomie“ besitzt: 169 „Kein Rechtssatz macht die Existenz eines subjektiven Kelsen (1923: 635). Kelsen (1926: 12): „Der Begriff des Menschen, der ein Begriff der Biologie, Physiologie, Psychologie, also ein Begriff der kausalen Naturwissenschaft ist, (ist) auf das schärfste von dem Begriff der Person zu trennen.“ Und weiter heißt es dort: „Diese Einsicht wird dadurch einigermaßen getrübt, daß das Rechtssubjekt mit dem Menschen identifiziert wird. Und scheint nicht tatsächlich der Mensch das Subjekt des Rechts zu sein? Steht nicht der Mensch dem Recht gegenüber, sind nicht Recht und Mensch zwei verschiedene Gegenstände? Allein, nähere Untersuchung zeigt, daß der Mensch, der ein vom Recht wesensverschiedener Gegenstand ist, nämlich der Mensch der Biologie und Psychologie, tatsächlich auch nicht zum Recht in solcher Beziehung steht, daß ihn Rechtswissenschaft überhaupt erfassen könnte. Nicht den Menschen, sondern die Person macht sich die Rechtswissenschaft zum Objekt. Und die Unterscheidung von Mensch und Person bildet eine der bedeutendsten methodischen Erkenntnisse dieser Wissenschaft. Trotzdem sie allenthalben seit jeher betont wird, ist man doch noch weit entfernt, alle Konsequenzen dieser Einsicht zu ziehen.“ 166 Vgl. H. Dreier (1986: 231), der zu einer ähnlichen Einschätzung für die Rechtspflicht kommt: „Die Entscheidung, ob dem positiven Recht zu folgen sei, wird mit der rechtswissenschaftlichen Qualifizierung als ‚Recht‘ in keiner Weise präjudiziert, sie bleibt vielmehr – ohne daß die Reine Rechtslehre hierbei irgendeine Hilfestellung leisten könnte – als letztlich unbegründbare Dezision dem Urteil des Einzelnen anheimgestellt.“ (Herv. nicht im Original). 167 Zur Autonomie des Rechts bei Kelsen vgl. auch H. Dreier (1986: 103): „Erst aufgrund des Abstrahierungsprozesses des Rechts selbst (von der Vernunft, Moral, Natur, Ethik; Anm. von M. S.), vermag die Rechtswissenschaft autonom zu werden.“ 168 Schmitt (1914: 2 f.). 169 Vgl. Schmitt (1914: 11, 37, 67). 164 165
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Rechts resp. einer fremden Pflicht von dem Nachweis eines psychologischen Interesses abhängig oder fordert eine solchen Nachweis für die Geltendmachung.“ 170 Kelsen eröffnet den Weg zu einer funktionalistischen Auffassung subjektiver Rechte auf einem ganz anderen Weg als Carl Schmitt. So ermöglicht er Shylock in der von Shakespeare inszenierten Tragödie, einen (hypothetischen) Weg einzuschlagen, auf dem er sich selbst mittels des amoralischen Rechts (durch das Behelfsmittel der juristischen Fiktion – Personifikation) aus der Verantwortung für die Rechtsdurchsetzung nehmen kann: „Nicht selten bedient man sich auch einer (Personifikation) (...) und läßt den Vertrag fordern, fordert namens des Vertrages, als Vollstrecker, Organ gleichsam dieser Ordnung, dasjenige, woran man höchstselbst interessiert ist. Besonders dann, wenn die vereinbarte Vertragsordnung ein Verhalten statuiert, das gegen die Normen der Moral, der Billigkeit, der Liebe usw. verstößt. Der Vertrag, nicht Shylock ist grausam.“ Das hätte zur Folge, allein dem Vertrag die Verantwortung für seinen ungerechten Gehalt aufzubürden. Diese Folgerung sieht auch Kelsen und fährt sogleich kritisch fort, daß der Mensch sich mit der Abwälzung auf eine (konstruierte) Rechtsperson sich seiner Verantwortung entledigen möchte: „auf die Schulter aller, die durch die personifizierte Ordnung zur Gemeinschaft konstituiert werden.“ 171 Also fällt nach diesem Verständnis Kelsens Shylock selbst in den Focus der Kritik zurück: Die Distanz des Menschen zur Rechtsordnung soll nicht nur der Kritik des objektiven Rechts dienen, sondern der Einzelne ist aufgerufen, die Wahl über die Inanspruchnahme des Rechts moralisch durchzuführen. Denn bei Kelsen ist ein Systemfunktionalismus, der sich durch seine methodischen Entscheidungen von allen normativen Betrachtungen entlastet, noch nicht vorhanden. 172 Indem der Einzelne gerade keine moralische Entlastung erfährt und daher seine Entscheidung bspw. nicht auf Gott, die Natur und die Vernunft schieben kann, ist er radikal gefordert. Nur bleibt bei Kelsen unklar, woraus der einzelne dann Gewißheit erlangen kann, daß er autonom handelt und dieser Verantwortung irgendwie gerecht wird. Kelsen hat beispielsweise dem Gefühl der Achtung, das bei Kant eine konstitutive Rolle spielt, keine Beachtung geschenkt. Für den Umgang der Menschen untereinander stellt sich die Rechtsanwendung damit immer nur als kausalgesetzlich bestimmte Interaktion durch Zwang dar; dies ist eine Folge davon, daß die Durchsetzung eines Rechts zwischen den Menschen als bloßes Sein zur (Nicht-) Geltung kommt. Recht ist damit aus der Sicht der betroffenen Menschen immer zugleich Möglichkeit und Beschränkung von Zwang. Nach Kant ist für die Interaktion im Recht wesentlich, daß sie gleichzeitig durch faktischen Zwang wie auch durch legitime Geltung (Verbindlichkeit) geregelt ist. Nach Kant sind Rechtsgesetze immer zugleich Zwangsgesetze und Gesetze der Freiheit; sie müssen aus „Achtung vor dem Gesetz“ befolgt werden können. Hand170 171 172
Kelsen (1923: 574). Kelsen (1925: 67). Zur Funktionalisierung von subjektiven Rechten, vgl. J. Schmidt (1971: 383 ff.).
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lungskonflikte müssen, auch wenn sie im Medium des positiven Rechts geregelt werden, stets beachten, daß ein Potential besteht, die (Selbst-)Achtung nicht zu gefährden, sondern im Gegenteil zu gewährleisten. In der Durchsetzung seiner Rechte hat der Mensch immer zugleich den anderen Menschen in seiner Würde mitzureflektieren, weshalb das Rechtsverhältnis als ein wechselbezügliches gedeutet werden kann. Nur auf diese Weise kann er in der Rechtsdurchsetzung Selbstbestimmung erfahren, ein Gefühl der Selbstachtung ausbilden und damit seine Identität gewinnen. Zwar geht auch Kelsen – anders als Schmitt – von dieser Möglichkeit aus. Sie ist ihm jedoch theoretisch vorenthalten. Damit verbaut er sich den Weg, die Bedeutung des Rechts für das Individuum zu erschließen. 173 Als Antwort auf die Frage nach den bestimmenden Gründen für eine Identität ergibt sich nach Kelsen letztlich nur eines: Dezision zu sich selbst. Die Trennung von Recht und Moral führt zur Autonomie des Rechts. Dies bedingt zugleich die Autonomie des Individuums. Wie diese Autonomie sich herstellen soll, bleibt im ganzen jedoch unklar. Kelsen trifft der volle Solipsismus-Vorwurf: Neben dem monologischen Denken ist seine Theorie auch auf monologisches Handeln ausgerichtet, die wechselbezügliche Perspektive im Recht bekommt er nicht in den Blick, weil er dem positiven Recht zugrunde liegende Prinzipien in seinem reinen Regelmodell aus dem Recht verbannt. Die Autonomie bleibt einer unbegründbaren Dezision vorbehalten. Handeln muß damit ohne praktische Vernunft auskommen. Von daher ist seine Theorie auf eine individuelle Verwirklichung des Rechts angelegt. Kelsens Theorie führt zu einer individualistischen Ausrichtung, weil die für die Moral und das Recht konstitutiven, basalen verbindenden Prinzipien in prometheischer Absicht aus der TheorieKonstruktion ausgeschlossen werden. Damit steht Kelsen vor dem Problem eines absoluten Subjektivismus, der ohne moralische und rechtliche Hilfestellungen auskommen muß und Begründungen allein dezisionistisch herbeiführen kann. Die autonome Gewissensmoral des Subjektivismus ist eine konsequente Folge des Ausschlusses der wechselseitigen Perspektive, die ihrerseits aus der Verbannung der basalen Rechte resultiert. Festzuhalten bleibt: Ebenso wie Schmitt geht Kelsen auf der Suche nach der Einheit der Rechtsordnung die Einheit des Menschen verloren. Indem die Konstitutionsbedingungen der Rechtsordnung nicht zu den Bedingungen menschlicher Einheit gezählt werden, wird der Bezug zum Recht ein Wahlakt, der auch für die Selbstbestimmung selbst ein Wahlakt bleibt. Kelsen bleibt damit nur noch eine Möglichkeit übrig, die Einheit von Recht, Moral und Identität in einem gemeinsa173 Von einer anderen Warte aus kommt Ott (1992: 266 f.) zu einer ähnlichen Einschätzung und Schlußfolgerung wenn er seine intensive Auseinandersetzung mit dem Rechtspositivismus bedenkt: „An eine Naturrechtslehre (...) ist daher nicht die Frage zu stellen: Ist sie wahr oder ist sie richtig?, sondern: Was würde die Befolgung dieser Philosophie für unser Leben (...) bedeuten? (...) Eine Rechtsphilosophie, insbesondere eine Naturrechtslehre, ist also dann akzeptabel, wenn sie sich durch ihre praktischen Konsequenzen bewährt.“ (Herv. im Original).
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men Modus zu sehen: Dezision, die selbst nicht mehr an ein verbindendes Prinzip rückgebunden ist. 174 Das Problem der Formalisierung des Rechts und der damit einhergehenden Dekontextualisierung der Rechtsregeln kann trotz des Stufenbaus der Rechtsordnung nur mit einer erheblichen Schwierigkeit eingekauft werden: der Dezision. 175 Ungelöst bleibt dabei die Anwendung des Rechts. Denn der situative Kontext fordert immer eine Anpassung des Rechts in seiner Anwendung, die allein durch die Moral bzw. durch Prinzipien der Rechtsordnung angeleitet werden kann, wenn nicht eine absolute Willkür in dem eröffneten Spielraum die Alternative sein soll. Wenn allgemeine Prinzipien nicht ausgewiesen werden können, bleibt nur noch der Rückgriff auf die dezisionistische Willkür eines letztlich identitätslosen Individuums, wie sich aus den Ausführungen des nächsten Abschnitts ergibt. 176
4. Die dezisionistische Identität nach Kelsen als Vorbote der postmodernen Identität Wie eine solche dezisionistische Identität aussehen könnte, wird in der aktuellen Diskussion unter dem Stichwort: „Postmoderne Identität“ diskutiert. 177 Diese wird wie folgt definiert: „(...) bei der sogenannten postmodernen Identität (handelt es sich) um eine erweiterte Form der aus freier Wahlentscheidung hervorgegangenen, vielfältigen Identität des modernen Ich, eine erweiterte Form, die Instabilität und raschen Wandel und damit jene Bedingungen akzeptiert, welche für das moderne Ich ein Problem darstellten, weil sie Angst machten und eine Identitätskrise heraufbeschworen.“ 178 Der Diskurs der Postmoderne begrüßt die „Auflösung des Selbst“ als Befreiung von falschen Sicherheiten: von den Fesseln des substantialisierten Denkens, der Ordnung, der Vernunft. 179 Er verabschiedet sich von der Wahrheit der 174 Von daher ist nicht überraschend, daß ein Anhänger der rechtspositivistischen Systemtheorie, der eine absolute Trennung von Recht und Moral vertritt, um so das kritische Reflexionspotential der Moral gegen das positive Recht mobilisieren zu können, einer Interpretation der kantischen Rechtslehre folgt, die auch bei Kant, entgegen der in dieser Arbeit aufgezeigten Interpretation, eine Trennung von Recht und Moral annimmt; vgl. Krawietz (1987: 248 ff.). 175 Zu anderen Anwendungsproblemen der Normlogik Kelsens vergleiche insbesondere die Ausführungen von Ott (1992: 238 ff.). 176 Wenn versucht wird zu zeigen, daß das Prinzipienargument nicht zur Widerlegung der Trennungsthese führen würde [vgl. Ott (1992: 178 ff., insbes. 185 f.)], dann wird immer die Bedeutung der Prinzipien für die Identität verkannt. Dies verlangt freilich die Zuordnung von Recht und Moral, um den Gesichtspunkt der Identität zu erweitern. 177 Vgl. bspw. Kellner (1994: 214 ff.) m. w. N., und Bruder (1993: 136 ff.). 178 Kellner (1994: 235), Herv. nicht im Original. 179 Kritische Anmerkungen und weitere Nachweise zu der Diskussion, die auch unter dem Schlagwort vom „Tod des Subjekts“ geführt wird, finden sich bei Langbehn (2001: 131 ff.), der sich auf die geschichtliche Dimension dieses Topos konzentriert, jedoch nicht bis zum französischen Poststrukturalismus/Postmoderne vorrückt. Nach Langbehn ist die Floskel vom „Tod
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„großen Erzählungen“ 180, vom Totalitarismus ihrer Weltentwürfe. Er setzt statt dessen auf den Plural der „kleinen“ Erzählungen, der Verständigung, der „bricolage“, des Spiels und besteht auf der Heterogenität jeder Wahrheit, dem Provisorischen und Fragmentarischen, den Vielheiten und Differenzen, dem Unsteten und Fließenden, dem Vermischten. 181 Der Verlust der Einheit und Ganzheit, die „Dezentrierung des Subjekts“, wird als das Freiwerden einer Vielzahl eigenständiger Lebensformen, Denkweisen und Handlungsentwürfe begrüßt. 182 Der gemeinsame „Nenner“ ist nicht mehr nur nicht da, sondern wird erst gar nicht gesucht. Demgegenüber wird die ideale Wahlentscheidung für die moderne Identität durch Prinzipien geleitet. Die Orientierung an Normen bildet den Fixpunkt der Lebensführung. Dadurch ist die Einheit der Identität möglich. Das Modell einer postmodernen Identität ist hingegen der Versuch, die Einheit der Identität hinsichtlich der zeitlichen Kontinuität aufzulösen. 183 Was unter dem Leitbild der modernen Identität als „Identitätskrise“ aufgefaßt würde, ist unter diesem Leitmodell dem Postulat zu einer vielfältigen Identität gewichen: „frei, individuell, vielfältig“. 184 Dies soll eine Problemlösung dafür anbieten, daß „die modernen Gesellschaften an Geschwindigkeit, Ausdehnung und Komplexität zunehmen“ 185. Gemäß dem Modell der modernen Identität noch als pathologisch festgestellte Befunde, wie die Struktur einer multiplen Persönlichkeit, also eine „schizoide Spaltung in der Identitätskonstruktion“ 186, werden sozusagen wegdefiniert. 187 Dafür ist allerdings ein hoher Preis zu bezahlen. Nach Douglas Kellner dürfte „die Moral dieser Geschichte in dem Gedanken liegen, daß man, wenn man seine Identität nach Belieben wechselt, die Kontrolle verlieren und zu einer pathologisch gespaltenen Persönlichkeit werden kann, die unfähig zu autonomen Denken und Handeln ist.“ 188 Die „postmoderne Vorstellung einer Vielfachidentität“ 189 ist konsequenterweise nach Kellner ein „konstruiertes Artefakt“ 190. Die Freides Subjekts“ eine maßgeschneiderte Antwort, um die Bedürfnisse eines „innovationsbedürftigen Marktes“ zu befriedigen (ebd. 131). 180 Lyotard (1986: 13). 181 Bruder (1993: 139). 182 Vgl. Welsch (1987). 183 Vgl. Kuhlmann (1994: 21); vgl. auch Derrida (1991: 51); zu Derrida vgl. Reinhardt (1998: 971 ff.). 184 Kuhlmann (1994: 26). 185 Kellner (1994: 217). 186 Kellner (1994: 229). 187 Meine ablehnende Haltung gegenüber diesem postmodernen Verständnis besagt nicht, daß ich Änderungen der Lebensgeschichte und somit eine gewisse Identitätswahl ablehne; vgl. zu diesem Verständnis bspw. die Ausführungen von Habermas (1976: 93): „Die gelungene IchIdentität bedeutet jene eigentümliche Fähigkeit sprach- und handlungsfähiger Subjekte, auch noch in tiefgreifenden Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur, mit denen sie auf widersprüchliche Situationen antwortet, mit sich identisch zu bleiben.“ 188 Kellner (1994: 230). 189 Kellner (1994: 230). 190 Kellner (1994: 230).
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heit der Wahlentscheidung wird nur noch als Willkürfreiheit verstanden, nicht als Selbstbestimmung im Kantischen Sinne. 191 Das untrügliche Fundament verschwindet mit der Nichtanerkennung des Moral- bzw. Rechtsgesetzes. Indem das Individuum für seine Reflexion keine feste Basis mehr findet, wird es ihm unmöglich, eine distanzierende Einstellung zur aktuellen Handlungssituation einzunehmen. Dies ist die Konsequenz des „Relativismus“ 192, der manchen postmodernen Theoretikern symptomatisch für unsere gegenwärtige Situation erscheint. 193 Für die identitätssichernde Legitimationsbasis fehlt jegliches Äquivalent postmetaphysischen Zuschnitts. 194 Nicht zuletzt wird Friedrich Nietzsche von den „Apologeten“ der Postmoderne herangezogen, um den modernen Nihilismus zu erklären.195 Freilich wird die von ihm postulierte Kulturprognose von ihnen positiv aufgefaßt: Das postmoderne Ich sei „vielfältiger, vergänglicher und offener“ 196, da es nicht mehr an dominierende Werte rückgebunden ist. Freiheit sei niemals als Selbstbestimmung im Kantischen Sinne, sondern nur mehr als Willkür möglich: Wenn in Verlängerung der Kulturdiagnose Nietzsches davon auszugehen ist, daß sich die Gesellschaft in einem Zustand der moralischen Beliebigkeit befindet, dann kann es umgekehrt auch kaum mehr eine gerechtfertigte Möglichkeit geben, für den eigenen Beurteilungsmaßstab objektive Gültigkeit zu beanspruchen; jede Auszeichnung der individuellen Maßstäbe muß dann vielmehr als eine moralische Setzung gelten, die ebenso willkürlich wie alle anderen ist. Bei Nietzsche hatte dies allerdings noch eine pejorative Bewertung: der Nihilismus als psychologischer Zustand sei der Grund, daß der Sucher nach einem Sinn „endlich den Mut verliert (...). Was ist geschehen? Das Gefühl der Wertlosigkeit wurde erzielt, als man begriff, daß weder mit dem Begriff ‚Zweck‘, noch mit dem Begriff ‚Einheit‘, noch mit dem Begriff ‚Wahrheit‘ der Gesamtcharakter des Daseins interpretiert werden darf. Es wird nichts damit erzielt und erreicht; es fehlt die übergreifende Einsicht in der Vielheit des Geschehens: der Charakter des Daseins ist nicht ‚wahr‘, ist falsch (...), man hat schlechterdings keinen Grund mehr, eine wahre Welt sich einzureden (...). Kurz: die Kategorien ‚Zweck‘, ‚Einheit‘, ‚Sein‘, mit denen wir der Welt einen Wert eingelegt haben, werden wieder von uns herausgezogen – und nun sieht die Welt wertlos aus.“ 197 Wenn Werte für die Identitätskonstituierung notwendig sind, dann bekommt auch Hellers Äußerung von der 191 Vgl. auch Kellner (1994: 229): „Die moderne Identität war eine ernste Sache, sie war mit fundamentalen Wahlentscheidungen verbunden, die definierten, wer man war (...); die postmoderne Identität ist eine Funktion der Freizeit, sie gründet im Spiel.“ 192 Kellner (1994: 234); kritisch auch Honneth (1994 b: 29): „nicht mehr durch ein Anwachsen von Atomisierung und Entzweiung, sondern durch den Verlust an ethischen Orientierungen überhaupt soll der Prozeß gekennzeichnet sein, der in der ethischen Krise der Gegenwart zum Ausbruch kommt.“ 193 Vgl. etwa Jameson (1986: 45 ff.), m. w. N. 194 Vgl. auch Honneth (1994 c: 13). 195 Zum Nihilismus vgl. den Exkurs bei Schnädelbach (1988: 203 ff.) und Honneth (1994 b: 26 ff.). 196 Kellner (1994: 236). 197 Nietzsche, zit. nach Schnädelbach (1994: 203).
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„lebensgefährlichen“ Bedrohung der Lebensphilosophie Nietzsches198 eine insofern verständliche Bedeutung, nämlich wenn man das „Leben“ als Identität in dem hier gezeigten Sinn versteht. Anfang des 20. Jahrhunderts bestimmte der „Wertemangel“ die Forschungsperspektive einer Vielzahl von Soziologen, Rechtswissenschaftler und andere Geisteswissenschaftler. Max Weber bspw. folgte Nietzsche in seiner Kulturdiagnose und folgerte daraus die Relativität der Werturteile. Zwar sei ein bestimmter Gegenstandsbereich nur im Lichte bestimmter Werte zu erschließen, aber über die subjektive Wertbindung sei zumindest Rechenschaft abzulegen. 199 Es war der Versuch, einen Weg zwischen Nietzsche und Kant zu finden. 200 In diese Bresche schlug bereits der oben erwähnte Gustav Radbruch: 201 Nach ihm gehört das Recht in den Bereich der (Werte-)Kultur und bedarf insofern der wertbezogenen Betrachtung des kulturellen Gegenstandes Recht. Die Beziehung des Rechts auf die Idee der Gerechtigkeit für die Erkenntnis der Kulturgegebenheit ‚Recht‘ ist unverzichtbar. Aus der Idee der Gerechtigkeit kann der apriorische Rechtsbegriff abgeleitet werden, der bei aller Betrachtung des Rechts ‚transzendental‘ vorauszusetzen ist. Hieraus lassen sich nach Radbruch bestimmte Kategorien des Rechts entwickeln, die von jedem Rechtssystem erfüllt werden müssen. Über die transzendentale Prinzipienebene der Gerechtigkeit sind Recht und Moral, letztlich auch die Identität, verbunden. Ihre Relation bestimmt nach Radbruch die Zugehörigkeit zu einer der oben aufgeführten Weltanschauungen, wobei er selbst für eine transpersonalistische Zuordnung votiert. Kelsen versucht in diesem zeitlichen Umfeld, eine Theorie der Rechtserkenntnis zu finden, die ohne (materielle) Werte auskommt. 202 Nurmehr die Grundnorm sei die (formelle) Erzeugerin von Geltung. Wie gezeigt, läuft dieses Modell in allen Bereichen auf letztlich dezisionistische Entscheidungen zu, die keine Anleitung durch Prinzipien erfahren. Er bürdet dem einzelnen Subjekt eine Verantwortlichkeit auf unter Wegfall jeglicher institutionalisierter Entlastungsmechanismen. Damit hat er sich schon früh die Kritik eingehandelt, er verlange nach dem „rationalistischen Übermenschen“ 203. Im Konflikt zwischen verschiedenen Pflichten ist Kelsens Subjekt ohne Entlastungsmechanismen vollkommen auf sich allein gestellt. Nicht einmal in der sozialen Dimension kann sich der Mensch durch die rechtlichen Regeln entlasten. 204 Heller, Staatslehre, 17. Vgl. dazu Brugger (1980) und Honneth (1994 b: 32) m. w. N. 200 Vgl. etwa Weber explizit zu Nietzsche (1991: 21 f. und 27) und explizit zu Kant (34); zur Wertlehre insgesamt: Schnädelbach (1988: 205 ff.). 201 Dazu Radbruch (1956). 202 Vgl. auch schon den programmatischen Titel der Schrift von Schmitt: „Die Tyrannei der Werte“ (1960); dazu instruktiv: M. Kaufmann (1988: 113 ff.). 203 Vgl. E. Kaufmann (1921: 30). 204 H. Dreier (1986: 240) veranlaßt dies zu der Schlußfolgerung, Kelsen in diesem Aspekt in die Nähe des Existentialismus von Sartre zu stellen. 198 199
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Vor dem Hintergrund der Kantischen Theorie ist eine Alternative zur Dezision, die auch die gesuchte Einheit des Menschen erklären kann, auf kontexttranzendierende Normen angewiesen, in denen sich Recht, Moral und Identität verbinden. In deren Anwendung – gerade in der konkreten Situation – findet sich dann die Einheit. Von daher bietet sich für die vorliegende Arbeit nicht die moderne, aktuelle Unterscheidung von kommunitaristischen versus liberalistischen Theorien an. Denn ihre Differenz liegt mehr in der Begründung für kontextübergreifende Normen. Beide Theorieansätze treffen sich in der Unterstellung von kontextübergreifenden bzw. kontexttranzendierenden moralischen Normen, die für die Konstituierung eines „Selbst“ als notwendig anerkannt werden, 205 wenngleich die frühere Kritik der Kommunitaristen ebenfalls darin wurzelte, den Liberalisten einen atomistischen Personenbegriff zu unterstellen, in dem menschliche Subjekte als kommunikationslose Entscheidungsträger mit rationalen Entscheidungskalkülen vorgestellt wurden. 206 Das hat sich geändert, weil das intersubjektivitätstheoretisch erweiterte Konzept der menschlichen Person „im Fortschritt der Debatte eigentlich nicht mehr umstritten“ 207 ist. Die Kontrahenten stimmen zumindest darin überein, Recht und Moral in einer gemeinsamen Begründungsstrategie zu einen. Kelsen kann also die Voraussetzungen des moralischen Ich, welches eine reflexive Haltung zum positiven Recht einnehmen soll, nicht erklären. Seine Theorie müßte konsequenterweise eine sog. „postmoderne Identität“ postulieren. Damit würde die Gespaltenheit des modernen Ich, die ein Resultat der eigenen willkürlichen und vielfältigen Identitätskonstituierung ist, wegdefiniert. Die pathologische Diagnose unter dem kritischen Blick der Moderne würde dem offenen Blick der Postmoderne auf dieses Ich weichen. Nur würde Kelsen auf diesem Wege nicht zu dem autonomen Ich kommen, welches er in Fortsetzung der Kantischen Tradition doch als menschlichen Träger seiner Theorie ansieht. Nur das autonome Individuum kann die Reflexion über den Umgang mit Rechten vollziehen, die Kelsen letztlich vorschwebt. Was Kelsen für seine (Rechts-)Konstruktion bleibt, ist ein Individuum, das in seiner Selbstbezüglichkeit konsequenterweise in der Rechtsanwendung diesen Freiraum als Orientierungsrahmen nutzt, ohne ihn auf moralische Prinzipien zu hinterfragen. Von daher gewinnt die Kantische Prämisse, daß Recht aus der Außenperspektive allein legales Befolgen erfordert, eine neue Dimension: Das Recht bildet damit weniger einen (Rechts-)Freiheitsraum für die moralische Entfaltung der Selbstbestimmung des Subjekts, also einen Bereich, über den es nur selbst bestimmen kann, sondern im Zuge der postmodernen Theorien hat sich hierfür ein ästhetischer Begriff der individuellen Freiheit breit gemacht, 208 der sich auch in die Konstruktion Kelsens einpassen würde: Er erlaubt in dem Zerfall der interaktionsstiften205 Vgl. einerseits Walzer und andererseits Habermas, zu beiden vgl. die Analyse von Forst (1994: 24), der die Übereinstimmung beider Ansätze in dieser Hinsicht aufzeigt. Beide Ansätze lehnen die Annahme eines atomistischen Subjekts zugunsten eines intersubjektiven Subjekts ab. 206 Vgl. beispielsweise die Kritik von Taylor (1988). 207 Honneth (1993: 10). 208 Vgl. etwa Baudrillard (1983).
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den Bindungskräfte, die in der wechselbezüglichen Perspektive der Moral und dem Recht Kantischer Prägung eingebaut sind, die Chance einer spielerischen Entfaltung von individuellen Besonderheiten, von „Differenz“ 209 zu sehen. An die Stelle der Idee der Selbstbestimmung, die in der Kantischen Tradition den theoretischen Bezug auf ein Ziel des Lebens voraussetzt und damit die (praktische) Einheit des Subjekts anleitet und fordert, tritt die Vorstellung der experimentellen Selbsterfindung des Menschen: „der Versuch, das eigene Leben als Kunstwerk zu gestalten.“ 210 Es geht „nicht (um) die Entdeckung der Prinzipien, denen wir uns anpassen müssen, als Paradigma der Selbsterkenntnis (...), sondern (um) die Entdeckung jener Zufallsmaterialien, aus denen wir uns aufbauen müssen.“ 211 Dieses ästhetische Modell der Selbstfindung vollzieht sich nach den postmodernen Theoretikern solipsistisch. 212 Wieder wird Nietzsches Philosophie – seine Theorie des Übermenschen – als normatives Leitbild verwendet, die aber um den elitären Gehalt ihrer Aussage gekürzt wird: Alle menschlichen Wesen werden darin als Wesen vorgestellt, deren Freiheitsmöglichkeiten sich dort am ehesten verwirklicht finden, wo sie unabhängig von normativen Erwartungen und Bindungen zur kreativen Hervorbringung immer neuer Selbstbilder in der Lage sind. Natürlich ist dieses ästhetische Selbstverständnis nicht das ästhetische Verständnis Kants. Die postulierte Orientierung an Neigungen und Wünschen wäre nach Kant schlicht unmoralisch, eine pathologische Bestimmung durch Willkür. In Kants Handlungstheorie ist dieses Ästhetikverständnis nicht miteinzubeziehen. 213 Wenn die Steigerung der persönlichen Freiheit darin gesehen wird, immer neue Selbstbilder zu entwerfen, dann löst sich die Anwendung des Rechts vollkommen von der Moral und hängt nur noch von dem aktuellen Selbstbildnis des jeweiligen Rechtsanwenders ab. Das Alltagsleben wird nicht mehr nach moralischen, autonomen Maßstäben beurteilt, sondern nach ästhetischen Gesichtspunkten,214 oder um eine andere Beschreibungsweise zu übernehmen: nach Erlebnissen. 215 Die Moral und somit auch das Gewissen verlieren bei der Handlungsorientierung ihre leitende Zu diesem Begriff vgl. etwa Derrida (1986: 83 ff.). Rorty (1988: 55). 211 Rorty (1988: 57). 212 So auch Honneth (1994 c: 17). 213 Zur Ästhetik bei Kant vgl. auch Gondek (1994: 133 ff.), der das Erhabene in Kants Ästhetik „als ein Instrument der Selbsterkenntnis, zur Sonderung und Sondierung des inneren Vermögen“ beschreibt (141). Ganz anders etwa Rorty (1988: 62): „Solche Kritiker betonen, ebenso wie ich selbst, die Verbindung zwischen einem pragmatischen Modell-Ansatz im Hinblick auf Natur und Ich und dem ästhetischen Streben nach neuen Erfahrungen und neuer Sprache“ (Herv. nicht im Original); einen Versuch, die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant herauszuarbeiten, unternimmt Recki (2001), insbesondere S. 223 ff. 214 Vgl. Werner (2002): „Die Entwicklung strebt dahin Gut und Böse, Wahrheit und Lüge weniger als sittliche, denn als farbliche Valeurs zu nehmen.“ 215 Vgl. Schulze (1992) und (1994: 80 f.), der eine „minimalistische Ethik der Selbstreflexion“ gegen den „freien Fall“ der Orientierungslosigkeit fordert. Als Leitbild skizziert er den „sich selbst orientierenden Menschen“. 209 210
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Funktion. Die Rechtsanwendung wird damit mehr am Ziel der Erlebnissteigerung bemessen, welcher von persönlichen Neigungen und Wünschen dominiert wird. In einer überspitzen Formulierung könnte das dann bedeuten: „Ich bin ein Ich, weil ich Prada trage und nicht Armani“ 216. Wenn ich gerade Prada trage, gehe ich mit meinen Rechten anders um, als wenn ich Kleidung mit dem Label von Armani angezogen habe. Damit müßte die grundlegende Zuordnung von Rechtskriterien nunmehr unter dem Gesichtspunkt Recht und Ästhetik vollzogen werden, statt Recht hinsichtlich seines Verhältnisses zur Moral zu bestimmen. Diese Konsequenz wird aber aus guten Gründen nicht gezogen. Die dezisionistische Entscheidung für den permanenten Wechsel der Identität bedingt die Aufgabe der kontinuierlichen Identität zugunsten einer „ästhetischen Identität“. Paul Virilio skizziert hierzu ein Bild der postmodernen Identität, welches er konsequenterweise „Rasender Stillstand“ nennt:217 Demnach bleibt in einer ungegliederten Umgebung das Ich der einzige Bezugspunkt. Dieses Ich vermag sich in keinem raumzeitlichen Kontinuum mehr zu lokalisieren, sondern erfährt sich als leeren, ortlosen Bezugspunkt der auf ihn einstürzenden Bilder seiner Umgebung. Das Ego ist nach Virilio als Fluchtpunkt aller Bilder ein leerer Pol ohne Bodenhaftung und Selbstgefühl. Ob mit Virilio das Ich als leerer Fluchtpunkt skizziert oder selbst aufgelöst wird, beide Anschauungen treffen sich in der Analyse, daß die Einheit des Ichs in der raumzeitlichen Struktur schwindet. Damit geht sein Schreckensszenario des postmodernen Identitätsbildes noch über das Kantische Bild der „Marionette“ hinaus, 218 denn diese hätte wenigstens noch ein Bewußtsein von dem, was um sie herum passiert, wenn auch keine Steuerungsmöglichkeit. Dieser Abgesang an die Einheit der Identität mag nicht dem Bild Kelsens entsprechen, das er sich selbst von der Persönlichkeit des Menschen gemacht hat. Vor allem basiert seine ganze sittliche Theorie auf dem Gewissen des Einzelnen (dazu oben). Jedoch sollte in dem kurzen Abriß über die postmoderne Identität gezeigt werden, wohin letztlich die Herausnahme der grundlegenden einheitsstiftenden, sittlichen Prinzipien führen kann. Nur indem bei der Rechtsanwendung die grundlegenden Prinzipien wieder in das erweiterte Rechtsverständnis hineingenommen werden, kann die Formalisierung des Rechts bei dem Aufbau einer Identität kompensiert werden. Damit ist die Stärke der Formalisierung des Rechts zugleich seine große Schwäche. 219 Als Ergebnis kann damit festgehalten werden, daß nach der hier vorgenommen Interpretation die Trennung von Recht und Moral in Kelsens Modell folgenreiche Konsequenzen für die Identität nach sich zieht, über die er sich vermeintlich selbst 216 Vgl. wiederholt den gleichnamigen Artikel von Assheuer (2000: 43), Herv. nicht im Original. In diese Richtung zielt auch die Bemerkung aus dem Film „Fight Club“, der eine Kritik der neuesten Zivilisationsverhältnisse und Sinnverluste Amerikas darzustellen versucht: „Ich blättere durch Möbelkataloge und frage mich, welches Geschirr mich als Person definieren könnte.“ 217 Virilio (1992). 218 Vgl. oben, 182 ff. 219 Vgl. auch Eckensberger/Breit (1997: 258).
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nicht im klaren war. 220 Kelsen hält im Unterschied zu Schmitt an dem freien Subjekt fest. Sein Problem liegt gerade in dieser Voraussetzung, die er mit seiner Trennung von Recht und Moral nicht erklären kann. Über die Hintertreppe der Identitätskonstituierung schleicht sich so die Gefahr ein, die der oben bereits erwähnte Rechtstheoretiker Hart für den Rechtspositivismus der Trennungsthese ausgemacht hat: 221 Ein Rechtsmodell, welches auf einem ästhetischen Freiheitsbegriff aufbaut, birgt die Gefahr, daß Recht nur mehr als Zwangsordnung gesehen wird, welche allein dem Nutzenkalkül für die momentane Selbstfindung ihrer Adressaten folgt. Recht wird in einem solchen System damit Handlungsordnung mangels alternativer Werte und verwirklicht sich nur durch Zwang und Egoismus, nicht jedoch durch Einsicht.
IV. Hermann Heller: Einheit in der Vielheit oder „in die Mitte hindurch“ Hermann Heller wählt einen anderen Weg als seine beiden Zeitgenossen der Weimarer Zeit. Dies zeigt sich zunächst in seinen methodischen Reflexionen. Anders als Schmitt und Kelsen geht er nicht von absoluten Gegensätzen „zwischen Sein und Sollen, zwischen Recht und Moral, zwischen Individualität und Gemeinschaft“ (Staat), aus. Die Grundsätze dieses Methodendualismus will er auch nicht durch einen Methodenmonismus überwinden. 222 Er versucht statt dessen diese Antinomie der Methoden aufzulösen und die Bedingungen ihrer Einheit herauszuarbeiten:223 „Philosophieren heißt jede gedankliche Stellungnahme zur Welt als Einheit.“ 224 Und weiter heißt es dort: „Schon daraus geht hervor, wie völlig ungeeignet der undialektisch gewiß völlig absolute Gegensatz von Sein und Sollen (...) ist.“ 225 Hellers erklärtes Ziel ist, die Konstitutionsbedingungen von Einheit zu analysieren. Wenn er dabei zwar vorwiegend den Prozeß staatlicher Einheitsbildung vor Au220 Aber auch für Kelsen gilt, was Ott (1992: 165) indirekt als den Prüfstein der Philosophie bezeichnet: „Der Rechtsphilosoph sollte versuchen, solche Konstrukte zu ersinnen, die er auch angesichts der aus ihnen zu ziehenden Folgerungen verantworten kann. Er müßte sie also dadurch überprüfen, daß er ihren Konsequenzen nachgeht und zusieht, ob er diese akzeptieren kann.“ (Herv. im Original). Von daher ist es eigentlich verwunderlich, daß die Theoretiker der Postmoderne noch nicht Kelsen für ihre Annahmen entdeckt haben, ganz im Gegenteil zu Schmitt, der etwa von Derrida (1991: 67) als der „große, konservative, katholische Jurist“ beschrieben wird, „der zu seiner Zeit (Benjamins) noch Konstitutionalist war, dessen seltsame Bekehrung zum Hitlerismus im Jahre 1933“ Derrida aber erstaunt – m. E. in Verkennung der Frühwerke, denn dann wäre es auch für Derrida nicht mehr so „seltsam“. 221 Siehe oben, S. 16 ff. 222 Zu diesen Begriffen vgl. König (1999 b: 223). 223 Die Schwierigkeit im Umgang mit Hermann Heller für eine genaue Untersuchung seines Werkes bringt Robbers (1993: 71) auf den Punkt: Heller „ist eher und bewußt ein Eklektiker und Synkretist, der aus verschiedenen Quellen schöpft und diese zusammenbringt.“ 224 Heller, Staatslehre, S. 73. 225 Heller, Staatslehre, S. 72.
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gen hatte, so hat er die Einheit der Person berücksichtigt. Für beide Einheiten skizziert er ein Modell der wechselseitigen Verschränkung.
1. Methode: In der Dialektik die Einheit finden Das Verständnis der spezifischen dialektischen Methode Hellers ist der Schlüssel zu seinem Werk. Trotz zahlreicher Bezugnahmen auf Georg W. F. Hegel versteht er hierunter nicht die Trichotomie i. S. v. Hegel, also den Dreischritt: Thesis, Antithesis und Synthesis. Sondern in einem ursprünglichen Sinn bezeichnet Heller mit Dialektik die Struktur eines aus widersprüchlichen Elementen bestehenden Zusammenhanges. Heller faßt hierunter die Einheit der Gegensätze zusammen. Dabei beschäftigt die Grundfrage der Dialektik, wie Identität im Übergang der zeitlichen Veränderung gedacht werden kann, auch Heller in seiner Suche nach der „Einheit in der Vielheit“ 226: „Einigkeit herrscht darüber, daß der Staat eine irgendwie geartete ‚Einheit in der Vielheit‘ darstellt. Je nachdem, welche Bedingungen für das Entstehen und Bestehen dieser Einheit in der Vielheit als wesentlich erkannt werden, danach wird differierend das Wesen des Staates bestimmt.“ 227 Heller konzipiert die Einheit in der Vielheit als eine Art transzendentales Gesetz der Kontinuität einerseits des Staates und andererseits des einzelnen Individuums, wobei beide Konstituentens auf den gleichen Prinzipien beruhen und über die wechselseitige „reziproke Verbundenheit“ 228 miteinander verschränkt sind. Heller stellt damit eine gewichtige Behauptung auf: Die Einheit des Staats/Rechts und die Einheit des Menschen in der gemeinsamen geschichtlichen Situation bedingen sich gegenseitig. Mit der dialektischen Methode versucht Heller, das „Spannungsverhältnis“ 229, in dem der Mensch lebt, aufzuzeigen. Damit verbindet er gleichzeitig die Aufforderung an den Menschen, dieses Spannungsverhältnis auszuhalten, nicht aufzulösen. Dies ist die Crux seines dialektischen und methodischen Verständnisses, welches sein gesamtes Modell der Einheitsbildung durchzieht. Der Mensch lebt, weil er sich verweltlicht hat, „unausweichlich in der polaren Spannung“ 230. Ähnlich wie schon bei Kant in der Kritik der reinen Vernunft 231 ist die Dialektik ein Mittel, erklärbare, aber nicht auflösbare Widersprüche aufzuzeigen. Eine Einheit ist in dieser „antagonistischen Struktur“ 232 selbst zu finden und zu bilden: Dieses Verhältnis wird nicht im Sinne von Hegels Trichotomie auf einer höheren Stufe aufgelöst, um Heller, Staatslehre, S. 260; Krisis, II, S. 29. Heller, Krisis, II, S. 29. 228 Heller, Staatslehre, S. 111. 229 Heller, Staatslehre, S. 224. 230 Heller, Fascismus, II, 305. 231 Vgl. Höffe (1996: 34): Nach Kant lassen „sich die einzelnen Antinomen zwar durch schauen, aber nicht aufheben; die Dialektik wird zu einem Konstitutionsmerkmal der menschlichen Vernunft, zum Signum ihrer Endlichkeit.“ 232 Heller, Staatslehre, S. 218. 226 227
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Kap. 3: Systematische Aktualisierung
es dann wiederum neu entstehen zu lassen, 233 sondern die Entwicklung verläuft ständig zwischen zwei Polen. Der Mensch muß sich für die Einheit stets aufs Neue entscheiden. 234 Die Entscheidung ist bei Heller, anders als bei Schmitt oder Kelsen, nicht dezisionistisch angelegt, im Sinne einer willkürlich herbeizuführenden Entscheidung, sondern als eine anhand von Prinzipien angeleitete Abwägungsentscheidung. 235 Die Aufgabe der Wissenschaft besteht deshalb darin, „Maßstäbe für die Richtigkeit und Verbindlichkeit“ 236 der Entscheidungen auszuweisen; denn gerade in den Prinzipien finden die Einheiten sowohl ihre Konstitutionsbedingungen als auch ihre Verbindung untereinander. Entscheidender Unterschied zu den Ansätzen von Schmitt und Kelsen ist damit Hellers Gemeinsamkeit mit Kant: Kant und Heller halten daran fest, den Geltungsmaßstab von Recht und den Entscheidungsprozeß im Recht der Vernunft unterzuordnen. Damit ist das Ziel verbunden, sich von einem Wertrelativismus zu entfernen: In Anspielung auf ein von Kelsen gewähltes Beispiel behauptet er: Die „Diebesbande und Mörderorganisation“ 237 seien trotz ihrer staatsähnlichen Organisationsform nicht legitimierbar, weil staatlicher und verbrecherischer Befehl nicht strukturgleich seien. 238 Sein methodisches Verständnis wird in der Übernahme einer Position des „Neukantianers“ Emil Lask deutlich; diese benutzt er, um so zu einer pointierten Kritik Kelsens zu finden: „Lask hatte aber festgestellt, daß der Kopernikanische, dem die Wirklichkeit als Erzeugnis kategorialer Synthese gilt, in allen Kulturwissenschaften, ganz besonders aber in der Rechtswissenschaft seine ganz bestimmten Grenzen hat, daß die Problematik der Rechtswissenschaft gerade in der eigentümlichen Durchdringung von Empirie und ideeller Bedeutungsforschung gelegen ist.“ 239 Anstatt also das Sein oder das Sollen als Faktum bzw. Quasi-Faktum der transzendentalen Methode zu bestimmen, das bei Kelsen zu der Konsequenz eines Artefakts 233 Vgl. Hegel, Logik, S. 99: „Dialektik aber nennen wir die höhere vernünftige Bewegung, in welche (...) schlechthin getrennt Scheinende durch sich selbst, durch das, was sie sind, ineinander übergehen, die Voraussetzung sich aufhebt.“ 234 In diesem Sinne auch Schluchters Interpretation des Menschenbildes bei Heller (1968: 157): „Weil der Mensch sich immer von neuem verwirklichen muß, ist er zur Geschichte gezwungen. Und darin offenbart sich zugleich die Tragik, in die menschliche Existenz verstrickt bleibt: mit jeder Entscheidung sich aus dem Entscheidungszwang befreien zu wollen und doch immer wieder in ihn zurückfallen.“ Vgl. hierzu auch die Konzeption von Brugger (diese aber nicht explizit an Heller angelehnt): „Das anthropologische Kreuz der Entscheidung“ (1996 b: 674 ff.), der eine vertikale und eine horizontale Achse aufzeigt, die das Entscheidungsbild des Menschen kennzeichnet. 235 Schluchter (1968: 177) votiert für den Begriff der „Option“: „Der optierende Charakter, der dem politischen Willen eignet, unterscheidet es von theoriegesteuerter Praxis und von willkürlichem Dezisionismus. Im Gegensatz zum Dezisionismus ist die Option rational vermittelt.“ Zu diesem Unterschied vgl. auch Enderlein (1992). 236 Heller, Staatslehre, S. 14. 237 Heller, Staatslehre, S. 245. 238 Vgl. Kelsen (1960: 8 und 45 f.); dazu auch Höffe (1989: 153). 239 Heller, Krisis, S. 19; zu der allgemeinen Bedeutung von Emil Lask für die damalige Zeit vgl. auch H. Dreier (1986: 78 ff.).
IV. Hermann Heller: Einheit in der Vielheit
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der rechtlichen Perspektive führte, weil Recht nur noch ein reines Konstrukt ist, nimmt Heller die als „Seinsollende“ 240 bezeichnete Wirklichkeit zum Gegenstand der Erkenntnisforschung: Die „seinsollende“ Einheit des Menschen und die „seinsollende“ Einheit des Staates. Hatte Heller zu Beginn seiner Überlegungen sich noch an Webers und Jellineks Begriff des Idealtypus angenähert, 241 scheint ihm diese Erkenntnismethode als gesellschaftliche Abstraktion zu sehr einer Fiktion aufzusitzen. Das Faktum, welches er zu begreifen sucht – um in der Kantischen Terminologie zu verbleiben –, ist die Wirklichkeit der Einheit, die ihn dazu tendieren läßt, hierfür den „Gestalt“-begriff zu verwenden. Mit dem Gestaltbegriff sollen einseitige Tendenzen des Gesetzes- oder Individualbegriffes vermieden werden. 242 Die Gestalt ist für Heller eine Einheit von Allgemeinem und Besonderem, sie sei allgemeines Gesetz und einzelne Individualität zugleich. Gerade darin offenbart sich für ihn die dialektische Methode in ihrer Funktion, die Gegensätze aufzuweisen und zu zeigen, daß sie aufeinander angewiesen sind und zusammen ein unteilbares Ganzes ausmachen. Die Gestalt müsse von der Wirklichkeitswissenschaft, der Strukturwissenschaft und der Kulturwissenschaft einheitlich betrachtet werden; 243 diese drei Wissenschaftscharaktere der Staatslehre seien unmittelbar aufeinander bezogen. 244 Heller verspricht sich davon eine „Immanenzauffassung“ 245 der Wirklichkeit, d. i. „eine menschliche Deutung“. Unter menschlicher Deutung versteht er nicht einen „Wahlakt“ iSv. Kelsen, also einen Menschen, der die Wahl hat, sich die gegebene Welt (das Sein) mit der Brille der geltungsstiftenden Grundnorm anzusehen, um so die rechtliche Einheit zu konstruieren; sondern der Mensch selbst ist Ausgangspunkt seiner Wirklichkeitsbetrachtung, ist Konstitutuum und Konstituens der Wirklichkeit: 246 „Aber nicht nur die Umwelt des Menschen, sondern der Mensch selbst muß, sofern er als ein gesellschaftliches Wesen und damit als ein Stück Kultur begriffen werden soll, als ein durch menschliche Zweckformung Gewordenes und immer neu Heller, Krisis, S. 30. Vgl. Heller, Ideenkreise, I, S.270 und 271: „(...) solche politischen Ideale sind begrifflich faßbar nur in Form des Idealtypus.“; dazu: Robbers (1983: 27). 242 Vgl. Heller, Staatslehre, 79 f.: „In mancher Beziehung leistet der Gestaltbegriff das gleiche wie der idealtypische Begriff. (...) Die besondere Gestaltqualität aber, welche der Begriff des Typus nicht mehr deckt, hat v. Ehrenfels am Beispiel der transponierten Melodie anschaulich gemacht. In ihr ist an der Summe der ‚Elemente‘ nichts gleichgeblieben, und doch wird die Melodie als identische erkannt. Die Melodie darf also nicht gedacht werden als sich sekundär auf der Summe der Einzelstücke aufbauend, sondern wir müssen annehmen, daß das, was im einzelnen vorhanden ist, schon wesentlich davon abhängt, wie sein ganzes ist.“ Zu dem Gestaltbegriff vgl. die kritischen Anmerkungen von Waechter (1994: 120). 243 Vgl. Robbers (1983: 20). 244 Vgl. Heller, Staatslehre, S. 44 ff., 50 ff., 62 ff. 245 Heller, Staatslehre, S. 49. 246 Vgl. Robbers (1983: 17) und (37): „Während eine transzendente Erklärung den Staat auf übernatürliche Kräfte, insbesondere auf göttlichen Willen zurückführt, bildet für das Immanenzdenken die menschliche Natur die allein maßgebende Erklärungsgrundlage für den Staat.“ 240 241
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Kap. 3: Systematische Aktualisierung
Werdendes verstanden werden.“ 247 Heller identifiziert damit den Menschen als die (oben) gesuchte Bedingung, nach der sich das Wesen des Staates bestimmen läßt. Die erste Frage aller Staatslehre sei die Frage nach der Natur des Menschen.248 Danach wird der Mensch erst „durch Normvorstellungen“ zum Menschen, insoweit nennt Heller ihn „wesensmäßig utopisch“ 249: Diese Normvorstellungen sind dem Menschen nicht durch seine Zwei-Welten-Existenz iSv. Kant als noumenales Wesen vorgegeben, sondern der Mensch nimmt diese Normvorstellungen durch die Kultur auf, die sich als menschliche Zwecksetzung darstellt.250 Dieses Wechselverhältnis – der Mensch gibt Zwecke in die Kultur ab 251 und nimmt Zwecke der Kultur auf – wird von der Staatslehre als Kulturwissenschaft betrachtet. Es gehe um das Verstehen eigener und fremder Lebensäußerungen: „Nur weil wir selbst ein Stück Kultur sind, verstehen wir Kultur.“ 252 Die Kultur sei der „Treffpunkt“ 253 der Individuen untereinander und mit dem Staat, denn sowohl die Umwelt als auch der Mensch ist „ein Stück Kultur“ 254. Kultur bedürfe der Aktualisierung und Dynamisierung und gibt dafür zugleich den Rahmen vor. Sie sei auf den Menschen angewiesen: Kultur gibt es nur durch den Menschen. Von daher ist Hellers Ansatz in dem oben gezeigten Sinn transpersonal: Dieses „dialektische Verhältnis von Individuen und Gesellschaft (in der Kultur) bedingt, daß die unmittelbar auf Gesellschaftsgestaltung gerichteten Ordnungen stets ihren Umweg über die individuelle Person nehmen müssen.“ 255 Handlungen, auch staatliche Handlungen, seien nur als menschliche Handlungen denkbar, da der Staat Organe brauche, um sie auszuführen. Der Bedeutungsgehalt der Einzelakte der Individuen transzendiere dabei die einzelne Handlung, weil in ihr eine geltungstranszendierende Wirkung jeweils aktualisiert werde: 256 „Jede gesellschaftliche Handlung ist eine dialektische Einheit von Akt und Bedeutung.“ 257 Handlungen mit normativem Bezug verweisen also immer zugleich auf ein Sein und ein Sollen: Hier liegt einerseits der entscheidende Unterschied zu Kelsens naturwissenschaftlichen Ansatz von Handlungen und andererHeller, Staatslehre, S. 47. Vgl. auch Niemeyer (1983: 5): Der dialektische „Ichbegriff wird damit zur wichtigsten methodischen Voraussetzung der immanent-menschlichen Deutung des Staates.“ 249 Heller, Staatslehre, S. 100.; dies ist eine weitverbreitete Auffassung der damaligen Zeit, vgl. auch Brugger (1980: 30), der vom „normativen Sinnbezug menschlichen Lebens“ spricht, welches gerade die kausalwissenschaftliche Betrachtung Kelsens übersteigt. 250 Vgl. Heller, Staatslehre, S. 20 f., 46 f. 251 Vgl. Heller, Kultur, I, S. 427: „Nur der Mensch ist fähig, seine Ziele der Umwelt einzubilden.“ 252 Heller, Staatslehre, S. 48. 253 Ausdruck von mir gewählt. 254 Heller, Staatslehre, S. 47: „Aber nicht nur die Umwelt des Menschen, sondern der Mensch selbst muß, sofern er als ein gesellschaftliches Wesen und damit als ein Stück Kultur begriffen werden soll, als ein durch menschliche Zweckformung Gewordenes und immer neu Werdendes verstanden werden.“ 255 Heller, Staatslehre, S. 209 (Herv. nicht im Original). 256 Vgl. Heller, Staatslehre, S. 55. 257 Heller, Staatslehre, S. 57. 247 248
IV. Hermann Heller: Einheit in der Vielheit
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seits die Verbindung zu Kants Beschreibung des sinnlichen Vernunftwesens, der ebenso stets teleologisch ausgerichtet ist. Immer wieder betont Heller die wechselseitige Verschränkung, das Mitdenken der anderen Perspektive und die Abhängigkeit davon; hierin offenbart sich die dialektische Methode: „Das Problem der Staatslehre besteht also darin, den Staat im Werden als Struktur zu begreifen. Einerseits ist der Staat nur, indem Menschen in bestimmten Lagen ihn durch ihre wirklichen Willensakte werden lassen. Andrerseits haben aber diese Akte eine besondere Verbundenheit und Ordnung, durch welche ihre Vielheit sich zur eigenartigen Einheit des Wirkungsganzen: Staat ordnet.“ 258 Dieser Ansatz spiegelt sich in der Staatswissenschaft als Strukturwissenschaft wieder. Darunter faßt Heller den Aspekt der wissenschaftlichen Betrachtung zusammen, der, anders als etwa bei Schmitt, inhaltliche Aussagen nicht nur als Ausdruck einer individuell-gesellschaftlichen Situation versteht – als Dezision: Nach Heller „darf kein Situationsrecht sein.“ 259 Im Gegenteil weist er Kontinuität sichernde Prinzipien auf, die den Menschen als „Produkt und Produzent seiner Geschichte, relativ konstant geprägte Form, die lebend sich entwickelt“ 260, beschreiben, eben im Umgang mit der Kultur. Heller verfolgt damit eine doppelte Zielrichtung: Erstens ist er auf der Suche nach Prinzipien, die über die situative Entscheidung iSv. Schmitts Dezisionismus hinausweisen, und zweitens ist er auf der Suche nach einem Weg, den Wertrelativismus, der das Denken seiner Zeit beherrscht und auch Kelsens Konstruktion prägt, zu überwinden. Fernziel seiner Überlegungen ist die Selbstverwirklichung des Menschen, als Kulturwesen: „Denn alle Kultur ist der Umweg des Menschen zum Menschen. Der Mensch ist sich selbst zur Gestaltung aufgegeben, erfüllt diese Aufgabe, indem er am Werk selbst sich gestaltet.“ 261 Schlüsselbegriff für Hellers methodisches Verständnis ist seine spezifische Auffassung von Dialektik. Seine Prämisse der Einheit liegt in der Erkenntnis der sie fundierenden Gegensätze. Kontinuität ist damit ein immerwährender praktischer Prozeß, der aus der inhärenten Spannung seine Dynamik erlangt. Dieses Spannungsverhältnis wird in Hellers Rechtsverständnis deutlich:
Heller, Staatslehre, S. 66. Heller, Staatslehre, S. 304; vgl. auch seine Polemik gegen Schmitt, S. 288: „Die Geltung einer Norm setzt denjenigen normalen Allgemeinzustand voraus, für den sie berechnet ist, und ein völlig unberechenbarer Ausnahmezustand kann auch nicht normativ bewertet werden. Gerade dem gesellschaftlichen Chaos entspräche aber ein ‚Situationsrecht‘; ein solches erweise sich nicht mehr als eine Strukturierung der immer wechselnden Machtsituationen und ließe bestenfalls in jedem Augenblick sich verändernde Verfassungssituationen, nicht aber einen Verfassungsstatus oder eine Staatsverfassung zur Entstehung kommen.“ 260 Heller, Staatslehre, S. 21. 261 Heller, Kultur, I, S. 428. 258 259
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Kap. 3: Systematische Aktualisierung
2. Recht als Oszillation zwischen Rechtsgrundsätzen und Rechtssätzen Trotz unterschiedlicher methodischer Auffassungen stellt Heller eine ähnliche Ausgangsfrage wie Kant und versucht hierdurch das Apriori des Rechts zu gewinnen: 262 Wie ist sittliches Recht möglich? Ausgangspunkt ist seine Annahme der sinnlich-sittlichen Natur des Menschen: Die apriorischen, sittlichen Rechtsgrundsätze sind „begründet in der sinnlich-sittlichen Natur des Menschen“ 263. Heller hat in die Rechtsbegründung also das wieder hineingenommen, was bei Schmitt und Kelsen verloren gegangen ist: die Selbstverwirklichung des Menschen als den Grund des Rechts. 264 Es geht nicht nur darum, Recht als Funktion zu erklären, sondern Hellers Fragestellung liegt tiefer, nämlich in seiner Rechtfertigung: „Denn diese gesellschaftliche Funktion vermag immer nur verständlich zu machen und zu erklären, warum der Staat als Institution existiert; niemals aber zu rechtfertigen, warum die Staatsinstitution oder dieser konkrete Staat existieren soll.“ 265 Grundlage des Rechtsverständnisses von Heller ist seine differenzierende Annahme von teils apriorisch, teils kulturell geltenden Rechtsgrundsätzen266 und positiven Rechtssätzen, die sich als deren Konkretisierungen ergeben. Die Rechtsgrundsätze sind ihrerseits unterteilt: Neben sittlichen Rechtsgrundsätzen kennt Heller logische Rechtsgrundsätze. 267 Letztere seien „Konstitutionsprinzipien der reinen Rechtsform“ 268 und wendeten sich nicht an den Willen des Staates, bzw. des Menschen, um Geltung zu erlangen, sondern sie seien unabhängig; ihnen komme keine juristische, sondern eine logische Geltung zu. 269 Wenn Hellers Intention dahin tendiert, „lo262 Heller, Staatslehre, S. 254: Es sei eine schwierige Frage, „ob und in welchem Sinne es apriorische Rechtsgrundsätze gibt, welche Rechtsgrundsätze allgemeingültig und welche kulturkreisgebunden sind. Daß es solche gibt, welche die rechtfertigende Grundlage des Staates und seines positiven Rechts bilden, muß für eine wirklichkeitswissenschaftliche Staatslehre als ausgemacht gelten.“ 263 Heller, Souveränität, II, 103. 264 Vgl. Heller, Staatslehre, S.84: „Wollen wir also unsrer Aufgabe Genüge leisten, die darin besteht, die eigenartige Wirklichkeit des Staates zu erforschen, so müssen wir zunächst den wirklichen unter den konkreten Bedingungen der Kultur und Natur umweltbezogenen handelnden Menschen uns vergegenwärtigen.“ (Herv. nicht im Original). 265 Heller, Staatslehre, S. 246. 266 Heller, Staatslehre, S. 289: „Ihre Geltung ist zu einem Teil allgemeiner und apriorischer Natur, zum anderen und weitaus größten Teil ist sie kulturkreisgebunden und historisch wandelbar.“ In der Sekundärliteratur wird dies z. T. so verstanden, daß logische Rechtsgrundsätze apriorisch und sittliche kulturkreisgebunden sind, vgl. Waechter (1993: 124) und Hebeisen (1995: 482). Ein so strikte Trennung führt Heller aber nicht durch, wie durch die Wortwahl „grundsätzlich“ (Souveränität, II, S.48) oder „weitaus größten Teil“ belegt wird. Heller scheint hier keine klare Grenze vor Augen gehabt zu haben. 267 Zu den Rechtsgrundsätzen bei Heller vgl. auch die Ausführungen von Brugger (1980: 44 ff.). 268 Heller, Souveränität, II, S. 194; Begriff des Gesetzes, II, S. 228. 269 Vgl. Heller, Souveränität, II, S. 154.
IV. Hermann Heller: Einheit in der Vielheit
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gisch“ mit „formal“, und damit inhaltslos, gleichzustellen, dürfte dies nur insoweit vertretbar erscheinen, als man bei Kant von einem formalen Rechtsverständnis sprechen kann. 270 Die Unterscheidung von Rechtsgrundsätzen und positiven Rechtssätzen spielt sowohl auf der Begründungs- wie auch der Anwendungsebene die Hauptrolle in seiner Rechtskonstruktion:
a) Die Rechtsidee als Integrationsquelle Durch die Ausweisung der Rechtsgrundsätze erweitert Heller den Rechtsbegriff. Sie sind Interpretationsregeln für das positive Recht, 271 in welches sie inkorporiert sind. Heller hat die Erweiterung des Rechtsbegriffs erst langsam in sein Konzept eingebaut, waren die Rechtsgrundsätze doch zunächst nur reine Rechtsmöglichkeit, wohingegen die (bestimmten) positiven Rechtssätze Rechtswirklichkeit hatten: „nur die letzteren nennen wir Recht.“ 272 In der „Staatslehre“ faßt er den Begriff des Rechts neu, da die Verhältnisbestimmung zwischen Rechtssicherheit und Rechtmäßigkeit bzw. Gerechtigkeit – dieser „notwendige und unaufhebbare Konflikt zwischen Rechtmäßigkeit und Rechtssicherheit“ 273 – jetzt anders gesehen wird: „Unter Recht verstehen wir hier in erster Linie die die positiven Rechtssätze fundierenden sittlichen Rechtsgrundsätze.“ 274 Heller schreibt: „Die Übereinstimmung eines staatlichen Aktes mit dem Gesetz, des Gesetzes mit der positiv-rechtlichen oder der ‚normlogisch‘ vorausgesetzten Verfassung kann immer nur Legalität, niemals rechtfertigende Legitimität begründen.“ 275 Als geltendes Recht ist damit nicht nur die zu einem feststehenden Zeitpunkt explizite Regelmenge anzusehen, die anhand eines in der Rechtsgemeinschaft akzeptierten Tests als Regelmenge ausgewiesen bzw. auf eine Grundnorm iSv. Kelsen zurückzuführen ist: Zum Recht zählen auch die in den Rechtsregeln vorausgesetzten impliziten, rechtfertigenden Rechtsgrundsätze276 bzw. Rechtsprinzipien, die erweiternd oder einengend interpretatorisch auf die aus270 Dies ist, wie die Darstellung der kantischen Rechtszwecke gezeigt hat, nur sehr eingeschränkt möglich. Hierin könnte man einen Fehler der Hellerschen Theorie suchen, der aber vorliegend dahingestellt bleiben kann, weil von maßgeblichen Interesse hier nur seine Unterteilung von Rechtsgrundsätzen und positiven Rechtssätzen ist. Vgl. zu diesem Verständnis von „formal“ auch Habermas (1996: 339). 271 Vgl. Heller, Staatslehre, S. 199: „Die festen Grundsätze der öffentlichen Meinung bilden jene Rechtsgrundsätze, aus denen zu einem Teil der Gesetzgeber die Rechtssätze positiviert und die der Richter als Interpretationsregeln des positiven Rechts benutzt.“ 272 Heller, Souveränität, II, S. 69. 273 Heller, Staatslehre, S. 256. 274 Heller, Staatslehre, S. 252. 275 Heller, Staatslehre, S. 251. 276 Vor diesem Hintergrund kann der Auffassung von Staff (1985: 16) nicht gefolgt werden: „Daß sittliche Rechtsgrundsätze diese verfahrensrechtliche Bedeutung haben, daß sie aber keine legitimitätsbegründende Wirkung für das positive Recht entfalten, dessen Legitimität ausschließlich in seiner Legalität liegt, läßt Hellers Rechtsstaatstheorie zu einer dezidiert demokratischen werden.“ Dies kann nur für den frühen Heller gelten.
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Kap. 3: Systematische Aktualisierung
gewiesene Regelmenge angewandt werden. 277 Sie konturieren damit das moralische Profil des Gemeinwesens: „Die Legitimität der staatlichen Normsetzungsinstanz ist dann gegeben, wenn und soweit die Normadressaten daran glauben, daß bestimmte, den Staat und sein Recht transzendierende und sie eben damit fundierende, ethisch verpflichtende Rechtsgrundsätze es sind, welche der Rechtssetzer zu Rechtssätzen positiviert.“ 278 Sie stellen damit einen selbständigen Rechtsrahmen dar, aus dem sich Ziele und Anhaltspunkte für individuelle Rechte und Pflichten der Staatsmitglieder gewinnen lassen. Sie sind zugleich Möglichkeit und Grenze des positiven Rechts. Die Rechtszwecke sind individueller Definitionsmacht vorgegeben, gleichzeitig aber gemeinschaftlicher und individueller Konkretisierung aufgegeben. Sie bilden den gesuchten Rechtsmaßstab, „der als über dem Staat und seinem positiven Recht stehend angenommen werden muß. Als überpositiver Maß- und Verteilungswert hat das Recht die Funktion, das gesellschaftliche Leben richtig zu richten, d. h. allen seinen Gliedern das ihnen im Hinblick auf ein Ganzes Zukommende an Berechtigungen und Verpflichtungen zuzumessen, die Glieder in ein richtiges Verhältnis zueinander zu bringen.“ 279 Diese Funktion bezieht Heller ausdrücklich auf den von Kant her bekannten Rechtszweck des „suum cuique tribuere“ 280. Von daher kommt dem Recht also die Aufgabe zu, „richtige Berechtigungen“ – das sind subjektive Rechte – zu verteilen. Wie jedoch die Legitimation des staatlichen Rechtssatzes immer wieder in bezug auf den Rechtsgrundsatz überprüft werden muß,281 muß konsequenterweise in analoger Weise die Anwendung des subjektiven Rechts am Rechtsgrundsatz überprüft werden. Die Überprüfung ist aber nur sinnvoll, wenn das Recht auch zur Disposition des Rechtsträgers steht. Von daher kann Hellers Ansatz nur so verstanden werden, daß das subjektive Recht notwendigerweise die Verzichtskomponente beinhalten muß. Ansonsten würde das Individuum eine sittliche Verpflichtung treffen, sein positives Recht unbedingt durchsetzen zu müssen. Dies würde aber einer Pflicht zur Überprüfung des Rechts widersprechen. Der Rechtsverzicht ist – wie schon bei Kant – damit eine Möglichkeit im Recht bei der Anwendung der Rechtsgrundsätze. Heller läßt sich zum Rechtsverzicht leider nicht ausdrücklich ein, da das Augenmerk seiner Untersuchungsperspektive hauptsächlich der staatlichen Anwendung von positivem Recht gilt, nicht der Anwendung durch den einzelnen Berechtigten. 277 Kritisch hierzu Maus (1985: 214), die bemängelt, daß diese Erweiterung im Nationalsozialismus dazu führte, daß „die Masse des überkommenden Rechts ohne neue Kodifizierung durch die Vorschaltung nationalsozialistischer Wertauffassungen und ‚Rechtsgrundsätze‘ in einer Weise geändert werden, die im Wege der demokratischen Gesetzgebung nicht durchsetzbar gewesen wäre.“ 278 Heller, Staatslehre, S. 217. 279 Heller, Staatslehre, S. 247. 280 Heller, Staatslehre, S. 247; Herv. nicht im Original. 281 Vgl. Heller, Staatslehre, S. 252: „Alle sittliche Verpflichtungskraft empfängt der Rechtssatz nur aus dem übergeordneten ethischen Rechtsgrundsatz.“ Dieser Satz muß aber um die demokratische Komponente ergänzt werden, denn der Rechtsgrundsatz ist nach Heller „nur transpersonalistisch in einen Rechtssatz zu transformieren.“
IV. Hermann Heller: Einheit in der Vielheit
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Ebenso wie bei Kant ist damit das Recht nur scheinbar der Willkür anheim gegeben, denn Heller betont stets die Ausrichtung des Einzelnen auf das Recht: Ohne den „konkreten Willen zum Staat(...) ist keine Organisation möglich.“ 282 Recht ist danach als aufgegebenes Ordnungsmuster zu verwirklichen: Kein Staat könnte nach Heller ohne die Befolgung seiner Rechtsnormen existieren. 283 Dabei geht er von einer „intraindividuellen“ Einstellung des Einzelnen auf die Rechtsidee aus.284 Da alle staatlichen Leistungen durch „menschliche Leistungen“ 285 hervorgebracht würden, sei der Mensch aufgefordert, sich an dem „Integrationsfaktor Recht“ 286 zu orientieren, d. h. an der „Berechtigung“ des Staates und konsequenterweise an der „Berechtigung“ der anderen Individuen.
b) Rechtsanwendung als persönliche Verantwortung „Berechtigungen“ stellten sich oben als staatlich positivierte Konkretisierungen der Rechtsgrundsätze in Form subjektiver Rechte dar, die sich an den Rechtsadressaten wenden. Sie zeigen Freiräume auf, die in Hinblick auf die Rechtsgrundsätze ausgefüllt werden müssen; die Unbestimmtheit der Rechtsgrundsätze verlangt eine von dem Anwender verantwortende Ausfüllung; ihre Anwendung bleibt unvertretbare Aufgabe des Subjekts, denn die Rechtsgrundsätze geben unzählige Rechtsmöglichkeiten vor. 287 Das Individuum steht insoweit in der Verantwortung: „Jede politische und jede nicht durch Raum-, Zeit- und Zahlenbegriffe genau normierte juristische Entscheidung ruft unweigerlich meine persönliche Verantwortung auf.“ 288 Nach Heller ist der einzelne aufgerufen, seine positive Rechtsposition im Hin- und Herwenden des Blickes zwischen Rechtssatz und Rechtsgrundsatz zu bilden; in diesem Sinn läßt sich das Recht als ständiges Austarieren bzw. als Oszillation verstehen. Deshalb paßt hierfür auch der Begriff der Dialektik, wie ihn Heller verwendet, denn die Spannung zwischen beiden Polen wird nicht aufgelöst, sondern bedarf der – durch die Rechtsgrundsätze – angeleiteten Entscheidung. Entscheidung bedeutet dann sich mit guten Gründen über die konträren Argumente hinwegzusetzen, nicht deren Auflösung auf einer höheren Ebene zu suchen. Heller, Staatslehre, S. 266. Vgl. Heller, Staatslehre, S. 213. 284 Vgl. Heller, Staatslehre, S. 266: „Die Willensvereinheitlichung, durch die der in den einzelnen wirksame Gemeinwille entsteht, vollzieht sich vor allem als ein intraindividueller Vorgang der Einordnung und Anpassung in jedem einzelnen, den das gesellschaftliche Zusammenleben in jedem Augenblick erzwingt und den die Erziehung unendlicher Generationen zu dem habituellen Zustand eines mehr oder minder klaren und festen Wir-Bewußtseins geformt hat.“ 285 Heller, Staatslehre, S. 268. 286 Heller, Staatslehre, S. 243. 287 Vgl. Heller, Souveränität, II, S.72 und Staatslehre, S.252: „Aufgrund der gleichen Rechtsgrundsätze können und müssen sogar verschiedene Rechtsentscheidungen (...) möglich sein.“ 288 Heller, Bemerkungen, II, 251 (Herv. nicht im Original). 282 283
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Kap. 3: Systematische Aktualisierung
Heller bleibt also nicht einer Antinomie iS. eines autoritären Moralverständnisses verhaftet: entweder Autorität oder Willkür, sondern er zeigt auf, daß dieses dezisionistische Residuum zum vollen Begriff der menschlichen Autonomie dazugehört. Wie schon nach Kant, gibt es auch nach Heller keine größere Differenz als die zwischen einer willkürlichen Dezision und einer Dezision, die dann erfolgt, wenn alle Möglichkeiten einer prinzipiengeleiteten Abwägung erschöpft sind. 289 Für diese Entscheidung Verantwortung zu tragen, bedeutet gleichzeitig die Fähigkeit, eine Alternative zu wählen und trotz aller umweltlichen Bestimmungsgründe sich für oder gegen etwas zu entschließen, sonst ergäbe der Begriff der Verantwortung keinen Sinn. Verantwortung bedeutet mehr als eine kausalgesetzliche Zurechnung der Folgen einer Handlung. Der Begriff Verantwortung zieht den langen „Schwanz“ der moralischen Terminologie wie Schuld, Scham, Gewissen, etc. hinter sich her. Jede verantwortete Entscheidung ist zugleich ein Moment der moralischen Selbstbestimmung und (zumeist) der moralischen Selbstverwirklichung des einzelnen Subjekts. Dieser Aufruf an die Selbstbestimmung motiviert die treibenden sittlichen Kräfte. Die einzelnen Individuen entfalten so die der Rechtsidee inhärente Dynamik, ohne den äußeren Rahmen der positiven Rechtsordnung grundsätzlich in Frage zu stellen. Das Sein weist durch die inhärenten seinsollenden Rechtsgrundsätze über sich selbst hinaus, vergleichbar mit dem geschichtsteleologischen Modell von Kant. 290 289 Die Differenzierung der Entscheidung in Dezision und Abwägung verkennt Waechter (1994: 116, bes. Fn. 40), wenn er schreibt, daß Heller in der „absoluten Rechtslücke“ statt der Schmittschen Dezision auch nur die „überpositiven Rechtsgrundsätze“ als Alternative anbieten könne. Dagegen kommt Llanque zu einem ähnlichen Ergebnis, wie es hier für Heller vorgestellt wird (1995: 172), indem er zu der gemeinsamen Betonung der Entscheidung anmerkt: „Aber diese Nähe zu Schmitt hat Heller in eine geradezu unüberbrückbare Ferne gerückt durch seine unterschiedliche Auffassung des Politischen.“ Vgl. zu dem grundsätzlichen Aspekt dieser Diskussion auch Tugendhat (1980: 17). 290 Das teleologische Modell ist bei Heller freilich anders begründet bzw. läuft ohne jede Begründung, wie er es schon früh in einer Kritik an Ferdinand Lassalle hat durchschimmern lassen, Arbeiterprogramm, I, S. 11: „Der Glaube an das ideale Endziel der Geschichte muß, wie jedes Dogma, einer wissenschaftlichen Wertung von vornherein entrückt bleiben. Dieser Glaube wird auch nicht vor der erfahrungsgemäßen Tatsache, daß der vierte noch einen fünften Stand in seine Falten barg, kapitulieren. Gegen die Begründung dieses Dogmas läßt sich aber – um nur einige grundlegende Einwürfe zu nennen – einwenden, daß Lassalles hegelianisierende Geschichtsauffassung überall dort Prinzipien sieht, wo, wie Ranke sagt, nur ‚vorwaltende Tendenzen‘ vorhanden sind, daß ferner die aufgestellten historischen, politischen und ökonomische Gesetze von der Erfahrung meist widerlegt werden, daß Lassalle dadurch, daß er die aus diesen Gesetzen vielleicht zu gewinnenden brauchbaren Grenzbegriffe zum kategorialen Geschichtsaufbau verwendet, überall Extreme findet, wo allmähliche Übergänge zu sehen sind, daß sein gradliniger Entwicklungsbegriff das mannigfaltige Nebeneinander der Geschichte überhaupt ignoriert.“ Nicht der feste Zielpunkt im Sinne von Hegel ist die Basis der Geschichtsteleologie Hellers, sondern die die Faktizität transzendierenden Rechtsgrundsätze, die wie gezeigt, für mehrere materielle Zielrichtungen offenstehen, da ihr Gefüge untereinander stets einer wertenden Entscheidung durch den Menschen bedarf, wie Heller in der „Staatslehre“ verdeutlicht (1983: 74): „Wo immer die politische Theorie die Frage nach einem ens realissimum, nach einem unbewegten Beweger des politischen Geschehens zu beantworten unternimmt, treibt sie in Wahrheit Theologie und wirft sich zum Surrogat einer monotheistischen Religion auf.“
IV. Hermann Heller: Einheit in der Vielheit
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Festzuhalten ist: In ihrer Eigenschaft als Fundament und Interpretationsmaßstab vermitteln die sittlichen Rechtsgrundsätze Kontinuität, sind zugleich Einfallstor der Reformation, im äußersten Fall der Revolution der Rechtsordnung. Ihre Offenheit ermöglicht es, gegenüber der Bestimmtheit und dadurch bedingten Starrheit positiver Rechtsregeln im allmählichen Wandel der Interpretation der Dynamik des gesellschaftlichen Seins Einlaß in die positive Rechtsordnung zu verschaffen und dadurch die Kontinuität der Rechtsordnung in Hinblick auf die Verwirklichung ihres normativen Gehaltes zu bewahren. 291 Heller geht somit von einem Prinzipienmodell des Rechts aus. Die Prinzipien liegen zum einen dem positiven Recht zugrunde und können als Verfassungsnormen zum Teil von der Rechtsordnung absorbiert werden, verlieren aber dadurch nicht ihren Prinzipiencharakter. In der Rechtsanwendung muß deshalb immer ein zweifacher Abwägungsvorgang stattfinden: Erstens bei der Ausweisung der subjektiven Rechtsposition; da Heller nicht dem strikten Subsumtionsmodell der Begriffsjurisprudenz folgt, anders als Kelsen den eröffneten Interpretationsraum aber auch nicht dem Dezisions-Ermessen des Anwenders (Richters) eröffnet, fordert er eine durch Prinzipien angeleitete Interpretation des Rechts. Hierbei sind implizit die das subjektive Recht begründenden Normen mit zu überprüfen. Und zweitens ist bei der Rechtsdurchsetzung der so erlangten Rechtsposition eine verantwortungsvolle Abwägungsentscheidung gefragt. 292 Diese Konstruktion geht damit von einem Modell des Rechts aus, bei dem sittliche (moralische) Prinzipien Teil des Rechts sind und gleichzeitig den Individuen eine Anleitung geben, wie sie mit ihren Rechten umgehen sollen. Sie bilden aber keine Korrespondenzebene 293 einer reinen Richtigkeit oder Gerechtigkeit ab. Das Naturrechtsmodell, gegen das Kelsen so vehement opponierte, wird dadurch auch von Heller vermieden. Anders als das Kantische Modell kommt sein Modell dem heutigen Rechtsverständnis mehr entgegen, weil er durch die Erweiterung des Rechtsbegriffs Prinzipien in das positive Recht inkorporiert. Er vermeidet damit die Dezision, die Kelsen und Schmitt miteinander verbindet, da beide auf anleitende, inhaltliche Rechtsgrundsätze bzw. Rechtsprinzipien verzichten. Dagegen ist im Prinzipienmodell jede rechtliche Entscheidung anhand einer Abwägung von Prinzipien zu begründen. Freilich hat Heller noch nicht die Differenzierung heutiger Prinzipien- und Regel-Modelle vor Au291 Vgl. Heller, Staatslehre, S. 290: „Ohne die Heranziehung von Rechtsgrundsätzen auch dort, wo der Gesetzgeber nicht ausdrücklich auf sie verweist, ist die Mehrzahl der positiven Verfassungsrechtssätze nicht zu verstehen, noch auszulegen, noch anzuwenden. Denn niemals ist das gesamte Recht im Wortlaut der positiven Rechtssätze beschlossen“ (Herv. nicht im Original.). 292 Dieses Modell der gestuften abwägenden Entscheidung arbeitet Waechter (1994: 116) heraus: „Die Konkretisierung als Vorgang findet nicht nur beim Anordnenden statt, sondern auch beim Befehlsempfänger: damit der Befehl sinnvoll ausgeführt wird, ist eine eigeninitiative Konkretisierung durch den Befehlsempfänger notwendig. Ordnung ist also nicht ohne menschliche Entscheidung denkbar.“ 293 Zu diesem Begriff vgl. die Diskussion um Korrespondenz- bzw. Kohärenzbegriffe der Wahrheit; Nachweis etwa bei Seel (1993: 509 ff.).
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gen, 294 aber er geht den Weg weiter, den Kant eingeschlagen hatte. Auffällig ist dabei, inwieweit das Rechtsbegründungsmodell sogar in der Terminologie dem Kantischen Modell angenähert worden ist: 295 Wie schon bei Kant ist die Legitimitätsstruktur positiver Gesetze in der Theorie Hellers normativ ausgezeichnet, wenn er versucht, einen materiellen Rechtsstaat zu begründen: „Für diesen, nennen wir ihn materiellen Rechtsstaatsgedanken, ist also das, was das Volk als Legislative über sich beschließt, dem Staatsvertrag als dem ‚Probierstein der Rechtmäßigkeit‘ entsprechend, deshalb rechtmäßiges Gesetz, weil und sofern es der sittlich sich selbst bestimmten Vernunft entspringt, weil und sofern es die Willkür ausschließt, also gerecht ist. Eben deshalb soll das autonome Gesetz den Vorrang über alle anderen Staatsakte haben.“ 296 In Abwandlung der Kantischen Theorie aus dem „Gemeinspruch“-Aufsatz, wird also nicht der moralische Konstitutionalismus ausgezeichnet, sondern die republikanische Universalisierung, die auch bei Heller allein durch Selbstverpflichtung der Wähler auf bestimmte sittliche Rechtsgrundsätze festgelegt wird. Damit ist ein Gesetz nicht durch eine logische, sondern durch eine inhaltliche Allgemeinheit ausgezeichnet. Für Heller gründet die Positivität allen Rechts gleichermaßen „in der Idealität von Rechtsgrundsätzen“ und in der gesellschaftlichen Faktizität einer letztlich entscheidenden Willenseinheit, für die nur der demokratisch legitimierte Gesetzgeber in Frage kommt. Indem in der faktischen Rechtsetzung der Rechtssatz so positiviert wird, daß sie „ihn aus dem Reich der nur durch die Rechtsgrundsätze beschränkten, nichtsdestoweniger unzähligen Rechtsmöglichkeiten in das der einzigartigen Rechtswirklichkeit überführt“ 297, zeigt sich auch bei Heller die Ambivalenz der Rechtsgrundsätze. Diese sind einerseits durch Verbindlichkeit ausgezeichnet, sollen andererseits aber einer inhaltlichen Kontrolle durch ein Verfassungsgericht entzogen sein. 298 Heller steht bei seinem Prinzipienmodell demnach vor dem gleichen Problem, das schon bei Kant dazu führte, die externe Beurteilung und legitimitätsersetzende Korrektur des positiven Rechts durch ein außerhalb des Gesetzgebers stehendes Organ abzulehnen. Anders als Kant erkennt er die Berechtigung eines Widerstandsrechtes an. Der Einzelne bekommt die Möglichkeit, die Geltung der positiven Rechtssätze für sich selbst als unverbindlich zu erklären. Der Pflichtcharakter des positiven Rechts kennt damit eine sittliche Grenze, die in den Rechtsgrundsätzen ihr Fundament hat. Heller ist sich damit des methodischen Problems vollkommen bewußt, 299 für das Kant keine andere als eine rigide Lösung sah, nämlich wie Prinzipien gegen Prinzipien bzw. Regeln ausgespielt bzw. abgewogen werden können: „Welche Folgerungen gezogen werden sollen im Fall einer Kollision 294 Vgl. zu der Differenzierung neuerer Modelle die Darstellung von Sieckmann (1990) und (2000: 577 ff.) und die Beiträge bei Schilcher/Koller/Funk (2000). 295 Vgl. dazu oben, S. 107 ff. 296 Heller, Gesetz, Bd. 2, S. 210. 297 Heller, Die Souveränität, Bd. 2, S. 99 f. 298 Heller, vgl. dazu Maus (1985: 206 ). 299 Heller, Staatslehre, S. 257 f.; vgl. auch Maus (1985: 206).
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von Pflichten aus sittlichen Rechtsgrundsätzen und aus positiven Rechtssätzen, ist eine Frage von höchster Tragweite.“ 300 Explizit nimmt er hierbei auf Kants Lösung zum Widerstandsrecht Bezug: „Schon Kant hatte, übrigens im Widerspruch zu seinen eigenen vernunftrechtlichen Voraussetzungen, die Geltung des positiven Rechts verabsolutiert und jedes Widerstandsrecht geleugnet.“ 301 Jedoch begibt sich die Widerstand leistende Person außerhalb des faktischen Rechts. 302 Innerhalb des Rechts verbleiben dem einzelnen damit ebenso wie bei Kant nur die subjektiven Rechte, um die Rechtsgrundsätze für sich zu konkretisieren. Obwohl eine Verbindung zwischen Recht und Moral besteht, ist in Hellers Modell eine Unterscheidung von rechtlicher und sittlicher Fragestellung möglich. Sie ist Voraussetzung dafür, eine ungerechte, mit positivistischer Geltung versehene subjektive Rechtsposition zu identifizieren. Auch sie bleibt Recht, weil neben der materiellen Gerechtigkeit die Rechtssicherheit (und damit die Verbindlichkeit des positiven Rechts) zu den Rechtsgrundsätzen zählt. Für das subjektive Recht gilt damit letztlich ein subjektiver Maßstab, der durch Konkretisierung objektiv geltender Grundsätze zustande kommt. 303 Die Durchsetzung des Rechts hängt von der individuellen Entscheidung des Einzelnen ab: „Inhalt und Geltungsweise einer Norm werden niemals bloß durch ihren Wortlaut und auch nicht allein durch Absichten und Eigenschaften ihres Setzers, sondern vor allem auch durch die Eigenschaften der sie beobachtenden Normadressaten bestimmt.“ 304 Wegen des Gleichlaufs der Problemstruktur läßt sich diese Konkretisierung des Tatbestandes auf die Begründung und Durchsetzung eines subjektiven Rechts analog übertragen: Die Einforderung des subjektiven Rechts hängt von dem Berechtigten ab: Wie es kein abstraktes Sollen nach Heller gibt, sondern immer nur ein dem Sein angepaßtes Sollen, kann es keine abstrakte Aussage über die Durchsetzung subjektiver Rechte geben, sondern diese bedarf stets einer konkreten, situativen Anpassung. 305 Da Heller dieses Modell nicht auf die öffentlichen Rechte begrenzt, lehnt er schon mit dieser methodischen Weichenstellung eine Lesart der Rechte als possessiv-individualistisches Mittel der privaten Interessendurchsetzung durch den „Bourgeois“ ab, welches dem Dualismus von (privater) Gesellschaft und (öffentlichem) Staat entspricht. Innerhalb des rechtlichen Universums ist der Aufruf zur Anwendung der Rechtsgrundsätze ubiquitär. Hellers ablehnende Haltung gegenüber dem „Bourgeois“ fordert einen „Bürger“ ein, der die Polarität der EntscheidungsHeller, Staatslehre, S. 256. Heller, Staatslehre, S. 256. 302 Heller, Staatslehre, S. 258: „Die Anerkennung eines sittlichen Widerstandsrechts soll dem ewigen Kampfe des Rechtsgewissens gegen das positive Recht in keiner Weise die Tragik nehmen (...). Das sittliche Widerstandsrecht hat deshalb weder einen Schuld- noch einen Strafausschließungsgrund zur Folge.“ 303 Zu dem Unterschied zu Radbruch vgl. König (1999 b). 304 Heller, Staatslehre, S. 288 f. 305 Vgl. Waechter (1994: 115), der m.E. Heller hierbei zu sehr an Schmitt angleicht, da er die (Konkretisierungs)Entscheidung bei Heller als Dezision und nicht als Abwägung versteht. 300 301
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vorgaben erkennt und auszuhalten vermag, die zwischen individuellen und gesellschaftlichen Zwecken, zwischen moralischer und rechtlicher Bestimmung besteht. 306 Die Gesellschaft als einen „Kampfplatz der individuellen Privatinteressen aller gegen alle“ zu beschreiben, wie er in Aufnahme eines Zitates von Hegel schreibt, ist für ihn nicht angemessen. 307 Dies gilt nach Heller für alle Rechtsbereiche, nicht nur für den aktiven Staatsbürgerstatus. Fraglich ist somit, welches Verständnis des Individuums sich hinter diesem normativen Aspekt verbirgt, dessen Urteilskraft die Anwendung der Rechtsgrundsätze verantwortend durchführen soll. Dies ist im folgenden genauer zu untersuchen. 3. Identität: Der Mensch ist (als Persönlichkeit) aufgegeben Wie schon bei Kant kommt auch bei Heller dem „Rechtsgewissen“ 308 eine konstitutive Funktion bei der Durchsetzung des subjektiven Rechts zu: „Gerechtigkeit zu sichern wird in aller Ewigkeit nur das individuelle Rechtsgewissen im Stande sein.“ 309 Das Rechtsgewissen hat nicht nur eine Gerechtigkeitsfunktion, sondern es verleiht dem Individuum auch eine feste Basis: Denn nach Heller verleiht die für Handlungen „nötige Selbstsicherheit nur das gute Gewissen.“ 310 Selbstsicherheit hat man nur, wenn man sich seiner selbst sicher ist, d. h. an feste Grundsätze und Überzeugungen anknüpfen kann. Das Gewissen ist deshalb unmittelbar an die Rechtsgrundsätze gekoppelt. 311 Für die Rechtsanwendung bedeutet dies, daß das Individuum ein gutes Gewissen hat, wenn es die Rechtsgrundsätze auf seine positivrechtlich ausgewiesenen Berechtigungen anwendet. Dies hat dann grundsätzlich die Selbstsicherheit des Individuums zur Folge. Hellers eigene Ausführungen sind hierzu leider recht knapp, so daß nicht ganz klar wird, ob das Gewissen bspw. analog zu 306 Vgl. Heller, Staatslehre, S.63 f., und „Bürger und Bourgeois“, II, S.625 ff; vgl. hierzu auch Schluchter (1968: 163). Die Grundtendenz der Unsicherheit im Leben, welche eine aushaltende Entscheidung stets neu verlangt, kommt an einer Stelle deutlich zum Ausdruck, Souveränität, II, 201 f.: „Nur wer mit dem christlichen Liebesgebot ernst macht und es nicht sentimentalisiert, weiß, daß uns das Gebot immer in die Entscheidung stellt, unsere Entscheidung aber niemals, und seien wir selbst Heilige, dieses Gebot erfüllt, ja daß unsere Entscheidung es immer verletzt. Das sittliche Gebot gilt unabhängig davon, daß wir es nie erfüllen. Die Geltung des Rechtsgebots aber ist nur möglich bei regelmäßiger Beobachtung. Das Recht fordert ein bestimmtes Mindestmaß von Rechtssicherheit. Die sittliche Entscheidung kennt keine irdische Sekurität; sie ist tiefste erschütterndste Unsicherheit. Nur für den, der glaubt, daß über ihn gnädig entschieden ist, bevor er sich entschieden hat, nur in der überirdischen Gnade gibt es hier Sicherheit. Diese letzte Sicherheit existiert aber nur für die höchstindividuelle gläubige Seele.“ (Herv. nicht im Original). 307 Heller, Staatslehre, S. 137. 308 Vgl. Heller, Staatslehre, S. 248 und 256. 309 Heller, Staatslehre, S. 256. 310 Heller, Staatslehre, S. 218. 311 Vgl. Heller, Staatslehre, S. 218: „Das Schicksal einer herrschenden Klasse ist deshalb besiegelt, sobald sie an ihre Rechtsgrundsätze selbst nicht glaubt und nicht mit gutem Gewissen der Meinung ist, ihre Gerechtigkeitsprinzipien hätten allgemeine, auch den Beherrschten sittlich zumutbare Verpflichtungskraft.“
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Kants Theorie untrüglich ist. Es spricht aber vieles dafür, daß Heller, wie schon zuvor Kant, kein „Gewissen des Gewissens“ kennt. Heller schreibt hierzu nichts. Da Heller dem Gewissen einen starken Platz in seiner Rechtstheorie einräumt, müßte konsequenterweise der „Wächter“ des Gewissens von ihm explizit benannt werden. Sein Fehlen indiziert deshalb, daß Heller diesbezüglich ganz auf der Kantischen Linie einzuordnen ist. Leider gibt es keine Hinweise bei ihm, die Schlußfolgerungen auf ein Gefühl der (Selbst)Achtung erlauben würden, die nicht rein im spekulativen Bereich blieben. Ein Vergleich mit den Ausführungen Kants kann auf dieser Grundlage nicht gemacht werden. Bei Heller finden sich gleichwohl einige Bemerkungen zur Bedeutung der Normen für den Menschen. Er nimmt eine ontologische Konstante im Menschen an, die in der Rückanknüpfung des Gewissens an normative Wertungen besteht: „Der Mensch wird durch diese Normvorstellungen(...) zum Menschen.“ 312 Dieser Satz, der bei Heller mit keiner Erklärung einer Identitätsvorstellung des Menschen zusammenhängt, läßt eine Interpretation zu, nach der der Mensch seine Identität und damit seine Kontinuität nur über die fundierte, abwägende und selbstbestimmte Entscheidung herausbildet. Nur hierdurch wird der Mensch „Person“. In dieses Verständnis paßt Hellers Aufforderung an die „irdische Selbstgestaltung der Persönlichkeit“ 313. Die Ausrichtung auf bestimmende Merkmale ist gerade das Definitionsmerkmal einer qualitativen Identität im oben herausgearbeiteten Sinne. Die anleitenden Normen sind u. a. die sittlichen Rechtsgrundsätze. Anders ist eine moralische Verantwortung des Einzelnen, die an die Rechtsgrundsätze geknüpft ist, nicht zu denken. 314 Insoweit ist sich der Mensch selbst zur Persönlichkeitsgestaltung aufgegeben. Das Einheitsmodell von Staat und Individuum wird von Heller immer wieder als ein analoger Gleichlauf skizziert. Für den Staat gelten die gleichen Konstitutionsbedingungen und -voraus-setzungen wie für das „Ich“: „Genau so, wie die heutige Psychologie den Menschen als immer werdende, in ihrer Struktur trotz aller Wandlung mit sich identisch bleibende Akt- und Wirkungseinheit auffaßt, im gleichen Sinne könnten wir, ein Wort Renans übertragend, den Staat ‚un plébiscite de tous les jours‘ nennen. Vergleichbar mit dem Ich kann der Staat nur als die im Wechsel der Akte relativ beharrende Struktur einer Ganzheit begriffen werden, die Wirkungsganzheit auch dort ist, wo nur ihre Teile erscheinen. Durchaus verkehrt wäre die, wieder nur auf die endgültige Trennung von Akt und Aktsinn zurückgehende Meinung, die ExiHeller, Staatslehre, S. 100. Heller, Staatslehre, S. 136. 314 Vgl. zu den Folgen eines radikalen Subjektivismus des Gewissens: Ellscheid (1979: 51 f.), der am Beispiel der Kriegsdienstverweigerung zeigt, daß die konsequente Folge davon die Anerkennung des Gewissens im Recht ist. Gerade dieses Beispiel wird von Heller (Staatslehre, S. 257 f.) nicht anerkannt. Für den Kriegsdienstverweigerer kennt er aus Gründen der Rechtssicherheit kein legales, sondern nur ein sittliches Widerstandsrecht: „Um das krasseste Beispiel zu nehmen: wer aus Überzeugung den Kriegsdienst verweigert, wird mit den schwersten Strafen bedroht. Die Staatsräson und das positive Recht müssen eine solche Vorschrift der Rechtssicherheit wegen für unumgänglich halten.“ 312 313
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stenz der Gemeinschaft sei ‚von der Individualität der ihr zugehörigen Menschen unabhängig‘. So wenig das menschliche Individuum ohne die Individualität seiner Akte, so wenig existiert der individuelle Staat ohne jene durchaus individuellen Akte.“ 315 Ausgehend von einer Kritik am „atomistischen Ich“ 316, strebt er eine Lösung an, die den Brückenschlag zwischen den vereinzelten Individuen vermeidet, zugunsten eines Modells der ontologisch fundierten wechselseitigen Verschränkung der Subjekte. Sein Ziel ist, die Antinomie zwischen Atomismus und sozialem Monismus – das ist ein Subjekt, das ganz in der Masse aufgeht – zugunsten eines sozial eingebetteten Subjekts aufzulösen, dem eine distanzierende, reflexive Haltung zu seiner Umwelt möglich ist. Heller übernimmt hier den Terminus von Kant, der Mensch habe die dialektischen Spannung einer „gesellig-ungeselligen Natur“ 317. Einheit ist damit eine in der Wirklichkeit vorhandene Faktizität, sie hat ein Sein: „Der wirkliche Mensch erlebt aber das wirkliche gesellschaftliche Leben niemals als ein Chaos oder als absolute Unendlichkeit, sondern als einen strukturierten Wirkungszusammenhang, der ihn selbst umfaßt und innerhalb dessen er den Staat nicht durch eine subjektive Synthese herstellt, sondern als eine objektiv-wirkliche Gestaltung vorfindet.“ 318 Im Gegensatz zu der Annahme einiger Neukantianer geht er nicht davon aus, daß die Einheit erst durch ein synthetisierendes Bewußtsein hergestellt wird, jedoch müssen für die Zukunft der Einheiten die seinsollenden Vorstellungen verdeutlicht und herausgearbeitet werden, weil diese Einheiten der verschiedenen Ichs bzw. des Staates nicht nur Geschöpfe der Vergangenheit sind und insofern ein Sein haben, sondern zugleich Schöpfer der gesollten Zukunft. Damit nimmt der Mensch über die Kultur, deren Teil er zugleich ist, die Umwelt in sich hinein, von der er sich wiederum in distanzierenden Akten entfernt, diese zugleich in ihrer Entwicklungslogik dadurch vorantreibt. 319 Das Subjekt kann bei Heller nur als ein immer schon vergesellschaftetes Individuum gedacht werden; über die Gesellschaft nimmt es die Kultur in sich auf, wächst in sie hinein. Diese Haltung lebt in der Spannung zu der reflektierenden Haltung des vereinzelten Individuums, welche aber zugleich die wesentliche Quelle aller gesellschaftlichen Dynamik bildet: „Für die europäische Staatenwelt erscheint es unHeller, Souveränität, II, S. 104. Beispielsweise Heller, Staatslehre, S. 54. 317 An anderen Stellen spricht er auch von der Spannung der „sozialen Person“ und der „intimen Person“ (Staatslehre, S. 85), andernorts zwischen „Individuum“ und „Gesellschaft“. Dazu eingehend: Schluchter (1968: 153): Der Mensch bedarf nach Heller „der Gattung, der Anstrengung aller, um seine Wesensmöglichkeiten zu entfalten, aber er verwirklicht sich nur individuell, indem er sich gerade gegen diese Gattung distanziert.“ 318 Heller, Staatslehre, S. 79. 319 Damit ist sein Ziel absolut modern, denn auch in der aktuellen Debatte zwischen Kommunitaristen und Liberalen wird ein Begriff eines Individuums gesucht, dessen „differenziertes Bild eine dialektische Fassung des wechselseitigen Verhältnisses von Individuierung und Vergesellschaftung“ bieten müßte, „ein Modell des Verhältnisses von Subjekt und Gemeinschaft, das jenseits der Alternative von Atomismus und sozialem Monismus liegt“ [Forst (1994: 40)]. 315 316
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zweifelhaft, daß ein Individuum, welches sich völlig an die Gesellschaft verliert, damit zugleich die wesentlichste Kraftquelle seiner gesellschaftlichen Wirksamkeit einbüßt.“ 320 Das in der Gesellschaft allein aufgehende Individuum würde in der Ununterscheidbarkeit von den anderen Menschen seine dynamische Funktion für die Gesellschaft einbüßen. Heller faßt sein Vorstellungsbild, welches er hauptsächlich aus einer ablehnenden Haltung gegenüber der konstruktivistischen Einstellung der Neukantianer entwickelt, in einer Passage zusammen: „Im schärfsten Gegensatz zum Subjekt-Objekt-Verhältnis kennzeichnet sich also diese Relation als unbedingte Reziprozität der sich im Wechselbezug bestimmenden, miteinander perspektivisch verschränkten Subjekte; es ist das Übereinandergreifen, die ‚Reziprozität der Perspektiven‘, welche den die ‚gleiche‘ Wirklichkeit schauenden und in sie wirkenden Subjekten doch die unbedingte Individualität ihres perspektivischen Tuns und Erlebens garantiert. Das einzelne Subjekt bleibt Erlebnismittelpunkt und Aktzentrum der gesellschaftlichen Wirklichkeit; aber es wird und ist das nicht als isolierte, fensterlose Monade, sondern nur in seiner Wechselbezogenheit mit anderen Subjekten, so daß das Ich ohne korrelierende Du, die sich beide erst gegenseitig erwecken, gar nicht gedacht werden kann. Ein Aufbau der gesellschaftlichen Wirklichkeit aus ‚inselhaften getrennten Ichs‘ mittels ‚Beziehungen‘ oder ‚Wechselwirkungen‘ ist allerdings unmöglich. Nur durch den dialektischen Charakter des Ich-Begriffs, der den Gegensatz Substanz und Relation überwindet, ist es möglich, das Subjekt in die gesellschaftliche Wirklichkeit als wirkend und bewirkt einzustellen, ohne es zu einer Substanz zu verfestigen und die gesellschaftliche Wirklichkeit damit in Relation zu funktionalisieren.“ 321 Heller betont immer wieder das Spannungsfeld, in dem der Mensch lebt. Der Mensch ist aufgerufen, sich zu erkennen und daraus ein Entscheidungsmuster in distanzierender und doch zugleich eingebetteter Haltung, unter Rekurs auf die sittlichen Rechtsgrundsätze, zu gewinnen. Die Autonomie des Einzelnen bedeutet also nicht, daß eine Person nicht durch Werte und Bindungen in ihrer Identität bestimmt sein kann; sie bedeutet jedoch, daß eine Person erstens die Fähigkeit hat, diese kritisch zu überprüfen, und zweitens einen Sinn für Gerechtigkeit, dem zufolge sie bereit ist, anderen gegenüber nach Prinzipien zu handeln, die von anderen geteilt werden. Seine Ablehnung gilt dem „Bourgeois“, der unhinterfragt das positivistische Rechtsgerüst des Staates übernimmt und damit das Spannungsverhältnis einseitig aufzulösen versucht: „Nicht daß er (der Bourgeois 322) die gesellschaftlichen und staatlichen Normen achtet, sondern daß er sie verabsolutiert und in ihnen seine allerletzten seelisch-geistigen Fundamente besitzt, ist für den Bourgeois charakteristisch.“ 323 Dem Bourgeois entspricht damit ein possessiv-individualistisches Besitztumsdenken im Umgang mit subjektiven Rechten. Er versteht die Berechtigung 320 321 322 323
Heller, Staatslehre, S. 85. Heller, Staatslehre, S. 96. Eingefügt von M. S. Heller, Bürger und Bourgeois, II, S. 629.
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der subjektiven Rechte als reines Mittel für seine Willkür. Das Fehlen äußerer Rechtspflichten wird nicht durch innere Rechtspflichten kompensiert. Darauf ist das Rechtsmodell angewiesen, denn die Willkürfreiheit ist nur deshalb eingeräumt, weil niemand anderes eine Entscheidung für den Berechtigten fällen kann und niemand anderes legitimerweise eine Entscheidung über diesen Rechtsraum für sich beanspruchen kann. In der bourgeoisen Lesart der Rechte wird diese sittliche Deutung des Erlaubnisraumes quasi „weggekürzt“. Wenn ein jeder sein Recht willkürlich durchsetzt, dann ist darin nach Heller eine Verletzung des Reziprozitätsgrundsatzes zu sehen. Das Subjekt gewinne damit keine eigene selbstbestimmte, sittliche Identität, sondern eine – mit den Worten Hellers – „mesquine Existenz“ 324. Der „Bürger“ dagegen achte die Legalität, erkenne den Wert des positiven Rechts in seiner Planungssicherheit, welche soziale Beziehungen ermöglicht.325 Für ihn sei ein reflexiver Umgang mit dem Recht und den subjektiven Rechten charakteristisch. 326 Der Bürger finde sein letztlich dominierendes Handlungsmotiv nicht in der bestehenden Ordnung, sondern in der reflexiven Einstellung zu dieser Ordnung unter Einschluß der zugrunde liegenden Werte. Ähnlich wie in Kants Modell kann die staatliche Rechtsordnung nur eine relative Richtigkeit für sich in Anspruch nehmen: „Damit entsteht aber im modernen Staat ein notwendiger und unaufhebbarer Konflikt zwischen Rechtmäßigkeit und Rechtssicherheit. Notwendig ist dieser Konflikt, weil in einem lebendigen Staatsvolk niemals volle Übereinstimmung herrschen kann über den Inhalt und die Anwendung der geltenden Rechtsgrundsätze. Unaufhebbar ist er, weil beide, der Staat und der Einzelne, nur in diesem Spannungsfeld Leben haben, in welchem positives Recht und Rechtsgewissen sich befinden.“ 327 Dieser Konflikt ist bereits von Kant her bekannt, der es ebenfalls auf das Spannungsfeld zwischen den zugrunde liegenden Prinzipien und den positivierten Rechtsregeln zurückführte. Deshalb lehnt Heller mit Hegel den „Bourgeois“ ab, der nur sich selbst zum Zweck hat, „alles andere ist ihm nichts“ 328. Bei Hellers „Bürger“ ist dagegen jeder (jedes Ich und jedes Du) Zweck an sich selbst, denn das Ich ist ohne das korrespondierende Du nicht denkbar. Diese reziproke Verbundenheit setzt voraus, die Konstitutionsbedingungen des anderen stets mitzubedenken, genau wie den Zweck des Staates. Daraus ergibt sich eine Ich-Du-Verantwortung als Grundphänomen aller personalen Grundverhältnisse. Dieses Identitätsmodell erinnert stark an den oben vorgestellten Bildungsprozeß, wie er sich nach Mead darstellt. 329 Mit ihm teilt er den starken Bezug auf den anderen Menschen, das Du. Heller trennt hingegen von Mead, daß nach ihm die AnerHeller, Bürger und Bourgeois, II, S. 629. Vgl. Heller, Bürger und Bourgeois, II, S. 629. 326 Heller, Bürger und Bourgeois, II, S.629: „Daß die bloß bürgerliche Sekurität (ist) klar abzugrenzen von der bourgeoisen Sekurität.“ 327 Heller, Staatslehre, S. 256. 328 Heller, Staatslehre, S.137; bei Hegel findet sich die Stelle in §182 der Rechtsphilosophie. 329 Vgl. oben, 171 ff. 324 325
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kennungsinstanz in dem Subjekt selbst liegt, vor allem in seinem Gewissen und nicht in dem Du, bzw. dem generalisierten Anderen. Trotz aller Betonung der reziproken Verschränkung bei Heller ist die Selbstwerdung der Person weniger in der Übernahme der Perspektive eines generalisierten Anderen zu sehen, sondern in der Mitreflexion seiner Position aus der Perspektive des Subjektes selbst. 330 Von daher ähnelt seine Konzeption mehr der Kants, da das „Du“ bzw. der „Staat“ als Zweck an sich selbst ausgezeichnet werden, und die moralische Selbstverwirklichung anhand der anleitenden Funktion des Gewissens diese Grundsätze mitreflektieren muß, um zu einer konsistenten Entscheidung zu gelangen. Diese Entscheidung steht dann im Einklang mit der Einheit bzw. Identität des Subjekts. Von dem Modell der wechselseitigen Verschränkung der Perspektiven ausgehend, liegt es nahe, auch bei Heller eine wechselseitige Zuschreibung von Rechten anzunehmen, wie sie schon oben bei den „Berechtigungen“ anklang. Die Grundrechte, welche den Rechtsgrundsätzen innewohnen, würden also nicht nur im StaatBürger-Verhältnis Geltung beanspruchen, sondern auch im Privatrechtsverhältnis. Hier bleiben seine Aussagen sehr dünn. Die Mitreflexion des Anderen macht nur Sinn, wenn man ihm bestimmte Rechte/„Berechtigungen“ einräumt; nur das gleichgestellte Individuum kann als Anderes in eine moralische Reflexion der wechselseitigen Verschränkung der Perspektiven eingezogen werden. Jedes neue positivgesetzliche Recht ist stets im Zusammenhang mit den Rechten anderer zu sehen. Es wäre eine Verletzung des Reziprozitätsgrundsatzes, wenn ein jeder seine Rechte ungeachtet der Rechte anderer durchsetzen würde. Letztlich bedeutet damit der Grundsatz der Reziprozität: wechselseitig in der Freiheit des Anderen die Voraussetzung der eigenen Freiheit erkennen. Nur so ist nach Heller die Entfaltung des Menschen, d. h. Selbstverwirklichung, möglich. Damit nähert sich sein Rechtsverwirklichungsmodell sehr dem Kantischen Modell an. Hieraus folgt ein weiteres Problem: Trotz der von Heller letztlich offen gelassenen – sehr schwierigen – Frage, ob die wechselseitige Zuschreibung von Rechten nur kontextgebunden und kulturbedingt ist, setzt diese Annahme einen universalen Gerechtigkeitsbegriff voraus. 331 Die Mitreflexion des Anderen – das Du ist nicht auf ein spezielles Individuum mit bestimmten Merkmalen begrenzt – ist ein ubiquitär angelegtes Programm. Die staatliche Konkretisierung in einer bestimmten RaumZeit-Situation durch das jeweilige positive Recht mag dieses universale Programm der Zusprechung von Rechten einschränken, an dem diesbezüglich universalistischen Gehalt der Rechtsgrundsätze ändert dies nichts. Da das Modell der reziproken Verschränkung und damit das transpersonale Rechtsmodell die gesamte Identitätskonstruktion durchzieht, gibt es bei Heller auch 330 Dies kommt etwa bei der unterschiedlichen Deutung der „Gebärde“ zum Vorschein: bei Mead versteht der Aktor in der Reaktion des Anderen den Ausdruck der eigenen Intention; bei Heller ist die Gebärde die Möglichkeit für andere, den Handelnden zu verstehen; vgl. einerseits Heller (Staatslehre, S. 95 f.) und andererseits Mead (1991: 100 ff.). 331 Zu diesem Gerechtigkeitsbegriff, vgl. auch Günther (1988: 352 ff.).
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keine Aufspaltung der Person in bspw. einen homo iuridicus, homo oeconomicus und homo moralicus, dessen Einheit erst wieder künstlich hergestellt werden müßte, woran das Modell von Schmitt letztlich scheiterte. In den verschiedenen Sphären menschlichen Wirkens gibt es nur eine verschiedene Gewichtung der bestimmenden Merkmale, keine grundsätzliche Verschiedenheit. Da die verschiedenen Rollen des Subjekts auf ein einheitliches Modell zurückgeführt werden können, bereitet Heller die Einheit des Subjekts keine Schwierigkeit. Dies bedingt jedoch, daß es insoweit keine Sphäre gibt, die der freien Willkür und der reinen Interessendurchsetzung anheimfällt. Der Mensch ist in all seinen Rollen zur sittlichen Entscheidung unter Androhung des eigenen Einheitsverlustes aufgerufen. Deshalb ist der klassische Dualismus von Staat und Gesellschaft für Heller nicht begründbar. Durch die dargestellte transpersonale und dialektische Konstruktion des Ich versucht Heller, die Möglichkeit des reflektierten Subjektes, das zugleich in seine Umwelt eingebettet ist, sich jedoch auch von dieser distanzieren kann, nicht einfach als metaphysische Annahme vorauszusetzen. Heller zeigt die ungeheure Anforderung an den Menschen auf, der in einer ständig angespannten Situation leben muß, um sich zu verwirklichen. Hierin liegt eine unaufgebbare Selbstverantwortung des Individuums, die auf die Gemeinschaft nicht übertragen werden kann, will man die Autonomie des Individuums wahren. Dies ist nicht zu verwechseln mit einem reinen Individualismus. Die dialektische Konstruktion begründet stets die Verpflichtung, sich mit den kulturellen Zwecken auseinanderzusetzen und dadurch zu einem Miteinander zu kommen. Nur kann niemand auf die eigene Verantwortung verzichten. Insoweit steht jede Entscheidung unter dem Vorbehalt des Gewissens, welches dafür sorgt, daß die Handlungen und Entscheidungen ein Kontinuum finden, und das Subjekt selbst seine Identität findet und bewahrt. Wenn diese transpersonale Auffassung Hellers in der Sekundärliteratur als „funktionalistische Eingliederung“ des Subjekts in die Einheitsbildung des Staates gedeutet wird, weil Heller die „Menschen auf ihre Funktion als Mittel für die Erzielung eines Zwecks“ – staatliche Einheit – reduziere, 332 dann wird verkannt, daß dabei immer die Selbstverwirklichung des einzelnen Subjekts im Auge behalten wird und daß es die faktischen Subjekte selbst sind, die Teil des Staates sind. Anders als bei Schmitt geht es hier bei der Rechtsverwirklichung nicht um die Verwirklichung eines noumenalen Subjektes, für welches das empirische Subjekt reine Funktion ist (dazu oben, Seite 227 ff.). Heller verweist in all seinen Entscheidungsmodellen auf das faktische Subjekt, welches eine seinsollende Einheit darstellt. Deshalb ist der Begriff „Funktionalisierung“ für seine Theorie unangemessen, da in jeder staatlichen Entscheidung und in jeder durchzusetzenden Rechtsposition die reflektierte Anwendung durch das faktische Subjekt gefordert wird. Der Mensch wird dadurch niemals durch den Staat entmündigt. Er ist keine Funktion für den Staat. Nach diesem Bild der Selbstverwirklichung des Menschen, welches auf den Staat als kulturelle Organisation als eine Konstitutionsbedingung angewiesen ist, muß der Mensch 332
So Waechter (1994: 122).
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diese Bedingung in seinen Entscheidungen stets mitbedenken. Damit ist er nur insoweit „Funktion“ für den Staat, wie er sich selbst dazu macht. Er kann sich selbst dazu entscheiden. Er ist derjenige, der diese staatliche Entscheidung trägt. Bei Schmitt hat das Subjekt diese Entscheidungsmöglichkeit für den Staat und damit für sich selbst erst gar nicht: „Das dialektische Verhältnis von Individuum und Staat (bedingt), daß die unmittelbar auf Gesellschaftsgestaltung gerichteten Ordnungen stets ihren Umweg über die individuelle Person nehmen müssen, während die unmittelbar auf Persönlichkeitsgestaltung gerichteten Normen notwendig mittelbare gesellschaftsgestaltende Wirkungen haben.“ 333 Autonomie ist nach Heller als isolierte Handlung nicht zu haben, sondern es bedarf eines kulturellen Kontextes, der eben auch die Erhaltung des Staates zur Folge hat: „Menschen sind eben keine Ziegelsteine, und selbst die kann man nicht völlig willkürlich, sondern nur unter Beachtung ihrer naturgesetzlichen Eigenschaften ordnen. Gewiß muß jede bewußte Einheitsbildung den Menschen als Mittel für den Zweck einheitlichen Erfolgs verwenden. Wann und wieweit diese Verwendung des Menschen als Mittel aber durchführbar ist, das hängt wesentlich davon ab, was organisiert wird.“ 334 Wenn dagegen alles zur Disposition des Individuums stünde, auch die Einheit des Staates, dann könnte sich so etwas wie eine Identität nicht bilden. 335 Ohne Identität wäre nach Heller „Chaos“ 336. Menschliche Kultur ist abhängig von einem kontinuierlichen Kulturkontext, 337 der eine Ordnung vorgibt. Das Miteinander bedingt, daß das positive Recht die Freiräume quasi vorskizziert, die dann den Einzelnen über überlassen werden: „Über unsere gesellschaftlichen Willensakte muß, soll es geordnetes Zusammenleben, physische und metaphysische Selbsterhaltung geben, durch einen autoritären Gemeinschaftswillen wirksam entschieden sein, bevor wir uns in diesen für die Einheit des gebietsgesellschaftlichen Zusammenwirkens notwendigen Fragen individuell entscheiden.“ 338 Hellers Ansatz geht also nicht über das hinaus, was als Konstitutionsbedingungen des Rechtsstaates schon nach Kant eine gewisse Funktionalisierung der Person möglich gemacht hat. Qualitative Identität und Kontinuität bedingen sich gegenseitig. Kontinuität bedarf bestimmter Strukturen, die überhaupt erst erlauben, indiviHeller, Staatslehre, S. 209. Heller, Staatslehre, S. 105. 335 Vgl. auch Schild (1981 a: 264): „Es ist daher nicht angemessen, die staatliche Rechtsordnung bloß als Mittel zu einem Zweck – nämlich zur Ermöglichung von Autonomie – aufzufassen. Sie hat immer auch Eigensinn und -wert in sich.“ 336 Vgl. Heller, Staatslehre, S. 288. Vgl. auch Robbers (1993: 71): „Anders als bei Kelsen ist für Heller der Staat nicht aus logischer, aber aus existentieller Notwendigkeit Rechtsstaat: Ein Staat, der die überpositiven, kulturell gewachsenen Rechtsgrundsätze mißachtet, muß ins Chaos führen.“ (Herv. nicht im Original). 337 Vgl. Heller, Kultur, I, S. 429: „Daß es menschliche Kultur gibt, hängt allein von der Kulturkontinuität ab, also davon, daß der Mensch nicht nur der biologische Nachkomme, sondern auch geistiger Erbe ist, daß ihm vom ersten Tag seiner Geburt an der gesamte Erfahrungsschatz der Menschheit zur Verfügung steht.“ 338 Heller, Souveränität, II, S. 202. 333 334
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Kap. 3: Systematische Aktualisierung
duelle Entscheidungen zu fällen, welche allein das einzelne Subjekt berühren. Damit diese Freiräume eingeräumt werden können, bedarf es bestimmter gesellschaftlich ausgerichteter Entscheidungen. Insofern ist der Mensch Mittel für einen (staatlichen) Zweck. Mittelbar ist er dieser Zweck selbst, denn letztlich geht es um seine Selbstverwirklichung. Deshalb geht auch jeder Versuch, eine Ähnlichkeit zwischen Schmitts Idee der Rechtsverwirklichung Vorstellungen von Heller herauszukristallisieren, in die Irre. 339 Denn beide verstehen unter der Selbstverwirklichung des Menschen im Recht etwas grundsätzlich Verschiedenes: Schmitt geht es allein um die Verwirklichung des homo noumenon. Daher kreiert er den homo iuridicus. Heller geht es dagegen um den wirklichen, seinsollenden Menschen. Wann immer der Staat für diese Aufgabe als Hilfskonstruktion benutzt wird, stets nimmt er nach Heller bei all seinen Handlungen den „Umweg über die individuelle Person“ 340: Jede staatliche Handlung kann nur durch eine in der moralischen und sittlichen Pflicht stehende Person durchgeführt werden, die ihre Handlungen an den Rechtsgrundsätzen zu überprüfen und jede Handlung zu verantworten hat – auch vor sich selbst. Bei Schmitt hingegen ist das einzelne empirische Individuum für die Rechtsverwirklichung reine Funktion. Um seine Selbstverwirklichung geht es nicht. Als lediglich ausführendes Organ steht es damit auch nicht in der Verantwortung vor dem eigenen Gewissen. Wenn der Staat einmal auf einer Art empirischer Ausführungsautomat (Schmitt), ein andern mal aber auf dem verantwortungsvollen Individuum aufbaut (Heller), ist jede Ähnlichkeit zwischen den beiden Rechtsverwirklichungsmodellen argumentativ nicht vertretbar. Hierin zeigt sich der Unterschied zwischen dem überindividuellen und dem transpersonalen Rechtsverwirklichungsmodell. Festzuhalten ist damit: Nach Heller bedingen Recht und Identität einander im Umgang mit Rechten. Erstens ermöglicht Recht durch die Einräumung von Freiheitsbereichen die Verfolgung eigener Zwecke, die zur Selbstverwirklichung und -bestimmung notwendig sind. Zweitens führt die Verankerung der moralischen Identität in den Rechtsgrundsätzen dazu, eine Revision der eigenen Positionen und (positiven) Rechte zuzulassen und nicht zuletzt dadurch in dem Rechtsvollzug die eigene Identität zu wahren. Und drittens erlaubt das Recht Ansprüche an den Staat, aber auch an den (privaten) anderen, erheben zu können, welches eine wichtige Voraussetzung von Selbstachtung bzw. Selbstsicherheit darstellt. Kein Bereich kann dabei auf einen verantwortungsvollen Umgang mit Recht bzw. mit Rechten anderer verzichten. Eine moralische Identität ist damit strukturell zur Kompensation der äußeren Einräumung von Willkürbereichen in diesem Rechtsmodell vorausgesetzt. Das Recht ist in diesem Sinne die mit staatlicher Macht versehene Möglichkeit, seine sittlichen Pflichten vollbringen zu können, über die man nur selbst 339 So aber Waechter (1994: 125): „Der Staat findet nach Heller in dieser Aufgabe seine Legitimation: Hilfestellung für die Tendenz der Rechtsgrundsätze zu ihrer sozialen Verwirklichung. Damit stellt Heller den Staat in eine ähnliche Beziehung zum Recht wie Schmitt in der Schrift über den Wert des Staates.“ 340 Heller, Staatslehre, S. 209; dazu bereits oben.
IV. Hermann Heller: Einheit in der Vielheit
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bestimmen kann. Deshalb ist es umgekehrt eine Art innere Pflicht, sein Recht zu wahren, damit das Recht insgesamt als Voraussetzung der Freiheit aller verwirklicht wird. Hier findet sich der bei Kant herausgearbeitete Gedanke wieder: Nur über die Achtung der Rechte anderer, die auch bei der Ausfüllung des subjektiven Freiheitsraumes gesehen werden müssen, stellt sich Selbstachtung und damit eine Voraussetzung für eine kontinuierliche Identität im Wechsel von Zeit und Raum her. 341 Damit konnte gezeigt werden, daß für den transpersonalen Ansatz von Heller gilt, was schon Niemeyer über ihn gesagt hat: „Abgesehen von der konkret-wissenschaftlichen Linie, die bei Heller weder in die Nähe Kelsens noch in die Carl Schmitts, sondern vielmehr genau in die Mitte zwischen beiden hindurchführt, wird seine grundverschiedene Erkenntnishaltung gekennzeichnet durch die für ihn fundamentale Frage nach dem Warum und Wozu von Staat und Recht, mit welcher er den politischen Formalismus überwindet.“ 342
341 Dieser Gedanke bestimmt auch das Denken einiger Zeitgenossen Hellers; vgl. etwa die Ansicht seines „Lehrers“ Radbruch (1956: 139 f.): „Das Recht dient der Moral nicht durch die Rechtspflichten, die es auferlegt, sondern durch die Rechte, die es gewährt. Es ist nicht mit seiner Pflichtseite, sondern mit seiner Rechtsseite der Moral zugekehrt. Es gewährt den Einzelnen Rechte, damit sie ihren moralischen Pflichten um so besser genügen können. Man denke etwa an die in dieser gesuchte Rechtfertigung des Eigentums: ‚Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Beste‘ (Art.153 RV.). So erst erklärt sich das ethische Pathos, das auf dem subjektiven Recht ruht, die Tatsache, daß der Gedanke: ‚Mein Recht!‘ genau wie der Gedanke: ‚Meine Pflicht!‘ jenes Gefühl der Erhabenheit einflößt, welches die Einzelseele immer dann erlebt, wenn sie sich eines ihr waltenden übergreifenden Bewußtseins, der Menschheit im Menschen ehrfürchtig bewußt wird. Der moralische Stolz, sonst immer nur mit dem verknüpft, was man sich selber abringt, ist im subjektiven Recht mit dem, was man anderen abringt, verbunden; der Trieb und das Interesse, durch die Norm sonst immer gefesselt, wird hier umgekehrt durch die Norm entbunden. Mein Recht ist im Grunde das Recht, meine moralische Pflicht zu tun – und deshalb ist es umgekehrt meine Pflicht, mein Recht zu wahren. In seinem Rechte kämpft man für seine Pflicht, für seine moralische Persönlichkeit.“ 342 Niemeyer (1983: 3), Herv. nicht im Original.
Kapitel 4
Ergebnis und Ausblick I. Ergebnis der Untersuchung Als Ergebnis dieser Untersuchung läßt sich festhalten: Nach Kant bildet sich die qualitative Identität des denkenden und handelnden Subjektes nur durch den verantwortungsvollen Umgang mit Prinzipien, die die Kontinuität des Subjektes über die Fragmentarisierung des situativen Lebens hinweg sichern. 1 Neben das bekannte „Ich-denke“ als Voraussetzung der theoretischen Erkenntnis tritt das „Ich-handle“. Ich kann mir nach Kant nur dann sicher sein, daß Ich handle, wenn ich gemäß dem Sittengesetz als letztem Bestimmungsgrund handle, in dem Ich meine Identität finden kann. Der Mensch, in ein Spannungsgefüge zwischen Idee und Faktizität eingebunden, kann seine praktische Identität erst in der verantwortungsvollen Entscheidung herausbilden, die den anderen als achtungswerte Person stets mitreflektiert. Über den Achtungsbegriff gewinnt Kant die intersubjektive Perspektive, die er methodisch durch die Doppellung des Menschen als gleichzeitig noumenales und phaenomenales Wesen herstellt. Die Achtung gilt dem noumenalen Teil der Person, die sich dem realen Menschen aber gleichsam als noumenaler Teil in sich selbst wie als noumenaler Teil eines jeden Anderen präsentiert. Die Pointe seines intersubjektiven Ansatzes liegt darin, daß Selbstachtung und die Achtung anderer derart verknüpft sind, daß die Mißachtung der anderen Person stets auch zur Mißachtung der eigenen Person führt (und umgekehrt). Praktisches Selbstbewußtsein enthält damit über die Dimension der Achtung einen ursprünglichen Bezug auf andere und entsteht dennoch monistisch, also ohne Rekurs auf äußere Instanzen, allein aus dem Grund des Individuums. Hier knüpft Kant an die alte Tradition des „Erkenne Dich selbst“ an. Äußerlich findet dieses Reziprozitätsverhältnis sein Pendant im Recht. Die Rechtsprinzipien sind ursprüngliche Bedingungen des vernünftigen MiteinanderSeins. Durch die Ausgestaltung des subjektiven Rechts als Freiheitsraum, über den nur der einzelne entscheiden kann, losgelöst von äußeren Pflichten gegen das Gemeinwesen, bekommt der einzelne die Möglichkeit, die Prinzipien auch in die strikten Regelordnung des positiven Rechts einzubringen. Die dynamische Ausrichtung des Rechtsstaates ist sogar auf die sittliche Ausfüllung der Freiheitsräume 1 Auch Gerhardts (1999: 390) Kant-Analyse arbeitet Voraussetzungen eines qualitativen Individualismus heraus. Seiner Forderung, sich den Blick nicht durch einen dogmatischen Kantianismus trüben zu lassen, kann aufgrund der hier gefundenen Ergebnisse nur zugestimmt werden.
I. Ergebnis der Untersuchung
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angewiesen, da nur so eine Dynamisierung des weltlichen Staates möglich ist, zu der der Mensch durch seine schuldhafte Veranlagung aufgerufen ist. Die rechtlichen Prinzipien reichen in die rechtliche Entscheidung hinein, in denen der Mensch über die Durchsetzung seines als Regel ausgewiesenen Rechtsanspruches entscheiden soll. Damit ist der rechtliche Vollzug immer an die Bildung und Bewahrung von praktischer Identität geknüpft, weil auch dieser eine Handlung wie jede andere ist. Die rechtliche Entscheidung gewinnt dadurch zugleich eine Bedeutung für die Bildung der Identität, weil nur die selbstbestimmte Entscheidung dem Menschen die nötige Selbstachtung verschafft, die ihn zu einer Persönlichkeit werden läßt. 2 In den sittlichen Gesetzen findet sich ein Bestimmungsgrund, der der Person die nötige Gewißheit gewährt, sowohl in den vertikalen als auch horizontalen Ausdifferenzierungen seines Lebens die gleiche Person sein zu können. 3 Die Rechtsprinzipien sind idS. transzendentale Bedingungen des „Ich-handle“, ohne deren Berücksichtigung im menschlichen Miteinander keine vertikale und horizontale Identität möglich ist. Verleiht das Recht zwar in der sozialen Dimension eine Entlastungsfunktion gegenüber den berechtigten oder unberechtigten moralischen und rechtlichen Ansprüchen anderer, so bleibt der Einzelne in der Rechtsentscheidung doch auf sich allein gestellt. Indem ein jeder Mensch gleichzeitig in einem inneren und einem äußeren Rechtsverhältnis steht, kann er die Argumente für seine sittliche Entscheidung mit Hilfe des Vernunftrechts finden, die er in die statische, positive Rechtsordnung einbringen soll. Dieser Dualismus kennzeichnet die gesamte Kantische Rechtstheorie. So wie der Staat in der Statik der positiven Rechtsordnung auf den moralischen Impetus seiner Staatsbürger angewiesen ist, um sich als einheitliches Gemeinwesen herzustellen und zu entwickeln, so kann und muß nach Kant der Einzelne aus dem Korsett der regelgeprägten positiven Rechtsordnung durch die Anwendung der Prinzipien in den rechtlichen Freiheitsräumen herausschlüpfen, um sich selbst als Persönlichkeit und als Einheit zu formen. Angesichts dieser Aufforderung an den Menschen kann festgehalten werden, daß nach Kant die Zuordnung von Recht, Moral und Identität von jedem Einzelnen zu berücksichtigen ist. Die positive Rechtsordnung hat dieser Zuordnung durch ihre prozedurale Ausrichtung Rechnung zu tragen, gleichwohl ist jeder einzelne Rechtsanwender aufgerufen, in jeder Rechtsanwendung dieses Verhältnis mitzureflektieren, und kann sich nicht vor sich selbst auf der durch den Staat vorgenommenen Zuordnung ausruhen. Auch keine noch so sittlich ausgerichtete Rechtsordnung kann den Einzelnen von seiner hohen Entscheidungslast befreien. In jeder Rechtsanwendung kann (und muß) sich einzelne als „Gesetzgeber“ bewähren und kann damit zugleich seine Selbständigkeit gewinnen. Erst so wird die rechtlich mögliche Handlung zur legitimen Handlung. Dabei stellt sich diese Aufforderung für jede Rechts2 Vgl. Waldron (1993: 81): „To make a decision in these areas is, in some sense, to decide what person one is to be.“ (Herv. nicht im Original). 3 Vgl. zu der horizontalen und vertikalen Ausdifferenzierung einer Person Brugger (1996 b).
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Kap. 4: Ergebnis und Ausblick
anwendung: für die Rechtsdurchsetzung ebenso wie für den Rechtsverzicht. Denn nach Kant kann der Rechtsverzicht u. U. ebenso illegitim wie die unreflektierte und rechtsmißbräuchliche Rechtsdurchsetzung sein. Kant unterscheidet von Kelsen, daß er dem Menschen die Prinzipien für seine Entscheidungen aufzeigt. Kelsen bezahlt in seiner individualistisch ausgerichteten Rechtsverwirklichungstheorie einen hohen Preis dafür, daß er den einzelnen Menschen in seiner Rolle als Prometheus überfordert, der den Menschen die Wahrheit der subjektiven Einsicht in den allgemein geteilten Prinzipienhorizont bringen möchte. Der Mensch wird vollkommen allein gelassen. Die Auseinandersetzung mit Kelsens Werk gelangte daher zu dem Ergebnis, daß die Negierung aller verbindenden Werte den situativen Menschen heraufbeschwört, der in seiner allumfassenden Freiheit den gleichen antiindividualistischen Strömungen ausgeliefert ist, die Schmitt für seine überindividualistische Rechtsverwirklichungstheorie gerade einfordert. Beide können die Einheit des Subjektes nicht erklären und erfreuen sich gerade deshalb in der postmodernen Welt des nachaufklärerischen Zeitalters einer allgemeinen Beliebtheit, die jedes Streben nach Einheit nur als Zwang gegen eine neue Freiheit versteht. Die Theorien beider Staatstheoretiker der Weimarer Republik münden in einen Dezisionismus, der die allgemeinverbindliche Kraft unisierender praktischer Prinzipien ablehnt und damit den situativen Entscheidungsanforderungen einer funktionalen Welt genügt, die in immer mehr Bestandteile zerfällt. In dieser wird Staatsbürgerschaft nur noch als ein bequemes Mittel benutzt, den Unwillen über die Regierenden zu äußern, nicht aber mehr als Aufruf zu verantwortungsvoller, politischer Gestaltung verstanden. 4 In der vollkommensten Welt dieses nachmodernen Verständnisses ersetzt die Regel das Prinzip, weil jede Situation von der vorherigen unterschieden ist und das allgemeine Prinzip aus ihrer Sprache verbannt. Jede Situation wird nach ihrer eigenen Regel behandelt, die ihren Ursprung in einem gemeinsamen Prinzip verloren hat. In diesem Verständnis des Hier und Jetzt bringt jeder Blick auf eine Dauer nur Unklarheiten, weil sich keine Verbindung mehr herstellen läßt. Nach Kant hingegen verliert jeder Mensch ohne Rekurs auf eine verbindende Begründung sich selbst. Hellers Theorie zeigt einen Versuch, den Ausgleich von Prinzip und Regel in die Rechtsordnung selbst hineinzutragen und damit einen institutionalisierten Prozeß von Kontinuität zu schaffen. Gleichwohl bleibt das einzelne Subjekt der maßgebliche Akteur und verantwortet seine Einheit. Damit zielt seine transpersonale Rechtsverwirklichungstheorie auf die Einheit des Subjektes. Heller findet die intersubjektive Perspektive des Subjektes wieder, die seinen Zeitgenossen abhanden gekommen ist. Für die untersuchten Theorien gilt damit, daß nur die Rechtstheorien, die absolute und damit unbedingte Rechtsprinzipien anerkennen, eine intersubjektive Perspektive gewinnen können und deshalb daran festhalten, den anderen Menschen in der Rechtsdurchsetzung stets mitzureflektieren. Heller erscheint damit – unerwartet – als der Erbe Kants, der dessen Gedanken wiederaufgenommen hat. 4
Vgl. Guehenno (1993: 170).
II. Ausblick
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Die Analyse der Kantischen Theorie und der Rechtstheorien der drei Weimarer Staatstheoretiker, hat damit zum Ergebnis, daß die Untersuchung des hinter den Rechtstheorien stehenden Identitätsmodells zusätzliche Gesichtspunkte für die Zuordnung von Recht und Moral aufzeigen kann. Erst wenn man das hinter den Rechten stehende Identitätsmodell klärt, läßt sich die Funktion der Rechte bestimmen. Zumindest für die drei Weimarer Staatstheoretiker hat sich hierfür die Einordnung zugunsten eines individualistischen, überindividualistischen oder transpersonalen Rechtsverwirklichungsverständnisses als hilfreich erwiesen. Jedoch, gleich für welches Modell man sich entscheidet, bleibt festzuhalten: Rechte sind nur Möglichkeiten zur, keine Verpflichtung auf, aber erst recht keine Garantie für Sittlichkeit (des einzelnen oder des Gemeinwesens). Für die eingangs gestellt Frage, ob das Haben ein subjektiven Rechts auch eine legitime Handlung gewährleistet, lässt sich die Einsicht gewinnen dies, daß sich diese Frage nur für Personen mit Persönlichkeit stellt. Legitim ist die Handlung dann, wenn die Person die Handlung im Rahmen des Rechts vor ihren Idealen vertreten kann.
II. Ausblick Die Arbeit plädiert damit für einen verantwortungsvollen Umgang mit subjektiven Rechten. Nur so können aus den Rechtsmöglichkeiten legitime Handlungen entstehen. Der Einsatz der Person für ihre Rechte ist wesentlich, damit sie sich zur Persönlichkeit bilden kann. Dabei darf der Einsatz nicht mit einer rein egoistischen Interessenbefriedigung verwechselt werden, sondern die sittliche Perspektive bleibt dem Rechtsverwirklichungsmodell eingeschrieben. Die Einsicht der Kantischen Rechtstheorie ist, daß nicht die fürsorgliche Gewährung von Rechten für die Ausbildung von Selbstachtung sorgt, sondern der verantwortungsvolle Umgang mit dem Recht. 5 Nur so kann sich der Mensch als mit sich selbst identisch beweisen. Niemand kann dem Menschen das Aushalten des Spannungszustandes zwischen den verschiedenen situativen Anforderungen und den übergreifenden sittlichen Prinzipien abnehmen. Als Aufgabe für die Rechtstheorie hat sich damit herauskristallisiert, das sowohl bei Kant als auch den drei Weimarer Staatstheoretikern ungelöste Zusammenspiel von Regeln und Prinzipien so zu bestimmen, daß gleichzeitig die Autonomie des 5 Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, sei an dieser Stelle nur darauf hinweisen, daß diese Reflexionen zunächst nur für die entwickelten Gesellschaften westlichen Zuschnitts gelten. Wenn es um die Beurteilung von offensichtlichen Unrechtsregimen gehen würde, hätte der Focus der Arbeit anders gesetzt werden müssen, und wahrscheinlich wäre die Beurteilung mancher Passagen anders, zumindest aber ausführlicher ausgefallen. Sicherlich kommt auch der Zuweisung von subjektiven Rechten eine wichtige Rolle für das Selbstverständnis des Einzelnen zu, jedoch darf nicht vergessen werden, und das soll die Arbeit zeigen, daß die eigentliche Selbstbestimmung die Bildung einer Identität voraussetzt, die nicht nur auf dem fürsorglichen und moralischen Handeln anderer aufbaut, sondern vor allem selbst sich an die sittlichen Prinzipien gebunden weiß.
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Kap. 4: Ergebnis und Ausblick
Subjektes gewahrt und die Antinomie zwischen dem Rechtspositivismus und dem Naturrechtsmodell eines mathematisierten Zuschnitts nicht einseitig aufgelöst, sondern versucht wird, Verbindungen zu finden. 6 Diese Aufgabe darf nicht als rein juridische verstanden werden, sondern muß dem aufgezeigten Zusammenhang mit der Identitätskonstituierung verbunden sein. Letztlich ist die Aufgabe eine individuelle: Ebenso wie für die Rechtsanwendung gilt für das Leben der Person. Jeder einzelne Mensch muß sich entscheiden, ob er noch eine Einheit finden oder sich in den Erlebnisströmen verlieren möchte. Das Recht allein kann die kulturellen Orientierungsverluste weder kompensieren noch aufhalten. Wenn das qualitative Ich abhanden kommt, verliert der Mensch nicht nur seine Identität, sondern sich selbst. Eine Moral im Kantischen Sinne kann es unter diesen Umständen nicht mehr geben, weil diese auf einem autonomen Subjekt aufbaut. Entscheidet man sich gegen diese segmentierende Strömung, dann zeigt sich die Aktualität von Hellers Motto: Die „Einheit in der Vielheit“ stellt sich als ein schon bei Kant aufzeigbares transzendentales Gesetz der Kontinuität des Subjektes und damit als Grundfrage praktischer Lebensgestaltung dar.
6 Vgl. auch Höffe (1989: 123) und die Beiträge des Sammelbands, hrsg. von: Schilcher/Koller/Funk (1990).
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