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German Pages 304 Year 2023
R ECHT UND PHILOSOPHIE Band 14
Die Normativitätsstruktur subjektiver Rechte Eine rechtsdogmatische Untersuchung ausgehend von Menkes Kritik der Rechte
Von
Isabelle M. Kutting
Duncker & Humblot · Berlin
ISABELLE M. KUTTING
Die Normativitätsstruktur subjektiver Rechte Eine rechtsdogmatische Untersuchung ausgehend von Menkes Kritik der Rechte
Recht und Philosophie Herausgegeben von Prof. Dr. Eberhard Eichenhofer, Jena Prof. Dr. Stephan Kirste, Salzburg Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Michael Pawlik, Freiburg Prof. Hans-Christoph Schmidt am Busch, Braunschweig Prof. Dr. Klaus Vieweg, Jena Prof. Dr. Benno Zabel, Bonn
Band 14
Die Normativitätsstruktur subjektiver Rechte Eine rechtsdogmatische Untersuchung ausgehend von Menkes Kritik der Rechte
Von
Isabelle M. Kutting
Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena hat diese Arbeit im Jahr 2021 als Dissertation angenommen.
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
© 2023 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany
ISSN 2509-4432 ISBN 978-3-428-18645-7 (Print) ISBN 978-3-428-58645-5 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Das Erscheinen von Christoph Menkes Kritik der Rechte im Jahr 2015 war ein sozial- und rechtsphilosophisches Ereignis. Für mich stellte die Lektüre eine einzigartige Verbindung zwischen meinem gesellschaftskritischen Interesse und meiner juristischen Ausbildung her. Während das Recht im Kontext gesellschaftlicher und sozialer Pathologien meist als einer von vielen Faktoren begriffen wird, schreibt Menke dem (subjektiven) Recht die zentrale Rolle bei der Entstehung entsprechender Pathologien zu. Diese Botschaft sollte die Rechtswissenschaft aufhorchen lassen, denn die Lektüre legt nahe, dass zu einer Lösung kein Weg an einer Neujustierung unseres subjektiv-rechtlichen Systems vorbei geht. Menkes fundamentale Kritik zielt auf die Form des subjektiven Rechts, mithin das Herzstück unseres Rechtssystems. Während ich mich in der von Menke geübten Gesellschaftskritik zu weiten Teilen wiederfinden konnte, weckte seine Rekonstruktion der Form des subjektiven Rechts eine gewisse Skepsis in mir. Diese Skepsis rührte von meiner juristischen Ausbildung her und stellte sich zunächst als diffuses Gefühl der Divergenz dar. Sie bildete den Ausgangspunkt meiner Untersuchung, in der ich mir zum Ziel gesetzt hatte, die Ursache dieses Gefühls zu ergründen. Menkes Rekonstruktion der Form des subjektiven Rechts erwies sich dabei als äußerst haltbar, sodass das Platzieren von Kritik erst im Rahmen der zunehmenden Komplexität einer tiefgreifenden Auseinandersetzung möglich wurde. In diesem Stadium ließ sich die anfängliche Skepsis nun fassen. Die diffusen Vorbehalte nahmen eine konkretere Gestalt an und konnten anhand rechtsdogmatischer Figuren fundiert werden. Dabei machte für mich gerade die Beschäftigung mit der Schnittstelle von Recht und Philosophie den besonderen Reiz der Arbeit aus. Zwar kommt die rechtsdogmatische Betrachtung durchaus zu Erkenntnissen über die Normativitätsstruktur subjektiver Rechte, die von der Menkeschen Betrachtungsweise abweichen. Gleichwohl kann der philosophische Ansatz von der Konfrontation mit konkreten rechtsdogmatischen Figuren profitieren, indem hierdurch die den Menkeschen Thesen innewohnende Schlagkraft für die Rechtswelt greifbarer wird. Auf diese Weise soll Menkes Werk stärker in die juristische Diskussion eingebunden und ein Beitrag zu einem ertragreichen interdisziplinären Diskurs geleistet werden. Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena nahm die vorliegende Dissertation im Wintersemester 2021/2022 als solche an. Die anschließende Drucklegung wurde freundlicherweise durch die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften sowie durch das Programm „ProChance – exchange“ der Universität Jena gefördert.
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Vorwort
Bedanken möchte ich mich zunächst bei Herrn Professor Dr. Christoph Menke für seine Offenheit und die Bereitschaft, meine Thesen gemeinsam zu diskutieren. Dem Gespräch mit ihm kommt entscheidende Bedeutung bei der Entstehung der vorliegenden Arbeit zu. Ich danke Herrn Professor Dr. Walter Pauly herzlich für die Betreuung der Arbeit, welche zugleich von großem Freiraum wie auch von wertvollen und lehrreichen Impulsen geprägt war. Mein Dank gilt außerdem den Herren Professoren Dr. Achim Seifert und Dr. Edward Schramm für deren Anregungen als Gutachter. Dr. Barbara Bushart und Dr. Christian Kalthöner haben die Arbeit kritisch gelesen und mit fruchtbaren Gesprächen begleitet, wofür ich ihnen von Herzen danken möchte. Bedanken möchte ich mich außerdem bei Dr. Daniel Kersting und Frieda Andrees. Nicht zuletzt hat mich meine Familie über die Jahre der Entstehung dieser Dissertation stets unterstützt und begleitet, wofür ihnen – wie auch Dante – mein Dank gilt. Jena, im Spätsommer 2022
Isabelle M. Kutting
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 B. Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 I. Beschaffenheit des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1. Rechtserzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 a) Der Legalitätsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 b) Die Differenz von „Recht“ und „Nichtrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 c) Die Rolle der „Lücke des Rechts“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 d) Die Selbstreflexion als Kennzeichen des modernen Rechts . . . . . . . . . . . . . . 25 e) Die rechtliche Materialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 f) Der Grund des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 g) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2. Die Form der Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 a) Der Begriff der Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 b) Die moderne Form der Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 aa) Die Unterscheidung zwischen Gesetz und Anspruch . . . . . . . . . . . . . . . 36 bb) Der moderne Anspruchsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 cc) Der Ermächtigungsmechanismus: Ermöglichung und Erlaubnis . . . . . . 40 (1) Das Zusammenspiel von Interessen und Willkür . . . . . . . . . . . . . . . 41 (2) Antagonismus innerhalb der Naturbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 dd) Die Form als Produkt und Vollzug der Selbstreflexion . . . . . . . . . . . . . . 43 c) Die bürgerliche Form: Das subjektive Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 aa) Der Ursprung des subjektiven Verständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 bb) Menkes Kritik am Positivismus der subjektiven Form der Rechte . . . . . 47 cc) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 dd) Der Eigenwille als der formspezifische Gegenstand der Ermächtigung und der darauf bezogene Empirismus-Vorwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 (1) Die Ermächtigung des Eigenwillens im Privat- und Sozialrecht . . . . 54 (2) Der Maßstab der Inhalte des Eigenwillens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 ee) Diskrepanz von Form und Intention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 ff) Die Politizität der Form der subjektiven Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3. Das Subjekt des bürgerlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 a) Subjektives Recht und Subjektivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
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Inhaltsverzeichnis b) Das Subjekt als Rechtsperson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 c) Die anthropologische Ambivalenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 d) Antiemanzipative Deutung der subjektiven Form der Rechte . . . . . . . . . . . . 68 e) Das Rechtssubjekt und die Negativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 f) Die Einheit von politischem und privatem Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 g) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 4. Herrschaft des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 a) Regierung im Wege von „Ermöglichung“ und „Erlaubnis“ . . . . . . . . . . . . . . 75 b) Innen- und Außenseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 c) Die kreislaufartige Reproduktion der Notwendigkeit staatlicher Intervention 77 d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 II. Auswirkungen der Form hinsichtlich sozialer Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 1. „Entsittlichung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2. „Entpolitisierung“ und „Privatisierung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 a) Fatalismus und Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 b) „Entmächtigung der Politik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 aa) Privatisierung am Beispiel des Rechts der Klage . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 bb) Privatisierung am Beispiel der Ermächtigung durch Grundrechte . . . . . 88 3. Soziale Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 a) „Ausbeutung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 b) „Normalisierung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 c) Ermächtigung als Bedingung sozialer Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 d) Verschränkung von Herrschafts- und Ermächtigungsformen . . . . . . . . . . . . . 94 aa) Ermächtigung der Willkür und Normalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 bb) Ermächtigung der Interessen und Ausbeutung oder Zwang . . . . . . . . . . 95 4. Zusammenfassend zu den Auswirkungen der Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 III. Menkes Ansatz für ein „neues Recht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 IV. Resonanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . 109 I. Rechtstheoretischer Ausgangspunkt: Interessentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 1. Die produktive Konsequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 2. Abstrakte Betrachtung der Interessentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 3. Kontrastierung mit Menkes theoretischem Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4. Der Rechtsordnung nicht zuwiderlaufende Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 5. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 II. Privatrechtsdogmatische Betrachtung: Die Generalklausel des § 138 I BGB . . . . 123 1. Materialisierungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 a) Rückschlüsse aus der Rechtsfolgenbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
Inhaltsverzeichnis
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b) Wirkungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 aa) Beschränkung der Privatautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 (1) Privatautonomie als subjektives Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 (2) Rechtstechnische Grenzen der Privatautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . 129 bb) Wertungsmaßstab des § 138 I BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2. Auswirkungen auf den subjektiv-rechtlichen Berechtigungsgehalt . . . . . . . . . . 134 a) Rechtsanwendungsbeispiele des § 138 I BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 aa) Bürgschaftsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 bb) Rechtsinstitute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 cc) Sexualsphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 dd) Kommerzialisierungskonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 b) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 3. Generalklauseln als Antagonisten im Recht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 4. Introspektionspotential . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 5. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 1. Konkretisierung des Untersuchungsgegenstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 a) Grundrechte als Unterlassungsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 b) Der Unterlassungsanspruch als sekundäres Element . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 2. Grundlegende Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 a) Grundrechtstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 aa) Menkes implizite Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 bb) Multifunktionalität der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 b) Potential der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 aa) Emanzipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 bb) Kollektivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 3. Grundrechtsbeschränkungssystematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 a) Schutzbereichsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 aa) Normgeprägte Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 bb) Sachgeprägte Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 cc) Systematischer Aussagegehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 b) Rechtfertigungsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 aa) „Schranken“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 (1) Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 (2) Kollidierendes Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 (a) Gemeinwohlrechtsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 (b) Funktionsfähigkeit des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 (c) Staatsziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 (3) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
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Inhaltsverzeichnis bb) „Schranken-Schranken“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 (1) Konfliktlösungsmodell der Grundrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . 189 (2) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 cc) Bewertung als Abwägungsvoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 (1) Exemplarisch: die Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 (2) Generalisierbarkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 (3) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 dd) Ausnahme aufgrund der Wesensgehaltsgarantie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 4. Objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 a) Menkes Diagnose einer „Verfassungskrise“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 aa) Relativierung aufgrund der Etablierung sozialer Teilhaberechte? . . . . . 205 bb) Relativierung aufgrund eines objektiv-rechtlichen Wirkmechanismus? 207 b) Exkurs: Indisponible Rechtsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 aa) Verfügungsbefugnis über individuelle Rechtsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 bb) Eine Frage des Maßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 c) Ausweitung in kontextueller Hinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 aa) Sozialer Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 bb) Eigenrationalität sozialer Sphären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 d) Modifizierung der Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 aa) Perspektiverweiterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 bb) Der objektiv-rechtliche Gehalt als Bestandteil der Form des subjektiven Rechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 5. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 IV. Separate Betrachtung der Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 1. Das relative Recht als Schablone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 2. Immanente Grenzen: Innen- und Außentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 a) Theoretischer und historischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 b) Die Innentheorie im Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 aa) Selbstkorrekturmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 bb) Anwendungsbeispiel: Institutioneller Rechtsmissbrauch . . . . . . . . . . . . 237 (1) Formverändernde Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 (2) Rivalisierende Systemgedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 cc) Exkurs: Verbot der Selbstexemtion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 c) Die Innentheorie im Kontext der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
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D. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 I. Blockade der Selbstreflexion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 1. Dialektischer Materialismus: Transformatives Potential im geltenden Recht?
251
a) Vorüberlegung zum Willensbildungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 b) Introspektionsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 c) Phänomen des Nudgings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 d) Politische Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 2. Differenzierender Materialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 a) Rückschlüsse aus der rechtsdogmatischen Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 b) Operationsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 c) Auflösung der Differenz zwischen Recht und Nichtrecht? . . . . . . . . . . . . . . 267 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 II. Abschließende Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 1. Selbstreflexionsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 2. Pathologische Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 a) Herrschaftsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 b) Entpolitisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 3. Gegenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
E. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302
A. Einleitung Ein Philosoph stellt die zentrale Grundform in Frage, auf der die geltende Rechtsordnung aufbaut. In nichts weniger als einer entsprechend fundamentalen Erschütterung des subjektiven Rechts besteht das Anliegen Christoph Menkes 2015 erschienenen Kritik der Rechte. Die spätestens seit der französischen Revolution bestehende Überzeugung von der freiheitskonstitutiven Bedeutung subjektiver Rechte erfährt hier eine Dekonstruktion, durch deren Radikalität sich die Kritik zu einer Forderung nach „Revolution“1 im Gegensatz zu bloßer Reform zuspitzt. Diese Radikalität liegt in der Perspektive begründet, die Menke für seine Kritik wählt und aus der heraus er die Formfrage stellt. Hiermit wird der Raum für einen Diskurs eröffnet, der über eine rein inhaltliche Kritik hinausgeht und der mit der Annahme bricht, subjektive Rechte seien alternativlos. Die geforderte Revolution soll in die Etablierung sogenannter Gegenrechte münden.2 Es verwundert daher nicht, dass die bisherige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Kritik der Rechte ihr Augenmerk vornehmlich auf diese neuartige Form individueller Berechtigung richtet.3 Jedoch wendet sie sich damit dem Grundgerüst eines noch in der Fertigstellung befindlichen Bauwerks zu, ohne zuvor dessen Fundament einer angemessenen Begutachtung zu unterziehen. Dieses besteht in Menkes Rekonstruktion der im geltenden Rechtssystem vorfindlichen Form des subjektiven Rechts. Aus der Kontrastierung dieser Form mit einer idealtypischen modernen Form der Rechte entwickelt er seine Kritik.4 Erst darauf aufbauend kann Menke die Beschaffenheitsparameter der Form der Gegenrechte bestimmen. Gleichwohl bleibt die Auseinandersetzung mit dieser Kritik in rechtswissenschaftlicher Hinsicht in den meisten Fällen zu allgemein,5 um als Basis für einen produktiven Bezug zur dogmatisch geprägten Rechtsrealität dienen zu können. Eine solche Bezugnahme wäre indes erforderlich, um einer Tendenz zur Errichtung philosophischer Theorie1
Menke, Kritik der Rechte, S. 347, 355, 367 ff. u. 373, passim. Ebd., S. 381 ff. 3 Hervorzuheben ist in diesem Kontext insbesondere der 2018 erschienene, bereits im Titel auf Menke rekurrierende Band „Gegenrechte“ herausgegeben von A. Fischer-Lescano, H. Franzki und J. Horst. 4 Vgl. Menke, Kritik der Rechte, S. 164 ff. 5 Diesbezüglich sei exemplarisch verwiesen auf die Beiträge von Somek, Wielsch und Teubner in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts. Demgegenüber findet sich bspw. bei Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 136, 136 ff. eine etwas nähere Beschäftigung mit der Menkeschen Rekonstruktion des geltenden Rechts. Anders als die vorliegende Auseinandersetzung bezieht sich die dortige Kontrastierung jedoch schwerpunktmäßig auf den Bereich des Strafrechts. 2
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A. Einleitung
schlösser, welche die Rückkopplung an ihren rechtlichen Gegenstand vermissen lassen,6 zu begegnen und damit den interdisziplinären Diskurs zu intensivieren. Die vorliegende Untersuchung unternimmt den Versuch, eine solche Rückkopplung herzustellen, wodurch Ansatzpunkte für die Fruchtbarmachung von Menkes Theorem in der Rechtswissenschaft geliefert werden sollen. Sie befasst sich dazu mit dem Fundament des revolutionären Bauwerks der Gegenrechte. Dabei wird Menkes philosophische Kritik durch eine Gegenüberstellung mit konkreten rechtlichen Figuren ernstgenommen, um sie so anhand eines Abgleichs mit ihrem Gegenstand auf Tragfähigkeit zu prüfen. Der Beitrag, den eine Beschäftigung mit hypothetischen Gegenrechten hierzu leisten könnte, ist begrenzt, sodass eine solche vorliegend keinen Schwerpunkt bildet. Den Maßstab, an dem sich Menkes Kritik messen lassen muss, bildet vielmehr die durch juristische Dogmatik geprägte Rechtsrealität, weshalb erst eine Konfrontation mit dieser den Weg für eine Bewertung ebnet. Vor diesem Hintergrund konkretisiert sich die vorliegende Betrachtung methodisch zu einer rechtsdogmatischen Untersuchung. Die von Menke aufgeworfenen Fragen, wie sich das subjektive Recht in der Rechtsrealität darstellt und welche Wertungen in diesem Kontext zur Anwendung gelangen, sollen aus rechtsdogmatischer Perspektive untersucht werden. Bezogen auf die drei Dimensionen, die Robert Alexy als Bestandteile der Rechtsdogmatik identifiziert, bewegt sich die Analyse vor diesem Hintergrund schwerpunktmäßig einerseits in der „empirischen“ und andererseits in der „normativen Dimension“ der Rechtsdogmatik.7 Die normative Dimension ist dabei lediglich in ihrer „juristisch-dogmatische[n]“ und nicht in ihrer „ethisch-philosophische[n]“ Ausprägung betroffen, da nicht von der Rechtsordnung unabhängige normative Prinzipien untersucht werden,8 sondern vielmehr die normative Binnenstruktur von Interesse ist. Entsprechend dem von Menke in seiner Kritik abgesteckten Rahmen,9 soll das subjektive Recht nicht an einem externen Maßstab gemessen werden; vielmehr wird nach der ihm eigenen normativen Struktur gefragt. Sie freizulegen ist im Hinblick auf die Zielsetzung der rechtsdogmatischen Überprüfung von Menkes Rekonstruktion und damit einher6
In diese Richtung auch Möllers, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06. 12. 2017, der im Rahmen der Rezension von D. Loicks „Juridismus“ der „kritische[n] Theorie der Rechte“ die Entwicklung zu „einer philosophischen Selbstbeschäftigung, die ihre Thesen mit keinem Blick in die Rechtsentwicklung bestätigen will oder kann“, attestiert. 7 Die dritte von Alexy herausgestellte Dimension bildet die „analytische“, in der es zunächst grundlegend um die „begrifflich-systematische Durchdringung des geltenden Rechts“ geht. Demgegenüber meint die „empirische Dimension“ das „Erkennen des positiv geltenden Rechts“, womit hier unter Zugrundelegung eines weiten Rechtsbegriffs alle Facetten des Rechts, wie bspw. auch die Rechtsprechung erfasst sind. Die „normative Dimension“ der Rechtsdogmatik unterscheidet sich hiervon dadurch, dass die Frage im Mittelpunkt steht, welche Entscheidung in einem konkreten Fall ausgehend vom positiv geltenden Recht die „richtige“ ist; vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 23 ff. 8 Vgl. hierzu ebd., S. 159 ff. 9 Menke, Kritik der Rechte, S. 11 f. u. 166 f.
A. Einleitung
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gehend seiner Kritik erforderlich, da er in seinen Überlegungen von einer spezifischen Normativitätsstruktur ausgeht, welche – wie noch zu zeigen ist – sein Formverständnis bestimmt. Diese Normativitätsstruktur definiert sich anhand der Beziehung des Rechts zur nichtrechtlichen Materie, die in der Form der subjektiven Rechte ihren Ausdruck findet.10 Kennzeichnend für die von Menke angenommene Form des subjektiven Rechts ist insofern die Art des Verhältnisses zur nichtrechtlichen Materie in Gestalt des Eigenwillens der Subjekte. Die Annahmen über diesen Wesenszug der subjektiven Rechte bilden gleichsam den Anstoß für Menkes grundlegende Kritik. Bei Georg Jellinek findet sich ein Zitat, welches das Verhältnis zwischen Rechtsordnung und Willen als vielschichtig erscheinen lässt: „Die Rechtsordnung kann sich zum individuellen Willen in mehrfacher Weise verhalten. Sie kann ihm ein bestimmtes Handeln zur Vorschrift machen, also seine natu¨ rliche Freiheit einschra¨ nken; sie kann seine natu¨ rliche Freiheit anerkennen; sie kann dieser Handlungsfa¨ higkeit Etwas hinzufu¨ gen, was sie nicht von Natur aus besitzt; endlich kann sie sich auch weigern, dieses Etwas hinzuzufu¨ gen oder es wieder zuru¨ cknehmen. Gebieten, Verbieten, Erlauben, Gewa¨ hren, Versagen, Entziehen sind die Formen, in welchen die Beziehungen der Rechtsordnung zum Individuum sich bewegen.“11
Demgegenüber bringt Menke das sich im subjektiven Recht manifestierende Verhältnis von Recht und nichtrechtlichem Eigenwillen wesentlich eindeutiger auf die Formel der „Ermächtigung des Eigenwillens“12. Eine derartige Diskrepanz in der Deutung des Verhältnisses Recht/nichtrechtlicher Eigenwille wirft die Frage nach ihrem Ursprung auf. Diesbezüglich verfolgt die vorliegende Arbeit die These, dass die Menkesche Deutung Resultat seiner speziellen Perspektivwahl ist. Sie bedingt, dass Menke ausschließlich die Form des subjektiven Rechts in den Blick nimmt, was einen engen Fokus der Rekonstruktion zur Folge hat, dessen Menke sich jedoch – wie aus einem persönlichen Gespräch an seinem Lehrstuhl in Frankfurt am Main hervorging – bewusst ist. Statt externe Maßstäbe an die Rechte anzulegen, wählt Menke als Maßstab der Kritik die „Ontologie“ des „modernen Rechts“.13 Als Erscheinungsform des „modernen Rechts“ speist sich seine Kritik am „bürgerlichen Recht“ folglich aus dessen Konfrontation mit der Seinsweise des modernen Rechts: „Das bürgerliche Recht verfehlt nicht, was es sein soll, sondern wie es ist; es verfehlt sein Wesen.“14 Seine Untersuchung bezieht sich nicht auf die „Gehalte […], Zwecke […] und Wirkungen“ der Rechte, sondern auf ihre spezifische „Form“.15 In einem ähnlichen Kontext bemerkt Karl-Heinz Fezer: 10
Ebd., S. 33, 39 u. 63. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 45; vertiefend hierzu Pauly, in: Georg Jellinek – Beiträge zu Leben und Werk, 227, 233 ff. 12 Menke, Kritik der Rechte, S. 262 f., passim. 13 Ebd., S. 102. 14 Ebd., S. 166. 15 Ebd., 8 f. 11
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A. Einleitung „Die Rechtsarbeit am subjektiven Recht kann ein mehr rechtsformales oder ein mehr rechtsinhaltliches Anliegen verfolgen. Doch wird eine Theorie, die auf einem Auge blind ist, ihr Erkenntnisziel verfehlen. Denn Form und Inhalt des Rechts sind keine unabhängigen Größen: Medium der Funktion ist die Struktur im Recht.“16
Spannend ist davon ausgehend die Frage, ob die Annahmen über die Attribute der Form des subjektiven Rechts unverändert bleiben, wenn der enge Fokus der Betrachtung um die Ebene einer von juristischer Dogmatik geformten Rechtsanwendung erweitert wird. Zu vermuten steht, dass sich erst auf dieser Ebene eine Prozesshaftigkeit subjektiver Rechte zeigt, die eine statische Formbeschreibung womöglich nicht zu erfassen vermag. Könnte sich also das Ergebnis der „wahren Kritik“, welche ihren Gegenstand mit seinem Grund konfrontiert,17 letzten Endes von einem Blick in die dogmatisch geformte Rechtsrealität beirren lassen? In den Worten Ludwig Raisers geht es in der vorliegenden Untersuchung demnach „nicht [darum], den alten, heute nur noch lustlos geführten Streit um Definitionen [subjektiver Rechte, Anm. I. K.] wiederzubeleben, sondern […] aus der Höhenlage, in der dieser Streit um einen abstrakt-allgemeinen und darum unvermeidlich fast leeren Begriff geführt wird, einmal in die Erfahrungswelt unseres Rechtslebens hinabzusteigen und nachzusehen, welche Erscheinungen sich mit diesem Begriff adäquat umgreifen und darstellen lassen.“18
Der Rückgriff auf die rechtliche Dogmatik soll dabei nicht nur als Bezugsgegenstand der Überprüfung dienen, sondern auch auf eine gegebenenfalls notwendige Komplettierung der Menkeschen Formbeschreibung hinwirken. Dafür eignet sich der rechtsdogmatische Ansatz insbesondere auch deshalb, weil in ihm gleichsam das objektive Recht, ohne welches vom subjektiven Recht nicht gesprochen werden kann,19 Berücksichtigung findet. Vor dem Hintergrund der nun insoweit skizzierten Zielsetzung gliedert sich die vorliegende Arbeit im Wesentlichen in drei Teile. Zunächst erfolgt im Abschnitt B. eine Rekonstruktion der Menkeschen Rekonstruktion des geltenden Rechts, welche der dem interdisziplinären Diskurs innewohnenden Herausforderung, ein „Gespräch ohne gemeinsame Muttersprache“20 zu sein, begegnen soll. In diesem Rahmen werden Grundbegriffe – teilweise unter Rückgriff auf weitere Texte Menkes – definiert, wodurch über den hohen Abstraktionsgrad und Voraussetzungsreichtum der Kritik der Rechte hinweg der rechtswissenschaftliche Zugriff erleichtert werden soll. Der Blick soll von der Fülle an philosophischen Verästelungen auf diejenigen Problemstellungen gelenkt werden, die Menkes Kritik im rechtswissenschaftlichen Kontext aufwirft. Seine Überlegungen sollen zunächst ohne eingehende Wertung erläutert und thematisch ge16
Fezer, Teilhabe und Verantwortung. Die personale Funktionsweise des subjektiven Privatrechts, S. 335. 17 Menke, Kritik der Rechte, S. 11; siehe hierzu außerdem Menke, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2018, 143, 148 ff. 18 Raiser, in: JuristenZeitung 1961, 465, 466. 19 So schon Savigny, System des heutigen römischen Rechts Bd. 1, § 5, S. 9. 20 Mangold, in: Autonomie im Recht – Geschlechtertheoretisch vermessen, 173, 173.
A. Einleitung
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bündelt dargestellt werden, um eine möglichst objektive Grundlage für die anschließende Untersuchung zu schaffen und den Transfer philosophischer Denkfiguren vorzubereiten. Die Rekonstruktion folgt dabei nicht der in Kritik der Rechte vorgegebenen Struktur, sondern gliedert sich in Themenkomplexe auf, in denen Menkes Aussagen zu bestimmten Fragestellungen zusammengeführt werden. Die Rekonstruktion soll einen Überblick verschaffen, welcher die inhaltliche Geschlossenheit des Werkes aufbricht und sich hinsichtlich der gesetzten Schwerpunkte an der Zielsetzung der vorliegenden Arbeit orientiert. Hieran schließt sich unter C. die rechtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Menkes philosophischer Kritik an der Form des subjektiven Rechts an, die zu diesem Zweck mit der dogmatisch geformten Rechtsrealität ins Verhältnis gesetzt werden soll. Die produktive Vermittlung zwischen diesen beiden Ebenen setzt einen Transfer philosophischer Denkfiguren in rechtswissenschaftliche Ansätze und Institute voraus, dessen Schwierigkeit daraus resultiert, dass sich das Nachdenken über Rechte in der Philosophie zweifellos gänzlich anders darstellt als in der Rechtswissenschaft.21 Nach einer Beleuchtung der rechtstheoretischen Grundlage des subjektiven Rechts im Hinblick auf die vorliegende Fragestellung, steht im Zentrum der dogmatischen Auseinandersetzung die Ausgestaltung der „Ermächtigung des Eigenwillens“, da Menke die Form des subjektiven Rechts hierdurch charakterisiert.22 Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang mitunter das Freilegen der Sachlogik des Rechts und der im Rahmen der Ermächtigung zur Anwendung gelangenden normativen Begründungsstruktur. In einem ersten Schritt werden die Implikationen betrachtet, die sich daraus ergeben, dass das subjektive Recht in eine Gesamtrechtsordnung eingebettet ist. Der zweite Schritt zielt sodann auf die von Menke gewählte Perspektive und legt den Fokus auf eine separate Formbetrachtung. Für beide Arten der Annäherung soll die Frage beantwortet werden, welche Folgerungen sich aus der rechtsdogmatischen Perspektive, die die Ebene der Rechtsanwendung miteinschließt, für Menkes Formanalyse ergeben und wie sich mögliche Abweichungen einordnen lassen. Dabei steht in Anbetracht der Vielzahl unterschiedlicher Erscheinungsformen grundsätzlich in Frage, ob eine generelle Aussage über die subjektiven Rechte getroffen werden kann.23 Dem Umfang des Untersuchungsgegenstands geschuldet, können die herangezogenen rechtsdogmatischen Figuren allenfalls einen exemplarischen Einblick vermitteln. Die Auswahl des jeweiligen Anschauungsmaterials erfolgt unter dem Kriterium einer möglichst basalen Aussagekraft für die Rechtsordnung. Nähere Eingrenzungen werden an dem dafür jeweils relevanten Ort getroffen.
21
Vgl. hierzu auch Menke/Schmidt/Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 54, 74 f. 22 Vgl. Menke, Kritik der Rechte, S. 267. 23 Vgl. hierzu auch Kasper, Das subjektive Recht: Begriffsbildung und Bedeutungsmehrheit, S. 157 ff. u. 177 f.
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A. Einleitung
Der letzte Teil der Untersuchung (D.) setzt die aus der rechtsdogmatischen Analyse hervorgegangenen Erkenntnisse ins Verhältnis zu Menkes Kernkritik an der Form des subjektiven Rechts. Wie noch zu zeigen ist, speist sich diese aus den Annahmen über den Selbstreflexionsprozess des Rechts, welcher für Menke die Operationalisierung des Verhältnisses zwischen Recht und nichtrechtlichem Eigenwillen darstellt. Hier wird sich zeigen, ob der Fokus auf die Form eine geeignete Perspektive darstellt, um die Figur des subjektiven Rechts zu erfassen. Die vorliegende Untersuchung nimmt die Formbetrachtung ernst, setzt dabei jedoch die Prämisse, dass über die Forderung nach Revolution nicht ein möglicherweise bereits bestehendes Potential subjektiver Rechte übersehen werden darf.
B. Rekonstruktion Ausgangspunkt von Menkes Kritik der Rechte ist eine Textpassage von Karl Marx, die als „Marx’ Rätsel“ bezeichnet wird.1 In dieser hinterfragt Marx die aus der französischen Revolution resultierende Entwicklung, dass der Mensch als „Teilwesen“ durch die Etablierung von Menschenrechten eine vorrangige Stellung gegenüber dem „Mensch[en] als Gemeinwesen“ einnimmt.2 Ziel der „bürgerlichen Revolutionen“ sei die Verwirklichung der Gleichheit der Subjekte gewesen, was mit der Erklärung gleicher Rechte realisiert worden sei. Menke stellt sich darauf aufbauend die Frage, warum die Etablierung gleicher Rechte als das Mittel zur Realisierung einer allgemeinen Gleichheit verstanden wird, warum also „dieser […] Inhalt jene Form annimmt,“3 sodass seine Kritik zunächst die Identifizierung von Gleichheit mit gleichen Rechten betrifft.4 Die Ermächtigung des Subjekts durch die Erklärung von Rechten sei politischer Natur, allerdings führe sie in der konkreten Art der Umsetzung letztlich zur „Selbstentmächtigung der Politik“5. Diesen Gedanken entfaltet Menke im ersten Teil seines Werkes vor allem anhand der Kontrastierung mit den traditionellen Rechtskonzeptionen der „geschichtsphilosophischen Orte“ Athen, Rom und London. Zu diesen setzt er das „moderne Recht“ ins Verhältnis und stellt hierdurch das Spezifische der „modernen Form der Rechte“ heraus. Diese Vorgehensweise ist nicht zu verwechseln mit einer historischen Betrachtung der jeweiligen Rechtsordnungen, vielmehr stellen Athen, Rom und London bei Menke eine Art überspitzte Sinnbilder dar, anhand derer die systematischen Unterschiede hinsichtlich des Gehalts und der Art der Berechtigung, sowie der Durchsetzungsmechanismen der verschiedenen Rechtsordnungen gezeigt werden sollen.6 Ebenso ist auch der Begriff „modernes Recht“ nicht historisch, sondern strukturell zu verstehen.7 Menkes Terminologie bedarf bei der Lektüre der Kritik der Rechte in diesem Zusammenhang besonderer Aufmerksamkeit. So ist mit dem „modernen Recht“ 1
Menke, Kritik der Rechte, S. 7. Marx, in: Marx Engels Werke, 347, 366; weiterführend hierzu siehe Rickert, in: Kritische Justiz 2021, 3, 3 ff. 3 Menke, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 13, 21, angelehnt an Marx, Bd. 23: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, S. 94 f., bei dem sich die Frage darauf richtet, warum sich die Arbeit im Wert darstellt. 4 Menke, Kritik der Rechte, S. 7. 5 Ebd., S. 8. 6 Ebd., S. 41 f. u. 65. 7 Ebd., S. 102. 2
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B. Rekonstruktion
allgemein eine an die traditionellen Rechtsordnungen anschließende Entwicklungsstufe des Rechts gemeint, während der Begriff des „bürgerlichen Rechts“ demgegenüber konkret das Recht der „bürgerlichen Gesellschaft“8 bezeichnet. Dieses „bürgerliche Recht“ stellt wiederum eine spezifische Gestalt des „modernen Rechts“ dar9 und meint insofern das gegenwärtig geltende Recht. Menkes Rekonstruktion bezieht sich folglich auf die „existierende Gestalt [Herv. im Original]“10 des „modernen Rechts“,11 namentlich das „bürgerliche Recht“ und die darin angelegte Form des subjektiven Rechts. Hierbei wird durchaus auch Bezug auf die gesellschaftlichen Auswirkungen des Rechts genommen, welche jedoch stets wieder auf die Form zurückgeführt werden. Entsprechend betrachtet die folgende Darstellung zunächst die von Menke angenommene Beschaffenheit des Rechts und anschließend die vermuteten Auswirkungen desselben.
I. Beschaffenheit des Rechts 1. Rechtserzeugung Der erste Schritt der vorliegenden Rekonstruktion führt dabei zu der grundlegenden Frage, wie Recht Menke zufolge zur Entstehung gelangt, weshalb das folgende Kapitel die Hervorbringung des Rechts in seiner Rekonstruktion nachzeichnen wird. Der parlamentarische Prozess der Rechtserzeugung erfährt bei Menke kaum Berücksichtigung, vielmehr steht die Rechtserzeugung durch Organe der Judikative im Vordergrund. a) Der Legalitätsbegriff Von entscheidender Bedeutung ist ein neuer Begriff der Legalität, welcher sich in Abkehr vom antiken Recht Athens und Roms entwickelt habe und sich durch Unabhängigkeit von Sitte oder Naturrecht auszeichne. Legalität entstehe nicht mehr in Orientierung an Gerechtigkeit als Zielvorstellung, sondern dadurch, dass das Recht seine Normativität selbst hervorbringe. Die Legalität des modernen Rechts bestehe
8 Hiermit bezieht sich Menke auf den von Hegel und Marx geprägten Begriff, näher dazu bei Tietz, in: Karl Marx, Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. Klassiker auslegen Bd. 36, 59, 71. Menkes Ansicht zufolge kann die gegenwärtige Gesellschaft als „bürgerlich“ bezeichnet werden, „weil (oder soweit) sie am Prinzip rechtlicher Subjektivierung festhält.“, Menke, Kritik der Rechte, Anm. S. 437, Fn. 3. 9 Menke, Kritik der Rechte, S. 165. 10 Im Folgenden auftretende Hervorhebungen in wörtlichen Zitaten sind solche des Autors oder der Autorin, der oder die an der jeweiligen Stelle zitiert wird, und werden nicht mehr gesondert als solche gekennzeichnet. 11 Menke, Kritik der Rechte, S. 175.
I. Beschaffenheit des Rechts
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folglich in der „Autonomie“ seiner Hervorbringung.12 Im Unterschied zu einer „mythischen Gerechtigkeit“ sei das Recht aufgrund der Tatsache, dass es eingesetzt worden sei, eine „Institution“.13 Normative Verbindlichkeit ergebe sich aus dem „gesellschaftsgründende[n] Vertrag“, durch den die Einzelnen ihren Rechten in autonomer Selbstbindung einen Rahmen setzten.14 Diese „Autonomie“ sei jedoch nicht so zu verstehen, dass das moderne Recht jeder Grundlage entbehre, sondern eine solche Grundlage existiere in Form von „Natur“. Im Unterschied zum erziehenden Recht Athens und dem unterdrückenden Recht Roms – in denen von einem moralischen oder sittlichen Standpunkt ausgegangen werde – sei legales Recht heute folglich jenes Recht, welches sich zwar autonom setze, aber gleichzeitig rückführbar auf die „Natur“ bleibe.15 Bezogen auf die Rechtssetzung lässt sich „Autonomie“ bei Menke demnach ambivalent als Selbsterzeugung von Normativität durch das Recht, die jedoch zugleich in der „Natur“ eine Basis findet, beschreiben. Mit „Natur“ ist hier „all dasjenige, was vor oder außerhalb der Rechtsordnung, als normativer Ordnung, besteht“16 gemeint. Dazu zählen die „natürlich-faktischen Strebungen“, die als vorrechtliche Interessen oder Bestrebungen des Menschen, etwa „Wünsche, Bedürfnisse, Antriebe usw.“17 verstanden werden können. Dementsprechend sind „natürlichen Handlungen“ bei Menke solche Handlungen, „die nicht an der Normativität des Rechts ausgerichtet sind“.18 Er nimmt an, dass das Recht in der modernen Form der Rechte diese „natürlich-faktischen Strebungen“ unter Berücksichtigung der Gleichheit der Menschen „berechtig[t] oder ermöglich[t].“19 Demzufolge werde die moderne Form der Rechte „auf natürlich-faktischen Strebungen begründe[t]“20 und aus dieser „Legalisierung des Natürlichen“ resultiere Normativität.21 Legalisierung bedeutet demnach nicht schlichtweg autonome Schaffung von Normativität, sondern die Verwandlung des vorrechtlich bestehenden Faktischen in Normativität.22 Eine solche Gründung auf Faktischem geht Menke zufolge jedoch denknotwendig mit einer gleichzeitigen Begrenzung auf das Faktische einher, denn auf das Faktische als Voraussetzung des Rechts kann das Recht nicht einwirken.23 Das 12
Ebd., S. 103. Ebd., S. 124. 14 Ebd., S. 54 u. 60. 15 Ebd., S. 103 f. 16 Ebd., S. 104. 17 Ebd., S. 217. 18 Ebd., S. 90. 19 Ebd., S. 104. 20 Ebd., S. 105. 21 Ebd., S. 33. 22 Deitert/Wieland, in: Zeitschrift für philosophische Literatur 2016, 11, 13. 23 Menke, Kritik der Rechte, S. 104; Deitert/Wieland, in: Zeitschrift für philosophische Literatur 2016, 11, 13. 13
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B. Rekonstruktion
Natürliche sei dem Recht insofern vorausgesetzt und entzogen. Die moderne Form der Rechte sei folglich immer „rechtsbegründend“ und „rechtsbegrenzend“ zugleich, sodass sich ein wechselseitiges System ergibt. Das Recht sei begrenzt auf das, worauf es sich begründet, namentlich die natürlich-faktischen Strebungen und ebenso sei das Recht dadurch begründet, dass es sich begrenzt.24 b) Die Differenz von „Recht“ und „Nichtrecht“ In Gestalt dieses Wechselsystems stellt sich in Menkes Beschreibung des modernen Rechts das Verhältnis von Normativität und Faktizität dar. Im Recht wird die Differenz von „Recht und Nichtrecht“ ausgetragen, womit sich das Recht in einem ständig währenden Legalisierungsprozess befinde.25 Demnach setze sich das Recht selbst als Recht.26 Diese Selbstsetzung gründe in der im Folgenden auszuführenden Entgegensetzung von „Recht und Nichtrecht.“27 Das Nichtrecht in Menkes Sinne ist zunächst einmal nicht mit Unrecht zu verwechseln. Vielmehr werde das Nichtrecht durch die konsequente Abwesenheit der Unterscheidung von Recht und Unrecht charakterisiert. Hier gebe es kein Unrecht, weil es kein Recht gebe.28 Es handle sich beim Nichtrecht um all das, was nicht Recht ist. So setzt Menke die Begriffe Natur und Faktizität dem des Nichtrechts gleich29 oder spezifiziert die Formulierung „nichtrechtlich“ durch „sozial oder kulturell.“30 Es handelt sich um „die Welt außerhalb des Rechts,“31 das Formlose, Unbestimmbare.32 Als etwas konkretere Beispiele führt er so etwa „Durcheinander, Gerede, Zerstreuung, Eigensinn, Störung, Ablehnung, Gewalt“33 an, so dass auch die vom Recht Betroffenen zum Nichtrecht gezählt werden können.34 Menke nimmt den Gedanken Giorgio Agambens auf und legt dar, dass ein Raum oder Szenario frei von Nichtrecht lediglich in „Studium und Spiel“ des Rechts denkbar sei. Dies liege in dem Umstand begründet, dass sich das Recht im Rahmen von Studium und Spiel nicht gegen das Andere des Rechts durchsetzen müsse, da ein solches in diesem Rahmen nicht existiere.35
24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35
Menke, Kritik der Rechte, S. 105. Ebd., S. 106. Ebd., S. 125. Menke, Recht und Gewalt, S. 69. Menke, Kritik der Rechte, S. 127. Ebd., S. 106. Ebd., S. 243. Ebd., S. 115. Ebd., S. 135. Ebd., S. 117. Ebd., S. 152; Menke, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2008, 81, 99. Menke, Kritik der Rechte, S. 130.
I. Beschaffenheit des Rechts
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Neben dieser Unterscheidung von Recht und Nichtrecht müsse jedoch noch eine weitere funktionale Ausdifferenzierung36 – jene zwischen Recht und Unrecht – getroffen werden. Entsprechend Niklas Luhmanns systemtheoretischem Ansatz37 versteht auch Menke das Recht als die einzige gesellschaftliche Instanz, welche diese Unterscheidung treffen könne. Durch die Unterscheidung von einerseits Recht und Nichtrecht und andererseits Recht und Unrecht konstituiere sich zum einen das Recht und zum anderen werde das Nichtrecht hervorgebracht.38 Ebenfalls in Anlehnung an Luhmann beschreibt Menke die Unterscheidung von Recht und Nichtrecht als „asymmetrisch“, da das Recht als Form dem Nichtrecht als dem Formlosen gegenüberstehe. Währenddessen sei die Unterscheidung von Recht und Unrecht „symmetrisch“, da beide Objekte rechtliche Werteinschätzungen darstellten.39 Hierbei werde eine der beiden Seiten der Unterscheidung zur Identifizierung von Recht oder Unrecht genutzt. Bei der Unterscheidung von Recht und Nichtrecht hingegen müsse das Recht sich auf sich selbst beziehen und „zwischen sich und der Welt unterscheiden“40. Zur rechtlichen Beurteilung eines Gegenstands hinsichtlich der Frage, ob es sich um Recht oder Unrecht handelt, gelte es zunächst rechtliche Entscheidungskriterien zu generieren, was wiederum bedeute, zwischen Recht und Nichtrecht zu unterscheiden. Die rechtliche Bestimmung eines Gegenstands als Recht und daher nicht Nichtrecht sei insofern Voraussetzung für die Unterscheidung von Recht und Unrecht. Gleichzeitig werde sich auf die Unterscheidung von Recht und Unrecht bezogen, um etwas als Recht und nicht Nichtrecht zu bestimmen.41 Wenn das Recht innerhalb des Bereichs des Nichtrechts zwischen Recht und Unrecht unterscheide, werde das Nichtrecht insoweit in Rechtliches transformiert. Demnach sei alles, worauf die Unterscheidung von Recht und Unrecht angewandt wird, bereits Teil des Rechts.42 Plastischer wird diese These durch das Beispiel von einer Gerichtsverhandlung, der ein Vorverfahren vorangeht, im Rahmen dessen die Voraussetzungen für den Prozess geschaffen werden. Die „weltlichen“, nichtrechtlichen Einflüsse würden dabei in die rechtliche Form gebracht, so dass es im Verfahren schlussendlich nicht um zivile Vorgänge oder Beteiligte gehe, sondern um „deren rechtsförmige Repräsentanten“.43
36 Vgl. hierzu näher: Luhmann, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, S. 133 ff. 37 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 69. 38 Menke, Recht und Gewalt, S. 68. 39 Menke, Kritik der Rechte, S. 112 f. 40 Ebd., S. 113. 41 Ebd., S. 114. 42 Ebd., S. 115. 43 Ebd., S. 116.
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B. Rekonstruktion
c) Die Rolle der „Lücke des Rechts“ Dennoch sieht Menke die Möglichkeit gegeben, dass das Nichtrecht als solches Eingang in rechtliche Prozesse findet. Dies liege in dem Umstand begründet, dass sich das Recht selbst durch seine Unterscheidung zum Nichtrecht definiert und konstituiert.44 Folglich sei die Existenz des Nichtrechts untrennbar mit der Selbsthervorbringung des Rechts verknüpft, da der Vorgang der Verrechtlichung nie vollständig abgeschlossen werden könne.45 An die Selbsthervorbringung des Rechts ist als Voraussetzung sein Anderes geknüpft, gegen das sich das Recht jedoch fortwährend behaupten muss.46 Das sich hieraus ergebende Phänomen betitelt Menke als die „Lücke des Rechts“47: Zum einen bestehe im Prozess der Ausdifferenzierung von Recht und Unrecht die Notwendigkeit der Abwesenheit der Diskrepanz von Recht und Nichtrecht, zum anderen könne diese Abwesenheit nie abschließend sichergestellt werden.48 Die Lücke des Rechts sei das Nichtrecht im Recht, das nicht verrechtlicht werden könne.49 Hieraus resultiert der paradoxe Zustand, dass das Recht einerseits die Unterscheidung zum Nichtrecht in sich enthält, obwohl es andererseits nicht in der Lage ist, damit zu operieren.50 Menke zeigt zwei Möglichkeiten auf, mit diesem Paradox umzugehen: Entweder man verfalle der Illusion, die Lücke schließen zu können, oder die Lücke werde selbstreflexiv vollzogen.51 Als Beispiel für erstere Option bezieht sich Menke wiederum auf die geschichtsphilosophischen Orte Athen und Rom. In Athen werde versucht, die Lücke dadurch zu schließen, dass das Nichtrecht als „Nochnichtrecht“52 kategorisiert werde. So betrachtet stellt alles Nichtrecht lediglich eine Entwicklungsetappe auf dem Weg zur Erziehung des Menschen zu einem von feststehenden Gerechtigkeitsmustern vorgegebenen „sittlichen Habitus“53 dar. Die Unterscheidung von Recht und Nichtrecht werde als etwas betrachtet, das in Zukunft verschwunden sein wird. Die illusionäre Schließung der Lücke des Rechts bestehe in Rom demgegenüber darin, dass das Verhältnis von Recht und Nichtrecht imperativ verstanden werde. Das Nichtrecht sei als Natur lediglich dasjenige, das den Verlust der Vernunft verkörpere54 und schon verschwunden sei. Im Gegensatz dazu gebe es im modernen Recht keinen fixen Bezugspunkt für Gerechtigkeit, so dass ohne die Unterscheidung 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54
Ebd., S. 119. Ebd., S. 117 f. Ebd., S. 141. Ebd., S. 118. Ebd., S. 118. Ebd., S. 136. Ebd., S. 119. Ebd., S. 122. Ebd., S. 125. Ebd., S. 125. Ebd., S. 127.
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zwischen Recht und Nichtrecht überhaupt kein Recht existiere.55 Das moderne Recht zeichne sich durch „Disziplinierung“, statt imperativer Durchsetzung (Rom) oder Erziehung (Athen) aus.56 Der Unterschied zwischen Disziplinierung und Erziehung liege dabei im Umgang mit dem Natürlichen: Während die Erziehung zum Ziel habe, den Widerstand des Natürlichen aufzuheben, gehe die Disziplinierung davon aus, dass die „Widerständigkeit“ des Natürlichen ohnehin bestehen bleibe.57 So betrachtet ist das moderne Recht in Menkes Sinne also auf die Lücke des Rechts, die durch die notwendige Unterscheidung von Recht und Nichtrecht bedingt ist, angewiesen. Sie ist konstitutiv für das moderne Recht, was Menke zu der Beschreibung des modernen Rechts als dem „Recht in der Krise“58 veranlasst. Das oben genannte Paradoxon wird im modernen Recht also nicht durch Aufhebung des Unterschieds zwischen Recht und Nichtrecht aufgelöst, sondern dieser Unterschied wird zu einem Teil des Rechts. Das moderne Recht vollzieht diesen Unterschied in Form der Selbstreflexion,59 durch die sich das Recht selbst verändert,60 was im Folgenden genauer erläutert werden soll. d) Die Selbstreflexion als Kennzeichen des modernen Rechts Vorangestellt sei, dass es sich bei der Selbstreflexion Menke zufolge nicht – wie der Begriff zunächst vermuten lässt – lediglich um den Bezug des Rechts auf sich selbst handelt. Vielmehr wird das Nichtrecht ebenfalls in diesen Prozess miteinbezogen, da, wie zuvor erläutert, das Nichtrecht als Teil des Rechts verstanden werden muss.61 Zur Einführung soll zunächst Gunther Teubners Begriff der Selbstreflexion skizziert werden, auf den sich Menke begrifflich bezieht.62 Teubner zufolge resultiert die Selbstreflexion eines Systems aus der Kopplung zweier Formen der Selbstreferenz, namentlich der Selbststeuerung und der Selbstbeschreibung. Selbstbeschreibung bezeichne den Vorgang, in dem die Struktur der eigenen Operationen des Systems vom System erkannt werden und zur Etablierung von Ordnungen genutzt werden.63 Selbststeuerung liege vor, wenn ein System eigene Strukturen erkennt, sie aufbaut und stabilisiert und darüber hinaus nach individuellen Kriterien modifiziert. Selbststeuerung und Selbstbeschreibung könnten dann in der Weise kombiniert werden, dass die Antwort auf die Frage nach der Struktur des 55 56 57 58 59 60 61 62 63
Ebd., S. 125. Ebd., S. 88. Ebd., Anm. S. 424, Fn. 190. Ebd., S. 125. Ebd., S. 126. Menke, Recht und Gewalt, S. 68. Menke, Kritik der Rechte, S. 131. Vgl. ebd., Anm. S. 429, Fn. 52. Teubner, Recht als autopoietisches System, S. 28.
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Systems an der selbst geschaffenen Identität des Systems gemessen wird. Die Struktur muss sich folglich an der Identität ausrichten, die sich das System selbst gegeben hat. Diese Ausrichtung nennt Teubner „Selbstreflexion“. Selbstreflexion finde demnach etwa dann statt, wenn zeitgenössische Einflüsse auf das Recht von Rechtstheorie oder Rechtsdogmatik betrachtet werden und das Recht daraufhin seine Entscheidungspraxis modifiziert. Die selbst bestimmte Identität sei in der Selbsthervorbringung der Ausgangspunkt beziehungsweise der Maßstab für Modifikationen des Rechts.64 Die Reflexion dieser Selbsthervorbringung bilde dann die Selbstreflexion des Rechts.65 Menke versteht die Selbstreflexion als „ontologische Kategorie“, die die Basis seiner Rechtskritik bildet,66 denn modernes Recht sei durch Selbstreflexivität gekennzeichnet.67 Allerdings sei Selbstreflexion bereits in traditionellen Ordnungen betrieben worden und zwar in Form von Ritualen. In Ritualen begegne die eigene Kultur ebenfalls ihrem Anderen, die kulturelle Ordnung treffe dort auf die natürliche Unordnung.68 Der Unterschied zu modernen Ordnungen bestehe nun darin, dass die Selbstreflexion nicht mehr an ein Ritual gebunden sei, sondern grundsätzlich in jedem Bereich vorkommen könne. Darin sieht Menke den Vorteil, dass die moderne, von Ritualen unabhängige Selbstreflexion eine Modifizierung der normativen Grundstruktur von innen heraus bewirken könne.69 Auch deshalb bezeichnet er die „Selbstreflexion des Rechts“ an anderer Stelle als eine neue Form von Legalität:70 sie verändere die Form der rechtlichen Normativität.71 Das moderne Recht sei das Recht der Legalität im oben ausgeführten Sinne, das heißt unabhängig von etwaigen Instituten wie Sitte oder Naturrecht und bestehe daher nur aus selbst gesetztem Recht. Dies dürfe jedoch nicht als Selbstbegründung des Rechts durch die Selbstreflexion verstanden werden. Es gehe hierbei lediglich um die Unterscheidung von Recht und Nichtrecht, die eine Selbstbegrenzung des Rechts am Nichtrecht im genannten Sinne mit sich bringe.72 Diese „Begrenzung des Rechts“ finde mit anderen Worten aufgrund seiner Selbstreflexion im Verhältnis zu seinem Anderen statt.73 Durch diese Form von Begrenzung schaffe das Recht selbst in sich den Bereich des Anderen, das heißt des Nichtrechts, so dass das Nichtrecht
64 65 66 67 68 69 70 71 72 73
Ebd., S. 29. Menke, Kritik der Rechte, S. 131. Ebd., S. 102. Ebd., S. 102. Ebd., S. 132. Ebd., S. 134. Ebd., S. 87. Ebd., S. 129. Menke, Recht und Gewalt, S. 68; Menke, Kritik der Rechte, S. 131. Menke, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2008, 81, 82.
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„im Inneren des Rechts wirksam“74 sei. Demnach sei der Raum des Anderen, an dem sich das Recht begrenzt, durch die rechtliche Selbstreflexion selbst geschaffen.75 Im Gegensatz zum zuvor skizzierten Verständnis der traditionellen Rechtssysteme vom Nichtrecht als Nochnicht- oder Nichtmehrrecht, sehe das moderne Recht das Nichtrecht ausschließlich als Nichtrecht.76 Das moderne Recht erkenne folglich in der Selbstreflexion die diesem Verhältnis eigentümliche Differenz von Recht und Nichtrecht. Menke führt für das Nichtrecht zusätzlich den Begriff „Materie“77 ein. Der Status als „das Andere des Rechts“ komme dem Nichtrecht indessen erst durch die Selbstreflexion des Rechts zu. Demnach existiere das Nichtrecht als Formloses lediglich aufgrund der Existenz des Rechts als Form.78 Die Form des Rechts bestimme sich im Wege der Selbstreflexion als das Andere des Nichtrechts, wodurch das Nichtrecht automatisch als das Andere der Form definiert werde. Form und Materie setzen sich gegenseitig voraus. Hier wird deutlich, dass Menke den Begriff der „Voraussetzung“ in doppelter Weise versteht und sich dabei auf die beiden Teilaspekte des Begriffs bezieht: „Voraus“ und „Setzung“. Das Recht setze sich das Nichtrecht zum einen voraus, das heißt es mache das Nichtrecht zu einer Art ihm selbst vorhergehender Grundlage. Zum anderen werde das Nichtrecht durch das Recht gesetzt oder mit anderen Worten: Das Recht konstituiere das Nichtrecht im Rahmen der Selbstreflexion.79 Wie bereits beschrieben, beinhalte das selbstreflexive Recht das von ihm konstituierte Nichtrecht, das heißt sein Anderes, in sich.80 Aus dieser Koppelung ergibt sich, dass die Materie zur Voraussetzung der Form wird und die Selbstreflexion der Form gleichzeitig zur Voraussetzung der Materie.81 Mit der oben skizzierten Lücke des Rechts geht somit eine Verdopplung der Selbstreflexion einher: Zum einen reflektiere sich das Recht im Unterschied zum Nichtrecht,82 zum anderen reflektiere sich gleichzeitig das Nichtrecht im Unterschied zum Recht. Die Selbstreflexion werde sowohl auf der Ebene des Rechts als auch auf derjenigen des Nichtrechts vollzogen.83 Das Recht von Beschuldigten, sich im Strafverfahren nicht selbst belasten zu müssen, welches auf den verfassungsrechtlichen Grundsatz „nemo tenetur se ipsum
74
Menke, Kritik der Rechte, S. 131. Ebd., S. 131. 76 Ebd., S. 126. 77 Vgl. u. a. ebd., S. 136 ff. 78 Ebd., S. 135. 79 Ebd., S. 137; vgl. außerdem S. 131 u. 144. 80 Menke, Recht und Gewalt, S. 69. 81 Menke, Kritik der Rechte, S. 137. 82 Vgl. dazu die Formulierung Fischer-Lescanos, der Selbstreflexion als „Reflexion der eigenen Differenz zur Umwelt als Mittel der Selbstselektion“ beschreibt, Fischer-Lescano, Rechtskraft, S. 98. 83 Menke, Kritik der Rechte, S. 135. 75
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accusare“ zurückgeht,84 soll die Selbstreflexion des Rechts exemplarisch verdeutlichen.85 Dieses Recht (vgl. § 136 StPO) habe dadurch entstehen können, dass das Recht es als Recht gegen das Recht akzeptiere, wodurch das Recht sich selbst relativiere. Darin realisiere sich die Selbstreflexion des Rechts gegenüber dem Nichtrecht und modifiziere es im Hinblick auf diese Grenze.86 Die Selbstreflexion bewirkt im modernen Recht, dass das Nichtrecht als das Andere des Rechts im Recht wirksam wird. Damit widerspricht Menke der liberalen Deutung, der zufolge sich das Wechselspiel zwischen Recht und Nichtrecht in der Begrenzung des Rechts am Nichtrecht erschöpft.87 Menke zieht in diesem Zusammenhang die Hobbes-Deutung von Carl Schmitt heran,88 in der Schmitt am Beispiel von Religion zeigt, dass sich das Recht nach liberalem Verständnis am inneren Glauben (forum internum) – im Unterschied zum äußeren Bekenntnis (forum externum) – der Bürgerin89 begrenzt. Über das äußere Bekenntnis könne der Souverän entscheiden, seine Entscheidungsgewalt finde jedoch an der inneren Glaubensüberzeugung des Individuums ihre Grenze.90 Diese Deutung des Zusammenspiels von Recht und Nichtrecht als schlichte Begrenzung des Rechts am Nichtrecht wird Menkes Auffassung nach dem Gedanken der Selbstreflexion nicht gerecht. Aus seiner Kritik an der liberalen Deutung der Selbstreflexion ergibt sich, dass sein Verständnis der sich in der Selbstreflexion vollziehenden Selbstbegrenzung ein anderes ist.91 Er gibt zu bedenken, dass der Liberalismus den Schluss übersehe, der sich ergebe, wenn man die Grenzziehung dialektisch betrachte, daher handele es sich um eine inkonsequente Deutung der Selbstreflexion. Mit Hegel spricht Menke sich dafür aus, dass jede Grenzziehung – dialektisch betrachtet – gleichzeitig eine Grenzüberschreitung bedeute.92 Dies gibt Aufschluss über Menkes Begriff der Selbstbegrenzung, die aus der Selbstreflexion des Rechts im Unterschied zum Nichtrecht resultiert.93 Sie sei nicht nur negativ zu verstehen, sondern sie sei auch positiv oder produktiv zu deuten, da durch sie das Nichtrecht definiert oder gesetzt werde. Dieses Verständnis ist folglich als weitgehender anzusehen, als das des Li84
Eschelbach, in: Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung, § 30, Rn. 162 ff. Menke, Recht und Gewalt, S. 73 f.; siehe auch Teubner, in: Gesetzgebungstheorie und Rechtspolitik. Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1988, 45, 47 mit weiteren Beispielen. 86 Menke, Recht und Gewalt, S. 75. 87 Menke, Kritik der Rechte, S. 143. 88 Ebd., S. 78 f. u. Anm. S. 432, Fn. 84. 89 Aus Gründen der Lesbarkeit wird in der vorliegenden Arbeit das generische Femininum verwendet, womit stets alle Geschlechter gemeint sind. In direkten Zitaten wird die am jeweiligen Ort verwendete Form beibehalten. 90 Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, S. 85. 91 Vgl. Menke, Kritik der Rechte, S. 131. 92 Ebd., S. 144. 93 Siehe hierzu auch Kalthöner, Die Gewalt des Rechts. Analyse und Kritik nach Benjamin und Menke, S. 183. 85
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beralismus, da dem mehr als nur eine schlichte Begrenzung im negativen Sinne zugrunde liegt. e) Die rechtliche Materialisierung Zur Bezeichnung dieser Erweiterung der Selbstreflexion gegenüber dem liberalen Verständnis führt Menke den Begriff der „Materialisierung“ ein, dessen Wurzeln er in der „,materialen Rationalisierung‘“94 erblickt, die Max Weber in „Wirtschaft und Gesellschaft“ beschreibt. Weber verstehe seine Beobachtungen als die Durchbrechung des strikten Rechtsformalismus, wodurch „,materiale Gerechtigkeit statt formaler Legalität‘“95 in den Vordergrund gerückt werde.96 Materialisierung sei die Reaktion des Rechts auf das ihm inhärente Problem des Widerstands in der Gesellschaft gegen einen Rechtsformalismus, der Laien vom Verständnis des Rechts ausschließe.97 Weber zufolge seien zwei Formen von Materialisierung erkennbar: Zum einen gehe es um Veränderungen in technischer Hinsicht, die sich auf prozessuale Gesichtspunkte bezögen. Das Recht bediene sich seiner „formale[n] Eigenlogik“98, in der die Interessen der vom Recht Betroffenen nicht berücksichtigt werden. Um diesen Rechtsformalismus zu durchbrechen, bewirke die Materialisierung die Berücksichtigung außerrechtlicher – ethischer, ökonomischer – Interessen,99 wobei diese die rechtlichen Kriterien allerdings niemals vollständig ersetzen könnten.100 Menke bringt hier Webers Beispiel der „freien Beweiswürdigung“101 an, womit er sich auf einen seit circa der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in allen deutschen Verfahrensordnungen102 geltenden Grundsatz bezieht.103 Im Unterschied zum modernen rechtswissenschaftlichen Verständnis der freien Beweiswürdigung wird diese hier als Ermöglichung der gerichtlichen Berücksichtigung von „Verkehrsinteressen oder […] Gesinnungen“ der Betroffenen im Unterschied zu „rechtlichen Gründen“104 gedeutet. Hiervon abgesehen sind die Beispiele für die Tendenz zur Berücksichtigung der anti-formalen „Durchschnittsauffassung“ jedoch vielfältig und nicht auf das Prozessrecht begrenzt. So finden sich beispielsweise auch im Strafrecht ge94
Ebd., S. 144. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, S. 648. 96 Menke, Kritik der Rechte, S. 146. 97 Ebd., S. 148. 98 Ebd., S. 145. 99 Ebd., S. 145. 100 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, S. 507. 101 Menke, Kritik der Rechte, S. 145; siehe dazu Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, S. 646 f. 102 Vgl. u. a. § 286 ZPO; § 261 StPO; § 108 I VwGO; § 30 BVerfGG. 103 Prütting, in: Münchener Kommentar zur ZPO Bd. 1, § 286, Rn. 2. 104 Menke, Kritik der Rechte, S. 145. 95
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genwärtig Rückbezüge der rechtlichen Beurteilung auf die „Durchschnittsauffassung“ der Allgemeinheit in Gestalt eines Urteils des 4. Strafsenats des BGH vom 06. 07. 2017, welches ein Urteil des LG Köln im sogenannten „Raser-Verfahren“105 aufhebt. Hierin beanstandet der BGH die Aussetzung der Freiheitsstrafen der Angeklagten zur Bewährung unter anderem mit dem Hinweis auf eine unzureichend erfolgte Berücksichtigung des „allgemeinen Rechtsempfinden[s]“ der Bevölkerung.106 Die zweite Form der Materialisierung betreffe sittliche Postulate, denen vom Standpunkt des Rechts aus keine Relevanz in der Urteilsfindung zugesprochen werden könne, da es sich ebenfalls um Außerrechtliches handle. Im Wege der Materialisierung fänden diese Gesichtspunkte jedoch Eingang in das Recht und würden beispielsweise dadurch im Recht wirksam, dass Verträge nunmehr nicht nur nach den Willenserklärungen der Beteiligten beurteilt würden, sondern zusätzlich soziale Aspekte in die Beurteilung miteinfließen würden.107 Die so verstandene Materialisierung sei folglich die Weiterentwicklung oder der Vollzug der Selbstreflexion. Sie bilde die positive Seite, die über das resignative Bild der Selbstbegrenzung des Rechts durch Selbstreflexion im Liberalismus hinausgehe. Das daraus resultierende Recht sei nicht bloß negativ am Unterschied zum Nichtrecht begrenzt, vielmehr reagiere es positiv auf das Nichtrecht, indem es ihm antworte.108 Menke versteht die Selbstreflexion in Form der Materialisierung folglich in erster Linie als die Weiterentwicklung des Rechts in Auseinandersetzung mit dem Nichtrecht, während es bei der zuvor skizzierten Form der Selbstreflexion um den Nachvollzug der Selbsthervorbringung des Rechts durch das spezifische Verhältnis von Recht und Nichtrecht geht.109 Nun stellt sich die Frage, inwiefern diese Auseinandersetzung zu verstehen ist und wie sich dies auf die zuvor vorgenommene Kategorisierung des Rechts als autonom auswirkt. Zunächst scheint die gleichzeitige Annahme von Autonomie des Rechts und Modifikation als Reaktion auf das Nichtrecht widersprüchlich zu sein. Autonomie und Responsivität scheinen sich auszuschließen. Zumal damit – wie Menke selbst zu bedenken gibt – die Unterscheidung von Recht und Nichtrecht aufgrund einer unscharfen Trennlinie unterlaufen werden könnte.110 Wie bereits dargelegt, vollzieht sich die Unterscheidung von Recht und Unrecht ausschließlich rechtsintern. Für die Unterscheidung werde das Recht durch die Selbstreflexion in Form der Materialisierung zwar für das Nichtrecht geöffnet, wodurch nichtrechtlichen Aspekten allerdings kein Einfluss auf die Bestimmung von Recht und Unrecht zukommen solle. Als Teil des Rechts sei das Nichtrecht im Recht „nicht gültig, sondern 105 106 107 108 109 110
LG Köln Urt. v. 14. 04. 2016 – 117 KLs 19/15, BeckRS 2016, 17841. Dabei wird auf § 56 III StGB verwiesen, vgl. BGH NJW 2017, 3011, 3013. Menke, Kritik der Rechte, S. 146. Ebd., S. 148. Deitert/Wieland, in: Zeitschrift für philosophische Literatur 2016, 11, 14. Menke, Kritik der Rechte, S. 149.
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wirksam.“111 Die Materialität des Rechts bewirke demnach nicht schlichtweg eine Transformation von Wertungen des Nichtrechts in eine gesetzliche Form, sondern das Recht setze sich durch seine Materialität das Nichtrechtliche voraus.112 Folglich ist hier ein Wertungsunterschied zwischen rechtlichen und nichtrechtlichen Gründen erkennbar. Die Materialisierung unterläuft die Unterscheidung zwischen Recht und Nichtrecht nicht, da dem Nichtrecht durch sie keine Gültigkeit im Recht verschafft wird. Vielmehr ist sie wie ein im Recht wirksamer Impuls zu verstehen. Recht kann nur in Bezug auf Recht hervorgebracht werden, was jedoch gleichsam nicht bedeutet, dass gesellschaftliche Wertentscheidungen und Interessen nicht miteinfließen können.113 Das Recht antworte auf das Nichtrecht innerhalb des Rechts, da das Nichtrecht infolge der Materialisierung nicht mehr außerhalb des Rechts stehe. Teubner nimmt an, dass das Recht auf diese Weise selbst eine individuelle Form von Gerechtigkeit schaffe, die politischen oder moralischen Gerechtigkeitsvorstellungen autonom gegenübersteht.114 Menkes Ansicht zufolge ist die Wandlungsbereitschaft des Rechts als Reaktion auf die Erkenntnisse aus seiner Selbstreflexion grundlegend für das Gerechtigkeitskonzept des modernen Rechts, da hierdurch das Nichtrecht Wirksamkeit im Recht erlangt.115 Wird das Nichtrecht demzufolge als eine Art Antrieb – im Unterschied zu „Grund“ – des Rechts verstanden, löst sich der zunächst angenommene Widerspruch zur Autonomie des Rechts auf: Für Menke ist das Nichtrecht in der Materialisierung der Antrieb seiner Responsivität.116 Das Motiv für die Antwort, die das Recht dem Nichtrecht gibt, bleibt hingegen rechtsintern,117 da das Recht dieses selbst konstruieren muss,118 womit seine Autonomie nicht geschmälert wird. f) Der Grund des Rechts Die bisherige Darstellung des Prozesses der Selbstreflexion verdeutlicht Menkes Vorstellung von der autonomen Selbsthervorbringung des modernen Rechts. Sie
111
Ebd., S. 149. Ebd., S. 109 ff. 113 Luhmann, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft Bd. 2, 45, 102. 114 Teubner, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2008, 9, 25; vgl. auch Menke, Kritik der Rechte, S. 152; Luhmann, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft Bd. 2, 45, 102. 115 Menke, Kritik der Rechte, S. 151 f. 116 Ebd., S. 149. 117 Zu der Problematik, die sich ergibt, wenn das Recht seine Urteile im Hinblick auf (gesellschaftspolitische) Folgen ausrichtet, anstatt anhand von autonom generierten, systemimmanenten Kriterien zu entscheiden, siehe exemplarisch für das Strafrecht: Schauer, Aufforderung zum Spiel. Foucault und das Recht, S. 156 f. 118 Teubner, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2008, 9, 25. 112
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erklärt die Entstehung oder auch „Genesis“119 dieses Rechts. Damit ist jedoch noch nicht abschließend dargelegt, wie sich der „Grund“ des Rechts darstellt. Diesen spezifiziert Menke als „die Operation, die die Form der Rechte hervorbringt.“ Hinsichtlich des Rechts an sich sei der „Grund“ dasjenige, „wodurch und weshalb das Recht selbst berechtigt ist.“120 Es ist demzufolge anzunehmen, dass zwischen dem Grund der Form der Rechte und dem Grund des Rechts differenziert werden muss. Der „Grund“, den Menke thematisiert, kann verstanden werden als der Aspekt, auf den das Recht in seiner Entwicklung zurückgeht und aus dem seine Berechtigung resultiert. Für die Form der Rechte wird diese Funktion durch den Prozess der Selbstreflexion erfüllt.121 Hinsichtlich des Grundes des Rechts grenzt Menke sich deutlich vom Naturrecht ab,122 welches von der Natur als Geltungsgrund oder „vorgesetzliche Rechtsquelle“ des Rechts ausgeht.123 Rechte im Sinne von Ansprüchen erlangten normative Verbindlichkeit erst durch das Gesetz124 und ihre Unterordnung unter das Prinzip der Gleichheit.125 Die Frage nach dem Grund dieses Gesetzes beziehungsweise des Rechts bleibt insoweit jedoch noch unklar. Für das Recht im Sinne von Gesetz entwickelt Menke die Bestimmung des Grundes aus seiner Begründung der Legitimität des modernen Rechts.126 Mit seiner Argumentation begegnet Menke der Kritik der idealistischen Rechtstheorie und der der Vertragstheorie, die auf der These fußen, die moderne Legitimität ergebe sich aus der Einheit von Grund („das Weshalb des Rechts“) und Gehalt („das Wozu [der Berechtigung] des Rechts“).127 Die Vertragstheorie erkläre das „natürliche Streben“ sowohl zum Grund als auch zum Gehalt des Rechts. Hieraus könne jedoch keine Normativität resultieren, da der Bestand eines Rechts oder eines Vertrages, dessen Grund das „natürliche Streben“ sei, von der Willkür der Einzelnen abhängig wäre. Das „natürliche Streben“ als Rechtsgrund könne jederzeit wegfallen und mit ihm die Normativität. Daher wolle die idealistische Rechtstheorie die Freiheit als Grund und Gehalt des Rechts einsetzen. Problematisch sei hierbei jedoch, dass sich hinter dem Begriff Freiheit zweierlei Bedeutungen verbergen:128 Einerseits gehe es um die Freiheit als praktische Vernunft als rechtsbegründende Freiheit, andererseits bleibe der Gehalt des Rechts weiterhin die 119
Menke, Kritik der Rechte, S. 11. Ebd., S. 155. 121 Näher hierzu siehe Kapitel „Die Form als Produkt und Vollzug der Selbstreflexion“ auf S. 43 ff. der vorliegenden Arbeit. 122 Vgl. Menke, Kritik der Rechte, S. 60, 27 f. u. 107; Menke, in: Der Staat im Recht. Festschrift für Eckart Klein zum 70. Geburtstag, 439, 447 f. 123 Menke, Kritik der Rechte, S. 32. 124 Ebd., S. 28, 36 u. 38. 125 Ebd., S. 59. 126 Ebd., S. 155 ff. 127 Ebd., S. 155. 128 Vgl. hierzu – auch mit Bezugnahme auf Luhmann – Menke, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2008, 81, 89. 120
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Freiheit als Willkür im Sinne des „natürlichen Strebens“. Menke kritisiert, dass hierbei unklar bleibe, weshalb aus der Vernunft als Grund des Rechts die Berechtigung des natürlichen Strebens als Gehalt der Rechte hervorgehen solle. Eine Einheit von Grund und Gehalt des Rechts könne demnach mit der idealistischen Rechtstheorie nicht begründet werden. Beide Theorien bewertet Menke als defizitär im Hinblick auf die Begründung der Identität von Grund und Gehalt des Rechts, weil sie seiner Ansicht nach in eine Aporie münden.129 Diese „idealistische Aporie“130 wird durch die Annahme gelöst, das natürliche Streben sei bereits Bestandteil des Grundes des Rechts. In der praktischen Vernunft als Grund des Rechts wirke immer schon das natürliche Streben; mit anderen Worten, die Autonomie am Grund des Rechts beinhalte immer auch die Willkür. Autonomie ohne in ihr wirksamer Willkür könne es nicht geben, daher sei das Recht, das in Autonomie gründe immer auch ein Recht auf Willkür, beziehungsweise auf das natürliche Streben. Das, wozu das Recht die Einzelnen ermächtige, sei immer schon ein Teil dessen, wodurch das Recht selbst berechtigt sei. Durch den Materialismus der Selbstreflexion werde das Nichtrecht, und damit das natürliche Streben, in den Grund des Rechts mitaufgenommen. Ebenso wirke jedoch auch das Recht selbst – im Unterschied zum Nichtrecht – an der Selbsthervorbringung mit, sodass Normativität, anders als bei dem Begründungsansatz der Vertragstheorie, gewährleistet sei. Damit hat Menke ein Prinzip gefunden, auf dessen Grundlage das moderne Recht den Legitimitätsanspruch – die Einheit von Grund und Gehalt – einlösen kann. Folge dieses Lösungsansatzes sei, dass sich die Aporie „zwischen Grund und Gehalt“ zu einer Aporie „im Grund des Rechts“ selbst verwandle, da dieser nun sowohl Vernunft als auch natürliches Streben in sich vereine.131 Sein Verständnis vom Grund des Rechts ergibt sich somit aus der materialistisch verstandenen Selbstreflexion.132 Die vorhergehende Analyse133 normativer Verbindlichkeit im modernen Recht, die Menke als Ergebnis des originären menschlichen Strebens nach Selbsterhaltung gekoppelt mit dem diskursiven Element eines „gesellschaftsgründende[n] Vertrag[es]“134 beschreibt, wird unter anderem durch die Offenlegung der Schwächen der Vertragstheorie weiterentwickelt. Das natürliche Streben nach Selbsterhaltung, das zuvor als „Grund“ und „Zweck“ des Rechts bezeichnet wird,135 fließt in die Autonomie als Grund des Rechts ein. Das Recht gründet weder allein in Willkür oder auch Selbsterhaltungsstreben, noch allein in Autonomie. Vielmehr finde die – durch
129 130 131 132 133 134 135
Menke, Kritik der Rechte, S. 156. Ebd., S. 157. Ebd., S. 158. Ebd., S. 159. Ebd., S. 54 u. 60. Ebd., S. 54. Ebd., S. 81.
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die Selbstreflexion nachvollzogene136 – autonome Selbsthervorbringung statt, im Rahmen derer das materielle Nichtrecht im Recht wirke. Am Grund des Rechts stehe nicht die reine Autonomie; Teil dessen sei auch die natürliche Willkür. Die Figur der Selbstreflexion gestattet es Menke, das Zusammenspiel von Autonomie und Willkür zu denken. Das Recht gründet demzufolge also in Autonomie, welche jedoch materialistisch verstanden werden müsse und daher auch die Willkür beziehungsweise das natürliche Streben beinhalte. Das materialistische Verständnis des Grundes des Rechts ist entscheidend, um den Grund des Rechts in Menkes Sinne zu begreifen.137 Die Selbstreflexion ist folglich der Prozess, der nach Menkes Vorstellung anstelle der objektiven Gerechtigkeits- oder Sittlichkeitsvorstellungen der klassischen Ordnungen als Maßstab des modernen Rechts fungiert.138 Durch sie werde das Wirken des natürlichen Strebens in der praktischen Vernunft als Rechtsgrund sichergestellt, was mit dem natürlichen Streben als Gehalt des Rechts korreliere. g) Zusammenfassung Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich das moderne Recht nach Menke durch die Differenzierung von Recht und Nichtrecht selbst als Recht setzt. Als selbstreferentielles System bestimme das Recht autonom, was Recht ist.139 Das Recht bringe sich durch die eigene „Entgegensetzung“ zum Nichtrecht selbst hervor.140 Diese autonome Selbsthervorbringung ist als Ausdruck der neuen Legalitätsbestimmung im modernen Recht zu verstehen, welche durch die Unabhängigkeit von einer übergeordneten Gerechtigkeitsidee charakterisiert sei und gleichzeitig auf der „Legalisierung des Natürlichen“ fuße.141 Den Vorgang der Selbstkonstitution zwischen Recht und Nichtrecht rekonstruiert das Recht im Wege der Selbstreflexion.142 Da das Recht kein statisches System ist, erfährt es durch Selbstreflexion in Form von Materialisierung Modifikationen143 und schafft damit innerhalb des Rechts einen Raum des Nichtrechts, wodurch das Nichtrecht im Recht Wirksamkeit erlangt. Selbsthervorbringung und Materialisierung als die zwei Ausprägungen der Selbstreflexion wirken im Recht folglich zusammen.144 Menke charakterisiert das selbstreflexive Recht daher als „prozessual“ und „materialistisch.“145 Auf diese 136
Ebd., S. 131. Ebd., S. 159. 138 Ebd., S. 103 u. 155 f. 139 Vgl. hierzu auch Buckel, Subjektivierung und Kohäsion. Zur Rekonstruktion einer materialistischen Theorie des Rechts, S. 9. 140 Menke, Recht und Gewalt, S. 69. 141 Menke, Kritik der Rechte, S. 103. 142 Ebd., S. 131 u. 126. 143 Vgl. hierzu auch Luhmann, in: Rechtstheorie 1979, 159, 177. 144 Menke, Kritik der Rechte, S. 159. 145 Ebd., S. 154. 137
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materialistische Weise ist auch der Grund des Rechts zu verstehen. Der Materialismus des selbstreflexiven Rechts ermöglicht das Verständnis der Autonomie als Grund des Rechts, in dem jedoch gleichsam das natürliche Streben oder auch die Willkür wirken.146
2. Die Form der Rechte In der autonomen Selbsthervorbringung des Rechts im Wege der Selbstreflexion147 erblickt Menke die Manifestation eines „Umbruch[s] in der Ontologie der Normativität“, der für ihn den Ursprung der bürgerlichen Form der Rechte markiert.148 Nach der abstrakt-theoretischen Beschreibung der selbstreflexiven Selbsthervorbringung des Rechts, stellt sich die Frage, wodurch dieser Vorgang im modernen Recht konkret vollzogen wird. Die Antwort darauf ist eng verknüpft mit der Form der Rechte, denn die „prozessuale Materialität des selbstreflexiven Rechts“149 wird von Menke als die Basis der Form der Rechte beschrieben. Dementsprechend gilt es, die Form näher in den Blick zu nehmen. a) Der Begriff der Form Die Frage nach der Form ist das Leitmotiv der Kritik der Rechte. Wie schon etwa bei Marx,150 ist der Begriff der „Form“ dementsprechend zentral in Menkes Theorem. Gemeint ist mit dem Begriff in erster Linie eine Darstellungsweise oder auch ein Prozess der Formierung. Der Begriff „Figur“ wird teilweise anstelle von Form verwandt.151 Am häufigsten findet sich die Bezeichnung „Form“ in Kritik der Rechte als Form im Gegensatz zu „Materie“,152 wie er bereits im vorhergehenden Kapitel skizziert wurde, sowie als Form des Rechts oder der Rechte.153 An dieser Stelle wird es vornehmlich um die Form der Rechte im letztgenannten Sinne gehen. Dieser Formbegriff bezieht sich auf den „Mechanismus“ der Rechte, also die Weise, wie sie verfahren, im Gegensatz zu ihrem Inhalt, Zweck oder Effekt.154 Wie
146
Ebd., S. 159. Ebd., S. 103. 148 Ebd., S. 11. 149 Ebd., S. 155. 150 Weiterführend zu Marx’ Begriff der Form vgl. Haug, Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus (Bd. 4), Spalten 588 – 615. 151 Vgl. exemplarisch Menke, Kritik der Rechte, S. 39, 42, 52 u. 57. 152 Vgl. exemplarisch ebd., S. 138 ff. 153 Vgl. exemplarisch ebd., S. 164 ff. u. 253 ff. 154 Ebd., S. 9. 147
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bei Luhmann,155 setzt Menkes Verständnis des Begriffs des subjektiven Rechts nicht bei dem Subjekt an, sondern bei der Struktur des Rechts.156 Die Form des Rechts oder des Gesetzes beschreibt er mit der Formulierung, dass das „Recht […] das Recht der Rechte“157 ist. Der nächste Schritt führt zu der Frage nach der Form der Rechte selbst. Anders als Marx will Menke nicht den Inhalt der Rechte untersuchen, sondern elementarer ansetzen, indem er bereits die Form der Rechte hinterfragt.158 b) Die moderne Form der Rechte aa) Die Unterscheidung zwischen Gesetz und Anspruch In Gänze sei die moderne Form der Rechte nur im Nachvollzug der historischen Entwicklung dieses Rechtsbegriffs zu erfassen,159 weshalb Menke jene unter Anderem wiederum überspitzt mithilfe der geschichtsphilosophischen Orte Athen, Rom und London nachzeichnet und sich dabei an Leo Strauss’ und Michel Villeys Denken orientiert.160 Entscheidend ist hierbei zunächst einmal die „neuzeitliche“ Entwicklung der Unterscheidung zwischen Recht im Sinne von Gesetz und Recht im Sinne von Anspruch.161 Diese Entwicklung münde in die Begriffe des subjektiven und des objektiven Rechts, als deren Urheber Menke Friedrich Carl von Savigny identifiziert. Unabhängig von dem Begriff sei es jedoch erst Thomas Hobbes gewesen, der die strukturverändernde Wirkung dieser Unterscheidung erkannt habe.162 Diese basiere auf der Erkenntnis, dass die Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Recht der Vorordnung des Anspruchs vor das Gesetz diene, wodurch der Anspruch gleichzeitig zur Grundlage des Gesetzes geworden sei. Damit einher gehe auch die grundlegende Umorientierung von Pflichten auf Ansprüche. Lag der Fokus bis dahin auf den Pflichten einer Person, so standen nunmehr die persönlichen Rechte im Vordergrund, was auf den Liberalismus zurückzuführen sei.163 Sodann beschreibt Menke die Problematik, die dieser „liberale Dualismus“ von subjektivem und objektivem Recht durch die Annahme des Primats des Anspruchs vor dem Gesetz hervorruft. Namentlich könne es ohne Gesetz keine Normativität geben, sodass die Annahme „natürlicher Rechte“ in eine Paradoxie führe. Rechte, die 155 Luhmann, in: Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, 360, 361. 156 Menke, Kritik der Rechte, S. 39. 157 Ebd., S. 29. 158 Ebd., S. 11. 159 Ebd., S. 17. 160 Ebd., S. 101. 161 Ebd., S. 20. 162 Ebd., S. 22. 163 Ebd., S. 23.
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dem Gesetz vorhergingen, seien mangels Normativität entweder keine Rechte, oder aber, wenn sie tatsächlich Rechte seien, könnten sie dem Gesetz in Wirklichkeit nicht vorhergehen.164 Doch auch Hans Kelsens daraus resultierende Annahme, dass das subjektive Recht lediglich als „Reflex der Rechtspflicht“ verstanden werden müsse, wird abgelehnt. Menkes Meinung nach verkennt sowohl die These vom rechtskonstitutiven Charakter des subjektiven Rechts, als auch die These vom subjektiven Recht als Reflex der Rechtspflicht den Sinn der „Verkehrung des Primats“.165 Bei der Vorordnung des Anspruchs vor das Gesetz gehe es namentlich nicht um die Neubestimmung des „Grundes“ des Rechts, womit die Legitimationsgrundlage gemeint sein dürfte,166 sondern darum, die Form des Rechts neu zu bestimmen. Darin sieht Menke den „revolutionären Akt der modernen Politik.“167 bb) Der moderne Anspruchsbegriff Menke versteht den neuzeitlichen Primat des Anspruchs vor dem Gesetz demnach nicht normativ, sondern setzt an anderer Stelle an. In Anlehnung an Savigny spricht er sich für ein „funktionales“168 Verständnis des Primats aus. Funktional meint in diesem Zusammenhang, dass das subjektive Recht dem objektiven Recht insofern vorgeht, dass es zur Funktion des objektiven Rechts geworden ist, das subjektive Recht zu schützen. So verstanden ist der Primat des Anspruchs existent, ohne gleichzeitig die Problematik fehlender Normativität hervorzurufen. Dieses funktionale Verständnis bringt Menke in Verbindung mit dem Begriff der „natürlichen Rechte“, den er der Neuzeit zuordnet. Im normativen Verständnis des Primats impliziere die Bezeichnung „natürlich“ die Stellung der Rechte als eine vorgesetzliche Rechtsquelle, demgegenüber eröffnet das funktionale Verständnis Menke die Möglichkeit den Begriff der „natürlichen Rechte“ anders zu interpretieren. Er bezieht die Natürlichkeit der Rechte auf die Inhalte des jeweiligen Anspruchs, anstatt sie als Rechtsgrund zu verstehen.169 Dies spiegelt sich im zuvor skizzierten Verständnis von Normativität wider: Der Inhalt der Rechte sei das „Natürliche“, womit wiederum die natürlichen-faktischen Bestrebungen des Menschen gemeint sind. Infolge der Natürlichkeit der Anspruchsinhalte bestehe ein ständiger Rückbezug der Rechte auf das natürliche Streben.170 Die Natur sei der Norm vorausgesetzt und damit gleichzeitig ihr Zweck.171 Ohne dass das natürliche Streben der Norm als Faktum vorausgehe, könne 164 165 166 167 168 169 170 171
Ebd., S. 25. Ebd., S. 22. Vgl. ebd., S. 155. Ebd., S. 28 f. Ebd., S. 32. Ebd., S. 32. Ebd., S. 62. Ebd., S. 64.
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es keine Rechte mit dementsprechendem Inhalt geben.172 Die funktionale Bestimmung des Rechts sei es, sie zu sichern und aus dieser Funktion resultiere die Normativität des modernen Rechts.173 Dies führt zu der Feststellung einer „funktionalen Totalisierung des Anspruchs“ und der gleichzeitigen „Naturalisierung des Gehalts der Rechte.“174 Alles Recht bestehe folglich zur Sicherung der Rechte, deren Gehalt das Natürliche sei.175 Um den vorrechtlichen Inhalt eines Anspruchs in einen gültigen Rechtsanspruch mit normativer Verbindlichkeit zu transformieren, müsse sich der Anspruchsinhalt lediglich äußerlichen Beschränkungen fügen, welche Menke als die Begrenzungen durch das Gleichheitsideal identifiziert. Sei die Basis für die Normativität des Anspruchs im „traditionellen“ Recht noch die Gerechtigkeit des Anspruchs selbst gewesen, müsse es angesichts der Natürlichkeit des modernen Anspruchsinhalts eine andere Quelle der Normativität geben.176 Entsprechend ergibt sich der funktionale Wandel im Begriff des Rechts: Das Gesetz schreibe keine sittlichen Verhaltensmuster mehr vor, sondern sei dafür zuständig, die Bereiche natürlicher Tätigkeiten der Individuen gegeneinander abzugrenzen, um ihr Nebeneinander zu ermöglichen. Die bewusste Abkehr von Tugend- oder Sittlichkeitsidealen werde nicht mithilfe inhaltlicher Bestimmungen des Rechts realisiert, sondern durch die Formentscheidung für die subjektiven Rechte.177 Das Recht sei nunmehr von der Gerechtigkeit entkoppelt.178 Dabei gehe es jedoch nicht um eine qualitative Beschränkung des Natürlichen – andernfalls würde eine grundlegende Einschränkung des natürlichen Anspruchs drohen – sondern lediglich um eine quantitative Einschränkung179 in den von der Gleichheit vorgegebenen Grenzen.180 Das Gesetz schaffe einen „äußeren Rahmen“ statt der „verbindliche[n] Statuierung eines inneren Maßes.“181 Die Thesen vom „neuen Verständnis“ des Rechts fußen auf Savigny, jedoch geht Menke einen entscheidenden Schritt über selbigen hinaus, indem er dieses Verständnis nicht nur auf die Rechte des Privatrechts bezieht, sondern gleichsam eine Ausdehnung auf das Öffentliche Recht vornimmt. Es soll diese veränderte Sichtweise auf das Recht sein, die ein ebenso „neues Verständnis der Rechte“ ermöglicht.182 Der entscheidende Unterschied zum „traditionellen Recht“ scheint zu sein, dass dort Recht und Vorrechtliches getrennt voneinander operieren, während Menke 172
Ebd., S. 60. Ebd., S. 39. 174 Ebd., S. 33. 175 Ebd., S. 405. 176 Ebd., S. 59. 177 Ebd., S. 316. 178 Wilmes, Recht und Rechte – Gedanken zu einer neuen Revolution, 21. 12. 2015, in: Deutschlandfunk. 179 Menke, Kritik der Rechte, S. 264. 180 Ebd., S. 203. 181 Ebd., S. 58 f. 182 Ebd., S. 33. 173
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im modernen Recht eine Verknüpfung dieser beiden Elemente erkennt.183 Beide geschichtsphilosophischen Orte – Athen und Rom – durch die die Entwicklung hin zum modernen Recht herausgearbeitet wird, gleichen sich darin, wie die Rechte, die sie gewähren, begründet sind: Rechte resultieren aus einer spezifischen, objektiven Gerechtigkeitsordnung.184 Menke stellt heraus, dass Ansprüche, die der Einzelnen eingeräumt werden, in der Gerechtigkeit wurzeln, die dem Individuum „das Seine“ als „ius suum, cuique“185 oder „seinen gerechten Anteil an der Sache“ zuteilt.186 Am Beispiel Eigentum wird dargelegt, dass dieser „gerechte Anteil“ in Rom jedoch nicht zu verwechseln sei mit der Macht, die eine Eigentümerin über eine Sache ausübt. Bei dieser „Macht“ handele es sich vielmehr um „die der Rechtsordnung vorhergehende private oder natürliche Tätigkeit“,187 eine genauere Definition bleibt aus. Als Gebrauch des Rechts sei diese also „privat“ und unterliege nicht der Herrschaft des Rechts. Es soll sich demnach wohl um eine Trennung in den Kompetenzbereichen des Rechts handeln: Das Recht in Rom soll die Kompetenz haben, jeder Person ihren „gerechten Anteil“ zuzuweisen. Die Macht oder der Gebrauch, die sie über ihren Anteil ausübt, soll dem Recht hingegen entzogen sein. Da Menke diese private Macht als „natürlich,“ das heißt also seiner Terminologie entsprechend als vorrechtlich bezeichnet, kommt er zu der Schlussfolgerung, dass Rechtliches und Vorrechtliches in der römischen Rechtskonzeption getrennt seien.188 Genau diese Trennung ist es, die wegen der Natürlichkeit des Anspruchsinhalts im modernen Recht nicht mehr vollzogen werde. Vielmehr finde die Verknüpfung von Rechtlichem und Außerrechtlichem statt, indem das Recht der Einzelnen als Recht auf den „natürlichen Gebrauch“ umgedeutet wird. Mit dieser Verknüpfung werde das „Außerhalb des Rechts“ in das Recht hineingenommen, was Menke als „paradoxen Komplex“ bezeichnet.189 Prägnant formuliert er auf den ersten Seiten der Kritik der Rechte: „Klassische Rechte sind gerechte Anteile, moderne Rechte sind legale Ansprüche auf natürliche Ansprüche.“190 Statt basierend auf einer objektiven Gerechtigkeitsordnung den spezifischen Anteil jeder Einzelnen zu bestimmen, wolle das moderne Recht die gleiche Möglichkeit eines jeden das Natürliche zu „verwirklichen“, gewährleisten.191 Der „vorrechtliche, natürliche Zustand“, der in Rom 183
Ebd., S. 49 f. Ebd., S. 47 u. 57; vgl. außerdem Ladeur, in: Kritische Justiz 1994, 42, 43, der „traditionelle“ Rechtsordnungen als auf „der Repräsentation eines übergeordneten fremden Willens“ basierend begreift. 185 Menke, Kritik der Rechte, S. 41. 186 Ebd., 45 ff.; kritisch dazu siehe Ladeur, Die Textualität des Rechts. Zur poststrukturalistischen Kritik des Rechts, S. 111. 187 Menke, Kritik der Rechte, S. 55. 188 Ebd., S. 48 ff. 189 Ebd., S. 52. 190 Ebd., S. 12. 191 Menke, in: Der Staat im Recht. Festschrift für Eckart Klein zum 70. Geburtstag, 439, 439. 184
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noch außerhalb des Rechts verortet wurde, rücke in der modernen Form der Rechte ins Zentrum, denn es werde zur „Wesensbestimmung des Rechts“, das Natürliche zu garantieren.192 Dahingehend deutet Menke auch die Bezeichnungen „Anspruch“, „Befugnis“193 oder „Macht“ für ein modernes Recht, welche er unter anderem auf Wilhelm von Ockham zurückführt. Diese Bezeichnungen stellen ihm zufolge ein Sinnbild für die Verquickung von Rechtlichem und Außerrechtlichem dar, denn wenn von einem Recht als Macht gesprochen werde, sei damit zugleich „physische“ und „rechtliche Macht“ gemeint.194 Die moderne Form der Rechte ist demzufolge dadurch charakterisiert, dass Rechte „(rechtliche) Ansprüche auf (natürliche) Ansprüche“ darstellen.195 Daraus entstehe ein von Grund auf neues Verständnis des Anspruchs, da dieser nicht mehr auf den „gerechten Anteil“ beziehungsweise auf die „Teilung des Gemeinsamen“196 wie in Athen oder Rom ziele, sondern auf „Vor- oder Außerrechtliches“, das legalisiert werde.197 Für Menke zeichnet sich die moderne Form der Rechte deshalb dadurch aus, dass sie die „Einheit und Differenz […] von Normativität und Natur“198 realisiert. Das Gesetz schaffe Rechte, indem es das Vorrechtliche beziehungsweise Natürliche legalisiere.199 cc) Der Ermächtigungsmechanismus: Ermöglichung und Erlaubnis Diese „Legalisierung des Natürlichen“200 wird Menke zufolge in der modernen Form der Rechte auf zwei verschiedene Arten realisiert: Zum einen im Wege der „Ermöglichung“ und zum anderen durch die „Erlaubnis“201. Diese „doppelte Gestalt der Performanz“ der modernen Form der Rechte verknüpft Menke mit der Interessenund der Willens- oder Willkürtheorie des neunzehnten Jahrhunderts.202 Dabei soll die Interessentheorie mit der Performanz Ermöglichung und die Willkürtheorie mit der Performanz Erlaubnis korrelieren. Der Begriff „Performanz“, den man hauptsächlich
192
Menke, Kritik der Rechte, S. 55. Ebd., Anm. S. 423, Fn. 168. 194 Ebd., S. 53. 195 Ebd., S. 56. 196 Ebd., S. 65. 197 Diese These findet sich auch bei Menke, in: Der Staat im Recht. Festschrift für Eckart Klein zum 70. Geburtstag, 439, 439; kritisch dazu Ladeur, Die Textualität des Rechts. Zur poststrukturalistischen Kritik des Rechts, S. 111. 198 Menke, Kritik der Rechte, S. 60. 199 Ebd., S. 63 u. 106. 200 Ebd., S. 33. 201 Ebd., S. 89 ff. 202 Ebd., S. 91. 193
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in der Sprachphilosophie und den Kulturwissenschaften vorfindet,203 wird von Menke nicht detailliert erläutert. Hiermit soll jedoch wohl ein gewisser dynamischer Charakter – Ermöglichung und Erlaubnis als Vorgang, nicht nur Gestalt – betont werden, denn „Performanz“ wird von Menke mit „Leistung“204 gleichgesetzt. (1) Das Zusammenspiel von Interessen und Willkür Menke fasst die Aussage der Interessentheorie205 folgendermaßen zusammen: Der Sinn der Rechte besteht darin, die „gleiche Verwirklichung des natürlichen Strebens“, in Form von Interessen sicherzustellen.206 Im Gegensatz dazu bestimme die Willkürtheorie die Sicherung jeglicher Formen des natürlichen Strebens – das heißt, nicht nur in Form von Interessen – als Aufgabe der Rechte. Der grundlegende Unterschied zwischen den beiden Theorien besteht laut Menke darin, dass nach der Interessentheorie Handlungen zur Interessenbefriedigung anhand ihres Zieles beurteilt und dementsprechend ermöglicht werden, während bei der Willkürtheorie Handlungen beziehungsweise „das natürliche Wollen“ unabhängig von der Zielbestimmung erlaubt werden. Daraus schließt er, dass den Theorien zwei unterschiedliche „Naturbegriffe“ zugrunde liegen. Das Natürliche, das die Interessentheorie ermöglichen wolle, sei anhand der Zielsetzung der Interessen bestimmbar, während das Natürliche, das die Willkürtheorie erlaube, unbestimmbar sei.207 Mit Rudolf von Jhering spricht sich Menke dafür aus, dass nur die Kombination aus beidem – also der Ermöglichung von Interessen und der Erlaubnis der Willkür – den Kern dessen bildet, was Rechte sichern. Willkür definiert Menke dabei als „das Vermögen der Wahl unter Absehung von Gründen“208 und verwendet dies teilweise synonym zum Begriff des „Wollens“. Mit Interessen sind dabei abstrakt die Interessen des Individuums an Selbsterhaltung gemeint.209 Rechte, die lediglich die Sicherung von Willkür der Individuen zur Aufgabe hätten, wären mangels steuernder Funktion durch die Interessen inhaltsleer. Sie könnten niemals „Ansprüche auf […] etwas Bestimmtes“ sein. Gleichzeitig bliebe auch eine Sicherung lediglich der Willkür durch die Rechte unvollständig, wofür das Argument Jherings angebracht wird: Ohne den Aspekt der Willkür oder des Wollens wären Rechte lediglich Reflexe von Normen, anstelle von Berechtigungen. Die Unterscheidung von „Anspruch“ und „Reflex“ würde unterlaufen,210 da 203 Christensen/Lerch, in: Recht vermitteln: Strukturen, Formen und Medien der Kommunikation im Recht, 55, 71. 204 Vgl. Menke, Kritik der Rechte, S. 89. 205 Siehe dazu prominent Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Teil 3, Abt. 1, S. 338 ff. 206 Menke, Kritik der Rechte, S. 91. 207 Ebd., S. 92. 208 Ebd., S. 95. 209 Ebd., S. 42 u. 96 f. 210 Ebd., Anm. S. 426, Fn. 196.
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so letztlich nicht das Wollen der Einzelnen, sondern das einer Behörde oder sonstigen Institution entscheidend wäre.211 Die Rechtsträgerin müsse selbst über die Inanspruchnahme einer Option, die ihr ihr Recht eröffnet, entscheiden können.212 Auf diese Weise werde die individuelle Willkür befähigt, Rechtsfolgen hervorzurufen.213 Demnach wird die „Legalisierung des Natürlichen“ in der modernen Form der Rechte sowohl durch die Ermöglichung von Interessen, als auch durch die Erlaubnis der Willkür vollzogen. Im Gegensatz zu Jhering und Jellinek begrenzt Menke die Unterscheidung von Interessen und Willen nicht darauf, die Interessen als das „Was und das Wozu“ des Anspruchs und den Willen als das „Daß und das Wie“ im Sinne der gerichtlichen Durchsetzung des Anspruchs zu definieren.214 Die Willkür umfasse mehr als nur die Entscheidung der Frage der gerichtlichen Durchsetzung der Berechtigung – das heißt des aus dem Interesse abgeleiteten Ziels. Die Willkür sei vielmehr „Gehalt der Berechtigung“, indem sie ausschlaggebend dafür sei, ob das zu ermöglichende Interesse überhaupt bestehe. Schon die Existenz des Interesses werde der Willkür der Einzelnen überlassen.215 So ergibt sich aus Menkes Sicht zum einen eine Art Abhängigkeitsverhältnis, denn die Ermöglichung von Interessen ist an „das Wollen oder Nichtwollen ihrer Inanspruchnahme“ gebunden und die Erlaubnis der Willkür ist abhängig von einer Zielbestimmung, die durch Interessen erfolgt. Die moderne Form der Rechte sichert demnach Interessen und Willkür, da beide als Bestandteil eines Rechts angesehen werden.216 In ihrer modernen Form legalisieren Rechte „beliebige Inhalte und Weisen natürlicher Strebungen.“217 (2) Antagonismus innerhalb der Naturbegriffe Zum anderen sieht Menke jedoch auch eine Entgegensetzung dieser „Performanzen“, die wiederum in Zusammenhang mit unterschiedlichen „Naturbegriffen“ stehe. Die Legalisierung des Natürlichen durch die Ermöglichung von Interessen habe andere Voraussetzungen als die Legalisierung des Natürlichen durch die Erlaubnis der Willkür. Für Letztere wird schlüssig dargelegt, dass, um die Erlaubnis der Willkür zu realisieren, das „natürliche Streben“ unbestimmt bleiben muss, anders könne Willkür nicht gewährleistet werden.218 Das Natürliche ist hier demnach das 211
Ebd., S. 93. Menke, in: Trivium. Revue franco-allemande de sciences humaines et sociales – Deutsch-französische Zeitschrift für Geistes- und Sozialwissenschaften 2009, 1, 2. 213 Menke, in: MenschenRechtsMagazin 2008, 197, 200. 214 Vgl. Menke, Kritik der Rechte, S. 94. 215 Ebd., S. 94 f. 216 Zu dem Diskurs über die Bestimmung des Inhalts des subjektiven Rechts als Wille oder Interesse, der in ebendiese Kombinationslösung mündete, vgl. Raiser, in: JuristenZeitung 1961, 465, 465. 217 Menke, Kritik der Rechte, S. 105. 218 Ebd., S. 95 f. 212
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Unbestimmte. Demgegenüber formuliert Menke im Hinblick auf die Ermöglichung von Interessen, dass Interessen als „Grundtypen des natürlichen Strebens“ durch das Recht bestimmt werden müssten, um ermöglicht zu werden, wobei die Notwendigkeit dieser Bestimmung weniger plausibel dargelegt wird als die Notwendigkeit des Unbestimmten hinsichtlich der Willkür. Zur Bestimmung der Interessen durch das Recht zähle unter anderem die allgemeine Definition dessen, was ein Interesse ist und wann es als realisiert gilt.219 Darin sei das moderne Recht „ökonomisch“, denn die Ermöglichung von Interessen und die Zurverfügungstellung des dafür Notwendigen diene dem „natürlichen Streben nach Selbsterhaltung“. Zugleich sei das moderne Recht jedoch auch „anthropologisch“, denn durch die Erlaubnis der Willkür schaffe es den von der Bürgerin unterschiedenen „natürlichen Menschen“.220 Menke zeigt an dieser Stelle folglich, dass sich die moderne Form der Rechte zum einen dadurch auszeichnet, dass die Sicherung von Interessen und Willkür notwendigerweise Hand in Hand gehen müssen. Zum anderen beschreibt er, dass gleichzeitig eine Entgegensetzung der Sicherung von Interessen und der Sicherung von Willkür vorliegt, da abhängig vom jeweiligen Gegenstand der Sicherung, das „natürliche Streben“ entweder bestimmt werden oder unbestimmt bleiben müsse. Zusammenfassend nennt Menke dies einen „formkonstitutiven Widerstreit [der] Performanz“.221 Dieser Widerstreit ist Menkes Rechtsverständnis nach Wesensmerkmal der modernen Form der Rechte. dd) Die Form als Produkt und Vollzug der Selbstreflexion Die Ermöglichung von Interessen und die Erlaubnis der Willkür konkretisieren Menkes Vorstellung des Natürlichen oder Nichtrechtlichen, das durch die moderne Form der Rechte berechtigt wird. Die Berechtigung des natürlichen Strebens in Form dieser Performanzen ist charakteristisch für die moderne Form der Rechte.222 Gleichzeitig zeichnet sich das moderne Recht durch den „Akt der Selbstreflexion“223 aus, durch den es sich – wie bereits erläutert – selbst als Recht hervorbringt.224 Von diesen Bestimmungen ausgehend wird nun ersichtlich, wie Menke den Zusammenhang der Form der Rechte mit der Selbstreflexion des Rechts versteht. Die Form der Rechte könne „weder normativ begründet, noch funktional erklärt werden“, sondern folge aus der Selbstreflexion des Rechts.225 Die Form der modernen Rechte 219
Ebd., S. 95. Ebd., S. 96. 221 Ebd., S. 97. 222 Ebd., S. 159. 223 Ebd., S. 154 u. 164. 224 Siehe das Kapitel „Die Selbstreflexion als Kennzeichen des modernen Rechts“ auf S. 25 ff. der vorliegenden Arbeit. 225 Menke, Kritik der Rechte, S. 158. 220
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sei durch den Vorgang der Selbstreflexion des Rechts hervorgebracht,226 gleichzeitig finde durch die Form der Rechte die Selbstreflexion des Rechts statt.227 Zur Erinnerung: Durch die von Menke beschriebene Selbstreflexion des Rechts, in der sich das Recht im Unterschied zum Nichtrecht betrachtet, soll das Nichtrecht im Recht Wirksamkeit erlangen.228 Wie nun dargelegt wurde, versteht Menke die moderne Form der Rechte als Rechte auf Natürliches – „rechtliche Ansprüche auf natürliche Ansprüche“229 – so dass das Natürliche beziehungsweise Nichtrechtliche immer schon Bestandteil des Rechts ist.230 Rechtliches und Außerrechtliches werden nicht länger als voneinander getrennt betrachtet,231 sondern als durch Rechte vermittelte Elemente.232 Auf diese Weise kann die im Hinblick auf die Selbstreflexion von Menke beschriebene „Öffnung des Rechts für das Nichtrecht“ gedeutet werden. Durch die „Legalisierung des Natürlichen“ im Wege von Ermöglichung und Erlaubnis, findet das Nichtrecht Eingang in das Recht. Das „natürliche Streben“ stellt die Materie dar, die im Recht wirksam wird.233 Damit wird Menkes These von der Wirksamkeit, die das Nichtrecht im Recht erlangen solle, plastischer. Die moderne Form der Rechte verkörpert für ihn die „Bejahung des Nichtrechts im Recht“.234 Es sei die moderne Form der Rechte, die die Wirksamkeit des Nichtrechts im Recht sicherstelle. Zwar wird angenommen, dass die natürlichen Strebungen zu einem gewissen Grad verrechtlicht werden, indem die Unterscheidung von Recht und Unrecht auf sie angewendet werde. Allerdings soll diese Materie nicht vollends die Form des Rechts annehmen können,235 weshalb sie als Natürliches das „nichtrechtliche Andere des Rechts“236 bildet. Durch die Form der Rechte werde das natürliche Streben berechtigt, weshalb Menke auch von einer „Selbstbegründung“237 des Rechts auf natürlich-faktischen Strebungen spricht. Insofern sei das natürliche Streben die Materie des selbstreflexiven Rechts, das im Wege der Materialisierung als Nichtrecht im Recht wirksam sei, so dass Menke das natürliche Streben immer schon als Teil des Grundes des Rechts betrachtet.238 Der Vollzug der Selbstreflexion in Teubners Sinne dadurch, dass rechtstheoretische oder -dogmatische Überlegungen Einfluss auf die juristische Entscheidungspraxis nehmen, spielt für Menke eher eine 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236 237 238
Menke, Recht und Gewalt, S. 86; Menke, Kritik der Rechte, S. 154, 158 u. 164. Menke, Kritik der Rechte, S. 153. Ebd., S. 135 ff. u. 167. Ebd., S. 56. Ebd., S. 158 f. Ebd., S. 52. Ebd., S. 57. Ebd., S. 158. Ebd., S. 154. Ebd., S. 136. Deitert/Wieland, in: Zeitschrift für philosophische Literatur 2016, 11, 14. Menke, Kritik der Rechte, S. 105. Ebd., S. 158 f.
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nachgeordnete Rolle. Entscheidend sei die „formale Konsequenz“ des Rechts aus der Selbstreflexion, namentlich die moderne Form der Rechte.239 Der Vollzug der Differenz von Recht und Nichtrecht im Wege der Selbstreflexion bringe die moderne Form der Rechte hervor.240 Menke deutet die Form der Rechte als das Produkt der Selbstreflexion,241 gleichzeitig sei es die Form der Rechte – als Rechte auf Natürliches – die die Selbstreflexion des Rechts vollziehe.242 Erst die Selbstreflexion des Rechts mit seinem „Anderen“ habe zu der Form der Rechte als subjektive Rechte geführt. In den traditionellen Rechtsordnungen habe keine Beschäftigung mit dem Nichtrecht in diesem Sinne stattgefunden, man könnte sagen, dort sei das Nichtrecht außen vor gelassen worden. In dem Moment, in dem das moderne Recht das Nichtrecht in sich hineinnimmt – wie es durch die Selbstreflexion geschieht – hat das Recht „die Form des subjektiven Rechts angenommen“243 und ist damit wiederum zu reflexivem Recht geworden. Die Verbundenheit mit dem Nichtrecht, die diese Form bewirke, lasse das Recht zu reflexivem Recht werden.244 Darüber hinaus sei die Form der subjektiven Rechte eine Weise, auf die versucht werde, die Selbstreflexion des Rechts umzusetzen,245 indem sie natürliche Strebungen erlaube und ermögliche.246 Form und Selbstreflexion scheinen sich demnach gegenseitig zu bedingen. Die Selbstreflexion ist für Menke die Vermittlungsinstanz zwischen Form des Rechts und Form der modernen Rechte.247 Er formuliert: „Die Selbstreflexion des modernen Rechts ist sein Wesen, die moderne Form der Rechte seine Erscheinung.“248 Aus diesem Zusammenhang leitet Menke ab, dass für das selbstreflexive Recht und die moderne Form der Rechte die gleichen „Grundbestimmungen“ gelten, das heißt, dass auch die Rechte prozessual und material seien. Prozessual seien sie aufgrund ihrer fortwährenden Weiterentwicklung, es handele sich bei der modernen Form der Rechte stets um „gewordenes und […] sich verändernde[s]“ Recht. Da die Rechte darüber hinaus die Wirksamkeit des Nichtrechts im Recht verkörpern, sollen sie außerdem materialistisch sein. Infolge ihrer Responsivität gegenüber dem Nichtrecht seien sie stets als „erkämpfte Rechte“ anzusehen.249
239
Ebd., S. 153. Ebd., S. 164. 241 Vgl. ebd., S. 154, 158 u. 164. 242 Ebd., S. 154 u. 388. 243 Menke, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2008, 81, 101. 244 Ebd., 81, 102. 245 Sinngemäß eine Aussage, die Menke im Rahmen eines Workshops der philosophischen Fakultät Leipzig am 03. 02. 2017 traf; vgl. auch Menke, Kritik der Rechte, S. 153. 246 Deitert/Wieland, in: Zeitschrift für philosophische Literatur 2016, 11, 14. 247 Menke, Kritik der Rechte, S. 87. 248 Ebd., S. 164. 249 Ebd., S. 154. 240
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c) Die bürgerliche Form: Das subjektive Recht aa) Der Ursprung des subjektiven Verständnisses Menkes Rekonstruktion der Entwicklung der modernen Form der Rechte ausgehend vom antiken Recht bringt die grundsätzliche Veränderung hinsichtlich des Verhältnisses von Gesetz und Anspruch und das damit einhergehende veränderte Normativitätsverständnis prägnant zum Ausdruck. Im gegenwärtigen „bürgerlichen Recht“ werden die modernen Rechte als subjektive Rechte gedeutet und umgesetzt.250 Zwar habe es bereits in traditionellen Rechtsordnungen Rechte im Sinne von Ansprüchen gegeben. Allerdings zeichneten diese sich stets dadurch aus, dass sie aus einer bestimmten Schuld hervorgingen oder aus einem bestimmten Verhältnis der betreffenden Personen zueinander. Im Gegensatz zu diesen „in personam-Rechten“ habe sich das bürgerliche subjektive Recht aus jeglichen „Reziprozitätsverhältnissen“ gelöst251 und befähige das Subjekt daher zur Verpflichtung „unbestimmt alle[r]“ nach seinem Belieben;252 eine Verknüpfung mit spezifischen sozialen Positionen oder einer einheitlichen Gerechtigkeitsvorstellung finde dabei dementsprechend nicht länger statt.253 Zu dieser Zeit, die Menke damit beschreibt, dass Rechte hauptsächlich „gerechte Anteile“ bezeichneten, war es Aufgabe des Rechts, die subjektive Willkür zu beschränken, während es im drastischen Widerspruch dazu in der modernen Form der Rechte darum gehe, Interessen und Willkür zu berechtigen. Hiervon ausgehend scheint Luhmanns Frage nachvollziehbar, wie man auf die Idee von Recht als etwas Subjektivem kommen konnte, „wo es doch unleugbar dazu bestimmt ist, subjektive Willkür zu einzuschränken?“254 Eine Begründung dieses Schrittes bleibt in Kritik der Rechte weitestgehend aus, lediglich im letzten Kapitel findet sich eine Formulierung, die darauf hindeutet, dass Menke die Veränderung hin zum subjektiven Verständnis von Rechten mit der Herausbildung der „bürgerlichen Gesellschaft“ in Verbindung bringt.255 An anderer Stelle256 zieht Menke Max Weber heran, um die Ursprünge dieser Entwicklung zu skizzieren. Weber sieht Indikatoren auf der politischen und auf der ökonomischen Ebene. Als Ursache im politischen Bereich identifiziert Weber das „Machtbedürfnis der Herrscher und Beamten“, ökonomisch gehe es um die „Interessen […] der 250
Ebd., S. 165. Weiterführend zu Reziprozität und Komplementarität subjektiver Rechte mit Bezug auf Luhmann vgl. Fezer, Teilhabe und Verantwortung. Die personale Funktionsweise des subjektiven Privatrechts, S. 89 ff. 252 Menke, in: MenschenRechtsMagazin 2008, 197, 198 f.; vgl. auch Menke, Kritik der Rechte, S. 40 f. 253 Menke, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2008, 81, 88. 254 Luhmann, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft Bd. 2, 45, 46. 255 Menke, Kritik der Rechte, S. 311. 256 Menke, in: Trivium. Revue franco-allemande de sciences humaines et sociales – Deutsch-französische Zeitschrift für Geistes- und Sozialwissenschaften 2009, 1, 1 f. 251
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ökonomisch Privilegierten“.257 Den politischen Aspekt führt Menke zurück auf die Entwicklung von Feudalgesellschaften hin zum modernen Staat. Durch die Monopolisierung der Gewalt im modernen Staat, stehe dieser seinen Bürgerinnen nun unmittelbar gegenüber und genau auf dieses Verhältnis beziehen sich die subjektiven Rechte Menke zufolge. Den von Weber benannten ökonomischen Grund für die Entwicklung hin zum subjektiven Recht deutet Menke als Konsequenz der Entstehung einer „gesellschaftlichen Sphäre“258, die weder normativ noch politisch reguliert werde. Bedingt durch diese Sphäre werde das Recht zum Instrument der rechtlichen Sicherung von Einigungen, die Bürgerinnen untereinander getroffen haben.259 Das Gewaltmonopol des Staates und das Bedürfnis der Bürgerinnen nach Rechtssicherheit260 scheinen demnach insofern die grundlegenden Ursachen für die Entwicklung hin zu einem subjektiven Verständnis der Rechte zu sein. bb) Menkes Kritik am Positivismus der subjektiven Form der Rechte Die subjektiven Rechte als die gegenwärtige Gestalt der modernen Form der Rechte bilden die Grundlage für Menkes Kritik am „bürgerlichen“ bzw. gegenwärtigen Recht.261 Im heutigen Recht seien die Rechte der modernen Form als subjektive Rechte ausgestaltet. Dies nennt Menke die „entscheidende Grundbestimmung“ des bürgerlichen Rechts: „Die Rechte sind die Rechte des Subjekts.“262 Das grundlegend neue Verständnis der Rechte – als Rechte, die dem Subjekt zuzuordnen sind – ist diejenige Eigenschaft, die das Recht als „bürgerliches Recht“ auszeichnet. Menke analysiert unter Anwendung der hegelianischen Unterscheidung von Wesen und Erscheinung263 detailliert die Mechanismen und damit das Wesen der „modernen Form der Rechte“ und überprüft diese sodann an ihrer Erscheinungsform als subjektive Rechte im „bürgerlichen Recht“. Dieses „bürgerliche Recht“ stellt seiner Meinung nach die einzige zurzeit existierende Umsetzung der modernen Form der Rechte dar.264 Dabei wird herausgestellt, dass der entscheidende Prozess der modernen Form der Rechte – die Selbstreflexion des Rechts – durch die Figur der subjektiven Rechte, die selbst Ergebnis des Selbstreflexionsprozesses des Rechts 257
Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, S. 536. Menke, in: Trivium. Revue franco-allemande de sciences humaines et sociales – Deutsch-französische Zeitschrift für Geistes- und Sozialwissenschaften 2009, 1, 2. 259 Ebd., 1, 2. 260 Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch Luhmann, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft Bd. 2, 45, 46 f., mit Verweis auf Kelsens These, dass die Unterscheidung von subjektivem und objektivem Recht letztlich auf den Schutz des Privateigentums abziele, vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 175. 261 Vgl. Menke, Kritik der Rechte, S. 249. 262 Ebd., S. 165. 263 Vgl. hierzu auch Buckel, in: Kritische Justiz 2016, 289, 296. 264 Menke, Kritik der Rechte, S. 165. 258
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seien, „blockiert“ wird. Die subjektiven Rechte als Gestalt der modernen Form der Rechte sind für Menke lediglich „begrifflich“ die Umsetzung der Selbstreflexion, in der Realität seien sie jedoch ihre „Verstellung, […] Verzerrung, […] Blockade.“265 Die Gestalt der subjektiven Rechte sei ein „(Selbst-)Widerspruch […] zwischen Wesen und Erscheinung“266. Denn zum einen steht fest, dass die Figur der subjektiven Rechte in dem Vorgang der Selbstreflexion „gründet“, da sie die wichtigste Erscheinungsform des bürgerlichen Rechts ist. Das bürgerliche Recht wiederum stellt für ihn die einzige Erscheinungsform des modernen Rechts dar, das sich ja gerade durch Selbstreflexion auszeichnet. Zum anderen operiert die Figur der subjektiven Rechte Menke zufolge jedoch auf eine Weise, durch die die Selbstreflexion „blockiert“ wird. Darin erkennt er den Widerspruch zwischen dem Akt der Hervorbringung und der Operationsweise der Form der subjektiven Rechte, weshalb er das bürgerliche Recht als das „falsche Recht“ in ontologischer Hinsicht bezeichnet.267 Diese Falschheit sei intrinsischer Natur, das heißt, das bürgerliche Recht sei nicht falsch im Vergleich zu einem etwaigen zu erreichenden Sollzustand, es sei vielmehr falsch „gemessen an sich selbst“268. Menke meint „das bürgerliche Recht verfehlt nicht, was es sein soll, sondern wie es ist; es verfehlt sein Wesen.“269 Er stellt die Diskrepanz heraus, die daraus entsteht, dass das bürgerliche Recht die Selbstreflexion des Rechts aus seiner Sicht zum einen voraussetzt, aber zum anderen blockiert. Mit Jürgen Habermas findet Menke für diesen Fehler die Bezeichnung „Positivismus“, der bei diesem schlicht als Verleugnung von Selbstreflexion270 definiert wird. „Verleugnung“ heißt hierbei mehr als lediglich „Abwesenheit der Reflexion“271. Das bürgerliche Recht beziehe sich zwar auf die Materie als dem Anderen des Rechts, allerdings werde dieses Andere als „etwas Vorgegebenes“ behandelt, das heißt positiviert.272 Durch die Form des subjektiven Rechts werde das Natürliche, die Materie zur „Grundlage des Rechts“, wodurch das bürgerliche Recht die „Differenz von Norm und Natur“ vollziehe. Die Selbstreflexion des Rechts führe dazu, dass die „Differenz von Norm und Natur“ nicht länger außerhalb des Rechts stehe, sondern zu seinem Inneren werde.273 Menke kritisiert, dass das bürgerliche Recht die Materie zur unveränderlichen, letztinstanzlichen „Autorität“ erhebt, anstatt sie als zu vermittelndes Moment,274 welches „nicht normativ, sondern effektiv“275 im Prozess der 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275
Ebd., S. 164 f. Ebd., S. 165. Ebd., S. 165 ff. Ebd., S. 166. Ebd., S. 166. Vgl. auch Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 9. Menke, Kritik der Rechte, S. 167. Ebd., S. 167. Ebd., S. 262 f. Ebd., S. 169 u. 149 f. Ebd., S. 149.
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Selbstreflexion wirkt, zu begreifen. So attestiert er dem bürgerlichen Recht Winfrid Sellars „Mythos des Gegebenen“ verfallen zu sein.276 Menke verknüpft diesen „Mythos des Gegebenen“ mit Theodor W. Adornos Positivismuskritik und wirft dem bürgerlichen Recht in der Erscheinungsform der subjektiven Rechte einen „falschen Materialismus“ vor. Die in der Selbstreflexion wirkende Materie erlange durch die Etablierung der subjektiven Rechte eine „begrenzende und begründende Autorität“ und werde als „positiv Gegebene[s]“ verstanden,277 so dass Menke aufgrund dieser „falschen Autorität“278 von einer „Blockade der Selbstreflexion“ ausgeht. „Blockade“ kann in diesem Kontext so verstanden werden, dass die Entfaltung der Selbstreflexion des Rechts durch die Positivierung der Materie gehemmt werde, da aufgrund der angenommenen Unveränderlichkeit kein selbstreflexiver Spielraum mehr verbleibt. Menke teilt zwar gewissermaßen die Überzeugung des Materialismus von der Vorrangigkeit des Objekts, allerdings möchte er diesen anders verstanden wissen. Indem die Materie als etwas unumstößlich Vorgegebenes begriffen werde, verfolge das bürgerliche Recht mit den subjektiven Rechten einen „positivistischen“ oder „empiristischen Materialismus“.279 Demgegenüber befürwortet Menke mit Adorno einen „dialektischen Materialismus“, der die Materie als Moment einer Vermittlung versteht, in der sie als „radikal Unbestimmtes wirk[t]“ und eine „innere ontologische Transformation“ durchlaufe.280 Ziel der Selbstreflexion, wie sie im modernen Recht angelegt sei, solle nicht sein, lediglich einen Ausgleich zwischen Form und Materie zu schaffen, indem die Materie der Norm gegenüber berechtigt werde; Ziel sei vielmehr die „Berechtigung der Materie als das Andere der Norm in der Normierung“281. Hier stehen sich demzufolge aus Menkes Sicht die „Autorität des Positiven“ – zurückzuführen auf den empiristischen Materialismus – und die „Kraft der Negativität“ – Ausgangspunkt des dialektischen Materialismus – gegenüber. Der entscheidende Unterschied besteht an dieser Stelle darin, dass der dialektische Materialismus, anders als der Empirismus, die Materie in der Selbstreflexion nicht als „Etwas, das der Form vorgegeben ist,“ versteht.282 Das bürgerliche Recht ist Menke zufolge deshalb das „falsche Recht“283, weil es in der Form der subjektiven Rechte einen empiristischen Materialismus zur Anwendung bringt, der die in der Selbstreflexion des Rechts wirksame Materie als dem Recht Vorgegebenes positiviert.
276 277 278 279 280 281 282 283
Ebd., S. 168. Ebd., S. 168. Ebd., S. 371. Ebd., S. 169. Ebd., S. 169 f. Ebd., S. 371. Ebd., S. 170. Ebd., S. 166.
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cc) Zwischenfazit Die Form, die die Rechte im bürgerlichen Recht annehmen und die durch die Verfassung festgelegt wird,284 ist die Form des subjektiven Rechts.285 Diese Form als Strukturprinzip des Rechts und der Rechte bildet das Leitmotiv der Kritik der Rechte. Die Anfänge der Herausbildung dieser Form erblickt Menke in der Unterscheidung von Recht und Anspruch, beziehungsweise objektivem und subjektivem Recht, woraus sich der Primat des Anspruchs vor dem Recht entwickelt habe. Menke versteht diesen Primat funktional. Es sei zur Aufgabe des Rechts geworden, die Ansprüche der Subjekte zu schützen. Diese Ansprüche werden nicht mehr auf Natur begründet, sondern beziehen sich in der Form subjektiver Rechte auf Natürliches. Es finde eine Legalisierung des Natürlichen statt, die sich durch die Ermöglichung von Interessen und die Erlaubnis von Willkür vollziehe. Die Form der Rechte gebe vor, dass „die Willkür und das Interesse des natürlichen Strebens“286 berechtigt werden sollen. Auf diese Weise solle die Wirksamkeit des Nichtrechts im Recht sichergestellt werden, so dass die Selbstreflexion im modernen Recht theoretisch durch die Form der Rechte vollzogen werden könne.287 Menke beschreibt das bürgerliche Recht zwar als die Ausgestaltung des beschriebenen modernen Rechts, jedoch bestimme es die moderne Form der Rechte als subjektive Rechte, sodass aufgrund dieser Form eine Blockade der Selbstreflexion stattfinde. Das entscheidende Charakteristikum des bürgerlichen Rechts ist für Menke die Bestimmung der Rechte als „Rechte des Subjekts“,288 wodurch das Nichtrecht oder das Materielle als dem Recht vorgegeben angesehen werde. Dieser Positivismus der subjektiven Rechte des bürgerlichen Rechts verursacht nach Menke die „Blockade der Selbstreflexion“, wodurch das bürgerliche Recht zum „falschen Recht“289 werde, da es als modernes Recht die Selbstreflexion voraussetze und es in seiner bürgerlichen Ausgestaltung gleichzeitig blockiere. Zwar mache die bürgerliche Form des Rechts das Recht dem Nichtrechtlichen zugänglich, wodurch Reflexivität entstehe, allerdings sei es zugleich positivistisch, wodurch die Selbstreflexion „verleugnet“ werde.290 Indem das Materielle oder das Nichtrecht als das „Vorgegebene“ vor dem Recht bestimmt werde, entscheide sich das bürgerliche Recht für einen empiristischen statt für einen dialektischen Materialismus.
284
Ebd., S. 316. Ebd., S. 165. 286 Ebd., S. 157. 287 Vgl. die Bezeichnung der subjektiven Rechte als „Medium der Selbstreflexion“ bei Buckel, in: Kritische Justiz 2017, 461, 470. 288 Menke, Kritik der Rechte, S. 165. 289 Ebd., S. 166. 290 Ebd., S. 388. 285
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dd) Der Eigenwille als der formspezifische Gegenstand der Ermächtigung und der darauf bezogene Empirismus-Vorwurf Dies wirft die Frage danach auf, worin dieses „Vorgegebene“ im bürgerlichen Recht konkret besteht. Es handelt sich dabei um das Subjekt, genauer: den Eigenwillen des Subjekts. Das Subjekt sei mit einer letztinstanzlichen Autorität ausgestattet und das, was es subjektiv will, werde zur „autoritativen Tatsache“291, auf der jegliche normative Setzung basiere. Mit diesem Wollen ist „nicht der allgemeine oder politische Wille, sondern der eigene, der private Wille, der Wille als eine quasinatürliche Tatsache“292 gemeint. Deshalb nennt Menke das subjektive Recht „Eigenrecht“, denn es geht um das „Wollen des Eigenen“293. Dieses „Eigene“ beschreibt er als Ersatz des gerechten Anteils, den das „traditionelle Recht“ den Einzelnen zuerkennt. Es habe eine Entkopplung von „Tugend und Vernunft“ stattgefunden: Während diese normativen Orientierungspunkte die reflexartige294 Durchsetzung eines Rechts im traditionellen Recht ermöglichten, sei im bürgerlichen Recht allein entscheidend, dass das subjektive Recht den Willen des Subjekts verkörpere. Es geht Menke um diese veränderte Form der Geltung: Der einzige Grund für die Geltung des Willens ist ihm zufolge, dass es sich um den Willen des Subjekts, um das „Wollen von jemandem“ handelt.295 Diese Geltung werde ermöglicht durch die Form der subjektiven Rechte.296 Sie lege den Eigenwillen als Tatsache fest, die „unhintergehbar, unbeurteilbar, unauflösbar, unkritisierbar“297 sei und schaffe damit eine „neue Wirklichkeit des Wollens“298. Der Eigenwille des Subjekts werde „potentiell total“299. Aus dieser Festschreibung des Eigenwillens als „unhintergehbare Tatsache“ resultiert Menkes Empirismus-Vorwurf.300 Menke gibt unter anderem Michel Foucaults Kritik am Empirismus wieder, die besagt, dass der bürgerliche Staat den „Bourgeois“ zu seiner Grundlage mache. Der Staat gehe von dem natürlichen Gegebensein der Gesellschaft aus. Foucaults Aussage bezüglich der in der Mitte des 18. Jahrhunderts beginnenden Regierungsweise, dass die „neue Regierungskunst […] viel eher ein Naturalismus als ein Liberalismus ist“301, wird von Menke daher zu der Aussage verschärft, dass der „Liberalismus, 291
Ebd., S. 176. Menke/Schmidt/Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 54, 63. 293 Menke, Kritik der Rechte, S. 176. 294 Ebd., S. 178. 295 Ebd., S. 197, vgl. dazu auch ebd., S. 249. 296 Ebd., S. 202. 297 Ebd., S. 206. 298 Ebd., S. 252. 299 Ebd., S. 258. 300 Ebd., S. 199 u. 206. 301 Foucault, Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France, 1978 – 1979, S. 94 f. 292
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[…], ein Naturalismus ist.“302 Die Politik, deren Prämisse das natürliche Vorhandensein der „bürgerlichen Gesellschaft“ und des „bürgerlichen Subjekts“ ist, stellt sich für ihn folglich als Naturalismus und weniger als Liberalismus dar.303 Menke charakterisiert den hier in Rede stehenden Eigenwillen als „abstrakt“. Der „Eigenwille“ des Subjekts abstrahiere im Gegensatz zum einfachen „Willen“ von Kategorien wie „gut oder schlecht“ und ebenso von der Frage, wie dieser Eigenwille gebildet wurde. Sittliche Maßstäbe hätten weder für die (Eigen-)Willensbildung, noch für den Gehalt desselben Relevanz, so dass durch die Legalisierung dieses Eigenwillens das Normative „indifferent“ gesetzt werde.304 Indem keine normativen Anforderungen an den Eigenwillen gestellt werden, finde die Naturalisierung des Eigenwillens statt. Er werde durch die Rechte vor den „Ansprüchen normativer, politischer Transformation“305 geschützt. Das Phänomen der „Legalisierung des Natürlichen“ könne insoweit als paradox bezeichnet werden, da dem Natürlichen, welches grundsätzlich „amoralisch“ sei, normative Verbindlichkeit zugesprochen werde.306 Die Ermächtigung zu dieser Art des Wollens bedeute daher die Ermächtigung des Subjekts zur „Abstraktion vom Sittlichen“307 durch Gesetz.308 Menke versteht Sittlichkeit objektiv und als sich im sozialen Gefüge entwickelnd. Indem der Eigenwille vom Sittlichen abstrahiere, werde der Fokus vom gemeinschaftlichen Sozialen auf das Eigene des Subjekts gerichtet. Die Abkehr von der Ausrichtung am Sittlichen habe den Rückzug des Subjekts vom Sozialen ins Private zur Folge, sodass das Soziale letztlich verschwinde. Sittliches und autonomes Wollen verortet Menke ausschließlich im intersubjektiven Raum oder im Raum zwischen Individuum und Sozialem, der Eigenwille hingegen bewirke die „Reduktion des Sozialen auf das Individuum“.309 Dabei versteht er das Eigentum als die „primäre Form“ der Ermächtigung des Eigenwillens des Subjekts im bürgerlichen Recht.310 Das Subjekt eigne sich das ursprünglich Gemeinsame an, wodurch das Soziale privatisiert werde.311 Dieses Phänomen wird die „Appropriation des Sozialen“312 genannt. Die Form der subjektiven Rechte im bürgerlichen Recht führt dazu, dass der Wille des Subjekts die Gestalt des Eigenwillens annimmt.313 Dieser werde wiederum als gel302
Menke, Kritik der Rechte, S. 204. Ebd., S. 204. 304 Ebd., S. 200. 305 Menke, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2016, 71, 76. 306 Auer, Sittlichkeit ist halt perdu. Gleichheit hat ihren Preis: Christoph Menke wirft sich entschlossen in eine Kritik des subjektiven Rechts, 27. 01. 2016, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 307 Menke, Kritik der Rechte, S. 207. 308 Ebd., S. 398. 309 Ebd., S. 200 f. 310 Ebd., S. 226. 311 Ebd., S. 201. 312 Ebd., S. 207. 313 Ebd., S. 250. 303
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tende Tatsache aufgefasst, was die „Abstraktion vom Sittlichen“ und die „Appropriation des Sozialen“314 bedinge.315 Mit Foucault beschreibt Menke den Eigenwillen als den „letzten Grund jeder individuellen Entscheidung“316 für den ausschließlich die individuelle Präferenz entscheidend ist, während das generelle Wollen mit dem Akt der Überlegung verknüpft sei.317 Die Gegenansicht – es gebe keinen Eigenwillen ohne den Prozess der Überlegung – weist er dadurch zurück.318 Der Eigenwille ist Menkes Vorstellung nach „nicht weiter zurückführbar.“319 Er sei aus diesem Grund nicht als ein „Prozeß“ zu verstehen, sondern mehr als die Feststellung der Tatsache, dass das Subjekt etwas Bestimmtes will.320 Allerdings will Menke, anders als C. Schmitt und Kelsen, die „Freiheit […] des Eigenwillens“ nicht als vorrechtliche Eigenschaft des Subjekts verstanden wissen.321 Vielmehr werde dieser Eigenwille erst durch die bürgerliche Form der subjektiven Rechte geschaffen.322 Die „Freiheit der individuellen Entscheidungen“ sei rechtlich hervorgebracht und gleichzeitig sei der Eigenwille dem Recht als Faktum vorausgesetzt.323 Der Gedanke der vorrechtlich existierenden Freiheit scheint für Menke nicht im Widerspruch mit der Idee der rechtlichen Hervorbringung dieser Freiheit zu stehen.324 Die Annahme der vorrechtlichen Existenz dieser Freiheit sei eine „ideologische These […] des angelsächsischen Liberalismus“325. Doch auch wenn die Freiheit des Eigenwillens als rechtlich „produziert“ begriffen werde, bleibe der Empirismus der subjektiven Rechte bestehen, da sich dieser – wie gesehen – auf die Geltung des Eigenwillens bezieht.326 Indem die Berechtigungen des Subjekts grundsätzlich in Form des subjektiven Rechts vorliegen, werde das Subjekt dazu ermächtigt, seine Entscheidungen auf den Eigenwillen zu gründen. Die Selbsthervorbringung des Rechts im Wege der Selbstreflexion der Differenz von Norm und Natur werde im bürgerlichen Recht demnach so aufgefasst, dass das Natürliche als dem Recht vorgegeben positiviert werde, das heißt der Eigenwille des Subjekts ermächtigt werden müsse.327 Menke 314
Ebd., S. 251. Ausführlicher dazu siehe das Kapitel „Entsittlichung“ auf S. 82 f. der vorliegenden Arbeit. 316 Menke, Kritik der Rechte, S. 198. 317 Ebd., S. 200. 318 Ebd., S. 199. 319 Ebd., S. 198; näher dazu siehe Foucault, Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France, 1978 – 1979, S. 373. 320 Menke, Kritik der Rechte, S. 201 f. 321 Ebd., S. 205. 322 Ebd., S. 266. 323 Ebd., S. 206. 324 Ebd., Anm. S. 442, Fn. 72. 325 Ebd., S. 206. 326 Ebd., S. 197. 327 Ebd., S. 262 f. 315
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leitet daraus die Prägung der Form der subjektiven Rechte von einem „spezifisch bürgerliche[n] Individualismus“ ab.328 (1) Die Ermächtigung des Eigenwillens im Privat- und Sozialrecht Der Eigenwille, der durch die Form subjektiver Rechte positiviert werde, bestehe neben dieser Entscheidungsfreiheit, die Menke „Willkür“ nennt, zudem aus dem „Interesse“ des Subjekts. Die Begriffe Willkür und Interesse begegnen der Leserschaft im ersten Teil von Kritik der Rechte als die zwei Formen, die das Natürliche im Prozess seiner Legalisierung annimmt. Dabei kommt Menke zu dem Schluss, dass die moderne Form der Rechte sowohl die Interessen als auch die Willkür sichert, wodurch sich der „Widerstreit der Performanzen“ ergebe.329 Hier kehren diese Begriffe zurück als die zwei Gestalten des Eigenwillens in ihrer „subjektivierten Gestalt“, als „Willensbestimmungen des Subjekts“330. Willkür wird an dieser Stelle definiert als der „Wille als Wahl von Zielen“, während das Interesse als den „Wille[n] als Bewerten, und damit Wollen, von Mitteln“331 zu verstehen ist. Das Subjekt setze sich in willkürlicher Weise selbst Ziele. Ohne die entsprechenden Mittel sei dieser Vorgang jedoch „ungenügend“, daher müsse eine weitere Komponente hinzutreten, um den Eigenwillen zutreffend zu erfassen. Das Interesse des Subjekts sei daher auf die benötigten Mittel gerichtet, die es hinsichtlich ihrer Eignung „abschätze“ und „werte“332, womit der Begriff des Eigenwillens vervollständigt werde. Menke zeigt demnach zwei verschiedenen Willenskonzeptionen des Eigenwillens auf: der Wille als „Vermögen willkürlicher Wahl“ und der Wille als „Vermögen interessierter Bewertung“333. In diesem Zusammenhang beeilt er sich jedoch John Lockes „besitzindividualistische“ Schlussfolgerung abzulehnen.334 Locke schließe von der eigenen Herstellung eines Werkes durch Einsatz der eigenen Arbeit auf das „Zueigenhaben der Mittel“. Im Gegensatz dazu kann das „Zueigenhaben der Mittel“ Menkes Verständnis zufolge jedoch nur aus der „sozialen Teilhabe“ resultieren, da seiner Meinung nach „alle Mittel soziale Mittel“ sind.335 Demzufolge ist es die Möglichkeit der sozialen Partizipation, zu der das Subjekt durch den Eigenwillen in Gestalt des Interesses ermächtigt wird.
328
Ebd., S. 207. Näher dazu im Kapitel „Antagonismus innerhalb der Naturbegriffe“ auf S. 42 f. der vorliegenden Arbeit. 330 Menke, Kritik der Rechte, Anm. S. 447, Fn. 102. 331 Ebd., S. 218. 332 Ebd., S. 217 f. 333 Ebd., S. 224 f. 334 Ebd., S. 219 f. 335 Ebd., S. 220 f. 329
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Ausgehend von dieser Kritik am Besitzindividualismus, den Menke auf Locke zurückführt, zeichnet er die Entstehung sozialer Rechte nach. Dabei erblickt er sowohl in den „bürgerlichen“ als auch in den „sozialen Rechten“ als Kern die Form des subjektiven Rechts, die jedoch jeweils unterschiedlich ausgelegt werde.336 Dementsprechend stehen die sozial-partizipativen Rechte nicht im Widerspruch zu den subjektiven bürgerlichen Rechten. Diese Deutung ergibt sich zum einen aus dem Verständnis des Eigenwillens, demzufolge sich der Eigenwille sowohl auf das Wählen von Zielen (Willkür), als auch auf das Werten von Mitteln (Interesse) erstreckt und zum anderen aus der Annahme, dass Mittel als soziale Gegenstände nur durch Partizipation erlangt werden können. Daher geht Menke davon aus, dass „das Recht auf soziale Teilhabe aus der rechtlichen Ermächtigung des Eigenwillens [folgt]“337. Als „privates Recht auf soziale Teilhabe“ sei das soziale Recht ebenso ein subjektives Recht, da es – wie auch das bürgerliche Recht – auf dem privaten Eigenwillen des Subjekts basiere.338 Der Eigenwille des Subjekts bestehe gleichermaßen aus Willkür und Interesse. Diese seien die Verkörperungen der Freiheit, die die Form der subjektiven Rechte dem Subjekt einräumt.339 In der gesellschaftlichen Realität werden diese beiden Konzepte Menke zufolge durch „Privat- und Sozialrecht“ beziehungsweise durch „Liberal- und Sozialdemokratie“ verkörpert. Das Privatrecht deute die „Legalisierung des Eigenwillens“ als Willkür, während das Sozialrecht selbige als Interesse interpretiere. Beide Interpretationsmodelle seine „Parteien in dem ,Kampf ums Recht‘“, der charakteristisch für das bürgerliche Recht sei.340 Der „Willensindividualismus“, das heißt der „Positivismus des Eigenwillens“341, der sich in der Form des subjektiven Rechts manifestiere, ist für Menke die grundlegende Eigenschaft beider Gestalten des bürgerlichen Rechts. (2) Der Maßstab der Inhalte des Eigenwillens Den Eigenwillen in Menkes Sinne zeichnet ferner aus, dass er weder in seiner Gestalt als Willkür noch als Interesse einer Wertung durch das Recht unterliegt. Dies gehe einher mit der bereits beschriebenen Entwicklung der Normativität. Sei im „traditionellen Recht“ noch alles verboten, was nicht den Maßstäben der Sittlichkeit oder Vernunft entspreche, seien im bürgerlichen Recht sowohl sittliche als auch unsittliche, sowohl soziale als auch „asoziale […]“ Willensinhalte eine gleichwertige „Möglichkeit“342. Die so verstandene Normativität „transformiert das traditionelle 336 337 338 339 340 341 342
Ebd., S. 222. Ebd., S. 223. Ebd., S. 223. Menke, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2008, 81, 89. Menke, Kritik der Rechte, S. 225. Ebd., S. 224. Ebd., S. 252.
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Verbot des Unsittlichen in die Erlaubnis des Nichtsittlichen“343. Der einzige Maßstab für die Geltung sei das Faktum, dass das Subjekt etwas wolle. Für Menke stellt dies eine ganz „neue Weise zu wollen“ dar, die im traditionellen Recht als „Begehren“344 statt Wollen kategorisiert werde. Insofern habe sich der Begriff des Wollens aufgrund der Erlaubnis durch die subjektiven Rechte ebenfalls verändert, da im bürgerlichen Recht jedes Wollen als solches gesehen werde, selbst wenn es „unsittlich, unfrei und egoistisch“ sei. „Sein Eigenes […] wollen,“ bedeute die „Abstraktion von der Normativität“, sowie die „Appropriation des Sozialen.“345 Erst der neue Begriff des Wollens, das heißt die „Transformation der Normativität“346, durch den allein das Faktum des Wollens entscheidend ist, habe diese „Abstraktion des Eigenwillens“ hervorgebracht. Diese Art des Wollens sei durch das bürgerliche Recht und die Form des subjektiven Rechts erstmals geschaffen worden. Unter der Prämisse, dass der Eigenwille in dieser Gestalt erst durch die Rechte erzeugt werde, erscheint die angenommene Positivierung des Eigenwillens durch die subjektiven Rechte als umso problematischer, da dieser Argumentation zufolge nicht nur etwas tatsächlich bereits Bestehendes als „gegeben“ positiviert wird, sondern mehr noch etwas erst vom Recht Erzeugtes als zuvor bestehend positiviert wird.347 Auf diese Weise sei die Erlaubnis, die die subjektiven Rechte gewähren, produktiv.348 Der Eigenwille sei „die Macht der Positivierung des Eigenen, denn er ist die Macht der Indifferenzierung des Normativen und der Privatisierung des Sozialen“.349 Das daraus hervorgehende Subjekt ist zur „sittlichen Indifferenz“ fähig und wird von Menke als „neues Subjekt“ klassifiziert.350 Die subjektiven Rechte eröffnen dem Subjekt verschiedene Nutzungsmöglichkeiten, etwa könne das Subjekt seine Rechte dazu nutzen, sein Leben autonom zu gestalten. Durch die Entscheidung des Subjekts für eine solche Nutzung der Rechte, werde diese Entscheidung allerdings zu einem „beliebigen Inhalt seines […] Eigenwillens“351. Von der „sittlich indifferenten“ Beschaffenheit dieses Eigenwillens schließt Menke darauf, dass dieser nicht autonom sein könne. Dementsprechend beraube sich das Subjekt seiner Autonomie, wenn es sich dafür entscheide, seine Rechte zur autonomen Lebensführung zu nutzen, da dies wiederum auf die Inanspruchnahme der Ermächtigung des „nichtautonomen“352 Eigenwillens hinauslaufe. Die Entscheidung für eine Handlungsmöglichkeit bringe immer die Unterwerfung 343 344 345 346 347 348 349 350 351 352
Ebd., S. 253. Ebd., S. 252. Ebd., S. 251 ff. Ebd., S. 253. Vgl. hierzu Buckel, in: Kritische Justiz 2017, 461, 464. Menke, Kritik der Rechte, S. 252. Ebd., S. 259; siehe auch ebd., S. 201. Ebd., S. 253. Ebd., S. 255. Ebd., S. 255.
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unter deren Bedingungen mit sich. Wegen der Form der subjektiven Rechte müssten die Rechte ihren „Grund und Zweck“ zwangsläufig „ins Gegenteil wenden“, da die subjektiven Rechte den beschriebenen – „sittlich indifferenten“ – Eigenwillen ermächtigen, so dass die ethische Autonomie, deren Sicherung bezweckt werde, selbst zu einem rein „zufälligen Inhalt des erlaubten Wollens“ werde.353 ee) Diskrepanz von Form und Intention Menke zufolge liegen der Etablierung subjektiver Rechte moralische Wertvorstellungen wie die der Autonomie zugrunde, deren Sicherung und Realisierung nur dadurch gewährleistet werden kann, dass das Ob und das Wie der Inanspruchnahme der Rechte freigestellt wird. Hierdurch stehen dieselben Werte jedoch wieder in Frage, anstatt gesichert zu werden. Die subjektiven Rechte stünden demnach im Widerspruch zu den Intentionen, aufgrund derer sie etabliert wurden, was Menke auf eben jene Form zurückführt, die die neue Art des Wollens ermächtigt.354 Mit anderen Worten: Menke erblickt in der Form den Grund für diesen Widerspruch, da für ihn die Form der subjektiven Rechte und der damit einhergehende Positivismus die Voraussetzung für die Existenz des Eigenwillens bilden. Als moralische Intentionen aufgrund derer die Form der subjektiven Rechte etabliert worden sei, werden exemplarisch „Fortschritt, persönliche Autonomie, Selbstverantwortung und Bildung“355 genannt. Sowohl dem „klassischen Liberalismus“, als auch dem „gegenwärtigen ,politischen‘ Liberalismus“ wirft Menke vor, den Widerspruch zwischen der Form der subjektiven Rechte und den Intentionen hinter ihrer Einführung verbergen zu wollen.356 Die Frage, „wie diese liberalen ,Werte‘ durch Rechte verwirklicht werden sollen, die durch ihre Form alle sittlichen Güter indifferenzieren, sie zu bloß möglichen Inhalten des subjektiven Eigenwillens depotenzieren (und damit ihrer sittlichen Wahrheit berauben)“357 bleibe unbeantwortet. Der Liberalismus wolle die subjektiven Rechte mit der Würde des Menschen begründen, wodurch Menke zufolge der Ermächtigungsmechanismus der subjektiven Rechte ignoriert wird, das heißt die Tatsache, dass durch sie der „sittlich indifferente Eigenwille“358 ermächtigt werde.359 Die Form der Rechte untergrabe contra intentio den sozialen Sinn der subjektiven Berechtigung.360 Menke rekonstruiert Ronald Dworkins Argument, wonach Rechte nur dadurch legitimiert werden können, dass sie sich auf etwas Wertvolles, wie beispielsweise die Menschenwürde 353 354 355 356 357 358 359 360
Ebd., S. 254 f. Ebd., S. 257 f. Ebd., S. 255. Ebd., S. 255 f. Ebd., S. 255. Ebd., S. 266. Ebd., S. 257. Menke, in: MenschenRechtsMagazin 2008, 197, 201.
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richten.361 Die bloße „Erlaubnis“ als Begründung der Rechte reiche Dworkin zufolge nicht aus, um Rechte zu „rechtfertigen“362. Diese Ansicht ignoriert Menke zufolge, dass die subjektive Form der Rechte die Legalisierung des Eigenwillens erfordere. Die subjektive Form der Rechte habe zur Folge, dass die Anerkennung der Würde des Menschen automatisch in das Erfordernis der Legalisierung des Eigenwillens umgedeutet werde. Aufgrund dieses Erfordernisses der Form werde der Eigenwille dem Recht vorausgesetzt, wodurch Werte wie die Menschenwürde, die die Kriterien einer „normativen Begründung“ erfüllen, im Liberalismus als lediglich fingiert erscheinen.363 Menkes Kritik besagt folglich, dass die Formbestimmung der subjektiven Rechte im Liberalismus den Gründen widerspricht, aus denen diese Rechte geschaffen wurden. Subjektive Rechte würden „moralisiert“, wobei gleichzeitig ihr Inhalt und Effekt verschleiert werden, namentlich die Ermächtigung des Eigenwillens. Dieser Widerspruch werde ausgeblendet, stattdessen würden moralische Motive in den Mittelpunkt gestellt und die gesellschaftlichen Effekte der Form der subjektiven Rechte außer Acht gelassen.364 ff) Die Politizität der Form der subjektiven Rechte Als einziges Instrument zur Regulierung des Eigenwillens nennt Menke den Grundsatz der Gleichheit, dessen Aufgabe es sei, das Nebeneinander der verschiedenen Eigenwillen zu ermöglichen, indem die jeweiligen Handlungsspielräume gegeneinander abgegrenzt werden. Zur Umwandlung des Eigenwillens in Recht ist bei Menke demnach keine „Verwandlung“365 des Eigenwillens notwendig. Eine Transformation des Eigenwillens – beispielsweise im Hinblick auf sittliche Gesichtspunkte – finde nicht statt.366 Aus den Verboten, die aus der gegenseitigen Abgrenzung von Handlungsspielräumen resultieren, sollen sodann „Zonen der Erlaubnis“ erwachsen. Im Unterschied zum traditionellen Recht sei der Zweck von Verboten im modernen Recht demnach „erlaubend“, deshalb sei hier alles „[…], was nicht verboten ist, erlaubt […]“.367 Allerdings seien subjektive Rechte nicht nur als „bloßes Dürfen“ zu begreifen, vielmehr erblickt Menke mit Jellinek auch eine „produktive“ Komponente in ihnen. Bei der Ermächtigung durch subjektive Rechte gehe es folglich nicht nur darum, dem Individuum etwas zu gestatten, was es bereits vorrechtlich konnte, sondern es werde zudem ein neues Können geschaffen. Als Beispiel für ein Resultat dieser produktiven Komponente der subjektiven Rechte führt Menke die Geschäftsfähigkeit an: Ge361 362 363 364 365 366 367
Vgl. hierzu Dworkin, in: Bürgerrechte ernstgenommen, 429, 432 ff. Menke, Kritik der Rechte, S. 256. Ebd., S. 257. Ebd., S. 258. Ebd., S. 203. Ebd., S. 203 u. 258. Ebd., S. 180.
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schaffen werde rechtliches Können.368 Damit widerspricht er der privatrechtsliberalen Deutung der rechtlichen Ermächtigung durch subjektive Rechte als bloße Erlaubnis. Dieser Deutung wirft er vor, einer „antisozialen Prämisse“369 zu unterliegen, da sie das Erlaubte auf ein vorrechtliches Können begrenze. Menke deutet Jellinek so, dass dessen Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht die Erscheinungsformen der Berechtigung – das Dürfen und das Können – auf jeweils unterschiedliche Rechtsgebiete beziehe, ohne sie jedoch vollständig zu trennen. Das Dürfen gelte im Sinne Luhmanns im privatrechtlichen Bereich der Nebengeordneten, während das Können im Subordinationsverhältnis zwischen Bürgerin und Staat gelte. Menke schlussfolgert sodann, dass die öffentliche Berechtigung, durch die das rechtliche Können hervorgebracht werde, notwendige Voraussetzung für die privatrechtliche Berechtigung des Dürfens sei, sodass der Privatrechtsliberalismus falsch liege, wenn er nur von einer Berechtigung im Sinne eines Dürfens ausgehe.370 Das „rechtliche Handelnkönnen“ – die Basis für die erlaubenden Rechte – erlange das Individuum aufgrund der Anerkennung seines „öffentlichen Status“ durch den Staat, der es ihm außerdem ermögliche, Ansprüche gegen den Staat geltend zu machen.371 Damit ist beschrieben, was Menke unter der „öffentlichen oder politischen Voraussetzung“372 des subjektiven Rechts versteht. Neben die „politische Voraussetzung“ trete eine „politische Dimension“373, aus der Menke die „immanente Politizität der subjektiven Rechte“374 ableitet. Die Etablierung der bürgerlichen Form subjektiver Rechte hat denknotwendig einen Effekt auf die politische Struktur.375 Für die Bestimmung dessen, was ein politisches Recht ist, bringt Menke Kelsen an und legt fest, dass hiermit die „Beteiligung der Normunterworfenen“ an der Bildung des Staatswillens oder der Gesetzgebung gemeint ist.376 Das rechtliche Können, das die subjektiven Rechte neben der Erlaubnis gewähren, versetze das Individuum in die Lage, an der Rechtserzeugung zu partizipieren. Hieraus ergebe sich die politische Dimension der Form der subjektiven Rechte. Bereits im Verhältnis zu anderen Individuen soll sich das Subjekt der privaten Rechte an der Rechtserzeugung beteiligen.377 Demnach sei die Beteiligung der Normunterworfenen an der staatlichen Willensbildung nicht nur auf den demokratischen Gesetzgebungsprozess beschränkt, sondern finde auch durch die Disposition
368 369 370 371 372 373 374 375 376 377
Ebd., S. 181. Ebd., S. 180. Ebd., S. 183. Ebd., S. 187. Ebd., S. 188. Ebd., S. 188. Ebd., S. 189. Ebd., S. 185. Ebd., S. 187 f. Ebd., S. 189.
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des Subjekts über seine Rechte statt.378 Daher versteht Menke auch das „subjektive Privatrecht“ als ein politisches Recht.379 Hieraus resultiert eine „doppelte Gestalt“ der durch die Form der subjektiven Rechte geschaffenen politischen Ermächtigung. Eine dieser Gestalten sei die politische Ermächtigung, die aus dem rechtlichen Status eines Individuums resultiere, welche – wie gesehen – Voraussetzung für die Ordnung der privaten Rechte sei. Diese Gestalt der politischen Ermächtigung werde durch die urteilende Partizipation an demokratischen Akten zur Veränderung der staatlichen Ordnung ausgeübt. Demnach seien es in der „bürgerlichen Privatrechtsordnung“ nicht mehr nur einige wenige, die an der Gesetzgebung beteiligt werden, sondern potentiell alle.380 Die Rechtsfähigkeit der Person als Voraussetzung der gesamten Privatrechtsordnung werde dadurch sichergestellt, dass der Staat der Person diesen Status zuerkennt. Dieser Status sei es, der die Subjekte zu „Gleichen“ mache, die „über das Recht […] urteilen.“381 Diese, der Privatrechtsordnung vorausgesetzte, politische Ermächtigung habe den Zweck, die Trägerin subjektiver Rechte zum „(Mit-)Urteilen darüber, was Recht ist“ zu ermächtigen.382 Die andere Gestalt der politischen Ermächtigung sei in der „Ordnung der privaten Rechte immanent enthalten“383 und äußere sich im „Disponieren“384 des Subjekts. Sie ergebe sich daraus, dass alles erlaubt sei, was nicht verboten ist und werde durch die „Dispositionsrechte zur Veränderung von Rechtsverhältnissen“ ausgeübt. Im Unterschied zur erstgenannten Form politischer Ermächtigung geht es Menke hierbei nicht um Rechtserzeugung im legislativen Sinne, sondern um Rechtserzeugung durch „Verändern der eigenen Rechtsposition“, also beispielsweise durch Vertrag385 oder das Recht der Klage.386 Deshalb seien nicht nur die subjektiven Rechte des öffentlichen Rechts, sondern auch die des Privatrechts „immanent politisch“.387 Während Gesetze aus rechtswissenschaftlicher Perspektive einen abstrakt-generellen Charakter aufweisen, interpretiert Menke auch das Verfügen eines Individuums über seine Rechtsposition im Wege eines Vertrages als Rechtserzeugung. Er begründet dies damit, dass auch unbeteiligte Dritte durch Verträge zwischen zwei Vertragsparteien gebunden würden, wodurch deren Wille für selbige Dritte bindend werde. An andere Stelle388 bringt er die „Verheiratung“ oder das „Verkaufen“ als 378
Vgl. hierzu auch Luhmann, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft Bd. 2, 45, 47. 379 Menke, Kritik der Rechte, S. 187. 380 Ebd., S. 190. 381 Ebd., S. 190. 382 Ebd., S. 191. 383 Ebd., S. 189. 384 Ebd., S. 192. 385 Ebd., S. 191. 386 Ebd., S. 207. 387 Ebd., S. 189. 388 Menke, in: MenschenRechtsMagazin 2008, 197, 200.
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Beispiele für eine Einigung zweier Personen an, die für Dritte verbindlich wird. Aus dem Grund nennt er auch diese Gestalt der Ermächtigung durch subjektive Rechte „politisch“, da durch sie seiner Ansicht nach ebenfalls Recht geschaffen wird.389 Das auf diese Weise generierte Recht sei jedoch nicht im Interesse der Allgemeinheit geschaffen worden, sondern lediglich aus der Perspektive der Vertragsparteien, da deren Eigenwillen durch die subjektive Form der Rechte ermächtigt werden.390 Die eine Gestalt politischer Ermächtigung – das „Urteilen“ – ist Menke zufolge demnach privatrechtlich vorausgesetzt und die andere – das „Disponieren“ – privatrechtlich vollzogen.391 Als „politisch“ werden sie von Menke deshalb bezeichnet, weil sie beide zur „Veränderung des Rechts als des normativ Gültigen“392 genutzt werden können. Demnach sind subjektive Privatrechte politische Rechte,393 wobei die Teilnahmerechte am Gesetzgebungsprozess ebenfalls in Form von subjektiven Rechten ausgestaltet sind. Da die Privatrechtsordnung die Teilnahme der Subjekte am politischen Gesetzgebungsprozess voraussetze, kritisiert Menke, dass die subjektiven Rechte, indem sie die politischen Ermächtigungen in diesen Gestalten schaffen, die Politik „privatisieren“.394 Die „bürgerliche Politik“ sei auf die erste Gestalt politischer Ermächtigung – das Urteilen – angewiesen. Dennoch obliege es den Subjekten, ob und wie sie sich am Urteilen beteiligen. Die Form der subjektiven Rechte ermögliche es dem Subjekt, seine Teilnahme am politischen Prozess anstatt als „Urteilen“ als eigenwilliges „Disponieren“ auszugestalten. Menke ist der Meinung „Urteilen“ und „Disponieren“ könne deshalb in der „bürgerlichen Politik“ nicht mehr trennscharf auseinandergehalten werden, was auf die Form der subjektiven Rechte zurückzuführen sei und in eine „Politik der Privatisierung“ münde.395 d) Zusammenfassung Durch die bürgerliche Form der subjektiven Rechte wird Menke zufolge der Eigenwille des Subjekts positiviert. Menke formuliert: „[…], subjektive Rechte verleihen der Tatsache, daß ein Subjekt etwas will, Geltung“396. Damit einher geht für ihn ein neues Verständnis eben dieser Geltung. Sei im klassischen Recht noch die Sittlichkeit oder Gerechtigkeit des angestrebten Anspruchs ausschlaggebend für die Geltung gewesen, gelte ein Anspruch im bürgerlichen Recht lediglich aus dem 389
Menke, Kritik der Rechte, S. 190. Ebd., S. 192. 391 Ebd., S. 190 ff. 392 Ebd., S. 190. 393 Ebd., S. 187. 394 Ebd., S. 192 f.; näher dazu im Kapitel „,Entpolitisierung‘ und ,Privatisierung‘“ auf S. 83 f. der vorliegenden Arbeit. 395 Ebd., S. 193. 396 Ebd., S. 202. 390
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Grund, dass das Subjekt dies wolle. Auf diesen Umstand bezieht sich Menkes Empirismus-Vorwurf. Durch die Abkehr vom traditionellen Recht ist eine neue Art des Wollens geschaffen worden, die dem Subjekt ermögliche „sittlich indifferent“397 zu wollen. Mit dieser „Abstraktion vom Sittlichen“ gehe die „Appropriation des Sozialen“398 einher. Man könnte demnach sagen, dass die Form des subjektiven Rechts in ontologischen Kategorien einen Sozialatomismus hervorbringt und dementsprechend Freiheit als Willkürfreiheit interpretiert.399 Einziges Regulierungsinstrument sei der Grundsatz der gleichen Berücksichtigung aller in der Gesellschaft. Als „unhintergehbare Tatsache“400 setze sich das Recht den Eigenwillen selbst voraus.401 Hierdurch werde er „naturalisiert“, mit anderen Worten von normativen oder politischen Ansprüchen freigestellt,402 weshalb die Selbstreflexion des Rechts insofern nicht mehr stattfinde. Die bürgerliche Form subjektiver Rechte ist Menke zufolge demnach positivistisch403 und individualistisch,404 was aus Sicht der Kritischen Theorie einen der gravierendsten möglichen Vorwürfe bildet.405 Mit der Beschreibung der Willkür als „Vermögen willkürlicher Wahl“ und des Interesses als „Vermögen interessierter Bewertung“406, konkretisiert Menke die zwei Seiten des Eigenwillens. Dabei soll sich das Interesse auf die Bewertung der Mittel zur Erreichung des im Wege der Willkür selbst gesetzten Zieles beziehen, wobei diese Mittel Menkes Ansicht nach ausnahmslos soziale Mittel sind. So kommt er zu dem Schluss, dass das Interesse des Subjekts zu berechtigen, gleichsam bedeutet, das Subjekt zu sozialer Partizipation zu ermächtigen. Demnach liege der Eigenwille des Subjekts nicht nur dem Privatrecht, sondern ebenfalls dem Sozialrecht zugrunde. Sowohl den „bürgerlichen“ als auch den „sozialen“ Rechten attestiert Menke demnach die Form der subjektiven Rechte, die den Eigenwillen ermächtigen. Dabei wirft er dem Liberalismus vor, diese Tatsache zu ignorieren und stattdessen lediglich auf die Wertvorstellungen, die der Etablierung der subjektiven Rechte zugrunde gelegen haben, zu verweisen. Dabei werde verschleiert, dass es nicht diese Werte seien, die durch die subjektive Form der Rechte ermächtigt werden, sondern der indifferente Eigenwille. Die bürgerliche Form der subjektiven Rechte habe außerdem auch im Bereich des Privatrechts eine immanente Politizität der Rechte zur Folge, da sie das Subjekt zur 397
Ebd., S. 266. Ebd., S. 200 f. 399 So Schürmann, in: Philosophische Rundschau 2016, 178, 181. 400 Menke, Kritik der Rechte, S. 206. 401 Ebd., S. 168. 402 Menke, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2016, 71, 76. 403 Menke, Kritik der Rechte, S. 204. 404 Ebd., S. 207. 405 So auch Bethke, Ruf nach Revolutionierung der Gleichheit, 11. 12. 2015, in: Deutschlandfunk Kultur. 406 Menke, Kritik der Rechte, S. 224 f. 398
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Teilnahme an der Rechtserzeugung ermächtige. Der Staat erkenne das Subjekt als Rechtsperson an, wodurch das Subjekt die Fähigkeit zum rechtlichen Handeln erlange, was die politische Voraussetzung der subjektiven Rechte bilde. Im „Urteilen“ und „Disponieren“407 des Subjekts realisiert sich Menke zufolge die politische Ermächtigung, die der Form der subjektiven Rechte eingeschrieben sei. Die politische Teilnahme sei jedoch ebenfalls als subjektives Recht ausgestaltet und somit an den individuellen Eigenwillen gekoppelt, so dass Menke die bürgerliche Politik eine „Politik der Privatisierung“408 nennt.
3. Das Subjekt des bürgerlichen Rechts Nachdem nun die wesentlichen Aspekte des Menkeschen Begriffs der Form des subjektiven Rechts erläutert wurden, soll es im Folgenden um das damit korrelierende Subjekt gehen. a) Subjektives Recht und Subjektivierung Grundlegend ist zunächst festzustellen, dass die Bezeichnung der Form des „subjektiven Rechts“, für Menke nicht auf dem Subjekt basiert, da dieses durch die Form der Rechte erst geschaffen werde.409 Er wendet sich gegen die Rückführung der Bezeichnung „subjektive Rechte“ auf die Bestimmung der Rechte als die Rechte des Subjekts. Die Subjekte seien nicht die Basis der modernen Form der Rechte.410 Das „autonome Subjekt“ sei vielmehr eine Folge der modernen Form der Rechte, es seien nicht die „autonomen Subjekte,“ die die moderne Form der Rechte hervorbringen.411 Seiner Ansicht nach sind „subjektive Rechte nicht deshalb subjektiv, weil ein Subjekt sie hat, sondern, genau umgekehrt, weil sie ein Subjekt hervorbringen.“412 Unter diesem „Hervorbringen des Subjekts“, oder auch dem „Subjektivieren“413 durch subjektive Rechte, versteht Menke das Ausstatten des Subjekts mit der Fähigkeit zum sittlich indifferenten Wollen in der zuvor beschriebenen Weise. Er definiert das Subjekt als „eine Instanz von Fähigkeiten und Möglichkeiten, eine Instanz der Macht“.414 Es wird mit dem „Vermögen“ oder der „Macht“ zu diesem rechtlich hergestellten, „neuen Wollen“ ausgestattet.415 Die Macht zu dieser Art des Wollens 407 408 409 410 411 412 413 414 415
Ebd., S. 192. Ebd., S. 193. Menke, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2008, 81, 107. Menke, Kritik der Rechte, S. 40. Ebd., S. 17. Ebd., S. 178. Ebd., S. 196. Ebd., S. 178 f. Ebd., S. 253.
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ermächtige das Subjekt unabhängig von objektiven Werten der Rechtsordnung zu wollen und somit „Neues“ zu schaffen. Darin liegt für Menke der Unterschied zu den „Reflexrechten“ des traditionellen Rechts: Reflexrechte eröffnen keinen Spielraum für „nicht Vorgeschriebenes“.416 Alles, was aus ihnen hervorgehe, sei bereits in der Rechtsordnung angelegt. Die subjektiven Rechte hingegen ermöglichten „Neues“, indem sie den Eigenwillen des Subjekts „normativ“417 ermächtigten. Auf diese Weise versteht Menke die subjektivierende Funktion der subjektiven Rechte, aufgrund derer es sich um „subjektive Rechte“ handle. Mit der Form der subjektiven Rechte gehe daher die Erzeugung eines „neuen Subjekts“ durch das bürgerliche Recht einher:418 das „Subjekt des Eigenwillens“.419 In diesem Sinne ist die bürgerliche Form der Rechte subjektiv: Geltungsgrund sei ausschließlich die Tatsache, dass es sich um das eigene Wollen des Subjekts handele, unerheblich sei, ob dieses Wollen sittlich gut oder vernünftig ist.420 Die Handlungen dieses Subjekts basierten ausschließlich auf seinem Wollen und entbehrten jeglicher Begründung, woraus für Menke ein „Mensch ohne Gründe“421 resultiert. Das Reüssieren dieses Modells setze einen „radikalen Umbau in der normativen Ordnung der Gesellschaft“422 voraus. Dieser werde durch die Form der subjektiven Rechte bewirkt, da sie der „Tatsache des Eigenwillens“ Geltung verliehen.423 b) Das Subjekt als Rechtsperson Die Form der subjektiven Rechte wirkt sich bei Menke des Weiteren auf einer anderen Ebene auf das Subjekt aus. Wie bereits thematisiert wurde, beinhaltet die Form der subjektiven Rechte zwei Figuren politischer Ermächtigung. Zum einen jene politische Ermächtigung, die in der Privatrechtsordnung durch die Form vorausgesetzt werde und zum anderen die in der Privatrechtsordnung enthaltene.424 Die Annahme einer vom bürgerlichen Privatrecht vorausgesetzten politischen Ermächtigung ist eine Fortentwicklung von Savignys These der gleichen Rechtsfähigkeit jedes Menschen in den horizontalen Verhältnissen des Privatrechts.425 Um privatrechtlich in diesem horizontalen Verhältnis berechtigt zu sein, bedarf es der Anerkennung durch den Staat als rechtsfähige oder „gleiche Person“426. Die Aner416 417 418 419 420 421 422 423 424 425 426
Ebd., S. 179. Ebd., S. 178. Ebd., S. 253. Ebd., S. 198 u. 266. Ebd., S. 197. Ebd., S. 202. Ebd., S. 202. Ebd., S. 202. Siehe oben, S. 58 ff. Menke, Kritik der Rechte, S. 183 ff. Ebd., S. 190.
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kennung des Subjekts als solches durch den Staat sei im Endeffekt der Grund für die Berechtigung des Subjekts durch die subjektiven Rechte.427 Dieser Status, der jedem Individuum vom Staat zuerkannt werde, setze die Gleichheit der Personen voraus. Diese Gleichheit bedeute „kein Untertan“428 zu sein, was wiederum impliziere, ausschließlich dem eigenen Urteil und nicht dem anderer unterworfen zu sein. Dieser Zustand verlange, dass jede einzelne Person am Urteilen beteiligt sein müsse, so dass jede, die im privatrechtlichen Bereich Rechtsträgerin sei, gleichzeitig „Denker von Rechten“429 sein müsse. Im Gegensatz zum traditionellen Recht – in dem die „Position des Urteilens“ nur einigen Wenigen zuteilwerde – sei die urteilende Position im modernen Recht „gleich verteilt“. Dies sei darauf zurückzuführen, dass das heutige Recht seinen imperativen Charakter abgelegt habe und nunmehr „Regeln oder Gesetze“ im Unterschied zu „Befehlen“ hervorbringe. Zur Erinnerung: Unter „Urteilen“ versteht Menke das Urteilen über das Recht oder auch die „Fähigkeit zum gesetzgebenden Denken“430. So verstanden, setzt die „Gleichheit der Berechtigung im privaten Sinn […] die Gleichheit der Berechtigung im öffentlichen oder politischen Sinn […] voraus.“431 Folglich begründe die politische Voraussetzung des bürgerlichen Privatrechts für ein jedes Rechtssubjekt im privatrechtlichen Bereich die Stellung eines „Mitautors des Rechts“, der zum „(mit-)Urteilen darüber, was Recht ist“ ermächtigt sei.432 Die andere Gestalt der politischen Ermächtigung übe das Subjekt durch das Disponieren über seine eigene Rechtsposition aus.433 Es finde keine Unterscheidung mehr zwischen „Freien und Unfreien“ statt. In der bürgerlichen Gesellschaft in Menkes Sinne sind demnach grundsätzlich alle ausnahmslos „Rechtsperson“434.
c) Die anthropologische Ambivalenz Aus seiner These von der Ermächtigung des Eigenwillens des Subjekts durch die bürgerliche Form der Rechte leitet Menke die Notwendigkeit der Beteiligung der „Rechtsunterworfenen“ an der Regierung ab, andernfalls werde die Ermächtigung ausgehöhlt und verlöre ihren Sinn.435 Dazu muss jedoch einschränkend bemerkt werden, dass im bürgerlichen Recht auf anthropologischer Ebene eine Ambivalenz 427
Menke, in: MenschenRechtsMagazin 2008, 197, 199. Menke, Kritik der Rechte, S. 190. 429 Ebd., S. 191. 430 Ebd., S. 190. 431 Ebd., S. 190. 432 Ebd., S. 191. 433 Ausführlicher dazu siehe das Kapitel „Die Politizität der Form der subjektiven Rechte“ auf S. 58 ff. der vorliegenden Arbeit. 434 Menke, Kritik der Rechte, S. 273; kritisch zur selbstverständlichen Annahme der Rechtsfähigkeit des Menschen von Geburt an durch § 1 BGB Gruber, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2016, 63, 66. 435 Menke, Kritik der Rechte, S. 239. 428
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feststellt werden kann. Das Subjekt des bürgerlichen Rechts ist nicht bloß „Teilnehmer […] an der politischen Selbstregierung,“ sondern ebenso „Genießender“436. Mit „Genießender“ ist der „privat[e]“ Zustand des Menschen gemeint, in dem er nicht sozial teilnimmt, das heißt nicht an der „politischen Selbstregierung“ partizipiert.437 In der bürgerlichen Revolution werde von einer „unpolitischen Natur des Menschen“438 ausgegangen, gleichzeitig stehe das Subjekt im Spannungsfeld von Teilnahme und Nichtteilnahme.439 An anderer Stelle nennt Menke dies die Diskrepanz zwischen dem Subjekt als „sozialem Teilnehmer“ und als „Individuum“.440 Grundsätzlich werde der Mensch im Liberalismus von Natur aus als Nichtteilnehmerin angesehen.441 Diese im bürgerlichen Recht aufgestellte „anthropologische Behauptung“ impliziere, dass der Mensch keinesfalls in Gänze zum „Teilnehmer“ werden könne.442 Stattdessen werde seine „Schwäche […] naturalisiert“,443 wodurch das Subjekt vom „Urteilen […] entlastet“444 werde. Wenn nun also in der bürgerlichen Form der subjektiven Rechte das Natürliche ermächtigt werden solle, gelte es, die Möglichkeit der Nichtteilnahme ebenso zu gewährleisten, wie die der Teilnahme.445 Durch die bereits skizzierte „doppelte Performanz“ des bürgerlichen Rechts – Ermöglichung und Erlaubnis446 – werde sowohl die soziale Teilnahme als auch die Nichtteilnahme gewährleistet.447 Die Performanz der „Ermöglichung des Interesses“ stelle die soziale Teilnahme sicher, da Menke Interessen als das „Wollen von Mitteln,“448 welche soziale Mittel sind,449 begreift. Die Performanz der „Erlaubnis der Willkür“ sichere gleichzeitig die soziale Nichtteilnahme, indem der Eigenwille als „Vermögen willkürlicher Wahl“450 ermächtigt werde. Das Subjekt werde damit zum einen als soziale Teilnehmerin und zum anderen als „Instanz privater Willkür“ angesprochen.451 Es sei demnach in Teilnehmerin und Nichtteilnehmerin gespalten, jedoch ist es nicht diese Begebenheit, die Menke kritisiert. Die Ambivalenz in der 436
Ebd., S. 357. Ebd., S. 356. 438 Ebd., S. 358. 439 Ebd., S. 397. 440 Menke, in: MenschenRechtsMagazin 2008, 197, 203. 441 Menke, Kritik der Rechte, S. 359. 442 Ebd., S. 357. 443 Ebd., S. 369. 444 Ebd., S. 387. 445 Näheres zu Menkes Ansatz zur Umsetzung dieses Ideals auf S. 100 ff. der vorliegenden Arbeit. 446 Menke, Kritik der Rechte, S. 89. 447 Ebd., S. 397. 448 Ebd., S. 218. 449 Ebd., S. 220. 450 Ebd., S. 224 f. 451 Menke, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2008, 81, 94. 437
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menschlichen Natur nennt Menke „die Gerechtigkeit der Spaltung,“452 deren Aufhebung er nicht bezweckt. Menkes Kritik gilt vielmehr der Art und Weise, wie diese Spaltung im bürgerlichen Recht umgesetzt wird. Aufgrund der „voneinander geschiedenen Performanzen“ – Ermöglichung und Erlaubnis – werde das Subjekt in alternativer Fasson entweder als Teilnehmerin oder Nichtteilnehmerin „identifiziert“453. Für die Performanz der Ermöglichung seien einzig die „sozialen Interessen“ des Subjekts bestimmend, für die Performanz der Willkürerlaubnis sei es die private Willkür, die das Subjekt ausmache. Das Subjekt werde alternativ als Teilnehmerin oder Nichtteilnehmerin begriffen. Eine Vermittlung der beiden Attribute miteinander finde nicht statt, da sowohl die „Macht der Beteiligung“ als auch die „Berücksichtigung der Ohnmacht“ als subjektive Rechte und daher private, der Politik entzogene Ansprüche ausgestaltet seien.454 Die zu Ungerechtigkeit führende eindeutige Kategorisierung als Teilnehmerin oder Nichtteilnehmerin könne im bürgerlichen Recht nicht durchbrochen werden, da sowohl der Anspruch auf Beteiligung als auch der Anspruch auf Berücksichtigung als „private Ansprüche“ ausgestaltet seien, so dass es aufgrund der damit verbundenen Entpolitisierung der Ansprüche zu einer Vermittlung dieser konträren Berechtigungen in der „politischen Selbstregierung“ nicht kommen könne.455 Menkes Gegenentwurf für „soziale Gerechtigkeit“ sieht vor, dass „alle die Macht der Teilnahme haben und jeder das Gegenrecht des Ohnmächtigen hat“.456 Auf diese Weise soll den Anforderungen, die das Subjekt stellt, genügt werden können. Im bürgerlichen Recht hingegen finde die „politische Ohnmacht“ Berücksichtigung, und werde in diesem Zuge naturalisiert, so dass der Politik die Einflussmöglichkeit auf sie genommen werde457 und das Subjekt lediglich als Teilnehmerin oder Nichtteilnehmerin betrachtet werde.458 An anderer Stelle verschärft Menke die These von der bürgerlichen Gewährleistung der Nichtteilnahme zu der Aussage, diese Gewährleistung sei die „einzige legitime Funktion von Rechten“.459 Die Ermöglichung der Nichtteilnahme nennt er auch „Teil-Teilnahme“460 und bringt damit zum Ausdruck, dass die „politische Selbstregierung“ und die „Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft“ nebeneinander existierten,461 so dass der der natürliche Mensch zum Vorschein komme und neben die „soziale Maske“462 des Men452 453 454 455 456 457 458 459 460 461 462
Menke, Kritik der Rechte, S. 397. Ebd., S. 398. Ebd., S. 399. Ebd., S. 398 f. Ebd., S. 396 f.; näher dazu siehe S. 100 ff. der vorliegenden Arbeit. Ebd., S. 386 f. Ebd., S. 397. Menke, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2016, 71, 76. Menke, in: MenschenRechtsMagazin 2008, 197, 203. Menke, Kritik der Rechte, S. 358. Menke, in: MenschenRechtsMagazin 2008, 197, 203.
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schen trete. In Recht und Gewalt zitiert Menke in einem ähnlichen Kontext Marx,463 der die „Spaltung des Menschen in den öffentlichen und in den Privatmenschen“464 beschreibt. In Kritik der Rechte schließt Menke sich ebenfalls Marx an, indem er einen „Widerspruch im Subjekt“ beschreibt, der aus der Unterscheidung zwischen „politische[m]“ und „private[m] Subjekt“ resultiere. Der politische Akt der Erklärung der Rechte ermächtige damit das private oder unpolitische Subjekt.465 Menke deutet die politische Selbstregierung als einen Ort, an dem das Subjekt nicht schlicht seinem Eigenwillen entsprechend handeln kann. Im Gegensatz dazu solle durch die subjektiven Rechte eine möglichst weitreichende „Rechtfertigungsunbedürftigkeit des […] Soseins von Menschen“466 sichergestellt werden, auf die sich das Subjekt als Nichtteilnehmerin zurückziehen könne. Die „bürgerliche Revolution“ fordere zwar sowohl die Teilnahme, als auch die Nichtteilnahme des Subjekts, allerdings bewirke dieser Dualismus – wie schon gesehen – die Partialisierung der politischen Selbstregierung, die dadurch selbst die Form des subjektiven Rechts annehme.467 Die Ausgestaltung der politischen Teilnahme als subjektives Recht lässt selbige Menkes Ansicht nach zu einem Werkzeug „privater Durchsetzung des eigenen Willens“468 werden. d) Antiemanzipative Deutung der subjektiven Form der Rechte Mit dieser Beobachtung möchte Menke die Annahme des Liberalismus, die Ermächtigung des Eigenwillens führe zur „rechtlichen Emanzipation des Subjekts“,469 widerlegen und aufzeigen, wie der Liberalismus den im bürgerlichen Recht herrschenden Positivismus camoufliert. Die Positivierung des Eigenwillens bewirke statt einer subjektiven Emanzipation vielmehr das „Gegenteil der Emanzipation des Subjekts“470. Dabei deutet er an, dass mit Emanzipation durch das Recht im Liberalismus gemeint sei, dass sich das Recht dem Willen der Subjekte unterwerfe und diesen gegenüber rechenschaftspflichtig sei. Einen eigenen, konkreten Begriff der Emanzipation konzipiert Menke an dieser Stelle nicht, es wird lediglich negativ festgehalten, dass die bloße Befähigung zur Geltendmachung des Eigenwillens seiner Ansicht nach keine Emanzipation darstellt.471 Als Ursache für diesen Umstand 463
Menke, Recht und Gewalt, S. 82. Marx, in: Marx Engels Werke, 347, 356; Marx formuliert dies hier allerdings im Hinblick auf das Verhältnis von Religion und Staat. 465 Menke, Kritik der Rechte, S. 7 f. 466 Ebd., S. 358. 467 Ebd., S. 358. 468 Ebd., S. 250. 469 Ebd., S. 249. 470 Ebd., S. 250. 471 Ebd., S. 249 f. 464
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führt Menke die „Adressierungsweise des Subjekts durch das bürgerliche Recht“ an, aus der das Subjekt in der vorliegenden Gestalt resultiere.472 Das, was im traditionellen Recht „bloßes Begehren“ anstelle von Wollen darstelle, werde im bürgerlichen Recht als „neue Wirklichkeit des Wollens“ ermächtigt, durch die das Subjekt von Normativität „abstrahieren“ und das Soziale „appropriieren“ könne.473 Dem Subjekt erscheine dieses Wollen als seine natürliche Freiheit, allerdings interpretiert Menke es als bloße „Registrierung [oder] Feststellung“ der „Tatsache des Wollens“ des Eigenen.474 Statt einer natürlichen Gegebenheit erblickt Menke im Eigenwillen des Subjekts und letztlich im Subjekt selbst das Produkt des Rechts,475 ermöglicht durch die transformierte Normativität, aufgrund derer der Eigenwille unhinterfragt gelte. Die Formulierung des bloßen „Feststellen[s]“ des Willens kann als eine Art Ausgeliefertsein des Subjekts gegenüber dieser Form des Willens gedeutet werden, wodurch Emanzipation verhindert würde. Demnach sei es der Positivismus des bürgerlichen Rechts, der der Möglichkeit der Emanzipation des Subjekts entgegenwirkt. Was das traditionelle Recht als unsittlich verbiete, werde durch das bürgerliche Recht als „Nichtsittliches“ erlaubt.476 Dem Subjekt des bürgerlichen Rechts werde lediglich die Möglichkeit eröffnet, die Geltung dieses Eigenwillens einzufordern, jedoch nichts darüber hinaus.477 Zwar formuliert Menke nicht konkret, was darüber hinaus nötig wäre, um den subjektiven Rechten des bürgerlichen Rechts eine emanzipative Wirkung zu verleihen, jedoch veranlasst ihn das beschriebene Verständnis des Eigenwillens und des Positivismus des bürgerlichen Rechts dazu, eine emanzipative Deutung der subjektiven Rechte abzulehnen. e) Das Rechtssubjekt und die Negativität In Sinne dieser fehlenden Emanzipation ist wohl auch Menkes Feststellung der Ohnmacht des Subjekts bezüglich der Frage, „was und wie der subjektive Wille ist“478 zu lesen. Zu dieser Konklusion kommt Menke im Anschluss an seine Rekonstruktion von Foucaults These, die besagt, dass das „Rechtliche im Rückgang“479 sei. Diese These verbindet er mit seiner eigenen Theorie der Ermächtigung des Subjekts.480 Der „Rückgang des Rechtlichen“, den Foucault den Gesellschaften ab dem 18. Jahrhundert attestiert, sei nicht in quantitativer, sondern in qualitativer Hinsicht zu verstehen und bezieht sich auf die Struktur des Rechts, die Menke 472 473 474 475 476 477 478 479 480
Ebd., S. 250. Ebd., S. 252. Ebd., S. 253. Ebd., S. 253 u. 196. Ebd., S. 253. Ebd., S. 250. Ebd., S. 265. Foucault, Sexualität und Wahrheit Bd. 1: Der Wille zum Wissen, S. 172. Menke, Kritik der Rechte, S. 259 ff.
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aufgrund der Ermächtigung des Eigenwillens als „entrechtlicht“481 beschreibt. Menke zufolge begründet Foucault seine These damit, dass es dem Recht an einem Rechtssubjekt fehle, wodurch wiederum die Frage aufgeworfen wird, was in diesem Zusammenhang unter einem „Rechtssubjekt“ zu verstehen ist. Im klassischen Recht handelt es sich dabei um die „Instanz der Negativität“.482 Wie bereits beschrieben, zeichnet sich das „klassische Recht“ bei Menke dadurch aus, dass Natur und Norm differieren, sodass das Rechtssubjekt des klassischen Rechts durch die „Spaltung in Norm und Natur“ bestimmt sei. Hier sei es das Subjekt selbst, welches die Differenz von Norm und Natur umsetze, indem es mit der Norm die Natur überwinde. Zur Verdeutlichung dienen die bereits bekannten geschichtsphilosophischen Orte an, an denen das Rechtssubjekt die Erfordernisse der Norm entweder im Wege der „rechtlichen Erziehung (Athen) oder Herrschaft (Rom)“483 eigenständig vollziehe. Im klassischen Recht, dem „Recht der Autonomie“, müsse das Rechtssubjekt den Konflikt des Normativen und des Natürlichen selbst austragen, es müsse seinen Blickwinkel über die eigenen natürlichen Bedürfnisse hinaus erweitern.484 In diesem Zusammenhang bedeute „Subjektivität“, sich gegen die eigene Natürlichkeit des Individuums – im Unterschied zum Subjekt – zu wenden. Dadurch ist es im klassischen Recht das Rechtssubjekt, welches die „Macht der Negativität“ ausübt. Die Deutung Foucaults des bürgerlichen Rechts als „Recht ohne Rechtssubjekt“ resultiert Menke zufolge nun daraus, dass das Subjekt diese Macht der Negativität im bürgerlichen Recht verliert, wodurch es gleichermaßen seinen Status als „Rechtssubjekt“ einbüßt.485 Auch diese Entwicklung im bürgerlichen Recht führt Menke auf die Ermächtigung des Eigenwillens zurück. Im Unterschied zum klassischen Recht vollziehe im modernen Recht nicht mehr das Subjekt die „Differenz von Norm und Natur“, sondern diese sei Gegenstand der Selbstreflexion des Rechts.486 Die Differenz von Norm und Natur werde im bürgerlichen Recht in der Art vollzogen, dass die Natur dem Recht als unhinterfragbare Tatsache vorausgesetzt werde, das heißt, dass der Eigenwille positiviert werde. Indem die Natur in Gestalt des Eigenwillens durch die subjektiven Rechte zum Inhalt des bürgerlichen Rechts werde, werde die Differenz von Norm und Natur Bestandteil des Rechts, was zur Folge habe, dass das Subjekt sich nicht mehr in der Differenz zum Recht konstituieren könne. Vielmehr werde es zu einem Subjekt, „das das Leben ,in Rechtsansprüchen artikulier[t]‘“487. Als Beispiel dient das Einfordern von Grundrechten, welche Menke angesichts ihres natürlichen Gehalts nicht mehr als „juridisch“ begreift. Die „Macht der Negativität“ 481 482 483 484 485 486 487
Ebd., S. 260. Ebd., S. 261. Ebd., S. 262. Ebd., S. 262 f. Ebd., S. 261. Ebd., S. 262. Ebd., S. 261.
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gehe dem Subjekt des bürgerlichen Rechts mit dem Positivismus verloren, woraus ein bürgerliches Recht ohne Rechtssubjekt resultiere. Man könnte dies demnach so verstehen, dass der Empirismus des bürgerlichen Rechts die Macht der Negativität des vormaligen Rechtssubjekts ersetzt. Menke formuliert prägnant: „Die Ermächtigung seines Eigenwillens bedeutet seine Entmächtigung als Subjekt der Negativität“488. Foucaults These des bürgerlichen Rechts als Recht ohne Rechtssubjekt stellt somit keinen Widerspruch zu Menkes Gedanke der Subjektivierung durch die subjektiven Rechte dar, weil – so könnte man sagen – mit der Negativität lediglich das Rechtssubjekt verschwindet, nicht jedoch das Subjekt an sich. f) Die Einheit von politischem und privatem Subjekt Der „Verlust der Negativität“489 bedeutet allerdings nicht, dass sich die Tätigkeit des Subjekts im bürgerlichen Recht nun ausschließlich darauf beschränkte, in Absehung aller Übrigen seinen Eigenwillen einzufordern. Zwar werde der Eigenwille durch die subjektiven Rechte legalisiert, allerdings bedeute diese Legalisierung lediglich die Begrenzung am Maßstab der Gleichheit, um das gleichzeitige Bestehen der Willen aller sicherzustellen.490 Das Subjekt müsse sich demnach zwar quantitativ selbst begrenzen, allerdings bewirke der Verlust der Negativität, dass eine „(Selbst-) Verwandlung“ in qualitativer Hinsicht nicht mehr stattfinde. Mit anderen Worten: In quantitativer Hinsicht müsse sich der Eigenwille zwar Beschränkungen unterwerfen, qualitativ sei das Wesen dieses Willens jedoch fixiert. Durch diese Feststellung kommt Menke schließlich zu der zuvor bereits angedeuteten Annahme, dass das Subjekt gegenüber der Frage, „was und wie der subjektive Wille ist“ machtlos ist.491 Die Differenz von Norm und Natur bewirke keine Transformation, sondern lediglich eine Begrenzung. Insoweit beziehe auch das Subjekt des bürgerlichen Rechts die Standpunkte seiner Mitmenschen ein und denke damit „politisch“, dies jedoch auf andere Weise, als es durch das Rechtssubjekt des „klassischen Rechts“ geschehen sei.492 Das Subjekt vollziehe die Differenz von Norm und Natur im selbstreflexiven Recht der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr selbst, wodurch die Spaltung, die das Rechtssubjekt des klassischen Rechts prägt, so nicht mehr existiere.493 Menke sieht die unpolitische Natur des Menschen als durch den „politischen Akt“ der bürgerlichen Revolution ermächtigt. Das die Rechte erklärende „politische Subjekt“ und das
488 489 490 491 492 493
63, 66.
Ebd., S. 263. Ebd., S. 248. Ebd., S. 240. Ebd., S. 264 f. Ebd., S. 264. Ebd., S. 261 f.; so auch Gruber, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2016,
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durch die Rechte ermächtigte „private Subjekt“ seien in der bürgerlichen Gesellschaft eins.494 g) Zusammenfassung Das Subjekt des bürgerlichen Rechts, das Menke beschreibt, ist das „Subjekt des Eigenwillens.“495 Aufgrund der „Subjektivierung“, die durch die subjektive Form der Rechte geschehe, werde es zur Machtinstanz der neuen Art zu Wollen. Das Subjekt bestehe nicht „vorrechtlich“, sondern gehe daraus hervor, dass die subjektiven Rechte es zum Wollen nach Belieben ermächtigten.496 Um die Ermächtigung einer jeden im privatrechtlichen Gleichordnungsverhältnis gewährleisten zu können, setzt die Form der subjektiven Rechte bei Menke den Status einer jeden als „Rechtsperson“ voraus. Mithilfe dieses Status, den der Staat den Einzelnen verleihe, sei jedes Subjekt des bürgerlichen Rechts zum „(Mit-)Urteilen“ über das Recht berechtigt. Diese Berechtigung könne das Subjekt nach eigenem Belieben ausüben, da auch sie die Form des subjektiven Rechts aufweise.497 Im bürgerlichen Recht werde sowohl die soziale Teilnahme ermöglicht als auch die soziale Nichtteilnahme erlaubt. Grundsätzlich entspricht die „Spaltung“ des Subjekts in Teilnehmerin und Nichtteilnehmerin Menkes Verständnis vom Subjekt, jedoch wirft er dem bürgerlichen Recht vor, das Subjekt entweder als Teilnehmerin oder als Nichtteilnehmerin zu kategorisieren und damit die Spaltung „ungerecht“ zu vollziehen.498 Da Teilnahme und Nichtteilnahme beide in Form von subjektiven Rechten vorliegen, könnten sie sich nicht wechselseitig politisch regulieren, sodass keine Vermittlung stattfinden könne. Eine solche Vermittlung könne nur in der politischen Selbstregierung der „sozialen Praxen“ erfolgen, denen Teilnahme und Nichtteilnahme als „private Ansprüche“ jedoch lediglich äußerlich gegenüberstünden.499 Aus diesem Grund beschreibt Menke die Weise, auf die das bürgerliche Recht die Spaltung vollzieht, als „ungerecht“500. Anders als die Spaltung des Subjekts in Norm und Natur, die Menke im selbstreflexiven Recht als aufgehoben ansieht, bestehe die Spaltung des Subjekts in Teilnehmerin und Nichtteilnehmerin demnach fort. Im Gegensatz zum Subjekt des klassischen Rechts vollziehe das Subjekt des bürgerlichen Rechts die Differenz von Norm und Natur nicht mehr selbst, da diese hier den Gegenstand der Selbstreflexion des Rechts bilde. Die „Macht der Negativität“, durch die das Subjekt des klassischen Rechts Norm und Natur vermittelt,
494 495 496 497 498 499 500
Menke, Kritik der Rechte, S. 7 f. Ebd., S. 198. Ebd., S. 196 u. 253. Ebd., S. 191 f. Ebd., S. 397. Ebd., S. 398 f. Ebd., S. 397 f.
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werde im bürgerlichen Recht durch die Positivierung des Eigenwillens ersetzt.501 Folglich legt das Subjekt des bürgerlichen Rechts bei Menke die Spaltung in Norm und Natur ab – das Natürliche wird legalisiert – während die Spaltung in Teilnehmerin und Nichtteilnehmerin bestehen bleibe.
4. Herrschaft des Rechts Mit den beschriebenen Entwicklungen, die die Form der subjektiven Rechte bezüglich der Subjekte des bürgerlichen Rechts und deren Gleichordnungsverhältnis untereinander auslöst, geht in Menkes Theorem gleichsam ein Wandel im Hinblick auf die politische Herrschaftsweise des Rechts einher.502 Diese Wandlung stellt eine von mehreren Wandlungen des Verständnisses von „Rechtsherrschaft“ dar, die Menke aus einer historischen Perspektive betrachtet.503 Diejenige des modernen Rechts habe ihren Ursprung in der „neuzeitlichen“ Deutung des privatrechtlichen Begriffs des subjektiven Rechts.504 Menke kritisiert das Vorgehen Savignys505 und Hegels, die in ihren Beobachtungen zum subjektiven Recht nicht über das Gleichordnungsverhältnis der Subjekte im Privatrecht hinausgingen und dadurch die Effekte auf das öffentliche Verhältnis zwischen Staat und Subjekt ignorierten. Die Anerkennung des Status des Individuums als Rechtsperson durch den Staat bedinge eine Herrschaft über „,Freie, d. h. über Personen‘“.506 Nachdem der Einfluss der subjektiven Form der Rechte auf die Stellung des Subjekts im bürgerlichen Recht herausgearbeitet wurde, möchte Menke zeigen, dass sich diese Entwicklung auch auf der Ebene der Herrschaft auswirkt.507 Dabei versteht er das Recht als das „wichtigste Medium der Herrschaft.“508 In Kritik der Rechte wird der Zusammenhang von bürgerlichem Recht und Herrschaft in doppelter Ausgestaltung aufgezeigt. Zum einen wird die „politische“ Herrschaft im Sinne des „öffentliche[n] Verhältnis[ses] zwischen den einzelnen und der Rechtsordnung“509 thematisiert und zum anderen die „soziale“ Herrschaft im Sinne von „Ausbeutung“ und „Normalisierung“510. Im Hinblick auf das Ziel des ersten Teils der vorliegenden Arbeit, die wichtigsten Charakteristika des Rechts in 501 502 503 504
442. 505
Ebd., S. 263. Ebd., S. 185 f. u. 42. Ebd., S. 38. Menke, in: Der Staat im Recht. Festschrift für Eckart Klein zum 70. Geburtstag, 439,
Ebd., 439, 440 ff. Menke, Kritik der Rechte, S. 186, zitiert nach: Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 85. 507 Menke, Kritik der Rechte, S. 185 f. 508 Ebd., S. 76. 509 Ebd., S. 185. 510 Ebd., S. 271. 506
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Menkes Konstruktion darzulegen, soll an dieser Stelle zunächst seine Analyse der politischen Herrschaft im modernen beziehungsweise bürgerlichen Recht genauer in den Blick genommen werden. Es geht also an dieser Stelle nur am Rande um die Frage, welche Herrschaftsweisen die Form der subjektiven Rechte nach Menke in der bürgerlichen Gesellschaft hervorbringt, und vorrangig darum, wie das bürgerliche Recht und der „neuzeitliche Souverän“ selbst „herrscht.“511 Eine Beleuchtung der daraus resultierenden gesellschaftlichen Effekte, wie die der sozialen Herrschaft, erfolgt im Anschluss.512 Die politische Herrschaft ist Menkes Verständnis nach auf alle verteilt513 und entscheidend durch die subjektiven Rechte geprägt. Diese bildeten die „Prinzipien des Regierens“, was durch die Etablierung der Grundrechte sichergestellt werde:514 „Grundrechte sind Rechte auf (subjektive) Rechte.“515 Das Recht herrsche mithilfe der subjektiven Rechte,516 was durch die Grundrechte fixiert werde. Subjektive Rechte spiegelten sich außerdem auch im zwischenmenschlichen Gleichordnungsverhältnis wider, sodass die Grundrechte ebenso den status quo der Privatrechtsordnung bestimmten.517 Die Grundrechte realisieren die Anerkennung des Eigenwillens als gegebene Tatsache518 und legen die subjektiven Rechte als grundsätzliche Regierungsform fest. Sie seien daher zugleich „Herrschaftsbegründung“ und „Herrschaftsbegrenzung“519, was wiederum eine Umverteilung der „normativen Macht“ zur Folge habe: Weil das Recht den Eigenwillen des Subjekts als seine eigene Voraussetzung verstehe, bedürfe die Inanspruchnahme der Rechte durch das Individuum keiner Rechtfertigung, während jeder Eingriff des Staates rechtfertigungsbedürftig sei.520 Daraus, dass höchster Zweck der Rechtsordnung die Gewährleistung des Eigenwillens des Subjekts sei, ergebe sich die Notwendigkeit, die Inhaltsbestimmung der Grundrechte den Subjekten zu überlassen.521 Dabei versteht Menke die Grundrechte mit Luhmann als eine Art Konkretisierung des Eigenwillens in Bezug auf die jeweiligen sozialen Sphären, wie etwa den Glauben als Ausgestaltung des Eigenwillens in der Sphäre der Religion.522
511 512 513 514 515 516 517 518 519 520 521 522
Ebd., S. 74. Siehe S. 82 ff. der vorliegenden Arbeit. Menke, Kritik der Rechte, S. 317. Ebd., S. 238. Ebd., S. 316. Ebd., S. 311 f. Ebd., S. 237. Ebd., S. 237. Ebd., S. 318. Ebd., S. 238. Ebd., S. 239. Ebd., S. 237.
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a) Regierung im Wege von „Ermöglichung“ und „Erlaubnis“ Prinzipiell geht Menke auf anthropologischer Ebene allerdings davon aus, dass der Mensch der Vorschriften durch das Recht bedarf.523 Das moderne Recht bediene sich diesbezüglich jedoch nicht mehr der erziehenden (Athen) oder befehlenden (Rom) Methode, sondern herrsche im Wege der Ermöglichung und Erlaubnis des Natürlichen.524 Das Recht herrsche, indem es Rechte hervorbringe.525 Daher sei die Etablierung von Grundrechten der Beginn von „Regierung“, durch die die klassische „Herrschaft“ abgelöst werde.526 Diese Souveränität legitimiere und entwickle sich ausgehend von dem Natürlichen, während die Herrschaft in den klassischen Ordnungen bereits aufgrund von Sittlichkeit oder Vernunft Bestand habe.527 Anstatt das Natürliche mithilfe von Erziehung oder Befehlen bzw. Verboten und Vorschriften528 zu unterdrücken, werde es im modernen Recht zu „Inhalt und Zweck“ des Rechts.529 Mit der Ermöglichung und der Erlaubnis gehe die „Selbstbegründung“ und „Selbstbegrenzung“ einher.530 Das Recht könne nur legalisieren bzw. ermöglichen, was schon natürlich bestehe, dadurch finde automatisch seine Selbstbegrenzung statt. Gleichzeitig begründe sich das Recht durch die Begrenzung auf das NatürlichFaktische.531 Zwar könne ein Anspruch nicht schon aufgrund seiner Natürlichkeit die Schaffung verbindlichen Rechts herbeiführen, sondern müsse zunächst im Wege der „Legalisierung des Natürlichen“ in Rechtliches transformiert werden, um Normativität zu schaffen. Dazu sei jedoch lediglich die Unterwerfung unter die Grenzen der Gleichheit notwendig.532 Indem Menke die „autonome Normativität“ des modernen Rechts in diesem Sinne auf das Natürliche zurückführt, wird erkennbar, dass diese Struktur zu einer Voraussetzung führt, auf die das Recht selbst keinen Einfluss ausüben kann. Das moderne Recht „geht mit dem Bewußtsein einher, daß es in die Faktizität des natürlichen Strebens nicht eingreifen wollen kann“.533 Die Ordnung sei sich darüber hinaus der Tatsache bewusst, dass sie lediglich deshalb befolgt werde, weil sie das „natürlich-faktische Streben“ ermächtige. Das Natürliche sei dem Recht vorausgesetzt und um es als solches zu erlauben, müsse es dem Recht entzogen sein.534 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534
Ebd., S. 66. Ebd., S. 80 u. 89. Ebd., S. 37. Ebd., S. 244. Ebd., S. 313. Ebd., S. 89. Deitert/Wieland, in: Zeitschrift für philosophische Literatur 2016, 11, 12. Vgl. dazu S. 25 ff. der vorliegenden Arbeit. Menke, Kritik der Rechte, S. 105. Ebd., S. 59. Ebd., S. 104. Ebd., S. 104 f.
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b) Innen- und Außenseite Dieser Zusammenhang tangiere ebenfalls das Konzept des neuzeitlichen Souveräns, welcher als Staat die „,legale‘“535 Gestalt der Herrschaft darstelle. Das Ziel der Legalisierung des „Strebens nach Selbsterhaltung“ autorisiere den Souverän, der aus diesem Grund keine Vorschriften machen dürfe, die dieses Streben einzuschränken in der Lage wären. Neben dieser Begrenzung beschreibt Menke die Herrschaft des neuzeitlichen Souveräns in Anlehnung an Hobbes als „absolute,“536 da sich in ihr die Macht verwirkliche, die die Subjekte dem Souverän durch „vertragsförmige Einsetzung“ verliehen haben. Zwar stellt er fest, dass das Funktionieren von Recht auf der potentiellen Möglichkeit von Zwang beruht,537 allerdings sei das Empfinden von Zwang durch die „Untertanen“ nur dann möglich, wenn diese den Akt der Einsetzung des Souveräns, den sie selbst vollzogen haben, vergessen.538 Diesen Souverän nennt Menke den „neuzeitlichen Souverän“539 und verortet ihn am geschichtsphilosophischen Ort London. Solange der Souverän demnach seiner Verpflichtung zum Schutz des natürlichen Strebens der Menschen nachkomme, sei all sein Tun als berechtigt anzusehen. Andernfalls trete er mit sich selbst und dem Akt seiner Einsetzung in Widerspruch, so dass er einen dahin gerichteten Willen gar nicht erst entwickeln könne.540 Der neuzeitliche Souverän herrsche nicht mehr „gegen“ das Natürliche, sondern legalisiere es. Das „souveräne Recht“ herrsche folglich in Form von Erlaubnis.541 Das Streben werde „zum Inneren, das seiner Herrschaft systematisch entzogen“ sei.542 Damit konstituiere die moderne Form der Rechte die „Differenz von Innen und Außen“.543 Im Ergebnis nehme sich der Souverän mit der Begrenzung auf „das Äußere“ selbst die Möglichkeit, über das Natürliche zu herrschen.544 Für die Untertanen bedeute diese „Äußerlichkeit des Rechts“, dass ihr Inneres dem Recht gegenüber frei sei.545 Diese Freiheit beziehe sich jedoch lediglich auf ihr Inneres, das Individuum selbst werde nicht von rechtlicher Regulierung freigestellt.546 Gegenstand der Regierungsweise der modernen Form der Rechte sei 535
Ebd., S. 313. Ebd., S. 74. 537 Ebd., S. 65. 538 Ebd., S. 74. 539 Ebd., S. 73 f. 540 Ebd., S. 74. 541 Ebd., S. 80. 542 Ebd., S. 76 ff. 543 Ebd., S. 88. 544 Ebd., S. 80; zur Auseinandersetzung Menkes mit der Selbstbegrenzung des Rechts gegenüber dem Nichtrecht und der damit verbundenen Kritik am Liberalismus siehe den Schluss des Kapitels „Die Selbstreflexion als Kennzeichen des modernen Rechts“ auf S. 25 ff. der vorliegenden Arbeit. 545 Ebd., S. 84. 546 Ebd., S. 88. 536
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demnach das „Äußere,“ wohingegen das „Innere“ erlaubt werde.547 Auf das „Äußere“ muss der Souverän indessen Einfluss nehmen können, um seinem Zweck gerecht zu werden.548 Die Erlaubnis des Inneren bedeute die Freiheit des Denkens, welche auch das unvernünftige, „indifferente“ Denken und Urteilen miteinschließe.549 Die Erlaubnis des Inneren impliziere darüber hinaus den Verzicht des modernen Rechts darauf, Gründe für seine Befolgung vorzuschreiben. Die Erlaubnis der Willkür erfasse in dieser Hinsicht auch die Frage nach dem „Weshalb der Befolgung“550. Die „Untertanen“ müssen die Gesetze des Souveräns lediglich nach außen unabhängig von ihrer eigenen Einschätzung befolgen, denn sie haben den Souverän selbst dazu ermächtigt, Befehle zu geben, die befolgt werden müssen.551 Er beschreibt eine „zwingende Verpflichtung“552 zur Befolgung des modernen Rechts, die auf die Freistellung der Gründe für die Befolgung zurückgeführt werde.553 Das innere Wollen der Subjekte müsse freigestellt werden, da der Souverän selbst auf diesem Wollen basiere. Die „Möglichkeit der innerlichen Rechtsablehnung“554 werde aktiv anerkannt. c) Die kreislaufartige Reproduktion der Notwendigkeit staatlicher Intervention Jegliche Macht der Regierung müsse fortan genutzt werden, um dem Eigenwillen der Subjekte als der Basis des „bürgerlichen Rechtsstaates“ zu dienen, womit denknotwendig eine Beschränkung der „normativen Macht des Staates“ einhergehe.555 An dieser Stelle thematisiert Menke C. Schmitts These, nach der diese Beschränkung gleichzeitig eine generelle Verkürzung der Einwirkungsmöglichkeiten des Staates auf die Subjekte bewirke.Im Widerspruch dazu bewirkt die Ausrichtung der Rechte am Subjekt Menkes Ansicht nach vielmehr die Zunahme der staatlichen Handlungsmöglichkeiten. Den Grund hierfür erblickt er in der doppelten Ausgestaltung der Sicherung des Eigenwillens in Ermöglichung von Interessen sowie Erlaubnis der Willkür.556 Unter Sicherung der Willkür des Subjekts ist die Gewährleistung einer privaten Sphäre, in der willkürlich agiert werden darf, zu verstehen. Die Sicherung des Interesses werde durch die „Gewährleistung von privaten 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556
Ebd., S. 91. Ebd., S. 78. Ebd., S. 82. Ebd., S. 89. Ebd., S. 83. Ebd., S. 91. Ebd., S. 104 f. Ebd., S. 84. Ebd., S. 244. Ebd., S. 244 f.
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Vermögen sozialer Teilhabe“ vollzogen.557 Die Sicherung dieser zwei Erscheinungsformen des Eigenwillens erforderten in der praktischen Umsetzung jeweils unterschiedliche Vorgehensweisen des Staates. Diese widersprechen sich Menke zufolge jedoch strukturell, was eine gegenseitige Beeinträchtigung bedingt. Jede Intervention in die eine Richtung rufe ein Ungleichgewicht im Hinblick auf die andere hervor, sodass wiederum Intervention an dieser Stelle erforderlich werde. Dieses Verhältnis erläutert Menke anhand einer Darstellung Émile Durkheims, der den Zusammenhang zwischen der Orientierung des Rechts am Subjekt und dem Wachstum der Staatsmacht analysiert.558 Die Sicherung der Interessen des Subjekts könne nur durch die Ermöglichung sozialer Teilhabe erfolgen, mit deren Hilfe dem Subjekt die für sein Interesse notwendigen, sozialen „Mittel“ zuteilwerden. Auf diese Weise werde das Subjekt in die Lage versetzt, durch Partizipation am sozialen Vermögen privates Vermögen zu erlangen. Die Interessenverwirklichung erfordere ein Gegengewicht zu jenen Rechten, die die private Willkür gewährleisteten. Dieses Gegengewicht sei in Gestalt der „soziale[n] Rechte, also d[er] Rechte des einzelnen zur privaten Teilhabe am Sozialen“ gegeben. Die Bereiche des Sozialen – Menke nennt Ökonomie, Religion, Politik, Erziehung – verfügten jedoch über eine eigene Normativität. Aufgrund ihrer stetigen, „autonomen“ Fortentwicklung und ihrer damit verbundenen „gesellschaftlichen Eigendynamik“559 könne der Staat mit Hilfe von Rechten lediglich äußerlich auf diese einwirken. Das Subjekt, welchem die Teilhabe am Sozialen ermöglicht werde, sei dadurch gleichzeitig der Normativität des jeweiligen sozialen Bereichs unterworfen. Die Rechte, die die soziale Teilhabe ermöglichen sollen, müssten sich daher affirmativ gegenüber der Normativität der sozialen Sphären verhalten und sich beständig an die von der Gesellschaft vorgegebenen Entwicklungen angleichen, womit ebenso die Angleichung der Subjekte an die Vorgaben der sozialen Sphären herbeigeführt werde. Diesen Mechanismus, den Menke ebenfalls als eine Art von Herrschaft begreift,560 bezeichnet er auch als „Normalisierung“561. Hier zeigt sich, inwiefern die eine Art der Intervention die andere erforderlich machen soll. Die „Normalisierung“ des Subjekts zur Sicherung des Eigenwillens in Gestalt des Interesses beeinträchtige namentlich die Willkür als die andere Gestalt seines Eigenwillens. Die Fähigkeit des Subjekts, seine Willkür auszuüben, indem es über die Wahl seiner Ziele frei entscheidet, werde durch die „Normalisierung“ beeinträchtigt. Um die private Sphäre zu schaffen und zu sichern, in der das Subjekt die Willkür uneingeschränkt auszuüben vermag, müsse das Recht sowohl gegen andere 557
Zur vertieften Darstellung dieses Themenkomplexes und seiner Erläuterung am Beispiel Eigentum, siehe ebd., 215 ff. 558 Vgl. hierzu Durkheim, Physik der Sitten und des Rechts. Vorlesungen zur Soziologie der Moral, S. 82 ff. 559 Menke, Kritik der Rechte, S. 246. 560 Ebd., S. 287. 561 Ebd., S. 246, näher dazu siehe außerdem S. 92 ff. der vorliegenden Arbeit.
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Subjekte als auch gegen die „Normalisierung“ der sozialen Sphären Maßnahmen ergreifen.562 Die Rechte zur Sicherung der Willkür seien darauf gerichtet, den Effekt der sozialen Rechte auf das Subjekt zu unterbinden. Zusammenfassend könnte man sagen, dass Menke zufolge in die Sicherung der privaten Willkür interveniert werden muss, um die Interessenverwirklichung im Wege der sozialen Teilhabe zu gewährleisten, während zudem in die Sicherung des Interesses interveniert werden muss, um die Einschränkung der Willkür, die aus der Unterwerfung des Subjekts unter die Normativität der sozialen Sphären resultiert, auszugleichen. Aufgrund dieses Zusammenhangs, der von Menke wiederum auf die Form der subjektiven Rechte zurückgeführt wird,563 kommt es zu der Annahme, dass das Regierungshandeln einen stetigen Anstieg erfährt, da nur auf diese Weise beiden Gestalten des Eigenwillens Rechnung getragen werden kann. Die eine Gestalt des subjektiven Rechts untergrabe kreislaufartig immer wieder die andere Gestalt, wodurch der Staat immer weitreichender auf das Subjekt einwirken müsse, da seine Aufgabe die Sicherung des Eigenwillens sei. Diese Aufgabe, die letztlich aus der Form des subjektiven Rechts resultiere, führe folglich zu einem Anstieg des Regierungshandelns, womit Menke C. Schmitts Annahme des Rückgangs des Regierungshandelns durch die subjektiven Rechte widerlegen will. Es führe zu einem Kreislauf des immer wieder Neuschaffens von Rechten, die dazu dienten, die negativen Auswirkungen des zuvor geschaffenen Rechts zu kompensieren. Menke erkennt daher letztlich in der Freiheit des Eigenwillens des Subjekts die Wurzel für seine Regierbarkeit.564 Trotz der Kompetenz, immer wieder neue Rechte zu schaffen, bestehe der Einfluss der modernen Regierung auf die sozialen Bereiche nicht unbegrenzt. Die subjektive Form der Rechte lasse die Individuen zu politisch autonomen Subjekten werden, da das Recht zu Wählen ebenfalls in der subjektiven Form vorliege und demnach auch hier der Eigenwille legalisiert werde. In Folge dieser „politischen Autonomie“ der Subjekte entstünden ebenfalls autonome soziale Sphären.565 Indem den Individuen subjektive Entscheidungsfreiheit zuerkannt werde, werde die Entwicklung solcher sozialen Bereiche, die entkoppelt von politischer Herrschaft seien und lediglich dem gesellschaftlichen Wandel unterliegen, ermöglicht. Aufgrund ihrer Autonomie sei eine Regulierung dieser sozialen Bereiche in der „Regierung durch Rechte“ lediglich „von außen“,566 das heißt nicht mehr intern am Grund ihrer Entwicklung, möglich.
562
Ebd., S. 246. Ebd., S. 247. 564 Ebd., S. 246 f. 565 Ebd., S. 317 ff. 566 Ebd., S. 246; vgl. hierzu außerdem Luhmann, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 1985, 1, 2 ff. und Teubner, in: Gesetzgebungstheorie und Rechtspolitik. Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1988, 45, 52 ff. 563
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B. Rekonstruktion
Anders als die traditionellen Rechtsformen greife der Staat im modernen Recht nicht mehr in die Struktur sozialer Sphären wie die der Wirtschaft, Religion, Erziehung etc. ein.567 Diesen Zusammenhang stellt Menke an anderer Stelle konkreter dar.568 Habe das „traditionelle Recht“ noch speziell für die jeweilige Sphäre Gerechtigkeitskonstruktionen entworfen und diese auf die Sphäre angewandt, so habe sich das moderne Recht zum Ziel gesetzt, die gleiche Teilhabe aller am Sozialen sicherzustellen. Auf inhaltlicher Ebene finde keine Intervention des Rechts in die soziale Sphäre statt, sondern ermöglicht werde den Subjekten die Teilnahme an der jeweiligen sozialen Sphäre. Wie bereits unter Anderem Menkes Beschreibung der Normativität des modernen Rechts569 entnommen werden kann, sei eine Abkehr von der ursprünglichen Aufgabe des Rechts, Gerechtigkeit zu schaffen, zu beobachten.570 Höchstes Ziel sei nunmehr die Ermächtigung des Eigenwillens bzw. die Sicherstellung der gleichen Möglichkeit sozialer Teilhabe. Darüber hinaus gehend wirke das moderne Recht nicht auf die sozialen Sphären ein, woraufhin diese eine „Eigennormativität“571 entwickelten.572 d) Zusammenfassung Die politische Herrschaftsweise im modernen Recht ist nach Menkes Analyse eng mit der Form des subjektiven Rechts verknüpft. Seiner Ansicht nach könne man nicht bei den Auswirkungen, die diese Form auf privatrechtliche Verhältnisse habe, stehen bleiben, sondern müsse ebenso die damit einhergehenden Veränderungen im Verhältnis zwischen Bürgerin und Staat betrachten.573 Durch die Grundrechte würden die subjektiven Rechte als Regierungsform festgelegt, der Staat werde auf diese Form verpflichtet.574 Der Eigenwille werde mithilfe der Grundrechte als dem Recht vorausgesetzte Tatsache manifestiert,575 so dass Eingriffe des Staates stets rechtfertigungsbedürftig seien. Es handle sich folglich im modernen Recht nicht mehr um Herrschaft, sondern um „,Regierung‘“.576 Das moderne Recht regiere nicht mehr indem das Natürliche im Hinblick auf ein Vernunft- oder Sittlichkeitsideal verboten oder unterdrückt werde, sondern gänzlich im Gegensatz dazu, indem es das Natürliche als Zweck des Rechts ermögliche und erlaube.577 Ausgehend vom Natür567 568 569 570 571 572 573 574 575 576 577
Menke, Kritik der Rechte, S. 319 ff. Vgl. Menke, in: MenschenRechtsMagazin 2008, 197, 202 f. Siehe S. 20 ff. der vorliegenden Arbeit. Vgl. auch Menke, Kritik der Rechte, S. 103. Ebd., S. 246. Menke, in: MenschenRechtsMagazin 2008, 197, 202 f. Menke, Kritik der Rechte, S. 185 f. Ebd., S. 238. Ebd., S. 237. Ebd., S. 244. Ebd., S. 103 ff.
I. Beschaffenheit des Rechts
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lichen müsse sich die politische Herrschaft des bürgerlichen Rechts selbst „herstellen und rechtfertigen.“578 Im Rahmen dieser reformierten Zweckbestimmung setzt sich das Recht das Natürliche voraus und kann daher auf ebendieses nicht einwirken. Der Eigenwille sei für das Recht gewissermaßen unantastbar, er sei dem Recht als Natürliches entzogen. Das „Streben nach Selbsterhaltung“ sei folglich bedingungslos erlaubt, lediglich die Verwirklichung dieses Strebens werde durch das Recht reguliert.579 Der Staat als neuzeitliche Manifestation „,legale[r]‘ […] Herrschaft“ habe sich am Zweck der Selbsterhaltung der Subjekte auszurichten und zu begrenzen. Die staatliche Souveränität gehe auf das natürliche Streben der Subjekte zurück, welches daher durch den Souverän nicht eingeschränkt werden könne. Es stelle ihr „Inneres“ dar, in das der Souverän nicht eingreifen dürfe.580 Die Analyse dieser Struktur führt Menke zu der These, dass das moderne Recht im Subjekt eine Trennung von „Innen und Außen“ konstituiert. Es werde unterschieden zwischen dem „rechtlich unregulierbare[n] Innere[n]“ und dem „rechtlich regulierten Äußeren“581. Die Begrenzung des Souveräns am Inneren des Subjekts auf das Äußere umfasse auch die Gründe, aus denen die Rechtsordnung befolgt werde.582 Da der Souverän auf dem natürlichen Streben der Subjekte beruhe, könne er darauf keinen Einfluss nehmen, sondern müsse es vielmehr erlauben.583 Die Regierung im Wege der Ermöglichung der Erlaubnis führe darüber hinaus zu einem stetig ansteigenden Regierungshandeln.584 Um den Eigenwillen der Subjekte zu sichern, ermögliche das Recht die Interessen und erlaube die Willkür, wobei jedoch jede Verschiebung in die eine Richtung ein Nachjustieren in die jeweils andere erfordere. Die Ermöglichung von Interessen realisiere sich in der Gewährleistung sozialer Teilhaberechte, die gegen die Rechte der privaten Willkür gesichert werden müssten. Zur Inanspruchnahme dieser sozialen Teilhaberechte müsse sich das Subjekt jedoch der „Eigennormativität“585 der jeweiligen sozialen Sphäre unterwerfen. Diese „soziale Anpassung“ wiederum beeinträchtige die Sphäre privater Willkür, die das Recht sichern müsse, um die zweite Performanz der modernen Rechte – Erlaubnis der Willkür – umsetzen zu können. Die Sicherung privater Willkür schränke jedoch wiederum die sozialen Teilhaberechte ein, so dass hier ein Gegengewicht erforderlich werde. Die Aufgabe des Staates, den Eigenwillen der Subjekte zu sichern, sei daher nie erfüllt, sondern vervielfache sich selbst mit jedem gesetzgeberischen Akt. Die Regierbarkeit des Subjekts des bürgerlichen Rechts 578 579 580 581 582 583 584 585
Ebd., S. 313. Ebd., S. 77. Ebd., S. 75 ff. Ebd., S. 88. Ebd., S. 105. Ebd., S. 77. Ebd., S. 243 ff. Ebd., S. 246.
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ergibt sich für Menke folglich aus der Freiheit seines Eigenwillens.586 Eingriffe in die Struktur der sozialen Sphären seien dem Recht aufgrund deren Autonomie nicht möglich, sie seien den rechtlichen Regelungen entzogen.587 Die sozialen Sphären bestimmten ihre Normativität selbst, das moderne Recht nehme darauf – im Gegensatz zu den traditionellen Rechtsordnungen – keinen Einfluss. Es werde lediglich angestrebt, jedem die gleiche Teilnahme an den sozialen Praxen zu ermöglichen, ein darüber hinaus gehender normativer Maßstab müsse in den sozialen Sphären jedoch autonom entwickelt werden.588
II. Auswirkungen der Form hinsichtlich sozialer Prozesse Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben sollen im Folgenden nun noch die relevantesten von Menke herausgearbeiteten Effekte der Form der subjektiven Rechte dargestellt werden. Skizziert wird, wie sich die diesbezügliche Wirkung des Rechts auf soziale Prozesse in der Gesellschaft aus Menkes Perspektive darstellt.
1. „Entsittlichung“ Wie bereits thematisiert, führt die Etablierung der Form der subjektiven Rechte Menke zufolge unter anderem zur „Entsittlichung des Rechts“589. Aufgrund der Form der subjektiven Rechte werde das private Wollen des Subjekts ermächtigt,590 womit jede Form sittlicher Normativität an Bedeutung verliere:591 es folge die „Entmächtigung jeder – sittlichen oder politischen – Instanz“592. So gelte im bürgerlichen Recht das Eigentum als Ausdruck der willkürlichen Verfügungsfreiheit über eine Sache, die keiner sittlichen Regulierung unterliege.593 Die (Eigen-)Willensbildung abstrahiere von jeglichen Werten, was in eine „normative […] Indifferenz“ münde. Diese „Abstraktion vom Sittlichen“ führe gleichzeitig zur beschriebenen „Appropriation des Sozialen“, im Zuge derer das Soziale auf das Individuum reduziert werde.594 Menke identifiziert das bürgerliche Recht als „normative Ordnung, die die Indif586 587 588 589 590 591 592 593 594
Ebd., S. 247. Ebd., S. 246. Menke, in: MenschenRechtsMagazin 2008, 197, 203. Menke, Kritik der Rechte, S. 41. Ebd., S. 207. Ebd., S. 292. Ebd., S. 258. Ebd., S. 213. Ebd., S. 200 f. u. 206 f.
II. Auswirkungen der Form hinsichtlich sozialer Prozesse
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ferenz des Normativen hervorbringt“ und „die soziale Ordnung, die die Privatisierung des Sozialen erlaubt“.595 Die Funktionsfähigkeit der bürgerlichen Gesellschaft müsse unabhängig von sittlichen Maßstäben sichergestellt werden, normativer Maßstab sei einzig die Geltung des Eigenwillens.596
2. „Entpolitisierung“ und „Privatisierung“ Diese Gesellschaft – die „bürgerliche Gesellschaft“ – bestehe aus verschiedenen sozialen Sphären, die von der „politischen Normativität“ entkoppelt seien.597 Der neuzeitliche Staat bringe die politische Macht in eine rechtliche Form, indem er jede Facette „politischer Machtausübung“ gesetzlich regle und sie an die demokratische Voraussetzung binde, dass für jedes Subjekt die Möglichkeit der Teilnahme bestehe. Diese politische Teilnahme werde dem Subjekt in Form eines subjektiven Rechts gewährt.598 Dementsprechend sei sowohl das Wie als auch das Ob der Ausübung der politischen Teilnahme dem Eigenwillen des Subjekts überlassen.599 Das Subjekt schlüpfe als Rechteinhaberin gewissermaßen in eine passive Rolle, die seine Entpolitisierung zur Folge habe.600 Diese Ermächtigung des Eigenwillens bringe deshalb nicht nur ein Recht „auf“, sondern gleichsam auch ein Recht „gegenüber der Politik“, das heißt „gegen den demokratischen Prozess“601, hervor. Die politische Macht werde insofern aufgrund der Form der subjektiven Rechte begrenzt, sodass Raum für ein „ihr entzogenes Äußeres“ entstehe. Diese der Politik entzogenen Bereiche bildeten die bereits skizzierten autonomen „sozialen Sphären“, denen ein eigenes Normativitätskonzept zugrunde liege.602 Die Autonomie der Subjekte führe im Ergebnis zu jenen autonomen sozialen Zusammenhängen, die dementsprechend entpolitisiert seien.603 In einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ beschreibt Menke das Phänomen der „Entpolitisierung“ anhand eines Arbeitsvertrages zwischen „Unternehmer“ und „Arbeiter“. Menke vertritt den Standpunkt, dass die Unternehmerin, nachdem die arbeitsvertragliche Bindung von beiden Seiten auf freiwilliger Basis eingegangen wurde, von einer weitergehenden Verantwortung der Arbeiterin gegenüber entlastet werde. Der hieraus entstehende Raum sei dem Einfluss von 595
Ebd., S. 259. Ebd., S. 266. 597 Ebd., S. 331. 598 Vgl. hierzu das Kapitel „Die Politizität der Form der subjektiven Rechte“ auf S. 58 ff. der vorliegenden Arbeit. 599 Menke, Kritik der Rechte, S. 317 f. u. 358. 600 Buckel, in: Kritische Justiz 2017, 461, 470. 601 Menke, Kritik der Rechte, S. 318. 602 Ebd., S. 246. 603 Ebd., S. 319. 596
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Normativität und Politik entzogen. Mit der politischen Erklärung der Rechte gehe die Freistellung von der Politik, das heißt die Entpolitisierung, einher.604 Der Staat entpolitisiere die bürgerliche Gesellschaft aufgrund der Etablierung der Form der subjektiven Rechte, die den subjektiven Eigenwillen als „potentiell total“605 gelten lasse, der sich damit als Besonderes – im Gegensatz zum Allgemeinen – „nach allen Seiten […] entwickeln und […] ergehen“606 kann. Indem das Natürliche legalisiert607 und also der Eigenwille der Subjekte positiviert werde, werden subjektive Rechte hervorgebracht, die nicht hinterfragbar und damit der Politik entzogen seien.608 Die „Selbstentpolitisierung“ beginne damit, dass die „Legalisierung des Natürlichen“ zum Zweck des Staates geworden sei. Die „Politik der Entpolitisierung“ bringe letztlich die bürgerliche Gesellschaft in der bestehenden Gestalt hervor,609 was Menke als die „Pathologie des Rechts“ bezeichnet.610 a) Fatalismus und Autonomie Den auf diese Weise entpolitisierten sozialen Sphären wohnt nach Menke immerzu die Möglichkeit der Zerstörung durch die Herausbildung von Machtstrukturen inne. Diese Machtstrukturen begreift er als „[…] gesellschaftliche Machtzusammenballungen, die durch ihre Übermacht zugleich einen quasipolitischen Charakter gewinnen […]“.611 Monopole werden dabei als politischer Machtzuwachs für gesellschaftliche Akteurinnen mittels gesellschaftlicher Prozesse gedeutet. Eine von gesellschaftlichen Trägerinnen ausgehende Machtzusammenballung dieser Art bedrohe die Autonomie der sozialen Sphären, ebenso wie die der einzelnen Subjekte.612 Um die bürgerliche Gesellschaft trotz dieser Gefahr oder auch trotz dieser „selbstzerstörerischen Tendenz […]“ als autonomen Bereich erhalten zu können, müsse der Staat fortwährend intervenieren. Dazu stärke er die Rechte der „Mindermächtigen“, im Wege der Gewährleistung einer privaten Sphäre der Willkür und/oder durch Ermöglichung sozialer Teilhabe. Für Menke stellen die Grundrechte daher nicht nur einen Abwehrmechanismus der Individuen gegenüber dem Staat dar, sondern ebenso einen Schutzmechanismus gegen jegliche Form sozialer Herrschaft.613 Hier wird die 604 Assheuer/Menke, „Unsere Zerrissenheit ist doch das Beste an der Moderne, was wir haben!“, 10. 05. 2017, in: Zeit Online. 605 Menke, Kritik der Rechte, S. 258. 606 Hegel, in: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Auf der Grundlage der Edition des Textes in den Gesammelten Werken Band 14, § 184. 607 Menke, Kritik der Rechte, S. 63. 608 Mattutat, Weder Herren noch Knechte, 08. 04. 2016, in: Soziopolis. 609 Menke, Kritik der Rechte, S. 325. 610 Ebd., S. 259. 611 Ebd., S. 321. 612 Ebd., S. 321 f. 613 Ebd., S. 323.
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„Aporie der bürgerlichen Verfassung“ offenbar: Aus der grundrechtlichen Festlegung auf die Form der subjektiven Rechte resultiere die „bürgerliche Gesellschaft“ als Zusammenhang autonomer sozialer Sphären, dem jedoch eine „immanente Krisenhaftigkeit“614 innewohne, die auf fast fatalistische Weise die beständige politische Intervention in die als autonom deklarierten Bereiche notwendig mache. Diese Intervention sei jedoch ebenfalls durch die Form subjektiver Rechte charakterisiert, wodurch wiederum autonome, der Politik entzogene Bereiche geschaffen werden, die kreislaufartig der politischen Intervention bedürfen.615 b) „Entmächtigung der Politik“ Die Form der subjektiven Rechte und die damit einhergehende Ermächtigung des Subjekts entpolitisieren die sozialen Sphären616 und bedingen eine Trennung von Politik und Gesellschaft617. Als Symptom dessen könnte man auch Menkes Hinweis auf die Veränderung im Freiheitsverständnis der bürgerlichen Gesellschaft deuten: Im „antiken“ Verständnis werde Freiheit als die politische Freiheit zur Teilnahme an der Selbstregierung verstanden; die „moderne Freiheit“ ziele hingegen darauf ab, das „private Leben“ frei von Einschränkungen führen zu können.618 Menke erkennt die Form der subjektiven Rechte als Ursache für die Vorordnung der Gesellschaft vor die Politik,619 wodurch die Politik – wie Menke Marx’ Kritik620 reformuliert – zur „Verwaltung der bürgerlichen Gesellschaft“ degradiert werde.621 Obwohl der Akt der Erklärung von Rechten politischer Natur sei, ende die Ermächtigung des Subjekts letztlich in der Entpolitisierung der Politik. Die Kraft der Politik werde darauf verwendet, den „unpolitischen Menschen“ zu ermächtigen, wodurch die Politik selbst ihre Kraft einbüße.622 Mit Marx gesprochen, den Menke in diesem Kontext auf der ersten Seite von Kritik der Rechte zitiert: „der citoyen [werde] zum Diener des egoistischen homme erklärt“.623 Entmächtigung der Politik und Entpolitisierung der Gesellschaft gehen Menke zufolge Hand in Hand und haben denselben Grund: die Ermächtigung des Eigenwillens der Subjekte durch die Form der subjektiven Rechte.
614
Ebd., S. 325. Ebd., S. 325 u. 331 ff. 616 Ebd., S. 319. 617 Ebd., S. 314. 618 Menke/Raimondi, Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, 247 f.; vgl. auch Menke, Kritik der Rechte, S. 356 f. 619 Menke, Kritik der Rechte, S. 314. 620 Vgl. Marx, in: Marx Engels Werke, 347, 366. 621 Menke, Kritik der Rechte, S. 315 u. 8. 622 Ebd., S. 8. 623 Marx, in: Marx Engels Werke, 347, 366, siehe vertiefend hierzu auch Wihl, Aufhebungsrechte. Form, Zeitlichkeit und Gleichheit der Grund- und Menschenrechte, S. 213 ff. 615
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aa) Privatisierung am Beispiel des Rechts der Klage Die subjektiven Rechte zeichnen sich in Menkes Darstellung durch eine immanente Politizität aus, wodurch sie als Rechte, die zur Teilnahme an der Rechtserzeugung ermächtigen, ausgestaltet seien.624 Damit einher gehe eine „Privatisierung des Öffentlichen“, welche am Beispiel der Klage verdeutlicht wird. Menke erläutert in diesem Zuge, inwiefern neben dem Privatrecht auch das Öffentliche Recht in den Dienst des Eigenwillens des Subjekts gestellt werde.625 Das Klagerecht sei politischer Natur, da es das Subjekt in die Lage versetze, an der staatlichen Willensbildung zu partizipieren und betreffe – anders als der privatrechtliche Anspruch – das Verhältnis zwischen Bürgerin und Staat. Systematisch sei das Klagerecht, welches ebenfalls die Ermächtigung des Eigenwillens zum Inhalt habe, zwischen „privatem Anspruch und politischem Grundrecht“626 zu verorten. In den „traditionellen Ordnungen“, die den „gerechten Anteil“ eines jeden bestimmten,627 stünden in erster Linie die hieraus resultierenden Verpflichtungen zur Achtung dieser Anteile im Vordergrund.628 Die Klägerin sei lediglich eine Repräsentantin der tangierten Gerechtigkeitsordnung, da es „[i]m traditionellen Verständnis [der] Sinn [der Klage ist], an der Wiederherstellung der gerechten Ordnung mitzuwirken“. Auf die spezifisch betroffene Klägerin komme es nicht an, da sie „nicht für sich, sondern für das Recht spreche“.629 Die Möglichkeit der Klägerin, am Prozess der Wiederherstellung der Gerechtigkeit teilzunehmen, sei in den traditionellen Ordnungen dementsprechend nicht dadurch begründet, dass die Verletzung ihren speziellen Anteil betroffen habe.630 Im bürgerlichen Recht werde das Klagerecht hingegen aus dem Anspruch abgeleitet, sein Zweck sei es, der Sicherung des „Eigenen“ des Subjekts zu dienen. Sei das traditionelle Klagerecht demnach auf die Wiederherstellung der Gerechtigkeit gerichtet, wobei die Klägerin eine nachgeordnete Rolle spiele, so ziele das „bürgerliche Klagerecht“ lediglich darauf ab, dem Subjekt die Möglichkeit zu gewähren, die „Rechtlichkeit seines Eigenen“ herauszustellen.631 In der Klage werde dasjenige Recht geltend gemacht, welches das Subjekt dem anderen Subjekt gegenüber bereits inne habe.632 Werde das Klagerecht mit Bernhard Windscheid als „Ausfluß des privatrechtlichen Anspruchs“ verstan624 625 626
451.
Vgl. hierzu oben, S. 58 ff. der vorliegenden Arbeit. Menke, Kritik der Rechte, S. 226 ff. Menke, in: Der Staat im Recht. Festschrift für Eckart Klein zum 70. Geburtstag, 439,
627 Näher dazu vgl. das Kapitel „Der moderne Anspruchsbegriff“ auf S. 37 ff. der vorliegenden Arbeit. 628 Menke, Kritik der Rechte, S. 227. 629 Ebd., S. 233. 630 Ebd., S. 233. 631 Ebd., S. 234. 632 Ebd., S. 230.
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den,633 müsse die Rechtsordnung dem Subjekt das Recht zu klagen gewähren, „weil e[s] einen privatrechtlichen Anspruch hat“.634 Aus rechtswissenschaftlicher Perspektive kann das von Menke Beschriebene zunächst mit der Klagebefugnis i. S. v. § 42 II VwGO assoziiert werden, die als Sachurteilsvoraussetzung die Verletzung eines eigenen Rechts des Klägers erfordert, da die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG eine objektive Überprüfung der Rechtmäßigkeit beispielsweise eines Verwaltungsaktes nicht miteinschließt.635 Allerdings ist die Klagebefugnis eine Voraussetzung im Verfahren der Bürgerin gegen den Staat, das heißt grundsätzlich im subordinationsrechtlichen Verhältnis. Menkes Argumentation hinsichtlich der „Privatisierung des Öffentlichen“ am Beispiel der Klage geht indes von einem privatrechtlichen Anspruch aus, der im bürgerlichen Recht der Klage zu einem Anspruch der Bürgerin gegen den Staat auf Durchsetzung dieses aus dem Gleichordnungsverhältnis resultierenden Anspruchs führt. Doch auch unter Zugrundlegung dieser privatrechtlichen Ebene finden sich in der Rechtsordnung Prinzipien, die Menkes Überlegungen widerspiegeln. Nicht ausdrücklich geregelt, aber dennoch ein grundlegendes Prinzip der Zivilprozessordnung ist das Vorhandensein der Prozessführungsbefugnis als Prozessvoraussetzung.636 Diese bestimmt, dass grundsätzlich lediglich eigene Rechte eingeklagt werden können637 und entsprechend der Dispositionsmaxime oder auch dem Grundsatz der „Parteiherrschaft“ kommt es nur auf Veranlassung der Parteien überhaupt erst zum Verfahren.638 Die Prozesspartei oder auch das Subjekt erscheint insofern nicht als Repräsentant einer verletzten Gerechtigkeitsordnung, sondern die Klageerhebung ist grundsätzlich an die Prämisse der persönlichen Betroffenheit geknüpft. Menke geht es an dieser Stelle jedoch nicht um eine moralische Kritik, die etwa auf hieraus erwachsende egoistische Verhaltensweisen gerichtet sein könnte, vielmehr möchte er, entsprechend seinem genealogischen Anliegen, den Aspekt der Instrumentalisierung des Klagerechts für das private Wollen auf die subjektive Form der Rechte zurückführen. Der privatrechtliche Anspruch sei durch die subjektive Form der Rechte als „rechtlicher Anspruch auf Vorrechtliches – auf den Eigenwillen des Subjekts“ ausgestaltet, was sich auf das Klagerecht auswirke.639 Menke kritisiert, 633 Näher zu den auf Windscheid zurückführbare Entwicklungen des Klagerechts bei Sheplyakova, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2016, 45, 45 ff. 634 Menke, in: Der Staat im Recht. Festschrift für Eckart Klein zum 70. Geburtstag, 439, 447. 635 Schmidt-Ko¨ tters, in: BeckOK VwGO, § 42, Rn. 108 ff. 636 Hu¨ ßtege, in: Thomas/Putzo ZPO Kommentar, § 51, Rn. 20 f. 637 Das prominenteste Beispiel für die partielle Durchbrechung dieses Grundsatzes stellt die Verbandsklage dar, im Zuge derer entsprechend ermächtigte Verbände nicht die eigenen Rechte geltend machen, sondern im öffentlichen Interesse tätig werden, vgl. Lindacher/Hau, in: Mu¨ nchener Kommentar zur ZPO Bd. 1, Vorbemerkung zu § 50, Rn. 88 ff. 638 Seiler, in: Thomas/Putzo ZPO Kommentar, Einleitung Prozessuale Grundbegriffe, Rn. 5. 639 Menke, Kritik der Rechte, S. 234 f.
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dass „[i]n der Rechtsklage […] private Ansprüche politisiert und politische Erfolge privatisiert“640 werden. Die Rechtsordnung erkenne den privatrechtlichen Anspruch und damit den Eigenwillen der Subjekte als Anstoß für ihr eigenes Handelns an.641 So komme es zu einer Abhängigkeit des Klagerechts und damit letztlich der Rechtsordnung vom privaten Wollen der Subjekte, das private Wollen werde mit anderen Worten zur Maßgabe des Rechts. Menke zufolge hat sich das „öffentliche Recht zum Medium privater Ermächtigung“642 entwickelt. bb) Privatisierung am Beispiel der Ermächtigung durch Grundrechte Als zweites Beispiel für die „Privatisierung des Öffentlichen“ dienen die Grundrechte.643 Wie bereits beschrieben, geht Menke davon aus, dass die Grundrechte die subjektiven Rechte als „Regierungsform“ festlegen, wodurch der Eigenwille der Subjekte gesichert wird. In ihrer Ausgestaltung als subjektive Rechte müssten die Grundrechte neben der privaten Ermächtigung des Subjekts auch die politische Ermächtigung, die zur Mitbestimmung über die inhaltliche Ausgestaltung der Rechte befähigt, sicherstellen. Anders als im Klagerecht sei die Beteiligung der Subjekte an der Rechtserzeugung durch die Grundrechte nicht auf ihren persönlichen Fall begrenzt, sondern biete die Möglichkeit grundsätzliche Veränderungen der Rechtsordnung auf demokratische Weise herbeizuführen.644 Der Eigenwille des auf diese Weise an der Willensbildung des Staates beteiligten Subjekts findet auf diesem Wege Eingang in die Bestimmung der (Grund-)Rechte. Hierdurch werde die Äußerung des Eigenwillens „politisch“, während das Korrektiv der Gleichheit von privaten Meinungen abhängig gemacht werde.645 Die Beteiligung der Subjekte durch die Grundrechte führe folglich zur Privatisierung der Politik.646
3. Soziale Herrschaft Die Ermächtigung des Eigenwillens bewirke neben der skizzierten Entpolitisierung der Gesellschaft außerdem die Ermöglichung „neue[r] Formen der Herrschaft“ in der bürgerlichen Gesellschaft.647 Wie zuvor angeklungen ist, steht die subjektive Form der Rechte in Menkes Analyse in vielerlei Hinsicht in engem Zu640
451. 641 642 643 644 645 646 647
Menke, in: Der Staat im Recht. Festschrift für Eckart Klein zum 70. Geburtstag, 439, Ebd., 439, 448. Menke, Kritik der Rechte, S. 235. Ebd., S. 226. Ebd., S. 239. Ebd., S. 239 f. Ebd., S. 243. Ebd., S. 313.
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sammenhang mit Herrschaftssystemen. An dieser Stelle geht es nun weniger um die Herrschaft des Rechts selbst, vielmehr soll besonderes Augenmerk auf die Herrschaft, die die subjektiven Rechte innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft hervorrufen, gelegt werden. Der Begriff der Herrschaft umfasst bei Menke nicht nur Machtverhältnisse in politisch institutionalisierten Gefügen,648 sondern ebenfalls solche, die sich in sozialen Strukturen der Gesellschaft manifestieren.649 Durch die Autonomisierung des Sozialen seien die Subjekte der Macht dieser sozialen Bereiche ausgeliefert.650 Das Recht, welches als Korrektiv auf den Selbstkonstitutionalisierungsprozess der sozialen Sphären einzuwirken versuche,651 agiere stets nur reaktiv, statt „reflexiv politisch“652. Zwar sei die bürgerliche Gesellschaft zum einen eine „freie Gesellschaft“, da sie auf den Eigenwillen der Subjekte zurückführbar sei und jedes Individuum als Rechtsperson anerkenne.653 Die Ermächtigung des Eigenwillens bringe die bürgerliche Gesellschaft als eine „Gestalt des Sozialen“ hervor, die sich statt an Sittlichkeits- oder Tugendidealen allein am Eigenwillen der Subjekte orientiere. Auf der anderen Seite sei die bürgerliche Gesellschaft jedoch eine „unfreie […] Gesellschaft der Herrschaft“654, in der das Subjekt gleichzeitig herrsche und beherrscht werde. Mit Marx geht Menke davon aus, dass die bürgerliche Gesellschaft nur unter der Voraussetzung eine „Gesellschaft der Herrschaft“ sein könne, dass sie zugleich eine „Gesellschaft der Freiheit“ sei. Für die Herausbildung sozialer Herrschaft sei es essentiell, dass der Staat die Bürgerinnen als Gleiche anerkenne und ihnen dementsprechend gleiche Rechte gewähre.655 Erst die „Gleichheit der Rechte“ ermögliche Herrschaft.656 Die genaue Analyse der beiden Performanzen der Form der subjektiven Rechte – Erlaubnis und Ermöglichung657 – lässt Menke zwei Gestalten sozialer Herrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft erkennen und erlaubt ihm somit über Marx hinaus zu gehen.658 Marx habe lediglich diejenige Gestalt sozialer Herrschaft erkennen können, die aus der Ermächtigung des Eigenwillens in der Performanz der Gewährleistung einer privaten Sphäre der Willkür resultiere, namentlich „Herrschaft als Ausbeutung und Zwang“. Aufgrund seines dichotomen Verständnisses der Ermächtigung durch subjektive Rechte, das gleichsam die Gewährleistung der Teilhabe am Sozialen miteinschließt, 648
Ebd., Anm. S. 455 f., Fn. 206. Ebd., S. 268. 650 Ebd., S. 259. 651 Menke, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2016, 71, 75. 652 Assheuer/Menke, „Unsere Zerrissenheit ist doch das Beste an der Moderne, was wir haben!“, 10. 05. 2017, in: Zeit Online. 653 Menke, Kritik der Rechte, S. 273. 654 Ebd., S. 268. 655 Ebd., S. 270. 656 Ebd., S. 271. 657 Ebd., S. 89. 658 Menke, in: Trivium. Revue franco-allemande de sciences humaines et sociales – Deutsch-französische Zeitschrift für Geistes- und Sozialwissenschaften 2009, 1, 4. 649
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identifiziert Menke darüber hinaus die „Normalisierung“ als die zweite Gestalt sozialer Herrschaft.659 a) „Ausbeutung“ Hinsichtlich der Erlaubnis privater Willkür – das heißt an dieser Stelle hinsichtlich der Herrschaft im Sinne von „Ausbeutung“660 – illustriert Menke den „dialektischen Umschlag […] von rechtlicher Gleichheit und Freiheit in soziale Herrschaft“ zunächst mit Marx’ Analyse des Verhältnisses von „Arbeiter“ und „Kapitalist“661. Im Privatrecht werde die Ermächtigung des Eigenwillens dadurch realisiert, dass jedem Subjekt das gleiche Recht zum „willkürlichen Erwerben und Verfügen über Sachen“662 zuerkannt werde. Die „Gleichheit der Freiheit“ werde im Kontext dieses Konzepts als „Gleichheit des privaten Gebrauchens und Verfügens“ definiert.663 Alle seien Rechtsperson und werden als Gleiche und Freie angesehen.664 Auf dieser Basis könne jedes Subjekt im Rechtsverkehr frei und gleich agieren, Ware gegen Ware tauschen und eigene Belange verfolgen. Dabei werde „Arbeitskraft“ wie jede andere Ware auch behandelt, wodurch die „spezifische Art“ der Arbeitskraft übersehen werde. Als wesentliches Merkmal des privatrechtlichen Eigentumserwerbs beschreibt Menke das Recht zum „Gebrauch“, welches er ebenso hinsichtlich des Erwerbs von Arbeitskraft annimmt.665 Ausgehend von der Betrachtung verschiedener Waren unter dem Gesichtspunkt des „Gebrauchs“ stelle sich das Spezifische der Arbeitskraft folgendermaßen dar: Der Unterschied zwischen der „Ware Arbeitskraft“ und anderen Waren sei, dass der Gebrauch von Arbeitskraft die Ausübung von Arbeit darstelle. Die Arbeiterin leiste ihre Arbeit, indem sie ihre Arbeitskraft gebrauche. Unter der Prämisse, dass der Eigentumserwerb sich durch das Erlangen eines Rechts zum Gebrauch auszeichnet, deutet Menke den Erwerb von Arbeitskraft als ein Recht zum Gebrauch des Gebrauchs der Arbeitskraft. Der Erwerb anderer Waren gebe der Käuferin das Recht auf Gebrauch dieser Sache, der Erwerb von Arbeitskraft gebe der Käuferin dementsprechend das Recht auf den Gebrauch der Arbeitskraft der Arbeiterin. Da die Arbeiterin selbst in der Form arbeite, dass sie ihre Arbeitskraft gebrauche, erlange die Käuferin ein „Recht auf den Gebrauch dieses 659
Menke, Kritik der Rechte, S. 271. Dies ist nicht so zu verstehen, dass die Ermächtigung der Willkür zwangsläufig in die soziale Herrschaft in Gestalt von Ausbeutung umschlägt, Menke geht vielmehr davon aus, dass die beiden Formen der Ermächtigung des Eigenwillens und die beiden Gestalten sozialer Herrschaft ineinander verschränkt sind; vgl. ebd., S. 290 ff. 661 Ebd., S. 272 ff. 662 Ebd., S. 272. 663 Ebd., S. 282. 664 Vgl. dazu Buckel, Subjektivierung und Kohäsion. Zur Rekonstruktion einer materialistischen Theorie des Rechts, S. 133: Das Recht ermögliche ein Äquivalenzverhältnis zwischen den Subjekten, so dass sie „gleich“ würden, obwohl sie ungleich seien. 665 Menke, Kritik der Rechte, S. 274. 660
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Gebrauchs“. In der Tradition von Marx stehend schließt Menke daraus, dass die Käuferin der „Ware Arbeitskraft“ ein Recht über die Arbeiterin erlangt: „Der Erwerb der Ware Arbeitskraft bedeutet ein Recht auf Herrschaft über den Arbeiter.“666 In einem solchen Verhältnis sei die Gleichheit und Freiheit, die das bürgerliche Recht kennzeichne, nicht mehr gegeben, vielmehr ermögliche erst die Anerkennung von Gleichheit und Freiheit die Verkehrung in ihr jeweiliges Gegenteil. Erst das Ausgehen von Gleichheit und Freiheit lasse das Schließen von Verträgen dieser Art zu, die wiederum notwendig sind, um einen „Tausch von Arbeitskraft gegen Lohn“ zu realisieren.667 Indem das Recht den Anspruch von Gleichheit und Freiheit durchsetze, schaffe es die Möglichkeit sozialer Herrschaft in Gestalt der Ausbeutung.668 Mit Weber stellt Menke heraus, dass die Arbeiterin und die Unternehmerin sich zwar grundsätzlich frei und gleich gegenüberstehen, jedoch habe eine arbeitssuchende Person faktisch keine Möglichkeit auf Arbeitsbedingungen gestaltend einzuwirken.669 Die Unternehmerin hingegen sei qua ihrer mächtigeren Marktposition in der Lage, die Bedingungen nach ihren Vorstellungen zu gestalten und der Arbeiterin zu diktieren. Für Weber ist daher das „Resultat der Vertragsfreiheit […] die Eröffnung der Chance, durch kluge Verwendung von Güterbesitz diesen unbehindert durch Rechtsschranken als Mittel der Erlangung von Macht über andere zu nutzen.“670 Der Richtungswechsel, der in der Herausbildung des modernen Rechts stattgefunden habe – von einem vorschreibenden, verbietenden Charakter hin zur Ermöglichung und Erlaubnis671 – bedinge demzufolge die Steigerung von Zwang, statt die Freiheit der Subjekte auszubauen. Menke geht es hierbei nicht ausschließlich um die spezielle „ökonomische Ausbeutung“, sondern er begreift diesen Umstand mit Weber als Erscheinungsform eines generell bestehenden Machtverhältnisses,672 das „jegliche Formen der Ausnützung […] asymmetrische[r] Machtpositionen der Klassen“673 umfasst. Der Zwang sei nicht allein auf die Arbeiterklasse begrenzt, denn auch die Unternehmerin oder die Kapitalistin seien letztlich gezwungen, sich den Gesetzen des Marktes zu unterwerfen. Zwangsmittel ist dabei nach Weber die Gefahr des „Verlustes an ökonomischer Macht, unter Umständen von ökonomischen Existenzmöglichkeiten
666
Ebd., S. 275. Ebd., S. 272 ff. 668 Ebd., S. 277; siehe hierzu auch Faets, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2018, 386, 387 ff. 669 Menke, Kritik der Rechte, S. 279 f. 670 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, S. 562; siehe auch Menke, Kritik der Rechte, S. 279 f. 671 Menke, Kritik der Rechte, S. 89. 672 Ebd., S. 279. 673 Ebd., Anm. S. 461, Fn. 252. 667
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überhaupt.“674 Am Ende des Exkurses über Freiheit und Zwang im bürgerlichen Recht bei Weber kommt Menke zu seiner Ausgangsthese zurück, namentlich, dass das bürgerliche Recht nicht nur trotz, sondern gerade weil es die „Gleichheit der Freiheit“ verwirklicht, soziale Herrschaft hervorbringt.675 Erst durch die Ermächtigung als freies und gleiches Subjekts, wie sie durch die Form der subjektiven Rechte vollzogen werde, werde der soeben beschriebene Mechanismus ermöglicht. Daher nennt Menke das bürgerliche Recht und das in ihm enthaltene Privatrecht „herrschaftskonstitutiv“676. b) „Normalisierung“ „Konstitutiv“ für die Herrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft ist für Menke darüber hinaus das Sozialrecht677 als zweites „Rechtskonzept“ des bürgerlichen Rechts.678 Als Aufgabe des Sozialrechts beschreibt Menke die Sicherung des „privaten Vermögen[s] der Subjekte, ihre Interessen zu verwirklichen, indem [es] sie zur Teilhabe am Sozialen ermächtigt“679. Die „Gleichheit der Freiheit“ werde hier dementsprechend als die „Gleichheit der sozialen Teilhabe“ definiert.680 Es gehe darum, jedem „das gleiche Recht auf soziales Leben“ zu gewährleisten, beispielhaft erwähnt Menke hier das Recht auf Bildung und das Arbeitsrecht.681 Mit der These von der konstitutiven Wirkung des Sozialrechts für die Herrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft leitet er die Analyse des Zusammenhangs von Herrschaft und der zweiten Performanz der modernen Form der Rechte – die „Ermöglichung von Interessen“ – ein. Sei die „rechtliche Erlaubnis der normative Mechanismus, der […] Ausbeutung hervorbringt“, so sei „die rechtliche Ermöglichung […] der Mechanismus, durch den sich die soziale Normalisierung vollzieht.“682 Er wendet sich damit gegen jene Auffassung, die das Sozialrecht als Resultat des „politischen Kampfes“ gegen die Herrschaftsverhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft begreift und möchte herausstellen, dass gerade das Gegenteil der Fall ist: Das Sozialrecht wende sich nicht gegen diese Herrschaft, sondern stelle eine Bedingung für selbige dar. 674
Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, S. 563. Menke, Kritik der Rechte, S. 281. 676 Ebd., S. 276 u. 286. 677 In Anbetracht der Bandbreite dessen, was vom Begriff des Sozialrechts umfasst ist, wäre hier vermutlich eine stärkere Differenzierung seitens Menke angezeigt. Man denke nur an Ausformungen wie die der Tarifautonomie oder der Selbstorganisation, deren Struktur sich grundlegend von den klassischen Bereichen der sozialen Sicherung unterscheidet. 678 Ebd., S. 282 f. 679 Ebd., S. 293. 680 Ebd., S. 282. 681 Ebd., S. 285; vgl. auch Menke, in: Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis, 273, 285 ff. 682 Menke, Kritik der Rechte, Anm. S. 424 f., Fn. 192; siehe hierzu auch Menke, Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, S. 11. 675
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Die Herrschaft, die aus dem Sozialrecht resultiere, beschreibt Menke als Herrschaft der Gesellschaft über die Individuen, oder auch als „normalisierende Herrschaft.“683 Diese kennzeichne das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgerinnen, womit die „normalisierende Herrschaft“ zur „Regierungsform des neuen Staates“ geworden sei.684 Menke zeigt an dieser Stelle eine „autoritäre Dimension des Sozialstaats“685 auf. Angestrebt werden nicht „Ausbeutung und Zwang“, sondern die Deutungshoheit in den Fragen, was die „soziale Teilhabe“ charakterisiere und welche ihre Voraussetzungen seien. Dabei sei das ursprüngliche Ziel des Sozialrechts das „gleiche Recht auf soziales Leben“686. Um im Wege sozialer Teilhabe die Mittel zur Verwirklichung der eigenen Interessen zu erlangen, müsse sich das Subjekt an diese Bedingungen anpassen, wodurch es „normalisiert“ werde.687 Das Sozialrecht sei konstitutiv für die „normalisierende Herrschaft“, so wie das Privatrecht konstitutiv für die „kapitalistische Herrschaft“ sei.688 c) Ermächtigung als Bedingung sozialer Herrschaft Umgesetzt werden „Ausbeutung“ und „Normalisierung“ durch das Recht. Dabei sei es die Inanspruchnahme der Rechte, die die Subjekte zu Subjekten der Herrschaft werden lasse: Herrscherin und/oder Beherrschte werde man durch die Ausübung subjektiver Rechte. Folglich sei die Berechtigung Bedingung für Beherrschung, woraus Menke ableitet, dass „beherrscht zu werden nicht [heißt] entrechtet zu sein.“689 Dementsprechend wirke sich „Ausbeutung“ als eine der „beiden Grundgestalten bürgerlicher Herrschaft“ auf Subjekte aus, die in ihrer „privaten Sphäre beliebiger Entscheidungen“ zur Ausübung von Willkür ermächtigt werden. Gerade durch die „aktive, freie“ Entscheidung für die Berechtigung privater Willkür, werde die Möglichkeit der Ausbeutung eröffnet. Durch die Inanspruchnahme dieses subjektiven Rechts werde die Herrschaft von freien und gleichen Subjekten über andere freie und gleiche Subjekte, die sich in erster Linie durch Verträge realisiere, ermöglicht. Indem sich die freien Subjekte ausgestattet mit gleichen Rechten gegenüberstehen, könnten Subjekte „Macht über andere Subjekte“690 gewinnen. Sie wirke sich demnach im horizontalen Gleichordnungsverhältnis der Subjekte untereinander aus, daher kategorisiert Menke die „Ausbeutung“ als „intersegmentäre Herrschaft“.691 683 684 685 686 687 688 689 690 691
Menke, Kritik der Rechte, S. 286. Ebd., S. 287. Loick, Juridismus. Konturen einer kritischen Theorie des Rechts, S. 183. Menke, Kritik der Rechte, S. 285. Ebd., S. 289. Ebd., S. 288. Ebd., S. 289. Ebd., S. 291. Ebd., S. 290.
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Die Herrschaft in Gestalt der „Normalisierung“ funktioniere ebenso durch die Inanspruchnahme der Ermächtigung durch subjektive Rechte. Hier werden statt der „Willkürsubjekte“ hingegen die „Interessensubjekte“ zum Gegenstand der Herrschaft, indem sie das Recht, „Vermögen durch soziale Teilhabe zu erlangen“, in Anspruch nehmen. Die Ausübung der „Berechtigung von Interessen an Vermögen“ ermögliche die „Normalisierung“. Hier liege ein weiterer Unterschied zur Herrschaft in Gestalt von „Ausbeutung“: Normalisierung finde nicht zwischen den Subjekten statt, sondern im „asymmetrischen Verhältnis“ der sozialen Institution zu dem Subjekt, zwischen Staat und Bürgerin. Im Gegensatz zur „intersegmentäre[n] Herrschaft“ der Ausbeutung sei die Normalisierung demnach eine „institutionelle Herrschaft“ auf vertikaler Ebene.692 d) Verschränkung von Herrschafts- und Ermächtigungsformen Menke bleibt jedoch nicht bei der eindeutigen Kategorisierung von einerseits Ausbeutung als Resultat der Ermächtigung von Willkür und andererseits Normalisierung als Resultat der Ermächtigung von Interessen stehen. Vielmehr könne die Berechtigung der Willkür ebenso Normalisierung hervorbringen, wie die Berechtigung der Interessen Zwang und Ausbeutung hervorrufen könne. Die beiden Herrschaftsgestalten der bürgerlichen Gesellschaft seien in der Art miteinander verknüpft, dass sie sich gegenseitig hervorbringen.693 Trotz der systematischen Entscheidung, die Auswirkungen der subjektiven Form der Rechte in der vorliegenden Arbeit nicht in derselben inhaltlichen Tiefe wie die von Menke rekonstruierte Beschaffenheit des modernen Rechts zu behandeln, scheint es aus rechtswissenschaftlicher Perspektive gewinnbringend zu sein, den Zusammenhang zumindest in gebotener Kürze darzustellen, da sich in diesem Abschnitt von Kritik der Rechte mit der Eingliederungsvereinbarung die konkreteste Bezugnahme Menkes auf ein Institut des geltenden Rechts findet. aa) Ermächtigung der Willkür und Normalisierung Voraussetzung des intersegmentären Herrschaftsverhältnisses der Ausbeutung sei es, dass sich die betreffenden Subjekte rechtlichen Rahmenbedingungen unterwerfen. Ohne rechtliche Vorgaben sei die Ermächtigung der Willkür durch Sicherung der jeweiligen privaten Sphären nicht realisierbar. Wie schon im Rahmen der Strukturanalyse der modernen Form der Rechte dargelegt wurde,694 funktioniere die „rechtliche Gewährleistung der Willkürfreiheit“ nur mithilfe von am Gleichheitsideal ausgerichteten Begrenzungen. Die Ermächtigung der Willkür entlaste die Subjekte zwar von Ansprüchen, die aus sittlicher Perspektive an sie gestellt werden 692 693 694
Ebd., S. 289 f. Ebd., S. 290 ff. Vgl. S. 37 ff. der vorliegenden Arbeit.
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könnten, allerdings werde weiterhin verlangt, dass sich das Subjekt den Beschränkungen im Namen der Gleichheit füge. Um jedem Subjekt das größtmögliche Maß an Willkürfreiheit gewähren zu können, seien Begrenzungen notwendig. Diese Begrenzungen wirken sich indes lediglich in „quantitativer“ Hinsicht aus und schränken die Freiheit des Subjekts nicht auf „qualitativer“ Ebene ein, da die Möglichkeit, eigene Ziele willkürlich zu wählen, unberührt bleibe.695 Aus diesem Zusammenhang schließt Menke auf eine Abhängigkeit der intersegmentären Herrschaft von der institutionellen Herrschaft. Die institutionelle Herrschaft, die die Partizipation der Subjekte am Recht regle, sei Voraussetzung für die Herrschaft der Subjekte im horizontalen Verhältnis übereinander. Um die Berechtigung für ihre Handlungen im Gleichordnungsverhältnis zu erlangen, müssten sich die Subjekte zunächst den gesetzlichen Regelungen hinsichtlich der „Teilhabe am Recht“ fügen. In dem Moment, in dem das Subjekt die Grenzen, die die Gleichheit zieht, überschreitet, wird Menke zufolge der institutionelle Herrschaftscharakter offenbar und das Subjekt wird normalisiert („Normalisierung durch Normierung“696). Um die Ermächtigung der Willkür in Anspruch nehmen zu können, müsse sich das Subjekt folglich den gesetzlichen Rahmenbedingungen anpassen, mit anderen Worten: Das Recht herrsche über die Subjekte, indem es ihre Willkür ermächtige, denn hierdurch setzen sich die Subjekte der „Normalisierung“ aus und werden zu „anpassungswilligen Gliedern des Rechts“697. Die Ermächtigung der Willkür schaffe folglich nicht lediglich Herrschaft im Sinne von Ausbeutung, sondern ebenfalls Herrschaft in Gestalt von Normalisierung. bb) Ermächtigung der Interessen und Ausbeutung oder Zwang Über die dargestellte Abhängigkeit der intersegmentären von der institutionellen Herrschaft befördere die institutionelle „sozialrechtliche Normalisierungsherrschaft“ außerdem die intersegmentäre Herrschaft. Die Ermöglichung von Interessen der Subjekte werde vom Sozialrecht mittels der Ermächtigung zu sozialer Teilhabe gewährleistet.698 Menke arbeitet vor dem Hintergrund des Zusammenhangs vertikaler und horizontaler Herrschaft zwei Funktionen der Gewährleistung sozialer Teilhabe – und damit der Ermächtigung von Interessen an Vermögen – für „die kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse“ heraus. Diese werden zum einen als „kompensatorisch“ und zum anderen als „produktiv“ beschrieben. Funktional betrachtet sei es die Aufgabe der Sozialpolitik durch die Sicherung sozialer Teilhabe jenes Ungleichgewicht aufzufangen, welches entstehe, wenn offenbar werde, dass der Gedanke des 695 696 697 698
Menke, Kritik der Rechte, S. 292. Ebd., S. 293. Ebd., S. 293. Ebd., S. 293.
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„gerechten Tauschs“ in der bürgerlichen Gesellschaft eine Illusion sei. Der Moment, indem dieses Konzept nicht mehr als Grundlage für die „kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse“ dienen könne, rufe ein Legitimationsvakuum hervor, welches durch soziale Teilhabe gefüllt werde. Die soziale Teilhabe in ihrer Ausprägung als „Wohlfahrtsstaat“ ermögliche dem Subjekt daher den „Konsum“, welcher die „inexistente politische Teilnahme“ ausgleichen solle. Diese Funktion der Sozialpolitik oder auch der sozialen Teilhabe versteht Menke als „kompensatorisch“.699 Die andere Funktion der Gewährleistung sozialer Teilhabe durch die Sozialpolitik sei produktiver Natur. Nachdem sich „sittliche Vergemeinschaftungsformen“ aufgrund der „Great Transformation“700 des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts in der bürgerlichen Gesellschaft zurückentwickelt haben, sei es notwendig geworden, die soziale Teilhabe in anderer Weise zu ermöglichen, damit jene Arbeitskraft produziert werden könne, die das Gelingen des Kapitalismus sicherstelle. Dies geschehe in der bürgerlichen Gesellschaft durch die Sozialpolitik. Die Sozialpolitik bringe das Proletariat bzw. „Lohnarbeiter“ hervor, die sich durch die Bereitschaft, ihre persönliche Arbeitskraft zu „verkaufen“, auszeichnen.701 Die Normalisierung schaffe ein zur Ware gewordenes Subjekt, welches den Kapitalismus in der vorliegenden Form vorantreibe, wenn nicht sogar ermögliche. Menkes Ansicht zufolge ergibt sich daraus ein Widerspruch der beiden Funktionen der Sozialpolitik. Die kompensatorische Funktion münde in der Ermöglichung von „Konsum“, während die produktive Funktion „Kommodifizierung“, das heißt also ein „Zur-Ware-werden“,702 bewirke.703 Die rechtliche Form, an die das Sozialrecht in der bürgerlichen Gesellschaft gebunden sei, um diese „kompensatorisch-produktive Doppelfunktion“704 der sozialen Teilhabe umzusetzen, sei die Form des subjektiven Rechts.705 Der sich an einem „postsittlichen Gerechtigkeitsprogramm“ orientierende „Wohlfahrtsstaat“ sei nicht mit einer Reaktivierung des sittlichen Rechts zu verwechseln, da die sozialen Intentionen ausdrücklich in der Form des subjektiven Rechts realisiert werden sollen.706 Die soziale Teilhabe werde in der subjektiven Form der Rechte gewährleistet, wodurch auch hier die subjektive Berechtigung im Vordergrund stehe. In dieser Form – das heißt im Wege der Sicherung des Eigenwillens – werde sowohl der Konsum ermöglicht, als auch die Kommodifizierung betrieben. Aus Sicht des Sozialstaates sei insofern problematisch, dass dasjenige, was das Subjekt durch die 699
Ebd., S. 294. Polanyi/Jelinek, The great transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. 701 Menke, Kritik der Rechte, S. 294. 702 Vgl. weiterführend Köhler, in: Wörterbuch Land- und Rohstoffkonflikte, 189, 189 ff. 703 Menke, Kritik der Rechte, S. 295. 704 Ebd., S. 295. 705 Ebd., S. 223. 706 Menke, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2008, 81, 99. 700
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soziale Teilhabe erlangt habe, Gegenstand der privaten Verfügung des Subjekts werde, womit es der normalisierenden Herrschaft des Staates entzogen sei. Der Grund dafür sei die rechtliche Form in der die soziale Teilhabe gewährleistet werde: das subjektive Recht. Der Einfluss normalisierender Herrschaft reiche lediglich aus, um die Ausgestaltung der sozialen Teilhabe zu bestimmen, darüber hinaus stoße sie auf eine Grenze, da das Erlangte Teil des privaten Bereichs des Subjekts werde. Mit anderen Worten sei das Resultat der Teilhabe der Normalisierung entzogen. In diesen Grenzen könne sich das Subjekt der Autorität der Sozialpolitik und auch der Arbeitswelt entziehen, was es dem Sozialstaat verunmögliche, im Rahmen der institutionellen Herrschaft die adäquate Inanspruchnahme seiner „Leistungen“ an das Subjekt sicherzustellen. An dieser Stelle nehme die staatliche Instanz eine Art Strategiewechsel vor: statt institutioneller Normalisierungsherrschaft komme nun die intersegmentäre, von Zwang geprägte Herrschaftsweise zur Anwendung.707 Es ist dieser Moment anhand dessen Menke belegen will, dass es auch im Verhältnis des Staates zur Bürgerin zu intersegmentärer Herrschaftsausübung komme und die Ermächtigung des Interesses an Vermögen nicht nur die Normalisierungsherrschaft, sondern ebenfalls „Ausbeutung“ hervorbringen könne. Hier werde auf der Basis „freiwilliger Selbstbindung“ ein Vertrag eingegangen,708 durch den letztlich Zwang angewendet werde.709 Wo der Staat mit Mitteln der institutionellen, normalisierenden Herrschaft seine Ziele nicht erreichen könne, weil die Form des subjektiven Rechts und die damit einhergehende Sicherung des Eigenwillens einen vollumfänglichen Einfluss verhindern, bediene er sich der intersegmentären Herrschaft. Als Illustration dieser These dient Menke die nach herrschender Meinung als öffentlich-rechtlicher Vertrag i. S. v. §§ 53 ff. SGB X710 zu kategorisierende Eingliederungsvereinbarung gemäß § 15 II SGB II. Dieser Darstellung zufolge ist die vertraglich organisierte intersegmentäre Herrschaft des Sozialstaates in Gestalt der Eingliederungsvereinbarung als die Erweiterung der staatlichen Kontrolle über den Zeitpunkt des Empfangens der Leistung hinaus zu verstehen, womit sie sich auch auf das Stadium, in dem die Voraussetzungen für die soziale Teilhabe durch das Subjekt bereits erfüllt sind, erstreckt. Mithilfe der institutionellen Normalisierungsherrschaft bestimmt der Sozialstaat die Modalitäten der sozialen Teilhabe. Für das dem Empfang der Leistungen nachgeschaltete Stadium bedient sich der Sozialstaat in seiner institutionellen Ohnmacht sodann des intersegmentären Instruments der Eingliederungsvereinba707
Menke, Kritik der Rechte, S. 295. Zur wachsenden Bedeutung des Instruments Vertrag im Sozialrecht vgl. Eichenhofer, in: Neue Zeitschrift für Sozialrecht 2004, 169, 169 sowie Spellbrink, in: ebd., 2010, 649, 654, der den Vertrag als wesentliches Steuerungselement im Leistungserbringungsrecht klassifiziert. 709 Zu Kritik der Eingliederungsvereinbarung als „normsetzendes Handeln in pseudokonsensuellem Gewand“ in der rechtswissenschaftlichen Literatur vgl. Hahn, in: Kommentar zum Sozialrecht, § 15 SGB II, Rn. 5 noch in der Altauflage von 2019. 710 Vgl. zum Streitstand hinsichtlich der Rechtsnatur der Eingliederungsvereinbarung Kador, in: SGB II Grundsicherung für Arbeitsuchende Kommentar, § 15, Rn. 8. 708
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rung, um dem Subjekt auch in diesem Zustand seine Bedingungen diktieren zu können.711 Die Form des subjektiven Rechts spielt dabei insofern eine Rolle, als dass sie die institutionelle Ohnmacht des Staates an dieser Stelle hervorruft, da die soziale Teilhabe und das aus ihr Erlangte aufgrund eines subjektiven Rechts gewährt werden, wodurch sie der freien Verfügung des Subjekts unterliegen und dem staatlichen Einfluss entzogen sind. Es zeigt sich, dass nach dieser Argumentation die Ermächtigung des Interesses an Vermögen nicht nur die Normalisierungsherrschaft, sondern ebenfalls Herrschaft durch Ausbeutung und Zwang hervorruft. Das Sozialrecht ist demnach nicht dazu geeignet, die privatrechtlichen Herrschaftsverhältnisse zu korrigieren, da es sie zum einen selbst hervorbringt und zum anderen die Normalisierung zur Voraussetzung der sozialen Teilhabe macht.712 Menke geht vielmehr davon aus, dass sich das bürgerliche Recht seiner herrschaftskonstitutiven Wirkung bewusst ist,713 weshalb es zwar eine Art Selbstkritik betreibe, jedoch führten die beiden bürgerlichen Rechtskonzepte des Privatrechts und des Sozialrechts nicht zu einer effektiven Modifizierung des Systems, sondern nutzten die Kritik am jeweils anderen Konzept lediglich zur eigenen „Rechtfertigung“.714
4. Zusammenfassend zu den Auswirkungen der Form Die Entscheidung für die Geltung des „sittlich indifferenten Eigenwillens“715 bildet Menke zufolge in rechtlicher Hinsicht den einzigen normativen Maßstab der bürgerlichen Gesellschaft, sodass die Subjekte durch die subjektive Form der Rechte dazu ermächtigt werden, vom „Sittlichen zu abstrahieren“ und „das Soziale zu appropriieren“.716 Die politische Teilnahme werde gleichermaßen in Form eines subjektiven Rechts als Möglichkeit gewährt, wodurch der Politik entzogene soziale Sphären hervorgebracht werden und die Macht der Politik begrenzt werde.717 Die Autonomie, die das Subjekt aufgrund der subjektiven Form der Rechte erlange, bedinge gleichzeitig die Autonomie sozialer Sphären.718 In diesen autonomen oder 711 Vgl. in diesem Kontext das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 05. 11. 2019, in dem Sanktionen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten bei Alg-II Bezug ausdrücklich für zulässig erklärt wurden, BVerfG NJW 2019, 3703, 3708 f. 712 Menke, Kritik der Rechte, S. 305 f.; vgl. auch zustimmend Auer, Sittlichkeit ist halt perdu. Gleichheit hat ihren Preis: Christoph Menke wirft sich entschlossen in eine Kritik des subjektiven Rechts, 27. 01. 2016, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 713 Deitert/Wieland, in: Zeitschrift für philosophische Literatur 2016, 11, 15. 714 Menke, Kritik der Rechte, S. 304 f. 715 Ebd., S. 266 u. 313. 716 Ebd., S. 207. 717 Ebd., S. 317 f. 718 Ebd., S. 258 f.
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auch entpolitisierten sozialen Sphären bestehe die Gefahr der Monopolisierung im Sinne von „gesellschaftliche[n] Machtzusammenballungen“, was eine fortwährende staatliche Intervention notwendig mache, die jedoch stets nur reaktiv agieren könne.719 Die Legalisierung des Eigenwillens als Natürliches bewirke somit die Selbstentpolitisierung der Politik.720 Gleichzeitig habe sich das Öffentliche zu einem „Medium privater Ermächtigung“ entwickelt,721 wofür Menke die Klage und die Grundrechte exemplifizierend heranzieht.722 Die Form der subjektiven Rechte bringe auf diese Weise eine entpolitisierte bürgerliche Gesellschaft hervor, die gleichermaßen Freiheit und Unfreiheit verkörpere,723 da sich hier eine „Beherrschung durch Berechtigung“ vollziehe.724 In ihr schlage die „Ermächtigung des Subjekts“ in die „Ermöglichung sozialer Herrschaft“725 um, sodass Menke davon ausgeht, dass die Form der subjektiven Rechte konstitutiv für den Kapitalismus ist.726 Aufgrund des Versuchs die revolutionäre Forderung nach Gleichheit in Form von subjektiven Rechten zu realisieren, bringe die bürgerliche Verfassung zwar die „gleiche Geltung der Subjekte“ hervor, jedoch keine reale Gleichheit.727 Indem die Subjekte die rechtliche Erlaubnis der Willkür in Anspruch nehmen und sich aufgrund des ihnen zuerkannten Status als Gleiche gegenüberstehen, werde die intersegmentäre Herrschaft in Form von „Ausbeutung und Zwang“ ermöglicht.728 In ähnlicher Weise bewirke die Ermöglichung von Interessen, dass das Individuum zum Subjekt institutioneller „Normalisierungsherrschaft“ werde.729 Der Staat bediene sich indessen neben der institutionellen Herrschaftsform ebenfalls der intersegmentären Herrschaft, was Menke mit dem Institut der Eingliederungsvereinbarung belegen möchte.730 Darüber hinaus finde ein gegenseitiges Hervorbringen der beiden Herrschaftsformen statt, sodass selbst das Bewusstsein von der eigenen „herrschaftskonstitutiven“ Wirkung keine funktionierende Regulierung des Privatrechts durch das Sozialrecht bewirke.731 So entsteht bei Menke das resignative Bild einer von Herrschaft bestimmten bürgerlichen Gesellschaft, die 719
Ebd., S. 321 f. Ebd., S. 325. 721 Ebd., S. 235. 722 Ebd., S. 226 f. 723 Ebd., S. 268. 724 Ebd., S. 289; zustimmend Auer, Sittlichkeit ist halt perdu. Gleichheit hat ihren Preis: Christoph Menke wirft sich entschlossen in eine Kritik des subjektiven Rechts, 27. 01. 2016, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 725 Menke, Kritik der Rechte, S. 313. 726 Ebd., S. 311; weiterführend hierzu siehe Pistor, Der Code des Kapitals, S. 326 ff. 727 Menke, Kritik der Rechte, S. 337 u. 343. 728 Ebd., S. 272 ff. u. 289 f. 729 Ebd., S. 281 ff. 730 Ebd., S. 296. 731 Ebd., S. 303 ff. 720
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aufgrund der Ermächtigung des Eigenwillens der Subjekte im Wege der subjektiven Rechte ihre „Herrschaftslogik“ nicht zu durchbrechen vermag.732
III. Menkes Ansatz für ein „neues Recht“ Um den aufgeworfenen Problemstellungen zu begegnen, legt Menke im letzten Teil von Kritik der Rechte Ansätze eines Gegenkonzepts vor. Wenn auch dieses für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit von weniger großer Relevanz ist, so sollen der Vollständigkeit halber dennoch seine Eckpfeiler grob skizziert werden. Besonderes Augenmerk soll dabei auf Menkes Darstellung der Verquickung von „Sinnlichem“ und „Begrifflichem“733 in diesem „neuen Recht“ gelegt werden, da die Beschäftigung mit diesem Themenkomplex dazu beiträgt, Menkes grundlegende Kritik am positivistischen Materialismus des bürgerlichen Rechts nachzuvollziehen. Die Frage, auf die Menke mit seinem Gegenkonzept zu antworten versucht, formuliert Sonja Buckel pointiert: „Wie könnte also eine Selbstregierung ermöglicht werden, durch die die Einzelnen nicht zu passivierten Rechteinhaber*innen naturalisiert werden?“734 Entsprechend der Identifizierung der Form als Ursprung der aufgezeigten Defizite des „bürgerlichen Rechts“ soll die zu einem neuen Recht hinführende „Revolution“735 bei Menke mit dem Hinterfragen der Form der Rechte einsetzen736 und „radikal“ mit der bürgerlichen Form der subjektiven Rechte brechen.737 Menkes Gegenkonzept strebt ein Recht an, das sich selbst reflektiert, ohne – wie das bürgerliche Recht aufgrund der subjektiven Form der Rechte – entpolitisierte Sphären und Herrschaftssysteme hervorzubringen.738 Ziel ist es, ein Recht zu denken, welches die Selbstreflexion vollzieht, „ohne sie [zugleich] zu verleugnen“739. Systematisch tritt das „neue Recht“ demnach als eine weitere Erscheinung des „modernen Rechts“740 neben das „bürgerliche Recht“.
732
Ebd., S. 306 f. Ebd., S. 3 734 Buckel, in: Kritische Justiz 2017, 461, 470. 735 Menke, Kritik der Rechte, S. 347, 355, 367 ff. u. 373, passim. 736 Ebd., S. 312. 737 Ebd., S. 368; vgl. hierzu die Deutung dieses Formbruchs unter anderem als Abkehr von der öffentlich-rechtlichen Subjekttheorie und modifizierten Subjekttheorie bei Fischer-Lescano, in: Kritische Justiz 2017, 475, 485. 738 Menke, Kritik der Rechte, S. 314. 739 Ebd., S. 388; vgl. hierzu außerdem auch Menke, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 13, 25. 740 Menke, Kritik der Rechte, S. 395. 733
III. Menkes Ansatz für ein „neues Recht“
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Ausgangspunkt ist für Menke dabei eine „eigenwillige genealogische Lektüre“741 von Friedrich Nietzsches Deutung des „Sklaven-Aufstandes“,742 in der diese ihre Schwäche bejahen.743 Dieses Vorgehen begründet Menke damit, dass er die bürgerliche Revolution als jenen Moment ansieht, in dem die Erklärung der Gleichheit mit der Erklärung subjektiver Rechte gleichgesetzt werde, daher könne aus der Analyse dieses Moments die Diskrepanz zwischen der ursprünglichen Intention für die Form der Rechte und deren Umsetzung aufgezeigt werden.744 Die bürgerliche und die kommunistische Revolution seien stets in der Unterscheidung von „Herren und Knechten“ verhaftet geblieben, die „moderne Revolution der Gleichheit“ müsse sich davon emanzipieren und tiefer ansetzen.745 Statt der „Eigenrechte“, die die subjektive Form der Rechte hervorbringe, möchte Menke „Gegenrechte“ etablieren, die zur Verwirklichung von Politik „gleiche Rechte gegen die Politik in der Politik“ gewährleisten.746 Er beschreibt die Gegenrechte als „antipositivistische, antibürgerliche Gestalt der modernen Form der Rechte“,747 die die Teilnahmemacht des Subjekts gewährleistet und gleichzeitig die Ohnmacht der Nichtteilnahme sichert.748 Letzteres bedeute ein Recht auf Berücksichtigung der Nichtteilnehmerin, welches als „antipolitisches Grundrecht“ dennoch in Politik gründe.749 Die Ausgestaltung als Rechte auf Berücksichtigung bringe es mit sich, dass der „Mächtige […] keine Rechte“ habe, da dieser bereits an der Selbstregierung partizipiere und darüber hinaus nicht berücksichtigt zu werden brauche. In seiner Partizipation entscheide die Teilnehmerin mit über „Recht und Unrecht“, sodass es keines weiteren Rechts im Sinne eines Rechts auf Berücksichtigung bedürfe.750 Gleichzeitig bilde das passive Nichtteilnehmen den „unhintergehbare[n] Ausgangspunkt“ der Regierung, weshalb diese bei „Nichtberücksichtigung des Passiven“ ins Totalitäre abgleiten und sich „selbst zerstören“ würde. Um die Teilnahme aller und die Berücksichtigung jeder Nichtteilnehmerin sicherzustellen, sei die Regierung an ein „strikte[s], unbedingt herrschende[s] Grundgesetz“ gebunden, das als „(äußere) Darstellung des (inneren) Gesetzes der Regierung gegenüber der Re-
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So Buckel, in: Kritische Justiz 2017, 461, 470. Gemeint ist damit die französische oder auch bürgerliche Revolution, vgl. Nietzsche, in: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, Bd. 5, Bd. 5, 9, 67. 743 Menke, Kritik der Rechte, S. 377. 744 Ebd., S. 337 f. 745 Ebd., S. 369. 746 Ebd., S. 383. 747 Ebd., S. 395. 748 Ebd., S. 315. 749 Ebd., S. 371. 750 Ebd., S. 385. 742
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B. Rekonstruktion
gierung“ zu verstehen sei.751 An anderer Stelle konkretisiert Menke diesen Gedanken zu der Vorstellung von „Verfassungsgesetzen“, die die Ordnung sozialer Praktiken bestimmen und damit den Gegenpol der Gegenrechte bilden. Damit stellen sie zusammen mit den Gegenrechten einen der beiden „Rechtstypen“ dar, in deren Spannung das neue Recht besteht.752 Abgesehen von diesem „Grundgesetz“ sollen Entscheidungen stets nur im Hinblick auf einen Moment getroffen werden, aber zukünftige Entscheidungen dadurch nicht determiniert werden, sodass darüber hinaus kein unbedingt geltendes Recht mehr existiere.753 Zwar werde die politische Nichtteilnahme des Subjekts von den bürgerlichen „Eigenrechten“ ebenfalls berücksichtigt, allerdings begehe das „neue Recht“ im Gegensatz dazu nicht den Fehler der Naturalisierung dieser „Ohnmacht“.754 Das „neue Recht“ soll es dem Subjekt ermöglichen, gleichzeitig Teilnehmerin und Nichtteilnehmerin zu sein755 und damit die „ungerechte“ Umsetzung der „Gerechtigkeit der Spaltung“ im bürgerlichen Recht vermeiden.756 Während die „Eigenrechte“ des bürgerlichen Rechts letztlich Ansprüche auf einen vorrechtlich gegebenen, positivierten Eigenwillen darstellten, seien die Gegenrechte „Ansprüche auf ein – vorübergehendes und wiederkehrendes – Moment in dem politischen Prozeß des Rechts: das Moment der sinnlichen Affektion in seiner dialektischen Vermittlung mit dem anderen Moment des begrifflichen Bestimmens.“757 Die „Gegenrechte“ sollen die Berücksichtigung des Sinnlichen und des Passiven im Rationalen des aktiven Urteilens gewährleisten.758 Im Gegensatz zu dem „Begrifflichen, das urteilen kann“,759 scheint unter den Begriff des „Sinnlichen“, den Menke hier einführt, all das zu fallen, was nicht der Rationalität des Subjekts zuzurechnen ist, wie Empfindungen oder Affekte.760 Unter „Urteilen“ versteht Menke in diesem Zusammenhang Normierungs- und Formierungshandlungen, die Recht hervorbringen.761 Vollzogen werde das Urteilen durch die „Teilnahme an der sozialen Praxis und ihrer politischen Selbstregierung“.762 Das „Sinnliche“ bilde „das Andere des begrifflichen Urteilsvermögens“.763 Anders als der Eigenwille, an dem sich im bürgerlichen Recht das Urteilen über „Recht und Un751
Ebd., S. 400. Menke, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 13, 23 ff.; vgl. hierzu kritisch Zabel, in: MERKUR 2017, 69, 73, der diese Argumentation „doppelbödig“ nennt. 753 Menke, Kritik der Rechte, S. 401. 754 Ebd., S. 386 f. 755 Ebd., S. 397. 756 Näher dazu siehe das Kapitel „Die anthropologische Ambivalenz“ auf S. 65 ff. der vorliegenden Arbeit. 757 Menke, Kritik der Rechte, S. 388. 758 Fischer-Lescano, in: Kritische Justiz 2017, 475, 485. 759 Menke, Kritik der Rechte, S. 376. 760 Ebd., S. 373 ff. 761 Ebd., S. 373. 762 Ebd., S. 370. 763 Ebd., S. 378. 752
III. Menkes Ansatz für ein „neues Recht“
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recht“ orientiere, werde das „Sinnliche“ im „neuen Recht“ jedoch nicht zu einem Grund, sondern wirke als „Kraft“ in der Vermittlung mit dem „Begrifflichen“, woraus ein „neues Urteilen“ entstehe, welches sich durch einen beständigen Rückbezug auf das Sinnliche auszeichne, anstatt ausschließlich von der begrifflichen „Vernunft“ auszugehen.764 Das „Sinnliche“ werde nicht eigenständig „gegenüber“ dem „Urteilen“ berechtigt, sondern durch die Gegenrechte werde eine Berücksichtigung „im Urteilen“ bezweckt.765 Dementsprechend geht es nicht um ein Urteilen frei von Sinnlichkeit, sondern lediglich darum, dass das Urteilen keine vom Sinnlichen unabhängige Eigendynamik entwickelt. Dass das Sinnliche jedoch nicht wie im bürgerlichen Recht als letztinstanzlicher Grund verstanden werde, heißt zugleich, dass das „neue Urteilen“ nicht im Sinnlichen aufgehe, sondern dieses als „treibende Kraft“766 in sich wirken lasse.767 In Anbetracht der in diesem „neuen Recht“ vorgesehenen Vermittlungsakten zwischen „Sinnlichem“ und „Begrifflichen“ wird sein materialistischer Charakter augenfällig. Dadurch, dass das „Sinnliche“ jedoch als ein „Moment“ in der Vermittlung „mit seinem Gegenteil, dem Begrifflichen“ verstanden wird und nicht als „Gegebenes“, werde der Materialismus des „neuen Urteilens“ nicht positivistisch, sondern dialektisch betrieben.768 Auf diese Weise werde die zuvor herausgearbeitete „ontologische Grundbestimmung des modernen Rechts“769, namentlich die Anwendung eines dialektischen Materialismus, realisiert.770 Das bürgerliche Recht hingegen könne eine Vermittlung zwischen „Sinnlichem“ und „Begrifflichem“ im „Urteilen“ nicht denken. Diesen Positivismus überwinde das „neue Recht“, da es in ihm keine „Tatsachen des Wollens“ gebe und in das als veränderlich angesehene Sinnliche771 eingegriffen werde.772 Die Gegenrechte scheuen nicht zurück vor der Modifikation dessen, was sie berechtigen.773 Insofern werde das Nichtrecht im Recht 764
Ebd., S. 377 f. Ebd., S. 383. 766 Näher zu Menkes Begriff der „Kraft“ vgl. Menke, Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, S. 46 ff., weiterführend zudem Fischer-Lescano, Rechtskraft, S. 76 ff. 767 Menke, Kritik der Rechte, S. 377. 768 Ebd., S. 378 f. 769 Vgl. exemplarisch: ebd., S. 150. 770 Ebd., S. 371. 771 Ebd., S. 379 f. 772 Loick, Juridismus. Konturen einer kritischen Theorie des Rechts, S. 308. 773 Menke, Kritik der Rechte, S. 406; allerdings wird diesbezüglich nicht eindeutig herausgestellt, nach welchem Maßstab sich die beschriebenen Veränderungen des „Sinnlichen“ richten sollen. Klar ist insoweit nur, dass die Veränderung durch Berücksichtigung erfolgen soll. Zudem ist eine Orientierung an objektiven Sittlichkeitserwägungen aufgrund der Kritik, die Menke an der paideischen Ordnung Athens übt, nicht anzunehmen. Dennoch finden sich keine konkreten Anhaltspunkte, die eine Unterscheidung zwischen dem paideischen und dem neuen Recht unter diesem Gesichtspunkt gestatten würden. Zu einer möglichen Deutung der von Menke angestrebten Einwirkung auf das Sinnliche vgl. Loick, Juridismus. Konturen einer kritischen Theorie des Rechts, S. 310 ff. 765
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B. Rekonstruktion
zwar berücksichtigt, ohne es jedoch als vorrechtlich Gegebenes zu klassifizieren.774 Die Selbstreflexion werde nicht mehr als „Sicherung privater Ansprüche“ gegen das Recht missverstanden.775 Hierin liege der „ontologische […] Unterschied“ der beiden Rechtsformen, der zur Folge habe, dass das „neue Recht der Gegenrechte“ den Fehler der Entpolitisierung nicht wiederhole.776 Der „Schein des Gegebenen“ werde durch die Gegenrechte aufgelöst,777 da sich in ihnen statt eines empiristischen, ein dialektischer Materialismus realisiere.
IV. Resonanz Menkes Kritik der Rechte ist sowohl in der Fachliteratur als auch in der Presse778 auf eine breite Resonanz gestoßen, über die im Folgenden ein akzentuierter Überblick mit Schwerpunkt auf die Beschäftigung von rechtswissenschaftlicher Seite gegeben werden soll. Im Rahmen des Forschungsprojekts „Transnational Force of Law“ wurde 2017 an der Universität Bremen zudem eine Tagung veranstaltet, die sich ausgehend von Menkes Theorem mit verschiedenen Ansätzen der Kritik subjektiver Rechte beschäftigte. Hieraus ging schließlich 2018 ein Tagungsband mit dem Titel „Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts“ hervor, in dem aus verschiedensten Perspektiven Anschlussmöglichkeiten779 an Menkes „post-juridische“780 Theorie gesucht werden. Die „Gegenrechte“ waren in der gesamten Rezeption zweifellos von besonderem Interesse. Die Reaktionen hierauf lassen sich als ambivalent beschreiben. Zwar wird die Idee eines Gegenkonzepts zu den subjektiven Rechten in ihrer gegenwärtigen Form allgemein begrüßt, allerdings bestehen unter anderem hinsichtlich einer potentiellen Realisierung des „neuen Rechts“ Zweifel. Schwierigkeiten bereitet es in diesem Zusammenhang vor allem, ein eindeutiges Bild von einer möglichen Um774
Menke, Kritik der Rechte, S. 395. Ebd., S. 405. 776 Ebd., S. 388. 777 Ebd., S. 406. 778 Vgl. exemplarisch Auer, Sittlichkeit ist halt perdu. Gleichheit hat ihren Preis: Christoph Menke wirft sich entschlossen in eine Kritik des subjektiven Rechts, 27. 01. 2016, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung; Bethke, Ruf nach Revolutionierung der Gleichheit, 11. 12. 2015, in: Deutschlandfunk Kultur; Mattutat, Weder Herren noch Knechte, 08. 04. 2016, in: Soziopolis; Pawlik, Arsch hoch, Zähne auseinander, 04. 06. 2016, in: Welt; Wilmes, Recht und Rechte – Gedanken zu einer neuen Revolution, 21. 12. 2015, in: Deutschlandfunk; Geyer, So subjektiv sind sie nicht, 17. 02. 2019, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 779 Vgl. zu diesen Anschlussmöglichkeiten exemplarisch Sheplyakova, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 205 ff. und Gruber, in: ebd., 227 ff. mit Blick auf die Klage; Loick, in: ebd., 325 ff. mit Blick auf die Rechtspraktiken des Judentums; Fischer-Lescano, in: ebd., 377 ff. mit Blick auf subjektlose Rechte. 780 Vgl. hierzu Franzki, in: Neue Theorien des Rechts, 67, 67 ff. 775
IV. Resonanz
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setzung der Gegenrechte zu entwerfen,781 da eine Institutionalisierung dem Gedanken des neuen Begriffs des „Urteilens“ grundsätzlich zuwiderläuft.782 Darüber hinaus bleibe unklar, aus welchen gesellschaftlichen und sozialen Konstellationen die Kraft erwachsen solle, um die zu einem gewissen Grad doch utopische783 und abstrakte Idee dieses „neuen Rechts“ zu erkämpfen.784 Aufgrund der Nähe des Gegenkonzepts zum bürgerlichen Rechtskonzept wirft beispielsweise Christoph Möllers zudem die Frage auf, ob Menkes Kritik sich nicht ob des Abflachens des „dialektischen Schwung[s]“, welches er im Laufe des Buches zu erkennen meint, schlussendlich in Affirmation verwandelt.785 Da das Verhältnis zwischen bürgerlichem und neuem Recht unklar bleibt,786 wird zudem die Frage gestellt, ob nicht bereits im geltenden Recht gegenrechtliche Momente erblickt werden können. In diese Richtung klingt bei Benno Zabel an, dass das Versprechen der Gegenrechte möglicherweise bereits durch eine „innovative Deutung […] bereits bestehender Rechte“ eingelöst werden könnte.787 Tim Wihl geht noch weiter und sieht Menke mit dem neuen Recht „im demokratischen Gemeinwesen weit offene Türen ein[rennen]“, da die Einzelwillen stets eine demokratische Brechung erführen.788 Trotz des teils monierten hohen Abstraktionsniveaus, welches einer leichten Zugänglichkeit entgegensteht,789 sind die Reaktionen auf Menkes Werk mehrheitlich positiver Natur.790 Besonders hervorgehoben wird Menkes genealogische Heran-
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Vgl. hierzu auch Denninger, in: Kritische Justiz 2018, 316, 324 ff. So auch Deitert/Wieland, in: Zeitschrift für philosophische Literatur 2016, 11, 18. 783 Vgl. Auer, Sittlichkeit ist halt perdu. Gleichheit hat ihren Preis: Christoph Menke wirft sich entschlossen in eine Kritik des subjektiven Rechts, 27. 01. 2016, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung; so auch Denninger, in: Kritische Justiz 2018, 316, 326. 784 Buckel, in: Kritische Justiz 2017, 461, 473. 785 Möllers, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2016, 307, 312. 786 So auch der Hinweis in Menke, Kritik der Rechte, S. 401; vgl. darüber hinaus Menke/ Schmidt/Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 54, 74, wo Menke selbst eine weitgehende inhaltliche Differenz zwischen Gegenrechten und Eigenrechten infrage stellt. 787 Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 136, 152; Zabel, in: Recht auf Nicht-Recht. Rechtliche Reaktionen auf die Juridifizierung der Gesellschaft, 154, 165 f.; in diese Richtung auch Somek, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 107, 119 ff. 788 Wihl, in: Die Idee subjektiver Rechte, 295, 300 f. 789 So bspw. Klonschinski, in: Recht auf Nicht-Recht. Rechtliche Reaktionen auf die Juridifizierung der Gesellschaft, 169, 170; Wilmes, Recht und Rechte – Gedanken zu einer neuen Revolution, 21. 12. 2015, in: Deutschlandfunk; Bethke, Ruf nach Revolutionierung der Gleichheit, 11. 12. 2015, in: Deutschlandfunk Kultur. 790 Vgl. exemplarisch „beeindruckendes Buch“ bei Deitert/Wieland, in: Zeitschrift für philosophische Literatur 2016, 11, 21; „eindrucksvolle Kritik“ bei Auer, Sittlichkeit ist halt perdu. Gleichheit hat ihren Preis: Christoph Menke wirft sich entschlossen in eine Kritik des subjektiven Rechts, 27. 01. 2016, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung; „bereichernde[n] Lektüre“ bei Mattutat, Weder Herren noch Knechte, 08. 04. 2016, in: Soziopolis. 782
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gehensweise, bei der die Analyse des Gegenstands in dessen Kritik führt.791 Seine Argumentation weise eine „hohe systematische Konsistenz“ und „ausgreifende Konsequenz“ auf,792 was gleichzeitig jedoch auch eine Homogenität des Rechtssystems unterstelle, durch die gegebenenfalls Ausnahmeerscheinungen nicht angemessen in der Argumentation berücksichtigt werden könnten.793 Der Leitgedanke der kritischen Theorie werde durch Menke auf das Recht angewendet, indem er traditionell feststehende Grundsätze hinterfrage und damit Naturalisierungsmechanismen im Recht demaskiere.794 Anders als die kritische Theorie, die Erkenntnisin Gesellschaftstheorie überführe, meint Buckel bei Menke jedoch die umgekehrte Stoßrichtung im Sinne einer Assimilation gesellschaftstheoretischer an erkenntnistheoretische Fragen zu erkennen.795 Die Kritik bleibe überwiegend rechtsintern und auf die Ontologie des Rechts bezogen, wodurch in begrüßenswerter Weise die häufig vorzufindende Beschäftigung mit der Frage nach dem Verhältnis von extrinsischer oder außerrechtlicher Normativität und Recht ausgeklammert werde.796 Diese Einschätzung relativiert Möllers zu einem gewissen Grad, indem er darauf hinweist, dass sich eine „ontologische Kritik“ seiner Ansicht nach weniger mit der Legitimitätsproblematik des Rechts und mehr mit „Spuren einer immanenten Deformation“ des Rechts – wie beispielsweise die Loslösung subjektiver Rechte von individuellen Rechtspositionen – hätte befassen müssen.797 Insgesamt bezieht sich Möllers Kritik allerdings in erster Linie auf eine Reduktion der Politik und der bürgerlichen Gesellschaft auf das subjektive Recht. Politik werde bei Menke auf die Ansprüche, die das Subjekt gegen den Staat hat, verkürzt und die bürgerliche Gesellschaft werde so dargestellt, als bestehe sie aus nichts weiter als den subjektiven Rechten.798 Diese Tendenz Menkes zur Überbewertung der Figur des subjektiven Rechts zeige sich auch daran, dass nicht jeder Bereich des gegenwärtigen Rechts von subjektiven Rechten dominiert wird, man denke beispielsweise an das Straf- oder das Steuerrecht.799 Menkes Fokussierung auf die Binnenlogik des Rechts selbst, bei der auf Bezüge zu anderen gesellschaftlichen Bereichen weitestgehend verzichtet wird, wird überdies unter dem Aspekt kritisiert, dass das Recht auf diese
791 Mattutat, Weder Herren noch Knechte, 08. 04. 2016, in: Soziopolis; vgl. auch Menke, Kritik der Rechte, S. 11. 792 Möllers, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2016, 307, 307. 793 Möllers, Jenseits des Eigenwillens, 22. 12. 2015, in: Süddeutsche Zeitung. 794 Buckel, in: Kritische Justiz 2016, 289, 295 f. 795 Buckel, in: Kritische Justiz 2017, 461, 473. 796 Schürmann, in: Philosophische Rundschau 2016, 178, 178 f.; Möllers, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2016, 307, 307; kritisch hinsichtlich dessen, was Menke als „Externa“ ansieht Geyer, So subjektiv sind sie nicht, 17. 02. 2019, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 797 Möllers, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2016, 307, 311. 798 Ebd., 307, 310. 799 Ebd., 307, 308.
IV. Resonanz
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Weise eine Art „Subjektcharakter“ entwickle.800 Diesen leitet Buckel unter anderem aus Formulierungen wie „,es‘ produziert“, „,es‘ widerspricht seinem Wesen“ oder „,es‘ reflektiert sich selbst“ ab. Vermieden werden könnte dieser Effekt ihrer Meinung nach dadurch, dass das Recht, neben der Anerkennung seines selbstreflexiven Wesens, auch als passiver Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzung begriffen werde. Diese Außerachtlassung zusätzlicher Faktoren801 spiegelt sich Buckel zufolge zudem darin wider, dass die Hervorbringung „atomisierter“ Subjekte und die damit einhergehende Entpolitisierung der Gesellschaft, ebenso wie die Trennung von Politik und Sozialem von Menke letztlich ausschließlich auf die subjektive Form der Rechte zurückgeführt werde. Buckels Ansicht zufolge hätte bei der Analyse des Rechts die Wechselwirkung mit anderen gesellschaftlichen Sphären und der tatsächlichen Lebenswirklichkeit802 eingehender thematisiert werden müssen, statt das Recht monokausal als einzigen aktiven Part in dem Prozess der rechtlichen Selbsthervorbringung darzustellen.803 Trotz ihres Hinweises auf die „11. Feuerbachthese“,804 durch den deutlich wird, dass Buckel neben der Analyse des Gegenstands einen darauf aufbauenden Impuls für konkrete Veränderungen in Menkes Werk vermisst, möchte sie ihre Gedanken hinsichtlich einer auf Menkes Erkenntnissen aufbauenden Perspektive nicht als „prinzipielle Einwände“, sondern vielmehr als eine Erweiterung des Diskurses um Menkes „neues Recht“ verstanden wissen.805 Zwei Aspekte, in denen sie großes Potential sieht, den Diskurs aus gesellschaftstheoretischer Sicht voranzutreiben, werden von Buckel besonders hervorgehoben. Zum einen schaffe Menke mit seinen Überlegungen zu einem „neuen Recht“ die Grundlage, um über Mechanismen zur „Demokratisierung der Rechtsform“, die einer Entpolitisierung entgegenwirken können, nachzudenken. Zum anderen erachtet sie Menkes Erkenntnis der „formkonstitutiven Blockade der Selbstreflexion des bürgerlichen Rechts“ als besonders fruchtbar.806 Ein ganz anderes Bild zeichnet demgegenüber Erhard Denninger, der sich mit seinem Versuch, Parallelen zwischen Totalitarismus und Menkes Politikverständnis zu konstruieren,807 als einer der schärfsten Kritiker herausstellt. In seinem Kom800 Buckel, in: Kritische Justiz 2017, 461, 465; zustimmend Denninger, in: Kritische Justiz 2018, 316, 326; eine andere Deutung findet sich demgegenüber bei Deitert/Wieland, in: Zeitschrift für philosophische Literatur 2016, 11, 13. 801 Als einen solchen Faktor führt sie bspw. die „relationale Autonomie des Rechts“ an, vgl. Buckel, in: Kritische Justiz 2017, 461, 465 u. 469; mit weiterführenden Hinweisen hierzu außerdem Buckel, Subjektivierung und Kohäsion. Zur Rekonstruktion einer materialistischen Theorie des Rechts, S. 211 ff. 802 Buckel, in: Kritische Justiz 2017, 461, 469; zu einer ähnlichen Kritik vgl. auch Pawlik, Arsch hoch, Zähne auseinander, 04. 06. 2016, in: Welt sowie Mattutat, Weder Herren noch Knechte, 08. 04. 2016, in: Soziopolis. 803 Buckel, in: Kritische Justiz 2017, 461, 470. 804 Ebd., 461, 474. 805 Ebd., 461, 471. 806 Ebd., 461, 470. 807 Denninger, in: Kritische Justiz 2018, 316, 323; vgl. auch Menke, in: ebd., 475, 478.
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mentar808 zu Kritik der Rechte, auf den Menke wiederum in einem späteren Beitrag809 antwortet, stellt er Menkes Annahmen weitgehend in Abrede. Ähnlich wie Möllers, der bei Menke eine „nachgängige Stilisierung“ kritisiert,810 formuliert Denninger den Vorwurf, Menke gehe vom „negativen Grenzfall eines denkmöglichen Rechtssubjekts“811 aus, sodass ein verfälschtes Bild der Rechtsrealität entstehe. Insbesondere Menkes Diagnose einer „,Aporie‘ der bürgerlichen Verfassung“812 überzeugt Denninger nicht.813 Hiergegen und gegen die damit in Verbindung stehende Entpolitisierungsthese Menkes bringt Denninger das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes in Stellung.814 Gerade diese harsche Kritik, die mit rechtswissenschaftlichen Argumenten geführt wird, verleiht der auf die Stichhaltigkeit von Menkes Analyse gerichteten Fragestellung der vorliegenden Arbeit besonderen Nachdruck.
808 809 810 811 812 813 814
Denninger, in: Kritische Justiz 2018, 316, 316 ff. Menke, in: Kritische Justiz 2018, 475, 475 ff. Möllers, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2016, 307, 309. Denninger, in: KJ Kritische Justiz 2018, 316, 319. Denninger, in: KJ Kritische Justiz 2018, 316, 322; Menke, Kritik der Rechte, S. 325. Denninger, in: KJ Kritische Justiz 2018, 316, 320 ff. Hierzu näher auf S. 205 ff. der vorliegenden Arbeit.
C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive Im Folgenden soll daher nun der Versuch unternommen werden, Menkes Beschreibung des bürgerlichen Rechts mit der durch juristische Dogmatik geprägten Rechtsrealität, das heißt mit der Beschreibung des Rechts aus rechtswissenschaftlicher Perspektive, ins Verhältnis zu setzen. Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Untersuchung der Frage, ob die Kernkritik, die Menke auf rechtsphilosophischer Ebene herausarbeitet, auch aus einer rechtswissenschaftlichen Perspektive heraus Bestand hat. Lässt sich die These von einer „Blockade der Selbstreflexion“, bedingt durch die Positivierung eines unhinterfragten Eigenwillens in der Form der subjektiven Rechte, in rechtsdogmatischen Konstruktionen nachweisen? Erweist sich die Ermächtigung des Eigenwillens in Form der Ermöglichung von Interessen und der Erlaubnis der Willkür als zutreffende Beschreibung der Funktionsweise des subjektiven Rechts? Oder resultiert aus dem Diskurs, wenn er auf juridischer Ebene im Hinblick auf die Ebene einer von juristischer Dogmatik geformten Rechtsanwendung geführt wird, möglicherweise ein abweichendes Ergebnis? Menkes Thesen basieren auf einer spezifischen Formanalyse des subjektiven Rechts, bei der die Entwicklung und die Funktionsweise dieser Form einer isolierten Betrachtung unterzogen werden. Aus dieser Perspektive wird allein die Seinsweise oder „ontologische Genealogie“1 der subjektiven Rechte in den Blick genommen. Mit der Wahl dieser Perspektive geht einher, dass die Ebene der Rechtsanwendung in Menkes Formrekonstruktion keine Berücksichtigung erfährt. Dieser Gedanke ist vorliegend von entscheidender Bedeutung und bestimmt den Ausgangspunkt der Untersuchung. Die Tatsache, dass das subjektive Recht in eine Gesamtrechtsordnung eingebettet ist und erst durch die dogmatisch geformte Rechtsanwendung seine finale Gestalt annimmt, wird in Kritik der Rechte außer Acht gelassen. Nach hier vertretener Auffassung ist diese Einbettung jedoch ebenso ausschlaggebend für eine Beurteilung des subjektiven Rechts, wie die Ontologie der Form selbst. Daher fragt die vorliegende Arbeit zunächst nach den Wechselwirkungen zwischen objektiver Rechtsordnung und subjektivem Recht. Dieser Zweck macht die Auseinandersetzung mit der rechtlichen Dogmatik erforderlich, was naturgemäß die Notwendigkeit einer Begrenzung des Untersuchungsgegenstands mit sich bringt. Hierbei fällt auf den ersten Blick ins Auge, dass der Bereich des Strafrechts Menkes Rekonstruktion programmatisch entgegengesetzt ist. Das Strafrecht stellt „mit seinen archaischen Motiven wie Vergeltung und seinen atavistischen Praktiken 1
Menke, Kritik der Rechte, S. 11.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
[…] die große Ungleichzeitige des modernen Rechts“2 dar. Statt der von Menke beschriebenen „Beherrschung durch Berechtigung“3 steht hier ein gewalttätiges und repressives Staatshandeln4 im Vordergrund. Das Strafrecht bildet insofern ein konträres System, als dass private Zwecke und subjektive Rechte hier lediglich eine nachgeordnete Rolle spielen.5 Zwar beginnen sich derzeit auf völker- und europarechtlicher Ebene Gegentendenzen abzuzeichnen. So leitet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aus Art. 2 EMRK unter bestimmten Umständen ein subjektives Recht des Opfers einer Straftat oder dessen Angehörigen auf Strafverfolgung gegen Dritte ab.6 Für besondere Ausnahmefälle geht auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in diese Richtung.7 Bezogen auf Menkes Formbestimmung des subjektiven Rechts ließe sich ein solcher Anspruch auf Strafverfolgung am ehesten der Performanz der „Ermöglichung“ zuordnen. Gleichwohl handelt es sich bei diesem subjektiven Recht jedenfalls nicht um eine Rechtsposition, die auf soziale Teilhabe gerichtet ist, während dies Menke zufolge kennzeichnend für die Performanz der Ermöglichung ist. Ein Anspruch auf das Tätigwerden der Strafverfolgungsorgane scheint folglich ebenfalls strukturell einem anderen als dem Menkeschen Muster zu folgen. Wenn auch im Übrigen das Bestehen prozessualer Gestaltungsmöglichkeiten wie etwa der Privatklage oder des Klageerzwingungsverfahrens sowie die Existenz subjektiver Rechte wie beispielsweise das Recht auf ein faires Verfahren freilich unbestritten sind, so sind auch diese mehr als eine Art Begleiterscheinung zu verstehen, die den programmatischen Kern nicht treffen. Kernanliegen des Strafrechts ist nicht die Berechtigung der Einzelnen, sondern der Schutz „der elementaren Werte des Gemeinschaftslebens“8. Bezweckt wird vor allem der Schutz der konsensual bestimmten Grundlage des Zusammenlebens, wodurch sich dem Grunde nach eine Ausrichtung des Öffentlichen gegen die Einzelne ergibt.9 Vor dem Hintergrund dieses überindividuellen Ausgangspunktes, der 2
Möllers, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2016, 307, 308. Menke, Kritik der Rechte, S. 289. 4 Menke, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für Grundlagen des Rechts 2017, 54, 61. 5 So auch Möllers, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2016, 307, 308, der außerdem das Steuerrecht als sich dem System Menkes nicht fügendes Rechtsgebiet nennt. 6 Gaede, in: Münchener Kommentar zur StPO Bd. 3.2, EMRK Art. 2, Rn. 25; EGMR 20. 12. 2004 – 50385/99, NJW 2005, 3405, 3406 f. – Makaratzis/GRE; vgl. zur Rechtsprechung des EGMR bezüglich eines etwaigen materiell-(straf-)rechtlichen Schutzes weiterführend Schramm, Internationales Strafrecht. Strafanwendungsrecht, Völkerstrafrecht, Europäisches Strafrecht, S. 146 ff. 7 Gaede, in: Münchener Kommentar zur StPO Bd. 3.2, EMRK Art. 2, Rn. 26; BVerfG NJW 2015, 3500, 3501; BVerfG NJW 2020, 675, 676 f. 8 BVerfG NJW 1525, 1531. 9 Vgl. hierzu auch Zabel, in: Philosophisches Jahrbuch 2017, 111, 113 sowie Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 141; wenn in diesem Kontext demnach überhaupt eine subjektiv-rechtliche Betrachtungsweise herangezogen werden sollte, so müsste sich diese wohl am ehesten auf einen etwaigen staatlichen Strafanspruch beziehen. Bei diesem handelt es sich indes – wie vom BGH 3
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sich im Strafrecht als „gemeinsame Kultur sozialer Praktiken“10 beschreiben lässt, können Menkes Entpolitisierungs-Annahmen auf dieses Rechtsgebiet bezogen von vorneherein kaum überzeugen. Das Strafrecht ist zudem von einer spezifischen Offenheit gegenüber dem Politischen gekennzeichnet, was sich nicht zuletzt auch daran festmachen lässt, dass Kriminalisierungsentscheidungen politischer Natur sind.11 Menke hat in seiner Rekonstruktion ein System vor Augen, welches stets auf individuelle Ansprüche zurückführbar ist. Grundsätzlich trifft dies auf das von einer übergeordneten Gerechtigkeitsvorstellung geprägte Strafrecht gerade nicht zu, sodass eine strafrechtsdogmatische Kontrastierung in der vorliegenden Untersuchung ausgeklammert werden soll. Aus diesem Grund wird sich die vorliegende Betrachtung auf die Bereiche des Privat- und des Öffentlichen Rechts begrenzen. Anhand ausgewählter Beispiele soll untersucht werden, ob und inwiefern die Menke zufolge konstitutive Eigenschaft der Form des subjektiven Rechts, namentlich die Ermächtigung des Eigenwillens, auf der Ebene anwendungsorientierter Rechtsdogmatik modifiziert wird. Dabei stellt sich insbesondere die Frage, ob neben der Idee der Gleichheit, welche Menke resultierend aus der von ihm angenommenen Logik, welcher die rechtlichen Konstruktionen folgen, als einzig legitime Quelle einer Beschränkung der Willkürfreiheit im bürgerlichen Recht identifiziert,12 noch weitere darauf gerichtete Korrektive existieren, die jedoch einer anderen Begründungsstruktur folgen. Dabei geht es nicht um etwaige Quellen der Normativität, die außerhalb des Rechts zu finden sind,13 sondern um den normativen Rahmen subjektiver Rechte selbst. Stellte sich heraus, dass gleichwohl andere normative Prinzipien geeignet sind, die subjektiven Rechte der Einzelnen zu beschränken, ließe dies auf eine unvollständig Beschreibung der das geltende Recht kennzeichnenden Logik durch Menke schließen. Die Beschäftigung mit dieser Frage soll demnach eine Aussage darüber ermöglichen, ob Menkes Annahme über Handlungsmuster und die normative Struktur des geltenden Rechts hinsichtlich subjektiver Rechte zugestimmt werden kann. Die hieran anschließenden Überlegungen unternehmen den Versuch, die von Menke gewählte Perspektive aufzugreifen, mithin die Form des subjektiven Rechts nach Möglichkeit separat zu betrachten. Die zugrundeliegende Fragestellung bleibt dabei unverändert, während die Annäherung an eine Antwort an dieser Stelle versucht, von der Einbettung des subjektiven Rechts in eine Gesamtrechtsordnung zu abstrahieren.
ausgeführt – nicht um eine „verwirkbare günstige Rechtsposition“, sondern mit Blick auf die „Verpflichtung zum Rechtsgüterschutz“ vielmehr um eine „Funktion des Staates“, vgl. BGH NJW 1984, 2300, 2301. 10 Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 136, 141. 11 Menke/Schmidt/Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 54, 63. 12 Menke, Kritik der Rechte, S. 258. 13 Auf solche verweist Klonschinski, in: Recht auf Nicht-Recht. Rechtliche Reaktionen auf die Juridifizierung der Gesellschaft, 169, 176 f.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
Bevor die soeben skizzierte rechtsdogmatische Untersuchung einsetzt, soll noch eine kurze Justierung des rechtstheoretischen Ausgangspunktes erfolgen, bei der die Interessen- und Willenstheorie als Menkes theoretische Grundlage in den Blick genommen wird.
I. Rechtstheoretischer Ausgangspunkt: Interessentheorie An dieser Stelle soll nicht noch einmal der im neunzehnten Jahrhundert zu verortende Theorienstreit zwischen Interessen- und Willenstheorie beleuchtet werden, da dies hinreichend an anderen Stellen erfolgt ist und in Deutschland zudem bereits eine Lösung im Sinne der Kombination beider Theorien gefunden wurde.14 Im Fokus steht vielmehr die Frage, wie sich die Anerkennung der Interessentheorie als konstitutiver Bestandteil der Form des subjektiven Rechts auf eben jene auswirkt. Während die Willenstheorie das subjektive Recht als „die der einzelnen Person zustehende Macht: ein Gebiet, worin ihr Wille herrscht“15 definiert, deutet die Interessentheorie die subjektiven Rechte als „rechtlich geschützte Interessen“16. Die heute herrschende Kombinationstheorie17 verknüpft diese beiden Deutungen und beschreibt subjektive Rechte als „die dem Einzelnen verliehene Rechtsmacht zur Befriedigung bestimmter Interessen“18.
14 Vgl. Fezer, Teilhabe und Verantwortung. Die personale Funktionsweise des subjektiven Privatrechts, S. 215 ff., zur Kritik der Kombinationstheorie siehe insbesondere S. 241 f.; Göke, Der Einzelne im Spannungsfeld von Teleologie und Deontologie in der Rechtsprechung des EuGH. Zugleich ein Beitrag zur Folgeorientierung bei der Auslegung der Verträge, S. 138 ff.; Coing/Lawson/Grönfors, Das subjektive Recht und der Rechtsschutz der Persönlichkeit, S. 21; Wagner, in: Archiv für die civilistische Praxis 1993, 319, 321 ff.; Buchheim, Actio, Anspruch, subjektives Recht. Eine aktionenrechtliche Rekonstruktion des Verwaltungsrechts, S. 57 ff.; Schulev-Steindl, Subjektive Rechte. Eine rechtstheoretische und dogmatische Analyse am Beispiel des Verwaltungsrechts, S. 9 ff.; Preuß, Die Internalisierung des Subjekts. Zur Kritik der Funktionsweise des subjektiven Rechts, S. 23 ff.; Hellgardt, Regulierung und Privatrecht: staatliche Verhaltenssteuerung mittels Privatrecht und ihre Bedeutung für Rechtswissenschaft, Gesetzgebung und Rechtsanwendung, S. 354 ff.; Medicus/Petersen, Allgemeiner Teil des BGB, § 10, Rn. 70. 15 Savigny, System des heutigen römischen Rechts Bd. 1, § 4, S. 7. 16 Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung; Teil 3, Abt. 1, S. 339. 17 Zur Kritik an der Kombinationstheorie vgl. Moser, Unveräußerliche Rechte, S. 103 ff., insbesondere S. 143 f.; Hellgardt, Regulierung und Privatrecht: staatliche Verhaltenssteuerung mittels Privatrecht und ihre Bedeutung für Rechtswissenschaft, Gesetzgebung und Rechtsanwendung, S. 354 ff. 18 Vgl. exemplarisch Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 20, Rn. 6; Köhler, BGB Allgemeiner Teil, § 17, Rn. 5; ähnlich auch Enneccerus/Nipperdey, Lehrbuch des bürgerlichen Rechts. Erster Band, § 72, S. 428 ff.; sowie Epping, Grundrechte, Rn. 137.
I. Rechtstheoretischer Ausgangspunkt: Interessentheorie
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1. Die produktive Konsequenz Für Menke, der sich, wie die Mehrheit der Stimmen im rechtswissenschaftlichen Diskurs um diesen Theorienstreit, der Kombinationstheorie anschließt,19 wirkt sich der Einfluss der Interessentheorie auf die Form des subjektiven Rechts in zweierlei Hinsicht aus. Zum einen bewirke er, dass von einem subjektiven Interesse keine unmittelbare, rechtliche Geltung abgeleitet werden könne, sondern dass dazu stets die Verankerung in der Rechtsordnung vonnöten sei, was in einer „idealistisch verstandenen Willenstheorie“, die das subjektive Recht gewissermaßen mit dem Willen gleichsetze, keine Berücksichtigung finde. Zum anderen werde durch den interessentheoretischen Anteil in der Begründung subjektiver Rechte klargestellt, dass ein subjektives Interesse konstitutiver Bestandteil eines subjektiven Rechts sei.20 Menke geht davon aus, dass das Natürliche den einzig möglichen Gegenstand der Berechtigung bildet und dementsprechend nichts anderes als das Natürliche durch subjektive Rechte berechtigt werden kann.21 Folglich weisen die subjektiven Rechte stets einen Rückbezug auf die natürlichen Interessen der Subjekte auf und sind gleichzeitig an die Autorisierung durch das Gesetz gebunden. Daraus, dass sich die theoretische Grundlage der subjektiven Form der Rechte aus der Kombination von Interessen- und Willenstheorie zusammensetzt, ergeben sich für Menke zwei Vorgaben für diese Rechtsform. Zum einen soll das subjektive Recht „Bereiche der beliebigen Ausrichtung des natürlichen Strebens […] sichern“, um den Anforderungen der Willenstheorie zu entsprechen, zum anderen erfordere die Interessentheorie die Sicherung der „gleiche[n] Verwirklichung des natürlichen Strebens“22. In der Interessentheorie geht es Menke zufolge um die rechtliche Gewährleistung der Erreichung bestimmter, subjektiver Ziele. Die Ermöglichung von Interessen als eine der beiden Performanzen des modernen Rechts, mit der die Interessentheorie korreliert,23 soll zu von spezifizierten Zielen getragenen Handlungen berechtigen, derer sich das Subjekt bedienen kann, um seine Interessen zu befriedigen.24 Um diesen Zweck zu realisieren müsse das „Natürliche“ zu dem hier berechtigt werden soll, konkretisiert werden, da die Berechtigung dazu genutzt werden solle, spezifische Ziele der Interessenbefriedigung zu erreichen. Der schlichte Verweis auf die Maxime gleicher Freiheit, das heißt, dass das eigene Recht die Grenze am Recht des anderen findet, scheint dieses Bestimmungserfordernis nicht erfüllen zu können, da die in Rede stehenden Freiheitsräume klarer ausgestaltet werden müssen, um die Legalisierung zielgerichteter „natürlicher Strebungen“ zu realisieren. Dem entgegengesetzt 19 Menke, Kritik der Rechte, S. 95; siehe außerdem das Kapitel „Antagonismus innerhalb der Naturbegriffe“ auf S. 42 f. der vorliegenden Arbeit. 20 Ebd., S. 61 f. 21 Ebd., S. 63. 22 Ebd., S. 91 f. 23 Vgl. hierzu das Kapitel „Das Zusammenspiel von Interessen und Willkür“ auf S. 41 f. der vorliegenden Arbeit. 24 Menke, Kritik der Rechte, S. 92.
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erfordere der Zweck der Willenstheorie, namentlich die „Erlaubnis der Willkür“, denknotwendig das Absehen von einer solchen Bestimmung, da das zu berechtigende „natürliche Streben“ in dieser Performanz nicht auf ein spezifiziertes Ziel, sondern auf das „Beliebige“ gerichtet sei.25 Ohne den interessentheoretischen Ansatz könnte es nur ein einziges subjektives Recht geben, namentlich im kantischen Sinne das Recht auf Willkür.26 Menke erkennt folglich an, dass die Aufnahme der Interessentheorie in das definitorische Verständnis des subjektiven Rechts zur Folge hat, dass das zu berechtigende natürliche Interesse bestimmt werden muss. Das Recht müsse definieren „was ein Interesse ist, welche Interessen es gibt und wann sie verwirklicht sind“27, sodass letztlich die „Erlaubnis der Willkür an die Angabe einer Hinsicht oder eines Guts gebunden“28 sei. Allerdings erfolgt bei Menke keine Konkretisierung dieser Bestimmung von Interessen. Es wird nicht ausgeführt, inwiefern die Rechtsordnung diese Bestimmung vornimmt oder gar nach welchen Maßstäben sie erfolgt. Das durch die Interessentheorie an das subjektive Recht herangetragene Erfordernis der Definition der zu berechtigenden Interessen, welches aus der interessentheoretischen Fokussierung auf den subjektiven Nutzen resultiert, entwickelt Menke weiter zu einer Berechtigung zu „sozialer Teilhabe“29. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass das Subjekt, um seine spezifizierten Ziele erreichen zu können, Menke zufolge auf die Inanspruchnahme gewisser Ressourcen angewiesen ist. Diese Ressourcen, wie beispielsweise Bildung, sind solche, die von der Gesellschaft bereitgestellt werden und die Menke dementsprechend als „soziale Mittel“30 versteht. Es sei demnach die Inanspruchnahme oder auch „Aneignung“31 sozialer Mittel, durch die die rechtliche Performanz der Ermöglichung von Interessen realisiert werde. Die Bestimmung von Interessen erschöpft sich Menkes Ansicht nach folglich in der rechtlichen Gewährleistung der Teilhabe an sozialen Mitteln, die notwendig sind, um die subjektiven Interessen zu verwirklichen. Er geht davon aus, dass die interessentheoretische Betrachtung keine Festlegung der Interessen, die mit den subjektiven Rechten verfolgt werden können,32 zur Folge hat, sondern, dass hierdurch lediglich die „positive, ermöglichende Performanz“33 in der Struktur des subjektiven Rechts etabliert wird. Das Eigentum dient als Beispiel dafür, wie Menke die auf der Interessentheorie basierende positive, ermöglichende Eigenschaft des 25 Ebd., S. 92 ff.; zu den hier zugrunde liegenden unterschiedlichen Naturbegriffen siehe außerdem das Kapitel „Das Zusammenspiel von Interessen und Willkür“ auf S. 41 f. der vorliegenden Arbeit. 26 Menke, in: MenschenRechtsMagazin 2008, 197, 200. 27 Menke, Kritik der Rechte, S. 95. 28 Ebd., S. 97. 29 Ebd., S. 223. 30 Ebd., S. 220. 31 Ebd., S. 220. 32 Menke, in: MenschenRechtsMagazin 2008, 197, 201. 33 Menke, Kritik der Rechte, S. 96.
I. Rechtstheoretischer Ausgangspunkt: Interessentheorie
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subjektiven Rechts denkt. Die negative, erlaubende Seite, die aus dem willenstheoretischen Ansatz folgt, sei verantwortlich für das Verständnis von Eigentum als individuelles Ausschlussrecht, während die interessentheoretisch geprägte positive, ermöglichende Seite des subjektiven Rechts darauf gerichtet sei, die Teilhabe des Subjekts an gemeinschaftlichen Gütern zu gewährleisten. Hier stellt sich das Eigentum als Teilhaberecht dar, welches das Subjekt dazu befähigt, durch die Einverleibung sozialer Vermögen eigenes Vermögen zu erlangen.34 Zusammengefasst stellt demnach die Gewährleistung „sozialer Rechte“ die bedeutendste Auswirkung dar, die die Interessentheorie auf Menkes theoretische Konstruktion der Form des subjektiven Rechts hat.
2. Abstrakte Betrachtung der Interessentheorie Fraglich ist, ob diese produktive Konsequenz in Form sozialer Teilhaberechte die einzige Konsequenz darstellt, die gezogen werden kann, wenn die Interessentheorie im Rahmen der Kombinationstheorie als theoretische Grundlage des subjektiven Rechts anerkannt wird. Eine abstrakte und von Menkes Interpretation losgelöste Betrachtung der in Rede stehenden Theorie könnte ergeben, dass die Interessentheorie neben der produktiven Auswirkung ebenso einen beschränkenden oder auch limitativen Effekt auf die Berechtigung des Subjekts durch die Form subjektiver Rechte haben könnte. Während die Willenstheorie den Rechtsbegriff des subjektiven Rechts dahingehend konkretisiert, dass das Subjekt dazu berechtigt wird, seinen Willen unter Ausschluss anderer in einem abgegrenzten Bereich herrschen zu lassen,35 definiert die Interessentheorie subjektive Rechte als „rechtlich geschützte Interessen“36 im Sinne eines „Nutzen[s]“37. Der Interessentheorie zufolge wird durch das subjektive Recht demnach nicht der Wille als Selbstzweck berechtigt, sondern nur aufgrund der sich in ihm manifestierenden „berechtigten Interessen“38. In den „Interessen, Bedürfnissen, Zwecken des Verkehrs […] findet der Wille sein Maß und sein Ziel“39. Der Grundgedanke der Interessentheorie wird anhand des von Jhering stammenden Steuermann-Beispiels deutlich: Der Steuermann eines Schiffes verfügt über die Macht über jenes Schiff, jedoch ist ihm diese nicht um ihrer selbst willen verliehen, sondern zu dem Zweck, das Schiff sicher in einen Hafen zu manövrieren.40 Fezer 34
Ebd., S. 221 ff. Savigny, System des heutigen römischen Rechts Bd. 1, § 4, S. 7. 36 Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung; Teil 3, Abt. 1, S. 339. 37 Ebd., S. 350. 38 Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, S. 60. 39 Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung; Teil 3, Abt. 1, S. 338. 40 Ebd., S. 331 f. 35
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
betont daher bezüglich Jherings Interessentheorie, dass hier der „Subjektivismus im Recht durch einen zweckfunktionalen Realismus“41 ersetzt werde, was inhaltlich eine gewisse Nähe zum römischen Rechtsverständnis des „ius“ als einem „gerechten Anteil an den Naturdingen“42 aufweise. Jhering habe zwar das Potential seiner Theorie, zu einer „Lehre von den immanenten Schranken der privaten Rechte“ ausgebaut zu werden, nicht genutzt,43 jedoch habe seine Kritik den Grundstein für den Gedanken von der Sozialbindung des Eigentums44 und die Angriffe des 20. Jahrhunderts auf den Subjektivismus im Privatrecht gelegt.45 Die Interessentheorie geht folglich davon aus, dass Individualismus nicht die einzige Grundlage des Privatrechts bilden kann.46 Sie stellt sich damit im Kern als „autonomiekritisch“ dar, weil sie den autonomen Willen der Subjekte nicht unhinterfragt als Geltungsgrund subjektiver Rechte anerkennt.47 Die Berechtigung durch das subjektive Recht hat demnach nicht jeden beliebigen Willen zum Gegenstand, sondern „nur das Wollen zu bestimmten Zwecken“48 im Sinne eines „Regelungsziel[s]“49. Um im Sinne dieser Deutung der Berechtigung eine Bestimmung der Zwecke zu vollziehen, wird eine Bewertung dieser Zwecke und damit implizit der Schutzwürdigkeit des jeweiligen Interesses durch das Recht erforderlich.50 Das Erfordernis der Bewertung der subjektiven Interessen führt zur Anwendung rechtlicher Wertungsmaßstäbe, durch die zunächst im Allgemeinen die Legitimität und sodann konkret auch die Schutzwürdigkeit des fraglichen Interesses beurteilt werden.51 Diese Bestimmung des Interesses ist jener der Verankerung im Gesetz vorgeschaltete Schritt. Auch Menkes Ansicht zufolge ist die verbindliche Geltung eines subjektiven Rechts abhängig von der Verankerung des jeweiligen Interesses im objektiven Recht,52 jedoch wird die Frage der Schutzwürdigkeit in Kritik der Rechte nicht in den Blick genommen. 41 Fezer, Teilhabe und Verantwortung. Die personale Funktionsweise des subjektiven Privatrechts, S. 227. 42 Ebd., S. 227. 43 Ebd., S. 230. 44 Ebd., S. 231; Füller, Eigenständiges Sachenrecht?, S. 30; Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung. Band III Mitteleuropäischer Rechtskreis, S. 177; zur Sozialbindung des Eigentums siehe außerdem S. 166 ff. der vorliegenden Arbeit. 45 Fezer, Teilhabe und Verantwortung. Die personale Funktionsweise des subjektiven Privatrechts, S. 231. 46 Füller, Eigenständiges Sachenrecht?, S. 30. 47 Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, S. 61 f.; in diese Richtung auch Moser, Unveräußerliche Rechte, S. 139. 48 Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 44. 49 Schulev-Steindl, Subjektive Rechte. Eine rechtstheoretische und dogmatische Analyse am Beispiel des Verwaltungsrechts, S. 149. 50 Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, S. 60; ähnlich auch Röhl, Schluss mit der Kritik der Rechte. Protokoll meiner Bemühungen um das Verständnis von Christoph Menkes „Kritik der Rechte“, 25. 02. 2019, in: RSOZBLOG.de, S. 24 f. 51 Hiebaum, Die Politik des Rechts. Eine Analyse juristischer Rationalität, S. 267. 52 Menke, Kritik der Rechte, S. 62.
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Dadurch, dass durch sie der auf diese Weise zu bestimmende Zweck Bestandteil der Definition des subjektiven Rechts wird, gibt die Interessentheorie bis in die heutige rechtswissenschaftliche Dogmatik den Ausschlag dafür, dass das subjektive Recht von seinem Schutzzweck her zu bestimmen ist.53 Durch die Aufnahme des Kriteriums des Nutzens im utilitaristischen Sinne54 neben jenes des Willens, kann dieser Schutzzweck nicht allein auf den subjektiven Willen reduziert werden. Die Interessentheorie wendet sich damit gegen die willenstheoretische Deutung des subjektiven Rechts als Rechtsform, welche allein auf dem Willen der Subjekte begründet wird, ohne das jeweilige Interesse in die Betrachtung miteinzubeziehen.55
3. Kontrastierung mit Menkes theoretischem Ausgangspunkt Bezieht man die Erkenntnis der autonomiekritischen Tendenz der Interessentheorie auf Menkes Kritik am geltenden Recht, kann eine gewisse Diskrepanz zwischen dem interessentheoretischen Anteil der Kombinationstheorie und der Deutung Menkes herausgestellt werden: Trotz dessen, dass die Interessentheorie durch die Kombinationstheorie Bestandteil der theoretischen Grundlage der Menkeschen Form des subjektiven Rechts ist, spiegelt sich die soeben beschriebene autonomiekritische Tendenz in seiner Konstruktion des subjektiven Rechts nicht wider. „Das Wollen zählt jetzt, bloß weil es das eigene Wollen, das Wollen von jemandem ist.“56 – die Kopplung an ein bestimmtes Interesse oder einen bestimmten Nutzen schlägt sich, abgesehen von der beschriebenen Etablierung einer Nutzungsmöglichkeit in Form von sozialen Teilhaberechten, nicht nieder. Der Wille des Subjekts wird in den subjektiven Rechten Menke zufolge aus dem Grund berechtigt, dass es der Wille des Subjekts ist. Er wird als Selbstzweck berechtigt. Doch gerade dieser willenstheoretische Aspekt wird wie gezeigt von der Interessentheorie kritisiert und relativiert. Wille und Interesse sind in zweierlei Hinsicht aneinander gekoppelt: Einerseits wird durch das Recht zur Unterscheidung einer Berechtigung von einem Rechtsreflex ein auf das jeweilige Interesse gerichteter Wille des Subjekts vorausgesetzt, andererseits stellt jedoch ebenso auch die Bindung an einen bestimmten Zweck beziehungsweise ein bestimmtes Interesse die notwendige Voraussetzung für die 53
Schwab/Löhnig, Einführung in das Zivilrecht. Mit BGB – Allgemeiner Teil, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Kauf- und Deliktsrecht, S. 78, Rn. 183. 54 Fezer, Teilhabe und Verantwortung. Die personale Funktionsweise des subjektiven Privatrechts, S. 222; Auer, in: Archiv für die civilistische Praxis 2008, 584, 597; Füller, Eigenständiges Sachenrecht?, S. 30; Göke, Der Einzelne im Spannungsfeld von Teleologie und Deontologie in der Rechtsprechung des EuGH. Zugleich ein Beitrag zur Folgeorientierung bei der Auslegung der Verträge, S. 140; Menke, Kritik der Rechte, S. 60 f. 55 Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, S. 61. 56 Menke, Kritik der Rechte, S. 197.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
Legitimation von Willkür dar.57 Obwohl Menke von dieser Notwendigkeit der Bestimmung des Interesses und dem Gebundensein der Erlaubnis der Willkür an einen bestimmten Zweck ausgeht,58 unterscheiden sich seine daraus resultierenden Annahmen über die Form des subjektiven Rechts auf dieser Ebene nicht von denen der Willenstheorie. Der Empirismus-Vorwurf, den Menke dem geltenden Recht gegenüber erhebt, bezieht sich darauf, dass der Eigenwille begrenzt durch die Maßgaben des Gleichheitsgebots die einzige und unhinterfragbare Grundlage des subjektiven Rechts bildet.59 Währenddessen knüpft die Kombinationstheorie die Möglichkeit des Subjekts sich der durch das subjektive Recht gewährten Rechtsmacht zu bedienen an einen „bestimmten Zweck“60, an ein „berechtigtes Interesse“61. Hierbei sind nicht nur Interessen hinsichtlich sozialer Teilhabe zu bestimmen, sondern dieses Erfordernis besteht für jegliche Bereiche des menschlichen Lebens. Das jeweilige Individualinteresse muss von der Rechtsordnung „ausdrücklich oder implicit“62 Anerkennung erfahren und wird dementsprechend nicht schlichtweg aufgrund seiner Existenz berechtigt. Der Umstand, dass das Bestehen eines Interesses konstitutiv für die Einräumung eines subjektiven Rechts ist, bedeutet namentlich nicht gleichsam, dass jedes Interesse Rechtsinhalt werden kann. „Jedes Individualinteresse findet rechtliche Anerkennung nur dann, wenn diese Anerkennung auch im Gemeininteresse geboten ist.“63 Hier zeigt sich die beschränkende Wirkung des Einflusses der Interessentheorie auf die Kombinationstheorie, welche vorliegend als limitativ umschrieben wird: Zur Festlegung der bestimmten Zwecke bedarf es, wie beschrieben, der Anwendung „heteronome[r] Wertungen“64, denn nicht jedes beliebige Interesse wird durch das Recht berechtigt.
57 Ebd., S. 94 f.; kritisch zum Vorliegen eines subjektiven Interesses als Voraussetzung für die Gewährleistung eines subjektiven Rechts Luhmann, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft Bd. 2, 45, 90 f., sowie Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 71, der diese Konstellation jedoch als Ausnahme versteht. 58 Menke, Kritik der Rechte, S. 97. 59 Vgl. ebd., S. 169. 60 Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 44. 61 Ebd., S. 44. 62 Ebd., S. 70. 63 Ebd., S. 53. 64 Trotz des Einflusses dieser Wertungen auf die Rechtssetzung, zu denen außerdem „distributive und paternalistische“ Motive hinzutreten, werde das subjektive Recht Auer zufolge dennoch fast ausschließlich als „Autonomiesphäre“ wahrgenommen, siehe Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, S. 63.
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4. Der Rechtsordnung nicht zuwiderlaufende Interessen Allein anhand der Willenstheorie, ohne Anerkennung der limitativen Konsequenz der Interessentheorie, können nur diejenigen Fälle der Nichtberechtigung von subjektiven Interessen erklärt werden, in denen gleiche Rechte anderer durch das fragliche Interesse beeinträchtigt werden. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist der Wortlaut des Schikaneverbots65 gemäß § 226 BGB: „Die Ausübung eines Rechts ist unzulässig, wenn sie nur den Zweck haben kann, einem anderen Schaden zuzufügen.“ Aufgrund der damit verbundenen Einschränkung für Dritte wird das Interesse, das eigene Recht in einer Weise auszuüben, die nur auf die Schädigung des Dritten gerichtet ist, nicht berechtigt. Die Fälle, in denen die Berechtigung eines Interesses daran scheitert, dass das Interesse in die Rechte Dritter eingreift, bilden jedoch nicht die einzige Fallgruppe, in denen die Rechtsordnung einem subjektiven Interesse die Berechtigung verwehrt. Man denke etwa an die Testierfreiheit, die als legitimes subjektives Interesse überdies in Art. 14 I S. 1 GG grundrechtlich verbürgt wird und die durch die Regelung zum Pflichtteil, normiert in § 2303 I BGB, Einschränkungen erfährt. So kann das Interesse an der vollständigen Enterbung eines Abkömmlings der Erblasserin – welches willenstheoretisch betrachtet unproblematisch als berechtigungsfähig erscheint – im Wege eines subjektiven Rechts nicht geltend gemacht werden. Zur Begründung wird vom Bundesverfassungsgericht allerdings nicht ein kollidierendes subjektives Recht des Abkömmlings angebracht – welches hieraus gegebenenfalls ebenfalls ableitbar wäre – sondern zum einen die Eigenschaft der Mindestbeteiligung der Kinder am Nachlass als „tragendes Strukturprinzip“, welches durch die Erbrechtsgarantie des Art. 14 I 1 GG geschützt wird und welches außerdem auf eine lange Tradition bis hin zum römischen Recht zurück blickt.66 Zum anderen begründet das Bundesverfassungsgericht die Geltung des § 2303 I BGB mit der „Familienbindung“67, die aus der „wertentscheidenden Grundsatznorm“68 des Art. 6 I GG abgeleitet wird. Es sind demnach objektiv-rechtliche Erwägungen und nicht kollidierende subjektive Rechte Dritter im willenstheoretischen Sinn, die dazu führen, das Interesse einer Erblasserin an der Enterbung ihrer Abkömmlinge unter bestimmten Voraussetzungen nicht zu berechtigen, auch wenn dies für die Rechtsinhaberin einen bestimmten Nutzen oder auch ein wirtschaftliches Interesse enthielte. Die Art der Begründung des Bundesverfassungsgerichts zeigt überdies deutlich, dass sich die Entscheidung bezüglich der Ermächtigung eines Interesses an wertungsbasierten Maßstäben orientiert und somit nicht jedes beliebige Interesse, das Dritten keinen Schaden zufügt, dem Schutzzweck des subjektiven Rechts entspricht und berechtigt 65 Vgl. hierzu auch Hiebaum, Die Politik des Rechts. Eine Analyse juristischer Rationalität, Anm. S. 245, Fn. 84. 66 BVerfG NJW 2005 1561, 1563. 67 Obergfell, in: beck-online. Grosskommentar, § 2303, Rn. 5. 68 BVerfG NJW 2005 1561, 1563.
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wird. Ähnliche Beispiele lassen sich unter anderem im Arbeitsrecht finden, man denke beispielsweise an die in § 1 KSchG vorgeschriebene Sozialauswahl bei Kündigungen, durch die dem Interesse einer Arbeitgeberin an der Kündigung einer bestimmten Arbeitnehmerin gegebenenfalls die Berechtigung verwehrt wird, was nicht in erster Linie mit kollidierenden subjektiven Rechten Dritter, sondern mit strukturellen Erwägungen resultierend aus dem Sozialstaatsgebot gemäß Art. 20 I i. V. m. 28 I GG begründet wird.69 Die Interessentheorie stellt den Nutzen für das Subjekt im subjektiven Recht in den Vordergrund. Das nimmt Menke zum Anlass, die Gewährung sozialer Teilhaberechte hierauf zurückzuführen und dementsprechend eine produktive Konsequenz aus dem interessentheoretischen Anteil subjektiver Rechte abzuleiten. Aber wie das Beispiel des Steuermannes zeigt, ist nach der Interessentheorie nicht jedes Interesse und jeder Nutzen mit Rechten auszustatten, sondern lediglich bestimmte. Da rechtliche Entscheidungen regelmäßig präjudizielle Wirkung entfalten, ist bei dieser Bestimmung eine Orientierung an Partikularinteressen nicht uneingeschränkt möglich.70 Aus der Bestimmung und der damit einhergehenden Begrenzung der Interessen können sich – wie in den genannten Beispielen – spiegelbildlich soziale Teilhaberecht eines Dritten ergeben. Jedoch sind diese Rechte nicht das Resultat der Interessentheorie, welche dem Subjekt den Nutzen seines Rechts zugänglich machen will, sondern sie sind in diesem Fall Resultat der Wertungen des Rechts. Entscheidend ist, dass die Gewährung dieser subjektiven Teilhaberechte an und für sich nicht der Grund für deren Etablierung ist, sondern diese Teilhaberechte resultieren – neben anderen strukturellen Erwägungen – aus der Bindung der Erlaubnis der Willkür an ein der Rechtsordnung nicht widersprechendes Interesse.71 So wird das der Rechtsordnung widersprechende Interesse an der vollständigen Enterbung eines Abkömmlings von der Berechtigung aus Art. 14 I 1 GG nicht umfasst. Die Begründung dieser Teilhaberechte ist also eine andere, denn sie führt nicht den Eigenwillen in Form des Interesses des Dritten an, um das jeweilige Recht zu gewähren, was nach Menkes Schilderungen jedoch den Grund für die Gewährleistung eines Teilhaberechts darstellen müsste. Da Menke davon ausgeht, dass soziale Rechte und private Rechte im Eigenwillen denselben Ursprung haben,72 sind die sozialen Teilhaberechte seiner Meinung nach lediglich auf den Eigenwillen in seiner Performanz „Interesse“ zurückzuführen.73 Wäre dem so, würde jedoch in der Begrün69
Otker, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, § 1 KSchG, Rn. 4. Weiterführend hierzu vgl. Hiebaum, Die Politik des Rechts. Eine Analyse juristischer Rationalität, S. 267 f. 71 Dementsprechend erblickt Hellgardt den fundamentalen Unterschied zwischen Willensund Interessentheorie in dem Grund der rechtlichen Anerkennung der persönlichen Rechtsmacht statt in ihrer Ausgestaltung als Wille oder Interesse, vgl. Hellgardt, Regulierung und Privatrecht: staatliche Verhaltenssteuerung mittels Privatrecht und ihre Bedeutung für Rechtswissenschaft, Gesetzgebung und Rechtsanwendung, S. 355 f. 72 Menke, Kritik der Rechte, S. 223. 73 Ebd., S. 221 ff. 70
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dung dieser Willküreinschränkungen mit den subjektiven Ansprüchen des Dritten argumentiert und nicht mit verfassungsrechtlichen Wertungen. Der auf die Interessentheorie zurückzuführende Umstand, dass die subjektive Willkür nur zu bestimmten Zwecken beziehungsweise nur zu „rechtlich anerkannten Interessen“ berechtigt wird, führt in gewissen Fällen in erster Linie dazu, dass der Eigenwille des Subjekts beschränkt wird, da er sich in rechtlicher Form nicht auf jeden beliebigen Nutzen richten kann. Die zweckwidrige Rechtsausübung wird durch das Recht nicht gedeckt.74 Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass die interessentheoretische Fokussierung auf den Nutzen für das Subjekt mitunter auch zur Etablierung von Teilhaberechten führt, wie Menke es schildert, jedoch ist dies nicht in jedem Fall und nicht zwangsläufig die Begründung des jeweiligen Rechts. Die Wertentscheidung der Rechtsordnung bildet gewissermaßen die Maxime, an der sich die Entscheidung über die Anerkennung des jeweiligen Interesses ausrichtet, die potentielle Berechtigung eines Dritten erfolgt erst im zweiten Schritt.
5. Ergebnis In diesem Sinne kann aus dem Vorangegangenen geschlossen werden, dass aus der Interessentheorie als Bestandteil der theoretischen Grundlage des subjektiven Rechts und dem damit einhergehenden Bestimmungserfordernis der Interessen neben der produktiven Konsequenz ebenso eine limitative Konsequenz zu ziehen ist. Menke zieht die produktive Konsequenz, indem er die Interessenbefriedigung als konstitutiven Bestandteil des subjektiven Rechts anerkennt und damit Rechte zur sozialen Teilhabe interessentheoretisch begründet.75 Die Notwendigkeit der Bestimmung der Interessen durch die Rechtsordnung76 kann in diesem Sinne als Konkretisierung von Interessen, die in die Gewährung sozialer Teilhaberechte mündet, verstanden werden. Neben dieser richtigen Schlussfolgerung übergeht Menke jedoch die limitative Konsequenz, die das Bestimmungserfordernis gemäß der Interessentheorie gleichfalls mit sich bringt. Diese besteht in der Bindung der von der Rechtsordnung zuerkannten willkürlichen Rechtsmacht an ein von der Rechtsordnung anerkanntes – oder ihr zumindest nicht zuwiderlaufendes – Interesse,77 denn Bestimmung bedeutet 74
Medicus/Petersen, Allgemeiner Teil des BGB, § 10, Rn. 70. So auch Fezer, Teilhabe und Verantwortung. Die personale Funktionsweise des subjektiven Privatrechts, S. 241. 76 Menke, Kritik der Rechte, S. 95. 77 So bestimmt Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 44: „[…] nur das Wollen zu bestimmten Zwecken [wird] anerkannt und geschützt […].“; ähnlich auch Schwab/ Löhnig, Einführung in das Zivilrecht. Mit BGB – Allgemeiner Teil, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Kauf- und Deliktsrecht, S. 78, Rn. 183; Chelidonis, in: Juristische Ausbildung 2010, 726, 729; Fezer, Teilhabe und Verantwortung. Die personale Funktionsweise des subjektiven Pri75
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gleichzeitig auch Festlegung. Die Bestimmung dieser legitimen Interessen stellt einen fortlaufenden Prozess dar und geht mit der Anwendung rechtsinhärenter Wertungsmaßstäbe einher, was zwangsläufig zur Folge hat, dass gewisse Interessen von der Rechtsordnung nicht anerkannt werden. Die rechtliche Anerkennung ist potentielles Resultat der Wertung.78 Die Bestimmung eines Interesses bedeutet immer auch das Ziehen einer Grenze, da das Recht dem Subjekt lediglich bestimmte, vom Schutzzweck der Norm umfasste Interessen „ermöglicht“. Die Bindung von Willkür und Interesse impliziert eine Beschränkung der Wahlfreiheit hinsichtlich des Nutzens, zu dessen Realisierung das Subjekt rechtlich ermächtigt wird. Die limitative Komponente, die mit der Interessentheorie und der durch sie notwendig werdenden Konkretisierung der Interessen einher geht, findet bei Menke keine Erwähnung. Die Berechtigung des Eigenwillens wird nach hier vertretener Auffassung durch die Einbeziehung der Interessentheorie von vorneherein dahingehend begrenzt, dass sich der zu berechtigende Eigenwille nicht auf jeden beliebigen Nutzen, der lediglich das Kriterium die Rechte Dritter zu achten, erfüllt,79 richten darf. Daraus ergibt sich sodann ein weiter Rechtsrahmen,80 indem aufgrund spezifischer, rechtseigener Wertungen beispielsweise auch selbstschädigende Verfügungen81 berechtigt werden können, der jedoch grundsätzlich konkret – notfalls im Wege der Auslegung – abgesteckt werden kann und sich nicht in dem Sinne als uferlos darstellt, als dass der Eigenwille durch das subjektive Recht schlichtweg aus dem Grunde gilt, dass es sich um das Wollen „von jemandem“82 handelt.
vatrechts, S. 238; kritisch hingegen Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 20, Rn. 7. 78 Raiser, in: Summum ius summa iniuria: Individualgerechtigkeit und der Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben. Tübinger Ringvorlesung Wintersemester 1962/63, 145, 148. 79 So jedoch Menke, Kritik der Rechte, S. 104. 80 Innerhalb dieses Rechtsrahmens bleibt das Subjekt demnach auch weiterhin zur Willkür berechtigt, so dass der Wille nicht nur die Frage des „Ob“ der Inanspruchnahme des Rechts entscheidet, sondern auch darüber hinaus gehende Entscheidungen des Subjekts ausgehend von seinem Willen getroffen werden können. Folglich liegt keine „Verkürzung“ des Willküraspekts vor, welche zur Folge hätte, dass lediglich die Entscheidung über die Beschreitung des Klageweges der Willkür überlassen bleibt, was Menke jedoch bei Jhering und Jellinek kritisiert, vgl. ebd., S. 94 f. 81 Zur Kritik an der Interessentheorie, die Berechtigung selbstschädigender Verhaltensweisen nicht erklären zu können, siehe Auer, in: Archiv für die civilistische Praxis 2008, 584, 600 u. 623. 82 So aber Menke, Kritik der Rechte, S. 197.
II. Privatrechtsdogmatische Betrachtung: Die Generalklausel des § 138 I BGB
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II. Privatrechtsdogmatische Betrachtung: Die Generalklausel des § 138 I BGB Im Unterschied zum Rechtsgebiet des Strafrechts bestehen hinsichtlich des Privatrechts keinerlei Zweifel, dass Menkes Rekonstruktion dieses erfassen soll. Trotz seiner „langweiligen Alltäglichkeit“ stellt das Privatrecht für Menke „die für die Strukturierung unseres sozialen Lebens wichtigste Rechtsdimension“ dar, „weil es ökonomische Beziehungen organisiert und zum Ausdruck bringt“.83 Seine These von der Ermächtigung des Subjekts als substantielle und einzige Maxime der Rechtsordnung geht einher mit der Annahme einer unhinterfragten Positivierung des Eigenwillens, durch die ein Wille ungeachtet seiner Entstehung und seines Inhalts legalisiert wird. Mangels der Möglichkeit, den Eigenwillen zu hinterfragen, resultieren aus der Positivierung autonome soziale Sphären, in denen das Subjekt nach freiem Belieben agieren kann und die der Politik vollends entzogen sind.84 Vor dem Hintergrund der Frage nach der Tragfähigkeit dieser Annahmen scheint sich auf den ersten Blick vor allem in Anbetracht der im Privatrecht mannigfaltig vorfindlichen Beispiele staatlicher Intervention Widerstand hiergegen zu regen. Das Ungleichgewicht, welches im gesellschaftlichen und sozialen Raum entstehen kann, wenn sich das Recht schlicht als Instrument zur Sicherung von Freiheitssphären versteht, ist auch in der Privatrechtsordnung hinlänglich bekannt. Eine Reaktion darauf kann in der Materialisierung des Privatrechts gesehen werden.85 Diese findet unter anderem Ausdruck in der Etablierung von Arbeitnehmer-86, Mieter- und Verbraucherschutzrechten,87 welche eine gesellschaftsgestaltende Funktion aufweisen.88 Die privatrechtlich ermöglichte Selbststeuerung aufgrund individueller Bedürfnisse wird hier überlagert von „sozialen Regulierungstatbe-
83 Menke/Schmidt/Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 54, 61. 84 Menke, Kritik der Rechte, S. 319. 85 Vgl. hierzu auch Rehbinder, in: Gesetzgebungstheorie und Rechtspolitik. Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1988, 109, 109 ff.; sowie Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, S. 477 ff. 86 Diese finden indes in Menkes Darstellung des Lohnarbeitsverhältnisses, in der er mit Marx von einer „Herrschaft [des Arbeitgebers, Anm. I. K.] über den Arbeiter“ ausgeht – vgl. Menke, Kritik der Rechte, S. 275 – keine Berücksichtigung. 87 Siehe hierzu auch weiterführend Teubner, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1982, 13, 13 ff. 88 Vgl. umfassend zu Systematik und verfassungsrechtlicher Legitimation des hiermit im Zusammenhang stehenden deutschen Antidiskriminierungsrechts Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht. Antidiskriminierungsrecht als Ermöglichungsbedingung der demokratischen Begegnung von Freien und Gleichen, S. 223 ff.; zur Funktionslogik spezieller Differenzierungsverbote aus Art. 3 Abs. 3 GG am Beispiel des Kriteriums der „Rasse“ vgl. außerdem Kutting/Amin, DÖV 2020, 612, 613 f.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
ständen“89, wodurch die Berücksichtigung sozialer Folgen90 bei der Rechtsausübung sichergestellt werden soll. Der Staat wirkt folglich in Bereiche hinein, die grundsätzlich durch die Privatautonomie abgesichert sind. Insofern sind die sozialen Sphären der Politik nicht entzogen, vielmehr findet das Politische über diese regulatorische Einwirkung Eingang in die geschaffenen Freiheitssphären.91 Der sich in den subjektiven Rechten manifestierende Eigenwille kann nicht nach freiem Belieben verfahren, sondern findet seine Grenze an politisch unerwünschten Folgen der Selbststeuerung,92 die juristisch Niederschlag gefunden haben. Was auf den ersten Blick wie eine eindeutige Lücke im Menkeschen System anmutet, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung jedoch als prinzipiell der rekonstruktiven Binnenlogik der Kritik der Rechte entsprechend. Nachvollziehbar wird diese Feststellung unter Heranziehung der hinter der Etablierung der beschriebenen kompensatorischen Rechte stehenden Idee und des hierdurch ausgelösten rechtlichen Reaktionsmusters. Da die dem Privatrecht zugrundliegende Vorstellung von sich gleichwertig gegenüberstehenden Rechtssubjekten in der Realität durch ungleiche Machtverhältnisse durchbrochen wird, stellt die Bestrebung, jene Gleichwertigkeit herzustellen, ein die Privatrechtsordnung prägendes Motiv dar.93 Als Mittel zur Erreichung dieses Zwecks bedient sich die Privatrechtsordnung dabei der Etablierung von Rechtsnormen, die im Ergebnis zumeist in die Möglichkeit der jeweils unterlegenen Partei münden, mithilfe eines spiegelbildlichen subjektiven Rechts eine Kompensation der ungleichen Position zu erreichen. Zu denken ist hierbei exemplarisch an Rechtspositionen wie Widerrufsrechte94 oder Informationsansprüche der Verbraucherin gegenüber der Unternehmerin, die dazu dienen sollen, die Asymmetrie in der Vertragsbeziehung aufzulösen.95 Hier zeigt sich besonders anschaulich eine Gestalt der von Menke beschriebenen Entscheidung, „der Gleichheit die Form der Rechte zu geben“96. Im Zentrum dieser Ausprägung des materialisierten Privatrechts steht folglich dem Grunde nach wiederum der Gedanke der gleichen Berechtigung der Subjekte. Überdies entspricht auch der Mechanismus, der als Re89
Hart, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (KritV) 1986, 211, 240. 90 Günther, in: Wachsende Staatsaufgaben – sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 51, 64. 91 Siehe hierzu auch Looschelders, in: Archiv für die civilistische Praxis 2017, 156, 163, der eine „Politisierung des Vertragsrechts“ annimmt. 92 Rehbinder, in: Gesetzgebungstheorie und Rechtspolitik. Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1988, 109, 109. 93 Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts. Zweiter Band: Das Rechtsgeschäft, S. 10; vgl. hierzu und zu der hiermit im Zusammenhang stehenden „freiheitsverstärkende[n] sozialstaatliche[n] Schutzfunktion“ der Grundrechte außerdem Seifert, in: Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2011, 696, 702. 94 Zu Ungleichgewichten, die wiederum aus der Gewährung solcher Verbraucherschutzrechte resultieren können vgl. Meder, in: Kritische Justiz 2019, 528, 536 f. 95 Vgl. hierzu Busche, in: Münchener Kommentar zum BGB Bd. 1, Vor § 145, Rn. 8. 96 Menke, Kritik der Rechte, S. 7.
II. Privatrechtsdogmatische Betrachtung: Die Generalklausel des § 138 I BGB
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aktion auf die pathologischen Effekte zur Anwendung gelangt – namentlich die Schaffung kompensatorischer subjektiver Rechte – der von Menke beschriebenen rechtlichen Ziel- und Handlungslogik.97 Zur Überprüfung von Menkes Rekonstruktion sind folglich vielmehr solche privatrechtsdogmatischen Figuren heranzuziehen, die mit dieser Logik brechen. In Betracht kommen daher Rechtsfiguren, die die Ausübung subjektiver Rechte aufgrund überindividueller Motive beschränken, dabei jedoch nicht gleichzeitig wieder in die Logik der Rechtegenerierung verfallen. Die Rechtsordnung kennt eine breite Palette an Modifikationen, die das subjektive Recht betreffen können. Zur Systematik der Stellschrauben zählt bereits die Konturierung gesetzlicher Anspruchsinstitute. Zudem können vertragliche Ansprüche in ihrer Ausgestaltung durch ius cogens konfiguriert werden.98 Einschränkungen können sich überdies auch aus Normen des Öffentlichen Rechts etwa bau- oder immissionsschutzrechtlicher Provenienz ergeben. Darüber hinaus besteht im Privatrecht eine Vielzahl an verschiedenen Missbrauchsschranken, man denke etwa an die §§ 226, 242 BGB. Herangezogen werden könnten zudem solche Rechtsfiguren, die dem Schutz des Rechtsverkehrs dienen, wie die Rechtsfähigkeit oder die Verjährung. Aufgrund ihrer rein formalrechtlichen Ausrichtung erscheint eine Beschäftigung mit ihnen im vorliegenden Kontext indes als wenig ertragreich. Möchte man daher auf der Ebene des materialisierten Privatrechts bleiben, stellt sich die Frage, ob sich nicht auch in diesem Bereich entsprechende Rechtsfiguren finden lassen. Unter dieser Prämisse richtet sich der Blick mithin auf das Phänomen einer Generalklausel, die dem ius cogens angehört und eine ex-tunc Nichtigkeit anordnet.
1. Materialisierungsprozess a) Rückschlüsse aus der Rechtsfolgenbetrachtung In Bezug auf die Prämisse einer das Muster der immer neuen Etablierung subjektiver Rechte durchbrechenden Handlungslogik ist die Generalklausel des § 38 I BGB von besonderem Interesse für die Untersuchung.99 Ein Verstoß gegen die guten Sitten hat gemäß § 138 I BGB die Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts von Anfang an (ex tunc) zur Folge. Bei dieser Rechtsfolge handelt es sich um den gravierendsten 97
Vgl. ebd., S. 246 ff. u. S. 324 ff. Selbst unterhalb der Schwelle des ius cogens liefert das dispositive Recht gesetzliche Regelungsmuster, vgl. weiterführend hierzu Cziupka, Dispositives Vertragsrecht. Funktionsweise und Qualitätsmerkmale gesetzlicher Regelungsmuster, S. 90 ff. 99 Mit ex-tunc Wirkung operieren zwar auch andere Institute des ius cogens, etwa Anfechtungsrechte gemäß § 142 I BGB oder auch § 134 BGB. Die Untersuchung konzentriert sich jedoch deswegen auf § 138 BGB, weil in dieser Vorschrift der Vorstellung einer Sittenwidrigkeit juristisch Raum gegeben wird, welcher Menke in seiner Rekonstruktion des Privatrechts widersprechen würde, näher hierzu siehe S. 135 ff. der vorliegenden Arbeit. 98
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
Eingriff in die Privatautonomie,100 da eine Rechtsposition auf diese Weise gewissermaßen rückwirkend nicht zur Entstehung gelangt. Hierdurch wird das rechtliche Können des Subjekts eingeschränkt, sodass die Geltung seines Eigenwillens auf diesem Wege reguliert wird. Der durch die spezielle Rechtsfolge besonders schwerwiegende Eingriff dient unter anderem auch der Abschreckung und der Prävention der Missachtung der Rechtsordnung.101 Neben die von Menke angenommene fortwährende Etablierung immer neuer subjektiver Rechte102 tritt hier folglich ein andersartiger Mechanismus, mit dessen Hilfe eine Beschränkung subjektiver Rechte erreicht wird. Für die Rechtsordnung ist das Operieren in der Form subjektiver Rechte, das heißt also die Gewährung subjektiver Rechte den jeweiligen Akteurinnen gegenüber, demnach nicht alternativlos. Im Rahmen des § 138 I BGB wird nicht einer der Konfliktparteien ein zusätzliches subjektives Recht wie das exemplarisch genannte Widerrufsrecht der Verbraucherin zuerkannt, sondern der begehrten Rechtsposition wird die rechtliche Geltung von vorneherein verwehrt. Zudem ist diese Rechtsfolge jeglicher Disposition durch die Subjekte entzogen. Es bedarf keiner Geltendmachung, die Nichtigkeit ist von Amts wegen zu beachten103 und vom Willen der Einzelnen unabhängig. Der Wirkmechanismus der Generalklausel des § 138 I BGB mündet folglich nicht in die von Menke beschriebene Handlungslogik der Rechtegenerierung. Mithin wird die Materialisierung hier nicht in die Form subjektiver Rechte gebracht, weshalb angenommen werden kann, dass es sich um eine für die Kontrastierung mit Menkes Rekonstruktion geeignete Rechtsfigur handelt. Um sich nun auch Menkes Kernthese von einer den Prozess der Selbstreflexion blockierenden Positivierung des Natürlichen anzunähern, sollen im Folgenden die Wechselwirkungen, welche sich auf der von juristischer Dogmatik geprägten Rechtsanwendungsebene zwischen subjektiven Rechten und der Generalklausel des § 138 I BGB ergeben, beleuchtet werden. b) Wirkungsweise Elementarer Bestandteil der These von der Blockade der Selbstreflexion aufgrund der Positivierung des Eigenwillens durch die Form der subjektiven Rechte ist Menkes Auffassung, dass sich im bürgerlichen Recht eine endgültige Entkopplung von Maximen sittlicher Art, welche Menke in Kritik der Rechte nicht näher definiert, vollzogen habe.104 Unbestritten ist zunächst einmal Menkes Feststellung, dass im modernen Recht – anders als in der traditionellen Rechtsordnung Athens – An100
Köhler, in: Juristische Schulung 2010, 665, 666. Jakl, in: beck-online. Grosskommentar zum Zivilrecht, § 138, Rn. 5; Armbrüster, in: Münchener Kommentar zum BGB Bd. 1, § 138, Rn. 2. 102 Menke, Kritik der Rechte, S. 247 f.; Menke, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2016, 71, 75. 103 Ellenberger, in: Palandt Bürgerliches Gesetzbuch, § 138, Rn. 21; Köhler, in: Juristische Schulung 2010, 665, 665. 104 Menke, Kritik der Rechte, S. 41, 191 f., 213, 251 ff., 292 u. passim. 101
II. Privatrechtsdogmatische Betrachtung: Die Generalklausel des § 138 I BGB
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sprüche nicht deshalb bestehen, weil eine objektive Ordnung, die den gerechten Anteil eines jeden bestimmt, dieses Bestehen festschreibt.105 Es handelt sich nicht um einen „gerechte[n] Anspruch, weil er ein Anspruch auf Gerechtes ist“106. Unter „Gesetz“ wird auch „nicht mehr die gerechte Vorschrift sittlichen Tuns“107 verstanden. Die Gerechtigkeit des modernen Rechts manifestiert sich nicht darin, dass „sittliche Gehalte verwirklicht“108 werden. Insofern handelt es sich hier um zwei voneinander getrennte Ebenen. Die „konsequente Entsittlichung“109 von der Menke ausgeht, setze bereits am geschichtsphilosophischen Ort Rom ein und entlaste die im modernen Recht vom Menschen unterschiedene Bürgerin von jeglichem sittlichen Anspruch.110 Diese Abkopplung von Sittlichkeitsvorstellungen sei die Voraussetzung für die vollumfassende subjektiv-rechtliche Positivierung des Eigenwillens.111 Dies wirft die Frage auf, wie sich diese Annahmen mit der Generalklausel des § 138 I BGB, welche unmittelbar auf den Begriff der „guten Sitten“ Bezug nimmt, ins Verhältnis setzen lassen und welche Implikationen sich hieraus für das subjektive Recht auf der Rechtsanwendungsebene ergeben. aa) Beschränkung der Privatautonomie Dem Wortlaut zufolge betrifft die Regelung des § 138 I BGB ausschließlich Rechtsgeschäfte, wodurch in erster Linie privatrechtliche Verträge einer Überprüfung anhand der „guten Sitten“ unterstellt werden. Da Menke indes Verträge insofern aus seiner Analyse ausschließt, als sie Tauschverhältnisse darstellen, deren Wurzeln weit zurück reichen, weshalb sie nicht das Spezifische der modernen Form der Rechte verkörpern,112 stellt sich somit zunächst die grundlegende Frage, ob aus der Betrachtung der Grundsätze des § 138 I BGB Schlüsse gezogen werden können, die auf Menkes Analyse subjektiver Rechte im bürgerlichen Recht anwendbar sind. Sofern § 138 I BGB lediglich an Sittlichkeitserwägungen orientierte Vorgaben für die Gestaltung privatrechtliche Verträge beinhaltet, wäre dies nicht der Fall, da jene Verträge nicht repräsentativ für den Gegenstand von Menkes Rechtsformanalyse sind. Abstrahiert man jedoch von jenen Vertragsgestaltungsregeln – welche unzweifelhaft auch Inhalt der in Rede stehenden Generalklausel sind – tritt die Beschränkung der Privatautonomie als Hauptzweck der Regelung in den Vordergrund. Die Generalklausel des § 138 I BGB stellt das aufgrund der Missbrauchsanfälligkeit 105
Ebd., S. 44 ff. Ebd., S. 59. 107 Ebd., S. 58. 108 Ebd., S. 151. 109 Ebd., S. 41. 110 Ebd., S. 96. 111 Ebd., S. 191 f. 112 Vgl. Menke, in: MenschenRechtsMagazin 2008, 197, 198 f.; siehe hierzu auch Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, S. 29 f. 106
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
der gesetzlich verbürgten Privatautonomie notwendige Korrektiv für die autonome Rechtsgestaltung anhand der Grundprinzipien der Rechts- und Sittenordnung dar.113 (1) Privatautonomie als subjektives Recht Um eine Relevanz der Grundsätze des § 138 I BGB für Menkes Analyse der Form der subjektiven Rechte annehmen zu können, muss folglich zunächst die Frage beantwortet werden, ob die Privatautonomie, welche den Gegenstand der Beschränkungen aus § 138 I BGB bildet, ein subjektives Recht in Menkes Sinne darstellt. Anders als ein rechtsgeschäftlich eingeräumtes subjektives Recht wird die Privatautonomie dem Rechtssubjekt von der Rechtsordnung zuerkannt. Es ist dennoch fraglich, ob die Privatautonomie für sich betrachtet ein genuin subjektives Recht darstellt. Dies könnte in Anbetracht des Umstandes, dass die Privatautonomie grundsätzlich jedem Subjekt zukommt und daher eine „allgemeine […] ,Fähigkeit […]‘“114 darstellt, während ein subjektives Recht seinem Inhaber eine darüber hinausgehende Machtposition verschaffen solle,115 bezweifelt werden. So möchte Larenz die Privatautonomie nicht als subjektives Recht verstanden wissen, da ihr keinerlei Pflicht korrespondiere und sie lediglich die „Grundbedingung privatrechtlich relevanten Handelns“116 bilde. Das von ihm vorgebrachte Argument gegen eine Kategorisierung der Privatautonomie als subjektives Recht gründet auf dem Umstand, dass diese grundsätzlich jedem rechtsfähigen Subjekt zukomme. Diese Argumentation überzeugt jedoch nicht, da hiernach ebenso klassische subjektive Rechte, wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II S. 1 GG) oder das allgemeine Persönlichkeitsrecht117 (Art. 2 I i. V. m. Art. 1 I GG) basierend auf dem Umstand, dass sie jedem Individuum gewährt werden, nicht als subjektive Rechte zu qualifizieren wären. Die Privatautonomie wird darüber hinaus eigenständig als Freiheitsrecht gem. Art. 2 I GG verfassungsmäßig garantiert, sodass eine Beschränkung als staatlicher Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit zu werten ist,118 was außerdem für eine Klassifizierung als subjektives Recht spricht. Gleichzeitig stellt die Privatautonomie ein das gesamte Privatrechtssystem prägendes 113 Vgl. Ellenberger, in: Palandt Bürgerliches Gesetzbuch, § 138, Rn. 1; Jakl, in: beckonline. Grosskommentar zum Zivilrecht, § 138 BGB, Rn. 2 f.; Mansel, in: Jauernig. Bürgerliches Gesetzbuch, § 138, Rn. 1 f. 114 Larenz, in: Beiträge zur europäischen Rechtsgeschichte und zum geltenden Zivilrecht. Festgabe für Johannes Sontis, 129, 143. 115 Seckel, in: Festgabe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin zum 50jährigen Dienstjubiläum ihres Vorsitzenden, des wirklichen geheimen Rats Dr. Richard Koch, 205, 211. 116 Larenz, in: Beiträge zur europäischen Rechtsgeschichte und zum geltenden Zivilrecht. Festgabe für Johannes Sontis, 129, 143. 117 Adomeit, Gestaltungsrechte, Rechtsgeschäfte, Ansprüche. Zur Stellung der Privatautonomie im Rechtssystem, S. 12, der die Privatautonomie als Gestaltungsrecht klassifiziert. 118 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 2, Rn. 101 f.; Jakl, in: beckonline. Grosskommentar zum Zivilrecht, § 138 BGB, Rn. 2.
II. Privatrechtsdogmatische Betrachtung: Die Generalklausel des § 138 I BGB
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Grundprinzip dar, was jedoch ihrer Eigenschaft als subjektives Recht nicht entgegensteht, sondern diese vielmehr ergänzt.119 Bezogen auf die Ausgangsfrage, ob Rückschlüsse aus der Untersuchung der Maßstäbe und der Rechtswirkungen des § 138 I BGB auf Menkes Formanalyse des subjektiven Rechts anwendbar sind, ist außerdem festzuhalten, dass unabhängig von der Qualität der Privatautonomie als subjektives Recht beispielsweise ebenso Gestaltungsrechte, welche unzweifelhaft subjektive Rechte darstellen, von § 138 I BGB erfasst werden.120 Je nach Fallkonstellation werden außerdem neben der Privatautonomie gegebenenfalls weitere subjektive Rechte wie die Eigentumsgarantie (Art. 14 I S. 1 GG) oder die Berufsfreiheit (Art. 12 I S. 1 GG) durch § 138 I GG zumindest mittelbar eingeschränkt, sodass in jedem Fall Effekte auf subjektive Rechte zu vermuten sind und damit eine Relevanz für Menkes Rechtsformanalyse auf Ebene der dogmatisch geformten Rechtsanwendung angenommen werden kann. (2) Rechtstechnische Grenzen der Privatautonomie Die Privatautonomie ermächtigt das Rechtssubjekt Menke zufolge dazu, durch das Schließen von Verträgen Recht zu setzen. Sie bildet mithin eine der zwei Gestalten der politischen Ermächtigung des Subjekts, die mit der von Menke beschriebenen Politizität der Form subjektiver Rechte einhergehen.121 Dieser Vertragsfreiheit seien dabei lediglich „Grenzen […] rechtstechnischer Art“122 gesetzt. Eine derartige Begrenzung, die lediglich Gründe der Rechtssicherheit zur Einschränkung der Privatautonomie heranzieht, sei erst möglich gewesen, seit „die Bindung des Rechts an die politische Sittlichkeit oder die natürliche Vernunft sich aufgelöst hat“123. Hinsichtlich dieser Argumentation bezieht sich Menke auf Max Weber und konkretisiert mit einem Zitat seine Annahme von rechtstechnischen Grenzen der Privatautonomie, als solchen „,aus Zweckmäßigkeitsgründen, insbesondere um der eindeutigen Beweisbarkeit der Rechte und also der Rechtssicherheit willen‘“124. Diese Ausführungen Webers stehen indessen im Kontext von mittelalterlichen Urkundsbeweisen und Siegeln und beziehen sich an der besagten Stelle auf formale Anforderungen, die an bestimmte Rechtsgeschäfte gestellt werden. Nur solche 119
Hacker, Verhaltensökonomik und Normativität: die Grenzen des Informationsmodells im Privatrecht und seine Alternativen, S. 277; Ellenberger, in: Palandt Bürgerliches Gesetzbuch, Einf v. § 145, Rn. 7. 120 Armbrüster, in: Münchener Kommentar zum BGB Bd. 1, § 138, Rn. 9; Ellenberger, in: Palandt Bürgerliches Gesetzbuch, § 138, Rn. 11. 121 Menke, Kritik der Rechte, S. 188 ff.; siehe dazu außerdem das Kapitel „Die Politizität der Form der subjektiven Rechte“ auf S. 58 ff. der vorliegenden Arbeit. 122 Ebd., S. 191. 123 Ebd., S. 191. 124 Ebd., S. 191, Zitat aus Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, S. 523.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
Rechtsgeschäfte, deren Beweisbarkeit in besonderer Weise sichergestellt werden müsse, erforderten in neuerer Zeit die Einhaltung einer bestimmten Form. Dabei bezieht sich Weber vermutlich auf dingliche Rechtsgeschäfte wie beispielsweise die Auflassung, die auch heute in formaler Hinsicht der notariellen Beurkundung bedarf, vgl. § 925 I BGB. Weber thematisiert hier demnach nicht die Begrenzung der Privatautonomie aufgrund von Rechtssicherheitserwägungen, sondern vielmehr die Begrenzung von Formerfordernissen, welche nur solche Rechtsgeschäfte treffen soll, deren Beweisbarkeit in besonderer Weise sichergestellt werden muss. Hinsichtlich der Privatautonomie spricht auch Weber an dieser Stelle lediglich pauschal von „Schranken der Vertragsfreiheit“125. Im weiteren Verlauf führt Weber aus, dass die Einschränkung der Vertragsfreiheit aus den verschiedensten Gründen erfolgen kann, unter anderem auch aufgrund eines Verstoßes „gegen die guten Sitten“126. Ein solcher Verstoß gegen die guten Sitten führe die Nichtigkeit des Vertrages herbei, selbst wenn die Vereinbarung keinerlei Auswirkungen auf Dritte habe. Hintergrund seien meist „ethische oder politische Interessen“127. Es ist folglich davon auszugehen, dass Weber – anders als Menke – die Grenzen der Vertragsfreiheit nicht allein auf solche „rechtstechnischer Art“ zurückführt, sondern ebenso von einer Begrenzung anhand von materialen Wertungen ausgeht. Dies geht auch aus Webers Ausführungen hinsichtlich „antiformale[r] Tendenzen in der modernen Rechtsentwicklung“128 hervor, die Menke ebenfalls aufgreift,129 jedoch nicht auf die Form subjektiver Rechte oder explizit auf die Vertragsfreiheit bezieht. Anhand von Weber schildert Menke verschiedene Materialisierungsprozesse des Privatrechts, die die „konsequente Gestalt seiner Selbstreflexion“130 darstellen, während die Form der subjektiven Rechte, die nach der von Menke beschriebenen Ontologie des modernen Rechts sowohl Produkt als auch Vollzugsinstrument der Selbstreflexion sein soll,131 die Selbstreflexion blockiere. Gemäß dieser Ontologie müsste die Form der subjektiven Rechte Menke zufolge als Operationalisierung der Selbstreflexion des modernen Rechts fungieren, indem durch sie das Recht für die Einflüsse des Nichtrechts geöffnet werde. Die durch die Performanzen Ermöglichung und Erlaubnis geprägte Struktur der subjektiven Rechte positiviere indessen den nichtrechtlichen Eigenwillen und verhindere damit eine produktive Selbstreflexion.132 Trotz der von ihm aufgezeigten tatsächlich stattfindenden selbstreflexiven Materialisierung im Recht, stellt Menke letztlich die Form der 125
Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, S. 523. Ebd., S. 525 f. 127 Ebd., S. 527. 128 Ebd., S. 644 ff. 129 Menke, Kritik der Rechte, S. 144 ff. 130 Ebd., S. 148. 131 Ebd., S. 158 ff.; siehe hierzu außerdem das Kapitel „Die Form als Produkt und Vollzug der Selbstreflexion“ auf S. 43 ff. der vorliegenden Arbeit. 132 Ebd., S. 164 ff. 126
II. Privatrechtsdogmatische Betrachtung: Die Generalklausel des § 138 I BGB
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subjektiven Rechte als „formale Konsequenz“133 der Selbstreflexion in den Mittelpunkt und kommt daher zu dem Ergebnis, dass die Selbstreflexion „blockiert“ bzw. in der falschen Art und Weise vollzogen werde. bb) Wertungsmaßstab des § 138 I BGB § 138 I BGB verfügt nach einhelliger Meinung über ein ausgeprägtes Materialisierungspotential,134 da mit dem Begriff der „guten Sitten“ die Möglichkeit der Bezugnahme auf außerrechtliche Normen eröffnet wird. Generalklauseln entwickelten sich als ein „Zugeständnis des Gesetzespositivismus an die richterliche Eigenverantwortung und an eine überpositive Sozialethik“135. Zu der Frage nach der Konkretisierung des „Gute-Sitten-Begriffs“ im Einzelnen werden jedoch nach wie vor unterschiedliche Meinungen vertreten.136 Die Rechtsprechung wendet zur Konkretisierung des Begriffs die Formel vom „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“137 an, welche jedoch insbesondere in der Literatur auf Widerspruch stößt und zuweilen als „Leerformel“ kritisiert wird.138 Unabhängig von der Beurteilung des durch sie geförderten Erkenntnisgewinns beinhaltet die Formel der Rechtsprechung jedoch den Hinweis darauf, dass hier auf eine von der Rechtsordnung verschiedene gesellschaftliche „Sollensordnung“139 Bezug genommen wird. Einerseits wird dementsprechend angenommen, dass durch den Maßstab der guten Sitten in § 138 I BGB außerrechtliche Normen im Recht wirksam werden.140 Andererseits wird jedoch auch vertreten, dass 133
Ebd., S. 153. Canaris, in: Archiv für die civilistische Praxis 2000, 273, 295 ff.; Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit. Generalklauseln im Spiegel der Antinomien des Privatrechtsdenkens, S. 42; Weber, in: Archiv für die civilistische Praxis 1992, 516, 519 ff.; Calliess, Prozedurales Recht, S. 63 f. 135 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. Unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, S. 476, demzufolge Generalklauseln zunächst zu einer „Umbildung der liberalen Wirtschaftsmoral in eine sozial-staatliche“ genutzt wurden, ebd., S. 518. 136 Die umfassende Darstellung aller hierzu vertretenen Meinungen ist im vorliegenden Kontext nicht zielführend und wird daher nicht angestrebt, siehe dazu die zitierte Literatur. Hier geht es vielmehr um das Wechselverhältnis zwischen Recht und Nichtrecht im Rahmen der Generalklausel im Allgemeinen. 137 RGZ 80, 219, 221; BGH NJW 1953, 1665, 1665 ff.; BGH NJW 1977, 2356, 2357; BGH NJW 2014, 1380, 1380; vgl. Haberstumpf, Die Formel vom Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Eine Untersuchung über juristische Argumentationsweisen, S. 10 ff. 138 Sack, in: NJW 1985, 761, 764 f.; Heldrich, in: Archiv für die civilistische Praxis 1986, 74, 94; Teubner, Standards und Direktiven in Generalklauseln. Möglichkeiten und Grenzen der empirischen Sozialforschung bei der Präzisierung der Gute-Sitten-Klauseln im Privatrecht, S. 20; Haferkamp, in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, § 138. Sittenwidriges Rechtsgeschäft, Wucher, Rn. 1 f. 139 Armbrüster, in: Münchener Kommentar zum BGB Bd. 1, § 138, Rn. 11. 140 Ebd., Rn. 11 f. 134
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die Annahme einer Rezeption außerrechtlicher Maßstäbe durch § 138 I BGB regelmäßig ein Missverständnis darstelle und es hier stattdessen um die Konkretisierung rechtsimmanenter Maßstäbe und der Prinzipien der Rechtsordnung gehe.141 In diesem Zusammenhang gilt es jedoch zu bedenken, dass die ethischen und sittlichen Grundsätze, die sich rechtlich niederschlagen, jedenfalls ursprünglich solche einer außerrechtlichen Sollensordnung waren.142 Hier werden folglich im Recht nicht nur „natürliche Tatsachen voraus[ge]setzt“, sondern entgegen Menkes Annahme, ebenso „normative Gehalte in Gesetze übersetzt“143. Diejenigen Normen der Sittlichkeit, denen nach Ansicht des Rechts Geltung zukommen soll, werden somit zu rechtlichen Normen,144 was einen Materialisierungsprozess im objektiven Recht darstellt. Knüpften Generalklauseln wie § 138 I BGB ausschließlich an diejenigen Wertungen an, die die Rechtsordnung ohnehin enthält, wären sie für sich betrachtet entbehrlich.145 Insbesondere bestünde keine Notwendigkeit für eine Differenzierung zwischen § 134 BGB, der Verstöße gegen gesetzliche Verbote betrifft, und § 138 I BGB. Aus den Protokollen der zweiten Kommission zu § 106 BGB (dem späteren § 138 BGB), in denen die Motive zum BGB beleuchtet werden, geht hervor, dass die „öffentliche Ordnung“ als Teil der Sittlichkeitsordnung zu verstehen ist,146 wenn diese damit auch nicht abschließend definiert ist. Der in § 138 I BGB enthaltene Maßstab ist demnach von der „Wechselwirkung“ zwischen außerrechtlichen Wertungen und rechtsimmanenten Prinzipien geprägt,147 während im Konfliktfall der verfassungskonformen, rechtlichen Werteordnung der Vorzug zu gewähren ist.148 Die
141 Ellenberger, in: Palandt Bürgerliches Gesetzbuch, § 138, Rn. 3 f.; ähnlich auch Steindorff, in: Summum ius summa iniuria: Individualgerechtigkeit und der Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben. Tübinger Ringvorlesung Wintersemester 1962/63, 58, 64; so auch Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, S. 7 hinsichtlich der Generalklausel des § 242 BGB. 142 Armbrüster, in: Münchener Kommentar zum BGB Bd. 1, § 138, Rn. 12; Medicus/Petersen, Allgemeiner Teil des BGB, § 46, Rn. 679. 143 Menke, Kritik der Rechte, S. 109. 144 Sack, in: NJW 1985, 761, 768; Fezer, Teilhabe und Verantwortung. Die personale Funktionsweise des subjektiven Privatrechts, S. 19. 145 Vgl. Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit. Generalklauseln im Spiegel der Antinomien des Privatrechtsdenkens, S. 152, die daher auch die auf Recht und Moral bezogene Trennungsthese ablehnt, ebd., S. 216; Haberstumpf, Die Formel vom Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Eine Untersuchung über juristische Argumentationsweisen, S. 71. 146 Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, 1. Band, S. 725. 147 Armbrüster, in: Münchener Kommentar zum BGB Bd. 1, § 138, Rn. 13; Haberstumpf, Die Formel vom Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Eine Untersuchung über juristische Argumentationsweisen, S. 64; Do¨ rner, in: Handkommentar Bürgerliches Gesetzbuch, § 138, Rn. 1. 148 Ellenberger, in: Palandt Bürgerliches Gesetzbuch, § 138, Rn. 6.
II. Privatrechtsdogmatische Betrachtung: Die Generalklausel des § 138 I BGB
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Aufnahme außerrechtlicher Normativität ins Recht ist ein stetiger Prozess, der dem entspricht, was Menke „responsives Recht“149 nennt. Bezogen auf das „bürgerliche Recht“ kritisiert Menke diesbezüglich jedoch, dass das Nichtrechtliche, auf welches das Recht im Selbstreflexionsprozess Bezug nimmt, aufgrund der Form der subjektiven Rechte unhinterfragt positiviert werde.150 Demgegenüber stellt sich die Frage, wie sich die Aufnahme des Nichtrechts in das Recht durch eine objektive Norm wie § 138 I BGB vollzieht und wie sich dies auf der dogmatisch geformten Rechtsanwendungsebene auf die subjektiven Rechte auswirkt. Menkes Ausführungen zufolge stellt das Nichtrecht im Idealfall „Trieb […], nicht Grund“ für die Responsivität des Rechts dar, so dass die Autonomie der rechtlichen Selbsthervorbringung stets gesichert ist.151 In diesem Kontext ist besonders eine der drei152 von Teubner herausgearbeiteten Funktionen der „Gute-Sitten-Klausel“, namentlich die Rezeptionsfunktion, hervorzuheben. Mit der Rezeptionsfunktion geht eine „juristische Kontrolle“153 außerrechtlicher Normativität einher. Nur durch eben jene Kontrolle, die einer unhinterfragten Rezeption gesellschaftlicher Sollensordnungen entgegensteht, sei die Rezeptionsfunktion der Generalklausel zu rechtfertigen.154 Außerrechtliche Normen sind einem fortwährenden Wandel und damit einhergehend ihrer Relativierung unterworfen. Darüber hinaus ist die Feststellung, dass eine bestimmte Norm dem Anstandsgefühl der Mehrheit entspricht, in einer pluralistischen Gesellschaft155 naturgemäß problematisch.156 Um der Rezeption zugänglich zu sein, muss die außerrechtliche Norm gewissen Anforderungen genügen und sich insbesondere an rechtlichen Maßstäben messen lassen.157 Die außerrechtlichen Normen stellen demnach nicht den ausschließlichen Bezugspunkt für die inhaltliche Konkretisierung
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Menke, Kritik der Rechte, S. 148 f. Ebd., S. 164 ff. 151 Ebd., S. 149. 152 Dabei handelt es sich um die Rezeptions-, die Transformations- und die Delegationsfunktion, vgl. Teubner, Standards und Direktiven in Generalklauseln. Möglichkeiten und Grenzen der empirischen Sozialforschung bei der Präzisierung der Gute-Sitten-Klauseln im Privatrecht, S. 61. 153 Ebd., S. 61 ff. 154 Ebd., S. 67. 155 Näher dazu siehe Scheyhing, Pluralismus und Generalklauseln. Betrachtet auf dem Hintergrund gesellschaftlichen Wandels, S. 3 ff.; Teubner, Standards und Direktiven in Generalklauseln. Möglichkeiten und Grenzen der empirischen Sozialforschung bei der Präzisierung der Gute-Sitten-Klauseln im Privatrecht, S. 16 ff. 156 Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit. Generalklauseln im Spiegel der Antinomien des Privatrechtsdenkens, S. 149 f. 157 Teubner, Standards und Direktiven in Generalklauseln. Möglichkeiten und Grenzen der empirischen Sozialforschung bei der Präzisierung der Gute-Sitten-Klauseln im Privatrecht, S. 91. 150
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
von Generalnormen dar.158 Auf diese Weise wahrt die Rechtsordnung ihre Autonomie, da die Entscheidung über Recht und Unrecht letztlich anhand rechtlicher Maßstäbe erfolgt und damit allein dem Recht vorbehalten bleibt. Die Geltung des Nichtrechts im Recht ist demnach weiterhin von rechtlichen Maßstäben abhängig, sodass auf dieser objektivrechtlichen Ebene der Generalklauseln von einer unterhinterfragten Positivierung nicht auszugehen ist. Dies deutet darauf hin, dass auch im „bürgerlichen“, das heißt dem geltenden Recht, zumindest innerhalb des objektiven Rechts eine funktionierende Selbstreflexion stattfindet, da das Nichtrecht im Recht wirksam, aber nicht gültig, „Trieb […], nicht Grund“159 ist. Ungeachtet der Frage, wie Menkes These von der Blockade der Selbstreflexion in der Form der subjektiven Rechte selbst zu beurteilen ist,160 könnten sich diese Selbstreflexivität des objektiven Rechts und die damit in Verbindung stehenden Wertungsmaßstäbe folglich auf die subjektiven Rechte auswirken. Möglicherweise treten die Materialisierungsprozesse des objektiven Rechts auf der dogmatisch geprägten Rechtsanwendungsebene in Wechselbeziehung zu den subjektiven Rechten und haben dadurch einen Effekt auf jene, welchen Menke in seiner Analyse nicht berücksichtigt.
2. Auswirkungen auf den subjektiv-rechtlichen Berechtigungsgehalt a) Rechtsanwendungsbeispiele des § 138 I BGB § 138 I BGB ist exemplarisch für die sittliche Umhegung161, die im geltenden Recht nach wie vor besteht. Dies steht in Widerspruch zu Menkes These von der umfassenden Entsittlichung des Rechts und ebenso zu seiner Annahme, dass einziger Zweck der Rechtsordnung die Gewährleistung der Rechte der Einzelnen ist162 und der Eigenwille des Subjekts aus diesem Grund ausschließlich aufgrund von Erwägungen der Gleichheit eingeschränkt werde163. Dieser Schluss auf einen Widerspruch wäre jedoch nur dann gerechtfertigt, wenn die einschränkende Wirkung von § 138 I BGB auf das subjektive Recht der Einzelnen tatsächlich auch aus anderen Beweggründen als lediglich zum Zweck der Gewährleistung gleicher Rechte durch das Abstecken gleicher Freiheitsräume für alle erfolgte. Folglich gilt es, die Begründungen, die auf der dogmatisch geprägten Rechtsanwendungsebene in derartig gelagerten Fällen angeführt werden, anhand einer exemplarischen Betrachtung 158 Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit. Generalklauseln im Spiegel der Antinomien des Privatrechtsdenkens, S. 150. 159 Menke, Kritik der Rechte, S. 149. 160 Hierzu weiter unten auf S. 250 ff. der vorliegenden Arbeit. 161 So auch Möllers, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2016, 307, 309. 162 Menke, Kritik der Rechte, S. 30 ff. u. 58. 163 Ebd., S. 203 u. 258.
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höchstrichterlicher Rechtsprechung näher zu beleuchten. Der Nachweis einer hiervon abweichenden Sachlogik des Rechts würde sodann die Frage aufwerfen, wie diese mit Menkes These von der unhinterfragten Positivierung des Eigenwillens ins Verhältnis gesetzt werden kann. aa) Bürgschaftsfall Einer der prominentesten Anwendungsfälle des § 138 I BGB ist wohl der der Familienbürgschaft,164 über den letztlich das Bundesverfassungsgericht165 zu entscheiden hatte. Knapp umrissen geht es um den Fall, dass eine Bürgschaft für eine Forderung gegen den Vater von dessen 21-jähriger Tochter übernommen wird, deren pfändbares Einkommen jedoch nicht ausreicht, um im Bürgschaftsfall allein die anfallenden Zinsen begleichen zu können. Das Bundesverfassungsgericht bemängelt hinsichtlich der zugrundeliegenden Gerichtsentscheidungen, dass eine Nichtigkeit dieses Bürgschaftsvertrages gem. § 138 I BGB nicht in Erwägung gezogen geworden sei.166 Diese komme vor allem deswegen in Betracht, weil hier die grundrechtlich gewährleistete Privatautonomie der Bürgin in unverhältnismäßiger Weise beschnitten werde, was im Rahmen des § 138 I BGB zu berücksichtigen sei. Das Bundesverfassungsgericht ist hier folglich bemüht, auf die Herstellung einer Vertragsparität hinzuwirken, die die gleiche Verwirklichung der Privatautonomie beider Vertragsparteien sicherstellt und versteht den geschilderten Fall als Problem praktischer Konkordanz.167 Es soll der Übermacht der Gläubigerin, welche zur „Fremdbestimmung“168 der Bürgin und dadurch zur Beschränkung in der Ausübung ihrer Privatautonomie führt, entgegen getreten werden. Die Privatautonomie der Gläubigerin und ihr daraus resultierendes Recht, einen so gearteten Vertrag mit der Bürgin abzuschließen und dessen Durchsetzung zu verlangen, wird folglich aufgrund des entgegenstehenden Rechts der Bürgin eingeschränkt. Das rechtliche Instrument zur Umsetzung dessen stellt in diesem Fall die Generalklausel des § 138 I BGB dar, durch die die Grundrechte mittelbar im Privatrechtsverhältnis wirksam werden. Diese Argumentation des Gerichts entspricht so betrachtet Menkes These, dass die subjektiven Rechte der Einzelnen lediglich aufgrund von konfligierenden subjektiven Rechten Dritter und dem Ideal der Gleichheit der Rechte eingeschränkt werden können. Demgegenüber kann die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts jedoch auch auf eine völlig andere Art und Weise interpretiert werden. Teubner hebt die beschriebene Problematik der mittelbaren Drittwirkung von Grundrechten in diesem Fall von einer individuellen auf eine institutionelle Ebene und erblickt darin eine 164 165 166 167 168
BGH NJW 1989, 1605 f. BVerfGE 89, 214 ff. BVerfGE 89, 214, 223. BVerfGE 89, 214, 231 f. BVerfGE 89, 214, 234.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
Kollision der „privatrechtlich geordnete[n] Autonomiebereiche“ Wirtschaft und Familie.169 Familiäre und wirtschaftliche Handlungskonzepte stehen sich unversöhnlich gegenüber und müssten aufgrund ihrer in diesem Fall existenzbedrohenden Auswirkungen mithilfe des § 138 I BGB rechtlich in Einklang gebracht werden, um die wirtschaftliche Instrumentalisierung von familiärem Zusammenhalt zu verhindern. Die spezifischen Moralvorstellungen, die in jeder einzelnen Familie existierten, seien zwar nicht der Vereinheitlichung zugänglich und könnten somit nicht durch das Recht verallgemeinernd als gesellschaftliche Sollensordnung im Wege des § 138 I BGB angewendet werden, jedoch ziele die Rechtsordnung hier auf den Schutz des Instituts Familie i. S. v. Art. 6 GG ab.170 Ohne auf Teubners Argumentationsführung im Einzelnen eingehen zu wollen, wird hier bereits deutlich, dass die Begründung für die Annahme der Nichtigkeit des Bürgschaftsvertrages gemäß § 138 I BGB seiner Meinung nach auf überindividuellen Interessen beruht. Die Begrenzung des subjektiven Rechts der Privatautonomie, die aus dieser Nichtigkeit resultiert, erfolgt nach jener Interpretation demnach im Unterschied zur Sichtweise des Bundesverfassungsgerichts nicht aufgrund entgegenstehender subjektiver Rechte Dritter, sondern aufgrund von übergeordneten, objektiven Verfassungsgütern. Hierbei ist einschränkend zu erwähnen, dass die Meinung Teubners im Gegensatz zu derjenigen der Rechtsprechung keine repräsentative Erklärung für die Funktionsweise der Generalklauseln in der Rechtsanwendung bieten kann. Die Frage, ob neben dem Berechtigungs- und Gleichheitsmotiv weitere Beweggründe normativer Art über § 138 I BGB zur Anwendung kommen und auf diesem Wege den Eigenwillen beschränken, kann anhand dieses Beispiels folglich nicht eindeutig beantwortet werden. Aufgrund dessen sollen im Folgenden weitere Fallgruppen, in denen § 138 I BGB die Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts anordnet, näher betrachtet werden. bb) Rechtsinstitute Ein anderes Beispiel, das möglicherweise eine eindeutigere Zuordnung der Beweggründe für die Beschränkung der Privatautonomie im Wege der Anwendung des § 138 I BGB zulässt, ist jenes des Verlöbnisses bei einer bestehenden Verheiratung. Die Rechtsprechung hat entschieden, dass das mehrheitlich als Vertrag verstandene Verlöbnis171 zwischen einem verheirateten Mann und einer Frau, die nicht die
169 Teubner, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (KritV) 2000, 388, 389 ff.; Guski, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2017, 88, 108. 170 Teubner, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (KritV) 2000, 388, 392. 171 Budzikiewicz, in: Jauernig. Bu¨ rgerliches Gesetzbuch, Vorbemerkung zu § 1297 – § 1302, Rn. 10.
II. Privatrechtsdogmatische Betrachtung: Die Generalklausel des § 138 I BGB
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Ehefrau ist, sittenwidrig i. S. d. § 138 I BGB und demnach nichtig ist.172 Zur Begründung werden jedoch nicht etwa konfligierende Rechte der Ehefrau ins Feld geführt, sondern vielmehr die Wertentscheidung des Grundgesetzes zum Schutz der Ehe, Art. 6 I GG.173 Die Privatautonomie der beiden verlobungswilligen Parteien wird insofern aufgrund der objektiven, verfassungsrechtlichen Wertung eingeschränkt. Ähnlich wirkt sich diese Wertung auf eine Konstellation aus, in der eine Vermieterin einem Mieter in der Hausordnung den Besuch von Personen weiblichen Geschlechts versagt. Trotz bereits erfolgter beiderseitiger Vertragsunterschrift kann die Vermieterin das Verbot beispielsweise nicht gegenüber der Ehefrau des Mieters durchsetzen, da dies der Wertentscheidung der Verfassung unter Anderem aus Art. 6 I GG widerspricht, welche durch § 138 I BGB im Privatrechtsverhältnis wirksam wird.174 Das Recht hindert die Vermieterin in einem solchen Fall folglich daran, privatautonom darüber zu entscheiden, unter welchen Voraussetzungen sie das Mietverhältnis mit einer Mieterin eingehen will und begründet dies nicht mit der Sicherung gleicher Freiheitssphären für beide Parteien, sondern mit überindividuellen Wertentscheidungen. Das subjektive Recht der Privatautonomie kann dem Eigenwillen an dieser Stelle folglich nicht zur Geltung verhelfen, da dieses der verfassungsrechtlichen Wertentscheidung untergeordnet wird – oder, wie es im Palandt heißt: „Vereinbarungen, die gegen das Wesen der Ehe verstoßen, sind sittenwidrig.“175 Dieses „Wesen“ der Ehe kann im Sinne eines sogenannten Rechtsinstituts verstanden werden.176 Dabei soll unter dem Begriff „Rechtsinstitut“ nicht schlicht die Summe aller Rechtsvorschriften, die auf eine bestimmte Art eines Rechtsverhältnisses bezogen sind, verstanden werden, sondern darüber hinaus gehend der sich aus dieser Vielzahl an Normen ergebende Gesamtcharakter erfasst werden.177 Schon Savigny verstand Rechtsinstitute als „Grundlage“ der „Rechtsregel“178. Eine rein rechtstechnische Deutung des Begriffs des Rechtsinstituts greift dementsprechend zu kurz.179 Simitis definiert das Rechtsinstitut daher als „ein Rechtsgebilde […], das sich aus Normen, die sich auf bestimmte Rechtsverhältnisse beziehen, und aus den Interessenwertungen und Prinzipien, die diesen Normen zugrundeliegen, zusam172 OLG Karlruhe, NJW 1988, 3023, 3023; Ellenberger, in: Palandt Bu¨ rgerliches Gesetzbuch, § 138, Rn. 46; Budzikiewicz, in: Jauernig. Bu¨ rgerliches Gesetzbuch, Vorbemerkung zu § 1297 – § 1302, Rn. 14. 173 Wellenhofer, in: beck-online. Grosskommentar, § 1297, Rn. 48; Budzikiewicz, in: Jauernig. Bu¨ rgerliches Gesetzbuch, Vorbemerkung zu § 1297 – § 1302, Rn. 14. 174 Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht. Staats- und Verwaltungsrecht, § 22, Rn. 19; Bub, in: Handbuch der Geschäfts- und Wohnraummiete, S. 366 f., Rn. 715. 175 Ellenberger, in: Palandt Bürgerliches Gesetzbuch, § 138, Rn. 46. 176 Weiterführend hierzu vgl. Wolf, in: JuristenZeitung 1967, 659, 660. 177 Simitis, Gute Sitten und ordre public. Ein kritischer Beitrag zur Anwendung des § 138 Abs. 1 BGB, S 172. 178 Savigny, System des heutigen römischen Rechts Bd. 1, § 5, S. 9. 179 Raiser, in: Summum ius summa iniuria: Individualgerechtigkeit und der Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben. Tübinger Ringvorlesung Wintersemester 1962/63, 145, 147 f.
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mensetzt.“180 Es ist indes nicht notwendig mit Simitis so weit zu gehen, Rechtsinstitute wie das Eigentum, die Ehe oder den Vertrag als die über den Inhalt der Rechtsordnung entscheidenden Elemente zu verstehen, um zu erkennen, dass die sich in Rechtsinstituten manifestierenden Prinzipien über § 138 I BGB Geltung entfalten.181 In verfassungsrechtlich garantierten Rechtsinstituten wie der Ehe spiegeln sich folglich Grundgedanken der Rechtsordnung wider, auf die in Generalklauseln und speziell in § 138 I BGB mit dem Begriff der „guten Sitten“ Bezug genommen wird, so dass ein Verstoß gegen sie die Rechtsfolge der Nichtigkeit begründen kann. Unabhängig von der Frage, ob die Sicherung bestimmter Rechtsinstitute als genuine Aufgabe des § 138 I BGB verstanden wird oder nicht,182 belegen die aufgezeigten Beispiele, dass in der Rechtsanwendung ein objektivrechtliches Rechtsinstitut als Beschränkung subjektiver Rechte Einzelner fungieren kann. Rechtsinstitute werden demnach im Wege des § 138 I BGB geschützt,183 woraus eine Einschränkung des sich im subjektiven Recht manifestierenden Eigenwillens des Subjekts, welche nicht mit einem entgegenstehenden Recht eines Dritten begründet wird, resultieren kann. cc) Sexualsphäre Ein weiterer wichtiger Anwendungsfall des § 138 I BGB betrifft die Sexualsphäre, genauer die Verpflichtung einer Prostituierten zur Erbringung sexueller Leistungen. Zwar beurteilt die Rechtsprechung Prostitution gemäß der Formel vom „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ (siehe oben) aufgrund der gewandelten gesellschaftlichen Ansichten und insbesondere nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten im Jahr 2001 für sich genommen als gewerbliche Tätigkeit und damit nicht länger184 als sittenwidrig.185 Die einschlägigen Normen für diese Art von Fällen finden sich folglich im Prostitutionsgesetz; mit diesem in Einklang steht die herrschende Meinung, nach der der auf geschlechtliche Hingabe gerichtete Vertrag gem. § 138 I BGB als nichtig anzusehen ist. Eine vertragliche Verpflichtung zu sexuellen Dienstleistungen wird als unvereinbar mit der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 I GG angesehen,186 weshalb 180 Simitis, Gute Sitten und ordre public. Ein kritischer Beitrag zur Anwendung des § 138 Abs. 1 BGB, S. 172 f. 181 Ebd., S. 170 ff. 182 Siehe hierzu Teubner, Standards und Direktiven in Generalklauseln. Möglichkeiten und Grenzen der empirischen Sozialforschung bei der Präzisierung der Gute-Sitten-Klauseln im Privatrecht, S. 39 ff. m. w. N. 183 Steindorff, in: Summum ius summa iniuria: Individualgerechtigkeit und der Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben. Tübinger Ringvorlesung Wintersemester 1962/63, 58, 71 ff. 184 Vgl. zur früher herrschenden Meinung BGH NJW 1976, 1883 ff. 185 BT-Drucks. 18/8556, S. 1; Ellenberger, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, Anh. zu § 138 (ProstG), Rn. 2; BGH NJW 2006, 3490, 3491 f.; kritisch dazu Majer, in: NJW 2008, 1926, 1926 f. 186 So bereits BGH NJW 1976, 1883, 1885.
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eine solche Verpflichtung i. S. v. § 138 I BGB nicht als rechtlich bindend anerkannt wird.187 Ein auf die entgeltliche Gewährleistung von Geschlechtsverkehr gerichteter Vertrag ist sittenwidrig188 und damit nichtig gem. § 138 I BGB. Die Bereitschaft zu sexuellen Dienstleistungen müsse stets widerruflich bleiben.189 Die Wirksamkeit des Vertrages tritt ex post ein, das heißt, der Entgeltanspruch entsteht erst nach Erbringung der versprochenen Leistung,190 vgl. § 1 S. 1 ProstG191. Auch hier ist vor dem Hintergrund der in Frage stehenden Beurteilung der Beschränkung der Privatautonomie der Blick auf die Begründung dieser rechtlichen Entscheidung zu richten. In der Tat wird die Anwendung des § 138 I BGB im vorliegenden Fall nicht mehr mit einer Sittenwidrigkeit im Sinne einer Art von Anstößigkeit begründet. Vielmehr sind es auch hier grundrechtliche Gewährleistungen, die dazu führen, einer privatrechtlichen Abrede die rechtliche Wirksamkeit zu verwehren.192 Fraglich ist, ob dies im Sinne von Menkes Deutung als Beschränkung aufgrund konfligierender Rechte geschieht oder aufgrund von objektiven Wertvorstellungen. Die Bezugnahme auf die Menschenwürde193 aus Art. 1 I S. 1 GG lässt zunächst vermuten, dass hier das subjektive Recht der Prostituierten der rechtlichen Bindungswirkung entgegensteht. Die Menschenwürde als individuelles Rechtsgut könnte das entscheidende Kriterium dafür sein, dass die Vertragsparteien nicht uneingeschränkt über ihre Vertragsgestaltung entscheiden können. Dabei gilt es jedoch zu bedenken, dass – zumindest in den Fällen freiwilliger Prostitution194 – die betroffene Prostituierte ein eigenes Interesse an dem in Rede stehenden Vertrag hat. Dieses Interesse führt dazu, dass die Prostituierte in den Vertrag einwilligt und sich 187 Ellenberger, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, Anh. zu § 138 (ProstG), Rn. 2; Armbrüster, in: Münchener Kommentar zum BGB Bd. 1, § 138, Rn. 52; Do¨ rner, in: Handkommentar Bürgerliches Gesetzbuch, § 138, Rn. 9; Armbrüster, in: NJW 2002, 2763, 2764; OLG Schleswig NJW 2005, 225, 226 f.; Mansel, in: Jauernig. Bürgerliches Gesetzbuch, § 138, Rn. 7. 188 Mansel, in: Jauernig. Bürgerliches Gesetzbuch, § 138, Rn. 7; Ellenberger, in: Palandt Bürgerliches Gesetzbuch, § 138, Rn. 52; die Sittenwidrigkeit aufgrund des Inkrafttretens des ProstG ablehnend demgegenüber Armbrüster, in: Münchener Kommentar zum BGB Bd. 1, § 138, Rn. 57. 189 Armbrüster, in: NJW 2002, 2763, 2764. 190 BT-Drucks. 14/5958, S. 4. 191 Die Frage, ob mit dem nachträglichen Entfallen der Nichtigkeit ebenso die Sittenwidrigkeit entfällt, wird unterschiedlich beantwortet, vgl. ablehnend Mansel, in: Jauernig. Bürgerliches Gesetzbuch, § 138, Rn. 7 und Majer, in: NJW 2008, 1926, 1927, mit dem Argument, dass § 1 ProstG überflüssig wäre, sofern Prostitution nicht dem § 138 I BGB unterfiele; zustimmend hingegen Armbrüster, in: Münchener Kommentar zum BGB Bd. 1, § 138, Rn. 57; Armbrüster, in: NJW 2002, 2763, 2764. 192 Majer, in: NJW 2018, 2294, 2294. 193 Zu einer weitergehenden Auseinandersetzung mit der Fragestellung von Prostitution als Verletzung der Menschenwürde siehe Renzikowski, Reglementierung von Prostitution: Ziele und Probleme – eine kritische Betrachtung des Prostitutionsgesetzes, Januar 2007, in: Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, S. 16 ff. 194 Majer, in: NJW 2018, 2294, 2296.
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somit für die Eingehung der Verpflichtung entscheidet. Dass entgegen dieser eigenverantwortlichen Entscheidung nach der herrschenden Meinung in der Verpflichtung zu geschlechtlicher Hingabe dennoch ein Verstoß gegen die Menschenwürde erblickt wird, macht deutlich, dass die Menschenwürde hier nicht als individuelles Rechtsgut oder subjektives Recht in die Betrachtung miteinbezogen wird. Wäre dem so, könnte aufgrund der selbstbestimmten Entscheidung der Prostituierten nicht von einem Verstoß ausgegangen werden. Dass ein solcher Verstoß dennoch die – zum Teil stark kritisierte195 – Begründung der Rechtsprechung darstellt, lässt darauf schließen, dass die Menschenwürde hier im Sinne eines objektiven Wertes verstanden wird.196 Die Menschenwürde fungiert in diesem Fall folglich als überindividuelles Konzept, das zur Rechtfertigung des Eingriffs in die Privatautonomie gem. § 138 I BGB herangezogen wird. dd) Kommerzialisierungskonstellationen Abschließend soll nun noch die Fallgruppe der missbilligten Kommerzialisierung, die ebenfalls auf die Begründung des Sittenwidrigkeitsurteils nach § 138 I BGB anhand überindividueller Maßstäbe hindeutet, betrachtet werden. Zu dieser Fallgruppe zählen beispielsweise die entgeltliche Vermittlung von Patientinnen durch ein nichtärztliches Institut an Fachärztinnen gegen Zahlung einer Provision197 oder die entgeltliche Vermittlung der Mandantschaft von Rechtsanwältinnen198. Hinsichtlich der zitierten Entscheidung zu Patientenvermittlungsverträgen des OLG Hamm kritisiert Armbrüster mit Verweis auf eine Entscheidung des BGH199 die Annahme der Sittenwidrigkeit aufgrund von § 138 I BGB. Seiner Ansicht zufolge wäre die Nichtigkeit vielmehr anhand von § 134 BGB i. V. m. § 1 Abs. 3 HessBOÄ a. F. zu begründen.200 Eine solche auf den Einzelfall bezogene Kritik ist indes für die grundsätzliche Bejahung der Möglichkeit der Sittenwidrigkeit nach § 138 I BGB aufgrund einer Kommerzialisierung ohne Belang. Darüber hinaus findet sich jedoch auch bei Jakl eine grundlegendere Kritik an der Begründung der Sittenwidrigkeit von Patientenverfügungen. Hier wird dafür plädiert, die anstößige Kommerzialisierung für die Bejahung der Sittenwidrigkeit nicht ausreichen zu lassen, stattdessen seien „schwere Verstöße gegen verfassungsrechtliche Vorgaben
195 Kritisch hierzu von Olshausen, in: NJW 1982, 2221, 2222; Würkner, in: NVwZ 1988, 600, 601; zur ausführlichen Kritik hieran insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Entkopplung von Selbstbestimmung und Menschenwürde siehe Schmidt, in: Kritische Justiz 2015, 159, 162 ff. 196 So auch BVerwG NJW 1982, 664, 665. 197 OLG Hamm NJW 1985, 679, 680; Do¨ rner, in: Handkommentar. Bu¨ rgerliches Gesetzbuch, § 138, Rn. 10; Ellenberger, in: Palandt Bürgerliches Gesetzbuch, § 138, Rn. 56. 198 KG NJW 1989, 2893, 2893 f. 199 BGH NJW 1986, 2360, 2361. 200 Armbrüster, in: Münchener Kommentar zum BGB Bd. 1, § 138, Rn. 127, Fn. 787.
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und einfachgesetzliche Regelungen“201 im Sinne einer „rechtsimmanenten Auslegung der guten Sitten“ als Maßstab heranzuziehen. Die hierin deutlich werdende Tendenz, die Anwendung des § 138 I BGB mit Rechtsverstößen, statt mit sittlicher Anstößigkeit oder Widersprüchen zur Sozialmoral zu begründen, könnte den Schluss auf eine Entsittlichung des „bürgerlichen Rechts“ im Sinne von Menkes These nahelegen. Selbst bei der Auslegung des ausfüllungsbedürftigen Begriffs der „guten Sitten“ in § 138 I BGB soll nach dieser Kritik hier nicht auf die Sozialmoral abgestellt werden, sondern es wird eine rein rechtliche Begründung gefordert. Jedoch bedeutet auch eine solche Deutung nicht, dass lediglich entgegenstehende Rechte Dritter bei der Beurteilung der Sitten- beziehungsweise Rechtswidrigkeit ins Gewicht fallen. Auch wenn auf Verstöße gegen Verfassungsrecht oder einfaches Recht abgestellt werden sollte, können damit überindividuelle Belange wie etwa die Verfassungsgüter Jugendschutz (vgl. Art. 5 II Alt. 2 GG) oder Feiertagsschutz (vgl. Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV) gemeint sein, da auch diese nicht allein auf den Schutz der Rechte Dritter abzielen. Darüber hinaus ist die aufgezeigte Kritik nicht auf generell jeden Fall anstößiger Kommerzialisierung bezogen, Jakl beschränkt seine Kritik auf verschiedene Fallgruppen innerhalb der Kommerzialisierungsfälle,202 geht jedoch im Übrigen von der Möglichkeit der Begründung des Sittenverstoßes durch die Kommerzialisierung aus.203 Auch hält er die angebrachte Begründung für überzeugend,204 namentlich die besondere Schutzwürdigkeit bestimmter Güter und Interessen, die den Anlass dafür bildet, deren Kommerzialisierung entgegenzutreten.205 Für die Zielrichtung der vorliegenden Untersuchung sind Meinungsstreitigkeiten, die lediglich spezielle Einzelfälle betreffen, nicht von Bedeutung, da es um die strukturellen Begründungen für die Sittenwidrigkeit nach § 138 I BGB geht. Daher kann zunächst festgehalten werden, dass die Kommerzialisierung eines besonderen Vertrauensverhältnisses als sittenwidrig gilt.206 Dabei wird der Sittenverstoß ausdrücklich damit begründet, dass die Vereinbarung über ein Entgelt in bestimmten Bereichen als „anstößig“207 angesehen wird. Es geht insoweit auch hier um die Beschränkung der Privatautonomie aufgrund eines überindividuellen Konzepts.
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Jakl, in: beck-online. Grosskommentar zum Zivilrecht, § 138 BGB, Rn. 468. Ebd., Rn. 468. 203 Ebd., Rn. 465. 204 Ebd., Rn. 467. 205 Ebd., Rn. 467 f. 206 Armbrüster, in: Münchener Kommentar zum BGB Bd. 1, § 138, Rn. 127; LG Kiel Urt. v. 28. 10. 2011 – 8 O 28/11, BeckRS 2012, 4667. 207 Ellenberger, in: Palandt Bürgerliches Gesetzbuch, § 138, Rn. 56. 202
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
b) Zwischenfazit Die bis hierhin erfolgten Untersuchungen machen deutlich, dass die Teleologie der Anwendungsfälle des § 138 I BGB keinem einheitlichen Muster folgt. Auf der einen Seite kommt die besagte Norm häufig in Fällen zur Anwendung, in denen gleiche Voraussetzungen für eine tatsächlich freie Ausübung der Privatautonomie beider Vertragsparteien geschaffen werden sollen,208 wie beispielsweise in Fällen der Schuldnerinnenknebelung209 oder der Überforderung einer Bürgin210. Vornehmlich geht es dabei um die Beschränkung des subjektiven Rechts der Vertragsfreiheit aufgrund konfligierender Individualinteressen einer Vertragspartei, die im Sinne der Gleichheit in Einklang gebracht werden sollen, um den „Tendenzen der Privatautonomie, sich selbst aufzuheben“211 entgegenzuwirken. Zwar wird auch bezüglich derart gelagerter Fälle teilweise vertreten, dass die Annahme der Nichtigkeit nicht nur im Hinblick auf eben solche entgegenstehende Rechte Dritter erfolgt, sondern, dass „überindividuelle Verkehrsinteressen“212 den Ausschlag für die Annahme dieser Rechtsfolge geben. Nichtsdestotrotz ist Menke in Anbetracht dessen zuzugeben, dass der Gleichheit als angestrebter Maxime, die die Einschränkung der Privatautonomie rechtfertigt, auch im Kontext der § 138 I BGB ein nicht zu unterschätzender Stellenwert zukommt. Die Bezugnahme auf den Begriff der „Sitte“ dient insoweit folglich dem Zweck, das subjektive Recht einer Vertragspartei wegen entgegenstehender Rechte eines Dritten zu begrenzen, um wiederum dessen Freiheit zu bewahren, was insoweit – von der Rechtsfolge in Gestalt der Nichtigkeit abgesehen – Menkes Analyse entspricht. Allerdings erschöpft sich die Teleologie des § 138 I BGB darin nicht. Die rechtliche Sittenordnung dient nicht nur dem Schutz individueller Freiheit, sondern ebenso ihrer Begrenzung.213 Die erörterten Fallgruppen des Schutzes von Rechtsinstituten, der Sexualmoral oder der Kommerzialisierung zeigen deutlich, dass die Rechtsfolge der Nichtigkeit ebenso aufgrund eines Verstoßes gegen objektive
208
Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 10, Rn. 64 f. Vgl. hierzu Medicus/Petersen, Allgemeiner Teil des BGB, § 46, Rn. 698 m. w. N. 210 Vgl. hierzu Ellenberger, in: Palandt Bürgerliches Gesetzbuch, § 138, Rn. 37 ff. m. w. N. 211 Haferkamp, in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, § 138. Sittenwidriges Rechtsgeschäft, Wucher, Rn. 5. 212 Armbrüster, in: Münchener Kommentar zum BGB Bd. 1, § 138, Rn. 97; ähnlich bezüglich der rechtlichen Sicherung der Grundsätze von „Treu und Glauben“ Esser, in: Summum ius summa iniuria: Individualgerechtigkeit und der Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben. Tübinger Ringvorlesung Wintersemester 1962/63, 22, 33: „Und doch ist ,Treu und Glauben‘ selbst wieder ein Rechtswert, der um der Rechtsgarantien und der Funktion unserer Privatrechtseinrichtungen willen selbst ebensoviel Schutz verdient, ja weit mehr als wegen der individuellen Billigkeit.“ 213 Steindorff, in: Summum ius summa iniuria: Individualgerechtigkeit und der Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben. Tübinger Ringvorlesung Wintersemester 1962/63, 58, 59. 209
II. Privatrechtsdogmatische Betrachtung: Die Generalklausel des § 138 I BGB
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Wertmaßstäbe214 eintritt, ohne dass dabei auf die Bewahrung entgegenstehender Rechte Dritter abgestellt würde. Demzufolge fungiert § 138 I BGB mitunter auch zum Schutz „allgemeiner Werte“215 und kann aufgrund dessen eine Begrenzung subjektiver Rechte bewirken. Eine Legitimation der Norm nach der von Menke beschriebenen Sachlogik des Rechts, dass sie also der Herstellung der Gleichheit von Rechten dient und nur deshalb ein subjektives Recht einzuschränken in der Lage ist, scheidet damit aus. Es stellt sich somit die Frage, wie diese Erkenntnis in ein Verhältnis zu Menkes Rekonstruktion des „bürgerlichen Rechts“ gesetzt werden kann. Seinem Verständnis zufolge ist die Rechtsordnung allein auf die Gewährung der subjektiven Rechte und der damit einhergehenden Positivierung des Eigenwillens gerichtet, dies bildet die „Funktionsbestimmung des Rechts überhaupt“.216 Oberstes und einziges Legitimationsprinzip ist die Sicherung der Rechte der Einzelnen, die das „Natürliche legalisieren“, welches den Maßstab bildet, an dem sich jede Rechtsnorm messen lassen muss.217 Menke versteht die Ermächtigung des Eigenwillens als einzige Normativität des bürgerlichen Rechts, während nun anhand des § 138 I BGB gezeigt werden konnte, dass die Rechtsordnung durchaus darüber hinausgehende normative Maßstäbe kennt.
3. Generalklauseln als Antagonisten im Recht? Wie lässt sich in einem so verstandenen System die Logik einer Norm wie § 138 I BGB erklären, die subjektive Rechte zugunsten überindividueller Konzepte einschränkt? Der Binnenlogik der Kritik der Rechte folgend liegt der Gedanke nahe, dass die Existenz einer Norm wie § 138 I BGB schlichtweg von einem Widerspruch der Rechtsordnung mit sich selbst zeugt.218 Die Ontologie des „bürgerlichen Rechts“ stünde einer solchen Generalklausel als einem überkommenen Relikt gegenüber, welchem im Grunde kein systematischer Ort mehr zugeordnet werden könnte, da es 214
Eine rein positive Bewertung dieses Umstandes kann jedoch nur vor dem Hintergrund einer Einbettung in ein entsprechendes politisches System erfolgen. Erinnert werden soll an dieser Stelle an vergangene Unrechtsregime, im Rahmen derer vermeintlich objektive Wertmaßstäbe instrumentalisiert wurden, um eine Auflösung des subjektiven Rechts in einem übergeordneten Kollektiv voranzutreiben, vgl. hierzu hinsichtlich des NS umfassend Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, insb. S. 336 ff. 215 Raiser, in: Summum ius summa iniuria: Individualgerechtigkeit und der Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben. Tübinger Ringvorlesung Wintersemester 1962/63, 145, 145; ähnlich auch Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. Unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, S. 623. 216 Menke, Kritik der Rechte, S. 31. 217 Ebd., S. 33 u. S. 203, S. 258. 218 Dieser Gedanke verdankt sich einem persönlichen Gespräch mit Christoph Menke am 12. 09. 2018 an seinem Lehrstuhl in Frankfurt am Main.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
dem Grundgedanken der Rechtsordnung zuwiderliefe. Anders wäre dies jedoch zu beurteilen, wenn die Sicherung gleicher subjektiver Rechte nicht die einzige in der Rechtsordnung verfolgte Ziellogik wäre und die Generalklausel des § 138 I BGB einer darüber hinaus gehenden Teleologie entspräche. Eine so gelagerte Deutung würde den Verdacht eines Widerspruchs der Rechtsordnung mit sich selbst relativieren. Bezüglich der Fragestellung von sich in der Rechtsordnung gegenüberstehenden Ziellogiken beinhaltet die Ausarbeitung Marietta Auers hinsichtlich im Privatrecht bestehender „Grundwidersprüche“219 fruchtbare Ansätze. Sie arbeitet die folgenden drei Antinomien im Privatrecht heraus: „Individualismus und Kollektivismus, Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit sowie Richterbindung und Richterfreiheit“220. Von Interesse im vorliegenden Kontext ist der Wertungswiderspruch zwischen Individualismus und Kollektivismus, den Auer auch als jenen zwischen „formalen und materialen […] Wertungsstrukturen“221 bezeichnet. „Individualismus“ möchte sie im Sinne von „Selbstbestimmung, Selbstbindung und Selbstverantwortung“222 verstanden wissen, während sie den „Kollektivismus“ mit den Schlagworten „Fremdnützigkeit und Fremdverantwortlichkeit“223 umschreibt. Der Gedanke des Kollektivismus forciert folglich die Berücksichtigung mitmenschlicher Belange, jedoch fasst Auer auch den „Schutz kollektiver Güter und Interessen“ unter den Begriff des Kollektivismus und versteht ihn als „Oberbegriff sämtlicher heteronomer […] Wertungen“,224 sodass davon ausgegangen werden kann, dass auch die zuvor beschriebenen überindividuellen Konzepte, die sich auf objektive Wertmaßstäbe beziehen, erfasst sind. Die vorangegangenen Untersuchungen bestätigen dieses von Auer beschriebene Spannungsverhältnis und zeigen außerdem die besondere Rolle auf, die den Generalklauseln hierbei zukommt. Man könnte annehmen, dass Generalklauseln den Grund dafür bilden, dass materiale Wertungen Eingang in das Privatrecht finden. Sie könnten aus Menkes Perspektive als eine Art Fremdkörper verstanden werden, der eine eigene, der grundlegenden Idee der Rechtsordnung widersprechenden Logik verfolgt. Indes geht Auer davon aus, dass nicht die Generalklauseln ein „Einfallstor für materiale Wertordnungen“ sind und durch sie erst die Möglichkeit eröffnet wird, im Recht materiale, überindividuelle Werte aufzunehmen, sondern sie versteht den Zusammenhang umgekehrt, namentlich so, dass die Leitgedanken, die die Aufnahme materialer Werte neben solchen formaler Art erforderlich machen, von Beginn an im 219 Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit. Generalklauseln im Spiegel der Antinomien des Privatrechtsdenkens, S. 6 ff. 220 Ebd., S. 9, ebenso Armbrüster, in: Münchener Kommentar zum BGB Bd. 1, § 138, Rn. 13, der sich Auers Analyse anschließt. 221 Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit. Generalklauseln im Spiegel der Antinomien des Privatrechtsdenkens, S. 22. 222 Ebd., S. 12. 223 Ebd., S. 16. 224 Ebd., S. 19.
II. Privatrechtsdogmatische Betrachtung: Die Generalklausel des § 138 I BGB
145
Privatrecht verankert waren225. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Sibylle Hofers dezidierte Auseinandersetzung mit den Privatrechtskonzeptionen des 19. Jahrhunderts, welche die weit verbreitete Annahme, dass die individuelle Freiheit das „beherrschende Prinzip“226 des Privatrechtsdenkens darstellt, gleichsam begründeten Zweifeln unterzieht.227 Den Generalklauseln kommt eine eigene „systemprägende Funktion“228 zu. Auer nennt sie ein „Ventil“ für den von vorneherein angelegten Wertungswiderspruch im Privatrecht, sie sind daher „nicht Grund, sondern Folge der Existenz materialer bzw. kollektivistischer Wertungsstrukturen im Privatrechtsdenken“229. Die Rechtsordnung hat nicht allein zum Ziel, Freiheitssphären gegeneinander abzugrenzen, sondern ebenso, die „Kooperation“230 in dieser Freiheit sicherzustellen.231 Die Generalklauseln stellen dementsprechend keinen Fremdkörper dar, der dem Leitgedanken entgegentritt, sondern sie sind konstitutiver Bestandteil der Rechtsordnung.232 Das Gesetz vereint die sich hier gegenüberstehenden Pole und existiert in dieser Ambivalenz, da die Rechtsordnung von beiden Ansätzen geprägt ist.233 Es besteht 225
Ebd., S. 43 ff. Hofer, Freiheit ohne Grenzen? Privatrechtstheoretische Diskussionen im 19. Jahrhundert, S. 1; siehe zudem insbesondere S. 275 ff. 227 Vertiefend zum Wandel des Privatrechtsdenkens siehe außerdem Vesco, Die Erfindung der ökonomischen Rechtswissenschaft. Eine kritische Rekonstruktion von Jhering zu Posner. 228 Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit. Generalklauseln im Spiegel der Antinomien des Privatrechtsdenkens, Anm. S. 22, Fn. 40. 229 Ebd., S. 43. 230 Coing, Zur Geschichte des Privatrechtsystems, S. 53. 231 Preuß, Die Internalisierung des Subjekts. Zur Kritik der Funktionsweise des subjektiven Rechts, S. 26. 232 Hier könnte man noch einen Schritt weitergehen und untersuchen, ob Generalklauseln wie § 138 I BGB darüber hinaus aufgrund ihrer Flexibilität ein Instrument zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsordnung darstellen und damit gerade der Vermeidung von Widersprüchen innerhalb der Rechtsordnung dienen. Mithilfe von Generalklauseln können systemwidrige Ergebnisse, die Resultat der Anwendung spezielleren Rechts sind und den Grundgedanken der Rechtsordnung aufgrund bspw. einer atypischen Fallgestaltung widersprechen, im Einzelfall korrigiert werden. Sofern auf anderem Wege also kein systemkonformes Ergebnis erzielt werden kann, kann durch die Anwendung von ausfüllungsbedürftigen Generalklauseln, die wie gezeigt hauptsächlich anhand der Verfassung konkretisiert werden, Einheit gestiftet werden. Kritisch hierzu siehe Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz. Entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts, S. 152 ff. 233 Ähnlich auch Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. Unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, S. 567 f.; vgl. auch Habersack, Vertragsfreiheit und Drittinteressen. Eine Untersuchung zu den Schranken der Privatautonomie unter besonderer Berücksichtigung der Fälle typischerweise gestörter Vertragsparität, S. 20; Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz. Entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts, S. 113, der ebenfalls einen Widerspruch zwischen dem Grundsatz der Privatautonomie und der Wahrung der guten Sitten dementiert und die „ethische Bindung“ als „von vornherein“ in die Privatautonomie eingeschrieben versteht, da es sich bei der Privatautonomie ohne eine solche Bindung seiner Meinung nach schlicht um „Willkür“, statt um „echte Freiheit“ handeln würde. 226
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
kein einheitlicher Leitgedanke, dem die Beschränkung subjektiver Rechte aufgrund von überindividuellen Wertungen widerspricht, sondern die Gewichtung des Überindividuellen ist selbst ebenso Bestandteil der Sachlogik des Rechts, wie der Umstand, dass die Rechtsordnung dem Schutz subjektiver Rechte verpflichtet ist. Die Auseinandersetzung mit der Generalklausel des § 138 I BGB hat gezeigt, dass die Rechtsordnung sowohl im Sinne Menkes die Sicherung der Rechte der Einzelnen verfolgt, dies jedoch – gegen Menke – nicht einziges und oberstes Prinzip ist, da subjektive Rechte gleichsam aufgrund überindividueller Wertkonzepte eingeschränkt werden können. Die Generalklausel des § 138 I BGB ist von einander widersprechenden Wertungsgrundlagen geprägt.234 Marietta Auer zeigt zudem, dass sich die Funktionsweise von Generalklauseln hierbei in die Rechtsidee des modernen Rechts einfügt, da diese keiner uniformen Logik folgt, sondern von einem Spannungsverhältnis verschiedener Ziellogiken geprägt ist. Folglich steht die Rechtsordnung durch die Existenz einer Norm wie § 138 I BGB nicht in Widerspruch mit sich selbst,sondern sie besteht in diesem Widerspruch. Es handelt sich nicht um einen Widerspruch mit dem Wesen der Rechtsordnung, sondern in dem Wesen. Hierin ist ein für das „bürgerliche“ Privatrecht konstitutiver Antagonismus zwischen individuellen und überindividuellen Konzepten zu sehen, den Menkes Rekonstruktion nicht zu erfassen vermag.
4. Introspektionspotential Die Erkenntnis, dass die Sachlogik des Rechts neben der Sicherung subjektiver Rechte ebenso den Schutz rechtlicher Sittlichkeit und eine darauf gerichtete Einschränkung subjektiver Rechte erfasst, ermöglicht jedoch für sich betrachtet noch keine Aussage darüber, ob für die Beurteilung dieser Sittlichkeit auch die inneren Motive des Subjekts in die Betrachtung miteinbezogen werden. Hinsichtlich Menkes These von der Geltung des Eigenwillens ohne Ansehung der Innenseite des Subjekts durch die subjektive Form der Rechte235 wäre an dieser Stelle jedoch von Interesse, wie sich die Rechtsordnung gegenüber einer verwerflichen Gesinnung des Subjekts verhält, was ebenfalls am Beispiel des § 138 I BGB nachvollzogen werden kann. Hier ist ein Widerspruch mit der Sittlichkeit namentlich nicht allein auf objektiver Ebene möglich, § 138 I BGB verfügt viel mehr auch über einen subjektiven Tatbestand. Mitunter kann nach Teilen der Rechtsprechung die verwerfliche Gesinnung einer Vertragspartei unter bestimmten Umständen die Annahme der Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts begründen.236 Dies gilt in erster Linie für den Wuchertatbestand des § 138 II BGB, der einen Spezialfall der Sit234
Armbrüster, in: Münchener Kommentar zum BGB Bd. 1, § 138, Rn. 13. Menke, Kritik der Rechte, S. 203 f. 236 BGH NJW 1960, 1716, 1718; BGH NJW 2004, 2671, 2673, wo die verwerfliche Gesinnung als „unerlässlich […]“ für das „Unwerturteil des § 138 I BGB“ bezeichnet wird; BGH NJW 2010, 363, 363. 235
II. Privatrechtsdogmatische Betrachtung: Die Generalklausel des § 138 I BGB
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tenwidrigkeit darstellt.237 Anders als noch das Reichsgericht, welches eine tatsächliche „verwerfliche Gesinnung“ zur Voraussetzung für die Sittenwidrigkeit gemacht hatte,238 interpretiert der BGH diese Voraussetzung als das Kennenmüssen der tatsächlichen Umstände, die die Sittenwidrigkeit begründen. Dem steht es gleich, wenn sich die handelnde Person dieser Tatsachen bewusst ist oder sich ihnen grob fahrlässig verschließt. Sofern der Inhalt des Rechtsgeschäfts die Sittenwidrigkeit für sich betrachtet bereits begründet, kommt es auf das genannte Erfordernis nicht an, jedoch kann sich die Sittenwidrigkeit ebenso aus der Gesamtbetrachtung des Rechtsgeschäftes ergeben. In diesem Fall sind nicht mehr allein die objektiven Gesichtspunkte entscheidend, sondern das subjektive Element wird ebenfalls in die Bewertung miteinbezogen.239 Insofern stellt das subjektive Element einerseits keine grundsätzliche Voraussetzung der Sittenwidrigkeit dar, andererseits kann jedoch unter Umständen ein Rechtsgeschäft in der Gesamtschau aufgrund der Motive der handelnden Person als sittenwidrig eingestuft werden, obwohl in Anbetracht allein der objektiven Umstände des Falles eine solche Annahme nicht angezeigt wäre. Zusammenfassend lässt sich feststellen: „Subjektive Faktoren können Unbedenkliches bedenklich werden lassen; ihr Fehlen bewirkt aber grundsätzlich nicht, dass Bedenkliches unbedenklich wird.“240 Die Bedeutung des subjektiven Elements im Rahmen der Sittenwidrigkeit gemäß § 138 BGB ist folglich von nicht zu vernachlässigendem Gewicht und zeigt auf, dass hier in gewissem Maße eine Introspektion erfolgt. So betrachtet steht auch diese Erkenntnis quer zu Menkes Annahme, dass im bürgerlichen Recht strikt zwischen „Innen“ und „Außen“ getrennt werde und die Beweggründe eines Subjekts keinerlei Berücksichtigung durch das Recht erführen.241 Gleichwohl wird jedoch diese Handhabung des § 138 BGB von Seiten der Literatur stark kritisiert. Dabei werden ähnliche Gesichtspunkte aufgegriffen, wie die, die Menke in seiner Analyse des „bürgerlichen Rechts“ herausstellt. Namentlich wird in der Literatur vor einer „Gesinnungsjustiz“ gewarnt, und dafür plädiert, allein auf objektive Kriterien abzustellen. Die oben erläuterte „Anstandsformel“ werde fehlinterpretiert, wenn auf das subjektive Anstandsgefühl der Handelnden abgestellt werde, anstatt auf jenes der Mehrheit der Bürgerinnen.242 Die von Menke beschriebene Nichtberücksichtigung innerer Beweggründe im „bürgerlichen“ Recht 237
Ellenberger, in: Palandt Bürgerliches Gesetzbuch, § 138, Rn. 65 ff. Jakl, in: beck-online. Grosskommentar zum Zivilrecht, § 138 BGB, Rn. 145; Medicus/ Petersen, Allgemeiner Teil des BGB, § 46, Rn. 711. 239 Ellenberger, in: Palandt Bürgerliches Gesetzbuch, § 138, Rn. 8 m. w. N.; vgl. außerdem BGH NJW-RR 1998, 590, 592. 240 Armbrüster, in: Münchener Kommentar zum BGB Bd. 1, § 138, Rn. 130. 241 Menke, Kritik der Rechte, S. 77 ff., 84 ff. u. 251; siehe zur Unterscheidung zwischen Innen- und Außenseite auch Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 59 u. 43 ff., der hier das „Anwendungsgebiet der Sittlichkeit“ sowohl in der „Innerlichkeit“ als auch der „Äußerlichkeit“ verortet. 242 Jakl, in: beck-online. Grosskommentar zum Zivilrecht, § 138 BGB, Rn. 150 ff. 238
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
spiegelt sich in dieser Kritik wider. Es soll nicht darauf abgezielt werden, eine Introspektion zu vollziehen, die die Autonomie der Gewissensentscheidung des Subjekts in einem „paideologischen“243 Sinne überprüft und modifiziert. Insofern ist die Unterscheidung zwischen Autonomie, als von innen her wirkende eigene Überzeugung, und Heteronomie, als von außen herantretender Maßstab,244 zu beachten. Sittlichkeit ist hier nicht im „gesinnungsethischen“245 Sinne zu verstehen. Die Rechtsordnung stellt in § 138 BGB nicht darauf ab, ob das Subjekt sich anhand des Maßstabes selbst gesetzter, das heißt autonomer Normativität sittlich verhält, sondern es geht um die Maßgabe fremdgesetzter, das heißt rechtlicher Normativität. Die „ethische Autonomie“ stellt bei Gebrauch eines subjektiven Rechts insofern tatsächlich lediglich eine „bloße Möglichkeit, […] eine […] Option“246 dar, jedoch bilden die heteronomen Anforderungen rechtlicher Sittlichkeit die Grenze, bei deren Erreichen dem Eigenwillen des Subjekts die rechtliche Geltung versagt wird. Ginge es um den Maßstab autonomer Moral, wäre das subjektive Element im Rahmen des § 138 BGB stets zu prüfen, jedoch ist das gerade nicht der Fall, da der subjektive Tatbestand keine in jedem Fall notwendige Voraussetzung darstellt.247 So stellt auch die Rechtsprechung nicht das Gewissen des Subjekts oder seine Tugendhaftigkeit auf den Prüfstand, sondern sie schließt aus den objektiven Umständen des Rechtsgeschäfts auf die subjektive Gesinnung und bildet dabei gegebenenfalls eine Fiktion.248 Aus einem besonders groben Missverhältnis innerhalb eines Rechtsgeschäfts wird folglich die tatsächliche Vermutung einer verwerflichen Gesinnung abgeleitet.249 Letztlich bleibt jedoch der Inhalt des Rechtsgeschäfts das entscheidende Kriterium. Menke definiert den von ihm verwandten Begriff der Sittlichkeit in Kritik der Rechte nicht, legte man jedoch denjenigen Hegels zugrunde,250 der die Sittlichkeit als „Einheit“251 der objektiven Sphäre des abstrakten Rechts und der subjektiven Sphäre der Moralität beschreibt,252 wäre anzunehmen, dass eine so verstandene Sittlichkeit durch die Generalklausel des § 138 I BGB vorliegend nicht forciert wird.253 Dennoch kann der These, dass das Recht die inneren Motive des Subjekts vollständig außer Acht lässt, aufgrund der grundsätzlich gegebenen rechtlichen Möglichkeit der Einbeziehung des subjektiven Tatbestandes, die auch gerade in den Motiven zum 243
Menke, Kritik der Rechte, S. 90. Siehe hierzu weiterführend Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 54 ff. 245 Mansel, in: Jauernig. Bürgerliches Gesetzbuch, § 138, Rn. 6. 246 Menke, Kritik der Rechte, S. 254. 247 Sack, in: NJW 1985, 761, 767 ff. 248 Vgl. exemplarisch BGH NJW 2007, 2841, 2842; BGH NJW-RR 2017, 241, 243. 249 Majer, in: DNotZ 2013, 644, 648 ff. 250 Was aufgrund der zahlreichen Bezüge zu Hegel naheliegend ist, vgl. nur Menke, Kritik der Rechte, S. 266, im vorliegenden Kontext jedoch keiner Vertiefung bedarf. 251 Hegel, in: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Auf der Grundlage der Edition des Textes in den Gesammelten Werken Band 14, § 33. 252 Kunzmann/Burkard/Wiedmann/Weiss, dtv-Atlas Philosophie, S. 157. 253 Siehe hierzu auch Sa¨ cker, in: Mu¨ nchener Kommentar zum BGB, Einl. BGB, Rn. 170 ff. 244
II. Privatrechtsdogmatische Betrachtung: Die Generalklausel des § 138 I BGB
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BGB betont wird,254 nicht vollumfänglich zugestimmt werden. Zwar wird nicht die autonome Moral des Subjekts zur Bedingung gemacht, eine rechtserhebliche Introspektion anhand heteronomer Motive ist jedoch nicht strukturell ausgeschlossen.
5. Ergebnis Generalklauseln stellen ein flexibles Instrument dar, mit dessen Hilfe der Gehalt von Rechten immer wieder hinterfragt und auf das rechtlich Zulässige reduziert255 wird. § 138 BGB dient in erster Linie einer über die „formale Kontrolle“256 hinausgehenden Regulierung der Privatautonomie,257 welche wie beschrieben als subjektives Recht kategorisiert werden kann. Anhand der Untersuchung exemplarischer Entscheidungen zu § 138 I BGB konnte gezeigt werden, dass die Beweggründe für die Einschränkung subjektiver Rechte auf Ebene der von juristischer Dogmatik geprägten Rechtsanwendung über die von Menke angenommene Maxime der Herstellung gleicher Freiheitssphären hinausgehen. Die Beispiele von Rechtsinstituten wie der Ehe, indisponibler Rechtsgüter wie der Menschenwürde oder Kommerzialisierungskonstellationen zeigen auf, dass nicht immer konfligierende subjektive Rechte der Grund für die Beschränkung der Privatautonomie bilden müssen. Dies kann als klares Zeichen dafür gewertet werden, dass die Ermächtigung des Eigenwillens nicht den einzigen Zweck oder die einzige Normativität des „bürgerlichen Rechts“ darstellt. Trotz der enormen Relevanz der Privatautonomie im Privatrechtssystem ist diese nicht „unantastbar“ und bildet insofern keine vom Recht im Wege der Positivierung selbst gesetzte Grenze,258 die das Recht nicht auch unter Heranziehung überindividueller Wertungen wiederum überschreiten könnte. Selbstverständlich stellt diese rechtlich geprägte Sittenordnung, die neben die individualistische Sachlogik des Rechts tritt, kein prädominantes Prinzip dar, jedoch sichert sie einen objektiv-rechtlichen Kernbereich, der der Disposition des Subjekts im Wege subjektiver Rechte entzogen ist. § 138 I BGB zeigt beispielhaft, dass die Rechtsordnung die „guten Sitten“ über die Berechtigung und den Willen der Einzelnen stellen kann.259 Die Teleologie der Begrenzung der Privatautonomie durch § 138 BGB ist demnach komplexer und umfasst neben der Sicherung der Gleichheit 254
Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, 1. Band, S. 725. 255 Esser, in: Summum ius summa iniuria: Individualgerechtigkeit und der Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben. Tübinger Ringvorlesung Wintersemester 1962/63, 22, 22. 256 Raiser, in: Summum ius summa iniuria: Individualgerechtigkeit und der Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben. Tübinger Ringvorlesung Wintersemester 1962/63, 145, 163. 257 Insofern geht auch Ladeur davon aus, dass die „guten Sitten“ die Möglichkeit bieten, eine „begrenzte Kontrolle der Einlösung d[er] transsubjektiven Funktion“ des subjektiven Rechts durchzuführen, vgl. Ladeur, Recht Wissen Kultur. Die fragmentierte Ordnung, S. 71. 258 Vgl. hierzu Menke, Kritik der Rechte, S. 144. 259 Füller, Eigenständiges Sachenrecht?, S. 30.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
von Rechten zudem den Schutz überindividueller Werte, welche überwiegend durch die Verfassung vorgegeben werden. Die Sittlichkeit eines Rechtsgeschäfts und des sich darin manifestierenden Willens bildet zwar keine Geltungsvoraussetzung260 – das heißt, das Rechtsgeschäft kann nicht deshalb Geltung beanspruchen, weil es den sittlichen Anforderungen der Rechtsordnung genügt – anders gewendet ist jedoch ein Widerspruch mit der rechtlichen Sittlichkeit ein Geltungshindernis: „Die Rechtsordnung verweigert dem Unsittlichen ihren Erfüllungszwang.“261 Nicht jeder Manifestation des Eigenwillens wird die rechtliche Anerkennung gewährt, wobei die Versagung der Geltung nicht nur mit konfligierenden Rechten anderer Subjekte begründet wird. Um diese Geltung beanspruchen zu können, ist es hier demzufolge nicht ausreichend, „daß es der eigene Wille des Subjekts ist, der sich äußerlich nach einem Gesetz der Gleichheit begrenzt“262, wie Menke annimmt. Es konnte somit herausgestellt werden, dass dieser Schutz überindividueller Wertkonzepte durch die Rechtsordnung in starkem Kontrast zu der von Menke beschriebenen Sachlogik des geltenden Rechts steht. Menkes Rekonstruktion zufolge bezweckt das objektive Recht allein die „Sicherung der Rechte“, die den Eigenwillen des Subjekts ermächtigen, und damit die „Legalisierung des Natürlichen“263. Zwar findet keine Transformation innerer Motive statt, insofern wird das Subjekt von Anforderungen sittlicher Art „entlastet“264, jedoch wird der „Naturalisierung“265 des Eigenwillens auf Ebene der dogmatisch geprägten Rechtsanwendung durch Korrektive wie § 138 I BGB die Verweigerung der Legalisierung des Eigenwillens entgegengesetzt. Da der Umstand, dass es sich um das Wollen „von jemandem“ handelt,266 nicht das einzige Geltungskriterium bildet, stellt sich die Ausübung des subjektiven Rechts auf Ebene der Rechtsanwendung nicht als jedweder Beurteilung durch das Recht entzogen267 dar. Die Rechtsordnung verlangt vom Subjekt keine Modifizierung des Eigenwillens, insofern bleibt das Natürliche „substantiell unverändert“268, jedoch wird ein gegen das Wertesystem der Rechtsordnung verstoßender Eigenwille nicht legalisiert. Ein etwaiger Widerspruch der Rechtsordnung mit sich selbst konnte in Anbetracht der ambivalenten Grundgedanken, die das Gesamtkonzept des Rechts prägen, ausgeschlossen werden. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass sowohl individuelle als auch überindividuelle Ziellogiken konstitutiv sind und die Rechtsordnung demnach in diesem Widerspruch besteht. Ein Auskommen ohne jegliche Sittlichkeit im Sinne 260 261 262 263 264 265 266 267 268
So auch Menke, Kritik der Rechte, S. 203. Medicus/Petersen, Allgemeiner Teil des BGB, § 46, Rn. 680. Menke, Kritik der Rechte, S. 251. Ebd., S. 31 ff. Ebd., S. 96 u. 292. Ebd., S. 33; Menke, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2016, 71, 76. Menke, Kritik der Rechte, S. 197; vgl. außerdem ebd., S. 249. So jedoch Menke, in: MenschenRechtsMagazin 2008, 197, 201. Menke, Kritik der Rechte, S. 58.
II. Privatrechtsdogmatische Betrachtung: Die Generalklausel des § 138 I BGB
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der aufgezeigten überindividuellen Zielsetzungen ist demnach gerade nicht möglich und auch nicht erforderlich, da die Normativität der Rechtsordnung über die Ermächtigung des Eigenwillens hinausgeht.269 Auch Normen, deren Teleologie nicht auf die Sicherung der Rechte der Einzelnen abzielt, sondern auf die Bewahrung überindividueller Werte, fügen sich in die Legitimationskette des geltenden Rechts ein. Die Rechtsordnung reflektiert sich insofern selbst, mit dem Ergebnis, dass eine Ausrichtung des subjektiven Rechts der Privatautonomie an überindividuellen Maßstäben erforderlich ist, um systemwidrige Ergebnisse zu vermeiden.270 Die Regelung des § 138 I BGB findet ihre Legitimation im Gefüge des Rechts demnach trotz – oder gerade wegen – der Verfolgung überindividueller Interessen – ohne dass sie dazu allein auf die Sicherung subjektiver Rechte abzielen müsste. Zur Bestimmung der Grenzen subjektiver Rechte reicht es folglich nicht aus, lediglich die das jeweilige Recht gewährende Norm zu betrachten, sondern es muss ebenfalls der Blick auf die kontextuellen Rechtsgedanken allgemeiner Art gerichtet werden.271 Das liegt nicht zuletzt auch darin begründet, dass dem Privatrechtsdenken eine teleologische Ausrichtung zugrunde liegt, die die Entwicklung und Anwendung des Privatrechts stärker bestimmt als seine „begrifflich-logische Struktur“272. § 138 I BGB ist daher nicht lediglich mit einer Begrenzung der Vertragsfreiheit gleichzusetzen, sondern die Norm gibt der Privatautonomie eine bestimmte Gestalt, die sich von einem bloßen „Belieben“ unterscheidet. Privatautonomie muss daher stets mit dieser Gestalt zusammen gedacht werden.273 Die Rechtsprechung steckt anhand der aufgezeigten Maßstäbe immer wieder neu den Rahmen ab, innerhalb dessen ein subjektives Recht gebraucht werden darf, was sich auf den Gewährleistungsgehalt subjektiver Rechte niederschlägt, weshalb hier auch von einer „Relativität des Rechtsinhalts“274 gesprochen werden kann. Die rechtliche Sittlichkeit kommt folglich zwar nicht unmittelbar im Rahmen der Beurteilung des Willens zum Tragen, jedoch geschieht dies mittelbar im Wege der Ausgestaltung des jeweiligen Rechts. 269 Indessen geht Menke davon aus, dass die „bürgerliche Gesellschaft“ ohne Sittlichkeit „funktionieren muß“, da die einzige Normativität des „bürgerlichen Rechts“ die Ermächtigung des Eigenwillens sei, vgl. ebd., S. 266. 270 Vgl. hierzu auch Preuß, Die Internalisierung des Subjekts. Zur Kritik der Funktionsweise des subjektiven Rechts, S. 242, demzufolge die Bezugnahme auf die Verkehrssitte zeigt, dass die Rechtsordnung „nicht darauf verzichten kann, die sozialen Folgen individueller Handlungen zu thematisieren“, wodurch „der rigide Mechanismus des Legalitätssystems sozialethisch ausgesteuert und funktionstüchtig erhalten“ wird. 271 Raiser, in: Summum ius summa iniuria: Individualgerechtigkeit und der Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben. Tübinger Ringvorlesung Wintersemester 1962/63, 145, 149 f. 272 Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit. Generalklauseln im Spiegel der Antinomien des Privatrechtsdenkens, S. 77. 273 Jakl, in: beck-online. Grosskommentar zum Zivilrecht, § 138 BGB, Rn. 3. 274 Siebert, Verwirkung und Unzulässigkeit der Rechtsausübung. Ein rechtsvergleichender Beitrag zur Lehre von den Schranken der privaten Rechte und zur exceptio doli (§§ 226, 242, 826 BGB), unter besonderer Berücksichtigung des gewerblichen Rechtsschutzes (§ 1 UWG), S. 89.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
Ebenso steht die Ausübung des jeweiligen subjektiven Rechts stets unter dem Vorbehalt,275 nicht gegen die „guten Sitten“ zu verstoßen. Inwiefern hier von der Gesetzgebung eine strafende Wirkung intendiert ist,276 ist umstritten. Allerdings legt die besondere Härte der Rechtsfolge nahe, dass zumindest eine Verhaltenssteuerung bezweckt werden soll.277 Die anhand von § 138 I BGB dargestellte Gestalt der Materialisierung zeigt auf, dass die rechtliche Selbstreflexion nicht zwangsläufig in die Form subjektiver Rechte mündet. Es findet eine Durchbrechung der individualistischen Berechtigungslogik des Rechts statt, was sich wiederum auf den durch subjektive Rechte vermittelten Berechtigungsgehalt auswirkt. Aufgrund der sich dadurch auf der Ebene der Geltung ergebenden Abweichungsmöglichkeit von der Prämisse eines dem Recht unantastbar vorausgesetzten Eigenwillens, steht dies auch der Annahme von einer „Blockade der Selbstreflexion“ durch einen „empiristischen Materialismus“ entgegen. Menke verkennt diesen sich unter Einbeziehung der von juristischer Dogmatik geprägten Rechtsanwendungsebene zeigenden Effekt, den die beschriebene Art der Materialisierung auf die subjektiven Rechte hat, während eine vollständige Betrachtung der Funktionsweise des subjektiven Rechts diesen Aspekt notwendigerweise miteinbeziehen muss.
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung Wenn auch Menke seinen Untersuchungsgegenstand an keiner Stelle in der Weise spezifiziert, dass aus rechtswissenschaftlicher Sicht klar wäre, welche der vielen Erscheinungsformen subjektiver Rechte aufgegriffen werden soll, so möchte Menke jedoch unzweifelhaft über das Privatrecht hinaus ebenfalls das Öffentliche Recht miteinbeziehen. Zwar beginne das neuzeitliche Verständnis vom subjektiven Recht im Privatrecht,278 allerdings lehnt Menke, aufgrund der mit dem subjektiven Recht einhergehenden tiefgreifenden Veränderungen hinsichtlich der Normativität im Allgemeinen,279 gegen Savigny eine Begrenzung dieser Rechtsform auf das Privatrecht ab.280 Wenn auch Privatrecht und Öffentliches Recht eindeutige strukturelle Unterschiede aufwiesen,281 bedeute dies dennoch nicht gleichsam, dass die Form der 275
Guski, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2017, 88, 96. Vgl. zum Sanktionscharakter der Nichtigkeit Hart, The Concept of Law. Third Edition, S. 33 ff. 277 Jakl, in: beck-online. Grosskommentar zum Zivilrecht, § 138 BGB, Rn. 6 f. 278 Menke, Kritik der Rechte, S. 33. 279 Ausführlicher hierzu vgl. das Kapitel „Der Legalitätsbegriff“ auf S. 20 ff. der vorliegenden Arbeit. 280 Menke, Kritik der Rechte, S. 18. 281 Ebd., S. 184 f. 276
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung
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subjektiven Rechte sich nicht auch auf das subordinationsrechtliche Verhältnis des öffentlichen Rechts auswirke.282 Nach der exemplarischen Betrachtung der Privatrechtsdogmatik soll daher nunmehr die Hinwendung zum Bereich des Öffentlichen Rechts erfolgen. Vorliegend muss sich eine solche in erster Linie auf die Auseinandersetzung mit demjenigen Teilgebiet des Öffentlichen Rechts richten, welches originär subjektiv(-öffentliche) Rechte zum Gegenstand hat, namentlich die Grundrechtsdogmatik, der eine hohe verfassungsrechtliche Dignität eignet.283 Vor dem Hintergrund, dass mit den Grundrechten insbesondere soziale und demokratische Gehalte subjektiver Rechte in den Blick rücken284 und Menkes Kritik von dem Vorwurf des „Asozialen“ und „Apolitischen“ geprägt ist, ist eine über den Rechtsbereich der Privatrechtsdogmatik hinaus gehende Betrachtung unabdingbar. Das folgende die Grundrechte betreffende Kapitel ist in vier Teile gegliedert. Nachdem der Untersuchungsgegenstand konkretisiert wurde, sollen zunächst einige grundlegende dogmatische Erwägungen angestellt werden. Hieran schließt sich eine Untersuchung an, die schwerpunktmäßig zum einen die Schrankendogmatik und zum anderen die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte in den Blick nimmt.
1. Konkretisierung des Untersuchungsgegenstands In einem ersten Schritt soll eine Konkretisierung des Untersuchungsgegenstands erfolgen, um das Ausgehen von einem gemeinsamen Grundrechtsverständnis sicherzustellen. Menke thematisiert die Grundrechte unter dem Aspekt, dass ihre Erklärung als Vorgabe gegenüber dem Staat, in Form von subjektiven Rechten zu regieren,285 zu verstehen sei. Durch die Erklärung der Grundrechte werde die „Form der Privatrechtsordnung“ festgelegt.286 Aufgrund dieses Zwecks der Grundrechte, die „Form der subjektiven Rechte als (privat-)rechtliche Grundform zu etablieren“287, schließt Menke sich zunächst Kelsens Aussage an, der zufolge Grundrechte „an sich“
282 Ebd., S. 185; ausführlicher hierzu vgl. das Kapitel „Die Politizität der Form der subjektiven Rechte“ auf S. 58 ff. der vorliegenden Arbeit. 283 Gewissermaßen untergeordnet existiert das weite Feld lediglich einfach-gesetzlich eingeräumter subjektiv-öffentlicher Rechte, die sich nur teilweise einer verfassungsrechtlichen Fundierung verdanken. Deren Bemessung erfolgt nach Maßgabe der sog. Schutznormtheorie, die sich mit der bereits behandelten Interessentheorie berührt, vgl. hierzu Bauer, Geschichtliche Grundlagen der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht, S. 80 ff. u. 172 ff.; diese Rechtskategorie findet aufgrund des exemplarischen Zugriffs der Untersuchung und Menkes Thematisierung explizit der Grundrechte trotz ihrer hohen praktischen Bedeutung keine nähere Behandlung. 284 Mangold, in: Autonomie im Recht – Geschlechtertheoretisch vermessen, 173, 179. 285 Menke, Kritik der Rechte, S. 238. 286 Ebd., S. 235 ff.; siehe hierzu außerdem Menke, in: Die Idee subjektiver Rechte, 125, 125 ff. 287 Menke, Kritik der Rechte, S. 237.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
keine subjektiven Rechte konstituieren.288 Diese Einschätzung Kelsens resultiert aus der Annahme, dass ein subjektives Recht nur dann vorliege, wenn dem Subjekt die „Rechtsmacht“ vermittelt werde, auf dem Klageweg die Erfüllung einer Rechtspflicht geltend zu machen.289 In den Grundrechten erblickt Kelsen hingegen lediglich eine Erschwernis der gesetzlichen Einschränkung grundrechtlich verbürgter Freiheiten. Als subjektives Recht kann ein Grundrecht seiner Ansicht nach jedoch dann gelten, wenn dem Subjekt gesetzlich die Möglichkeit eingeräumt wird, einen Antrag zu stellen, der das Verfahren zur Aufhebung beispielsweise eines verfassungswidrigen Gesetzes290 in Gang bringt. Die damit einhergehende Annahme, dass lediglich dann von einem subjektiven Recht gesprochen werden kann, wenn das Subjekt aufgrund eines unzulässigen Eingriffs in seine Freiheitssphäre die Beseitigung eben jener Beeinträchtigung verlangen kann, weist Parallelen zu einer in der Grundrechtsdogmatik teilweise vertretenen Sichtweise zur Rechtsnatur von Grundrechten auf. a) Grundrechte als Unterlassungsansprüche Dieser Ansicht zufolge ergibt sich das subjektive Recht nicht aus dem jeweiligen Grundrecht, sondern erst der Unterlassungsanspruch, der auf einen ungerechtfertigten Grundrechtseingriff folgt, stellt das subjektive Recht dar.291 Beispielhaft auf Art. 8 I GG bezogen bedeutet dies, dass nicht das Recht, an einer Demonstration teilzunehmen, sondern das Abwehrrecht hinsichtlich eines unzulässigen staatlichen Eingriffs in die Versammlungsfreiheit geschützt wird.292 Das in den Grundrechten enthaltene Dürfen stellt das „Schutzobjekt des Unterlassungsanspruchs“ dar, ist gleichzeitig jedoch keine „eigenständige normative Kategorie“293. Erst die Verletzung eines Grundrechts lässt dieser Ansicht zufolge ein subjektiv-öffentliches Recht in Form eines Abwehranspruchs entstehen.294 Ausgehend von diesem Verständnis könnte von einer „Legalisierung des Natürlichen“295 in Menkes Sinne nicht gesprochen werden, da zur Bestimmung des 288
Ebd., S. 237; Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 145. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 148. 290 Ebd., S. 148. 291 Laubinger, in: VerwArch 1989, 261, 291 f.; Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre: Verwaltungsnorm und Verwaltungsrechtsverhältnis, S. 168 ff.; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 43 f.; differenzierter vgl. Haack, Theorie des öffentlichen Rechts, S. 64 f.; weiterführend zudem Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte. Reflexive Regelung rechtlich geordneter Freiheit, S. 156 ff. 292 Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts. Europäische Impulse für eine Revision der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht, S. 153. 293 Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 46. 294 Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre: Verwaltungsnorm und Verwaltungsrechtsverhältnis, S. 171. 295 Menke, Kritik der Rechte, S. 33. 289
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung
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Grundrechts nicht auf den Gegenstand der Berechtigung abgestellt wird. Vielmehr fokussiert das so verstandene subjektive Recht die Rechtmäßigkeit des staatlichen Handelns. Das lediglich aus der Verletzungshandlung resultierende subjektive Recht dient auf diese Weise zwar letztlich auch der Freiheit des Subjekts, die inhaltliche Ausgestaltung des Anspruchs wird jedoch nicht durch das Belieben der einzelnen Person bestimmt, vielmehr bilden die rechtsstaatlichen Vorgaben den Maßstab. Es geht beispielhaft nicht um die Freiheit, ob oder aus welchem Grund das Subjekt an einer Versammlung teilnimmt, sondern darum, ob ein staatlicher Eingriff in diese Versammlungsfreiheit die gesetzlichen Grenzen wahrt. Das Subjekt wird dazu ermächtigt, ein Verfahren zur Kontrolle des staatlichen Handelns einzuleiten, jedoch ist dies nicht vergleichbar mit Menkes Formbestimmung des subjektiven Rechts als Erlaubnis der Willkür und Ermöglichung von Interessen. Ein subjektives Abwehrrecht, das allein auf die Einhaltung der gesetzlichen Grenzen durch den Staat zielt, besteht – abgesehen von dem „Ob“ seiner Inanspruchnahme – unabhängig vom Eigenwillen des Subjekts. Legte man das beschriebene grundrechtsdogmatische Verständnis zugrunde, ginge Menkes Rekonstruktion daher an den Grundrechten vorbei, was eine Gegenüberstellung auf dieser Basis als wenig zielführend erscheinen lässt. b) Der Unterlassungsanspruch als sekundäres Element Menke hatte bei seiner Beschäftigung mit den Grundrechten vielmehr den durch sie vermittelten Freiheitsgehalt in seinen verschiedenen Ausformungen vor Augen.296 Im Gegensatz zu der zuvor beschriebenen Gleichsetzung des subjektiv-rechtlichen Gehalts der Grundrechte mit einem auf Unterlassung gerichteten Abwehrrecht im Verletzungsfall, ist eine solche Schwerpunktsetzung auf den Freiheitsgehalt indes in Anbetracht des Gesetzeswortlauts vorzugswürdig. Durch seine sprachliche Ausgestaltung stellt das Grundgesetz namentlich eben jene Freiheiten in den Mittelpunkt, während Unterlassungspflichten des Staates meist keine Erwähnung finden.297 Unzweifelhaft stellt die Ausprägung als Abwehrrecht, gerichtet auf ein staatliches Unterlassen, den Hauptgesichtspunkt bei der Kategorisierung von Grundrechten dar. Dennoch bildet das jeweilige Schutzgut den Gegenstand des Anspruchs.298 Inhalt des Abwehrrechts bleibt damit folglich der Freiheitsgebrauch bzw. die geschützte Handlungsoption, die im Verfassungstext konkretisiert wird. Die negatorischen Ansprüche, die durch einen verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigten Eingriff in
296
Vgl. ebd., S. 236 f. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/1: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 65, IV 2, S. 565 u. § 66 III 1, S. 680; Sachs, in: Handbuch der Grundrechte Band II. Grundrechte in Deutschland: Allgemeine Lehren I, § 39, Rn. 8. 298 Höfling, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 2002, 260, 269. 297
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
diese Freiheit entstehen, stellen sich somit mehr als eine Art „Hilfsansprüche“299 dar, die aus dem Recht auf Freiheitsausübung folgen.300 Aus diesem Grund wird zum Teil in Anlehnung an die privatrechtliche Terminologie der Inhalt des Abwehrrechts als „absolute[s]“301 „Beherrschungsrecht“302 bezeichnet, welches gem. Art. 1 III GG die Staatsgewalt bindet. Grundrechtliche Abwehrrechte können demnach definiert werden als „durch Grundrechtsbestimmungen garantierte Rechtspositionen einzelner Grundrechtsträger, deren Verletzung durch die Grundrechtsbestimmung (nur) den insbesondere in Art. 1 Abs. 3 GG bestimmten Grundrechtsverpflichteten verboten ist und die gegen solche Verletzungen zumindest durch negatorische Ansprüche der Berechtigten gesichert sind.“303 Demnach bilden die Schutzbereiche den „materiellen Kern“304 der Grundrechte, zu dem die Unterlassungsansprüche lediglich hinzutreten. Ein so gelagertes Grundrechtsverständnis stellt eine taugliche Grundlage für die Auseinandersetzung mit Menkes Rekonstruktion dar.
2. Grundlegende Erwägungen a) Grundrechtstheorien Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für das Verständnis der Form der Grundrechte und ihrer interpretativen Konkretisierung sind zudem die verschiedenen Grundrechtstheorien.305 „Eine solche ausdeutende und den Inhalt erst konkretisierende Interpretation findet in Wortfassung, Sprachsinn und Regelungszusammenhang keinen hinreichenden Anknüpfungspunkt. Sie wird – bewußt oder unbewußt – von einer bestimmten Grundrechtstheorie geleitet und bestimmt.“306
Als theoretische Grundlage geben Grundrechtstheorien im Falle eines nicht eindeutigen Verfassungstextes den Ausschlag für eine Interpretation in die eine oder in die andere Richtung. In einem solchen Fall muss auf die Funktion des jeweiligen 299 Sachs, in: Handbuch der Grundrechte Band II. Grundrechte in Deutschland: Allgemeine Lehren I, § 39, Rn. 8. 300 In diese Richtung gehend auch Baumeister, Der Beseitigungsanspruch als Fehlerfolge des rechtswidrigen Verwaltungsakts, S. 25 f. 301 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/1: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 65, IV 2, S. 563. 302 Höfling, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 2002, 260, 269; zur Kritik an dem Begriff siehe Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/1: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 65 IV 2, S. 566 f. 303 Sachs, in: Handbuch der Grundrechte Band II. Grundrechte in Deutschland: Allgemeine Lehren I, § 39, Rn. 7. 304 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/1: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 65 IV 2, S. 566. 305 Vgl. hierzu Augsberg/Unger, Basistexte: Grundrechtstheorie, S. 11 ff. 306 Böckenförde, in: NJW 1974, 1529, 1529.
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung
157
Grundrechts oder auch auf die verfassungsrechtliche Wertordnung in Gänze rekurriert werden. Hierdurch erlangt die zugrundeliegende Grundrechtstheorie unweigerlich einen großen Einfluss auf die Auslegung und ist damit „unvermeidlich“307. Im Folgenden sollen die verschiedenen Grundrechtstheorien daher kurz dargestellt werden, bevor untersucht wird, ob sich hiervon ausgehend eine Verbindung zu Menkes Darstellungen herstellen lässt. Allgemein anerkannt ist die Unterteilung in fünf verschiedene Grundrechtstheorien: Dazu zählen die liberale Grundrechtstheorie,308 die Wertetheorie der Grundrechte, die institutionelle Grundrechtstheorie, die demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie und die sozialstaatliche Grundrechtstheorie.309 Im Folgenden sollen diese Theorien überblicksartig skizziert werden, ohne jedoch auf die zum Teil umfangreiche Kritik310 an den einzelnen Ansätzen einzugehen, da dies im Hinblick auf die hier zu behandelnde Frage der Belastbarkeit von Menkes Grundrechtsrekonstruktion nicht von Relevanz ist. Der liberalen oder bürgerlich-rechtsstaatlichen Grundrechtstheorie zufolge sind Grundrechte dazu gedacht, die Staatsmacht abzuschirmen.311 Die individuelle Freiheitssphäre ist demnach vor dem Einfluss des Staates zu schützen, „[…] der Inhalt der Freiheit und damit die Bestimmung der Art des Freiheitsgebrauchs liegen […] von vornherein außerhalb seiner Regelungskompetenz.“312 Die im Ausgangspunkt auf Rudolf Smend zurückgehende Werttheorie charakterisiert Grundrechte weniger als subjektive Ansprüche, sondern mehr als objektive Normen, durch die ein System der Werte etabliert wird.313 Die Grundrechtsausübung des Einzelnen wird dabei durch die dem gesellschaftlichen Wandel unterworfene Werteordnung gewissermaßen determiniert.314 Nach der institutionellen Grundrechtstheorie stellen Grundrechte in erster Linie „objektive Ordnungsprinzipien“315 dar, wodurch statt des individuellen, der institutionelle Wert der jeweiligen Freiheiten hervorgehoben wird. Diese Freiheiten sind
307 Brugger, in: JuristenZeitung 1987, 633, 633; vgl. hierzu außerdem Augsberg, Theorien der Grund- und Menschenrechte. Eine Einführung, S. 1 ff. 308 Vgl. zur kollektiven Dimension der Grundrechte im Rahmen einer liberalen Grundrechtstheorie weiterführend Ladeur, in: Der Staat 2011, 493, 493 ff. 309 Sachs, Verfassungsrecht II – Grundrechte, S. 38 ff. 310 Vgl. hierzu umfassend Willke, Stand und Kritik der neueren Grundrechtstheorie. Schritte zu einer normativen Systemtheorie, S. 24 ff. 311 Vgl. hierzu weiterführend Brugger, in: JuristenZeitung 1987, 633, 635 ff. 312 Böckenförde, in: NJW 1974, 1529, 1530. 313 Siehe hierzu auch Augsberg, Theorien der Grund- und Menschenrechte. Eine Einführung, S. 104 ff. 314 Ebd., 1529, 1533 f.; Sachs, Verfassungsrecht II – Grundrechte, S. 39; zur Kritik an der Werttheorie vgl. exemplarisch Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 9 ff. 315 Böckenförde, in: NJW 1974, 1529, 1532 f.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
für den jeweiligen Lebensbereich bereits objektiviert ausgestaltet,316 sodass dem Subjekt auch an dieser Stelle ein geringerer eigener Gestaltungsspielraum zugestanden wird. Nach der demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie sind Grundrechte vor allem als „im Interesse des demokratischen Prozesses übertragene und auszuübende Kompetenzen des Einzelnen“317 und nicht als Selbstzweck zu verstehen. Hier wird die individuelle Freiheit im Sinne einer Funktionalisierung für einen demokratischen Zweck objektiviert.318 Der Ausgangspunkt der sozialstaatlichen Grundrechtstheorie ist die reale Freiheit im Unterschied zur rechtlich-abstrakten Freiheit. Diesem Ansatz zufolge vermitteln Grundrechte soziale Leistungsansprüche gegen den Staat, welche sicherstellen sollen, dass die Voraussetzungen für die Ausübung grundrechtlicher Freiheiten gegeben sind.319 aa) Menkes implizite Anknüpfungspunkte Der für die rechtsdogmatische Beurteilung erforderliche Transfer wirft nun die Frage auf, ob sich bei Menke zumindest implizit eine Anknüpfung an eine oder mehrere der Grundrechtstheorien feststellen lässt und inwiefern sich dies auf sein Verständnis von den subjektiven (Grund-)Rechten auswirkt. In Kritik der Rechte wird den Grundrechten in erster Linie die Rolle von Abwehrrechten zugeschrieben. „[…] alle Grundrechte bringen auf je inhaltlich verschiedene Weise wesentlich nur eines zum Ausdruck: Die ,Systementscheidung zugunsten der Freiheit schlechthin‘ […].“320 Die individuelle Freiheitssphäre gilt als dem Staat entzogen. Eine Beschränkung dieser Sphäre kann nur mit dem Zweck der Kompatibilisierung der Freiheitssphären der Einzelnen gerechtfertigt werden. Das bürgerliche Recht lässt den privaten Eigenwillen als Tatsache gelten,321 die Entscheidungen über das „Ob“ und die Art des Grundrechtsgebrauchs obliegen somit allein dem Subjekt. Dem Recht ist der Einfluss auf diese ihm vorgelagerte Substanz verwehrt. Im Hinblick auf diese Beschreibung Menkes offenbaren sich schnell die Parallelen zur liberalen Grundrechtstheorie. Weiterhin zeigt sich, dass in Kritik der Rechte neben der liberalen Grundrechtstheorie auch die sozialstaatliche Grundrechtstheorie anklingt. Letztere spiegelt sich in der Ermöglichung von Interessen als „Performanz“ der modernen Form der 316 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz. Zugleich ein Beitrag zum institutionellen Verständnis der Grundrechte und zur Lehre vom Gesetzesvorbehalt, S. 99 f. 317 Sachs, Verfassungsrecht II – Grundrechte, S. 40. 318 Böckenförde, in: NJW 1974, 1529, 1534 f. 319 Ebd., 1529, 1535 f. 320 Menke, Kritik der Rechte, S. 316. 321 Ebd., S. 372.
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung
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Rechte322 wider. Diese Performanz der Ermöglichung bedingt Menke zufolge, dass die Rechtsordnung soziale Rechte etabliert, mit deren Hilfe dem Subjekt die „private […] Teilhabe am Sozialen“323 gewährleistet wird. Menke geht davon aus, dass die sozialen Rechte dazu dienen, dem Subjekt die Mittel bereitzustellen, die es benötigt, um seine Interessen – die das Recht als Natürliche legalisieren will – zu realisieren.324 Hierin drückt sich der Gedanke der sozialstaatlichen Grundrechtstheorie, die Voraussetzungen für die Realisierung der grundrechtlichen Freiheiten schaffen zu wollen, aus. Anders als es aus der Perspektive der sozialstaatlichen Grundrechtstheorie der Fall ist, ändert dieser Befund für Menke jedoch nichts am Grundverständnis der Grundrechte. Während einige Autoren325 in der Etablierung sozialer Rechte einen grundlegenden Verständniswandel erkennen, bleibt für Menke die individualistische Sachlogik des Rechts und die Formbestimmung subjektiver (Grund-)Rechte als Ermächtigung des Eigenwillens unangetastet.326 Statt einer theoretischen Annäherung an die Frage eines grundlegenden Verständniswandels, ist vorliegend eine Entfaltung hieraus ableitbarer dogmatischer Erwägungen von größerem Interesse. Grundrechtsdogmatisch betrachtet ist die Ableitung unmittelbarer Leistungs- und Teilhaberechte aus dem Grundgesetz nur in äußerst engen Grenzen anerkannt. Ein Beispiel für die wenigen Ausnahmen von dieser Regel bildet Art. 6 IV GG, der den Anspruch einer Mutter auf Fürsorge explizit statuiert. Überwiegend können jedoch aus den Grundrechten keine unmittelbaren Leistungsansprüche abgeleitet werden. Anders als die abwehrrechtlichen Freiheitsrechte stellen sie grundsätzlich keine originären Ansprüche dar, sondern sind „gesetzesabhängig“327. Sie werden „nicht gewährleistet, sondern gewährt“.328 Von einer den liberalen Abwehrrechten entsprechenden Wirkung als unmittelbar gerichtlich durchsetzbare subjektive Ansprüche kann nicht ausgegangen werden. Insbesondere die Diskussionen um ein potentielles Recht auf Arbeit329 oder auf Wohnen sind auf Staatszielbestimmungen, welche für sich genommen keine subjektiven Rechte begründen, zurückzuführen.330 Da hierbei eine Abhängigkeit von 322
Ebd., S. 89 ff. Ebd., S. 246. 324 Ebd., S. 246 f.; vgl. zum damit verbundenen Gedanken der Normalisierung S. 92 f. der vorliegenden Arbeit. 325 So zum Beispiel Honneth, Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, S. 142 ff.; in diese Richtung auch Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, S. 478 f. 326 Menke, Kritik der Rechte, S. 223; Menke/Schmidt/Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 54, 62; zu der Frage, ob mit der Etablierung sozialer Rechten die von Menke angenommene Form subjektiver Rechte durchbrochen werden kann, weiter unten auf S. 205 ff. 327 Bethge, in: Der Staat 1985, 351, 376. 328 Ebd., 351, 376 f. 329 Weiterführend hierzu vgl. Manssen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG Kommentar Bd. 1, Art. 12 Abs. 1, Rn. 10 ff. 330 Dreier, in: Grundgesetz-Kommentar Bd. I, Vorbemerkung vor Artikel 1, Rn. 81. 323
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
staatlichen Finanzmitteln entsteht, wird die wirtschaftliche Möglichkeit zu einem Kriterium für die Gewährung subjektiver Rechte. Zudem darf die Budgethoheit des Parlaments in dieser Entscheidung nicht umgangen werden.331 Hierdurch wird die „Unbedingtheit grundrechtlicher Ansprüche“ aufgegeben.332 Im Falle direkter, unbedingter Leistungsrechte würde die Entscheidung über die Gewährleistung von der Politik auf die Justiz verlagert.333 Indem dem Subjekt indes keine direkten Leistungsansprüche zuerkannt werden, muss die Frage nach der Gewährleistung nicht auf der gerichtlichen, sondern in erster Linie auf der politischen Ebene beantwortet werden. Dies liegt nicht zuletzt auch darin begründet, dass das Soziale, woran Teilhabe ermöglicht werden soll, nicht grenzenlos verfügbar, sondern endlich ist. Veranschaulichen lässt sich dies am Beispiel der Nutzung öffentlicher Umweltgüter,334 wobei es ebenso generell für Teilhabe, die finanzielle Ressourcen erfordert, gilt. Die Teilhabe am Sozialen kann demnach denknotwendig nicht grenzenlos gewährleistet werden. Hier beansprucht nicht die einzelne Person ihre individuelle Freiheitssphäre gegenüber Eingriffen des Staates, sondern eine übergeordnete normgebende Instanz nimmt in Vertretung der Interessen der Allgemeinheit anhand sachgerechter Kriterien eine Zuteilung vor. Während die grundsätzlich unbegrenzte Freiheit des Subjekts dem Staat stets einen Rechtfertigungszwang auferlegt, liegt den Leistungs- und Teilhaberechten das umgekehrte Prinzip zugrunde: die „Teilhabe [ist] der Natur der Sache nach immer begrenzt und prinzipiell rechtfertigungsbedürftig.“335 Die sich hierin widerspiegelnde Logik ist insofern diametral zu Menkes Grundrechtsverständnis336. Es kann folglich festgehalten werden, dass Menke in seiner Rekonstruktion zwar die von der sozialstaatlichen Grundrechtstheorie forcierte Wirkdimension der Grundrechte aufgreift. Dabei verkennt er jedoch die damit einhergehende abweichende Sachlogik des Rechts, die durch die Rechtfertigungsbedürftigkeit dieses speziellen Grundrechtsgebrauchs gekennzeichnet ist. bb) Multifunktionalität der Grundrechte Während sich in Kritik der Rechte demnach klare Bezüge zur liberalen und ebenso – wenn auch weniger stark ausgeprägt – zur sozialstaatlichen Grundrechtstheorie herstellen lassen, finden die übrigen Grundrechtstheorien bei Menke keinerlei Berücksichtigung. Dies ist vor dem Hintergrund der bereits beschriebenen besonderen Relevanz der Grundrechtstheorien für die Auslegung der Grund331
Jarass, in: Archiv des öffentlichen Rechts 1985, 363, 389. Böckenförde, in: NJW 1974, 1529, 1536. 333 So auch Böckenförde, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, 1972, 142, 164. 334 Vgl. hierzu Murswiek, in: Deutsches Verwaltungsblatt 1994, 77, 81 ff. 335 Ebd., 77, 82. 336 Vgl. hierzu Menke, Kritik der Rechte, S. 236. 332
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung
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rechte insofern problematisch, als dass das Grundgesetz keine Vorentscheidung337 zugunsten einer oder mehrerer der Theorien getroffen hat. Die Verfassung eröffnet vielmehr für jeden der theoretischen Ansätze338 die Möglichkeit sowohl der kumulativen als auch der alternativen Anwendung.339 Daher finden sich in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts Beispiele für die Anwendung jeglicher Grundrechtstheorien, ohne dass hieraus eine bestimmte Systematik abgeleitet werden könnte.340 Das Ziel einer zutreffenden Bestimmung der Funktionsweise von Grundrechten kann dementsprechend nur unter der Voraussetzung erreicht werden, dass alle in der Rechtsprechung zur Anwendung gelangenden Grundrechtstheorien berücksichtigt werden. Die Vernachlässigung der Multifunktionalität der Grundrechte kann zu Pathologien341 oder der Verkennung grundlegender Funktionen der Grundrechte führen. Häberle betont in diesem Zusammenhang insbesondere die aus einem rein liberalen Grundrechtsverständnis resultierende Verkennung des Institutscharakters der Grundrechte.342 Dies ist im vorliegenden Kontext vor allem deshalb von Interesse, weil Grundrechte in ihrer Funktion als Bestandsgarantien nicht auf die Gewährleistung subjektiver Berechtigungen ausgelegt sind, sondern objektiv den Bestand privat-rechtlicher (Institutsgarantien) oder öffentlich-rechtlicher (institutioneller Garantien) Einrichtungen garantieren.343 Dieser Substanzschutz der Grundstrukturen beispielsweise des Instituts Eigentum, Art. 14 I 1 GG, oder des Berufsbeamtentums, Art. 33 V GG, vermittelt keine über den Bestandsschutz hinausgehenden individuellen Berechtigungen.344 Über den eindeutigen Fall der Bestandsgarantien hinaus, wird im Rahmen der institutionellen Grundrechtstheorie zudem auch anderen Grundrechten eine institutionelle Dimension zugeschrieben.345 Mit den Worten Teubners werden hierdurch „Institutionen wie Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft als Quasi-Rechtssubjekte“346 statuiert. So wird beispielsweise neben der individu337
Böckenförde, in: NJW 1974, 1529, 1536. Für eine Einordnung der Aktualität und der im Laufe der Zeit erfolgten Modifizierungen der Werttheorie vgl. Rennert, in: Der Staat 2014, 31, 49 ff. 339 Sachs, Verfassungsrecht II – Grundrechte, S. 41. 340 Böckenförde, in: NJW 1974, 1529, 1536 f. m. w. N. 341 Vgl. exemplarisch Honneth, Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, S. 161 ff., der in der Reduktion auf ein rein liberales Freiheitsverständnis die Wurzel für die Distanz in sozialen Zusammenhängen erblickt, vgl. hierzu Hahn, Politischer Kosmopolitismus, S. 90 f. 342 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz. Zugleich ein Beitrag zum institutionellen Verständnis der Grundrechte und zur Lehre vom Gesetzesvorbehalt, S. 90. 343 Herdegen, in: Maunz/Du¨ rig, Grundgesetz Kommentar, Art. 1, Abs. 3, Rn. 19. 344 Ebd., Rn. 29; Dreier, in: Grundgesetz-Kommentar Bd. I, Vorbemerkung vor Artikel 1, Rn. 107. 345 Böckenförde, in: NJW 1974, 1529, 1532; vgl. außerdem hierzu und zu der Kritik an diesem Ansatz Sachs, Verfassungsrecht II – Grundrechte, S. 59 f. 346 Teubner, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 357, 363. 338
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
ellen Gewährleistung der Kunstfreiheit zusätzlich die Autonomie des gesellschaftlichen Handlungsbereichs der Kunst zum Schutzobjekt des Grundrechts.347 Die individuelle Freiheit weist aus dieser Perspektive einen institutionellen Charakter auf, durch den sie objektiviert und normativ gestaltet348 wird.349 In dieser institutionellen Dimension dienen die Grundrechte folglich nicht der Berechtigung der Einzelnen, sondern der Erhaltung der Freiheit in dieser objektivierten Form. Die sich hierin abzeichnende Sachlogik des Rechts steht daher ihrerseits wiederum im Gegensatz zu Menkes Grundverständnis. Unter Zugrundelegung der institutionellen Grundrechtstheorie geht die Funktionsweise der Grundrechte damit über die von Menke angenommene ausschließliche Positivierung des Eigenwillens hinaus. cc) Zwischenergebnis Ähnliche Befunde ließen sich schließlich auch für die Außerachtlassung der demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie und der Werttheorie der Grundrechte in Menkes Funktionsbestimmung der Grundrechte finden. Auf den Zusammenhang dieser Grundrechtsdimensionen mit Menkes Rekonstruktion soll jedoch im weiteren Verlauf350 anhand konkreterer Beispiele eingegangen werden, sodass auf eine rein abstrakt-theoretische Darstellung an dieser Stelle verzichtet wird. Bis hierhin sollte jedoch deutlich geworden sein, dass Menke in seine Rekonstruktion lediglich zwei der fünf Grundrechtstheorien mittelbar einbezieht. Namentlich die sozialstaatliche und besonders hervorstechend die liberale Grundrechtstheorie. Dabei gilt es zu beachten, dass sich die drei übrigen Ansätze nicht zuletzt auch deshalb herausgebildet haben, um auf die Schwachstellen der zwar „nach wie vor unverzichtbar[en] aber […] unzulänglich[en]“351 liberalen Grundrechtstheorie zu reagieren. Das liberale Grundrechtdenken sieht sich bereits seit Langem Vorwürfen dahingehend ausgesetzt, dass es „tendenziell isolationistisch, unpolitisch und demokratieindifferent, unsozial, unorganisiert und ungeschichtlich“352 wirke. Die beschriebene Multifunktionalität der Grundrechte trägt dazu bei, diese Schwächen zu relativieren.353 Bis auf die zwei zuletzt genannten Aspekte 347
Ebd., 357, 363. Böckenförde, in: NJW 1974, 1529, 1533 mit Verweis auf BVerfG NJW 54, 1881, 1882; BVerfG NJW 64, 1267, 1267; BVerfG NJW 66, 2305, 2306. 349 Dies eröffnet gegebenenfalls auch die Möglichkeit, das subjektive Recht teleologisch auszurichten, indem ihm ein institutioneller Zweck eingeschrieben wird, vgl. hierzu Guski, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2017, 88, 103 ff.; als Beispiel hierfür kann die Meinungsfreiheit in ihrer konstitutiven Bedeutung für die Demokratie angeführt werden, worauf im weiteren Verlauf, unten S. 193 ff., noch näher eingegangen werden wird. 350 Siehe zur demokratisch-funktionalen Deutung S. 194 ff. sowie zu der auf die Werttheorie zurückgehenden – vgl. hierzu Rennert, in: Der Staat 2014, 31, 50 – objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte S. 202 ff. der vorliegenden Arbeit. 351 Brugger, in: JuristenZeitung 1987, 633, 634. 352 Ebd., 633, 634 m. w. N. 353 Böckenförde, in: NJW 1974, 1529, 1532 ff. 348
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung
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beinhalten diese Vorwürfe genau diejenigen Kritikpunkte, die auch Menke – wenn auch mit einer abweichenden Begründung – gegenüber der Form der subjektiven Rechte anführt. So betrachtet könnte die Wurzel des Problems statt in der Form des subjektiven Grundrechts selbst, möglicherweise auch darin gesehen werden, dass von einer auf das liberale Grundrechtsverständnis reduzierten theoretischen Grundlage ausgegangen wird,354 wodurch diese (unbewusst) überbetont wird. Eine definitive Antwort auf diese Frage kann jedoch erst durch die intensive Beschäftigung mit der grundrechtlichen Dogmatik gewonnen werden. Nur auf diesem Wege kann eine belastbare Beurteilung der Funktionsweise der Grundrechte erfolgen, weshalb hierauf das Hauptaugenmerk dieses Kapitels liegen wird. b) Potential der Grundrechte Der ausgeprägte Fokus in Kritik der Rechte auf die Frage, was durch die Form des subjektiven Rechts ermächtigt wird, verstellt den Blick auf die grundlegende Einsicht, dass durch die Form des subjektiven Rechts zunächst einmal ermächtigt wird.355 Dieser Aspekt der Ermächtigung, der in Menkes Rekonstruktion keinen Platz findet, soll im Folgenden skizziert werden. aa) Emanzipation Geht man einen Schritt hinter die These des Eigenwillens als Gegenstand der Ermächtigung zurück, wird erkennbar, dass erst das Innehaben subjektiver Rechte überhaupt ein Bewusstsein für die Stellung als Rechteinhaberin und das ermächtigende Moment der subjektiven Rechte schafft.356 Privatrechtlich gewendet muss der Umstand, dass sich die mit subjektiven Rechten ausgestatteten Subjekte als Freie und Gleiche gegenüberstehen, insofern nicht zwangsläufig als Grundlage für das Entstehen von Ausbeutungsverhältnissen begriffen werden,357 sondern beinhaltet ein darüber hinaus gehendes Potential. Erst durch die Erkenntnis, dass einer gesellschaftlichen Gruppe mehr Rechte zur Verfügung stehen als einer anderen, wird die Entstehung von Emanzipationsbewegungen in Gang gesetzt. „[U]nter dem Banner subjektiver Rechte“ hat sich so beispielsweise die Frauenbewegung als politische
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Ohne spezifischen Bezug zur liberalen Grundrechtstheorie, aber grundsätzlich Menkes Kritik betreffend in diese Richtung auch Möllers, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2016, 307, 309; Denninger, in: Kritische Justiz 2018, 316, 322 f. 355 Dieser Gedanke verdankt sich einem persönlichen Gespräch mit Christoph Menke am 12. 09. 2018 an seinem Lehrstuhl in Frankfurt am Main. 356 Vgl. hierzu auch Mangold, in: Autonomie im Recht – Geschlechtertheoretisch vermessen, 173, 179 f.; vgl. hierzu außerdem Kalthöner, Die Gewalt des Rechts. Analyse und Kritik nach Benjamin und Menke, S. 145 ff. 357 So aber Menke, Kritik der Rechte, S. 272 ff.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
Initiative konstituiert.358 Subjektive Rechte befähigen zu einer Durchbrechung des Konformismus und ermöglichen so „individuelle Differenz“ und „Pluralität“.359 bb) Kollektivierung In Konstellationen dieser Art entfaltet sich zudem ein kollektivierendes Potential360 subjektiver Rechte. Dabei hat eine solche Kollektivierung unter anderem zur Folge, dass sich das Einzelwesen in einer Abhängigkeit von anderen Subjekten wiederfindet. Anders als im Hinblick auf die Verwirklichung nur privater Freiheit, hängt die durch politische Rechte ermöglichte Freiheit von dem Einsatz mehrerer Subjekte ab.361 Die Ausübung der Grundrechte kann dem Subjekt als Grundlage für die Schaffung von Handlungsformen dienen, die sich von der individuellen Ausübung subjektiver Rechte unterscheiden. Hierauf aufbauend können neue politische Akteurinnen eingeführt werden, was anhand des Beispiels der allgemeinen Vereinigungsfreiheit, Art. 9 I GG, besonders deutlich wird. Auch hier wird das Eingehen sozialer Verbindungen, die gerade nicht entpolitisiert sind,362 befördert. Das Phänomen der Gewerkschaften363 illustriert, dass der Staat andere Akteurinnen nicht von der „politische[n] Macht […] ausschließt“364, sondern deren Bildung durch die Grundrechte schützt und die Bedeutung solcher Kollektive für die Demokratie anerkennt. Die beschriebene Kollektivierung schlägt sich schließlich auch auf den Gegenstand der Ermächtigung nieder: Nicht der subjektive Einzelwille, sondern der Wille eines Kollektivs wird ermächtigt. Die Transformation des Willens, die Menke in der Form des subjektiven Rechts vermisst, ist hierbei denknotwendig.365 Die Bildung eines kollektiven Willens geht über die bloße Zusammenfassung der Einzelwillen hinaus366 und setzt dadurch eine Transzendierung voraus. Dies gilt zum einen dann, wenn der Grundrechtsträger ein Kollektiv wie beispielsweise eine juristische Person ist, aber zum anderen und vor allem für Rechte wie die Versammlungsfreiheit (Art. 8 358 Möllers, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2016, 307, 308; vgl. hierzu außerdem Mangold, in: Autonomie im Recht – Geschlechtertheoretisch vermessen, 173, 180; zu zivilgesellschaftlichen Räumen, die durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geschaffen werden und „empowerment“ zur Folge haben vgl. Dommann/Espahangazi, in: MERKUR 2015, 34, 47 f. 359 Loick, Juridismus. Konturen einer kritischen Theorie des Rechts, S. 103. 360 Vgl. hierzu weiterführend Vesting/Korioth/Augsberg, Grundrechte als Phänomene kollektiver Ordnung: zur Wiedergewinnung des Gesellschaftlichen in der Grundrechtstheorie und Grundrechtsdogmatik. 361 Honneth, Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, S. 146. 362 Vgl. demgegenüber Menke, Kritik der Rechte, S. 319. 363 Siehe hierzu auch Mangold, in: Autonomie im Recht – Geschlechtertheoretisch vermessen, 173, 179. 364 Menke, Kritik der Rechte, S. 317. 365 Näher hierzu auf S. 252 f. der vorliegenden Arbeit. 366 So auch Teubner, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 357, 362 f.
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung
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GG), die von vorneherein nur in kollektiver Weise ausgeübt367 werden können. Individuen bilden nunmehr nicht den alleinigen Bezugspunkt subjektiver Rechte.368 Gerade mit Blick auf die politischen Grundrechte offenbart sich ein „anderer Typus von individueller Freiheit“, der die Beteiligung an einer kollektiven Willensbildung voraussetzt und rein private Zwecke in den Hintergrund treten lässt.369 Auch Menke nimmt an, dass das Rechtssubjekt durch die Grundrechte an der Gestaltung der Rechtsordnung teilnehmen kann,370 jedoch verkennt er dabei die Implikationen, die mit der Kollektivierung einhergehen. Politische Grundrechte werden von ihm lediglich als eine „,Verselbständigung der Grundrechte gegen den demokratischen Prozeß‘“371 angesehen, anstatt in ihnen gleichsam die Möglichkeitsbedingung eines politischen Prozesses zu erkennen.
3. Grundrechtsbeschränkungssystematik Menke geht in seiner Rekonstruktion des bürgerlichen Rechts von einer Sachlogik des Rechts aus, die von einer stets auf den subjektiven Eigenwillen rückführbaren Legitimationskette geprägt ist. Eine der aus dieser Logik resultierenden Konsequenzen besteht darin, dass so verstanden allein konfligierende subjektive Rechte Dritter einen legitimen Grund für die Beschränkung eines subjektiven Rechts darstellen können.372 Vor diesem Hintergrund bietet sich für die rechtswissenschaftliche Analyse eine Betrachtung der Grundrechte an, welche sich an der klassischen Systematik von Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung orientiert und dabei die Rechtfertigungsebene, auf der die Schrankendogmatik im Mittelpunkt steht, in besonderer Weise berücksichtigt. a) Schutzbereichsebene Die Bindung an die Form des subjektiven Rechts wird Menke zufolge durch die Verfassung vollzogen, während er die inhaltliche Bestimmung der subjektiven Rechte als legislativen Akt versteht.373 „Die Grundrechte bezeichnen die Freiheit des Eigenwillens in den verschiedenen sozialen Sphären.“374 Die Grundrechte konkre367
Quilisch, Die demokratische Versammlung. Zur Rechtsnatur der Ordnungsgewalt des Leiters öffentlicher Versammlungen – Zugleich ein Beitrag zu einer Theorie der Versammlungsfreiheit, S. 106. 368 So auch Teubner, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 357, 362. 369 Honneth, Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, S. 145. 370 Menke, Kritik der Rechte, S. 238 f. u. 316 ff. 371 Ebd., S. 318 mit Verweis auf Maus, Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie, S. 363. 372 Vgl. Menke, Kritik der Rechte, S. 258. 373 Ebd., S. 316. 374 Ebd., S. 237.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
tisieren ihm zufolge die Erscheinungsform des Eigenwillens im jeweiligen sozialen Bereich. Aus rechtswissenschaftlicher Sicht ist damit das Konzept des Schutzbereichs angesprochen, da dieser jenen Bereich bezeichnet, „den die Grundrechtsnorm aus der Lebenswirklichkeit als Schutzgegenstand herausschneidet“375. Die Beschäftigung mit diesem Themenkomplex betrifft folglich nicht unmittelbar die Frage der Form, sondern die Ebene des Inhalts. Ohne die Einbeziehung der zum Schutzbereich entwickelten Grundsätze und generell der grundrechtlichen Dogmatik in ihrer Gesamtheit lässt sich indessen keine fundierte Aussage über die Funktionsweise der Grundrechte – und damit auch ihrer Form – treffen. Unter Außerachtlassung jener Aspekte muss jede Analyse zwangsläufig an der Rechtsrealität vorbeigehen, weshalb letztlich auch Menke im Hinblick auf die Meinungsfreiheit auf inhaltlicher Ebene argumentiert,376 um die Legalisierung des Natürlichen als Kern seiner Formbestimmung in den Grundrechten nachzuweisen. Der Schutzbereich eines Grundrechts besteht im Wesentlichen aus zwei Elementen: einem beschreibenden und einem normativen Element. Das beschreibende Element bezieht sich dabei auf den Lebensbereich, in dem das Subjekt die Freiheit ausübt, wie etwa die Religion oder die Kunst. Das normative Element steckt den Bereich ab, der von der grundrechtlichen Gewährleistung erfasst wird.377 Hierdurch wird folglich der durch das beschreibende Element bezeichnete Lebensbereich im Hinblick auf den zu gewährleistenden Schutz konkretisiert. Insofern ist Menkes Annahme, dass die Grundrechte den Hauptgesichtspunkt des Eigenwillens in der jeweiligen sozialen Sphäre ausdifferenzieren,378 nur eingeschränkt zuzustimmen. Das normative Element des Schutzbereichs bewirkt zusätzlich zu dieser Ausdifferenzierung namentlich eine Bestimmung dessen, worauf sich der Eigenwille im rechtlich geschützten Bereich beziehen kann. Nicht alle Richtungen, in die sich der Eigenwille erstrecken kann, werden als schützenswert in den Schutzbereich aufgenommen. Hierin kommt die zuvor beschriebene limitative Konsequenz der Interessentheorie379 zum Tragen, da sich die Definition der Schutzbereiche nicht nur am Gesamtzusammenhang der Verfassung, sondern ebenso am Schutzzweck des jeweiligen Grundrechts ausrichtet.380 aa) Normgeprägte Grundrechte Bei der Bestimmung der Schutzbereiche ist zudem zwischen sach- und normgeprägten Grundrechten zu differenzieren. Bei normgeprägten Grundrechten wie 375
Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 222. Vgl. Menke, Kritik der Rechte, S. 241 f. 377 Böckenförde, in: Der Staat 2003, 165, 167; Kirchhof, in: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa Band I. Entwicklung und Grundlagen, § 21, Rn. 12. 378 Menke, Kritik der Rechte, S. 237. 379 Siehe hierzu S. 115 ff. der vorliegenden Arbeit. 380 Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 970. 376
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung
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dem Schutz der Ehe (Art. 6 I GG) oder der Eigentumsfreiheit (Art. 14 I GG) ist der dem beschreibenden Element zuzuordnende Lebensbereich bereits rechtlich ausgestaltet, sodass der Grundrechtsgebrauch erst durch die Rechtsordnung ermöglicht wird.381 Normgeprägte Grundrechte setzen die, meist privatrechtliche – und damit einfachrechtliche382 – Regelung des Schutzbereichs voraus und übertragen der Gesetzgebung die Kompetenz zur definitorischen Ausgestaltung. In einem solchen Fall nimmt folglich gerade auch das Privatrecht eine den Schutzbereich gegebenenfalls beschränkende Gestaltung vor. Darüber hinaus stellt die Rundfunkfreiheit aus Art. 5 I 2 Var. 2 GG ein Beispiel für ein normgeprägtes Grundrecht dar, bei dem der subjektive Gewährleistungsgehalt hinter die objektiv-rechtlichen Aspekte zurücktritt,383 da es sich hierbei laut Bundesverfassungsgericht um eine der Meinungsfreiheit „dienende Freiheit“384 handelt. Hier tritt die lenkende Wirkung der Schutzbereichsausgestaltung sichtbar zutage, da „notwendigerweise bestimmte rechtliche Bahnen dem Verhalten vorgegeben“385 werden, sodass freies oder beliebiges Verhalten nur in diesen Bahnen möglich ist.386 Die Macht, die den Subjekten durch Grundrechte mit normgeprägtem Schutzbereich vermittelt wird, kann folglich nur in dem von der Rechtsordnung vorgegebenen Rahmen ausgeübt werden. Entgegen Menkes Annahme beschränkt sie sich an dieser Stelle auf das von der Rechtsordnung Vorgesehene.387 Zwar handelt es sich auch bei normgeprägten Grundrechten – im Unterschied zu einem bloßen Reflex des objektiven Rechts – unzweifelhaft um eine Rechtsmacht im Sinne einer „echten“ Berechtigung des Subjekts. Dennoch ist der Gewährleistungsgehalt hier nicht losgelöst von rechtlichen Vorgaben und erstreckt sich – anders als Menke annimmt – insofern nicht auf „Neues“.388 Besondere Komplexität weist die verfassungsrechtliche Eigentumsdogmatik auf, da sich die gesetzgeberische Ausgestaltung des Grundrechtsinhalts in besonderer Weise aus dem Zusammenspiel von privat- wie öffentlich-rechtlichen Normen ergibt. 381
Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts. Eine verfassungsrechtliche Untersuchung zur Privatrechtswirkung des Grundgesetzes, S. 104. 382 Zu der Gefahr einer Geltung der Grundrechte nach Maßgabe des einfachen Rechts und den dogmatischen Bedenken, denen das Verhältnis zwischen ausgestaltender und eingreifender Rechtssetzung daher begegnet, siehe Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewand. Untersuchung zur normativen Ausgestaltung der Freiheitsrechte, S. 81 ff.; Kahl, in: Der Staat 2004, 167, Anm. 175, Fn. 46 m. w. N. 383 Grabenwarter, in: Maunz/Du¨ rig, Grundgesetz Kommentar, Art. 5 Abs. 1, Abs. 2, Rn. 763 ff. 384 BVerfG NJW 1992, 3285, 3285; zur Kritik hieran vgl. etwa Schröder, in: Juristische Arbeitsblätter 2016, 641, 643 f. 385 Böckenförde, in: Der Staat 2003, 165, 167 f.; so auch Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 241. 386 Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 241. 387 Anders jedoch Menke, Kritik der Rechte, S. 179. 388 Vgl. ebd., S. 177 ff.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
„Der Gesetzgeber steht bei der Erfüllung des ihm in Art. 14 I 2 GG erteilten Auftrags, Inhalt und Schranken des Eigentums zu bestimmen, vor der Aufgabe, das Sozialmodell zu verwirklichen, dessen normative Elemente sich einerseits aus der grundgesetzlichen Anerkennung des Privateigentums durch Art. 14 I 1 GG und andererseits aus dem Sozialgebot des Art. 14 II GG ergeben: Der Gebrauch des Eigentums soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“389
Im Einzelfall kann die gesetzgeberische Ausgestaltung zu einer weitgehenden Entleerung von Eigentumspositionen führen.390 Ungeachtet derartiger Extremfälle tariert der Gesetzgeber aber auch im Übrigen die gegenläufigen Positionen von einerseits Privatnützigkeit und andererseits Sozialbindung aus. Ergebnis dessen sind Reziprozitätsmomente innerhalb der Eigentumsposition.391 Den ausgestaltenden Gesetzgeber als einzigen Adressaten392 der Sozialbindungsdirektive trifft eine objektiv-rechtliche Verpflichtung, soziale Interessen zu berücksichtigen. In diesem Grundmodell einer Inhalts- und Schrankenbestimmung besteht das Ergebnis der rechtlichen Ausgleichs- und Kompensationsleistung gleichwohl nicht in der Etablierung subjektiver Rechte Dritter,393 welche Menke jedoch als einzige Reaktionslogik des Rechts vermutet. Für diejenigen Fälle, in denen es den Anschein hat, dass Art. 14 II GG einer Dritten eine eigenständige subjektive Berechtigung gewährt, soll zur Verdeutlichung der dem zugrundeliegenden Struktur exemplarisch das baurechtliche Rücksichtnahmegebot als Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Sozialbindung394 herangezogen werden. Über eine hieraus unter Umständen ableitbare Berechtigung einer Dritten wird anhand der Auslegung objektiv-rechtlicher Baurechtsnormen nach den Grundsätzen der Schutznormtheorie entschieden.395 Das sich auf diese Weise ergebende subjektiv-öffentliche Recht folgt weder im Hinblick auf die Durchsetzungsmöglichkeit noch auf den Anspruchsinhalt dem von Menke angenommenen Muster subjektiver Rechte. Strukturell vermittelt die Sozialbindung dem Rechtssubjekt gegebenenfalls lediglich eine Mobilisierungsmacht hinsichtlich bereits objektiv-rechtlich bestimmbarer Grenzen. An die Stelle des von Menke angenommenen Kompensationsmechanismus der fortwährenden Etablierung weiterer subjektiver Rechte tritt hier eine reziprozitätswahrende Austarierung, die mehr als nur die Grenze des Gleichheitsgebots im Blick 389
BVerfG NJW 1980, 985, 987. In Anlehnung an das antike klassische römische Recht, welches hier als das historische Vorbild des Eigentumskonzepts des BGB identifiziert wird: Althammer, in: Staudinger BGB. Sachenrecht. Einleitung zu § 903, Rn. 57 f. 391 Vgl. hierzu Schmidt, in: Archiv fu¨ r Rechts- und Sozialphilosophie 1971, 383, 392 f. 392 Vgl. zu der minoritären Ansicht, dass Art. 14 II GG außerdem noch den Eigentümer selbst adressiert Kreft, Öffentlich-rechtliche Ersatzleistungen. Eigentum, Enteignung, Entschädigung, S. 105 f. 393 Menke, Kritik der Rechte, S. 247 f. 394 Voßkuhle/Kaufhold, in: Juristische Schulung 2010, 497, 497. 395 Stollmann/Beaucamp, Öffentliches Baurecht, § 20, Rn. 11 ff. 390
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung
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hat und bei der eine uneingeschränkte Eigentumsposition von Vorneherein schon gar nicht zum Entstehen gebracht wird.396 Als normgeprägtes Grundrecht trägt das Eigentum insofern bereits durch die Ausgestaltung der zu gewährenden Rechtsposition den Ausgleich von Interessen in sich. bb) Sachgeprägte Grundrechte Demgegenüber stellt sich das Schutzgut eines sachgeprägten Grundrechts – wie zum Beispiel die Meinungsfreiheit aus Art. 5 I 1 GG – als in diesem Bereich unabhängig von der Rechtsordnung dar, weshalb es nicht auf einfachrechtlicher Ebene gestaltet zu werden braucht.397 Durch diese Unabhängigkeit könnte anzunehmen sein, dass hinsichtlich sachgeprägter Grundrechte eine in bestimmte Bahnen lenkende Wirkung auf Ebene des Schutzbereichs ausbleibt. Während die Vorgabe bestimmter Bahnen im Rahmen normgeprägter Grundrechte als Ausgestaltung des jeweiligen Gewährleistungsgehalts verstanden wird, wird in einer solchen Vorgabe im Rahmen sachgeprägter Grundrechte bereits ein Eingriff gesehen.398 Mangels der Notwendigkeit einer rechtlichen Bestimmung des Schutzbereichs ist das Schutzgut hierbei gewissermaßen eine feststehende Größe, weshalb dessen Modifikation nur als Eingriff in den Schutzbereich gewertet werden kann. Dem ist grundsätzlich zuzustimmen, da die sachgeprägten Grundrechte einen natürlich oder tatsächlich bestimmten Schutzbereich399 aufweisen, oder mit Menkes Worten das Natürliche legalisieren. Dennoch bleibt auch hierbei die grundrechtsdogmatische Notwendigkeit bestehen, die Eröffnung des sachlichen Schutzbereichs festzustellen. Wenn damit auch keine rechtliche Ausgestaltung des Inhalts einhergeht, so finden sich dennoch Elemente, die durch diese Konturierung vom Schutzbereich ausgeschlossen werden. 396
Vgl. zur rechtshistorischen Bestätigung der Komplexität des Eigentumsbegriffs und seiner Eingebundenheit in eine umfassende Begrenzungssystematik Schwab, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 2 E-G, Eigentum, S. 65 ff. Dabei bestehen Überlagerungen der privat- und öffentlich-rechtlichen Ausgestaltung. Auch hier kann eine Konturierung des Eigentumsbegriffs ausgemacht werden, durch die unabhängig von konfligierenden Rechten Dritter eine überindividuelle Maxime wie bspw. die der Rechtssicherheit bzw. des Verkehrsschutzes ursächlich für einen Totalverlust der Eigentumsposition werden kann, wie dies beim gutgläubigen Erwerb durch einen Nichtberechtigten nach § 932 I 1 BGB der Fall ist, vgl. hierzu auch Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen. Eine normative Rekonstruktion von Delikt, Eigentum und Vertrag, S. 246 ff. Zu der Annahme, dass die überindividuelle Maxime des Gemeinwohls hierbei lediglich funktional ausgerichtet ist, siehe ebenfalls Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen. Eine normative Rekonstruktion von Delikt, Eigentum und Vertrag, S. 69 f., 421 ff. u. 434 – dagegen: Hiebaum, Die Politik des Rechts. Eine Analyse juristischer Rationalita¨ t, 267 f., 296, der annimmt, dass das Gemeinwohl zumindest als „moralisch imprägniert“ verstanden werden muss. 397 Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts. Eine verfassungsrechtliche Untersuchung zur Privatrechtswirkung des Grundgesetzes, S. 185. 398 Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 241. 399 Böckenförde, in: Der Staat 2003, 165, 167.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
So wird angenommen, dass der Schutzbereich der Religions- und Weltanschauungsfreiheit aus Art. 4 I GG nur dann eröffnet ist, wenn plausibel dargelegt werden kann, dass das in Frage stehende Verhalten in einem engen Zusammenhang zu dem religiösen Auftrag steht und im Hinblick hierauf notwendig ist.400 Unter den Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 III S. 1 GG fällt Wissenschaft lediglich dann, wenn die Regeln wissenschaftlicher Redlichkeit eingehalten werden.401 Die Berufsfreiheit, Art. 12 I GG, erfasst Tätigkeiten nur dann, wenn diese auf bestimmte Dauer angelegt sind und zur Schaffung und Erhaltung der Lebensgrundlage dienen.402 Der Begriff „Beruf“ stellt somit eine „sachliche immanente Gewährleistungsschranke“403 des Art. 12 I GG dar. Des Weiteren ist zur Eröffnung des Schutzbereichs der Versammlungsfreiheit, Art. 8 I GG – neben Friedlichkeit und Waffenlosigkeit404 – eine Mindestteilnehmerinnenzahl zu beachten und anhand des Kriteriums der „inneren Verbundenheit“ eine Abgrenzung zu bloßen Ansammlungen zu vollziehen.405 Darüber hinaus verlangt das Bundesverfassungsgericht, dass die Zusammenkunft auf die „Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung“ gerichtet ist,406 um den Schutzbereich als eröffnet anzusehen. Reine „Spaß-Veranstaltungen“ werden vom Versammlungsbegriff nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts daher nicht erfasst, sodass sich der Schutz des Art. 8 I GG auf sie nicht erstreckt.407 Hinsichtlich des von Menke angesprochenen Beispiels der Meinungsfreiheit ist zu bemerken, dass unter „Meinung“ im Sinne des sachlichen Schutzbereichs des Art. 5 I 1 GG das Werturteil als eine „durch das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägte Äußerung“408 zu verstehen ist. Die Meinung im verfassungsrechtlichen Sinne ist somit durch eine subjektive Beziehung des Äußernden zum Inhalt seiner Aussage geprägt.409 Aus dem so definierten Schutzbereich des Art. 5 I 1 GG werden zum einen Formalbeleidigungen410 und zum anderen Tatsachenbehauptungen, die „zu der verfassungsrechtlich vorausgesetzten Meinungsbildung nichts beitragen können“411 ausgeschlossen. Tatsachenbehauptungen sind dabei – im Gegensatz zu Werturteilen – durch eine objektive Beziehung zwischen 400 Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 576 ff.; Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen der Einschränkbarkeit vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, S. 9. 401 Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 694. 402 Ebd., Rn. 901 ff. 403 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG Kommentar Bd. 1, Art. 1 Abs. 3, Rn. 273. 404 Stern, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht. Zweiter Band, 1, 8. 405 Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 771 ff.; Schneider, in: BeckOK Grundgesetz, Art. 8, Rn. 4 ff. 406 BVerfG NJW 2002, 1031, 1032; zur Kritik siehe Depenheuer, in: Maunz/Du¨ rig, Grundgesetz Kommentar, Art. 8, Rn. 50 ff. 407 BVerfG NJW 2001, 2459, 2460; siehe hierzu auch Kahl, in: Der Staat 2004, 167, 172 f. 408 BVerfG NJW 1983, 1415, 1415 f. 409 Grabenwarter, in: Maunz/Du¨ rig, Grundgesetz Kommentar, Art. 5 Abs. 1, Abs. 2, Rn. 47. 410 Ebd., Rn. 62; BVerfG NJW 1990, 1980, 1981. 411 BVerfG NJW 1994, 1779, 1779.
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Äußerung und Lebenswirklichkeit gekennzeichnet und damit hinsichtlich ihres Wahrheitsgehalts überprüfbar. Im Rahmen der Meinungsfreiheit sind Tatsachenbehauptungen daher nicht als solche, „sondern nur in ihrer dienenden Funktion für die Meinungsbildung“ geschützt.412 So ist die – erwiesenermaßen unwahre – reine Tatsachenbehauptung, dass es im sogenannten Dritten Reich keine Judenverfolgung gegeben habe, nicht vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst.413 Das Bundesverfassungsgericht bewertet unrichtige Informationen insofern als nicht „schützenswertes Gut“414. Überdies lässt die Benetton-Entscheidung aus dem Jahr 2000 die Motive der Grundrechtsträgerin als relevant für die Frage nach der Schutzbereichseröffnung erscheinen. So kann dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Andeutung entnommen werden, dass kommerzielle Werbung dann nicht in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit fallen soll, wenn die einzige Intention des Werbenden darin liegt, „sich ins Gespräch zu bringen“, ohne einen Beitrag zur Meinungsbildung zu leisten.415 Die mannigfaltige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in der die Ausgestaltung von Schutzbereichen sowohl anhand individueller als auch anhand überindividueller Kriterien stetig vorangetrieben wird, zeigt, dass grundrechtliche Schutzbereiche nicht in dem Sinne als positiviert anzusehen sind, als dass sie keiner weiteren Modifizierung zugänglich wären. Außerdem offenbaren die genannten Beispiele, dass nicht nur normgeprägte Grundrechte bestimmte Bahnen vorgeben, sondern auch im Hinblick auf sachgeprägte Grundrechte bestimmte Gestaltungen des Eigenwillens von vornherein aus dem sachlichen Schutzbereich und damit auch aus dem subjektiv-rechtlichen Gewährleistungsgehalt ausgeklammert werden. Die auf diese Weise exkludierten Sachverhalte sind mangels Schutzbereichseröffnung außerdem von dem Erfordernis der staatlichen Rechtfertigung, welches für Freiheitsbeschränkungen grundsätzlich besteht, befreit. Hier deuten sich folglich erste Grenzen dessen an, wozu die Grundrechte das Subjekt ermächtigen.416 Diese lassen Zweifel an Menkes These von der unhinterfragten Positivierung des Eigenwillens und der damit verbundenen Logik, welcher die rechtlichen Konstruktionen folgen sollen, entstehen. Ein rein empiristischer Materialismus, der den Eigenwillen als alleiniges Kriterium voraussetzt, kann in der Ausgestaltung der verschiedenen Schutzbereiche nicht gesehen werden.417 Denn wie ließen sich die Ausklamme412
Jestaedt, in: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa Band IV. Grundrechte in Deutschland: Einzelgrundrechte I, § 102, Rn. 35. 413 BVerfG NJW, 19994, 1779, 1880; in die gleiche Richtung gehend auch BVerfG NJW 2018, 2858, 2859 f.; zu den Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen nicht geschützten unwahren Tatsachenbehauptungen und geschützten Werturteilen in Bezug auf das Leugnen des Holocaust siehe Grabenwarter, in: Maunz/Du¨ rig, Grundgesetz Kommentar, Art. 5 Abs. 1, Abs. 2, Rn. 69 f. 414 BVerfG NJW 1994, 1779, 1779. 415 BVerfG NJW 2001, 591, 591; so auch Kahl, in: Der Staat 2004, 167, 171. 416 In diese Richtung auch Wielsch, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 141, 156 f. 417 Menke, Kritik der Rechte, S. 169 f.
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rungen aus dem Schutzbereich erklären, wenn das Subjekt zu dem berechtigt würde, „was immer es will“418 ? Zumal diese Begrenzungen nicht zwangsläufig auf konfligierenden Rechten Dritter basieren. So wird beispielsweise der Ausschluss von Veranstaltungen, die nicht auf die „Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung“ gerichtet sind, aus dem Schutzbereich des Art. 8 I GG mit der „besondere[n] verfassungsrechtliche[n] Bedeutung [der Versammlungsfreiheit, Anm. I. K.] in der freiheitlichen demokratischen Ordnung des Grundgesetzes“ begründet.419 Die Antwort auf die Frage danach, was das Subjekt in der jeweiligen sozialen Sphäre benötigt, um seinen Eigenwillen herrschen zu lassen, ist folglich nicht das allein entscheidende Kriterium bei der Ausgestaltung der Schutzbereiche.420 cc) Systematischer Aussagegehalt Gleichzeitig bleibt hierbei jedoch fraglich, ob die aufgezeigten Schutzbereichsbeschränkungen im Rahmen von sachgeprägten Grundrechten eine generelle Aussage über die systematische Funktionsweise der Grundrechte erlauben. Die genannten Beispiele lassen erkennen, dass es sich bei denjenigen Lebensbereichen, die bei der Frage nach der Eröffnung des Schutzbereiches ausgeklammert werden, lediglich um geringfügige Anteile in Form besonderer Ausnahmen handelt. Der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts liegt indessen grundsätzlich ein extensives Verständnis der Schutzbereiche zugrunde.421 Eine pauschale Eingrenzung des Grundrechtsschutzes auf Ebene des Schutzbereiches soll vermieden werden, zumal auf dieser Ebene keinerlei Abwägung stattfindet.422 Von „quasi-tatbestandlichen Grundrechtsbegrenzung“423 soll daher generell abgesehen werden. Für die Meinungsfreiheit im Speziellen bedeutet dies, dass trotz der einzelnen Befunde und des bloß „derivativ-akzessorischen“424 Schutzes von Tatsachenbehauptungen, nicht bestritten werden kann, dass das Bundesverfassungsgericht auch den Schutzbereich des
418
Ebd., S. 206. BVerfG NJW 2001, 2459, 2460. 420 So aber sinngemäß Menke, Kritik der Rechte, S. 316. 421 Sachs, in: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 77, S. 63; vgl. exemplarisch für Art. 12 I GG BVerfG NJW 1973, 499, 500; siehe hierzu außerdem weiterführend die weite Tatbestandstheorie bei Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 290 ff. 422 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG Kommentar Bd. 1, Art. 1 Abs. 3, Rn. 273 f.; Sachs, in: Handbuch der Grundrechte Band II. Grundrechte in Deutschland: Allgemeine Lehren I, § 39, Rn. 35. 423 Ebd., § 39, Rn. 36. 424 Zu diesem Begriff und der damit verbundenen Kritik an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts siehe Jestaedt, in: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa Band IV. Grundrechte in Deutschland: Einzelgrundrechte I, § 102, Rn. 35 ff. 419
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Art. 5 I 1 GG weit auslegt,425 was nicht zuletzt auch in dem speziellen Demokratiebezug dieses Grundrechtsrechts begründet liegt. Formalbeleidigungen und Tatsachenbehauptungen, die nicht zur Meinungsbildung beitragen, stellen grundsätzlich die einzigen Ausklammerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit dar. Über diese hinaus spielt es für die Frage der Schutzbereichseröffnung keine Rolle, ob die jeweilige Äußerung „begründet oder grundlos, emotional oder rational ist, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt wird“426. Auch das normative Element des Schutzbereichs beschränkt – abgesehen von den genannten Ausnahmen – den Gewährleistungsgehalt demnach nicht auf qualitativ hochwertige Meinungsäußerungen. Zudem werden nicht nur Meinungen in Bezug auf den öffentlichen Diskurs geschützt, sondern die Meinungsfreiheit wird auch „um ihrer Privatnützigkeit willen gewährleistet“427. Unter Außerachtlassung der aufgezeigten Ausnahmen stimmt das grundrechtsdogmatische Verständnis des sachgeprägten Schutzbereiches der Meinungsfreiheit folglich mit Menkes Diagnose grundsätzlich überein. Er identifiziert die „Meinung“ mit dem normativ indifferenten Eigenwillen. Art. 5 I 1 GG beinhaltet ihm zufolge daher das Recht auf die eigene Meinung, unabhängig davon, ob diese „richtig oder falsch, weise oder töricht“ ist.428 Übereinstimmend mit Menkes Befund429 bedarf es auch aus grundrechtsdogmatischer Sicht folglich keiner moralischen, ethischen oder sonstigen Transformation der eigenen Meinung beziehungsweise des Eigenwillens, um für diese den Schutzbereich des Art. 5 I 1 GG zu eröffnen. Eine transformative Vermittlung des Natürlichen – der „Materie“ – findet hier folglich nicht statt. Dies kann zum einen als Beleg für Menkes Vermutung, das bürgerliche Recht verfehle einen dialektischen Materialismus, gewertet werden, worin jedoch zum anderen nicht ohne Weiteres eine Bestätigung seines Vorwurfs eines empiristischen Materialismus430 zu sehen ist. Diese Erkenntnis, dass eine Meinung keiner näheren Beurteilung unterzogen wird, muss jedoch vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass die Grundrechte dem Rechtssubjekt – wie zuvor erläutert – keinen Anspruch auf ein bestimmtes Verhalten einräumen, sondern im Ergebnis auf das Unterlassen ungerechtfertigter Eingriffe seitens des Staates gerichtet sind.431 Die Bedeutung des Umstandes, dass das Recht hinsichtlich des Inhalts der Freiheitsbetätigung keine Ansprüche moralischer Art 425 Schemmer, in: BeckOK Grundgesetz, Art. 5, Rn. 4; Grabenwarter, in: Maunz/Du¨ rig, Grundgesetz Kommentar, Art. 5 Abs. 1, Abs. 2, Rn. 55; Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 619. 426 BVerfG NJW 1972, 811, 813; BVerfG NJW 1971, 1555, 1556; vgl. auch Grimm, in: NJW 1995, 1697, 1698. 427 Schemmer, in: BeckOK Grundgesetz, Art. 5, Rn. 4. 428 Menke, Kritik der Rechte, S. 242 f.; hierzu auch Loick, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 325, 336 f. 429 Vgl. Menke, Kritik der Rechte, S. 168 ff. 430 Ebd., S. 169 f.; näher hierzu auf S. 260 ff. der vorliegenden Arbeit. 431 Vgl. Haack, Theorie des öffentlichen Rechts, S. 64 f.
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stellt und demnach auch keine Transformation anstrebt, wird durch den Hinweis auf den Unterlassungsanspruch gewissermaßen relativiert.432 Darüber hinaus ist zudem zu beachten, dass – selbst für den Fall, dass ein bestimmtes Verhalten vom Schutzbereich eines speziellen Grundrechts nicht erfasst wird – das Auffanggrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 I GG, welches grundsätzlich „jegliches menschliche […] Verhalten“ schützt,433 greift.434 Durch diese Interpretation der allgemeinen Handlungsfreiheit als „Generalfreiheitsrecht“ hat das Bundesverfassungsgericht spätestens seit dem Elfes-Urteil435 die Bedeutung der Prüfung der Eröffnung des Schutzbereiches relativiert, da der Schutzbereich von Art. 2 I GG letztlich prinzipiell immer eröffnet ist.436 Im Schutzbereichsverständnis des Bundesverfassungsgerichts spiegelt sich folglich die „Systementscheidung zugunsten der Freiheit“, die Menke diagnostiziert,437 wider, so dass auf dieser Ebene nur Ausnahmefälle, jedoch kein systematisches Gegenargument zu Menkes Darstellung gefunden werden kann. b) Rechtfertigungsebene Durch die beschriebene Möglichkeit des Rückgriffs auf Art. 2 I GG erschöpft sich die Bedeutung der Prüfung der Eröffnung des Schutzbereichs nun in erster Linie darin, die jeweils geltenden Schrankenbestimmungen identifizieren zu können.438 Das Zusammenspiel der zwei Ebenen Schutzbereich und Rechtfertigung und die Bedeutsamkeit der Schrankendogmatik für ein treffendes Verständnis dessen, wozu die Grundrechte das Rechtssubjekt ermächtigen, lassen sich exemplarisch anhand von Art. 2 I GG verdeutlichen: Wie beschrieben steht grundsätzlich jedwedes menschliches Verhalten unter dem Schutz der Norm. Anders als die durch spezielle Freiheitsrechte geschützten Verhaltensweisen wird dieses Verhalten folglich nicht als „objektiv wertvoll“ qualifiziert,439 aber dennoch unter den grundrechtlichen Schutz gestellt. Aufgrund dieser ausgesprochen weiten Schutzbereichsbestimmung wurde teilweise die Exklusion strafrechtlich bewehrten Verhaltens oder zumindest
432 In diese Richtung auch Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts. Europäische Impulse für eine Revision der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht, S. 151. 433 Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 403 ff. 434 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG Kommentar Bd. 1, Art. 1 Abs. 3, Rn. 264. 435 BVerfGE 6, 32 ff. 436 Heun, in: Handbuch der Grundrechte Band II. Grundrechte in Deutschland: Allgemeine Lehren I, § 34, Rn. 33. 437 Menke, Kritik der Rechte, S. 316. 438 Heun, in: Handbuch der Grundrechte Band II. Grundrechte in Deutschland: Allgemeine Lehren I, § 34, Rn. 33. 439 Hohnerlein, in: Der Staat 2017, 227, 247.
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ein allgemeiner „Friedlichkeitsvorbehalt“ gefordert.440 Ein solches Korrektiv wird indes mehrheitlich abgelehnt, was zum einen mit allgemeinen grundrechtsdogmatischen Erwägungen wie der Gefahr eines lückenhaften Grundrechtsschutzes, zum anderen jedoch damit begründet wird, dass eine solche Einschränkung auf Tatbestandsebene nicht erforderlich sei.441 Die fehlende Erforderlichkeit ergibt sich daraus, dass beispielsweise der Schutz strafbewehrten Verhaltens ohnehin auf Ebene der Rechtfertigung ausscheidet. Ein möglicher Ausschluss auf Tatbestandsebene ist daher auf praktischer Ebene irrelevant.442 Einer drohenden Ausuferung des wertneutralen443 Schutzbereichs von Art. 2 I GG wird stattdessen mit einer weiten Schrankenregelung begegnet.444 Es zeigt sich, dass selbst ein Verhalten, welches an und für sich nicht vor staatlichen Eingriffen zu schützen ist, vom Schutzbereich eines Grundrechts erfasst werden kann, weil ein widerspruchsfreies Ergebnis ebenso gut oder gar besser auf der Rechtfertigungsebene erlangt werden kann. Das Beispiel macht deutlich, wie bedeutsam die Ebene der Rechtfertigung für die Frage ist, welchen Schutz ein Grundrecht dem Rechtssubjekt letztlich tatsächlich gewährt. Allein die Tatsache, dass das betreffende Verhalten vom Schutzbereich eines Grundrechts erfasst ist, berechtigt das Subjekt noch nicht zur Abwehr eines staatlichen Eingriffs. Mit Menkes Annahme der Legalisierung des Natürlichen, der wie gezeigt hinsichtlich der Schutzbereichsausgestaltung grundsätzlich zuzustimmen ist, ist folglich die Funktionsweise der subjektiven Grundrechte nicht umfassend beschrieben. Neben der Systementscheidung zugunsten der Freiheit, die sich zuvörderst auf Ebene des Schutzbereichs manifestiert, bedarf es deshalb ebenso der Berücksichtigung der damit untrennbar verbundenen verfassungsrechtlichen Schrankendogmatik, um die Wirkungsweise der Grundrechte zutreffend darzustellen.445 Die isolierte Betrachtung eines bestehenden Rechts unter Außerachtlassung seiner Einschränkbarkeit kann insoweit Annahmen über die dogmatisch geformte Rechtsrealität verfälschen. Die Einschränkbarkeit der Grundrechte thematisiert Menke lediglich mittelbar unter dem Aspekt der neuartigen Machtverteilung aufgrund der Rechtfertigungsbedürftigkeit von Grundrechtseingriffen. Mit Schlink stellt Menke zutreffend fest, dass der Grundrechtsgebrauch des Subjekts gegenüber dem Staat nicht gerechtfertigt zu werden braucht,446 während staatliches Handeln, das in Grundrechte eingreift, 440 Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 403; Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 81, IV 4, S. 537 ff. 441 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 2, Rn. 16; Schröder, in: Juristische Arbeitsblätter 2016, 641, 646. 442 Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 403. 443 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 2, Rn. 16. 444 Schröder, in: Juristische Arbeitsblätter 2016, 641, 647. 445 So auch Kokott, in: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa Band I. Entwicklung und Grundlagen, § 22, Rn. 1. 446 Menke, Kritik der Rechte, S. 238 f.
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grundsätzlich einer Rechtfertigung bedarf.447 Der Rechtfertigungszwang des Staates wird in dem Moment ausgelöst, in dem ein Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts festgestellt wird.448 Es handelt sich bei den Grundrechten daher um „Eingriffsabwehrrechte“, was gleichzeitig bedeutet, dass „keine totale Exklusion des Staates“ aus der Freiheitssphäre der Einzelnen stattfindet, sondern lediglich, dass die staatlichen Eingriffe zu rationalisieren sind.449 Mit der beschriebenen Tendenz zu einem weiten Schutzbereichsverständnis korreliert ein weit gefasstes Verständnis des Eingriffs, welches sich in der Erweiterung des klassischen Eingriffsbegriffs hin zum modernen Eingriffsbegriff niederschlägt.450 Der moderne Eingriffsbegriff verzichtet dabei auf die Attribute der Finalität, Unmittelbarkeit, Rechtsförmigkeit und den imperativen Gehalt, und bestimmt den Eingriff allgemeiner als staatliches Handeln, durch das der einzelnen Person ein Verhalten, welches in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich gemacht wird.451 Die Schwelle zum Erfordernis der Rechtfertigung staatlichen Handelns ist damit denkbar niedrig. Gleichzeitig ist jedoch – mit Ausnahme von Art. 1 I GG452 – der Eingriff in jedes bestehende Grundrecht grundsätzlich einer Rechtfertigung zugänglich. Menkes Annahme entsprechend,453 sind Schranken zur Koordinierung und Kompatibilisierung der individuellen Freiheitssphären unerlässlich.454 Allein dieser Umstand besitzt bereits eine eigenständige Aussage, die die „Verabsolutierung der Rechtsstellung des einzelnen“455, die das beschriebene Verteilungsprinzip suggeriert, zu relativieren scheint. Während dieses auch schon von Carl Schmitt beschriebene Verteilungsprinzip,456 unbestritten ist, ist die eigentlich interessante Frage an dieser Stelle jedoch, wodurch der staatliche Grundrechtseingriff gerechtfertigt werden kann. Um jene durch die Grundrechte vermittelte individuelle 447 Vgl. auch Sachs, in: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 77, S. 66; Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 44. 448 Bethge, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 1998, 7, 37. 449 Gostomzyk, in: Juristische Schulung 2004, 949, 949. 450 Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 257 ff.; Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen der Einschränkbarkeit vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, S. 147 f. 451 Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 261; Heun, in: Handbuch der Grundrechte Band II. Grundrechte in Deutschland: Allgemeine Lehren I, § 34, Rn. 34. 452 Herdegen, in: Maunz/Du¨ rig, Grundgesetz Kommentar, Art. 1, Abs. 1, Rn. 73; Heun, in: Handbuch der Grundrechte Band II. Grundrechte in Deutschland: Allgemeine Lehren I, § 34, Rn. 35. 453 Menke, Kritik der Rechte, S. 264. 454 Heun, in: Handbuch der Grundrechte Band II. Grundrechte in Deutschland: Allgemeine Lehren I, § 34, Rn. 35. 455 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz. Zugleich ein Beitrag zum institutionellen Verständnis der Grundrechte und zur Lehre vom Gesetzesvorbehalt, S. 46. 456 Schmitt, Verfassungslehre, S. 126.
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Rechtsstellung konkret beurteilen zu können, müssen die Rechtfertigungstatbestände daher selbst in den Blick genommen werden. Erst die Betrachtung der legitimen Gründe für die Rechtfertigung kann Aufschluss über die in den Grundrechten zur Anwendung gelangende Logik geben. aa) „Schranken“ In Menkes Konzeption stellt die einzelne Person und ihr Eigenwille den Ausgangspunkt jeglichen legitimen staatlichen Handelns dar. Diese Individualisierungslogik macht es notwendig, konfligierende subjektive Rechte Dritter als einzige mit der Rechtsordnung in Einklang stehende Schranke eines subjektiven (Grund-) Rechts anzuerkennen. Um seiner eigenen Logik zu entsprechen, ist das Recht an eine Legitimationskette gebunden, die stets und unbedingt bei dem durch die Form des subjektiven Rechts positivierten Eigenwillen des Subjekts endet.457 Dieses Verständnis gilt es nun anhand der grundrechtlichen Schrankendogmatik zu überprüfen. Ein staatlicher Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts kann entweder aufgrund einer verfassungsmittelbaren Schranke, einer verfassungsunmittelbaren Schranke oder bei vorbehaltlos garantierten Grundrechten aufgrund verfassungsimmanenter Schranken gerechtfertigt werden.458 Dem Grundgesetz liegt in diesem Sinne ein „Zwar-aber-Modell“459 zugrunde. (1) Systematik Verfassungsmittelbare Schranken enthalten eine Ermächtigung der Gesetzgebung zur Einschränkung eines Grundrechts.460 Sie stellen sich als Gesetzesvorbehalte dar, die in einfacher oder qualifizierter Form auftreten. Der einfache Gesetzesvorbehalt stellt an Inhalt oder Ziel des einschränkenden Gesetzes keine weiteren Anforderungen und enthält damit keine besonderen Vorgaben für die Gesetzgebung. Der qualifizierte Gesetzesvorbehalt unterscheidet sich hiervon dadurch, dass der Gesetzgebung Vorgaben hinsichtlich der zu verfolgenden Ziele und Zwecke des einschränkenden Gesetzes gemacht werden.461 Einfache Gesetzesvorbehalte finden sich beispielsweise in Art. 2 I GG462, Art. 8 II GG und Art. 14 I S. 2 GG. Die sogenannte 457
Vgl. Menke, Kritik der Rechte, S. 31, 58, 164 ff., 202 ff., 206, 249 ff., 257 f., 372 u. passim. 458 Heun, in: Handbuch der Grundrechte Band II. Grundrechte in Deutschland: Allgemeine Lehren I, § 34, Rn. 35; siehe hierzu auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 258 ff. 459 Stern, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht. Zweiter Band, 1, 11. 460 Ebd., 1, 12. 461 Kokott, in: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa Band I. Entwicklung und Grundlagen, § 22, Rn. 31. 462 So zumindest unter Zugrundelegung des weiten Verständnisses der „verfassungsmäßigen Ordnung“ des BVerfG; weiterführend Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 2, Abs. 1, Rn. 39.
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Schrankentrias des Art. 2 I GG bestimmt die verfassungsmäßige Ordnung, die Rechte anderer und das Sittengesetz als Schranke der allgemeinen Handlungsfreiheit und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Mit Blick auf Menkes Rekonstruktion ist hier insbesondere hervorzuheben, dass das Sittengesetz nach einhelliger Meinung keine eigenständige Bedeutung mehr aufweist.463 Das einstige Verständnis im Sinne einer empirischen, gesellschaftlichen Sittlichkeitsvorstellung, die beispielsweise die Strafvorschrift gegen Homosexualität, ehemals § 175 StGB, begründen konnte,464 wurde abgelegt, was jedoch nicht bedeutet, dass Sittlichkeitsvorstellungen jedwede Bedeutung verloren hätten. Nach einhelliger Meinung geht das in Art. 2 I GG genannte „Sittengesetz“ nunmehr in der ebenso genannten „verfassungsmäßigen Ordnung“ auf und hat deshalb keinen eigenständigen Anwendungsbereich mehr.465 Mit dem Verweis auf das in der verfassungsmäßigen Ordnung beinhaltete Sittengesetz wird unter anderem auf die §§ 138, 242, 826 BGB Bezug genommen.466 Sittliche Vorstellungen können eine grundrechtliche Freiheitsbeschränkung demnach zwar nicht unmittelbar, sehr wohl jedoch in positivierter Form rechtfertigen.467 Die oben dargelegten Befunde – wie beispielsweise die Beschränkung des subjektiven Rechts der Privatautonomie aufgrund überindividueller Sittlichkeitsvorstellungen im Wege des § 138 BGB – behalten insofern ihre Aussagekraft. Mit einem qualifizierten Gesetzesvorbehalt sind hingegen etwa die Meinungsfreiheit aus Art. 5 I GG, das Grundrecht auf die Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 I GG, oder die Eigentumsfreiheit, Art. 14 I 1 GG, versehen. Der in Art. 14 III S. 1 – 3 GG enthaltene qualifizierte Gesetzesvorbehalt knüpft beispielsweise die Möglichkeit der Rechtfertigung einer Enteignung an das Wohl der Allgemeinheit.468 Obwohl das Gemeinwohl in der Grundrechtsbegrenzungsdogmatik eine besondere Rolle spielt – worauf im Folgenden noch näher einzugehen sein wird – stellt eine ausdrückliche Erwähnung in den grundrechtlichen Schrankenbestimmungen eine Ausnahme dar.469 Unter verfassungsunmittelbaren Schranken sind Verfassungsnormen zu verstehen, die ein Grundrecht unmittelbar, das heißt ohne einen weiteren Akt der Staats-
463
Ebd., Rn. 46; Lang, in: BeckOK Grundgesetz, Art. 2, Rn. 24; Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 432. 464 BVerfG NJW 1957, 865, 867. 465 Lang, in: BeckOK Grundgesetz, Art. 2, Rn. 24; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 2, Rn. 46; Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 432. 466 Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 426 ff. 467 Hohnerlein, in: Der Staat 2017, 227, 248. 468 Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 1032 ff. 469 Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 79, IV 4, S. 344.
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gewalt, beschränken.470 Hierdurch räumt die Verfassung den jeweils genannten Rechtsgütern ausdrücklich Vorrang vor der individuellen Freiheitsausübung ein. Dies betrifft beispielsweise Art. 5 II GG, der dem Ehrschutz an dieser Stelle als Verfassungsrechtsgut471 prinzipiell den Vorrang gewährt. Grundrechte wie die Religions-, Kunst oder Wissenschaftsfreiheit unterliegen keinem Gesetzesvorbehalt und werden demnach als „vorbehaltlos gewährleistet“ beschrieben.472 Nach einhelliger Meinung ist dies jedoch nicht so zu verstehen, dass – mit Ausnahme von Art. 1 I GG – vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte keiner Einschränkung zugänglich wären.473 Mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts ist festzustellen, dass vorbehaltlose Grundrechte „zwar vorbehaltlos, aber nicht schrankenlos gewährleistet“474 werden. Die hier einschlägigen Schranken stellen zum einen die Grundrechte Dritter und zum anderen mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter dar.475 Zusammenfassend kann hier zunächst festgehalten werden, dass für die Beschränkung eines Grundrechts mit einfachem Gesetzesvorbehalt das Vorliegen eines Gesetzes im technischen Sinne476 ausreichend ist. An die gesetzliche Grundrechtsbeschränkung werden auf der Ebene der Schranken zunächst keine weiteren Voraussetzungen gestellt. Im Falle des qualifizierten Gesetzesvorbehalts muss außerdem den jeweils spezifischen Anforderungen, die beispielsweise als Zwecksetzung oder aber als formelle oder materielle Bedingung ausgestaltet sein können,477 Rechnung getragen werden. Für die Einschränkung eines vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts muss ein entgegenstehendes Rechtsgut von Verfassungsrang gefunden werden. Im Hinblick auf das Ziel der vorliegenden Arbeit, die grundrechtliche Schrankendogmatik auf struktureller Ebene zu untersuchen, um eine Kontrastierung mit Menkes Rekonstruktion zu ermöglichen, soll davon abgesehen werden, alle Beschränkungsmöglichkeiten im Detail darzustellen. Sinnvoll erscheint es vielmehr, sich vor allem denjenigen Grundrechten zuzuwenden, die das höchste Schutzniveau
470 Merten, in: Handbuch der Grundrechte Band III. Grundrechte in Deutschland: Allgemeine Lehren II, § 60, Rn. 76. 471 Schemmer, in: BeckOK Grundgesetz, Art. 5, Rn. 111; Stern, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht. Zweiter Band, 1, 13. 472 Zu denkbaren Gründen für die vorbehaltlose Gewährung einiger bestimmter Grundrechte siehe Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen der Einschränkbarkeit vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, S. 61 ff. 473 Michael/Morlok, Grundrechte, § 21, Rn. 541 u. 711 m. w. N. 474 BVerfG GRUR 2016, 690, 693. 475 Kokott, in: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa Band I. Entwicklung und Grundlagen, § 22, Rn. 43 ff.; Michael/Morlok, Grundrechte, § 21, Rn. 711. 476 Näher zu den hier zu treffenden Differenzierungen siehe Sachs, in: Sachs GG Kommentar, Vor Art. 1, Rn. 106 ff. 477 Ebd., Rn. 116.
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genießen, namentlich den vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten.478 Eine auf diese Kategorie bezogene systematische Aussage über die Einschränkbarkeit trifft letztlich auch auf Grundrechte mit einem geringeren Schutzniveau zu, zumal die Anwendbarkeit der Schranke des kollidierenden Verfassungsrechts nicht auf vorbehaltlos garantierte Grundrechte begrenzt ist.479 Mithin stellt das im Folgenden aufzuzeigende begrenzungstaugliche kollidierende Verfassungsrecht gleichsam eine Grenze für Grundrechte dar, die mit einem Gesetzesvorbehalt ausgestattet sind.480 (2) Kollidierendes Verfassungsrecht Das kollidierende Verfassungsrecht, welches vorbehaltlose Grundrechte des Rechtssubjekts einzuschränken vermag, lässt sich skizzenhaft in zwei Gruppen einteilen: die Grundrechte Dritter und die sonstigen, mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtsgüter.481 Im Falle einer Kollision, bei der sich jeweils Grundrechte im Sinne von subjektiven Rechtspositionen gegenüberstehen, spricht man von einer „echten Grundrechtskollision“, während die Kollision eines Grundrechts mit „andere[n] mit Verfassungsrang ausgestattete[n] Rechtswerte[n]“ als „unechte Grundrechtskollision“ bezeichnet wird.482 Mit der Konstellation echter Grundrechtskollisionen steht Menkes Rekonstruktion mit der Begrenzung konfligierender subjektiver Rechte am Maßstab der Gleichheit483 in Einklang, eine Gegenüberstellung seiner These mit der Beschränkung von Grundrechten aufgrund der Grundrechte Dritter erübrigt sich auf dieser Ebene der Untersuchung daher. Von größerem Interesse ist vorliegend die zweite Gruppe der übrigen Rechtsgüter von Verfassungsrang, da in der von Menke zugrunde gelegten „Rechtslogik“484 eine dementsprechende Begrenzung subjektiver Rechte ausscheidet. Getragen werden die Grundrechtsschranken, die nicht in den Grundrechten Dritter bestehen, von dem Zweck, Gemeinwohlbelange gegenüber partikularen Einzelinteressen zur Geltung zu bringen.485 Die grundrechtliche Schrankendogmatik ist von dem Spannungsfeld zwischen individuellen und überindividuellen Rechtspositionen geprägt.486 478
Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 278. Merten, in: Handbuch der Grundrechte Band III. Grundrechte in Deutschland: Allgemeine Lehren II, § 60, Rn. 90. 480 Böckenförde, in: Der Staat 2003, 165, 170; differenzierend Herdegen, in: Maunz/Du¨ rig, Grundgesetz Kommentar, Art. 1, Abs. 1, Rn. 44; Michael/Morlok, Grundrechte,§ 23, Rn. 713 f.; a. A.: Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 347 ff. 481 Als ideengeschichtlich und historisch gewachsene generelle Motivationen für die Grundrechtsbegrenzungen bestimmt Sachs den „Schutz der Rechte anderer“, „den Bestand und die Funktionsfähigkeit des Staates“ und „die Erfordernisse des Gemeinwohls im übrigen“, vgl. Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 79, IV 2, S. 302. 482 Sachs, in: ebd., § 82 IV 7, S. 671. 483 Vgl. u. a. Menke, Kritik der Rechte, S. 258. 484 Menke, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2018, 143, 147. 485 Sachs, in: Sachs GG Kommentar, Vor Art. 1, Rn. 97. 479
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Zu den Gemeinwohlbelangen zählen einerseits die Rechte Dritter, andererseits jedoch auch die Funktionsfähigkeit des Staates und der Schutz kollektiver Belange,487 wie auch die Interessen künftiger Generationen, vgl. Art. 20a GG.488 Neben ausdrücklich benannten überindividuellen Rechtsgütern kommen folglich nach der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts auch noch andere Rechtsgüter von Verfassungsrang als Grundrechtsschranken in Betracht.489 Dies wirft die Frage nach der Konkretisierung und Begründung dieser Schranken auf. Anders als die im Wege der Verfassung durch einfachen oder qualifizierten Gesetzesvorbehalt als Schranken bestimmten Individual- oder Gemeinschaftsgüter, verlangt die Einschränkung vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte eine gesonderte Begründung der Durchsetzungswürdigkeit des entgegenstehenden Rechtsgutes.490 Klarheit besteht diesbezüglich lediglich hinsichtlich der Ablehnung einerseits der Übertragung der Schrankentrias aus Art. 2 I GG auf vorbehaltlose Grundrechte491 und andererseits hinsichtlich der früher teilweise vertretenen Annahme einer immanenten Grundrechtsbegrenzung492 aufgrund nicht näher bezeichneter „höherrangiger Gemeinschaftsgüter“.493 Eine solche pauschale Bezugnahme auf weder explizit noch implizit genannte Rechtsgüter der Gemeinschaft unterliegt wegen ihrer Konturlosigkeit weitreichenden verfassungsrechtlichen Bedenken, weshalb auch das Bundesverwaltungsgericht diese Rechtsprechung letztlich aufgab.494 Erforderlich ist demgegenüber vielmehr der Rückbezug auf „konkrete normative Aussagen“495 des Grundgesetzes. Einschränkungen vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte lassen sich laut Bundesverfassungsgericht – hier am Beispiel der Kunstfreiheit – „nicht formelhaft mit allgemeinen Zielen wie etwa dem ,Schutz der Verfassung‘ oder der ,Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege‘ rechtfertigen […]; vielmehr müssen anhand einzelner Grundgesetzbestimmungen diejenigen verfassungsrechtlich geschützten Güter konkret herausgearbeitet werden, die bei realistischer Einschätzung 486
Stern, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht. Zweiter Band, 1, 11. Ebd., 1, 11. 488 Sachs, in: Sachs GG Kommentar, Vor Art. 1, Rn. 97. 489 BVerfG NJW 1985, 261, 262; BVerfG NJW 1991, 1471, 1471; BVerfG GRUR 2016, 690, 693, st. Rspr. 490 Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen der Einschränkbarkeit vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, S. 57. 491 Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 337 ff.; BVerfG NJW 1971, 1645, 1646; BVerfG NJW 1972, 327, 329; Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen der Einschränkbarkeit vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, S. 88 ff. 492 BVerwG NJW 1955, 1534, 1535. 493 Müller, Die Positivität der Grundrechte. Fragen einer praktischen Grundrechtsdogmatik, S. 13 f.; Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 81, IV 4, S. 531 ff. 494 Vgl. zur Abkehr von dieser Rechtsprechung exemplarisch BVerwG NJW 1976, 490, 491, vgl. hierzu außerdem Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2: Allgemeine Lehren der Grundrechte,§ 84, IV 4, S. 663. 495 Sachs, in: Sachs GG Kommentar, Vor Art. 1, Rn. 121. 487
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
der Tatumstände mit der Wahrnehmung des Rechts aus Art. 5 III 1 GG kollidieren […].“496 Verhältnismäßig wenig Begründungsaufwand muss hierbei betrieben werden, wenn es sich um ausdrücklich in der Verfassung genannte Rechtsgüter handelt. So ist etwa der Sonn- und Feiertagsschutz in Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV geregelt und stellt eine verfassungsimmanente Schranke dar.497 Hierdurch können dem Bundesverfassungsgericht zufolge beispielsweise Grundrechtseingriffe in Art. 4 I, II und Art. 5 III 1 GG, die sich aus dem besonderen Stilleschutz des Karfreitags ergeben, gerechtfertigt werden.498 In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts finden sich jedoch über solche explizit genannten Verfassungsgüter hinaus eine Vielzahl von Rechtsgütern, die unter Anknüpfung an besagte „normative Aussagen“ des Grundgesetzes499 neben den Grundrechten Dritter für begrenzungstauglich befunden wurden.500 Zwar ist die konkrete Entscheidung letztlich immer anhand der Umstände des Einzelfalles zu treffen, jedoch sollen im Folgenden einige Fallgruppen überblicksartig und ohne Anspruch auf Vollständigkeit dargestellt werden. (a) Gemeinwohlrechtsgüter Solche schutzwürdigen Rechtsgüter stellen zunächst „explizit oder implizit genannte Gemeinwohlbelange, ,Gemeinschaftswerte‘“501 dar, wozu beispielsweise die Sicherheit des Bundes oder eines Landes502 oder auch die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr zählt. In einem Beschluss vom 26. 05. 1970503 stellte das Bundesverfassungsgericht dem Recht auf Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 III 1 GG) des Beschwerdeführers „die Notwendigkeit eines ungestörten Dienstbetriebes der Bundeswehr“ und „das Bedürfnis nach Aufrechterhaltung der Disziplin“504 gegen496
BVerfG NJW 1990, 1982, 1983. Hufen, in: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa Band IV. Grundrechte in Deutschland: Einzelgrundrechte I, § 101, Rn. 114; weiterführend hierzu vgl. Korioth, in: Maunz/Du¨ rig, Grundgesetz Kommentar, WRV Art. 139, Rn. 20 ff. 498 BVerfG NVwZ, 2017, 461, 462. 499 Zur Kritik am BVerfG, diese selbst gesetzte Maßgabe der direkten Rückkopplung an das Grundgesetz teilweise nicht umzusetzen, vgl. Sachs, in: Sachs GG Kommentar, Vor Art. 1, Rn. 121; Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 81, IV 5, S. 552 ff. 500 Eine Auflistung solcher Rechtsgüter findet sich bei Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen der Einschränkbarkeit vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, S. 192 ff.; siehe außerdem die Aufzählung bei Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 82, IV 7, S. 671 f. 501 Stern, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht. Zweiter Band, 1, 16; näher hierzu vgl. Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 79, IV 4, S. 341 ff. 502 BVerfG NJW 2010, 833, 841; BVerfG NJW 2016, 1781, 1783; BVerfG NJW 2019, 827, 834 f. 503 BVerfG NJW 1970, 1729 ff. 504 BVerfG NJW 1970, 1729, 1730. 497
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung
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über. Den Verfassungsrang der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr begründete das Gericht dabei mit den Art. 12a Abs. 1, Art. 73 Nr. 1 und Art. 87a Abs. 1 Satz 1 GG, durch die die Wehrpflicht zu einer verfassungsrechtlichen Pflicht gemacht und „eine verfassungsrechtliche Grundentscheidung für die militärische Verteidigung getroffen“ wurde.505 Die Einschränkung von Art. 4 III 1 GG wird folglich durch eine Ermächtigungsnorm sowie eine Gesetzgebungs- und einer Verwaltungskompetenznorm gerechtfertigt,506 wodurch solchen Kompetenznormen eine „materielle Bedeutung“ zuerkannt wird.507 Eine ähnliche Ausrichtung liegt auch bestimmten Regelungen des Verfassungsorganisationsrechts zugrunde.508 Zwar nicht verallgemeinerungsfähig, jedoch mit einem Aussagegehalt für das betroffene Grundrecht, kann hier Art. 7 I GG – „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.“ – als Beispiel herangezogen werden. Die hierin enthaltene grundrechtsbegrenzende Wirkung bezieht sich in erster Linie auf das Elternrecht aus Art. 6 II GG und auf die Privatschulgarantie des Art. 7 IV GG.509 Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht in verschiedenen Konstellationen510 aus Stellung und Aufgabenprofil eines Verfassungsorgans eine Eingriffsermächtigung hergeleitet,511 wodurch wiederum eine verfassungsrechtliche Kompetenz- oder Aufgabenorm zur Einschränkung von Grundrechten herangezogen wird.512 Ein weiteres Beispiel für einen Gemeinwohlbelang, mit dem nach der Rechtsprechung eine Begrenzung von Grundrechten begründet werden kann, ist grundsätzlich der Schutz der Allgemeinheit.513 Dieser kann daher etwa Freiheitsentzug rechtfertigen. Hinzu tritt außerdem spezieller die funktionsfähige Rechtspflege.514 So hat das Bundesverfassungsgericht die Erfordernisse einer wirksamen Rechtspflege beispielsweise dem 505
BVerfG NJW 1970, 1729, 1730. Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen der Einschränkbarkeit vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, S. 193; zur Kritik hieran vgl. das Sondervotum der Richter Mahrenholz und Böckenförde, BVerfG NJW 1985, 1519, 1528. Zustimmend Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 81, V 4, S. 582 ff., der sich jedoch gegen eine „generelle Ablehnung grundrechtsbegrenzender Normgehalte“ von Kompetenznormen ausspricht. 507 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 82 IV 9, S. 684; weiterführend zur materiell-rechtlichen Bedeutung von Kompetenznormen siehe Becker, in: Die Öffentliche Verwaltung 2002, 397, 397 ff. 508 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 81, V 6, S. 593 f. 509 Ebd., § 81, V 6, S. 594 f. 510 Zur Warnung vor einer „Jugendreligion“ durch die Bundesregierung vgl. BVerfG NJW 1989, 3269, 3270; zur Informationstätigkeit der Bundesregierung in Bezug auf Glykolwein vgl. BVerfG NJW 2002, 2621, 2622 f. 511 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 81, V 6, S. 597 f. 512 Kritisch hierzu Germann, in: BeckOK Grundgesetz, Art. 4, Rn. 49.1; Epping, in: BeckOK Grundgesetz, Art. 65, Rn. 21 ff. 513 BVerfG NJW 2007, 1933, 1937. 514 Vgl. Stern, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht. Zweiter Band, 1, 16. 506
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I i. V. m. 1 I GG515 oder auch der Glaubensfreiheit aus Art. 4 I GG516 gegenübergestellt. Des Weiteren kann auch der Jugendschutz unter die derartigen Gemeinwohlbelange gefasst werden. So werden ebenfalls Art. 2 I i. V. m. 1 I GG und Art. 4 I GG517, sowie die Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 I GG)518 einer Abwägung mit Belangen des Jugendschutzes zugeführt. Ein anderes Beispiel dieser Kategorie von Gemeinwohlrechtsgütern bildet die „Volksgesundheit“519. In dieser Hinsicht wurde von der Rechtsprechung beispielsweise die Berufsfreiheit aus Art. 12 I GG mit dem Gemeinschaftsinteresse am Schutz vor gesundheitlicher Schädigung abgewogen.520 In diesem Kontext könnte in Erwägung gezogen werden, dass hinter dem Gedanken der Volksgesundheit letztlich wiederum die subjektiven Rechte anderer Subjekte stehen, sodass die Beschränkungskategorie der Rechte Dritter einschlägig wäre, statt einer überindividuellen Kategorie. Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass sich in der Abwägung nicht zwei subjektive Einzelinteressen gegenüberstehen. Vielmehr handelt es sich um die Kollision eines subjektiven Einzelrechts mit dem abstrakten, übergeordneten Interesse eines Kollektivs. Dieses ergibt sich zwar aus der Zusammenschau einer Vielzahl von Einzelinteressen, welche jedoch zu einem Ganzen synchronisiert werden, das über die Summe seiner Teile hinaus geht. Die zugrundeliegenden Einzelinteressen gehen in dem Gemeinschaftsgut der Volksgesundheit auf und verlieren hierdurch ihre Eigenständigkeit, sodass nicht mehr die einzelne Person, sondern der Staat hierüber verfügt. Hierin ist der entscheidende Unterschied des beschränkungstauglichen Rechtsguts der Volksgesundheit zu einer Beschränkung subjektiver Rechte durch die Rechte anderer zu sehen. Als letztes Beispiel der Kategorie begrenzungstauglicher Gemeinwohlrechtsgüter mit Verfassungsrang seien die „Erfordernisse einer sozialstaatlichen Ordnung“521 genannt. Diese gehen auf das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 I, 28 I 1 GG) zurück, welches letztlich – sofern man ein weit gefasstes Verständnis zugrunde legt – die Basis für jegliche auf die Ermöglichung des menschlichen Zusammenlebens abzielenden Grundrechtsbegrenzungen bildet.522 Durch das Sozialstaatsprinzip wird 515
Einen Tagebucheintrag betreffend: BVerfG NJW 1990, 563, 564. Die Ablehnung eines Zeugeneides aus religiösen Gründen betreffend: BVerfG NJW 1972, 1183, 1184. 517 Warnungen der Bundesregierung vor „Jugendsekten“ betreffend: BVerfG NJW 1989, 3269, 3270. 518 Den Versandhandel mit jugendgefährdenden Schriften betreffend: BVerfG NJW 1971, 1555, 1558. 519 BVerfG NJW 1961, 2011, 2013. 520 BVerfG NJW 1959, 187, 188; BVerfG NJW 1972, 2261, 2261; BVerfG NJW 2008, 2409, 2412. 521 Stern, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht. Zweiter Band, 1, 16. 522 Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 81, V 3, S. 577; Sachs, in: ebd., § 79, IV 3, S. 321 ff. 516
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung
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die Gesetzgebung ermächtigt, in legitimer Weise Freiheitsbeschränkungen zu vollziehen.523 Zumindest in einer konkretisierten Form524 kann das Sozialstaatsprinzip folglich als Schranke vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte fungieren.525 So stellt das Bundesverfassungsgericht dem Grundrecht aus Art. 4 I GG die Funktionsfähigkeit der Arbeitslosenversicherung als sozialstaatliches Gebot526 gegenüber oder setzt die Wissenschaftsfreiheit mit dem „überragend wichtigen Gemeinschaftsgut“ der Krankenversorgung – ebenfalls verankert im Sozialstaatsprinzip – in Relation.527 (b) Funktionsfähigkeit des Staates Als zweite Kategorie begrenzungstauglicher Rechtsgüter lässt sich in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts die „Sicherung der Existenz und der Funktionsfähigkeit des Staates“528 erkennen. Hierzu zählen beispielsweise die militärische Landesverteidigung, deren Verfassungsrang unter anderem auch mit Ermächtigungsnormen wie Art. 24 II GG begründet wird,529 und die Funktionsfähigkeit der Volksvertretungen.530 Da die Funktionsfähigkeit des Staates die grundsätzliche Voraussetzung für den Schutz individueller Rechte bildet, stellt sich bezüglich dieser Kategorie – ähnlich wie bereits hinsichtlich der Volksgesundheit thematisiert – die Frage, ob die Sicherung dieser Funktionsfähigkeit nicht letztlich wiederum auf Individualinteressen zurückzuführen ist. Die folgenden Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts ließen eine entsprechende Deutung zu: „Die Garantie des Art. 5 III 1 GG findet ihre Grenzen nicht nur in den Grundrechten Dritter. Vielmehr kann sie mit Verfassungsbestimmungen aller Art kollidieren (vgl. BVerfGE 30, 173 (193) = NJW 1971, 1645; Lerche, BayVBl 1974, 177 (180 f.)); denn ein geordnetes menschliches Zusammenleben setzt nicht nur die gegenseitige Rücksichtnahme der Bürger,
523
Huster/Rux, in: BeckOK Grundgesetz, Art. 20, Rn. 214. Zum Erfordernis der Konkretisierung siehe BVerfG NJW 1982, 1447, 1449. 525 Germann, in: BeckOK Grundgesetz, Art. 4, Rn. 53 ff.; Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz. Zugleich ein Beitrag zum institutionellen Verständnis der Grundrechte und zur Lehre vom Gesetzesvorbehalt, S. 47; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 308; Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen der Einschränkbarkeit vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, S. 196 f. 526 BVerfG NJW 1984, 912, 912; ähnlich auch BVerfG NJW 1971, 365, 366; BVerfG NJW 1960, 619, 621. 527 BVerfG NJW 1981, 1995, 1997. 528 Stern, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht. Zweiter Band, 1, 15. 529 BVerfG NJW 1988, 1651, 1655; NJW BVerfG 1978, 1245, 1246 f. 530 Stern, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht. Zweiter Band, 1, 16; Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 81, V 6, S. 598; BVerfGE 1, 208, 248; BVerfG NJW 1990, 3001, 3002. 524
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
sondern auch eine funktionierende staatliche Ordnung voraus, welche die Effektivität des Grundrechtsschutzes überhaupt erst sicherstellt.“531
Der zugrundliegende Gedanke könnte folglich so interpretiert werden, dass die Funktionsfähigkeit des Staates letztlich wiederum nur Mittel zu dem Zweck ist, die Rechte der Einzelnen schützen zu können. Hieraus ergäbe sich sodann die Zugehörigkeit zu der Begrenzungskategorie der Rechte Dritter, statt zu jener der überindividuellen Belange. Wenn auch ein solcher Legitimationszusammenhang grundsätzlich denkbar und gegeben sein kann, so erschöpft sich das Grundkonzept hierin dennoch nicht. Zu berücksichtigen ist immer auch der jeweils spezifische vom Staat verfolgte Zweck: „Dehnen sich die Staatsfunktionen über den klassischen Sicherheitszweck hinaus aus, muß dieser als umfassende Begründung für den Schutz der staatlichen Funktionsfähigkeit ausscheiden.“532 Zwar kann vor dem Hintergrund der naturrechtlichen Staatsvertragslehre letztlich jede idealtypische staatliche Bemühung um die eigene Funktionsfähigkeit als Schutz der Rechte seiner Bürgerinnen gedeutet werden. Die Hinwendung zu dieser höchsten Abstraktionsstufe beinhaltet jedoch die Gefahr, die Komplexität des staatlichen Handelns in Anbetracht der mannigfaltigen Staatsfunktionen in unterkomplexer Weise darzustellen. Die beschriebene Sichtweise führt folglich zu Verkürzungen, wodurch sie hinter der Gesamtdimension der Kategorie zurückbleibt und daher abzulehnen ist. Eine Grundrechtsbegrenzung aufbauend auf dem Rechtsgut der Funktionsfähigkeit des Staates geht so betrachtet folglich über den Schutz individueller Rechte Dritter hinaus. (c) Staatsziele Als dritte Kategorie533 können die Staatsziele des Art. 20a GG aufgefasst werden.534 Der Tier- und vor allem der Umweltschutz sind danach grundsätzlich dazu geeignet, Eingriffe in vorbehaltlos gewährleistete grundrechtliche Positionen zu legitimieren.535 Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Eingriffen in Religionsausübungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit aufgrund von Tierschutz stellte ursprünglich ein erhebliches Problem dar, welches mittlerweile jedoch durch die Einführung des Art. 20a GG entschärft wurde.536 Zwar wird die Qualität als verfassungsimmanente Schranke in Teilen des Schrifttums bezweifelt und eine Lösung auf der Schutzbereichsebene vorgeschlagen. So soll ein Kollisionsfall dadurch gelöst werden, dass sich die Verursacherin von „gravierenden Umweltverschmutzungen 531
BVerfG NJW 1990, 1982, 1983. Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 79, IV 3, S. 321 f. 533 Stern, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht. Zweiter Band, 1, 16. 534 Die Herleitung verfassungsimmanenter Schranken aus Strukturprinzipien wie dem Sozialstaats-, Rechtsstaats- oder Demokratieprinzip wird überwiegend abgelehnt, vgl. Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 81, V 3, S. 574 ff.; Michael/Morlok, Grundrechte, § 23, Rn. 727 ff. 535 Huster/Rux, in: BeckOK Grundgesetz, Art. 20a, Rn. 43. 536 Ebd., Rn. 43 f. 532
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung
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[…] materiellrechtlich nicht auf Freiheitsrechte […] berufen“537 kann, anstatt den Umweltschutz als Grundrechtsschranke zu verstehen.538 In Anbetracht der bereits oben behandelten Gefahren, die mit einer Begrenzung der Freiheitssphäre auf Tatbestandsebene einhergehen, ist jedoch diejenige Ansicht, die den Umweltschutz als verfassungsimmanente Schranke versteht,539 vorzugswürdig. Der Verfassungsrang der genannten Staatsziele geht bereits aus den entsprechenden Gesetzentwürfen540 hervor. Zwar wird durch die Formulierung des Gesetzestextes, die explizit auf den Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung hinweist,541 klargestellt, dass Art. 20a GG nicht a priori eine Vorrangstellung eingeräumt werden soll, sodass einer „Verabsolutierung des Umweltschutzes“542 vermieden wird. Dennoch nimmt die Rechtsprechung an, dass auch543 vorbehaltlose Grundrechte, wie die Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 III 1 GG544 oder die Gewissensfreiheit aus Art. 4 I GG545 mit dem Staatsziel des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen in Abwägung zu bringen sind. In Anbetracht der Einsicht, dass der Mensch dazu in der Lage ist, die eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören, geht die Rechtsordnung nicht weiterhin davon aus, „daß jedwedes Handeln regelmäßig legitim ist“,546 sodass der Umweltschutz als begrenzungstaugliches Rechtsgut von Verfassungsrang anerkannt wird.
537
Scholz, in: Maunz/Du¨ rig, Grundgesetz Kommentar, Art. 20a, Rn. 71. In dieser Richtung auch Huster/Rux, in: BeckOK Grundgesetz, Art. 20a, Rn. 46; weiterführend Schmidt, in: Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaats. Festschrift für Hans F. Zacher zum 70. Geburtstag, 947, 956 ff. 539 Murswiek, in: Sachs GG Kommentar, Art. 20a, Rn. 72; Peters/Hesselbarth/Peters, Umweltrecht, S. 28, Rn. 85; Schmidt, in: Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaats. Festschrift für Hans F. Zacher zum 70. Geburtstag, 947, 950; Kloepfer, in: Deutsches Verwaltungsblatt 1996, 73, 78 f.; ähnlich auch Schink, in: Die Öffentliche Verwaltung 1997, 221, 227 f. 540 Vgl. für den Umweltschutz BT-Drs. 12/6633, S. 6 f.; vgl. für den Tierschutz BT-Drs. 14/ 8860, S. 3. 541 Vgl. Art. 20a GG: „Der Staat schützt […] die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung […].“; näher hierzu siehe Scholz, in: Maunz/Du¨ rig, Grundgesetz Kommentar, Art. 20a, Rn. 51 f. 542 Ebd., Rn. 52. 543 Zur Rechtfertigung eines Eingriffs in ein Grundrecht mit Gesetzesvorbehalt – hier die Berufsfreiheit – aufgrund des Umweltschutzes siehe BVerfG NVwZ 2015, 288, 294; zur Anordnung eines Anschluss- und Benutzungszwanges aus Gründen des Umweltschutzes siehe BVerwG NVwZ 2006, 690, 692. 544 BVerfG NVwZ 2011, 94, 112. 545 BVerfG NVwZ 2007, 808, 810. 546 Schmidt, in: Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaats. Festschrift für Hans F. Zacher zum 70. Geburtstag, 947, 950. 538
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
(3) Zwischenergebnis Die Grundrechte stehen überwiegend „unter dem Vorbehalt einer gesetzlichen Einschränkung zu nicht näher definierten Zielen“, wodurch ein „nur-liberale[s] Freiheitsoptimierungsmodell“547 eine Zurückweisung erfährt. Die angeführten Konstellationen stellen Beispiele für diese nicht näher definierten Ziele dar und zeigen exemplarisch die Vielfalt derjenigen Rechtsgüter auf, die potentiell eine Einschränkung von Grundrechten herbeizuführen vermögen. In der Ausprägung als unechte Grundrechtskollisionen vereint sie alle, dass es sich nicht um konfligierende Rechtspositionen Dritter, sondern um Rechtsgüter überindividueller Art handelt. Zentral ist stets der Schutz von Rechtsgütern, welche jedoch nicht notwendigerweise individueller Natur sein müssen. Allein die hiermit grundsätzlich gegebene Möglichkeit der Beschränkung subjektiver Rechte aus einem anderen Grund als dem eines entgegenstehenden subjektiven Rechts widerspricht der von Menke beschriebenen Sachlogik des bürgerlichen Rechts und deutet darauf hin, dass über die Maxime der Berechtigung des Subjekts hinaus weitere Legitimationsquellen staatlichen Handelns zur Anwendung gelangen. Das Auffinden der jeweils einschlägigen Schranken lässt jedoch noch keinen endgültigen Befund über die Normativitätsstruktur der subjektiven Rechte und der in den Grundrechten zu Anwendung gelangenden Logik zu, da auf Ebene der sogenannten „Schranken-Schranken“ darüber hinaus gehende Anforderungen an die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs gestellt werden. Bis hierin sind lediglich die Weichen für die Anforderungen an die Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs gestellt. bb) „Schranken-Schranken“ Während die „Schranken“ die potentiellen Grenzen der Grundrechtsausübung darstellen, sind die „Schranken-Schranken“ auf die Begrenzung des staatlichen Eingriffs bezogen. Der Begriff „Schranken-Schranken“ verbildlicht, dass der durch die Grundrechtsschranken generell eingeräumten Möglichkeit der Grundrechtsbegrenzung selbst wiederum Schranken gesetzt sind.548 Neben speziellen Anforderungen, die beispielsweise durch qualifizierte Gesetzesvorbehalte vorgegeben werden, kennt die Grundrechtsdogmatik allgemeine Voraussetzungen, die als Schranken-Schranken für jede Art von Grundrechtseingriff gelten. Ausdrücklich in Art. 19 I und II GG genannt sind das Zitiergebot, das Einzelfallgesetzverbot und die Garantie des Wesensgehalts.549 Zum Kernstück einer jeden grundrechtsdogmatischen Prüfung hat sich zudem der zum Teil aus dem Rechtsstaatsprinzip abgelei-
547
Hohnerlein, in: Der Staat 2017, 227, 245. Michael/Morlok, Grundrechte, § 21, Rn. 543; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 2, Abs. 2 Nr. 2, Rn. 46. 549 Sachs, in: Sachs GG Kommentar, Vor Art. 1, Rn. 134. 548
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung
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tete550 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entwickelt. Laut Bundesverfassungsgericht ergibt sich dieser „aus dem Wesen der Grundrechte selbst“.551 Er gilt sowohl für echte als auch für unechte Grundrechtskollisionen.552 (1) Konfliktlösungsmodell der Grundrechtsdogmatik Für die Lösung beider Arten von Grundrechtskollisionen legt das Bundesverfassungsgericht zum einen die „Einheit der Verfassung“ und zum anderen die „Werteordnung des Grundgesetzes“553 zugrunde. Der Grundsatz der Einheit der Verfassung verweist darauf, dass Verfassungsbestimmungen nicht isoliert betrachtet werden können. Aus der Gesamtschau der Verfassung können sich Grundsätze ergeben, denen die einzelne Bestimmung untergeordnet wird.554 Die Zugrundelegung der Werteordnung des Grundgesetzes bietet zwar einen Anhaltspunkt für die Lösung von Konfliktfällen,555 allerdings ist ihr richtungsweisendes Potential insofern begrenzt, als dass aus ihr – mit Ausnahme der Stellung des Art. 1 I GG – mangels Rangordnung der Verfassungsrechtsgüter keine Vorrangrelation abgeleitet werden kann. Eine generelle Vorrangbestimmung der Verfassungsrechtsgüter stellt indes auch nicht das Ziel der Rechtsprechung dar, vielmehr wird stets die Entscheidung im Einzelfall angestrebt. Hierbei stellt die Abwägung der jeweiligen Rechtsgüter das Mittel dar, um das Ziel des Zustandes der praktischen Konkordanz herzustellen.556 Es soll demnach nicht das eine Rechtsgut auf Kosten des anderen realisiert werden, vielmehr sollen die auf beiden Seiten greifenden Grenzen die optimale Realisierung beider Rechtsgüter ermöglichen. Das heißt „verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter müssen in der Problemlösung einander so zugeordnet werden, daß jedes von ihnen Wirklichkeit gewinnt“,557 sodass eine „hinreichend rationale Lösung“558 erreicht werden kann. Das hiermit in aller Kürze skizzierte Kollisionslösungsmodell
550
Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG Kommentar Bd. 1, Art. 1 Abs. 3, Rn. 285; Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht. Staats- und Verwaltungsrecht, § 24, Rn. 33; weiterführend vgl. Schlink, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht. Zweiter Band, 445, 446 ff. 551 BVerfG NJW 1966, 243, 244. 552 Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 82, IV 7, S. 671. 553 Exemplarisch BVerfG NJW 2003, 2004, 2005; vgl. außerdem Sachs, in: Sachs GG Kommentar, Vor Art. 1, Rn. 123 m. w. N. 554 Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 82, IV 4, S. 665. 555 Sachs, in: ebd., § 82, IV 4, S. 665 f. 556 Sachs, in: Sachs GG Kommentar, Vor Art. 1, Rn. 123; zur Kritik an dieser Rechtsfigur siehe Böckenförde, in: NJW 1974, 1529, 1534. 557 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 72. 558 Müller, Die Positivität der Grundrechte. Fragen einer praktischen Grundrechtsdogmatik, S. 89.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
wird mit der folgenden Leitentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zusammengefasst: „Nur kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte sind mit Rücksicht auf die Einheit der Verfassung und die von ihr geschützte gesamte Wertordnung ausnahmsweise imstande, auch uneinschränkbare Grundrechte in einzelnen Beziehungen zu begrenzen. Dabei auftretende Konflikte lassen sich nur lösen, indem ermittelt wird, welche Verfassungsbestimmung für die konkret zu entscheidende Frage das höhere Gewicht hat (BVerfGE 2, 1 [72 f.] = NJW 52, 1407). Die schwächere Norm darf nur so weit zurückgedrängt werden, wie das logisch und systematisch zwingend erscheint; ihr sachlicher Grundwertgehalt muß in jedem Fall respektiert werden.“559
Das Verhältnismäßigkeitsprinzip gebietet zudem, dass „die Freiheit nur insoweit beschränkt werden darf, als es zum Schutz des öffentlichen Wohls oder zumindest gleichwertiger (auch privater) Rechtsgüter unerlässlich ist“.560 Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht der sehr differenzierten grundgesetzlichen Ausgestaltung des Verhältnisses von Einzel- und Gemeinwohlinteressen ist es nicht möglich, allgemeine Maximen zur Konfliktlösung zu bestimmen.561 Mangels fixierter Rangordnung der Verfassungsrechtsgüter des Grundgesetzes kann auch zwischen der Freiheit der Einzelnen und den verfassungsmäßigen Gemeinschaftsaufgaben kein Vorrangverhältnis in die eine oder in die andere Richtung bestimmt werden.562 Als „unzulässige Verallgemeinerung“563 wird vor allem auch eine Auslegungsvermutung im Sinne von in dubio pro libertate abgelehnt.564 Eine derartig einseitige Entscheidung, die im Zweifel die Umstände des Einzelfalls nicht in angemessener Weise in Rechnung stellt, wird dem grundrechtsdogmatischen Abwägungsgedanken nicht gerecht. Nachdem Menke bereits entgegengehalten werden konnte, dass zur Beschränkung subjektiver Rechte grundsätzlich auch überindividuelle Rechtsgüter herangezogen werden können, zeigt sich an dieser Stelle nun außerdem, dass in einer entsprechenden Abwägung der Freiheit des Subjekts nicht systematisch der Vorrang eingeräumt wird. Insofern kann Menkes Annahme, dass die rechtliche Ordnung „in letzter Instanz“ stets auf das Wollen der Einzelnen „rekurriert“,565 nicht zugestimmt 559
BVerfG NJW 1970, 1729, 1730. Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 2, Abs. 2 Nr. 2, Rn. 46. 561 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG Kommentar Bd. 1, Art. 1 Abs. 3, Rn. 272. 562 Bäumlin, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 1970, 3, 19. 563 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band I: Grundbegriffe und Grundlagen des Staatsrechts, Strukturprinzipien der Verfassung, § 4, III 8, S. 133 f. 564 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 72; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band I: Grundbegriffe und Grundlagen des Staatsrechts, Strukturprinzipien der Verfassung,§ 4, III 8, S. 133 f.; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 62 ff.; Schröder, in: Juristische Arbeitsblätter 2016, 641, 643. 565 Menke/Schmidt/Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 54, 63. 560
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung
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werden. Vielmehr wird hier „[d]ie Einheit der Verfassung […] an die Stelle der Freiheit als regulative Idee gesetzt“.566 Eine Begrenzung des sich im subjektiven Recht manifestierenden Eigenwillens, die nicht auf das „Rechtsprinzip der gleichen Geltung eines jeden“ zurückzuführen ist, ist daher kein „Rechtsverstoß“567, sondern vielmehr die Erfüllung jener Erfordernisse, die aus dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung resultieren. In dieses System müssen sich folglich auch die grundrechtlich gewährten Freiheiten des Subjekts einfügen, sodass die auf der Schutzbereichsebene nachgewiesene „Systementscheidung zugunsten der Freiheit“ auf der Rechtfertigungsebene dogmatisch nicht zwangsläufig eine Stütze erfährt. (2) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Dem „allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“568 liegt eine dreistufige Prüfung zugrunde, bei der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) der staatlichen Maßnahme überprüft werden.569 Diese Prüfung ist fest verbunden mit der Frage nach einem legitimen Zweck, da nur anhand eines solchen die Wahrung der genannten Anforderungen überprüft werden kann. „Legitim ist jeder vom Staat verfolgte Zweck, der nicht durch das Grundgesetz verboten ist.“570 Als solche Zwecke kommen in erster Linie die von der Verfassung vorgegebenen Gemeinschaftswerte in Betracht. Dabei handelt es sich zum einen um „,absolute‘, d. h. allgemein anerkannte und von der jeweiligen Politik des Gemeinwesens unabhängige Gemeinschaftswerte“ und zum anderen um solche Gemeinschaftswerte, die durch die Gesetzgebung selbst in den Rang wichtiger Gemeinschaftsinteressen erhoben werden.571 Parallel zu den zuvor angeführten überindividuellen Rechtsgütern mit Verfassungsrang werden beispielhaft „,Volksgesundheit‘, Gründe der Fürsorge, die Disziplinierung (im Wehr- und Disziplinararrest“572 angeführt. Abgesehen von den Grenzen, die die Kompetenzordnung und die Bindung an die Grundrechte der Gesetzgebung ziehen, ist diese frei darin zu entscheiden, welche Zwecke sie verfolgen will.573 Ein besonderes Gewicht kommt dabei außerdem den Verfassungsaufträgen, die die Gesetzgebung zu einem 566 Schultz, Spiegelungen von Strafrecht und Gesellschaft. Eine systemtheoretische Kritik der Sicherungsverwahrung, S. 287. 567 So aber Menke, Kritik der Rechte, S. 258. 568 BVerfG NVwZ-RR, 2002, 81, 86. 569 Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht. Staats- und Verwaltungsrecht, § 24, Rn. 34; Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 297. 570 Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 192. 571 BVerfG NJW 1961, 2011, 2012. 572 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 2, Abs. 2 Nr. 2, Rn. 46. 573 Weiterführend zu der Frage, ob neben den von der Gesetzgebung verfolgten Zwecken auch auf sonstige objektiv legitime Zwecke rekurriert werden darf vgl. Cremer, in: NVwZ 2004, 668, 668 ff.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
Tätigwerden verpflichten, zu.574 „Die Freiheit zur Zwecksetzung und -verfolgung dem Gesetzgeber zuerkennend leugnet das Abwägungsmodell nicht die Möglichkeit einer Versöhnung von Individuum und Gemeinschaft, von Bürger und Staat, beläßt diese Versöhnung aber als Recht und Aufgabe des politischen Systems.“575 Die Frage nach dem legitimen Zweck eines Grundrechtseingriffs bezieht insofern gegebenenfalls auch die politische Ebene mit ein. Die Vorgabe eines legitimen Zwecks schränkt die Gesetzgebung folglich weniger ein, als Verwaltung und Rechtsprechung, denen die zu verfolgenden Zwecke gesetzlich vorgegeben werden.576 Von Interesse ist die Betrachtung des legitimen Zwecks als Bestandteil der Verhältnismäßigkeitsprüfung vorliegend deshalb, weil auch hier ein Widerspruch mit der von Menke angenommenen Sachlogik des Rechts zutage tritt. Die Menkes Rekonstruktion zugrundeliegende Legitimationskette staatlichen Handelns ist durch den Schutz subjektiver Einzelrechte determiniert, sodass als legitimer Zweck nur individuelle Interessen in Betracht kommen dürften.577 Zwar kann auch der Schutz von Rechtspositionen Einzelner einen legitimen Zweck eines Grundrechtseingriffs darstellen, mehrheitlich wird dieses Erfordernis jedoch unter dem Aspekt des Schutzes von Gemeinschaftsrechtsgütern diskutiert. Es zeigt sich, dass ein im staatlichen Handeln verfolgter Zweck, der nach den Maßgaben der Rechtsordnung für legitim befunden wird Eingriffe in subjektive Rechte zu rechtfertigen, überindividuell sein kann, was bei Rückschlüssen auf die Rechtlogik unbedingt zu berücksichtigen ist. In der Verhältnismäßigkeitsprüfung stehen sich unter Umständen demnach individuelle Rechtspositionen und überindividuelle Rechtsgüter von Verfassungsrang gegenüber. Staatszielbestimmungen wie der Tierschutz, Art. 20a GG, können als „Optimierungsgebote“ bei solchen Prinzipienkollisionen zum Einsatz kommen.578 Andere Ziele des Staates können im Abwägungsprozess zu „objektiven Verfassungswerten“ erhoben werden, sodass Ranggleichheit mit den Grundrechten entsteht. Mit Recht kann diese Praxis kritisiert und die Gefahr „repressive[r] Abwägungsmechanismen“, die die autonomiesichernde Funktion der Grundrechte unterminieren, diskutiert werden.579 Relevanz für die hier zu behandelnde Fragestellung hat jedoch ein anderer, hieraus ableitbarer Aspekt: Die beschriebene Abwägungspraxis und die darin ins Gewicht fallenden Rechtsgüter zeigen auf, dass der Totalität subjektiver Rechtspositionen580 Rechtsgüter der Allgemeinheit ranggleich entgegen gestellt werden können. Für die hierdurch auf der Ebene des legitimen Zwecks zum Vorschein tretende Sachlogik des Rechts bedeutet das, dass die Ab-
574 575 576 577 578 579 580
Lerche, in: Der Staat 1978, 449, 453. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 219. Schlink, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht. Zweiter Band, 445, 446 ff. Menke, Kritik der Rechte, S. 31, 58, 164 ff., 202 ff., 206, 249 ff., 257 f., u. 372. Mit Bezug auf Alexy: Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S. 361. Vgl. hierzu Fischer-Lescano, in: Kritische Justiz 2008, 166, 166 ff. Vgl. Menke, Kritik der Rechte, insbesondere S. 258.
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung
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solutheit des subjektiven Rechts durch überindividuelle Gemeinschaftswerte relativiert werden kann. An die Prüfung des Vorliegens eines legitimen Zwecks schließt sich die Frage nach Geeignetheit und Erforderlichkeit des gewählten Mittels an. Geeignet ist das Mittel dann, wenn es die Erreichung des Zwecks fördert. Die Erforderlichkeit ist gegeben, wenn der Zweck nicht durch ein gleich wirksames, aber weniger belastendes Mittel erreicht werden kann.581 Die Auseinandersetzung mit diesen beiden Elementen der Verhältnismäßigkeit erfordert in besonderem Maße die Einbeziehung der „Wirklichkeit von Gesellschaft und Verfassung“582. Durch die Beurteilung von Geeignetheit und Erforderlichkeit des Mittels werden die Bedingungen der Wirklichkeit mit der Reichweite des subjektiven Rechts bzw. seiner Einschränkbarkeit gekoppelt. Indem die nichtrechtliche Wirklichkeit in die rechtliche Beurteilung miteinbezogen wird, bildet dieser Kontrollmechanismus auf Ebene der dogmatisch geprägten Rechtsanwendung einen Anknüpfungspunkt für die von Menke beschriebene Selbstreflexion in Form der Materialisierung583. Im Rahmen der Überprüfung der Angemessenheit einer staatlichen Maßnahme ist die Zweck-Mittel-Relation zu beurteilen.584 Einzelfallbezogen muss unter anderem für den jeweiligen sozialen Bereich eine spezifische Interpretation expliziert werden, bei der die Grundrechte als „Argumentationslastregeln“ fungieren585 und die jeweilige Einschränkungsintensität miteinbezogen wird, wodurch letztlich eine einzelfallabhängige Gewichtung des betroffenen Grundrechts vorausgesetzt wird.586 cc) Bewertung als Abwägungsvoraussetzung Die Frage der Gewichtung kennzeichnet den gesamten grundrechtsdogmatischen Kollisionsauflösungsmechanismus. Bezogen auf Menkes Annahme, dass konfligierende Rechte Dritter die einzige legitime Beschränkungsmöglichkeit subjektiver Rechte darstellen, lässt sich in diesem Zusammenhang feststellen, dass eine Aussage darüber fehlt, wie im Falle einer Kollision zweier grundsätzlich gleichwertigen Grundrechtspositionen eine Entscheidung zugunsten der einen oder der anderen Grundrechtsträgerin getroffen werden soll. Hier treten nun folglich wiederum die echten Grundrechtskollisionen als Untersuchungsgegenstand in den Vordergrund. Über den unspezifischen Verweis auf das „begrenzende Gesetz der Gleichheit“587 hinaus, finden sich bei Menke keine Anhaltspunkte zu der Frage, anhand welcher 581
Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 301 ff. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 219. 583 Vgl. Menke, Kritik der Rechte, S. 141 ff. 584 Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 307. 585 Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 195 f. 586 Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht. Staats- und Verwaltungsrecht, § 24, Rn. 44 ff. 587 Menke, Kritik der Rechte, S. 203. 582
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
Kriterien die „quantitative“588 Beschränkung subjektiver Rechte im „bürgerlichen Recht“ vollzogen wird. Wie bereits angeklungen, ist die Antwort auf diese Frage grundrechtsdogmatisch im Prozess der Abwägung zu suchen. Es ist daher zunächst fraglich, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um eine solche Abwägung zu ermöglichen. Zwei Schritte sind hierbei unumgänglich: zum einen die Konkretisierung der geschützten Rechtsgüter und zum anderen deren Bewertung.589 Die Konkretisierung des geschützten Interesses findet in weiten Teilen bereits auf Ebene der Schutzbereichseröffnung statt, auf der jedoch wie oben ausgeführt keine weitreichenden Begrenzungen festgestellt werden konnten. Von größerer Bedeutung ist hier demgegenüber die Bewertung des Schutzgutes, welche stets einen politischen Bezug aufweist. Mangels eines festgeschriebenen Vorrangverhältnisses ist ein sinnvolles Ins-Verhältnis-Setzen ohne die Bewertung der konkreten Schutzgüter nicht möglich. Denknotwendig bedarf es demnach einer Bewertung der einzelnen Rechtspositionen, da es sich andernfalls mangels tragfähiger Begründung lediglich um einen willkürlichen Ausgleich handelte. Eine solche Bewertung wird auf Ebene des Schutzbereichs gerade nicht systematisch vollzogen, bleibt jedoch – wie nun zu zeigen ist – dennoch nicht aus. (1) Exemplarisch: die Meinungsfreiheit Aufgrund der Fülle möglicher Konstellationen soll hier wiederum exemplarisch Art. 5 I GG herangezogen werden. Bezüglich der Meinungsfreiheit590 haben sich einige im Abwägungsprozess zu berücksichtigende allgemeine Vorrangregelungen, deren Ergebnis im Einzelfall gegebenenfalls widersprochen werden kann, herausgebildet. So fällt bei Tatsachenbehauptungen ins Gewicht, ob die Äußerung der Wahrheit entspricht oder nicht. Wurde bei einer erwiesenermaßen unwahren Tatsache die entsprechende Sorgfaltspflicht nicht erfüllt, so geht der Ehrschutz der Meinungsfreiheit vor.591 Die sich in einem Werturteil manifestierende Meinungsfreiheit muss stets zurücktreten, insofern die Menschenwürde durch die jeweilige Äußerung angetastet wird.592 Darüber hinaus hat sich aufgrund der Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit eine Vermutungsregel durchgesetzt. Hiernach wirkt es sich auf die Abwägung aus, ob die Meinungsäußerung „im Rahmen einer privaten Auseinandersetzung zur Verfolgung von Eigeninteressen oder im Zusammenhang mit einer die Öffentlichkeit wesentlich 588
Ebd., S. 264. So auch Wielsch, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 141, 156; Albers, Informationelle Selbstbestimmung, Anm. S. 33, Fn. 23. 590 Siehe hierzu auch Wihl, in: Die Idee subjektiver Rechte, 295, 296 f., der die Anwendbarkeit von Menkes Formbestimmung auf kommunikative Freiheiten generell in Zweifel zieht. 591 Grimm, in: NJW 1995, 1697, 1705. 592 Schemmer, in: BeckOK Grundgesetz, Art. 5, Rn. 105 ff. 589
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung
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berührenden Frage Gebrauch gemacht wird“.593 Sofern es sich um einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung handelt, wird eine Vermutung zugunsten des Vorrangs der Meinungsfreiheit aufgestellt. Diese Regel ist unter anderem auf den BlinkfüerBeschluss594 und insbesondere auf das Lüth-Urteil595 des Bundesverfassungsgerichts zurückzuführen. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wandte sich Erich Lüth gegen das LG-Urteil im Prozess um eine einstweilige Verfügung, die auf die Unterlassung eines Boykottaufrufs gerichtet war, den Lüth gegen einen unter der Regie von Veit Harlan entstandenen Film gestartet hatte. Den Boykottaufruf begründete Lüth mit der national-sozialistischen Vergangenheit von Harlan. Das Bundesverfassungsgericht sah in dem LG-Urteil eine Verletzung des Beschwerdeführers Lüth in seinem Grundrecht aus Art. 5 GG. Ausschlaggebend für diese Feststellung des Bundesverfassungsgerichts war indes nicht abstrakt ein höheres Gewicht der von Lüth geltend gemachten Grundrechte. Vielmehr hat das Gericht hier die Wertigkeit des jeweiligen Grundrechtsgebrauchs beurteilt und ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass Lüths Grundrechtsgebrauch als „wertvoller“ als derjenige von Harlan und der Filmgesellschaft einzuschätzen sei.596 Wie kam es zu dieser Einschätzung des Gerichts? Hierzu wird ausgeführt: „Es wird vor allem dort in die Waagschale fallen müssen, wo von dem Grundrecht nicht zum Zwecke privater Auseinandersetzungen Gebrauch gemacht wird, der Redende vielmehr in erster Linie zur Bildung der öffentlichen Meinung beitragen will, so daß die etwaige Wirkung seiner Äußerung auf den privaten Rechtskreis eines anderen zwar eine unvermeidliche Folge, aber nicht das eigentliche Ziel der Äußerung darstellt. Gerade hier wird das Verhältnis von Zweck und Mittel bedeutsam. Der Schutz des privaten Rechtsguts kann und muß um so mehr zurücktreten, je mehr es sich nicht um eine unmittelbar gegen dieses Rechtsgut gerichtete Äußerung im privaten, namentlich im wirtschaftlichen Verkehr und in Verfolgung eigennütziger Ziele, sondern um einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage durch einen dazu Legitimierten handelt; hier spricht die Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede.“597
Wo die strittige Äußerung einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung darstellen will und eigennützige Ziele hier hinter zurücktreten, wird demnach der Vorrang der Meinungsfreiheit vermutet. Es geht nun nicht mehr um die mit dem staatlichen Eingriff verfolgten Zwecke, sondern die Rechtsprechung fragt unumwunden nach dem Zweck der Grundrechtsausübung und bezieht diesen in die Abwägung zwischen einander gegenüberstehenden subjektiven Grundrechtspositionen ein. Lüths Absicht, „Harlan als repräsentativen Vertreter des deutschen Films auszuschalten“ hat das Gericht in der Gesamtbetrachtung so beurteilt, dass „Der BeschwF […] aus lauteren Motiven an das sittliche Gefühl der von ihm angespro593
Ebd., Rn. 107.2. BVerfG NJW 1969, 1161 ff. 595 BVerfG GRUR 1958, 254 ff. 596 Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 139 f.; vgl. auch Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 660. 597 BVerfG GRUR 1958, 254, 256 f. 594
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chenen Kreise appelliert und sie zu einer nicht zu beanstandenden moralischen Haltung aufgerufen“598 hat und seiner Grundrechtsausübung aus diesem Grund der Vorrang eingeräumt. Festgehalten wird: „Wenn es darum geht, daß sich in einer für das Gemeinwohl wichtigen Frage eine öffentliche Meinung bildet, müssen private und namentlich wirtschaftliche Interessen einzelner grundsätzlich zurücktreten.“599 Hier zeigt sich, dass in den Grundrechten auch solche Grundrechtsgehalte anerkannt werden, die nicht rein subjektiv-rechtlicher Natur sind. In diesem Rahmen bildet auch „staatsbürgerlich motiviert[es]“600 Engagement für Dritte eine Handlungsmöglichkeit für das Subjekt. Diese ist jedoch nicht schlicht und ausschließlich als eine weitere Option des Subjekts zu verstehen,601 sondern sie untersteht einem spezifischen Schutz, der auf die eigene öffentliche Bedeutung des politischen Grundrechts abzielt. Die Erweiterung des Schutzgehalts dient somit nicht allein dem Schutz der Einzelnen, sondern ebenso der überindividuellen Bedeutung des jeweiligen subjektiven Rechts. Dieser Gedanke liegt der demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie zugrunde, die die Bestimmung des Gewährleistungsgehalts an der Demokratie konstituierenden Funktion politischer Grundrechte orientiert.602 Da Menke diesen grundrechtstheoretischen Ansatz wie oben beschrieben außer Acht lässt, spiegelt sich diese Dimension der Grundrechte in seiner Rekonstruktion nicht wider. Der Individualschutz ist demnach nicht zwangsläufig der einzige Schutzzweck, sondern in der Auslegung wird auch der staatsrechtlichen Funktion politischer Grundrechte und ihrer Bedeutung für die Bestimmung des gemeinen Wohls Rechnung getragen. Auf diese Weise wird ermöglicht, die Einzelnen gegebenenfalls auch als „Träger öffentlicher Funktionen“603 anzuerkennen, während dennoch eine Rückbindung an individuelle Belange konzeptuell grundsätzlich bestehen bleibt.604 In eine ähnliche Richtung äußert sich das Bundesverfassungsgericht auch in anderen Entscheidungen. In einer Entscheidung, in der es um die Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Lauterkeit des Wettbewerbs (§ 1 UWG) ging, heißt es beispielsweise: „Wesentlich sind zunächst die Motive und, damit zusammenhängend, das Ziel und der Zweck der Meinungsäußerung. Findet diese ihren Grund nicht in eigenen Interessen wirtschaftlicher Art, sondern in der Sorge um politische, wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Belange der Allgemeinheit, dient sie der Einwirkung auf die öffentliche Meinung, dann spricht dies dafür, daß die Aufforderung durch Art. 5 I GG geschützt ist, auch wenn dadurch private und namentlich wirtschaftliche Interessen beeinträchtigt werden. Umge598
BVerfG GRUR 1958, 254, 258. BVerfG GRUR 1958, 254, 257. 600 Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts. Europäische Impulse für eine Revision der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht, S. 150. 601 Vgl. hierzu Menke, in: Kritische Justiz 2018, 475, 476. 602 Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts. Europäische Impulse für eine Revision der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht, S. 156 f. 603 Ebd., S. 157. 604 Ebd., S. 150 ff. 599
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kehrt kommt dem Schutz dieser Interessen eine um so größere Bedeutung zu, je weniger es sich um einen Beitrag zum Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage handelt, sondern um eine unmittelbar gegen jene Interessen gerichtete Äußerung im wirtschaftlichen Verkehr und in Verfolgung eines eigennützigen Ziels (vgl. hierzu BVerfGE 66, 116 (139) = NJW 1984, 1741), etwa desjenigen einer Verbesserung der eigenen Wettbewerbsposition.“605
Eine Abwägung muss nach wie vor erfolgen, jedoch wird in diesem Abwägungsprozess der vom Subjekt mit seiner Grundrechtsausübung verfolgte Zweck bewertet, wobei der durch Art. 5 I 1 Hs. 1 GG geschützten Meinungskundgabe in der Regel dann der Vorrang eingeräumt wird, wenn sie keine privatnützigen Belange forciert und insbesondere einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung darstellen will.606 Die hieraus ableitbare und von der Rechtsprechung etablierte Vermutungsregel zugunsten der Gewichtung der Meinungsfreiheit setzt folglich eine Bewertung der jeweiligen Meinungsäußerung und ihres Zweckes voraus. Der Grund hierfür liegt in der „konstituierenden“ Bedeutung, die der Meinungsfreiheit als Kommunikationsgrundrecht für die Demokratie zugemessen wird.607 Demzufolge geht es in Fällen dieser Art nicht allein um widerstreitende individuelle Interessen, sondern hinzu tritt das „überindividuelle Interesse an einer offenen Kommunikation“, welches für den demokratischen Prozess unabdingbar ist.608 Dieses überindividuelle Interesse ist es, welches den Ausschlag für eine Privilegierung gibt, im Rahmen derer einer entsprechenden Meinungsäußerung in der Regel ein höheres Gewicht beigemessen wird, um daran letztlich das Abwägungsergebnis auszurichten. Menkes Rekonstruktion baut auf den Beobachtungen dessen, wozu die Rechtsordnung das Subjekt verpflichten kann, auf. Um das Gesamtkonzept und die rechtliche Funktionsweise unter Einbeziehung der dogmatisch geformten Rechtsanwendungsebene angemessen beurteilen zu können, bedarf es jedoch einer Erweiterung dieses Blickwinkels: Da der Rechtsordnung neben dem Instrument der Verpflichtung ebenfalls dasjenige der Privilegierung zur Verfügung steht, ist auch dieses in die Beurteilung miteinzubeziehen. Basierend darauf zeigt sich, dass dem 605
BVerfG NJW 1992, 1153, 1154. BVerfG NJW 1969, 1161, 1161 (sog. Blinkfüer-Beschluss); BVerfG NJW 1983, 1415 ff.; BVerfG NJW 1984, 1741 ff.; BVerfG NJW 1995, 3303, 3305; st. Rspr.; Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts. Europäische Impulse für eine Revision der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht, S. 156 f.; zum Teil kritisch vgl. Klein, in: Der Staat 1971, 145, 164 f.; in diese Richtung auch Grabenwarter, in: Maunz/Du¨ rig, Grundgesetz Kommentar, Art. 5 Abs. 1, Abs. 2, Rn. 67; Schemmer, in: BeckOK Grundgesetz, Art. 5, Rn. 107.2; zur Kritik siehe Kriele, in: NJW 1994, 1897, 1897 ff.; Schmitt Glaeser, in: NJW 1996, 873, 873 ff. 607 BVerfG NJW 1976, 1226, 1228; BVerfG NJW 1982, 1447,1449; BVerfG NJW 1988, 329, 330; Schemmer, in: BeckOK Grundgesetz, Art. 5, Rn. 107.2; Grabenwarter, in: Maunz/ Du¨ rig, Grundgesetz Kommentar, Art. 5 Abs. 1, Abs. 2, Rn. 519. 608 Grimm, in: NJW 1995, 1697, 1703; Schmitt Glaeser, in: NJW 1996, 873, 875. 606
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Ansinnen der Rechtsordnung sehr wohl ein Gewicht zukommen kann.609 Dieses Ansinnen liegt bei den politischen Grundrechten in einem öffentlichen Gebrauch,610 weshalb im Rahmen des Art. 5 I 1 Hs. 1 GG eine Meinungsäußerung dann in der Abwägung mit anderen Rechtsgütern eine Privilegierung erfahren kann, wenn sie als Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung dienen soll.611 Wenn auch keine rechtliche Kompetenz zur Verpflichtung der Einzelnen hieraus erwächst, so müssen Bestrebungen seitens der Rechtsordnung im Wege der Anwendung des Instruments der Privilegierung im Ergebnis nicht wirkungslos bleiben. Die Einbeziehung überindividueller Interessen in den Abwägungsprozess kann als ein Abrücken von der „subjektiv-rechtlichen Lehre“ interpretiert werden: „Während nach ihr [der subjektiv-rechtlichen Lehre, Anm. I. K.] immer nur der Schutz spezifisch-individueller Belange die Anerkennung subjektiver Rechte legitimiert, wird nun gerade die die subjektiven Belange übersteigende Bedeutung das Kriterium für den Umfang des individuellen Rechts.“612
Die Gründe der Rechtsprechung, der subjektiven Freiheit in einer solchen Konstellation den Vorzug einzuräumen, liegen folglich nicht darin, den Eigenwillen der Einzelnen legalisieren zu wollen, sondern zielen auf den demokratischen Gesamtzusammenhang ab. Überindividuelle Interessen können subjektiven Einzelrechten folglich nicht nur einschränkend gegenübergestellt werden, sondern ihnen ebenfalls als eine Art höheres Ziel zur Durchsetzung verhelfen. (2) Generalisierbarkeit? Dies wirft die Frage auf, ob aus den für die Meinungsfreiheit geltenden Grundsätzen eine allgemeine Regel abgeleitet werden kann. Für die Pressefreiheit, Art. 5 I 1 S. 2 Var. 1 GG, können grundsätzlich dieselben Gewichtungsprinzipien angenommen werden. Sofern ein Boykottaufruf über ein Presseerzeugnis erfolgt, ist der Pressefreiheit grundsätzlich der Vorrang einzuräumen, sofern „allgemeine, wirtschaftliche, soziale oder gesellschaftliche Interessen […] vertreten werden und der zum Boykott aufrufende Presseangehörige sich zum Sprecher dieser Allgemeininteressen macht“.613 Auch hier liegt der Grund für die Vorrangvermutung in der Bedeutung, die die Pressefreiheit für die Demokratie hat.
609
Dagegen Menke, in: Kritische Justiz 2018, 475, 476. So auch Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, S. 165. 611 BVerfG NJW 1969, 1161, 116; BVerfG NJW 1983, 1415 ff.; BVerfG NJW 1984, 1741 ff.; BVerfG NJW 1995, 3303, 3305; st. Rspr. 612 Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts. Europäische Impulse für eine Revision der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht, S. 157. 613 Grabenwarter, in: Maunz/Du¨ rig, Grundgesetz Kommentar, Art. 5 Abs. 1, Abs. 2, Rn. 474. 610
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Diese Bedeutung kommt auch der Versammlungsfreiheit als „wesentliches Element demokratischer Offenheit“614 zu,615 weshalb hinsichtlich Art. 8 I GG ebenfalls eine Privilegierung von Versammlungen, die nicht auf eigennützige, sondern auf Interessen der Allgemeinheit abzielen, angenommen werden könnte. Es könnte folglich vermutet werden, dass einer hierauf gerichteten Grundrechtsausübung in der Abwägung mit anderen Verfassungsrechtsgütern mehr Gewicht zugemessen wird. In diese Richtung gehend erkennt Martin Quilisch Abstufungen in der Schutzwürdigkeit verschiedener Versammlungen, womit jedoch kein rein politisch-funktionales Verständnis der Versammlungsfreiheit einhergehen soll.616 Bei der Abwägung zwischen dem Interesse an der Sicherheit und Leichtigkeit des Straßenverkehrs und der Versammlungsfreiheit sei zu berücksichtigen, ob es sich um öffentliche politische Versammlungen handle: „So wird man insgesamt bei öffentlich politischen Versammlungen, dies gilt vor allem im Wahlkampf, ein höheres Maß an Verkehrsbeeinträchtigungen hinnehmen müssen, als etwa bei einer öffentlichen Versammlung, die die Vorzüge natürlicher Ernährungsweise der Kleintierzucht oder der Schrebergärten zu propagieren sucht.“617
Für Versammlungen, die als Zweck „apolitische […] Privatinteressen“618 verfolgen, sei folglich eine geringere Intensität des Grundrechtsschutzes anzunehmen.619 Diese Annahme erinnert strukturell an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, der zufolge – wie bereits im Rahmen der Ausführungen zur Schutzbereichseröffnung ausgeführt wurde620 – reine „Spaßveranstaltungen“ nicht den Schutz von Art. 8 I GG genießen.621 Jedoch braucht hier darüber, ob in der Rechtsprechung zu Art. 8 I GG eine Abstufung der Schutzintensität anhand des Versammlungszwecks evident wird, keine endgültige Aussage getroffen werden, da die Einbeziehung des Zwecks der Grundrechtsausübung in die Abwägung jedenfalls für die Meinungs- und Pressefreiheit unbestritten ist, worin sich die von Schlink in
614
BVerfG NJW 1985, 2395, 2397. Quilisch, Die demokratische Versammlung. Zur Rechtsnatur der Ordnungsgewalt des Leiters öffentlicher Versammlungen – Zugleich ein Beitrag zu einer Theorie der Versammlungsfreiheit, S. 110. 616 Ebd., S. 170. 617 Ebd., S. 179, in diese Richtung auch Diedrichsen/Marburger, in: NJW 1970, 777, 780 f. 618 Quilisch, Die demokratische Versammlung. Zur Rechtsnatur der Ordnungsgewalt des Leiters öffentlicher Versammlungen – Zugleich ein Beitrag zu einer Theorie der Versammlungsfreiheit, S. 170. 619 In diese Richtung auch Hannover, in: Kritische Justiz 1968, 51, 54 f.; vgl. außerdem Vogelsang, Kommunikationsformen des Internetzeitalters im Lichte der Komunikationsfreiheiten des Grundgesetzes, S. 57 f.; m. w. N. siehe außerdem Müller, Wirkungsbereich und Schranken der Versammlungsfreiheit, insbesondere im Verhältnis zur Meinungsfreiheit, S. 140 ff. 620 Vgl. S. 169 f. der vorliegenden Arbeit. 621 BVerfG NJW 2001, 2459, 2460. 615
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diesem Diskurs betonte Kategorie der Qualität des Grundrechtsgebrauchs622 widerspiegelt. (3) Zwischenergebnis Von entscheidender Bedeutung für die vorliegende Untersuchung ist unterdessen die eingangs dargestellte Erkenntnis, dass die grundrechtsdogmatische Verhältnismäßigkeitsprüfung und insbesondere der Abwägungsprozess prinzipiell eine Bewertung der jeweiligen Grundrechtspositionen erforderlich machen, was bedeuten kann, dass die Beurteilung der Grundrechtsgebrauchsqualität anhand des Zwecks den Ausschlag für die grundrechtliche Schutzintensität geben kann. Den Rechtsnormen wohnt ein „Wertungsakt durch verbindliche Präferenzen“623 inne. Unter Zugrundelegung des von Menke angenommenen Verteilungsprinzips, welches unter Absehung von der Gleichheitsprämisse von der ungebundenen Beliebigkeit der Grundrechtsausübung und der damit einhergehenden unhinterfragten Positivierung des Natürlichen ausgeht,624 stellt sich eine solche Bewertung grundsätzlich als systemwidrig dar. Vor diesem Hintergrund kann jener Prozess folglich als „tendenzieller Systembruch“625 beschrieben werden. Allerdings muss dieser Systembruch im Hinblick auf die systemprägende Bedeutung, die die Abwägungsdogmatik aufweist, nicht als Ausnahme, sondern vielmehr als Regel betrachtet werden. Die Relativierung der Absolutheit des subjektiven Rechts im Rechtsanwendungsprozess erschöpft sich folglich nicht darin, dass die individuelle Rechtsposition einer Abwägung mit überindividuellen Rechtsgütern grundsätzlich zugänglich ist. Hinzu tritt außerdem der Umstand, dass durch die Rechtsprechung stets eine Bewertung der in Rede stehenden Rechtspositionen erfolgen muss, um den Zustand praktischer Konkordanz herstellen zu können. Unter Vermischung der Schutzbereichs- und der Rechtfertigungsebene stellt Wielsch im Übrigen zutreffend fest: „Zum einen lässt sich das Konzept einer ,natürlichen‘ Freiheit und eines entsprechend rechtlich unbestimmt gelassenen Schutzbereichs angesichts des Geltungsanspruchs des Verhältnismäßigkeitsprinzips nicht durchhalten, weil die Rechtsoperation der Abwägung sowohl eine Konkretisierung als auch eine Bewertung und Gewichtung der geschützten Interessen erzwingt.“626
Das Recht schreibt dem Subjekt für seine Rechtsausübung folglich zwar keinen bestimmten Inhalt vor, dennoch bleibt die Qualität der Grundrechtsausübung nicht zwangsläufig ohne Auswirkung auf die abschließende Gewichtung. Bedingt durch 622
Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 20, 26 ff. u. passim. In einem anderen Zusammenhang so formuliert von Herdegen, in: Maunz/Du¨ rig, Grundgesetz Kommentar, Art. 1, Abs. 3, Rn. 22. 624 Vgl. Menke, Kritik der Rechte, S. 236. 625 Albers, Informationelle Selbstbestimmung, Anm. S. 33, Fn. 23. 626 Wielsch, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 141, 156. 623
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung
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die Form der subjektiven Rechte stellen die Grundrechtsausübung, die wegen der rechtlichen Abwägungskriterien mehr Gewicht erfährt, und die weniger gewichtige Ausübung, gleichwertige Möglichkeiten für das Subjekt dar. Dennoch nehmen Qualitätsunterschiede Einfluss auf das Abwägungsergebnis und damit auf die Frage, ob dem jeweiligen Grundrechtsgebrauch schlussendlich zur Durchsetzung verholfen wird, sodass das Recht einer entsprechenden Grundrechtsausübung nicht „hilflos ausgeliefert“627 ist. Diese Bewertungsnotwendigkeit auf der Ebene der dogmatisch geformten Rechtsanwendung spricht gegen Menkes These einer unhinterfragten Positivierung des Eigenwillens628 durch die Form des subjektiven Rechts. dd) Ausnahme aufgrund der Wesensgehaltsgarantie? Dem könnte zuletzt allenfalls noch die Schranken-Schranke des Art. 19 II GG entgegengehalten werden. Die aus dieser Norm resultierende Wesensgehaltsgarantie legt fest, dass ein Grundrecht in keinem Falle in seinem Wesensgehalt angetastet werden darf. Dies könnte so verstanden werden, dass zumindest der Wesensgehalt eines Grundrechts keiner Abwägung und damit keiner Bewertung zugänglich wäre. Nach der Theorie vom absoluten Wesensgehalt stellt der Wesensgehalt eines Grundrechts eine „feste, vom einzelnen Fall und von der konkreten Frage unabhängige Größe“ dar.629 Diese feste Größe dürfte jenem Verständnis zufolge niemals durch einen staatlichen Eingriff berührt und damit niemals ins Verhältnis mit anderen Verfassungswerten gesetzt werden, wobei nach wie vor unklar ist, wie ein solcher Wesensgehalt konkret zu bestimmen wäre. Ausgehend hiervon könnte die unterhinterfragte Positivierung des Eigenwillens, die Menke annimmt, zumindest hinsichtlich dieses Wesenskerns angenommen werden. Legte man ein absolutes Verständnis des Wesensgehalts zugrunde, könnte dieser folglich Menkes Rekonstruktion entsprechen, da hierin eine Grenze für die Abwägung im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu sehen wäre. Allerdings könnte die Bestimmung des Wesensgehalts ebenso in relativer, statt in absoluter Weise erfolgen. Nach der Theorie vom relativen Wesensgehalt muss der Wesensgehalt nicht nur für jedes Grundrecht, sondern sogar gesondert für jeden einzelnen Fall bestimmt werden. Die Frage, ob der Wesensgehalt betroffen ist, sei demnach erst durch Abwägung der widerstreitenden Güter zu beantworten.630 Diese Betroffenheit des Wesensgehalts sei jedoch dann ausgeschlossen, wenn dem jeweiligen Grundrecht in der fraglichen Konstellation das geringere Gewicht beigemessen wird. Kommt dem Grundrecht demgegenüber in der jeweiligen Konfliktlage das schwerere Gewicht zu, so sei von der Antastung des Wesensgehalts auszugehen. 627
So aber Menke, in: Kritische Justiz 2018, 475, 477. Menke, Kritik der Rechte, S. 164 ff. 629 Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 321; vgl. auch Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht. Staats- und Verwaltungsrecht, § 24, Rn. 48. 630 Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 320. 628
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
Genauer betrachtet geht ein solches Verständnis des Wesensgehalts letztlich im Gedanken des Verhältnismäßigkeitsprinzip auf.631 Unter Zugrundelegung der relativen Theorie geht Alexy daher von einer rein deklaratorischen Bedeutung des Art. 19 II GG aus.632 Es werde nichts statuiert, was nicht ohnehin bereits aufgrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Geltung beansprucht,633 sodass auch hier weiterhin eine Abwägung vollzogen wird. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts finden sich sowohl Anhaltspunkte für die Anwendung der Theorie vom absoluten Wesensgehalt634 als auch der Theorie vom relativen Wesensgehalt.635 Dennoch ist eine der überwiegenden Meinung entsprechende Tendenz des Bundesverfassungsgerichts zur relativen Bestimmung des Wesensgehalts erkennbar.636 So wird beispielsweise hinsichtlich des Wesensgehalts von Art. 2 I GG ausgeführt: „[…] bleibt der Wesensgehalt des Grundrechts auf Leben im hier vorausgesetzten Fall durch den mit dieser Vorschrift verbundenen Grundrechtseingriff so lange unangetastet, wie gewichtige Schutzinteressen Dritter den Eingriff legitimieren und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist […].“637 Schließlich betont die Rechtsprechung auch an dieser Stelle, dass für die Bestimmung des unantastbaren Wesensgehalts stets die Bedeutung des jeweiligen Grundrechts im Gesamtsystem in den Blick genommen werden muss.638 Demnach kann nicht vom Vorliegen eines absolut bestimmbaren und umfassend geltenden grundrechtlichen Wesensgehalt, der jedweder Abwägung entzogen wäre, ausgegangen werden. Die Frage, ob sich die von Menke angenommene Positivierung zumindest für den Wesensgehalt eines Grundrechts nachweisen lässt, erübrigt sich somit.
4. Objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte Den fundamentalen Einfluss, den die Grundrechte auf die Gesamtrechtsordnung ausüben, erblickt Menke darin, dass die Form der subjektiven Rechte durch sie zur „Regierungsform“ erhoben wird.639 In der Rechtswissenschaft wird demgegenüber 631
Ebd., Rn. 320. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 269 f. 633 Vgl. auch Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz. Zugleich ein Beitrag zum institutionellen Verständnis der Grundrechte und zur Lehre vom Gesetzesvorbehalt, S. 234 ff., der außerdem die relative und die absolute Theorie noch weitgehender als „Scheinalternativen“, ebd., S. 64, bezeichnet. 634 BVerfG NJW 1958, 1035, 1039; BVerfG NJW 1990, 563, 563. 635 BVerfG NJW 1967, 1795, 1800; BVerfG NJW 2004, 739, 741. 636 Remmert, in: Maunz/Du¨ rig, Grundgesetz Kommentar, Art. 19 Abs. 2, Rn. 39. 637 BVerfG NJW 2006, 751, 761. 638 Enders, in: BeckOK Grundgesetz, Art. 19, Rn. 26 m. w. N.; Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht. Staats- und Verwaltungsrecht, § 24, Rn. 48. 639 Menke, Kritik der Rechte, S. 239 f. 632
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die von den Grundrechten ausgehende Prägung der Gesamtrechtsordnung durch ihren objektiv-rechtlichem Gehalt640 erblickt, welche den zweiten schwerpunktmäßigen Gegenstand der vorliegenden grundrechtsdogmatischen Befassung darstellt. Hier stehen sich folglich eine subjektivierende und eine eher wertorientierte Sichtweise der von den Grundrechten ausgehenden Wirkung gegenüber. Seit dem Lüth-Urteil641 steht die gesamte Rechtsordnung unter dem Einfluss der Grundrechte.642 Insofern kann Menkes Annahme einer „Systementscheidung“ durch die Etablierung der Grundrechte643 zugestimmt werden, allerdings tritt zu der subjektivrechtlichen Dimension der Grundrechte eine objektiv-rechtliche Dimension hinzu.644 Dieses Hinzutreten erschließt der Verfassung eine „neue Wirkungsdimension“, sodass von einer „Verbreiterung des Geltungsanspruchs“ über die Funktion als rechtliche Grundordnung hinaus gesprochen werden kann. Neben die abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte treten Aufträge und Maßstäbe für staatliches Handeln, deren Ausstrahlungswirkung sich auf die gesamte Rechtsordnung erstreckt,645 wodurch die Rolle des Rechts als „Steuerungsmedium“646 unterstrichen wird. Die Rechtsprechung hat bereits aus diversen Grundrechten – wie dem Schutz der Menschenwürde aus Art. 1 I 2 GG, den Freiheiten des Art. 5 I GG, dem Elternrecht647 aus Art. 6 II GG, der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG oder auch der Berufsfreiheit aus Art. 12 I GG – einen objektiven Gehalt abgeleitet.648 Hierbei werden den Grundrechten „objektive Wertentscheidungen, Wertmaßstäbe, Grundsatznormen und Prinzipien“649 entnommen. Dabei bezieht sich die Rechtsprechung
640 Zum „terminologischen Wirrwarr“ zwischen Bezeichnungen wie „wertentscheidende Grundsatznormen“, „objektive Wertordnung“, „Wertsystem“, „verfassungsrechtliche Grundentscheidung“ und „Grundrechte als objektive Normen“ usw. vgl. Alexy, in: Der Staat 1990, 49, 51 f. und Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/1: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 69 II 4, S 988 ff.; vgl. allgemein zur Entwicklung dieser Rechtsfigur Böckenförde, in: Der Staat 1990, 1, 1 ff. 641 BVerfG GRUR 1958, 254 ff. 642 Augsberg/Unger, Basistexte: Grundrechtstheorie, S. 237. 643 Menke, Kritik der Rechte, S. 316 f. 644 Alexy, in: Der Staat 1990, 49, 49; vgl. hierzu auch Dreier, Dimensionen der Grundrechte. Von der Wertordnungsjudikatur zu den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten, S. 27 ff. 645 Volkmann, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Band XII: Normativität und Schutz der Verfassung, § 256, Rn. 11 ff.; Herdegen, in: Maunz/Du¨ rig, Grundgesetz Kommentar, Art. 1, Abs. 3, Rn. 20. 646 Schultz, Spiegelungen von Strafrecht und Gesellschaft. Eine systemtheoretische Kritik der Sicherungsverwahrung, S. 264. 647 Vgl. zu dem sich in der familienrechtlichen Stellung von Eltern oder Vormündern widerspiegelnden Ansatz, im subjektiven Recht von vornherein einen Pflichtgehalt mitzudenken Raiser, in: JuristenZeitung 1961, 465, 466 ff., der dies zudem für den Bereich des Jagd- und Fischereirechts herausstellt. 648 Herdegen, in: Maunz/Du¨ rig, Grundgesetz Kommentar, Art. 1, Abs. 3, Rn. 20. 649 Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 100.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
nicht mehr auf eine zeitgenössische Wertphilosophie,650 sondern leitet einen Grundkonsens aus den verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen ab, der eine „hochgradig individualisierte und pluralisierte Gesellschaft wie die unsere“651 vereint. Dies steht im Widerspruch mit Menkes These, dass die einzige Normativität, die in der bürgerlichen Gesellschaft existiert, in der Festschreibung der „Ermächtigung des sittlich indifferenten Eigenwillens“ als Maßstab besteht.652 Dieser Widerspruch resultiert nicht zuletzt auch daraus, dass Menke, wie oben beschrieben, die Werttheorie der Grundrechte, die die Wurzel des Konzepts der objektiv-rechtlichen Dimension darstellt,653 in seiner Rekonstruktion außer Acht lässt. Tatsächlich muss die Gesellschaft „ohne Sittlichkeit funktionieren“654 – wobei hier beispielsweise einschränkend die Erkenntnisse, die exemplarisch aus dem Sittenwidrigkeitsgedanken des § 138 BGB gewonnen werden konnten, zu beachten sind – dennoch bildet die Legalisierung des natürlichen Eigenwillens nicht den alleinigen normativen Fokus der Gesamtrechtsordnung, da dieser sich an den grundrechtlichen Wertentscheidungen, welche über die Ermächtigung des subjektiven Eigenwillens hinausgehen, ausrichtet. Der daraus ableitbare Grundkonsens speist sich vor allem auch aus der in Art. 1 I GG verankerten Menschenwürdegarantie und dem Menschenbild, welches der Verfassung zugrunde liegt. Dieses versteht den Menschen als ein in die Gemeinschaft eingebettetes Wesen. „Das Menschenbild des GG ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten.“655
Die Vorstellung von einem Rechtssubjekt, welches entkoppelt von seinen Mitmenschen und unabhängig von einer sozialen Einbettung in der Blase seiner eigenen Freiheitssphäre schwebt, ist dem Grundgesetz fremd. Die Annahme eines „,nomadisierenden Individualismus‘“656 kann in dieser Absolutheit insofern nicht durchgehalten werden. Die individuelle Freiheitssphäre dürfe nicht „verabsolutiert“ 650 Christensen/Fischer-Lescano, Das Ganze des Rechts. Vom hierarchischen zum reflexiven Verständnis deutscher und europäischer Grundrechte, S. 59. 651 Volkmann, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Band XII: Normativität und Schutz der Verfassung, § 256, Rn. 18. 652 Menke, Kritik der Rechte, S. 266. 653 Weiterführend zu der Werttheorie als Ausgangspunkt der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension und den seit dem Lüth-Urteil vorgenommenen Modifikationen vgl. Rennert, in: Der Staat 2014, 31, 49 ff. 654 Menke, Kritik der Rechte, S. 266. 655 BVerfG NJW 1954, 1235, 1235; weiterführend und m. w. N. Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 81, IV 4, S. 540 ff.; zur Gliedstellung des Rechtssubjekts siehe außerdem Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 52 f. 656 Ladeur, in: Der Staat 2011, 493, 513.
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung
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werden, da auch die gemeinschaftlichen Bezüge in die Betrachtung miteinbezogen werden.657 Die Grundrechte sind rückgebunden an das Konzept des demokratischen und sozialen Rechtsstaats, daher können sie mit Blick auf den Gedanken der Einheit der Verfassung keiner Auslegung zugeführt werden, die das beschriebene Menschenbild außer Acht lässt und außerdem „jeden Brückenschlag zu den Strukturprinzipien der Demokratie und des Sozialstaates verhindern“658 würde. Die freie Entfaltung des Individuums wird als mit der Einbettung in eine soziale Gemeinschaft verknüpft angesehen,659 was Auswirkungen auch auf die Grundrechtsausübung hat: „Die Grundrechte sind dem Staatsbürger nicht zur freien Verfügung eingeräumt, sondern in seiner Eigenschaft als Glied der Gemeinschaft und damit auch im öffentlichen Interesse. Das Grundgesetz sieht den Menschen nicht als isoliertes Einzelwesen, sondern als verantwortliches lebendes Glied dieser Gemeinschaft.“660
a) Menkes Diagnose einer „Verfassungskrise“ aa) Relativierung aufgrund der Etablierung sozialer Teilhaberechte? Dieses dem Grundgesetz zugrundeliegende Menschenbild wird auch von Denninger gegen Menkes Kritik der Rechte ins Feld geführt.661 Hiervon ausgehend erblickt er in der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte eine mögliche Auflösung der von Menke proklamierten „Verfassungskrise“662. Wie weiter oben erläutert,663 resultiert diese Verfassungskrise Menke zufolge daraus, dass die bürgerliche Gesellschaft stets durch Effekte wie mögliche Monopolbildungen gefährdet ist und daher fortwährender politischer Intervention bedarf, um erhalten zu werden.664 Die staatliche Intervention erfolgt allerdings unumwunden „durch die grundrechtliche Sicherung der Form subjektiver Rechte“665. Die Antwort auf die die Gesellschaft bedrohenden Zustände sei somit an die Form der subjektiven Rechte und damit die fortwährende Produktion autonomer Zusammenhänge gebunden, 657 Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 82, IV 4, S. 664; so auch Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz. Zugleich ein Beitrag zum institutionellen Verständnis der Grundrechte und zur Lehre vom Gesetzesvorbehalt, S. 46. 658 Bethge, in: Der Staat 1985, 351, 374. 659 BVerfG NJW 1971, 1645, 1646. 660 BVerwG NJW 1962, 1532, 1533 unter Bezugnahme auf BVerfG NJW 1954, 1235 ff. und BVerfG NJW 1958, 865 ff. 661 Denninger, in: Kritische Justiz 2018, 316, 319 ff. 662 Menke, Kritik der Rechte, S. 324 ff. 663 Vgl. das Kapitel „Fatalismus und Autonomie“ auf S. 84 f. der vorliegenden Arbeit. 664 In diese Richtung auch Günther, in: Wachsende Staatsaufgaben – sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 51, 63 f. 665 Menke, Kritik der Rechte, S. 325.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
wodurch letztlich wiederum eine politische Intervention notwendig werde. Hieraus leitet Menke im Ergebnis die Aporie der Verfassungskrise ab. Denninger wendet hiergegen die objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension ein, aufgrund derer der Gegensatz zwischen „,autonome[m] Zusammenhang‘“ und „,politischer Intervention‘“ relativiert werde.666 Dabei bezieht sich Denninger vor allem auf den an den Staat adressierten verfassungsrechtlichen Auftrag der Etablierung sozialer Teilhaberechte, der mit der Anerkennung eines objektiv-rechtlichen Gehalts der Grundrechte einher geht und einen Gegenpol zum Verständnis der Grundrechte als reine Abwehrrechte gegen den Staat bildet.667 Diesen Ansatz im Grundsatz bejahend, soll an dieser Stelle jedoch darauf hingewiesen werden, dass es Denningers Argumentation hier womöglich an einer notwendigen Abstufung mangelt. Dieser Umstand erlaubt Menke den berechtigten Einwand, dass die von Denninger geltend gemachte „sozialrechtliche Transformation“668 der Grundrechte hinsichtlich der These von der Verfassungskrise kein Gegenargument darstellt.669 Genauer betrachtet zeichnet Denninger exakt den von Menke beschriebenen Mechanismus nach, namentlich, dass der objektiv-rechtliche Gehalt resubjektiviert670 wird und so letztlich wieder in die Gewährung subjektiver Rechte mündet. Das von Denninger vorgebrachte Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Hartz IV-Gesetz671 illustriert genau diesen Mechanismus: Der objektivrechtliche Gehalt der Menschenwürdegarantie des Art. 1 I GG wurde hier zur Grundlage genommen, um einen subjektiven Leistungsanspruch des Rechtssubjekts zu etablieren.672 Aus Menkes Perspektive betrachtet bedeutet dies zweierlei: zum einen findet die Intervention in der von ihm beschriebenen Weise in Form der Etablierung subjektiver Rechte statt; zum anderen ändert sich lediglich der Inhalt des subjektiven Rechts, der insofern nun auf soziale Teilhabe gerichtet ist. In Menkes Logik gilt jedoch für soziale Teilhaberechte nach wie vor dieselbe Formbestimmung, namentlich, dass der individuelle Eigenwille berechtigt wird und demnach das Subjekt hierüber nach Belieben verfügen kann,673 was letztlich den Grund für die Annahme einer Verfassungskrise bildet. Mit dem Fokus auf soziale Teilhaberechte, mit dem Denninger die objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension als Gegenargu-
666
Denninger, in: Kritische Justiz 2018, 316, 320. Zum Verhältnis zwischen der Funktion der Grundrechte als Freiheitsrechte und als Sozialauftrag siehe auch Ladeur, in: Die Öffentliche Verwaltung 2007, 1, 1 ff. 668 Menke, in: Kritische Justiz 2018, 475, 476. 669 Ebd., 475, 476. 670 Vgl. hierzu auch Wielsch, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 141, 156. 671 BVerfG NJW 2010, 505 ff. 672 Denninger, in: Kritische Justiz 2018, 316, 321 f.; die Frage danach, ob aus einem objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalt ein subjektiver Anspruch abgeleitet werden kann, wirft das BVerfG z. B. auch im sog. „Numerus-clausus-Urteil“ auf, vgl. BVerfG NJW 1972, 1561, 1564. 673 Menke, in: Kritische Justiz 2018, 475, 476. 667
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung
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ment zur Verfassungskrise anbringt, kann die von Menke beschriebene aporiehervorbringende Handlungslogik des Rechts folglich nicht widerlegt werden. Denningers Argumentation, die auf die Schutzaufträge, die den Staat aufgrund der objektiv-rechtlichen Dimension treffen, abzielt, kann die These von der Verfassungskrise folglich nicht relativieren, da die Konsequenz hieraus lediglich in eben jener Etablierung weiterer subjektiver Rechte besteht. bb) Relativierung aufgrund eines objektiv-rechtlichen Wirkmechanismus? Fraglich bleibt, ob sich hiermit ein aus der objektiv-rechtlichen Dimension abgeleitetes Gegenargument vollständig erledigt hat. Erschöpfte sich der Wirkmechanismus der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension – wie anhand der sozialen Teilhaberechte gezeigt – in der Resubjektivierung der objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte, wäre anzunehmen, dass die von Menke beschriebene Handlungslogik des Rechts zutrifft. Dann bliebe die rechtliche Operationsweise stets in dem Kreislauf gefangen, der dadurch in Gang gebracht würde, dass das Recht in seinen Reaktionsmöglichkeiten auf die Etablierung immer neuer subjektiver Rechte beschränkt wäre. Tatsächlich stellt die Frage nach der Gewährung subjektiver Rechte aus objektivrechtlichen Grundrechtsgehalten eines der umstrittensten Probleme im Hinblick auf die objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension dar.674 Nach wie vor ist diese Frage nicht einheitlich geklärt.675 Für die soeben behandelten Fälle kann eine Resubjektivierung in der Form angenommen werden, dass aufgrund des aus dem objektivrechtlichen Gehalt resultierenden staatlichen Schutzauftrags die Schaffung weiterer subjektiver Rechte folgt.676 Diese Etablierung subjektiver Rechte in Form sozialer Teilhaberechte ist jedoch nur eine von mehreren Ausprägungen der dogmatischen Figur des objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension. Neben der organisationsrechtlichen Funktion stellt die Ausstrahlung in die übrigen Rechtsbereiche und insbesondere in das Privatrecht eine weitere, vorrangige
674
Vgl. Dreier, in: Grundgesetz-Kommentar Bd. I, Vorbemerkung vor Artikel 1, Rn. 95; Böckenförde, in: Der Staat 1990, 1, 13 ff.; Alexy, in: Der Staat 1990, 49, 60 ff.; Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts. Europäische Impulse für eine Revision der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht, 162 ff.; sehr ausführlich außerdem Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 351 ff.; Albers, Informationelle Selbstbestimmung, S. 40. 675 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/1: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 69 VI, S. 978 ff. 676 Dies deckt sich mit dem Befund bei ebd., § 69 VI, S. 993, der die Subjektivierung „am ehesten“ für die Fälle des Schutzauftrages annimmt.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
Wirkungsweise der Figur dar.677 Durch diese Ausstrahlungswirkung werden zuvörderst die Auslegung und die Anwendung privatrechtlicher Vorschriften maßgeblich beeinflusst.678 Im Hinblick auf diese Ausprägung der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension ist die Antwort auf die Frage nach der Subjektivierbarkeit indes naturgemäß weniger klar als hinsichtlich der sozialen Teilhaberechte. Entscheidend für eine Konfrontation von Menkes Rekonstruktion mit der dogmatisch austarierten Rechtsrealität – oder zumindest der rechtlichen Perspektive auf das Recht – ist wiederum die Vorgehensweise der Rechtsprechung, in diesem Zusammenhang also in zuvörderst die des Bundesverfassungsgerichts. Dieser kann in der Frage jedoch keine einheitliche Linie entnommen werden.679 Die einzig nachweisbare Tendenz besteht hinsichtlich der Annahme, dass das Subjekt sich nur insoweit auf den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalt berufen können soll, wie sich aus ihm zugleich subjektive Rechte ergeben.680 Hieraus ist augenscheinlich jedoch kein Erkenntnisgewinn für die hier in Rede stehende Frage ableitbar. Daher erscheint es sinnvoll, sich die Funktionsweise der Ausstrahlungswirkung der objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte abstrakt zu vergegenwärtigen.681 Im Unterschied zu der bis hierher betrachteten Wirkung des staatlichen Schutzauftrags, zeichnet sich die Ausstrahlungswirkung nicht dadurch aus, subjektive Rechte als Korrektiv zu etablieren. Stattdessen betrifft die Ausstrahlungswirkung in spezifischer Weise die Ebene der dogmatisch geprägten Rechtsanwendung:682 Soweit Grundrechte von zivilrechtlichen Vorschriften berührt werden, „hat er [der Richter, Anm. I.K.] diese Vorschriften im Lichte der Verfassung auszulegen und anzuwenden.“683 Genau dieser Mechanismus ist es gewesen, der auch im Lüth-Urteil als der Ursprungsentscheidung zur objektiv-rechtlichen Funktion der Grundrechte zum Tragen kam: Anders als in der Hartz-IV-Entscheidung wurde eine Generalklausel, namentlich § 826 BGB, im Lichte des Grundrechts aus Art. 5 I GG ausgelegt und angewendet, ohne ein weiteres subjektives Recht etwa in Form eines Leistungsanspruchs abzuleiten. Zwar wird im Lüth-Urteil festgestellt, dass die Verkennung der Ausstrahlungswirkung nicht nur gegen objektives Verfassungsrecht verstößt, sondern ebenfalls das 677 Jarass, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht. Zweiter Band, 35, 39 ff.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/1: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 69 VI, S. 981. 678 Jarass, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht. Zweiter Band, 35, 40 ff. 679 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/1: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 69 VI, S. 979 ff. 680 Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts. Europäische Impulse für eine Revision der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht, S. 164; Alexy, in: Der Staat 1990, 49, 68; Böckenförde, in: Der Staat 1990, 1, 17 ff. 681 Vgl. hierzu auch Mager, Einrichtungsgarantien. Entstehung, Wurzeln, Wandlungen und grundgesetzmäßige Neubestimmung einer dogmatischen Figur des Verfassungsrechts, S. 426. 682 Vgl. hierzu auch Böckenförde, in: Der Staat 1990, 1, 16. 683 BVerfG NJW 1991, 2411, 2412.
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung
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Subjekt in seinem Grundrecht verletzt.684 Doch auch wenn dieses Vorgehen im Ergebnis der Rechtsposition des Subjekts dient, werden hierdurch keine neuen subjektiven Rechte etabliert, sondern es wird eine spezifische Art der Auslegung angewandt. Daher dient der gegebenenfalls ableitbare subjektive Anspruch hier nicht als Instrument, um den in Rede stehenden Konflikt zu lösen. Während bei der HartzIV-Entscheidung ein subjektives Teilhaberecht etabliert wird, um das der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung widersprechende Ungleichgewicht zu beseitigen, ist der subjektive Anspruch auf Beachtung der Ausstrahlungswirkung lediglich als eine Art Nebeneffekt oder Annex der Konfliktlösung zu verstehen. Von entscheidender Bedeutung ist hier die Auslegung selbst als objektiv-rechtlich wirkendes Instrument. Das Ungleichgewicht, welches in der Lüth-Entscheidung beseitigt werden soll, besteht darin, dass dem verfassungsrechtlichen Bedeutungsgehalt der Meinungsfreiheit nicht ausreichend Rechnung getragen wurde. Zur Beseitigung dieses Ungleichgewichts wird auf das objektiv-rechtliche Instrument der Auslegung zurückgegriffen. Die Auslegung der die Drittwirkung vermittelnden privatrechtlichen Norm bildet die originäre Methode zur Korrektur des nicht verfassungsgemäßen Zustands. Der dem Subjekt in einem weiteren Schritt zuerkannte Anspruch darauf, dass diese Ausstrahlungswirkung nicht verkannt wird, kann insofern nicht als die Etablierung eines zusätzlichen subjektiven Rechts verstanden werden. Die originäre Konfliktlösung erfolgt auf diese Weise nicht unter Zuhilfenahme dieses subjektiven Anspruchs, sodass die Aporie der Verfassungskrise hierdurch nicht ausgelöst wird. Da der objektiv-rechtliche Gehalt eines Grundrechts nicht zur Verfügung des Subjekts steht, kann sich das Subjekt diesen Anspruch außerdem nicht in der Weise aneignen,685 wie dies für Ansprüche aus einem Freiheitsrecht der Fall ist. Aus ihm entsteht demnach keine entsprechende autonome Sphäre, sodass auch dieser Umstand gegen das Münden in die Aporie der Verfassungskrise spricht. Generalklauseln wie § 826 BGB oder auch der bereits eingehend behandelte § 138 BGB stellen „Einbruchstellen“686 für die Ausstrahlungswirkung in Form der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte dar.687 Vermittelt über den Begriff der „guten Sitten“ kann so beispielsweise mithilfe von § 138 BGB sichergestellt werden, dass sich die Ausübung der Privatautonomie (Art. 2 I GG) in den Grenzen der grundrechtlichen Werteordnung hält. Der über die grundrechtskonforme Auslegung zur Anwendung gelangende Mechanismus wirkt in erster Linie objektiv-rechtlich statt subjektiv-berechtigend und trägt dafür Sorge, dass in jeglichen Rechtsverhältnissen der verfassungsrechtliche Grundkonsens Berücksichtigung findet. Wenn also auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine einheitliche 684 Vgl. BVerfG GRUR 1958, 254, 255; hierzu auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/1: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 69 VI 3, S. 984. 685 Gostomzyk, in: Juristische Schulung 2004, 949, 952. 686 BVerfG GRUR 1958, 254, 255. 687 Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 107 ff.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
Linie bezüglich der Subjektivierung objektiv-rechtlicher Grundrechtsgehalte entnommen werden kann, so kann nach diesen Ausführungen zumindest davon ausgegangen werden, dass die Subjektivierung objektiv-rechtlicher Gehalte nicht die primäre Funktion der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension in ihrer Ausprägung als Ausstrahlungswirkung bildet.688 Anders als in der Ausprägung als staatlicher Schutzauftrag, aus dem subjektive Rechte resultieren, kann diese Ausprägung der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension folglich gegen die von Menke angenommene Verfassungskrise angeführt werden. Sie stellt ein taugliches Instrument dar, um auf soziale Implikationen zu reagieren, ohne gleichzeitig den Kreislauf der Verfassungskrise wieder in Gang zu bringen und relativiert so Menkes Annahme einer Aporie und den daraus resultierenden Gedanken der „Ohnmacht“689 der Politik. Dies deckt sich auch mit der von Dieter Grimm angenommenen „Aufwertung des öffentlichen Rechts“, die daraus resultiert, dass das Öffentliche Recht nicht mehr nur darauf beschränkt ist „die Privatautonomie gegen Störungen“ abzusichern, sondern gleichsam eine „inhaltliche Leitlinienfunktion in der Rechtsordnung [Herv. I. K.]“690 übernimmt,691 die sich folglich nicht in einer Formvorgabe692 erschöpft. Statt fortwährend die Voraussetzungen für zusätzliche autonome Sphären zu schaffen, wird durch diesen andersartigen Mechanismus auf objektiv-rechtliche Weise im Wege von Auslegung in die autonomen Sphären hineingewirkt, ohne dass jedoch die Autonomie selbst in Frage gestellt werden soll:693 Die Ausstrahlungswirkung auf die Gesamtrechtsordnung bewirkt auf rechtlicher Ebene eine Kompatibilisierung der autonomen Sphären mit der grundrechtlichen Werteordnung. In diese Richtung kann auch Denningers Feststellung verstanden werden, dass „der ,autonome […] Zusammenhang‘ der bürgerlichen Gesellschaft nicht (mehr) schlechthin als im Gegensatz zur ,politischen Regulierung‘“694 begriffen werden muss. Allerdings entfaltet dieses Argument im Hinblick auf die Auflösung der von Menke beschriebenen Aporie der Verfassungskrise erst dann eine Wirkung, wenn man es auf den beschriebenen objektiv-rechtlich wirkenden Mechanismus als Ausprägung der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension bezieht, statt auf die Ausprägung der Etablierung sozialer Teilhaberechte.
688
Vgl. in diese Richtung auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/1: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 69 VI, S. 993; die Ableitung subjektiver Rechte aus der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte generell ablehnend: Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 388. 689 Menke, Kritik der Rechte, S. 324 f. 690 Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, S. 47. 691 Ebd., S. 47. 692 So aber Menke, Kritik der Rechte, S. 240. 693 Hierzu auch Ladeur, in: Die Öffentliche Verwaltung 2007, 1, 8. 694 Denninger, in: Kritische Justiz 2018, 316, 320.
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung
211
b) Exkurs: Indisponible Rechtsgüter Die objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension weist eine weitere Konsequenz auf, die im Widerspruch zu Menkes Rekonstruktion der subjektiven (Grund-)Rechte steht. Dabei handelt es sich um die mit dem objektiv-rechtlichen Gehalt einhergehende695 Einschränkung der Verfügungsbefugnis des Subjekts über das ihm zustehende subjektive Recht. Für Menkes Rekonstruktion der Form der subjektiven (Grund-)Rechte ist die Entscheidungsgewalt des Subjekts sowohl über das „Ob“ als auch über das „Wie“ der Rechtsausübung formkonstitutiv.696 Folglich setzt Menke in der Form subjektiver Rechte eine umfassende rechtliche Verfügungsbefugnis des Subjekts voraus, die sowohl die Möglichkeit des Verzichts als auch die Art der Ausübung erfasst. Aus Sicht der Rechtswissenschaft ist die Frage der Verfügungsbefugnis indes nicht auf den ersten Blick und nicht völlig eindeutig zu beantworten.697 Unbestritten ist insoweit lediglich, dass eine Verfügungsbefugnis Einzelner über kollektive Rechtsgüter wie beispielsweise eine intakte natürliche Lebensgrundlage,698 ausscheiden muss. aa) Verfügungsbefugnis über individuelle Rechtsgüter Fraglich ist jedoch, ob hinsichtlich individueller Rechtsgüter stets von einer umfassenden Verfügungsbefugnis des Subjekts ausgegangen werden kann. Dies scheint vor allem im Hinblick auf die Rechtsprechung zu Art. 1 I GG, welcher nach herrschender Meinung sowohl als oberstes Konstitutionsprinzip als auch als subjektives Recht fungiert,699 Zweifeln ausgesetzt zu sein. Exemplarisch seien hier zunächst die Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts zu sogenannten „PeepShows“ erwähnt. In der ersten Entscheidung vom 15. 12. 1981 ging es um die Erteilung einer Erlaubnis zum Betrieb einer Peep-Show gem. § 33a GewO. Der Antrag des Klägers wurde vom Bundesverwaltungsgericht mit der Begründung abgewiesen, dass Tatsachen die Annahme rechtfertigten, dass die Veranstaltungen gem. § 33a II Nr. 2 GewO den guten Sitten zuwiderlaufen werde.700 Die Antizipation des Verstoßes gegen die guten Sitten resultierte für das Bundesverwaltungsgericht aus dem Widerspruch mit der Werteordnung des Grundgesetzes. Dieser Widerspruch ergab sich wiederum daraus, dass die Menschenwürde, Art. 1 I GG, der in den Peep-Shows zur Schau gestellten Frau verletzt werde. Das Bundesverwaltungsgericht schloss demnach aus der Verletzung dieses Grundrechts unmittelbar auf einen Sittenverstoß. Der 695
Vgl. hierzu BVerwG NJW 1982, 664, 665. Menke, Kritik der Rechte, S. 257. 697 Weiterführend hierzu siehe exemplarisch Sachs, in: VerwArch 1985, 398, 398 ff. 698 Conow, Vertragsbindung als Freiheitsvoraussetzung, S. 118. 699 Hillgruber, in: BeckOK Grundgesetz, Art. 1, Rn. 1.1; Hufen, in: Juristische Schulung 2010, 1, 1 f.; Linke, in: Juristische Schulung 2016, 888, 888. 700 BVerwG NJW 1982, 664, 664 ff. 696
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
für die vorliegend aufgeworfene Frage nach der subjektiven Verfügungsbefugnis relevante Kern der Entscheidung liegt darin, dass die Freiwilligkeit der betroffenen Frau für die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ausdrücklich nicht von Relevanz ist.701 Hierzu führt das Gericht aus: „Diese Verletzung der Menschenwürde wird nicht dadurch ausgeräumt oder gerechtfertigt, daß die in einer Peep-Show auftretende Frau freiwillig handelt. Die Würde des Menschen ist ein objektiver, unverfügbarer Wert […], auf dessen Beachtung der einzelne nicht wirksam verzichten kann […].“702 Aufgrund dieser Interpretation der Menschenwürde als einem objektiven Konzept, wird dem Subjekt die Verfügungsbefugnis versagt.703 Mögliche Rechtsausübungen des Rechtssubjekts werden folglich eingeschränkt. Während ein subjektives Recht grundsätzlich einen Vorteil gewähren soll, ist in dieser Situation ein Umschlagen in eine Einschränkung zu erkennen.704 Die Option des Verzichts wird dem Subjekt verwehrt.705 Menkes Formverständnis, welches von den Performanzen der Ermöglichung und der Erlaubnis geprägt ist,706 kann eine solche Konstellation nicht erfassen. Diese Schwierigkeit liegt nicht zuletzt auch darin begründet, dass die Willenstheorie zur theoretischen Grundlage707 von Menkes Rekonstruktion gehört. Wie oben bereits ausführlich dargestellt, bestimmt die Willenstheorie das subjektive Recht als „die der einzelnen Person zustehende Macht: ein Gebiet, worin ihr Wille herrscht“708. Das subjektive Recht dient mithin dem individuellen Willen, der das zentrale Element dieser Konzeption darstellt. Das Verwehren eines freiwilligen Verzichts auf eine Rechtsposition steht quer zu diesem Konzept, sodass die Willenstheorie diese Möglichkeit ebenso wenig erfassen kann.709 Obwohl die Willenstheorie in Menkes Rekonstruktion nicht alleine steht, sondern durch die Interessentheorie ergänzt wird,710 kann auch Menke subjektive Rechte nur so denken, dass das Subjekt über das „Ob“ und das „Wie“ der Rechtsausübung nach Belieben entscheiden kann. 701 Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 86, I 5, S. 901; Suchomel, Partielle Disponibilität der Würde des Menschen, S. 21 ff. 702 BVerwG NJW 1982, 664, 665. 703 Suchomel, Partielle Disponibilität der Würde des Menschen, S. 46 f.; Hinrichs, in: NJW 2000, 2173, 2174 f.; weiterführend Moser, Unveräußerliche Rechte, S. 227 f. 704 Moser, Unveräußerliche Rechte, S. 103. 705 Ausführlich hierzu vgl. Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst. Das Spannungsverhältnis von grundrechtlichem Selbstbestimmungsrecht und Gemeinschaftsbezogenheit des Individuums, S. 1 ff. 706 Menke, Kritik der Rechte, S. 89 ff. 707 Siehe hierzu S. 112 ff. der vorliegenden Arbeit. 708 Savigny, System des heutigen römischen Rechts Bd. 1, § 4, S. 7. 709 Vgl. weiterführend hierzu Moser, Unveräußerliche Rechte, S. 226 ff., mit dem Versuch, die Willenstheorie so zu modifizieren, dass die Erfassung unveräußerlicher Rechte möglich wird. 710 Menke, Kritik der Rechte, S. 95
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung
213
Ein ähnlicher Gedanke liegt auch der zum Teil scharfen Kritik,711 die an dem Peep-Show Urteil des Bundesverwaltungsgerichts geübt wurde, zugrunde. Die Menschenwürde wird hierbei als untrennbar mit der Fähigkeit der Selbstbestimmung verbunden angesehen.712 Das Verständnis der Menschenwürde als objektives Konzept dürfe nicht „gegen ihr eigentliches Fundament, nämlich […] Selbstbestimmung über das eigene Leben“713 ausgespielt werden. Demnach soll, ähnlich wie bei Menke, auch hier die individuelle Verfügungsbefugnis der Einzelnen über ihr Recht in den Fokus gerückt werden, womit dieser Ansatz wiederum der liberalen Grundrechtstheorie nahe steht.714 Die Begründung der Unverfügbarkeit der Rechtsposition mit dem objektiven Charakter als Wertkonzeption wird in der Literatur mithin vielfach unter dem Aspekt der Verkehrung eines Grundrechts in eine Grundpflicht kritisiert.715 Auf diese Kritik reagiert das Bundesverwaltungsgericht in seiner zweiten PeepShow Entscheidung vom 30. 01. 1990,716 indem es in einer ähnlich gelagerten Fallkonstellation wiederum die Sittenwidrigkeit einer solchen Show feststellt, hierbei jedoch zur Begründung nun nicht mehr auf den Aspekt der Menschenwürde zurückgreift. Stattdessen wird die Sittenwidrigkeit „unabhängig von der genannten Wertentscheidung des Grundgesetzes“717 aus dem Verstoß gegen vorherrschende sozialethische Vorstellungen hergeleitet.718 Beachtlich ist dabei, dass die Rechtsprechung dennoch in der sogenannten „Zwergenweitwurf“-Entscheidung719 aus dem Jahr 1992 wiederum die Argumentation der ersten Peep-Show-Entscheidung aufgreift.720 Hierbei ging es um die Genehmigungsfähigkeit einer gewerblichen Veranstaltung, bei der kleinwüchsige Menschen zu Unterhaltungszwecken möglichst weit geworfen werden sollten. Neben dem Hinweis auf die Gefahr der Gefühlsverrohung gegenüber anderen Menschen, wurde auch hier unter Anknüpfung an § 33a GewO die Sittenwidrigkeit der Veranstaltung mit der Verletzung der Menschenwürde durch die Verobjektivierung als „Sportgerät“ begründet. Da die Würde des Menschen als „unverfügbarer Wert“ angesehen wird, bewirkt die Freiwilligkeit der beteiligten kleinwüchsigen Menschen in dieser Entscheidung abermals keine Abweichung hinsichtlich der 711
Höfling, in: NJW 1983, 1582, 1582 ff.; von Olshausen, in: NJW 1982, 2221, 2221 ff.; Kirchberg, in: NJW 1983, 141, 141 ff.; der BVerwG-Entscheidung zustimmend hingegen Gern, in: ebd., 1585, 1585 ff. 712 Isensee, in: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa Band IV. Grundrechte in Deutschland: Einzelgrundrechte I, Rn. 138. 713 Dreier, in: Grundgesetz-Kommentar Bd. I, Art. 1 Abs. 1, Rn. 150. 714 Suchomel, Partielle Disponibilität der Würde des Menschen, S. 158. 715 Ebd., S. 47. 716 BVerwG NVwZ, 1990, 668, 668 ff. 717 BVerwG NVwZ, 1990, 668, 668. 718 Suchomel, Partielle Disponibilität der Würde des Menschen, S. 24. 719 VG Neustadt NVwZ, 1993, 98, 98 ff. 720 Suchomel, Partielle Disponibilität der Würde des Menschen, S. 26 f.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
Annahme einer Grundrechtsverletzung.721 Eine Verfügungsbefugnis über „ihr“ Recht auf menschenwürdige Behandlung wird den Beteiligten versagt.722 bb) Eine Frage des Maßes Zwar blieb hinsichtlich dieser Entscheidung erstaunlicherweise eine mit den Reaktionen auf die erste Peep-Show-Entscheidung vergleichbare Welle der Kritik vonseiten der Literatur aus.723 Nach wie vor finden sich in der Kommentarliteratur jedoch kritische Stimmen, die betonen, dass nicht alle „Geschmacklosigkeiten […] stets zugleich Würdeverletzungen“724 darstellen. Der mit der Verfügungsbefugnis einhergehende Aspekt der Selbstbestimmung wird gegen eine paternalistische Auslegung des Art. 1 I GG angeführt.725 Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass diese ablehnende Haltung nicht von Absolutheit geprägt ist. Zwar wird den von der Rechtsprechung getroffenen Entscheidungen widersprochen. Dennoch verweist die Kritik ihrerseits darauf, dass eine Beschränkung der Verfügungsbefugnis unter gewissen Umständen potentiell sehr wohl gerechtfertigt sein kann. Hier unterscheiden sich die Ansätze lediglich hinsichtlich ihrer schwerpunktmäßigen Ausrichtung.726 So soll eine Beschränkung der Dispositionsbefugnis trotz des Arguments der Selbstbestimmung beispielsweise dann begründet werden können, wenn der in Rede stehende Verzicht „vorbehaltlos und irreversibel“ wirkt727 oder aber mit einer „Tabuverletzung“728 einhergeht. Letztlich besteht die Differenz zwischen Rechtsprechung und Literatur demnach in erster Linie nicht in der Beantwortung der Frage, ob die Verfügungsbefugnis des Subjekts über das durch Art. 1 I GG vermittelte Recht beschränkt werden kann. Differenzen ergeben sich lediglich hinsichtlich der Beurteilung der Frage, wann die Grenze überschritten ist, die eine Verfügungsbeschränkung rechtfertigt. Abseits dieser das Maß betreffenden Frage ist jedoch allgemein anerkannt, dass ein 721
VG Neustadt NVwZ, 1993, 98, 99. Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 2, Abs. 2 Nr. 1, Rn. 36; eindeutig gegen eine Dispositionsbefugnis der Einzelnen über das aus Art. 1 I GG resultierende Grundrecht auch Schwabe, in: JuristenZeitung 1998, 66, 69. 723 Vgl. Suchomel, Partielle Disponibilität der Würde des Menschen, S. 231. 724 Dreier, in: Grundgesetz-Kommentar Bd. I, Art. 1 Abs. 1, Rn. 152. 725 Ebd., Rn. 150 ff.; von Olshausen, in: NJW 1982, 2221, 2221 ff. 726 Vgl. hierzu die ausführliche Auseinandersetzung mit der Vielzahl an Ansätzen bei Klass, Rechtliche Grenzen des Realitätsfernsehens. Ein Beitrag zur Dogmatik des Menschenwürdeschutzes und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, S. 161 ff. 727 Isensee, in: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa Band IV. Grundrechte in Deutschland: Einzelgrundrechte I, Rn. 138. 728 Dreier, in: Grundgesetz-Kommentar Bd. I, Art. 1 Abs. 1, Rn. 152; in diese Richtung auch Hufen, in: Juristische Schulung 2010, 1, 4; sowie Suchomel, Partielle Disponibilität der Würde des Menschen, S. 245 f.; die Frage nach dem Bestehen von Ausnahmefällen, in denen der Staat zum Würdeschutz gegen den Willen des Betroffenen verpflichtet wird, hingegen offengelassen bei Schmitt Glaeser, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 2000, 395, 400. 722
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung
215
Grundrechtsverzicht, der gegen die Menschenwürde verstößt, unwirksam ist und der Verfügungsbefugnis des Subjekts diesbezüglich somit Grenzen gesetzt sind.729 Der Umstand, dass das Grundrecht nicht nur eine subjektiv-rechtliche Gewährleistung, sondern auch eine objektiv-rechtliche Dimension aufweist, beschränkt die Dispositionsbefugnis des Subjekts und kann folglich zur Unbeachtlichkeit der Einwilligung führen. Eine solche Unbeachtlichkeit ist unter gewissen Umständen ebenfalls im Hinblick auf Art. 2 II 2 Var. 1 GG anerkannt. Da der Rechtsordnung die „Bejahung des Lebens“ als objektiv-rechtliche Dimension des subjektiven Rechts auf Leben zugrunde liegt, kann ein Subjekt mit Selbsttötungsabsicht über dieses Grundrecht nicht unbegrenzt frei verfügen.730 Die Rechtsordnung kann hier ein subjektives Recht durchsetzen, obwohl das Rechtssubjekt explizit den Willen zum Rechtsverzicht geäußert hat und begründet dies mit dem öffentlichen Interesse.731 Zwar wird für die meisten Grundrechte angenommen, dass das Subjekt nach Belieben über sie disponieren kann,732 sodass die Unverzichtbarkeit grundsätzlich eher die Ausnahme bildet. Dennoch hat mit Blick auf diesen grundrechtlichen Ausnahmetatbestand bereits Luhmann betont, dass ein subjektives Recht nicht dadurch beschrieben werden kann, dass es der individuellen Disposition des Subjekts unterliegt.733 Dem ist zuzustimmen, da in den beschriebenen Beispielsfällen trotz der beschränkten individuellen Verfügungsbefugnis nicht der Charakter als subjektives Recht in Frage gestellt werden kann. Trotz der Dispositionsbeschränkungen, die das Subjekt treffen, kann nicht bezweifelt werden, dass es sich bei dem Recht auf Leben und auch bei der Menschenwürde um subjektive Rechte handelt. Da das Subjekt wie gezeigt aufgrund der objektiv-rechtlichen Dimension dieser Grundrechte jedoch gegebenenfalls weder über das „Ob“ noch über das „Wie“ des Grundrechtsgebrauchs entscheiden kann, scheint die Form des subjektiven Rechts hier über die Funktionen der Ermöglichung und der Erlaubnis hinauszugehen. Menke führt aus: „[…] durch die Form der subjektiven Rechte, schlägt der Respekt vor der Würde der Person – der die Rechte der Person begründen soll – immer schon in die Legalisierung des Eigenwillens um.“734 Das beschriebene Beispiel der Indisponibilität des subjektiven Rechts der Menschenwürde verkehrt diese Annahme in ihr Gegenteil. Hier zeigt sich 729 Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 86, III 3, S. 923; Hufen, in: Juristische Schulung 2010, 1, 9 f.; Fischinger, in: Juristische Schulung 2007, 808, 810 f.; ablehnend demgegenüber Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG Kommentar Bd. 1, Art. 1 Abs. 1, Rn. 36 u. 114. 730 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 2, Abs. 2 Nr. 1, Rn. 47 f.; so auch Schwabe, in: JuristenZeitung 1998, 66, 66. 731 Hellgardt, Regulierung und Privatrecht: staatliche Verhaltenssteuerung mittels Privatrecht und ihre Bedeutung für Rechtswissenschaft, Gesetzgebung und Rechtsanwendung, S. 373. 732 Sachs, in: Sachs GG Kommentar, Vor Art. 1, Rn. 57. 733 Luhmann, in: Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, 360, 360 f.; in diese Richtung außerdem auch Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht, S. 234 f. 734 Menke, Kritik der Rechte, S. 257.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
nochmals sehr deutlich, welche Tragweite die objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension für das Verständnis der Funktionsweise subjektiver Rechte hat. Die Existenz solcher indisponiblen individuellen Rechtsgüter steht folglich im Widerspruch zu Menkes Bestimmung der Form des subjektiven Rechts. c) Ausweitung in kontextueller Hinsicht Nicht nur im Hinblick auf die Verfügungsbefugnis des Subjekts und die Wirkmechanismen der Grundrechte ergeben sich aus der objektiv-rechtlichen Dimension neue Perspektiven. Auch im Hinblick auf die für die Beurteilung der grundrechtlichen Gewährleistungsgehalte erheblichen Aspekte erweitert die objektiv-rechtliche Dimension die Perspektive. So eröffnet sie die Möglichkeit, auch die soziale Sphäre als kontextuellen Rahmen der Rechtsausübung zu berücksichtigen, was im Folgenden anhand zweier Beispiele näher beleuchtet werden soll. aa) Sozialer Kontext Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte ermöglicht zunächst die Einbeziehung dieses Zusammenhangs im Hinblick auf den sozialen Kontext und die sozialen Auswirkungen735 der geltend gemachten Freiheiten736. Dies findet im Rahmen der zwei vorgestellten Ausprägungen – namentlich in der Ausprägung als Schutzauftrag und als Ausstrahlungswirkung – auf unterschiedliche Weise statt. In der von Denninger angesprochenen Ausprägung geschieht die Einbeziehung dadurch, dass subjektive Teilhaberechte als Möglichkeitsbedingung für die Freiheitsausübung geschaffen werden. Im Falle der vorliegend in den Fokus gerückten Ausprägung als mittelbare Drittwirkung wird der soziale Kontext demgegenüber durch die horizontale Grundrechtswirkung einbezogen. Durch diese Berücksichtigung verliert „[D]ie prägnante Struktur des rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips ihre Selbstverständlichkeit. Der Schutzgehalt eines Grundrechts ist nicht ohne weiteres als strukturell unbegrenztes Individualgut zu fassen.“737 Hierdurch wird dem grundgesetzlichen Menschenbild von einem gemeinschaftsgebundenen Subjekt Rechnung getragen. Die sozialen Auswirkungen der Ausübung subjektiver Rechte werden von der Rechtsordnung nicht ignoriert, sodass nicht pauschal davon ausgegangen werden kann, dass die Appropriation des Sozialen durch das subjektive Recht befördert wird.738 Diese Einbeziehung des sozialen Kontextes steht daher im Gegensatz zu der Annahme einer allein in der Ermächtigung des natürlichen Eigenwillens bestehenden normativen Maxime: Wird 735
S. 47. 736 737 738
Wielsch, in: Kritische Justiz 2019, 639, 649; Albers, Informationelle Selbstbestimmung, Wielsch, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 141, 156. Albers, Informationelle Selbstbestimmung, S. 51. So aber Menke, Kritik der Rechte, S. 206 u. 266 ff.
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung
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der soziale Kontext mitberücksichtigt, kann von einer unhinterfragten Legalisierung des Natürlichen – begrenzt einzig durch den Gedanken gleicher Freiheit – nicht ausgegangen werden.739 Zwar eröffnen einige Grundrechtskonzeptionen auch unter Absehung von der objektiv-rechtlichen Dimension die Möglichkeit einer solchen Einbeziehung des sozialen Kontextes, wie Bethge im Hinblick auf die Eigentumsfreiheit herausstellt: Unter der Bedingung eines Sozialbezugs verlässt „[…] eine Freiheitsposition dort, wo sie soziale Breitenwirkung und soziale Funktion aufweist, den Bereich individualistischer Beliebigkeit“740. Die in Art. 14 II GG verankerte Sozialbindung741 des Eigentums stellt eines der wenigen ausdrücklich geregelten Beispiele dafür dar, wie der Einfluss des sozialen Kontextes eines Grundrechts auf die grundrechtlich vermittelten Berechtigungen ausgestaltet sein kann. Allerdings bewirkt erst die Figur der objektiv-rechtlichen Dimension eine Vereinheitlichung, durch die hinsichtlich potentiell aller Grundrechte der soziale Kontext einbezogen werden kann, unabhängig von einer möglicherweise gegebenen sozialen Funktion des jeweiligen Grundrechts. Hierdurch wird offenbar, dass die subjektiven Grundrechte durch ihre objektiv-rechtliche Dimension dazu befähigen, neben der individuellen Freiheitssphäre auch die dem grundgesetzlichen Menschenbild entsprechende Einbettung des Individuums in eine soziale Gemeinschaft aufzugreifen, was gegen eine Selbstreflexion des Rechts spricht, die einen sozial isolierten subjektiven Eigenwillen unhinterfragt positiviert. bb) Eigenrationalität sozialer Sphären Die durch die objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension ermöglichte Berücksichtigung der die Grundrechtsausübung umgebenden sozialen Sphäre manifestiert sich neben der Einbeziehung des sozialen Kontexts auch in der Beachtung der Eigenrationalität der jeweiligen sozialen Sphären.742 Diese Beachtung kann sich darauf 739 Albers, Informationelle Selbstbestimmung, S. 50; in diese Richtung auch Wielsch, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 141, 160 f.; vgl. außerdem Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluß an Kant, S. 306 f., die die Relativierung der „überpositiven Grundrechtskomponente“ durch die „Transformation“ in eine objektive Werteordnung anerkennt und hieran u. a. unter dem Aspekt einer „unbegrenzte[n] Interpretationsmacht“ des Bundesverfassungsgerichts Kritik übt. 740 Bethge, in: Der Staat 1985, 351, 369; in diese Richtung auch Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz. Zugleich ein Beitrag zum institutionellen Verständnis der Grundrechte und zur Lehre vom Gesetzesvorbehalt, S. 47. 741 Diese kann als ein „Reflexionsgebot“ verstanden werden, durch das die dem Eigentümer eingeräumten Handlungsmöglichkeiten sozial kompatibilisiert werden sollen, vgl. Wielsch, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 141, 158; vgl. zum Themenkomplex der Sozialbindung des Eigentums außerdem S. 166 ff. der vorliegenden Arbeit. 742 Weiterführend hierzu Hensel/Teubner, in: Kritische Justiz 2014, 152, 154 ff., die sich kritisch mit der Staatszentriertheit der Drittwirkung auseinandersetzen, vgl. außerdem weiterführend hierzu Fischer-Lescano, in: Kritische Justiz 2017, 475, 480 ff., der sich mit der Ausweitung der Grundrechtsverpflichtung auf nichtstaatliche Akteurinnen beschäftigt.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
auswirken, welche Grundentscheidung als objektiv-rechtlicher Gehalt aus einem Grundrecht abgeleitet werden kann, da die Eigenrationalität hierfür unter Umständen eine Rolle spielt. Als Beispiel743 dient hier die sog. „Sampling-Entscheidung“744 des Bundesverfassungsgerichts. In dieser Verfassungsbeschwerde geht es um „eine verfassungskonforme Auslegung von § 24 UrhG (Freibenutzung eines selbstständigen Werkes) einerseits und § 85 UrhG (Verwertungsrechte des Herstellers eines Tonträgers) andererseits.“745 Es wird die Frage aufgeworfen, ob die ausschnittsweise Übernahme von fremden Tonträgern von der Kunstfreiheit erfasst ist und ob die Verwertungsinteressen der Rechteinhaberinnen demgegenüber zurückzutreten haben, was das Bundesverfassungsgericht im Ergebnis bejaht. Im Vordergrund steht hierbei folglich die Kollision der Kunstfreiheit aus Art. 5 III 1 GG und der Eigentumsfreiheit aus Art. 14 I 1 GG. Dem Bundesverfassungsgericht zufolge gebietet Art. 5 III 1 GG eine „kunstspezifische Betrachtung“ der jeweiligen zivilrechtlichen Normen, die grundrechtliche Ausstrahlungswirkung sei nicht auf Generalklauseln beschränkt.746 Im konkreten Fall wurde dem Bundesverfassungsgericht zufolge der grundlegenden Bedeutung der Kunstfreiheit nicht ausreichend Rechnung getragen, was auf objektivrechtlicher Ebene durch Normauslegung korrigiert werden soll. Die Besonderheit dieser Entscheidung besteht darin, dass für ihre Begründung in erster Linie auf die Eigenrationalität bestimmter Kunstformen zurückgegriffen wird: „Der Einsatz von Samples ist eines der stilprägenden Elemente des Hip-Hop. […] Die erforderliche kunstspezifische Betrachtung verlangt, diese genrespezifischen Aspekte nicht unberücksichtigt zu lassen.“747 Der hier in Rede stehende Effekt der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension stellt sich in diesem Fall in der Form dar, dass sich das Recht die „Eigengesetzlichkeit“748 der sozialen Sphäre vergegenwärtigt und hieraus Schlüsse für die Ausgestaltung der objektiv-rechtlichen Wirkung des Grundrechts zieht. Wenn auch der Grundgedanke in einer Verstärkung der Geltungskraft der subjektiven Rechte besteht,749 wird nicht auf eine individuelle Perspektive abgestellt, sondern vielmehr auf die Regeln, die in der sozialen Praxis gelten.750 Vor dem Hintergrund dieser Regeln wird konkretisiert, welche Schritte erforderlich sind, um der grundrechtlichen Bedeutung der Kunstfreiheit Rechnung zu tragen. Die Berücksichtigung der Eigenra743 Siehe hierzu auch Horst, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 250, 274 ff., der hier ebenfalls die Sampling-Entscheidung in Bezug auf Kritik der Rechte betrachtet. 744 NJW BVerfG 2016, 2247, 2247 ff. 745 Hufen, in: Juristische Schulung 2016, 954, 954. 746 NJW BVerfG 2016, 2247, 2250. 747 NJW BVerfG 2016, 2247, 2251. 748 Hufen, in: Juristische Schulung 2016, 954, 956. 749 BVerfG GRUR 1958, 254, 255; BVerfG NJW 1979, 699, 702; Herdegen, in: Maunz/ Du¨ rig, Grundgesetz Kommentar, Art. 1, Abs. 3, Rn. 18. 750 Wielsch, in: Kritische Justiz 2019, 639, 650.
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tionalität der Kunst-Sphäre wirkt sich so letztlich auf den Gewährleistungsgehalt der Eigentumsfreiheit aus:751 Aufgrund der besonderen Bedeutung des Samplings für eine Kunstform müssen Einschnitte in die Eigentumsfreiheit hingenommen werden. Der Grund für diese Beschränkung liegt jedoch mithin nicht in einer von der Form des subjektiven Rechts vorgegebenen Berechtigung des Eigenwillens, sondern dieser Grund ergibt sich aus der Eigenrationalität der sozialen Sphäre Kunst,752 die aufgrund einer objektiv-rechtlichen Verfassungsentscheidung geschützt werden soll. In dem Konflikt zwischen Kunst- und Eigentumsfreiheit sollen nicht nur die Freiheitssphären selbst miteinander kompatibilisiert werden, sondern es soll ebenfalls eine Kompatibilisierung des Konflikts im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen erreicht werden. Diese Herangehensweise wirkt „einem die sozialen Kollisionslagen verfremdenden Abwägungspragmatismus von Grundrechten als sozial unreflektierten Prinzipienoptimierungsgeboten“753 entgegen, indem die soziale Sphäre mitsamt ihren bereichsspezifischen Voraussetzungen miteinbezogen wird. d) Modifizierung der Form Gegen Denningers Argumentation mit der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte wendet Menke ein, dass „Werte“ und „Menschenbilder“ den strukturellen Kern seine These verfehlen, da sie keine Aussage über die soziale Form der Rechte erlauben.754 Der „sozialrechtliche Wandel“ der Rechte bringe lediglich einen weiteren möglichen Inhalt subjektiver Rechte hervor, die Funktionsweise der Form, namentlich die Ermächtigung des Eigenwillens, und das Operieren in dieser Form bleibe dabei jedoch unverändert bestehen. Der Möglichkeit des Subjekts „[n]ichtsittlich, unfrei und asozial zu wollen“755 könne das Recht nach wie vor lediglich mit „rechtsexterne[n], kulturelle[n] Ressourcen“756 begegnen. Die vorstehenden Erläuterungen zeigen indes die Effekte der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension auf die Funktionsweise des subjektiven Rechts deutlich auf. Durch sie wird ermöglicht, Grundrechte nicht schlicht als Abwehrrechte des isolierten Individuums gegen den Staat zu verstehen, sondern außerdem ihren sozialen Kontext miteinzubeziehen. Da diese Möglichkeit nicht zuletzt auch auf das be751
So auch Wielsch, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 141, 159, der hinsichtlich dieses Effekts der Eigenrationalität sozialer Sphären die hierdurch gegebenen Partizipationsmöglichkeiten des Subjekts besonders hervorhebt. 752 Kritisch zur Anerkennung der Eigenrationalität der sozialen Sphäre durch das BVerfG in der Sampling-Entscheidung vgl. Horst, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 249, 275 f. 753 Wielsch, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 141, 156; zur weitergehenden Kritik am „Abwägungspragmatismus“ vgl. Fischer-Lescano, in: Kritische Justiz 2008, 166, 166 ff. 754 Menke, in: Kritische Justiz 2018, 475, 476. 755 Menke, Kritik der Rechte, S. 252. 756 Menke, in: Kritische Justiz 2018, 475, 477.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
schriebene Menschenbild in seiner „Leitlinienfunktion“757 oder als Auslegungsmaxime, welche auf die Berücksichtigung der Gemeinschaftsbezogenheit des Subjekts hinwirkt,758 zurückzuführen ist, erscheint die Identifizierung dieses Menschenbildes mit einem wirkungslosen, rein externen Faktor als verkürzt. Aufgrund der objektiv-rechtlichen Dimension bleibt die Beschreibung des grundrechtlichen Schutzgegenstands nicht in einem rein individualistischen Muster verhaftet.759 Die objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte ähneln ihrer Struktur nach Menkes Beschreibung „[s]ittliche[r] Gehalte“: sie „sind keine Produkte von individuellen Präferenzen, sondern existieren objektiv“760. Sie bilden einen Gegenpol zu einem rein individualistischen Verständnis der abwehrrechtlichen Grundrechtsdimension und wirken dadurch der von Menke beschriebenen „Verdrängung des Sozialen“ entgegen. Das Subjekt kann sich das über diese Dimension vermittelte Soziale nicht zu eigen machen. Es wird in dieser Dimension nicht auf das Individuum reduziert,761 sondern es findet eine Abwägung zwischen mehreren Faktoren statt. Die Rechtsordnung findet damit einen anderen Weg zu operieren und auf die Pathologien, welche durch das subjektive Recht hervorgerufen werden, zu reagieren. Sie ist damit nicht auf die Gewährung subjektiver Rechte als Handlungsoption beschränkt. aa) Perspektiverweiterung Insofern ist eine Auswirkung dieser Grundrechtsdimension auf die Funktionsweise der Form der subjektiven Rechte klar erkennbar: die Normativitätsstruktur ist nicht allein von der Ermächtigung des Eigenwillens geprägt, sondern bezieht weitere Faktoren ein. Zwar kann der Bildung eines „asozialen“ Willens in direkter Weise rechtlich nichts entgegengesetzt werden, jedoch bildet dieser nicht den alleinigen Ausgangspunkt für die zu treffende Abwägungsentscheidung, sondern sozialer Kontext und soziale Auswirkungen762 der Grundrechtsausübung werden in die Beurteilung miteinbezogen. Die „normativen Zumutungen [werden] vom moralisch entlasteten Einzelnen auf die Gesetze“763 verschoben – was im Übrigen auch die Achtung der Freiheitssphäre Dritter betrifft – die objektiv-rechtliche Dimension 757
Höfling, in: Sachs GG Kommentar, Art. 1, Rn. 55. So auch Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz. Zugleich ein Beitrag zum institutionellen Verständnis der Grundrechte und zur Lehre vom Gesetzesvorbehalt, S. 46; zu den Facetten des grundgesetzlichen Menschenbilds und den Verschiedenheiten in den einzelnen Rechtsgebieten vgl. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, S. 47 ff. 759 Albers, Informationelle Selbstbestimmung, S. 46. 760 Menke, Kritik der Rechte, S. 200. 761 So aber ebd., S. 201. 762 Weiterführend hierzu Günther, in: Wachsende Staatsaufgaben – sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 51, 64 f., der das Subjekt hierdurch mit einem „System von Pflichttatbeständen […] bis in die Kerngebiete des Privatrechts hinein“ konfrontiert sieht. 763 Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, S. 110. 758
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung
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stellt jedoch ein im subjektiven Recht verankertes Instrument der Rechtsordnung dar, um die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen auch aus einem überindividuellen Blickwinkel heraus in jedem Rechtsbereich sicherzustellen. Die grundrechtliche Werteordnung strahlt auf Privatrechtsverhältnisse aus und beansprucht auch in diesem Rahmen Geltung, womit diese Rechtsverhältnisse nicht vollends der Regulierung entzogen sind, sodass auch die Vorstellung vollständig entpolitisierter sozialer Zusammenhänge764 zweifelhaft erscheint. Dahingehend wird eine von Menkes Darstellung abweichende Sachlogik des Rechts erkennbar. Die staatlichen Organe werden auf eine Auslegung der jeweiligen einfachrechtlichen Normen verpflichtet, durch die die Bedeutung des jeweiligen Grundrechts zur Geltung kommt. Diese Bedeutung ist durch die verfassungsrechtliche Grundentscheidung – die sowohl individuelle als auch überindividuelle Positionen umfasst – bestimmt. Zudem kann im Rahmen der objektiv-rechtlichen Dimension auch das überindividuelle Interesse am Schutz kollektiver Güter wie beispielsweise dem kulturellen Leben765 kumulativ als Begründung angeführt werden.766 Generell bewirkt die objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension damit eine Erweiterung der Perspektive subjektiver Rechte um überindividuelle Belange. Der Norminhalt des Grundrechts erfährt eine Erweiterung über das subjektive Recht hinaus, wodurch die grundrechtliche Wirkungsweise nicht mehr auf den Schutz individueller (Freiheits-)Rechte beschränkt ist,767 sondern die Durchsetzung der grundrechtlichen Werteordnung forciert. In dieser Hinsicht stellt die objektivrechtliche Grundrechtsdimension ein Moment der Rechtsordnung dar, welches nicht „auf individuelle Rechtsansprüche zurückführbar“768 ist. Das Potential subjektiver Rechte, welches hier sichtbar wird, wird von Menke unterschätzt: Grundrechte sind nicht auf eine berechtigende Wirkung beschränkt und dienen nicht länger allein der Abwehr staatlicher Eingriffe, sondern wirken auch auf die Umsetzung der grundrechtlichen Grundentscheidungen hin. Die Grundrechtsgehalte werden hier nicht lediglich als Verfügungsgegenstand des Subjekts in den Blick genommen, sondern auch unter Beachtung des ihnen eigenen, objektiven Wertes, den die Verfassung ihnen über das Einzelinteresse hinaus zuerkennt.769 Statt einer Berechtigung des Eigenwillens soll mit dem objektiven Grundrechtsgehalt zuvörderst dieser objektive 764
Vgl. hierzu Menke, Kritik der Rechte, S. 321 ff. Vgl. BVerfG NJW 1987, 2987, 2988 f. 766 Vgl. hierzu Alexy, in: Der Staat 1990, 49, 68; Teubner, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 357, 364. 767 Wielsch, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 141, 156. 768 So aber Menke im Gespräch mit Schmidt und Zabel, vgl. Menke/Schmidt/Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 54, 64, der hier so verstanden werden kann, dass er annimmt, dass diese Rückführbarkeit außerhalb des Strafrechts grundsätzlich stets gegeben ist. 769 Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Rn. 100; in diese Richtung auch Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts. Europäische Impulse für eine Revision der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht, S. 162 f. 765
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
Wert betont werden. „In ihrer ,objektiv-rechtlichen Dimension‘ dienen die Grundrechte nicht primär dem Schutz des je einzelnen, sondern als allgemeine Ordnungsvorschriften, deren individuelle Geltendmachung eine nachgeordnete Frage ist.“770 Im Wege einer objektiv-rechtlich wirkenden Auslegung werden diese Faktoren neben dem Eigenwillen zur Geltung gebracht, sodass eine Kollisionsauflösung erreicht werden kann, die auch im Einklang mit dem aus den verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen ableitbaren Grundkonsens steht. In einer Art Wechselspiel ermöglicht dies zugleich einen „neue[n] Blick auf [die] Individualpositionen“771, sodass auch hier ein Zusammenhang mit der Form des subjektiven Rechts erkennbar ist. Unabhängig von einer abschließenden Beantwortung der zuvor behandelten Frage der Resubjektivierung durch die Rechtsprechung hat das Subjekt hinsichtlich der objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte jedenfalls nicht das „Interpretationsmonopol“ inne, wie Menke es in Bezug auf die Grundrechte annimmt.772 Die Einzelnen haben keinen Einfluss auf die Deutung der objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte, da die Deutungshoheit diesbezüglich mehr noch als bezüglich der subjektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte den staatlichen Organen obliegt. Zudem kann anders als bei der abwehrrechtlichen Dimension keine eindeutig bestimmbare Rechtsfolge ausgemacht werden.773 Der objektiv-rechtliche Gehalt774 stellt eine eigene Normativität dar, welche sich das Subjekt nicht aneignen kann und die nicht in Menkes Sinne „natürlich“ ist. Kontrastiert mit Menkes Rekonstruktion ergibt sich, dass es sich dabei folglich nicht um die Legalisierung des Natürlichen als etwas den Grundrechten Vorgegebenes handeln kann. bb) Der objektiv-rechtliche Gehalt als Bestandteil der Form des subjektiven Rechts? Hiergegen könnte nun eingewandt werden, dass es sich bei den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten in Wirklichkeit nicht um eine Ausprägung der Form des subjektiven Rechts handelt, sondern lediglich um die objektive Grundlage des subjektiven Rechts.775
770
Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts. Europäische Impulse für eine Revision der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht, S. 163. 771 Albers, Informationelle Selbstbestimmung, S. 51. 772 Menke, Kritik der Rechte, S. 239. 773 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/1: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 69 VI, S. 990 f. 774 Oder ggf. der Gegenstand der Berechtigung, sofern man anders als hier die Resubjektivierungsthese für alle Ausprägungen der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension bejahen wollte. 775 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/1: Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 69 II, S. 908 f.; Albers, Informationelle Selbstbestimmung, S. 40.
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung
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Zweifellos stellt ein subjektives Recht rechtslogisch stets das Produkt einer objektiven Norm dar. Allerdings muss in diesem Zusammenhang die „Doppelqualifizierung“ der Grundrechte betont werden.776 Der objektiv-rechtliche Gehalt steht neben dem subjektiv-rechtlichen Gehalt auf dem Fundament einer objektiven Norm. Es handelt sich um eine zusätzliche „Bedeutungsschicht“ der Grundrechte, die daraus resultiert, dass ein Verständnis der Grundrechte ausschließlich als Gewährleistung individueller Freiheit für „unzureichend“ und dem „Anspruch der Grundrechte unangemessen“ befunden wurde.777 Es geht um eine Erweiterung der Grundrechtswirkungen durch „eine neue dogmatische Figur, deren Begründung […] außerhalb der Kategorien von subjektivem und objektivem Recht zu suchen ist“.778 Bei der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension handelt es sich folglich nicht lediglich um einen zusätzlichen möglichen Inhalt des subjektiven Rechts oder einen „rechtsexternen“779 Faktor, der auf die Form der subjektiven Rechte keinen Einfluss hat, sondern vielmehr um einen Bestandteil dieser Form, der ihre abwehrrechtliche Funktionsweise erweitert und die Form dahingehend modifiziert. Die objektivrechtliche Funktion der Grundrechte tritt neben die von Menke angenommenen Performanzen der Ermöglichung und Erlaubnis780. Hier zeigt sich das Potential, das der Form des subjektiven Rechts auf Ebene der dogmatisch geformten Rechtsanwendung innewohnt: Die „Wurzel“ der objektiv-rechtlichen Dimension liegt in der primären Bedeutung als individuelles Recht781 und ein Rückbezug auf die subjektive Berechtigung bleibt stets erhalten, dennoch wird eine überindividuelle Wirkungsweise ermöglicht und befördert. Obwohl es sich nach wie vor um die Form des subjektiven Rechts handelt, geht die Funktionsweise hierbei über das Wollen der Einzelnen hinaus.782
5. Ergebnis Im ersten Teil der Beschäftigung mit der grundrechtlichen Dogmatik, der sich auf die Beschränkungssystematik bezog, konnte zunächst hinsichtlich der Schutzbereichsebene eine mit Menkes Rekonstruktion übereinstimmende Grundtendenz festgestellt werden. Zwar wird die Freiheitssphäre des Subjekts durch die Schutzbereichsausgestaltung zu einem gewissen Grad vorgezeichnet, sodass Normativität hier insofern nicht völlig undifferenziert aus dem Natürlichen oder Faktischen ge776
Böckenförde, in: Der Staat 1990, 1, Anm. 5, Fn. 12. Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts. Europäische Impulse für eine Revision der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht, S. 160. 778 Ebd., S. 162. 779 Menke, in: Kritische Justiz 2018, 475, 477. 780 Vgl. bei Menke, Kritik der Rechte, S. 89 ff. 781 BVerfG NJW 1979, 699, 702. 782 Anders jedoch Menke, Kritik der Rechte, S. 235 ff. 777
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
neriert wird.783 Dennoch liegt ihr der Gedanke zugrunde, menschliche Verhaltensweisen möglichst umfassend dem grundrechtlichen Schutz zu unterstellen, worunter grundsätzlich die von Menke proklamierte Legalisierung des Natürlichen verstanden werden kann. Wenn auch Ansätze einer Durchbrechung dieser Grundausrichtung insbesondere in der Normgeprägtheit eines Grundrechts erblickt werden können, da nicht jede Ausprägung des natürlichen Eigenwillens umstandslos als schützenswertes Gut zum subjektiv-rechtlichen Gewährleistungsgehalt gezählt wird, kann aus der Dogmatik der Schutzbereiche kein systematisches Gegenargument zu Menkes Kritik abgeleitet werden. Während Menkes Betrachtung bei der Ebene des Schutzbereichs als potentiellem Berechtigungsumfang subjektiver (Grund-)Rechte stehen zu bleiben scheint, wurde vorliegend die Einschränkbarkeit der Grundrechte in die Betrachtung miteinbezogen, um sich einer zutreffenden Abbildung der rechtsdogmatisch geprägten Rechtsrealität anzunähern. Hier zeigte sich, dass vor allem Menkes Annahme, lediglich konfligierende Rechte Dritter stellten eine taugliche Schranke subjektiver (Grund-)Rechte dar, nicht durchzuhalten ist. Insbesondere mit Blick auf die Konstellation unechter Grundrechtskollisionen konnte gezeigt werden, dass überindividuelle Rechtsgüter von Verfassungsrang gleichwohl eine solche Beschränkung zu bewirken imstande sind und dem durch das subjektive Recht berechtigten Einzelinteresse darüber hinaus nicht systematisch der Vorrang eingeräumt wird. Dies legte den Schluss nah, dass die dem bürgerlichen Recht von Menke zugeschriebene Sachlogik keine abschließende Beschreibung der tatsächlichen Verhältnisse darstellt. Dieser Schluss wurde zusätzlich durch eine Betrachtung der legitimen Zwecke staatlichen Handelns bekräftigt, da sich diese ebenfalls nicht auf den Schutz individueller Rechtsgüter begrenzen lassen. Hinsichtlich derjenigen Konstellation, die Menke in seiner Rekonstruktion vor Augen hatte, namentlich die einer echten Grundrechtskollision, wurde zunächst deutlich, dass Menkes Darstellung keine Aussage darüber beinhaltet, anhand welchen Maßstabes die Entscheidung über die quantitative Beschränkung konfligierender subjektiver Rechte vollzogen wird. Aus der Beschäftigung mit dem grundrechtsdogmatischen Kollisionsauflösungsmechanismus der Abwägung konnte diesbezüglich abgeleitet werden, dass die Bewertung der jeweiligen Grundrechtsausübung eine Voraussetzung dieses Entscheidungsprozesses darstellt. Dies gilt zum einen vor allem für die von Menke behandelte Konstellation, in der mit Blick auf die Gleichheit eine Anpassung der kollidierenden Rechtspositionen erfolgen soll, zum anderen jedoch auch für die Gegenüberstellung subjektiver Rechtspositionen mit überindividuellen Zwecken. Die Bewertung der Grundrechtsausübung bildet demnach nicht den Grund dafür, dass der Eigenwille grundsätzlich eine Berechtigung erfährt,784 aber sie bildet einen Grund für die Abwägungsentscheidung darüber, wie 783 Vgl. hierzu Menke/Schmidt/Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 54, 63; dazu auch Menke, Kritik der Rechte, S. 101 f. 784 In diesem Sinne auch Menke, Kritik der Rechte, S. 203.
III. Öffentliches Recht: Grundrechtsdogmatische Betrachtung
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weit die rechtliche Anerkennung der Berechtigung unter den Vorzeichen der praktischen Konkordanz im konkreten Kollisionsfall reichen soll. Dieses abwägungsbedingte Bewertungserfordernis – welches wie gezeigt im Ergebnis auch durch die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG keine Relativierung erfährt – steht Menkes These von einer unhinterfragten Positivierung des Eigenwillens entgegen. Anhand der Meinungsfreiheit, Art. 5 I 1 Hs. 1 GG, zeigte sich, dass sich diese Bewertung auf der Rechtsanwendungsebene beispielsweise auf den mit der Grundrechtsausübung verfolgten Zweck beziehen kann und unter Umständen eine Privilegierung zur Folge hat. Einer geschützten Meinungskundgabe wird in der Regel dann der Vorrang eingeräumt, wenn sie keine privatnützigen Belange forciert und insbesondere einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung darstellen will. Folglich können überindividuelle Interessen nicht nur als legitime Beschränkung subjektiver Einzelrechte fungieren, sondern ebenfalls als eine Art höheres Ziel ihre Durchsetzung fördern. Die öffentliche Bedeutung eines solchen politischen Rechts bedingt insofern einen genuinen, spezifischen Schutz. Dieser mit der demokratischfunktionalen Grundrechtstheorie verknüpfte Wesenszug der Grundrechte entgeht Menke, da sich seine Rekonstruktion nach hier vertretener Ansicht lediglich hinsichtlich der liberalen und der sozialstaatlichen Grundrechtstheorie als anschlussfähig erweist. Am Beispiel der Meinungsfreiheit werden die Implikationen, die mit der demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie als Instrument zur interpretativen Konkretisierung der Grundrechte einhergehen, offenbar. Die Außerachtlassung der aus den verschiedenen Grundrechtstheorien resultierenden Multifunktionalität der Grundrechte führt zu einer Verkennung einiger ihrer grundlegenden Kennzeichen. Eines dieser grundlegenden Kennzeichen, dessen theoretischen Ursprung die Werttheorie bildet,785 stellt die objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension dar, welche den Gegenstand des zweiten Teils der vorliegenden grundrechtsdogmatischen Befassung bildete. In der durch sie bedingten Erweiterung der Wirkungsdimension der Grundrechte um eine objektive Werteordnung zeigte sich ein Widerspruch zu Menkes Formbestimmung der subjektiven Rechte. Um aus der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension allerdings ein stichhaltiges Argument gegen die von Menke angenommene Sachlogik des Rechts ableiten zu können, muss zwischen ihren verschiedenen Wirkmechanismen differenziert werden. Diese Erkenntnis ergab sich aus der Beschäftigung mit Denningers Kommentar zu Menkes Kritik der Rechte,786 in der in erster Linie die Etablierung subjektiver Teilhaberechte als Ausprägung der objektiv-rechtlichen Dimension gegen Menkes Rekonstruktion angeführt wurde. Aufgrund der Struktur dieses Wirkmechanismus‘ konnte Menkes Erwiderung hierauf,787 derzufolge die Etablierung sozialer Rechte gleichwohl in die Aporie der Verfassungskrise führt, zugestimmt werden. Unter Verweis auf die hiervon zu unterscheidende Ausprägung der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension – na785 786 787
Rennert, in: Der Staat 2014, 31, 50. Denninger, in: Kritische Justiz 2018, 316, 316 ff. Menke, in: Kritische Justiz 2018, 475, 475 ff.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
mentlich die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte – konnte jedoch gezeigt werden, dass die objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension dennoch als Argument gegen Menke herangezogen werden kann. Zurückzuführen ist diese Annahme auf den Auslegungsprozess, der die Ausstrahlungswirkung auf instrumenteller Ebene kennzeichnet und dem ein objektiv-rechtlich wirkender Mechanismus attestiert werden konnte. Dem Recht wird mit der Ausstrahlungswirkung folglich eine Alternative zu dem subjektiv-berechtigend wirkenden Reaktionsmuster eröffnet. Im Zentrum steht nicht die Etablierung weiterer subjektiver Rechte, sondern die objektiv-rechtlich wirkende Auslegung einfach-rechtlicher Normen, wodurch das Münden in die Aporie der Verfassungskrise vermieden wird. Vor dem Hintergrund, dass der Staat zur Konfliktlösung an dieser Stelle nicht auf das Handlungsinstrument der Schaffung subjektiver Rechte begrenzt ist, konnte die Annahme einer Vermehrung von autonomen Sphären, die dem staatlichen Zugriff vollends entzogen sind, relativiert werden. Die gegenständliche Dimension bewirkt, dass dem Staat gerade aufgrund der subjektiven (Grund-)Rechte eine Einwirkungskompetenz zuerkannt wird. Die hinter der objektiv-rechtlichen Dimension stehende normative Motivation kann somit nicht vorrangig in der Ermächtigung des natürlichen Eigenwillens erblickt werden, denn im Wesentlichen dient die objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension dem primär überindividuellen Interesse der Durchsetzung der grundrechtlichen Werteordnung in allen Rechtsbereichen. Berechtigung erfährt somit neben dem individuellen Eigenwillen auch dieses überindividuelle Konzept. Weiterhin konnten aus der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension Rückschlüsse hinsichtlich der von Menke angenommenen Struktur des Selbstreflexionsprozesses gezogen werden. Vor dem Hintergrund, dass die gegenständliche Dimension auf der dogmatisch geprägten Rechtsanwendungsebene den Blick für den kontextuellen Rahmen der Rechtsausübung öffnet, kann von einer unhinterfragten Positivierung des isolierten Eigenwillens nicht ausgegangen werden. Die erweiterte Funktionsweise der Grundrechte bewirkt vielmehr, dass sowohl die jeweilige soziale Sphäre, als auch deren Eigenrationalität Berücksichtigung erfahren. Hierin spiegelt sich das grundgesetzliche Menschenbild wider, welches von einem in die Gemeinschaft eingebetteten Rechtssubjekt ausgeht, sodass dessen Bewandtnis über die eines rein rechtsexternen Faktors hinausgeht. Die soziale Einbettung des Individuums wird so zu einem relevanten Faktor in der Normativitätsstruktur des subjektiven Rechts, die demzufolge mit der Maxime der Ermächtigung der Einzelnen nicht abschließend beschrieben werden kann. Die objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension bricht insofern die aus einem auf die abwehrrechtliche Funktion beschränkten Grundrechtsverständnis resultierende Verhaftung in einem rein individualistischen Muster auf und erweitert die Perspektive um überindividuelle Belange. Hierdurch werden die Grundrechte nicht allein als Verfügungsobjekt der Rechtsinhaberin betrachtet, sondern sie werden darüber hinaus unter dem Aspekt des ihnen von der Verfassung zuerkannten ob-
IV. Separate Betrachtung der Form
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jektiven Wertes in den Blick genommen. Diese Objektivität und die damit einhergehende Perspektiverweiterung auf der Rechtsanwendungsebene bedingen zudem, dass das Rechtssubjekt sich diesen Bestandteil der Grundrechte nicht aufgrund individueller Präferenzen aneignen kann. Die objektiv-rechtliche Funktion tritt damit als zusätzliche „Bedeutungsschicht“788 der subjektiven Grundrechte neben die von Menke angenommenen Performanzen der Ermöglichung und Erlaubnis. Wenn auch ein Rückbezug auf die subjektive Berechtigung stets bestehen bleibt, handelt es sich um eine „Doppelqualifizierung“789 der Grundrechte, sodass diese erweiterte Funktionsweise bei der Formbestimmung der subjektiven Rechte nicht außer Acht gelassen werden darf. Die Multidimensionalität der Grundrechte, welche unter Einbeziehung der dogmatisch geprägten Rechtsanwendungsebene sichtbar wird, sprengt die engen Grenzen, die Menke den subjektiven Rechten mit seiner Formbestimmung setzt.
IV. Separate Betrachtung der Form Bis hierher war die Beschäftigung mit Menkes Kritik an der Form subjektiver Rechte überwiegend von den Implikationen, die von dem Zusammenspiel eben jener Form mit dem objektiven Recht ausgehen, geprägt. Die exemplarische Heranziehung verschiedener objektiv-rechtlicher Normen und dogmatischer Figuren konnte die für ein umfassendes Verständnis der Funktionsweise subjektiver Rechte nicht zu unterschätzende Bedeutung der Einbettung in eine Gesamtrechtsordnung aufzeigen. Diese Erkenntnisse, die aus den Wechselwirkungen zwischen objektivem und subjektivem Recht auf der dogmatisch geprägten Rechtsanwendungsebene für die Frage nach der Normativitätsstruktur der subjektiven Rechtsform gewonnen werden konnten, zeigen die Notwendigkeit der Einbeziehung dieser Ebene auf. Auch wenn daher vor diesem Hintergrund Zweifel an der Aussagekraft einer isolierten Formbetrachtung bestehen, darf gleichwohl nicht versäumt werden, die Thesen der Kritik der Rechte ebenso auf der von Menke betrachteten Ebene zu untersuchen. Die Einbeziehung dieser Ebene ist von entscheidender Bedeutung für die Beurteilung von Menkes These, da sie speziell seine Formanalyse in den Blick nimmt. Andernfalls könnten die bisherigen Erkenntnisse gleichsam lediglich als eine Folge der von Menke im Übrigen zutreffend dargestellten Mängel der Form interpretiert werden. Eine solche Deutung würde implizieren, dass die im Zusammenwirken mit dem objektiven Recht aufgezeigten Begrenzungen des Eigenwillens nur deshalb etabliert wurden, weil die Form des subjektiven Rechts tatsächlich die von Menke beschriebenen Defizite aufweist, sodass externe Begrenzungen des Eigenwillens wie beispielsweise § 138 I BGB schlicht als eine Reaktion hierauf zu ver788 Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts. Europäische Impulse für eine Revision der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht, S. 160. 789 Böckenförde, in: Der Staat 1990, 1, Anm. 5, Fn. 12.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
stehen wären. Es stellt sich folglich die Frage, ob die zuvor dargestellten Aspekte der Rechtsidee und der rechtlichen Sachlogik im Hinblick auf subjektive Rechte erst auf Ebene der Rechtsanwendung hinzutreten oder ob sie möglicherweise bereits in der Dimension der Form des subjektiven Rechts wirksam werden. Sofern es sich um rein externe Faktoren handeln würde, die auf die Form des subjektiven Rechts lediglich von außen einwirken, bliebe diese Form im Wesentlichen unangetastet, was vermuten ließe, dass Menkes Formanalyse zwar ergänzungsbedürftig, aber dennoch aus der gewählten Perspektive heraus zutreffend wäre. Sollten die aufgezeigten Einschränkungen des Eigenwillens demgegenüber forminhärente Faktoren bilden, so würde Menkes Formanalyse umfassenderen Zweifeln begegnen. Die folgende Betrachtung nimmt daher diejenige Perspektive ein, die Menke originär für seine Rekonstruktion gewählt hatte, womit der Versuch unternommen wird, die Form der subjektiven Rechte separat – das heißt soweit möglich unter Abstraktion von ihrer Einbettung in die Gesamtrechtsordnung – zu betrachten und hieraus Rückschlüsse auf ihre Funktionsweise zu ziehen.
1. Das relative Recht als Schablone Bei einer entsprechend abstrakten Betrachtung der Form des subjektiven Rechts rückt aus rechtsdogmatischer Perspektive die Unterscheidung zwischen relativen und absoluten Rechten als „einzig wirklich grundlegende[r] Strukturgegensatz innerhalb der subjektiven Rechte“790 in den Blick. Während absolute Rechte gegenüber sämtlichen Personen gelten, beschränkt sich die Bindungswirkung relativer Rechte auf individuelle Personenbeziehungen.791 Rein vertragliche Ansprüche stellen zwar gerade nicht das Spezifikum des modernen Rechts dar, anhand dessen sich Menkes Kritik formiert, allerdings erschöpfen sich relative Rechte hierin nicht. Relative Rechte gehen über Rechtspositionen, welche originär aus einer vertraglichen Bindung resultieren, wie etwa einen Kaufpreisanspruch, hinaus und erfassen ebenso beispielsweise die Gruppe der Gestaltungsrechte.792 Man denke hierbei an Rücktrittsoder Widerrufsrechte, die ihren Ursprung in gesetzlichen Regelungen finden, vgl. exemplarisch §§ 323 I, 355 I BGB, und insofern nicht dem Vertrag selbst entspringen. Wie zuvor erläutert, steht hinter Regelungen dieser Art zumeist der Gedanke der Herstellung einer Vertragsparität,793 womit Gestaltungsrechte grundsätzlich ein Beispiel für die von Menke beschriebene Handlungslogik des Rechts bilden. Das Recht gewährt der Einzelnen ein Gestaltungsrecht, um auf die Patho790
Bucher, Das subjektive Recht als Normsetzungsbefugnis, S. 131. Ebd., S. 134. 792 Weiterführend zur Struktur verschiedener Arten relativer Rechte vgl. Larenz, in: Beiträge zur europäischen Rechtsgeschichte und zum geltenden Zivilrecht. Festgabe für Johannes Sontis, 129, 141 ff. 793 Vgl. S. 123 ff. der vorliegenden Arbeit; exemplarisch für § 355 BGB vgl. außerdem Mo¨ rsdorf, in: beck- online. Grosskommentar zum Zivilrecht, § 355, Rn. 3. 791
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logien, welche die subjektiven Rechte verursachen, zu reagieren und bleibt so der Individualisierungslogik verhaftet.794 Fraglich ist jedoch, ob das als Reaktion etablierte subjektive Recht zwangsläufig exakt dieselbe Struktur wie dasjenige subjektive Recht, auf dessen Patholgien es reagiert, aufweisen muss. Gestaltungsrechte weisen die Besonderheit auf, dass sowohl ihr Innehaben als auch ihre Ausübung an verschiedene Voraussetzungen geknüpft sind. Über ein gesetzliches Widerrufsrecht verfügt das Subjekt nur dann, wenn auf tatsächlicher Ebene gewisse Gegebenheiten vorliegen. So muss es sich bei dem zugrundeliegenden Rechtsverhältnis im Falle von §§ 312 g I BGB i. V. m. § 355 I BGB etwa um einen Fernabsatzvertrag handeln. Hinsichtlich der Ausübung des Widerrufsrechts sind ferner Erklärungs-, Form- und Fristerfordernisse als Ordnungsrahmen zu beachten. Dem Subjekt wird ein solches Gestaltungsrecht folglich lediglich bedingt zuerkannt. Wenn auch im Falle des § 355 I BGB kein Begründungserfordernis besteht, vgl. Abs. 1 S. 4, so ist das Subjekt jedoch hinsichtlich seiner Entscheidung über das „Wie“ der Rechtsausübung nicht gänzlich frei.795 Hinzu tritt der Umstand, dass der über ein gesetzliches Gestaltungsrecht vermittelte Gewährleistungsgehalt von vornherein determiniert ist und diese Determinierung sich an einer übergeordneten rechtlichen Zielvorstellung orientiert. Dabei geht es zum Teil um den Schutz öffentlicher Interessen796 und vor allem um das Ziel der Herstellung von Gleichheit und der Vermeidung potentieller Störungen des Willensbildungsprozesses.797 Allerdings bezieht sich diese Zielsetzung nicht auf einen bestimmten, individuellen Willen, sondern es wird vom Einzelfall abstrahiert und eine objektive Sollensvorstellung entwickelt. Dies zeigt sich daran, dass die zugrundeliegende Bewertung auf schematische Art und Weise vollzogen wird, indem eine „typisierte Betrachtungsweise auf Grundlage bestimmter persönlicher und sachlicher Kriterien“798 stattfindet. Diese Objektivierung hat etwa zur Folge, dass rollenspezifisch eine strukturelle Unterlegenheit der Verbraucherin gegenüber der Unternehmerin angenommen wird. Da folglich eine solche abstrakte, übergeordnete Sollensvorstellung den Ausganspunkt bildet, ermächtigt ein entsprechendes Gestaltungsrecht das Subjekt zu objektiv-rechtlich Vorgegebenem und zeichnet so die Geltung eines potentiellen Eigenwillens vor. Es ist demnach auch nicht der Eigenwille, der hierdurch legalisiert wird, sondern vielmehr jene abstrakte Vorstellung von einem ausgeglichenen Vertragsverhältnis. Der Eigenwille des Subjekts kann hier insofern lediglich bezüglich des „Obs“ der Rechtsausübung realisiert werden, da sich bei „gesetzlichen Ansprüchen […] der Inhalt des Rechts allein nach der objektiven Rechtsordnung [be794 Vgl. Menke, Kritik der Rechte, S. 247 f.; Menke, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2016, 71, 75. 795 So jedoch Menke, Kritik der Rechte, S. 257. 796 Hellgardt, Regulierung und Privatrecht: staatliche Verhaltenssteuerung mittels Privatrecht und ihre Bedeutung für Rechtswissenschaft, Gesetzgebung und Rechtsanwendung, S. 461. 797 Mo¨ rsdorf, in: beck- online. Grosskommentar zum Zivilrecht, § 355, Rn. 3. 798 Ebd., Rn. 3.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
stimmt]“799. Die objektivierten normativen Prinzipien, die in relativen Rechten wie den gesetzlichen Gestaltungsrechten wirksam werden, stehen damit in einem Spannungsverhältnis zu der von Menke angenommenen absoluten und unhinterfragten Positivierung des natürlichen Eigenwillens. Der Grund für die Etablierung eines solchen Gestaltungsrechts erschöpft sich nicht im Willen des Subjekts.800 Das relative Recht wirkt wie eine Art Schablone, die die Geltung des Eigenwillens vorzeichnet und einer schlichten Legalisierung des Natürlichen damit entgegensteht. Wenn auch hier keine Tugend- oder Sittlichkeitsideale zur Legitimierung herangezogen werden, weist die Figur der relativen Rechte so betrachtet auf struktureller Ebene dennoch Parallelen zu den von Menke beschriebenen traditionellen Rechtsordnungen auf, in denen die „gerechte Ordnung“ die Grundlage des Anspruchs bildet,801 wobei in diesem System eine individuelle Gestaltungsmacht selbstredend nicht denkbar802 wäre. Dasjenige subjektive Recht, welches als Reaktion auf subjektiv-rechtlich verursachte Pathologien etabliert wird, kann folglich auf struktureller Ebene von diesem differieren. Auf den Grundgedanken reduziert, bedeutet dies mit anderen Worten: Dem pathologieauslösenden subjektiven Recht der Privatautonomie wird ein Widerrufsrecht gegenübergestellt, welches selbst zwar wiederum der Sicherung der Privatautonomie dient, dabei instrumentell jedoch nicht auf ein gleichsam ungebundenes Recht setzt, sondern auf ein relatives subjektives Recht, welches die beschriebene schablonenartige Wirkung aufweist. Die Existenz entsprechender relativer Rechte zeigt zudem auf, dass das Modell solcher schablonenartiger subjektiver Rechte mit der Sachlogik der geltenden Rechtsordnung vereinbar ist. Dieser objektiv-rechtlich bestimmte Gewährleistungsgehalt, die grundsätzlich nur bedingte Zuerkennung und die Bindungswirkung inter-partes können als Hinweise darauf gewertet werden, dass Menkes Formbestimmung auf relative Rechte nicht ohne Weiteres übertragen werden kann. Das Bestehen der Möglichkeit, eine generelle Aussage über die subjektiven Rechte treffen zu können, unterliegt insofern berechtigten Zweifeln.803 Aus rechtsdogmatischer Sicht wäre jedenfalls eine Differenzierung zwischen den Kategorien absoluter und relativer Rechte angezeigt.
799 Hellgardt, Regulierung und Privatrecht: staatliche Verhaltenssteuerung mittels Privatrecht und ihre Bedeutung für Rechtswissenschaft, Gesetzgebung und Rechtsanwendung, S. 373. 800 Vgl. hierzu Menke, Kritik der Rechte, S. 249. 801 Vgl. ebd., S. 90. 802 Vgl. hierzu Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, S. 29 f. 803 Vgl. hierzu auch Kasper, Das subjektive Recht: Begriffsbildung und Bedeutungsmehrheit, S. 157 ff. u. 177 f.
IV. Separate Betrachtung der Form
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2. Immanente Grenzen: Innen- und Außentheorie Eine der hauptsächlichen Fragen, denen in der vorliegenden Bearbeitung im Hinblick auf Menkes Rekonstruktion nachgegangen wird, stellt die Struktur der Beschränkung subjektiver Rechte dar. Während Menke aufgrund der von ihm angenommenen Normativitätsstruktur der Rechtsordnung davon ausgeht, dass als Beschränkung subjektiver Rechte ausschließlich subjektive Rechte anderer Rechtssubjekte in Betracht kommen, konnte mit Blick auf die Einbettung der Form des subjektiven Rechts in die Gesamtrechtsordnung gezeigt werden, dass die Normativitätsstruktur der Rechtsordnung Raum für Beschränkungen über diese Gleichheitsprämisse hinaus eröffnet. Vor dem Hintergrund der Frage nach einer möglichen Formimmanenz jener Beschränkungen bietet sich in der separaten Formbetrachtung nun die Auseinandersetzung mit dem Theorienstreit zwischen Innen- und Außentheorie an. Dieser betrifft die Frage immanenter Grenzen subjektiver Rechte und lädt daher zu einer Kontrastierung mit Menkes Rekonstruktion ein. a) Theoretischer und historischer Hintergrund Die Innentheorie geht maßgeblich auf Wolfgang Siebert, einem der führenden Juristen im Nationalsozialismus und Mitglied der „Kieler Schule“804, zurück, der damit den Versuch unternahm, Otto von Gierkes Lehre vom Sozialrecht fortzuschreiben.805 Der grundlegendste Unterschied zwischen Innen- und Außentheorie besteht darin, dass der Außentheorie zufolge zwei rechtliche Gegenstände existieren, während das subjektive Recht nach der Innentheorie eine Einheit mit seinen Grenzen bildet. Die Außentheorie unterscheidet zwischen dem prima facie-Recht einerseits und dessen Schranken andererseits. Erst nach einem wirksamen Schrankenvollzug entsteht das gerichtlich durchsetzbare, definitive Recht.806 Der endgültige Rechtsinhalt ergibt sich aus der Verbindung mit den jeweiligen Schranken, die von außen an das Recht herantreten.807 Demgegenüber werden subjektive Rechte der Innentheorie zufolge von vornherein nur in den ihnen eigenen Grenzen gewährt, sodass es sich hier im Gegensatz zu einem außentheoretischen Verständnis bei der Berechtigung und der Beschränkung um nur einen Gegenstand handelt. Die Grenzen des Rechts werden als dem Recht immanent verstanden, selbst wenn sie in eigenen Rechtssätzen geregelt 804 Haferkamp, Bemerkungen zur deutschen Privatrechtswissenschaft zwischen 1925 und 1935 – dargestellt an der Debatte um die Behandlung der exeptio doli generalis, 01. 07. 1997, in: forum historiae iuris, Rn. 48. 805 Fezer, Teilhabe und Verantwortung. Die personale Funktionsweise des subjektiven Privatrechts, S. 308; siehe weiterführend auch Eichenhofer, Rechtsmissbrauch. Zu Geschichte und Theorie einer Figur des Europäischen Privatrechts, S. 130 ff. 806 Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 66 f. 807 Ebd., S. 33.
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sind.808 Eine Beschränkung in dem Sinne, dass ein Teil, der zunächst zum Recht dazu zählte, in einem nächsten Schritt entfernt wird, findet demnach nicht statt.809 Siebert prägte die Formulierung „Handeln ohne Recht“810, wodurch die Annahme beschrieben wird, dass im Falle der Kollision von subjektivem Recht und beispielsweise dem Grundsatz von Treu und Glauben nicht die Rechtsausübung an sich unzulässig werde, sondern, dass in einem solchen Fall bereits das Bestehen des Rechts zu verneinen sei.811 Der Prozess der Rechtsanwendung zielt innentheoretisch verstanden darauf, „den scheinbaren Rechtsinhalt daraufhin zu überprüfen, ob er auch wahren Rechtsinhalt darstellt“812. Kritische Stimmen wenden daher gegenüber der Innentheorie ein, dass sich ihre Anwendung negativ auf die Maxime der Rechtssicherheit, Art. 20 III GG, auswirken könne.813 Die Außentheorie trage zu mehr Klarheit bei, da sich die Gesetzgebung aktiv zu einer Beschränkung subjektiver Rechte bekennen müsse.814 Zudem wird die Innentheorie vereinzelt hinsichtlich ihrer Ideologie- und Missbrauchsanfälligkeit kritisiert,815 die insbesondere anhand von Sieberts Ausführungen ersichtlich werden. Sieberts Strategie bestand darin, Generalklauseln wie die §§ 226, 242, 826 BGB entsprechend der nationalsozialistischen Doktrin auszufüllen und diese sodann als immanente Schranken in das subjektive Recht zu implementieren.816 „Für die heute herrschende Volksauffassung kann es nun keinem Zweifel unterliegen, […] daß an das Verhalten der Rechtsgenossen insbesondere diejenigen Anforderungen zu stellen sind, die die nationalsozialistische Ethik des Gemeinschaftsgedankens erfordert.“817
Hierdurch sollte eine Übereinstimmung des Privatrechts mit der „völkischen Gemeinschaftsordnung“ erreicht werden, in der der „Grundsatz, daß Gemeinnutz vor 808
Eichenhofer, Rechtsmissbrauch. Zu Geschichte und Theorie einer Figur des Europäischen Privatrechts, S. 129. 809 Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 68 f. 810 Vgl. Siebert, Verwirkung und Unzulässigkeit der Rechtsausübung. Ein rechtsvergleichender Beitrag zur Lehre von den Schranken der privaten Rechte und zur exceptio doli (§§ 226, 242, 826 BGB), unter besonderer Berücksichtigung des gewerblichen Rechtsschutzes (§ 1 UWG), S. 90 u. 97 f. 811 Kuntz, Gestaltung von Kapitalgesellschaften zwischen Freiheit und Zwang. Venture Capital in Deutschland und den USA, S. 234. 812 Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 69. 813 Schnelle, Freiheitsmissbrauch und Grundrechtsverwirkung. Versuch einer Neubestimmung von Artikel 18 GG, S. 153. 814 Stütze, Die Kontrolle der Entgelthöhe im Arbeitsrecht: Zugleich ein Beitrag zu den Grundlagen und Grenzen der Vertragsfreiheit und Tarifautonomie, Anm. S. 77, Fn. 5. 815 Mansel, in: Jauernig. Bu¨ rgerliches Gesetzbuch, § 242, Rn. 33; Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 20, Rn. 69 f.; Meder, in: Kritische Justiz 2019, 528, 536 ff. 816 Vgl. Siebert, Verwirkung und Unzulässigkeit der Rechtsausübung. Ein rechtsvergleichender Beitrag zur Lehre von den Schranken der privaten Rechte und zur exceptio doli (§§ 226, 242, 826 BGB), unter besonderer Berücksichtigung des gewerblichen Rechtsschutzes (§ 1 UWG), S. 91, 104, 118 f., 132 u. passim. 817 Ebd., S. 114.
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Eigennutz gehen solle“818 gilt. Sieberts Ansatz mündet demnach letztlich in die Auflösung des subjektiven Rechts819 und fügt sich damit in die im NS vorherrschende Deutung subjektiv individueller Rechte als „Ordnungsprinzipien für die Gemeinschaft“820 ein.821 In der Rechtswissenschaft nach 1945 wurde Sieberts Konzeption der Innentheorie unter Abkehr von der zugrundeliegenden nationalsozialistischen Ideologie beibehalten.822 Als Argument hierfür streitet, dass der innentheoretische Ansatz der paradoxen Vorstellung von einem „unbeschränkten, aber zugleich beschränkten Recht“823 – einer Rechtsposition also, die dem Subjekt zwar eingeräumt wird, welche jedoch im Nachhinein wieder begrenzt werden kann824 – entgegentritt. Unter Zugrundelegung des außentheoretischen Verständnisses müsste namentlich von einem Recht ausgegangen werden, das zwar besteht, aber nicht geltend gemacht werden kann.825 Damit fehlte es ihm an dem entscheidenden Merkmal der Durchsetzbarkeit, was es zu einem „paradoxe[n] Recht“826 machte. Der Gedanke immanenter Grenzen subjektiver Rechte findet sich bereits in den Protokollen der zweiten Kommission zum BGB. Hinsichtlich der gesetzlichen Feststellung des Umfangs eines Rechts, wie beispielsweise des Eigentums, heißt es dort: „[es] werde […] möglich sein, bei der Bestimmung des Inhaltes die Grundsätze der guten Sitten, und, was meistens we-
818
Ebd., S. 132. Fezer, Teilhabe und Verantwortung. Die personale Funktionsweise des subjektiven Privatrechts, S. 309. 820 Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 95; ähnlich auch Haferkamp, Bemerkungen zur deutschen Privatrechtswissenschaft zwischen 1925 und 1935 – dargestellt an der Debatte um die Behandlung der exeptio doli generalis, 01. 07. 1997, in: forum historiae iuris Rn. 56; vgl. weiterführend zur Gliedstellung des Subjekts im Nationalsozialismus außerdem Pauly, in: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa Band I. Entwicklung und Grundlagen, § 14, Rn. 21 ff. 821 Vgl. hierzu auch Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, S. 345 ff. 822 Haferkamp, Bemerkungen zur deutschen Privatrechtswissenschaft zwischen 1925 und 1935 – dargestellt an der Debatte um die Behandlung der exeptio doli generalis, 01. 07. 1997, in: forum historiae iuris Rn. 50; Schubert in: Münchener Kommentar zum BGB Bd. 2, § 242, Rn. 205. 823 Guski, Rechtsmissbrauch als Paradoxie. Negative Selbstreferenz und widersprüchliches Handeln im Recht, S. 89. 824 Meder, in: Kritische Justiz 2019, 528, 537; so auch Siebert, Verwirkung und Unzulässigkeit der Rechtsausübung. Ein rechtsvergleichender Beitrag zur Lehre von den Schranken der privaten Rechte und zur exceptio doli (§§ 226, 242, 826 BGB), unter besonderer Berücksichtigung des gewerblichen Rechtsschutzes (§ 1 UWG), S. 88. 825 Eichenhofer, Rechtsmissbrauch. Zu Geschichte und Theorie einer Figur des Europäischen Privatrechts, S. 247. 826 Guski, Rechtsmissbrauch als Paradoxie. Negative Selbstreferenz und widersprüchliches Handeln im Recht, S. 90. 819
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sentlich sei, die öffentlichen und allgemeinen Bedürfnisse zu berücksichtigen.“827 Auch heute stellt die Innentheorie zumindest im Privatrecht nach wie vor die ganz herrschende Meinung dar,828 die auch von der Rechtsprechung829 geteilt wird. b) Die Innentheorie im Privatrecht Um über die Existenz der Innentheorie hinausgehende Erkenntnisse für die vorliegende Untersuchung gewinnen zu können, sollen ihre Auswirkungen exemplarisch anhand einer dogmatischen Figur betrachtet werden. Aus der privatrechtlichen Dogmatik kommend,830 soll der Bereich des Privatrechts hier zunächst im Fokus stehen. Eines der gängigsten Beispiele für eine immanente Grenze subjektiver Rechte stellt die Figur des Rechtsmissbrauchs gem. § 242 BGB dar. Trotz der Anknüpfung an die Generalklausel des § 242 BGB wird der Rechtsmissbrauch gemeinhin als eine die Reichweite eines Rechts von vornherein begrenzende Figur im innentheoretischen Sinne verstanden, während bei den §§ 134, 138 BGB ohne nähere Begründung davon ausgegangen wird, dass es sich um Außenschranken handelt.831 aa) Selbstkorrekturmechanismus Den Ursprung der Problematik des Rechtsmissbrauchs bildet der Umstand, dass das Recht aufgrund der Unvorhersehbarkeit der potentiellen Verwendungssituationen zunächst einen Überschuss an Handlungsmöglichkeiten gewährt.832 Hieraus 827 Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, 2. Band, S. 1079; vgl. hierzu außerdem Fezer, Teilhabe und Verantwortung. Die personale Funktionsweise des subjektiven Privatrechts, S. 486. 828 Grünberg, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, § 242, Rn. 38; Mansel, in: Jauernig. Bu¨ rgerliches Gesetzbuch, § 242, Rn. 32 f.; Schulze, in: Handkommentar Bu¨ rgerliches Gesetzbuch, § 242, Rn. 21; Schubert, in: Münchener Kommentar zum BGB Bd. 2, § 242, Rn. 205; Looschelders/Olzen, in: Staudinger BGB. Einleitung zum Schuldrecht, § 242, Rn. 216; Stütze, Die Kontrolle der Entgelthöhe im Arbeitsrecht: Zugleich ein Beitrag zu den Grundlagen und Grenzen der Vertragsfreiheit und Tarifautonomie, Anm. S. 76, Fn. 5; kritisch lediglich Ka¨ hler, in: beck-online. Grosskommentar zum Zivilrecht, § 242 BGB, Rn. 1071 ff. 829 Vgl. exemplarisch BGH NJW 1959, 2207, 2207 ff.; BAG NJW 1995, 275, 275; BGH NJW-RR 2005, 619, 620; BAG NJW 2011, 2684, 2686; BGH NJW 2016, 3512, 3517; BGH NJW 2018, 1756, 1757 f. 830 Palu, Grundrechte, Spielräume und Kompetenzen: Eine Untersuchung formeller Prinzipien vor dem Hintergrund der Prinzipientheorie, S. 35; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 84. 831 Schubert, in: Münchener Kommentar zum BGB Bd. 2, § 242, Rn. 127; so auch Kuntz, Gestaltung von Kapitalgesellschaften zwischen Freiheit und Zwang. Venture Capital in Deutschland und den USA, S. 33; Teubner zufolge besteht der Unterschied darin, dass Maximen wie Treu und Glauben oder die guten Sitten die Rechtsanwendung im Unterschied zum Rechtsmissbrauch auf ein positives Ziel verpflichten, vgl. Teubner, in: JuristenZeitung 2020, 373, 373. 832 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 206.
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resultiert die paradoxe Möglichkeit, ein Recht rechtswidrig in Anspruch nehmen zu können.833 Bereits Siebert stellt die Frage: „Wie kann die Ausübung eines Rechts, die doch begrifflich Rechtsinhaltsverwirklichung darstellt, zugleich etwas Unzulässiges, ein Mißbrauch sein?“834 Die Antwort kann in dem Gebot von Treu und Glauben gem. § 242 BGB gesucht werden, welches der Kommentarliteratur zufolge „eine allen Rechten Rechtslagen und Rechtsnormen immanente Inhaltsbegrenzung“835 bildet. Für Konstellationen, in denen gegen § 242 BGB verstoßen wird, wird der Begriff der Rechtsausübung in An- und Ausführungszeichen gesetzt, um zu verdeutlichen, dass es sich um eine Rechtsüberschreitung handelt, die „missbräuchlich und unzulässig“ ist, demnach also nicht mehr vom Rechtsinhalt umfasst wird.836 Ausgehend von dem bekannten Paradoxon, dass Freiheit nur dann gewährleistet werden kann, wenn sie gleichzeitig beschränkt wird,837 ermöglicht es die dogmatische Figur des Rechtsmissbrauchs aus Rechtsgründen contra legem zu entscheiden.838 In selbstreferentieller Weise urteilt das Recht über sich selbst,839 was zur „Sachgerechtigkeit“ des positiven Rechts beitragen kann.840 Die durch ein subjektives Recht eingeräumte Rechtsmacht kann unter bestimmten Umständen in rechtswidriges Verhalten umschlagen, obwohl das Verhalten formal vom Gewährleistungsumfang des Rechts gedeckt ist. Folglich handelt es sich bei der Figur des Rechtsmissbrauchs um einen Selbstkorrekturmechanismus des Rechts,841 welcher zudem unabhängig von der Geltendmachung durch das Rechtssubjekt greift. Dies liegt darin begründet, dass es sich beim Rechtsmissbrauch entsprechend dem Verständnis als immanente Grenze des subjektiven Rechts nach herrschender Meinung um eine Einwendung handelt, die – im Unterschied zur Einrede – von Amts wegen zu berücksichtigen ist.842 Die 833 Guski, Rechtsmissbrauch als Paradoxie. Negative Selbstreferenz und widersprüchliches Handeln im Recht, S. 88. 834 Siebert, Verwirkung und Unzulässigkeit der Rechtsausübung. Ein rechtsvergleichender Beitrag zur Lehre von den Schranken der privaten Rechte und zur exceptio doli (§§ 226, 242, 826 BGB), unter besonderer Berücksichtigung des gewerblichen Rechtsschutzes (§ 1 UWG), S. 83. 835 Vgl. exemplarisch Grünberg, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, § 242, Rn. 38. 836 Vgl. ebd, Rn. 38. 837 Vgl. Fezer, Teilhabe und Verantwortung. Die personale Funktionsweise des subjektiven Privatrechts, S. 353; Guski, Rechtsmissbrauch als Paradoxie. Negative Selbstreferenz und widersprüchliches Handeln im Recht, S. 84. 838 Kritisch hierzu Meder, in: Kritische Justiz 2019, 528, 536. 839 Teubner, in: JuristenZeitung 2020, 373, 374 f. 840 Reuter, in: Festschrift für Ernst-Joachim Mestmäcker: zum siebzigsten Geburtstag, 271, 287. 841 Chelidonis, in: Juristische Ausbildung 2010, 726, 732; Guski, Rechtsmissbrauch als Paradoxie. Negative Selbstreferenz und widersprüchliches Handeln im Recht, S. 202. 842 Schubert, in: Münchener Kommentar zum BGB Bd. 2, § 242, Rn. 83; Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, S. 46; Guski, Rechtsmissbrauch als Paradoxie. Negative Selbstreferenz und widersprüchliches Handeln im Recht, S. 90.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
möglichen Rechtsfolgen eines Rechtsmissbrauchs gem. § 242 BGB sind vielfältig und bestimmen sich nach dem im jeweiligen Fall ausgeübten Recht.843 Die entsprechende Rechtsposition wird unzulässig, sodass sie entweder nicht ausgeübt werden kann, günstige Rechtstatsachen keine Beachtung finden oder aber im Sinne der anderen Partei entschieden wird.844 Auf diese Weise gestaltet das Verbot des Rechtsmissbrauchs die Rechtsposition als allen Rechten innenwohnende Grenze von innen heraus aus. Bereits an dieser Stelle ist es lohnenswert, einen Schritt zurückzutreten, um sich den Erkenntnisgewinn zu vergegenwärtigen, den allein die Existenz der Figur des Rechtsmissbrauchs im Hinblick auf die der vorliegenden Arbeit zugrundeliegende Fragestellung beinhaltet: Zunächst einmal kann festgehalten werden, dass das Innehaben einer subjektiven Rechtsposition im Falle des Rechtsmissbrauchs überspitzt formuliert die Voraussetzung bildet, um gegebenenfalls rechtswidrig zu handeln.845 Das Innehaben einer Rechtsposition ist demnach in diesem Zusammenhang die Bedingung der Möglichkeit, um sitten-, das heißt rechtswidrig zu handeln. Wenn folglich gerade derjenige, der ein subjektives Recht inne hat, rechtswidrig handeln kann, wirft dies die Frage nach der Bedeutung der Differenz von Recht und Unrecht im subjektiven Recht auf.846 Der Umstand, durch ein subjektives Recht berechtigt zu sein, sagt noch nichts über die Rechtmäßigkeit der Rechtsausübung im konkreten Fall aus. Die dogmatische Figur des Rechtsmissbrauchs relativiert folglich Menkes Annahme, dass im bürgerlichen Recht „alles, was nicht verboten ist, erlaubt ist“847, da hier gerade erlaubtem Handeln die rechtliche Anerkennung versagt wird. Das Vorliegen einer an sich vom rechtlichen Gewährleistungsgehalt gedeckten Handlungsoption, welcher letztlich jedoch aufgrund der Einstufung als Rechtsmissbrauch der Rechtsschutz versagt wird, steht zudem im Widerspruch zu Menkes These, dass das subjektive Recht den Eigenwillen des Subjekts unterhinterfragt positiviert. Dieser Widerspruch zu Menkes Formbestimmung wird außerdem dadurch verschärft, dass das Verbot des Rechtsmissbrauchs nach der herrschenden Innentheorie als immanente Grenze ein Kennzeichen der Form selbst darstellt. Wie sollte – unter der Prämisse, dass das subjektive Recht allein auf die Legalisierung des Eigenwillens ausgerichtet ist – die Figur des Rechtsmissbrauchs hergeleitet werden?848 Sollte die Positivierung des Eigenwillens tatsächlich die einzige Ziellogik der Form des sub843
Vgl. hierzu auch Habersack, Vertragsfreiheit und Drittinteressen. Eine Untersuchung zu den Schranken der Privatautonomie unter besonderer Berücksichtigung der Fälle typischerweise gestörter Vertragsparität, S. 39 f. 844 Vgl. Schubert, in: Münchener Kommentar zum BGB Bd. 2, § 242, Rn. 221; Looschelders/Olzen, in: Staudinger BGB. Einleitung zum Schuldrecht, § 242, Rn. 225. 845 So auch Guski, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2017, 88, 96. 846 Ebd., 88, 90. 847 Menke, Kritik der Rechte, S. 180; weiterführend Guski, Rechtsmissbrauch als Paradoxie. Negative Selbstreferenz und widersprüchliches Handeln im Recht, S. 109. 848 Vgl. in diese Richtung gehend auch Beneke, Vertrauensgedanke und Rechtsfortbildung, S. 70.
IV. Separate Betrachtung der Form
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jektiven Rechts darstellen, wie könnte dann die Annahme eines Rechtsmissbrauchs durch das Subjekt begründet werden? bb) Anwendungsbeispiel: Institutioneller Rechtsmissbrauch Auch dieser Hinweis auf einen möglichen Widerspruch zwischen Menkes Formbestimmung und der dogmatisch geformten Rechtsrealität trifft allerdings wiederum nur dann zu, wenn nicht die von Menke zugrunde gelegte Gleichheitsprämisse den Grund dafür bildet, dass das Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs angenommen wird. Sollte das Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs mit konfligierenden subjektiven Rechten Dritter begründet werden, läge demnach kein Widerspruch vor. Auch an dieser Stelle gilt es daher, das Augenmerk auf die dem Rechtsmissbrauch zugrunde liegende Normativitätsstruktur zu richten. Als Ausprägungen der Figur anerkannt sind zum einen der individuelle und zum anderen der institutionelle Rechtsmissbrauch,849 denengegenüber die teleologische Auslegung vorrangig ist.850 Zwar ist für beide Ausprägungen letztlich der Bezug zum Einzelfall entscheidend; grob kann sich zur Differenzierung jedoch daran orientiert werden, dass beim individuellen Rechtsmissbrauch an das jeweilige Verhalten angeknüpft wird, während sich der Vorwurf des institutionellen Rechtsmissbrauchs aus dem Sinn und Zweck des jeweiligen Rechtsinstituts ergibt.851 Dementsprechend liegt dem institutionellen Rechtsmissbrauch ein objektiver Maßstab zugrunde, während das Vorliegen des individuellen Rechtsmissbrauchs vom individuellen Verhalten des Subjekts abhängig ist. Den Hauptanwendungsfall des individuellen Rechtsmissbrauchs bildet die exceptio doli generalis mit ihren zahlreichen Unterarten. Im Gegensatz zu individuellen Maßstäben werden im Rahmen des institutionellen Rechtsmissbrauchs systemfunktionale Argumente852 relevant. Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht der Zielsetzung, möglichst verallgemeinerungsfähige Erkenntnisse zu generieren, scheint eine nähere Beleuchtung des institutionellen Rechtsmissbrauchs daher ergiebiger zu sein. (1) Formverändernde Implikationen Der institutionelle Rechtsmissbrauch ist insofern weiter gefasst als der individuelle Rechtsmissbrauch, als dass für seine Anwendung nicht nur subjektive Rechte, sondern „Rechtsstellungen und Rechtslagen jeder Art, […] Rechtsinstitutionen und 849 Aufgrund der Annahme fehlender Trennschärfe kritisch zu dieser Differenzierung Kähler, in: beck-online. Grosskommentar zum Zivilrecht, § 242, Rn. 1080; in diese Richtung auch Guski, Rechtsmissbrauch als Paradoxie. Negative Selbstreferenz und widersprüchliches Handeln im Recht, S. 174 f. 850 Schubert, in: Münchener Kommentar zum BGB Bd. 2, § 242, Rn. 207. 851 Looschelders/Olzen, in: Staudinger BGB. Einleitung zum Schuldrecht, § 242, Rn. 217. 852 Guski, Rechtsmissbrauch als Paradoxie. Negative Selbstreferenz und widersprüchliches Handeln im Recht, S. 174.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
rechtlichen Gestaltungsformen“853 in Betracht kommen. Viele Rechtsinstitute stellen indes zugleich subjektive Rechte dar. Neben den Anwendungsbeispielen des missbräuchlichen Berufens auf die Formnichtigkeit eines Rechtsgeschäfts oder des Missbrauchs privatrechtlicher Gestaltungsformen, bildet so auch klassischerweise der Missbrauch der Vertragsfreiheit ein Beispiel für den institutionellen Rechtsmissbrauch. Hieraus resultiert unter anderem die Inhaltskontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder Kettenarbeitsverträgen.854 Das Konzept des institutionellen Rechtsmissbrauchs nimmt das „Verhältnis individueller Zwecksetzungsfreiheit und objektivem Ordnungsrahmen“855 in den Blick. Die „Entkopplung der Rechte von Berechtigungspositionen“ führt zu einer „Objektivierung der Richtigkeitsparameter“.856 Ziel ist es, sicherzustellen, dass der von der Gesetzgebung verfolgte „Regelungserfolg nicht konterkariert“857 wird. Dieses Ziel wird dadurch erreicht, dass einem zweckwidrigen Rechtsgebrauch die rechtliche Anerkennung versagt wird.858 Dabei kann der Zweck die Rechtsausübung zwar nicht positiv binden, jedoch kann sie durch ihn negativ ausgeschlossen werden. Der Gedanke des institutionellen Rechtsmissbrauchs führt so zu einer „heteronomen Kontrolle autonomer Befugnisse“859, wodurch die subjektiv-rechtlich vermittelte Willkürfreiheit funktionsbedingt eingeschränkt wird. Dies setzt denknotwendig eine Suche nach Zwecken und Interessen voraus, wie sie durch die Interessentheorie proklamiert wird.860 Hier zeigt sich einmal mehr die oben herausgestellte limitative Konsequenz der Interessentheorie.861 Als konstitutiver Bestandteil der das subjektive Recht definierenden Kombinationstheorie kann die Interessentheorie wie weiter oben dargestellt unter anderem bewirken, dass einer der Rechtsordnung zuwider laufenden Rechtsausübung die rechtliche Geltung versagt oder auch nachträglich entzogen wird. Das subjektive Recht schützt der Interessentheorie zufolge Interessen des Rechtssubjekts, jedoch werden nicht alle von der Rechtsinhaberin verfolgten Interessen zwangsläufig berechtigt. Dies geschieht insbesondere dann nicht, wenn das jeweilige Interesse in Widerspruch mit der Rechtsordnung steht, wofür der institutionelle Rechtsmissbrauch ein Beispiel bildet. Stünde die Willenstheorie als definitorisches Element allein, könnte mit dem subjektiven Recht kein über die Ge853
Mansel, in: Jauernig. Bu¨ rgerliches Gesetzbuch, § 242, Rn. 34. Grünberg, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, § 242, Rn. 40; grundlegend BAG NJW 2013, 1254, 1254 ff. 855 Guski, Rechtsmissbrauch als Paradoxie. Negative Selbstreferenz und widersprüchliches Handeln im Recht, S. 151. 856 Ebd., S. 152. 857 Schubert, in: Münchener Kommentar zum BGB Bd. 2, § 242, Rn. 205. 858 Vgl. hierzu auch Habersack, Vertragsfreiheit und Drittinteressen. Eine Untersuchung zu den Schranken der Privatautonomie unter besonderer Berücksichtigung der Fälle typischerweise gestörter Vertragsparität, S. 37. 859 Guski, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2017, 88, 104. 860 So auch Beneke, Vertrauensgedanke und Rechtsfortbildung, S. 70. 861 Vgl. hierzu oben S. 112 ff. 854
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währleistung des Willens hinausgehender Regelungserfolg oder Zweck verfolgt werden, sodass die Herleitung des institutionellen Rechtsmissbrauchs nicht denkbar wäre.862 Die Figur des institutionellen Rechtsmissbrauchs kann daher nur unter Heranziehung der Interessentheorie, wie es durch die Kombinationstheorie geschieht, begründet werden. Dies gilt im Übrigen ebenso für die Fälle des individuellen Rechtsmissbrauchs, bei denen der Rechtsmissbrauchsvorwurf daraus resultiert, dass kein eigenes, schutzwürdiges Interesse an der Rechtsausübung gegeben ist.863 Begründungsansätze allein basierend auf der Willenstheorie scheiden hier ebenfalls aus. Rechtsschutz wird in den Konstellationen institutionellen Rechtsmissbrauchs nicht gewährt, um das konfligierende subjektive Recht einer anderen Rechtsträgerin zu garantieren, sondern um das objektiv gegebene Rechtsinstitut zu schützen.864 Insofern entspricht die Ausprägung des institutionellen Rechtsmissbrauchs auch in besonderer Weise dem Ansatz der Innentheorie, da die immanenten Grenzen des Rechtsinhalts anhand des Zwecks des jeweiligen Rechtsinstituts bestimmt werden.865 Ludwig Raiser nähert sich der Bestimmung eines Rechtsinstituts866 durch die Beschreibung an, dass „das Recht in jedem Rechtsinstitut ein typisches Lebensverhältnis, eine im soziologischen Sinne institutionalisierte Verhaltensweise, also ein sinnhaftes, von menschlichem Leben erfülltes soziales Gebilde durch rechtliche Anerkennung zugleich wertet und dieser Wertung entsprechend ordnet.“867
Das Recht bleibt somit immer an ein Lebensverhältnis in seiner jeweiligen soziologischen Ausgestaltung gebunden.868 So verstanden bietet die institutionelle Herangehensweise gleichsam die Möglichkeit, die soziale Wirklichkeit eines Rechts miteinzubeziehen.869 Das Rechtssubjekt wird im Kontext des institutionellen 862
So auch Beneke, Vertrauensgedanke und Rechtsfortbildung, S. 70. Vgl. hierzu Mansel, in: Jauernig. Bu¨ rgerliches Gesetzbuch, § 242, Rn. 37 f.; Schubert, in: Münchener Kommentar zum BGB Bd. 2, § 242, Rn. 239 f. 864 Vgl. Raiser, in: Summum ius summa iniuria: Individualgerechtigkeit und der Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben. Tübinger Ringvorlesung Wintersemester 1962/63, 145, 159. 865 Kuntz, Gestaltung von Kapitalgesellschaften zwischen Freiheit und Zwang. Venture Capital in Deutschland und den USA, S. 234; in diese Richtung auch Chelidonis, in: Juristische Ausbildung 2010, 726, 731. 866 Siehe grundlegend auch Savigny, System des heutigen römischen Rechts Bd. 1, § 5, S. 9 ff. 867 Raiser, in: Summum ius summa iniuria: Individualgerechtigkeit und der Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben. Tübinger Ringvorlesung Wintersemester 1962/63, 145, 148. 868 Kuntz, Gestaltung von Kapitalgesellschaften zwischen Freiheit und Zwang. Venture Capital in Deutschland und den USA, S. 234; siehe hierzu auch Simitis, Die faktischen Vertragsverhältnisse: als Ausdruck der gewandelten sozialen Funktion der Rechtsinstitute des Privatrechts, S. 58 ff. 869 So auch Wiebe, Die elektronische Willenserklärung: kommunikationstheoretische und rechtsdogmatische Grundlagen des elektronischen Geschäftsverkehrs, S. 36. 863
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Rechtsmissbrauchs weniger als „Instanz privater Willkür“, sondern vielmehr als „Teilnehmer an sozialen Praktiken“ adressiert.870 Im Unterschied zu einem rein individualrechtlichen Verständnis, bei dem schlicht das gleichberechtigte Nebeneinander der Subjekte im Vordergrund steht, trägt die funktionale Ausrichtung des institutionellen Rechtsdenkens zu einem an der jeweiligen Einrichtung orientierten Miteinander bei,871 indem einem „funktionswidrigen Gebrauch die rechtliche Anerkennung versagt“872 wird. Dem Recht als einer „sinn- und zweckhaften Gemeinschaftsordnung“ ist der Institutsmissbrauch insofern als Grenze individueller Rechtsausübungsfreiheit immanent.873 Als solche dient der institutionelle Rechtsmissbrauch als Gestaltungsinstrument der Privatrechtsordnung, das neben die Gewährung subjektiver Rechte tritt. Raiser führt hierzu aus: „Faßt man es nur als ein System subjektiver Rechte des Einzelnen zur Sicherung seiner Freiheitssphäre auf, so leistet man einer individualistischen Isolierung der Rechtsgenossen Vorschub. […] gleich wichtig wie die Anerkennung solcher Rechtsstellungen ist es, den Einzelnen auch durch das Recht in die ihn umgreifenden, mit anderen verbindenden, als Ordnungsgefüge geregelten Wirkungszusammenhänge einzufügen, also die Rechtsinstitute auszubilden und zu sichern, in denen der Einzelne eine Gliedstellung einnimmt.“874
Das institutionelle Verständnis birgt folglich auch das Potential, der von Menke beschriebenen „Appropriation des Sozialen“875 und dem daraus abgeleiteten Sozialatomismus entgegenzuwirken. (2) Rivalisierende Systemgedanken Für Raiser ist der institutionelle Rechtsmissbrauch Ausdruck eines allgemeinen, die Rechtsordnung prägenden Strukturprinzips. Der Schutz von Institutionen besteht als „rivalisierender Systemgedanke im Privatrecht“876 selbstständig neben dem Individualrechtsschutz. Der Perspektivwechsel auf die institutionelle Funktion der subjektiven Rechte stellt den „objektiven Ordnungsgehalt subjektiv-rechtlicher 870
Guski, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2017, 88, 95. Raiser, in: Summum ius summa iniuria: Individualgerechtigkeit und der Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben. Tübinger Ringvorlesung Wintersemester 1962/63, 145, 161 f.; vgl. weiterführend Fezer, Teilhabe und Verantwortung. Die personale Funktionsweise des subjektiven Privatrechts, S. 339 ff. 872 Habersack, Vertragsfreiheit und Drittinteressen. Eine Untersuchung zu den Schranken der Privatautonomie unter besonderer Berücksichtigung der Fälle typischerweise gestörter Vertragsparität, S. 37. 873 Raiser, in: Summum ius summa iniuria: Individualgerechtigkeit und der Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben. Tübinger Ringvorlesung Wintersemester 1962/63, 145, 167. 874 Raiser, in: JuristenZeitung 1961, 465, 472. 875 Vgl. Menke, Kritik der Rechte, S. 207 u. 251. 876 Raiser, in: Summum ius summa iniuria: Individualgerechtigkeit und der Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben. Tübinger Ringvorlesung Wintersemester 1962/63, 145, 162. 871
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Handlungsformen“ heraus.877 Ein Verständnis rein als System subjektiver Rechte geht am Wesen der Privatrechtsordnung vorbei.878 Damit tritt Raiser der Vorstellung entgegen, dass privatrechtlicher Rechtsschutz notwendigerweise als Individualrechtsschutz ausgestaltet sein müsse.879 Er arbeitet – soweit in Übereinstimmung mit Menkes Befund – die Tendenz der Rechtsordnung heraus, „überall da, wo ein Bedürfnis für einen Schutz institutionell anerkannter Interessen auftritt […], zunächst ein primäres subjektives Recht zugunsten des Betroffenen zu substituieren“880, um dann auf die gewohnten individualrechtlichen Schutzinstrumente zurückgreifen zu können. Anhand von Beispielen gelingt es ihm jedoch aufzuzeigen, dass die tatsächlich dahinterstehende Ziellogik in der jeweiligen Konstellation vielmehr im Institutsschutz zu erblicken ist. Als Beispiel führt er unter anderem den Schutz des Besitzes gem. § 823 I BGB und das Wettbewerbsrecht an. Im letztgenannten Fall stellt Raiser heraus, dass Ansprüche aus dem UWG nicht nur dem Schutz von Einzelinteressen, sondern vor allem auch dem Schutz des im öffentlichen Interesse bestehenden Rechtsinstituts der Wettbewerbsordnung dienen.881 Eine hieran anknüpfende Einschränkung eines subjektiven Rechts erfolgt demnach nicht im Dienste konfligierender subjektiver Rechte. Vielmehr entspricht es Raisers Annahme einer „Doppelspurigkeit“882 zweier Systemgedanken im Privatrecht, dass auch der Institutsschutz eine solche Beschränkung subjektiver Rechte zu rechtfertigen vermag, was wiederum Rückschlüsse auf die zugrundeliegende Normativitätsstruktur zulässt. Das Vorliegen der beschriebenen zwei Systemgedanken widerspricht demnach Menkes Annahme, dass die Form der subjektiven Rechte im bürgerlichen Recht lediglich von der Ziellogik der Berechtigung der Einzelnen bzw. der Legalisierung des Eigenwillens geprägt ist. cc) Exkurs: Verbot der Selbstexemtion Die Kritik am institutionellen Rechtsdenken als generellem Ansatz kommt aus einer ähnlichen Richtung wie diejenige an der Innentheorie. Im Vordergrund stehen Bedenken hinsichtlich der Ausfüllungsbedürftigkeit des jeweiligen Zwecks eines Rechtsinstituts. Die angenommenen Rechtsausübungsgrenzen finden im Gesetz keine ausdrückliche Erwähnung. Befürchtet wird die Überlagerung gesetzlicher 877 Guski, Rechtsmissbrauch als Paradoxie. Negative Selbstreferenz und widersprüchliches Handeln im Recht, S. 154. 878 Raiser, in: Summum ius summa iniuria: Individualgerechtigkeit und der Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben. Tübinger Ringvorlesung Wintersemester 1962/63, 145, 152. 879 Ebd., 145, 153. 880 Ebd., 145, 153 f. 881 Ebd., 145, 154 ff.; vgl. auch Teubner, Standards und Direktiven in Generalklauseln. Möglichkeiten und Grenzen der empirischen Sozialforschung bei der Präzisierung der GuteSitten-Klauseln im Privatrecht, S. 39. 882 Teubner, Standards und Direktiven in Generalklauseln. Möglichkeiten und Grenzen der empirischen Sozialforschung bei der Präzisierung der Gute-Sitten-Klauseln im Privatrecht, S. 40.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
Wertungen durch solche der Rechtsanwenderin.883 Der Institutionenbegriff steht im Verdacht zur „uneingeschränkt manipulierbaren Leerformel […] für nahezu beliebige Zwecke“884 zu werden. Ohne die Diskussion in einem der vorliegenden Fragestellung unangemessenem Umfang aufgreifen zu wollen, sei an dieser Stelle nur auf einige wenige Ansätze verwiesen, die dieser Kritik in Bezug auf die Figur des institutionellen Rechtsmissbrauchs entgegengehalten werden können. Ein solcher Einwand könnte zunächst auf der Ebene der Bestimmung des Institutsbegriffs ansetzen. Bernd Rüthers entwickelte die Differenzierung zwischen einem faktischen, einem metaphysischen sowie einem normativen Institutsbegriff.885 Bezugspunkt des letztgenannten Begriffs bildet dabei allein das geltende Recht, womit ein rein positiver Maßstab angelegt wird. Zur Bestimmung des Wesen des Instituts werden jegliche das Institut betreffenden Einzelnormen herangezogen, sodass ein normativ gespeistes Gesamtbild entsteht, welches von einer „Verbindlichkeit der normativen Kraft des Faktischen bzw. des Ideologischen“886 unabhängig bleibt und so die Gefahr einer missbräuchlichen Zweckbestimmung relativiert. Eine gänzlich andere Herangehensweise wählt Roman Guski. Seinen Überlegungen liegt der Gedanke zugrunde, dass „der objektive Zweck subjektiver Rechte“ darin besteht, „keine objektiven Zwecke vorzugeben“887. Ein über das Rechtsinstitut selbst hinausgehender Zweck lasse sich nicht bestimmen. Den Zweck institutioneller Garantien beschreibt er vielmehr als „Konditionalverhältnis zwischen (autonomer) Nutzendefinition und Nutzungsmodalitäten“. Die Handlungsbedingungen sind durch das jeweilige Institut bestimmt, sodass die Rechtsausübung des Subjekts an diesem Maßstab gemessen wird. Konkret fragt dieser Maßstab danach, ob mit der jeweiligen Handlung die Möglichkeitsbedingungen des Instituts erhalten werden. Die Rechtsausübung des Rechtssubjekts wird getragen von den jeweiligen institutionellen Handlungsbedingungen, sodass das Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs dann angenommen werden kann, wenn die „Möglichkeitsbedingungen eines Instituts gerade durch dessen Nutzung gefährdet“ werden.888 Sabotiert die Handelnde die Handlungsbedingungen selbst, so kann sie „sich nur als Ausnahme einer selbst 883 Habersack, Vertragsfreiheit und Drittinteressen. Eine Untersuchung zu den Schranken der Privatautonomie unter besonderer Berücksichtigung der Fälle typischerweise gestörter Vertragsparität, S. 38. 884 Rüthers, „Institutionelles Rechtsdenken“ im Wandel der Verfassungsepochen: ein Beitrag zur politisch-kritischen Funktion der Rechtswissenschaft, S. 47 f.; hierzu auch Fischer, in: Freiburger Diskussionspapiere zur Ordnungsökonomik 2002, 2, 19. 885 Rüthers, „Institutionelles Rechtsdenken“ im Wandel der Verfassungsepochen: ein Beitrag zur politisch-kritischen Funktion der Rechtswissenschaft, S. 34 ff. 886 Habersack, Vertragsfreiheit und Drittinteressen. Eine Untersuchung zu den Schranken der Privatautonomie unter besonderer Berücksichtigung der Fälle typischerweise gestörter Vertragsparität, S. 39. 887 Guski, Rechtsmissbrauch als Paradoxie. Negative Selbstreferenz und widersprüchliches Handeln im Recht, S. 86, ähnlich auch auf S. 268. 888 Ebd., S. 153.
IV. Separate Betrachtung der Form
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genutzten Regel wollen“889. Der Institutionenschutz bewirkt den Schutz der Möglichkeitsbedingungen der Rechtsausübung „vor sich selbst“, der gegebenenfalls auch entgegen gesetzlicher Regelungen durchgesetzt wird.890 Die vom Subjekt in Anspruch genommenen Möglichkeitsbedingungen bilden folglich die immanente Grenze der Rechtsausübung.891 Als einfaches Beispiel für eine solche Unterminierungs-Konstellation dient die Täuschung, im Rahmen derer Vertrauen in Anspruch genommen wird, welches im selben Moment wieder zerstört wird. Zentral ist in Guskis Konzeption des Rechtsmissbrauchs daher das Zerstören von Voraussetzungen, derer sich das Subjekt gleichzeitig bedient, woraus unter Bezugnahme auf Kant das „Verbot der Selbstexemtion“ abgeleitet wird.892 Dementsprechend versteht Guski das Verbot der Selbstexemtion nicht als eine moralische Vorgabe, sondern als „rechtliches Systemgebot“893 und „rechtsimmanentes Metaprinzip“894, welches auf beliebig viele Konstellationen übertragen werden kann. Während Raiser den Grund für die Einschränkung von Rechtsausübung nach dem UWG im Schutz des Instituts der Wettbewerbsordnung erblickt, interpretiert Guski das Rechtsmissbrauchsverbot im wettbewerbsrechtlichen Kontext dahingehend, dass eine im Wettbewerb erlangte marktbeherrschende Stellung nicht dazu genutzt werden darf, das dem eigenen Erfolg zugrundeliegende System des Wettbewerbs zu zerstören. Die Figur des Rechtsmissbrauchs stellt Guski zufolge sicher, dass Möglichkeitsbedingungen durch ihre Inanspruchnahme nicht gleichzeitig ausgenutzt und sabotiert werden.895 Guskis Ansatz abstrahiert folglich von spezifischen Zwecken eines Rechtsinstituts und ermöglicht eine Entscheidung über das Vorliegen von Rechtsmissbrauch anhand eines generellen Metakriteriums. Seine Argumentation bleibt rechtsintern896 und kann so dem Vorwurf einer missbrauchsanfälligen Leerformel entgehen. Im Unterschied zu Rüthers Ansatz bedarf es bei Guskis Konzeption des Rechtsmissbrauchs keiner konkreteren Bestimmung des jeweiligen Instituts und seines Zweckes, da lediglich das Verbot der Selbstexemtion als Maßstab dient. Folglich handelt es sich bei Guskis Ansatz um ein verallgemeinerungsfähiges Prinzip, welches ein taugliches Instrument zur Beurteilung des (institutionellen) Rechtsmissbrauchs darstellt. Unabhängig von der vorliegend nicht notwendig zu entscheidenden Frage nach einer geeigneten Methode der Zweckbestimmung, schließt die Zugrundelegung 889
Ebd., S. 266. Guski, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2017, 88, 105. 891 Ebd., 88, 104. 892 Guski, Rechtsmissbrauch als Paradoxie. Negative Selbstreferenz und widersprüchliches Handeln im Recht, S. 154; Guski, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2017, 88, 105. 893 Guski, Rechtsmissbrauch als Paradoxie. Negative Selbstreferenz und widersprüchliches Handeln im Recht, S. 155. 894 Ebd., S. 164. 895 Ebd., S. 154 f. 896 Teubner, in: JuristenZeitung 2020, 373, 377. 890
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
dieses Metaprinzips jedoch nach hier vertretener Ansicht den Maßstab eines konkreten Zweckes des jeweiligen Instituts nicht aus. Während Guski davon ausgeht, dass subjektive Rechte keinen über die Gewährung des jeweiligen Rechts hinausgehenden, objektiven Zweck aufweisen, macht vor allem auch die Rechtsprechung897 deutlich, dass aus Rechtsinstituten und damit gegebenenfalls auch subjektiven Rechten bestimmte Zwecke abgeleitet werden, deren Missachtung sodann zur Annahme des institutionellen Rechtsmissbrauchs führt. Diese allgemein anerkannte Rechtsprechungspraxis, die von den Rechtsinstituten innewohnenden Zwecken ausgeht, darf nicht dadurch aus dem Blick geraten, dass die Möglichkeit des Bestehens eines objektiven Zwecks verneint wird. Dies ist jedoch der Fall, wenn das Verbot der Selbstexemtion und damit die Funktions- und Möglichkeitsbedingungen des rechtlichen Instituts898 als einziger normativer Maßstab des Rechtsmissbrauchs verstanden werden. Fraglich ist daher, wie die Maßstäbe des Verbotes der Selbstexemtion und des jeweiligen Zweckes zusammen gedacht werden können. Einen Ansatz hierfür bildet das von Raiser für das Privatrecht herausgestellte Binärsystem des Schutzes subjektiver Rechte und des Institutionenschutzes899. Legt man dieses zugrunde, wird die Möglichkeit eröffnet, beide Ansätze zur Konkretisierung des Rechtsmissbrauchs als nebeneinander anwendbar zu denken. Das Privatrecht ist nicht auf die Ziellogik des Schutzes subjektiver Rechte beschränkt, sondern zielt gleichsam darauf ab, objektive Institutionen zu schützen. Die Ebene des letzteren Systemgedankens setzt die Bestimmung eines objektiven Zwecks voraus. Das Verbot der Selbstexemtion kann in Korrelation mit dem Systemgedanken des Schutzes subjektiver Rechte als übergreifend einsetzbarer, verallgemeinerungsfähiger Maßstab fungieren, der zu dem Maßstab des jeweiligen Institutszwecks, welcher mit dem zweiten Systemgedanken korreliert, hinzutritt. Der Systemgedanke des Institutionenschutzes bewirkt, dass objektive Zwecke trotz einer grundsätzlich individualrechtlichen Ausrichtung für den Einzelfall festgelegt werden können. Aufgrund dieser Schutzrichtung kann also hier trotz eines individualschutzrechtlichen Inhalts widerspruchsfrei zugleich auf einen objektiven Institutszweck abgestellt werden. Nimmt man den Dualismus der zwei Systemgedanken ernst, zeigt sich, dass die Anwendung des Verbotes der Selbstexemtion eine objektive Zweckbestimmung nicht ausschließt. Das Vorliegen eines institutionellen Rechtsmissbrauchs kann somit gegebenenfalls anhand des im Einzelfall zu bestimmenden Institutszwecks bejaht werden, wobei die Grenze zum institutionellen Rechtsmissbrauch definitiv dann überschritten ist, wenn gegen das Verbot der Selbstexemtion verstoßen wird. Die überaus praktikable und sinnhafte Weichenstellung anhand des Verbotes der Selbstexemtion kann auf diese Weise Anwendung finden, ohne gleichzeitig den das 897 Vgl. exemplarisch BAG NJW 2013, 1254 ff.; BAG NZA 2015, 1507 ff.; BAG NJW 2016, 185 ff.; BAG NZA 2016, 169 ff.; LAG Berlin-Brandenburg NZA-RR 2013, 234 ff. 898 Vgl. hierzu Guski, Rechtsmissbrauch als Paradoxie. Negative Selbstreferenz und widersprüchliches Handeln im Recht, S. 269. 899 Raiser, in: Summum ius summa iniuria: Individualgerechtigkeit und der Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben. Tübinger Ringvorlesung Wintersemester 1962/63, 145, 148.
IV. Separate Betrachtung der Form
245
Privatrecht ebenfalls kennzeichnenden Systemgedanken des Institutionenschutzes mangels konkreter Zweckbestimmung auszuhöhlen. dd) Zwischenergebnis So verstanden können aus der Figur des institutionellen Rechtsmissbrauchs gem. § 242 BGB hier nun exemplarisch zwei immanente, überindividuell ausgerichtete Grenzen subjektiver Rechte ausgemacht werden. Zum einen begrenzt das Verbot der Selbstexemtion die Rechtsausübung der Berechtigten insofern, als dass durch die Inanspruchnahme des jeweiligen Rechts nicht gleichzeitig die ihr zugrundeliegenden Möglichkeitsbedingungen unterminiert werden dürfen. Zum anderen wird der Rechtsausübung, welche dem zu ermittelnden Zweck des Rechtsinstituts widerspricht, die rechtliche Anerkennung versagt. Unabhängig davon, auf welche Methode zu seiner Konkretisierung zurückgegriffen wird, zielt der institutionelle Rechtsmissbrauch auf den Schutz objektiv bestehender Institute ab. Diesem objektiven Schutzzweck entsprechend, geschieht die Begrenzung der Ausübung eines subjektiven Rechts nicht aus dem Grund, das Zugleichbestehenkönnen konfligierender subjektiver Rechte Dritter zu gewährleisten. Der Widerspruch dieses Befundes mit der von Menke angenommenen Normativitätsstruktur ist augenfällig. Hinzu tritt außerdem – womit zum Ausgangspunkt dieses Kapitels zurückzukehren ist – dass entsprechend dem innentheoretischen Verständnis des institutionellen Rechtsmissbrauchs die beiden aufgezeigten Beschränkungen nicht extern an das subjektive Recht herantreten, sondern vielmehr immanente Grenzen der Form desselben darstellen. Beide Aspekte begrenzen den Rechtsinhalt im Sinne der Innentheorie von vorneherein, sodass das Überschreiten dieser Grenzen ein „Handeln ohne Recht“900 bedeutet. An dieser Stelle wird eine Entscheidung getroffen, die der grundsätzlich mit dem subjektiven Recht einhergehenden Legalitätsvermutung widerspricht. Der Gedanke des Institutsschutzes, der sich in den aufgezeigten immanenten Grenzen des subjektiven Rechts manifestiert, bildet einen Gegenpol zu der Ziellogik der Ermächtigung des Eigenwillens, sodass diese beiden Strukturprinzipien in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, welches die Form des subjektiven Rechts prägt. Damit soll nicht behauptet werden, dass die Form des subjektiven Rechts im privatrechtlichen Kontext den Institutsschutz in gleichberechtigter Weise wie die Ermächtigung der Einzelnen intendiert. Bei einer dem Gedanken des Institutsschutzes zuwiderlaufenden Rechtsausübung muss die Maxime der Ermächtigung des Eigenwillens jedoch hinter eine überindividuelle Zwecksetzung zurücktreten. Der Institutsschutz stellt eine zusätzliche Ziellogik der Rechtsordnung dar, die eine Begrenzung des Rechtsinhalts bewirkt und sich in ihrer Eigenschaft als 900 Siebert, Verwirkung und Unzulässigkeit der Rechtsausübung. Ein rechtsvergleichender Beitrag zur Lehre von den Schranken der privaten Rechte und zur exceptio doli (§§ 226, 242, 826 BGB), unter besonderer Berücksichtigung des gewerblichen Rechtsschutzes (§ 1 UWG), S. 90.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
immanente Grenze im Unterschied zu einer von außen an das Recht herantretenden Schranke auf die Form des subjektiven Rechts auswirkt. c) Die Innentheorie im Kontext der Grundrechte Nachdem nun der Versuch einer separaten Betrachtung der Form für das Privatrecht den Befund immanenter Grenzen subjektiver Rechte ergeben hat, stellt sich auch im Hinblick auf die Grundrechte die Frage, ob über die dargestellten objektivrechtlichen Beschränkungen hinausgehende Grenzen in der Form selbst ausgemacht werden können. Eine entsprechend eindeutige und übergreifende Zustimmung von Seiten der Literatur und der Rechtsprechung zu einem innentheoretischen Verständnis subjektiver Rechte wie in der Privatrechtsdogmatik ist in der Grundrechtsdogmatik indes nicht erkennbar.901 In umfänglicher Weise beschäftigt sich Martin Borowski mit der Innen- und der Außentheorie im Kontext der Grundrechte. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass jeglichen Grundrechten eine außentheoretische Struktur zugrunde liege.902 Habe sich die frühe Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch als in der Tradition der Innentheorie stehend erwiesen, so habe sich jedenfalls hinsichtlich der Abwehrrechte jedoch eine Deutung im Sinne der Außentheorie durchgesetzt.903 Unter Heranziehung aller denkbaren Konstruktionsmöglichkeiten der Grundrechte ist Borowski zufolge einzig für den Fall, dass ausschließlich von immanenten Grenzen im innentheoretischen Sinne und damit von einem feststehenden, definitiven Rechtsinhalt ausgegangen werde, eine innentheoretische Struktur denkbar.904 Eine solche, von vorneherein begrenzte Rechtsposition, sei im Kollisionsfall jedoch keiner Abwägung zugänglich:905 „Mangels überschießenden rechtlichen Gehalts einer innentheoretischen Rechtsposition kann sie selbst nicht Gegenstand einer Abwägung sein.“906 Vor dem Hintergrund, dass die Ausgestaltung von Grundrechtsinhalten mehrheitlich im Rahmen von Grundrechtskollisionen erfolgt, erscheint die Annahme einer rein innentheoretischen Struktur folglich als wenig überzeugend. Für alle übrigen Konstruktionsmöglichkeiten, in denen zumindest das Hinzutreten äußere Schranken in irgendeiner Form als Möglichkeit anerkannt wird, weist 901 Vgl. hierzu Bettermann, Grenzen der Grundrechte, S. 14, der die Entscheidung hinsichtlich der Grundrechte indes dahinstehen lässt; ähnlich Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 251, der danach differenziert, ob Grundrechtsnormen als Regeln oder aber als Prinzipien verstanden werden. 902 Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 224 f. u. S. 533. 903 Ebd., S. 96, hierfür führt er BVerfG NJW 1971, 2299 ff. und BVerfG NJW 1992, 1875 ff. als Belege an. 904 Ebd., S. 73. 905 Vgl. ebd., S. 100. 906 Ebd., S. 70.
IV. Separate Betrachtung der Form
247
Borowski nach, dass es sich stets um einen außentheoretischen Ausgangspunkt handelt.907 Sobald die Existenz äußerer Schranken angenommen wird, liegt denknotwendig kein definitives Recht im innentheoretischen Sinne vor. Vielmehr handelt es sich in diesem Fall um ein prima-facie Recht, welches kollisionsbedingt angepasst werden kann und insofern also eine außentheoretische Struktur aufweist. Die Betrachtung der Grundrechtsdogmatik, welche von einem grundsätzlich weit zu verstehenden Schutzbereich ausgeht, der erst in einem weiteren Schritt eingeschränkt werden kann,908 streitet für die Annahme Borowskis, dass den Grundrechten eine außentheoretische Struktur zugrunde liegt. Andernfalls müsste unabhängig von eventuellen Grundrechtskollisionen von einem bereits bestehenden definitiven Rechtsinhalt ausgegangen werden, was mit Blick auf die herrschende Schrankendogmatik als gekünstelte Konstruktion erscheint. Borowskis Hauptanliegen, nachzuweisen, dass – bis auf die genannte Ausnahme-Konstruktion – stets eine außentheoretische Grundstruktur der Grundrechte zugrunde gelegt werden muss, kann demnach zugestimmt werden. Gleichzeitig schließt jedoch ein außentheoretisches Grundverständnis nach hier vertretener Ansicht die Annahme zugleich bestehender, immanenter Grenzen nicht aus.909 Wenn auch Grundrechte gemeinhin nicht als innentheoretisch strukturiert verstanden werden, so existiert dennoch zumindest eine Rechtsfigur, welche mehrheitlich als immanente Grenze der Grundrechte anerkannt wird. Hierbei handelt es sich um die Verwirkung von Grundrechten gemäß Art. 18 GG. Dieser bestimmt, dass der Missbrauch der dort genannten Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung zur Verwirkung eben jener Grundrechte führt. Die Verwirkung ist durch das Bundesverfassungsgericht auszusprechen, vgl. Art. 18 S. 2 GG. Hier findet sich spiegelbildlich das bereits aus dem Privatrecht bekannte Rechtsmissbrauchsverbot wieder.910 Es zeigt sich, dass der Gedanke des Rechtsmissbrauchs ein universales Rechtsprinzip darstellt, das rechtsgebietsübergreifend gilt.911 Zunächst ist auch an dieser Stelle wieder auf die schlichte Erkenntnis hinzuweisen, dass bereits die Existenz der dogmatischen Möglichkeit eines Rechtsmissbrauchs gegen die Annahme einer unhinterfragten Positivierung des Eigenwillens spricht. Art. 18 GG wird als „Grundrechtsbegrenzungsnorm“ verstanden, die nicht von außen auf das Grundrecht einwirkt, sondern im Sinne der 907
Ebd., S. 75. Vgl. hierzu auch Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst. Das Spannungsverhältnis von grundrechtlichem Selbstbestimmungsrecht und Gemeinschaftsbezogenheit des Individuums, S. 150 f. 909 Vgl. für den Bereich des Privatrechts in diese Richtung auch Kähler, in: beck-online. Grosskommentar zum Zivilrecht, § 242, Rn. 1071 ff. 910 In diese Richtung auch Bettermann, Grenzen der Grundrechte, S. 12 ff. 911 Ebd., S. 12; Merten, in: Handbuch der Grundrechte Band III. Grundrechte in Deutschland: Allgemeine Lehren II, § 60, Rn. 49, der zudem feststellt, dass deshalb im öffentlichen Recht keine Notwendigkeit für den Rückgriff auf eine analoge Anwendung des § 242 BGB besteht. 908
248
C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
Innentheorie eine immanente Grenze darstellt.912 Es handelt sich um eine „Direktive zur Ausübung der Grundrechte“913, die den Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bezweckt.914 Abstrahiert man von diesem konkreten Schutzzweck, so zeigt sich wiederum die von Guski herausgestellte Konzeption des Rechtsmissbrauchs. Die Rechtsordnung sanktioniert die Inanspruchnahme eines Rechtsinstituts, wenn diese dazu dient, das entsprechende Rechtsinstitut abzuschaffen.915 Der Handelnden wird verwehrt, die dem eigenen Handeln zugrundeliegenden Möglichkeitsbedingungen zu sabotieren. Hierin ist eine überindividuell motivierte Begrenzung subjektiver Rechtsausübungsfreiheit zu sehen, die gegen eine unhinterfragte Positivierung als einzig strukturbestimmendes Moment subjektiver Rechte spricht. Wenn auch die Verwirkung nach Art. 18 GG praktisch in der Rechtsprechung keine größere Bedeutung erlangte, manifestiert sich in Art. 18 S. 1 GG auf theoretischer Ebene dennoch das grundsätzlich bestehende Verbot der Selbstexemtion als immanente Grenze der dort genannten Freiheitsrechte. Zwar besteht auch im Öffentlichen Recht ein gedanklicher Zusammenhang zwischen der Annahme der Unzulässigkeit des Rechtsmissbrauchs und der institutionellen Deutung der Grundrechte.916 Während allerdings für das Privatrecht anhand des institutionellen Rechtsmissbrauchs die immanente Begrenzung subjektiver Rechte durch den jeweiligen Zweck des Rechtsinstituts nachgewiesen werden konnte, existiert auf grundrechtlicher Ebene kein konkretes Äquivalent zu dieser spezifischen Figur des institutionellen Rechtsmissbrauchs. Insofern kann als immanente Grenze der Grundrechte zunächst lediglich das recht unspezifische Verbot der Selbstexemtion ausgemacht werden. Indessen konnte anhand der Beschäftigung mit den verschiedenen Grundrechtstheorien zuvor bereits generell gezeigt werden, dass den Grundrechten eine Multifunktionalität zugrunde liegt.917 Zu den durch das Bundesverfassungsgericht zur Anwendung gelangenden Grundrechtstheorien zählt dabei auch die institutionelle Grundrechtstheorie,918 wodurch ersichtlich wird, dass aus den Grundrechten selbst funktional ein Institutscharakter abgeleitet wird. Die Begrenzung der subjektiven Rechtsausübung anhand des Zwecks eines Rechtsinstituts ist mithin auch 912
Schmitt Glaeser, in: ebd., § 74, Rn. 11; Merten, in: Handbuch der Grundrechte Band III. Grundrechte in Deutschland: Allgemeine Lehren II, § 60, Rn. 92. 913 Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Band IX: Allgemeine Grundrechtslehren, § 190, Rn. 237. 914 Du¨ rig/Klein, in: Maunz/Du¨ rig, Grundgesetz Kommentar, Art. 18, Rn. 55. 915 Guski, Rechtsmissbrauch als Paradoxie. Negative Selbstreferenz und widersprüchliches Handeln im Recht, S. 157. 916 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz. Zugleich ein Beitrag zum institutionellen Verständnis der Grundrechte und zur Lehre vom Gesetzesvorbehalt, S. 120. 917 Vgl. oben S. 160 f. 918 Böckenförde, in: NJW 1974, 1529, 1529 u. 1536 f. m. w. N.
IV. Separate Betrachtung der Form
249
hinsichtlich der Grundrechte potentiell möglich. Eine mit der im Privatrecht vorfindlichen „Doppelspurigkeit“ der zwei Systemgedanken vergleichbare „Doppelspurigkeit“ individueller und institutioneller Grundrechte919 liegt folglich auch dann vor, wenn als immanente Grundrechtsgrenze lediglich das Verbot der Selbstexemtion ausgemacht werden kann. Vor dem Hintergrund des Versuchs einer separaten Formbetrachtung und der damit zusammenhängenden Ausgangsfrage nach immanenten Grenzen der Grundrechte ist zudem an den Befund zu erinnern, der aus der Beschäftigung mit der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte resultierte. Besagte Dimension hat die funktionale Erweiterung der Grundrechte hin zu einer objektiven Wertentscheidung zufolge.920 Wie gezeigt, handelt es sich hierbei um eine „Doppelqualifizierung“921 der Grundrechte, was bedeutet, dass die objektiv-rechtliche Dimension inklusive ihrer überindividuellen Schutzrichtung als Bestandteil der Form zu verstehen ist.922 d) Ergebnis Menkes Formbestimmung kann die das subjektive Recht kennzeichnende Normativitätsstruktur nicht in Gänze erfassen. Diese Erkenntnis, die unter Bezugnahme auf die Einbettung des subjektiven Rechts in die Gesamtrechtsordnung bereits herausgestellt werden konnte, bestätigt sich nun auch im Hinblick auf die Form des subjektiven Rechts an sich. Die dargestellten normativen Prinzipien, deren Ausrichtung schlagwortartig unter dem Begriff „überindividuell“ zusammengefasst werden kann, stellen Facetten des subjektiven Rechts dar, die sich nicht erst kontextuell in Anbetracht des objektiven Rechts erschließen, sondern sich bereits bei einer separaten Betrachtung der Form des subjektiven Rechts zeigen. Am Rechtsmissbrauch als „Paradebeispiel der Selbstberichtigung des Rechtssystems“923 wurde ein Selbstreflexionsprozess in der Form des subjektiven Rechts exemplifiziert, welcher nicht in der Legalisierung des Natürlichen aufgeht. Die Ausübung eines subjektiven Rechts steht stets unter dem Vorbehalt des Verbotes des Selbstexemtion924 und kann überdies aufgrund systemfunktionaler (Instituts-)Zwecke eingeschränkt werden. Die hieraus resultierende Relativität des Rechtsinhalts widerspricht Menkes Positivierungsthese. Anhand der Innentheorie konnte gezeigt werden, dass 919 So auch Teubner, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 357, 364; Teubner, Standards und Direktiven in Generalklauseln. Möglichkeiten und Grenzen der empirischen Sozialforschung bei der Präzisierung der Gute-Sitten-Klauseln im Privatrecht, S. 40. 920 Vgl. hierzu oben S. 202 ff. 921 Böckenförde, in: Der Staat 1990, 1, Anm. 5, Fn. 12. 922 Vgl. hierzu oben S. 219 ff. 923 Chelidonis, in: Juristische Ausbildung 2010, 726, 732. 924 Vgl. hierzu Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 549, der über diese Annahme noch hinausgeht, indem er die durch das Recht vermittelte Autonomie generell als unter dem Vorbehalt des Verbotes der Selbstexemtion stehend verstanden wissen will.
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C. Exemplarische Analyse aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
die interne Struktur des subjektiven Rechts über die Maxime der Ermächtigung der Einzelnen hinausgeht. Trotz dogmatischer Unterschiede legt die separate Betrachtung der Form sowohl im Privatrecht als auch im Öffentlichen Recht nahe, dass sich die Normativitätsstruktur des subjektiven Rechts nicht in einer unhinterfragten Positivierung des Eigenwillens erschöpft. Stattdessen sind überindividuelle Ziellogiken, die in einem Spannungsverhältnis zu der Ziellogik der Ermächtigung des Eigenwillens stehen können, der Form immanent.
D. Schluss I. Blockade der Selbstreflexion? Während die rechtsdogmatische Untersuchung der Annäherung an die Frage diente, wie sich die Einbeziehung der dogmatisch geprägten Rechtsanwendungsebene auf Menkes Rekonstruktion der Form des subjektiven Rechts auswirkt, ist nun auf Menkes originäre Kritik zurückzukommen. Um die aus der Rechtsdogmatik resultierenden Erkenntnisse in ein Verhältnis zu dieser Kernkritik1 zu setzen, soll im nächsten Schritt ihre Bedeutung für das Verständnis des Rechts als ein sich im Wege der Selbstreflexion selbst hervorbringendes System betrachtet werden. Zunächst ist in diesem Kontext zu klären, wie Menkes Lösungsansatz in Gestalt eines „dialektischen Materialismus“2 verstanden werden kann und ob möglicherweise im geltenden Recht bereits Ansätze dessen aufgezeigt werden können. Seine Diagnose einer „Blockade der Selbstreflexion“ begründet Menke mit der Annahme eines das bürgerliche Recht kennzeichnenden empiristischen Materialismus.3 Die subjektiven Rechte sind hierbei das Medium der Selbstreflexion und bewirken eine Art Gleichsetzung von Norm und Natur. Die rechtsdogmatischen Betrachtungen werfen die Frage auf, ob der Selbstreflexionsprozess des geltenden Rechts hiermit abschließend beschrieben werden kann und – wenn dies nicht der Fall sein sollte – welches eine treffende Beschreibung des sich im subjektiven Recht manifestierenden Verhältnisses von Recht und Nichtrecht darstellen könnte. Dabei könnte eine abweichende Verhältnisbestimmung auch Auswirkungen auf den von Menke diagnostizierten „Verlust der Negativität“4 implizieren, welcher daher ebenfalls in den Blick zu nehmen ist.
1. Dialektischer Materialismus: Transformatives Potential im geltenden Recht? Für Menke stellt die Selbstreflexivität das Kennzeichen des modernen Rechts dar. Die Innovation besteht darin, dass der Prozess der Selbstreflexion eine neue Umgangsweise mit dem Nichtrecht bildet. Wurde die Differenz zwischen Recht und 1 2 3 4
Vgl. Menke, Kritik der Rechte, S. 164 ff. Ebd., S. 169. Ebd., S. 169. Ebd., S. 248.
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D. Schluss
Nichtrecht in den traditionellen Rechtsordnungen im Wege von Erziehung oder Zwang vollzogen, so bedient sich das moderne Recht des Prozesses der Selbstreflexion, um mit dem Nichtrecht umzugehen. Die sich hieraus entwickelnde Normativitätsstruktur beschreibt Menke als „Legalisierung des Natürlichen“5. Menkes These von der Blockade der Selbstreflexion, oder genauer: seine Kritik an der fehlerhaften Vollzugsweise der Selbstreflexion, setzt an dieser Stelle an. Sein Empirismus-Vorwurf resultiert daraus, dass er annimmt, das bürgerliche Recht betrachte den Gegenstand der Legalisierung, mithin den Eigenwillen, als unveränderlich und naturalisiere ihn auf diese Weise.6 So verstanden kann auch Denningers Argument gegen Menke nicht durchschlagen, wenn er eine „Verengung der Perspektive allein auf die negativwertigen Möglichkeiten des rechtlich relevanten Wollens“7 moniert. Der Einwand gegen Menke, dass das rechtlich relevante Wollen nicht in seinen negativen Ausprägungen aufgehe, da eine positive Ausrichtung gleichwohl möglich sei, geht am Kern von Menkes Kritik vorbei. Denn Menke kritisiert die Positivierung nicht unter dem Aspekt der inhaltlichen Qualität des jeweiligen Wollens, sondern seine Kritik gilt grundsätzlicher dem Vorgang der Naturalisierung,8 mit dem das Begreifen des Eigenwillens als etwas Unveränderliches einhergeht. Diese Festschreibung als „unhintergehbare Tatsache“9 ist es, die in Menkes Rekonstruktion die Wurzel der Fehlerhaftigkeit des bürgerlichen Rechts darstellt, denn sie steht in Widerspruch zu der nach Menke ontologisch „richtigen“ Form der Selbstreflexion. Diese besteht Menke zufolge in einem dialektischen Vollzug der Differenz zwischen Recht und nichtrechtlichem Eigenwillen. Statt als unveränderlich Gegebenes10 müsse der Eigenwille als Moment eines Aushandlungsprozesses verstanden werden.11 Der „dialektische Materialismus“ begreift den Eigenwillen dementsprechend als veränderbares Vermittlungsobjekt und zielt damit auf seine „innere ontologische Transformation“.12 Eine konkrete Erklärung wie das „Dialektische“ dieses Materialismus ausgestaltet sein soll, bleibt die Kritik der Rechte der Leserin schuldig.13 Eindeutig erkennbar ist jedoch die Bestrebung, den Eigenwillen als veränderbare Substanz und als dem Recht nicht vorausgesetzt zu betrachten. Die ontologisch zutreffende Form der Selbstreflexion setzt Menke zufolge die Möglichkeit der Transformation des Eigenwillens voraus. Die erste sich hieraus ergebende Frage lautet demnach, ob der Eigenwille im geltenden Recht tatsächlich als 5
Ebd., S. 33. Ebd., S. 262 f. 7 Denninger, in: Kritische Justiz 2018, 316, 318. 8 Besonders pointiert siehe Menke, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 13, 20. 9 Menke, Kritik der Rechte, S. 206. 10 Ebd., S. 264. 11 Menke/Schmidt/Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 54, 73. 12 Menke, Kritik der Rechte, S. 169 u. 264. 13 So auch Ladeur, Recht Wissen Kultur. Die fragmentierte Ordnung, S. 72. 6
I. Blockade der Selbstreflexion?
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unveränderlich begriffen wird und damit einhergehend eine solche Transformation ausgeschlossen ist. a) Vorüberlegung zum Willensbildungsprozess Vorangestellt sei eine Überlegung, die in Bezug auf Menke im Wesentlichen auf Teubner zurückgeht und Skepsis hinsichtlich Menkes Konzeption des Eigenwillens als Bezugspunkt subjektiver Rechte aufkommen lässt. Fraglich ist zunächst, ob es den individuellen Eigenwillen, den Menke im inneren Bewusstsein des Subjekts zu verorten scheint,14 in der von ihm beschriebenen Form überhaupt geben kann. In Anbetracht der das Subjekt umgebenden verschiedenartigen Funktionssysteme unterliegt die Annahme einer isolierten, von allen Umweltfaktoren unbeeinflussten Willensbildung Zweifeln. Individuelle Ansichten, Präferenzen und Erwartungen entwickeln sich erst in sozialen Zusammenhängen und sind von diesen geprägt. Eine allein auf die Einzelne bezogene Perspektive kann vor diesem Hintergrund nur schwerlich eingenommen werden.15 Vielmehr handelt es sich aufgrund der äußeren Einflussfaktoren stets um einen bereits „sozialisierten Willen“, welcher dem Subjekt Teubner zufolge erst in einem weiteren Schritt zugerechnet wird. Im juristischen Kontext werde diesem Phänomen beispielsweise dadurch Rechnung getragen, dass dem „,inneren‘“ Willen ein objektivierter Wille gegenübergestellt werde, welcher im Hinblick auf den Empfängerhorizont oder die Verkehrsbedürfnisse ausgelegt werde.16 Hinzu tritt der Umstand, dass das Recht bekanntlich nicht allein einzelnen Subjekten Rechte zuerkennt,17 vgl. Art. 19 III GG. Kollektivakteurinnen können ebenfalls Trägerinnen von Rechten sein, was die Frage aufwirft, auf welchen Willen die subjektiven Rechte in diesem Fall abstellen sollen.18 Ein individueller, im inneren Bewusstsein verorteter Wille, steht in dieser Konstellation als Bezugspunkt des subjektiven Rechts nicht zur Verfügung. In diesem Zusammenhang verweist Teubner zudem auf die institutionelle Dimension der Grundrechte, die auch in der vorliegenden Untersuchung bereits aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet wurde. Hier verhält es sich ähnlich, da im Rahmen institutioneller Grundrechtsgewährleistungen nicht das Individuum selbst berechtigt wird. Stattdessen bilden hier Institutionen wie die Kunst oder die Wissenschaft „Quasi-Rechtssubjekte“,19 hinsichtlich derer ein Individualwille als Bezugspunkt subjektiver Rechte ausscheidet. Die Hervorhebung dieser „nicht-individuellen Dimensionen subjektiver Rechte“ legt 14
So auch Teubner, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 343, 361 f. Albers, Informationelle Selbstbestimmung, S. 46. 16 Teubner, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 343, 361. 17 Zu der sich neuerdings zögerlich abzeichnenden Tendenz in Richtung Entsubjektivierung vgl. Fischer-Lescano, in: Kritische Justiz 2017, 475, 483 ff. 18 Teubner, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 343, 362. 19 Ebd., 343, 363. 15
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die Vermutung nahe, dass es sich bei der Annahme eines individuellen Willens um eine „Fiktion“ handelt.20 Mithin kann bezweifelt werden, dass der Eigenwille in der von Menke beschriebenen Erscheinungsform die Komplexität der jeweiligen Bezugspunkte des subjektiven Rechts zu erfassen vermag. Sofern die von ihm kritisierte Reifizierung eines Willens21 stattfindet, muss diese These zumindest um die Reifizierung auch der sozialen Willensbildung ergänzt werden, um dem Vorwurf der „Gesellschaftsvergessenheit“ entgehen zu können.22 b) Introspektionsprozesse Im Grundsatz ist zunächst festzuhalten, dass das Recht zwar seine Einhaltung fordern und durchsetzen kann, die Gründe für regelkonformes Verhalten dem Subjekt jedoch stets freigestellt sind.23 Obwohl dieser Grundsatz zunächst Eindeutigkeit suggeriert, lassen die gleichzeitig im Recht vorhandenen Introspektionsvorgänge24 den Eindruck eines vielschichtigeren Verhältnisses des Rechts zu subjektiven Motiven entstehen. Augenfälligstes Beispiel wäre für entsprechende Introspektionsvorgänge wohl das Strafrecht, welches aber nicht den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung bildet.25 Jedoch konnte auch für den Bereich des Privatrechts gezeigt werden, dass die Motive des Rechtssubjekts von rechtlicher Seite Berücksichtigung erfahren können. Hierzu sei exemplarisch an die den § 138 I BGB betreffende Feststellung26 zu erinnern, dass „subjektive Faktoren Unbedenkliches bedenklich werden lassen“27 können. Die dem Recht inhärente Möglichkeit der Einbeziehung eines subjektiven Tatbestandes, die auch in den Motiven zum BGB betont wird,28 tritt im Zusammenhang mit diversen Rechtsfiguren in Erscheinung. Dies betrifft neben § 138 I BGB beispielsweise ebenfalls das Schikaneverbot (§ 226 BGB), das Anfechtungsrecht (§§ 119 ff. BGB) oder ebenso jegliche Konstellationen, die ein schutzwürdiges Vertrauen oder auch Gutgläubigkeit des Subjekts voraussetzen. Gleichsam konnten bezüglich der Grundrechte Introspektionstendenzen nachgewiesen werden. So steht ein rein kommerzielles Motiv etwa der Berufung auf Art. 5 I
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Fischer-Lescano/Franzki/Horst, in: ebd., 1, 10. Menke, Kritik der Rechte, S. 263. 22 Teubner, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 343, 366. 23 So exemplarisch auch Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, S. 111; ebenso Menke, Kritik der Rechte, S. 84 f. 24 So auch Möllers, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2016, 307, 309. 25 Vgl. zur Begründung oben S. 110 f. 26 Siehe oben S. 147 f. 27 Armbrüster, in: Münchener Kommentar zum BGB Bd. 1, § 138, Rn. 130. 28 Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, 1. Band, S. 725. 21
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1 GG entgegen,29 wie auch eine rein vorgeschobene religiöse Ausrichtung ein Hindernis für die Berufung auf Art. 4 I 1 GG bildet.30 Des Weiteren wurde gezeigt, dass im Rahmen politischer Grundrechte ein auf das Allgemeininteresse gerichteter Wille gegebenenfalls eine Privilegierung der jeweiligen Grundrechtsausübung bewirken kann.31 Folglich kann von einer gänzlichen Indifferenz des Rechts gegenüber individuellen Motiven des Subjekts im Rahmen der Ausübung subjektiver Rechte nicht ausgegangen werden.32 Gleichzeitig impliziert das Fehlen einer solchen Indifferenz nicht das Vorliegen von Transformationsprozessen oder auch nur eine entsprechende Intention des Rechts. Der Umstand, dass das Recht in gewissen Konstellationen nach dem inneren Willen des Subjekts fragt, ist nicht gleichbedeutend damit, eine Modifizierung jenes Willens anzustreben. c) Phänomen des Nudgings Ohne Zweifel finden sich in der Rechtsordnung mannigfach Beispiele für das staatliche Ziel der Steuerung des Verhaltens der Bürgerinnen. Hierzu bedient sich der Staat klassischerweise diverser Imperative, mit denen indisponible Rechtsfolgen verknüpft werden, oder aber die Verhaltenslenkung erfolgt etwa über monetäre Anreize.33 Jedoch ist das „Kennen und das darauf beruhende Befolgen eines Imperativs […] nicht mit dessen Anerkennung durch den Adressaten“ gleichzusetzen.34 Die Beeinflussung des äußeren Verhaltens ist kategorial von der Beeinflussung des inneren Willens zu unterscheiden. Dennoch verfügt die Rechtsordnung gleichsam über Instrumente, welche gerade auf die Beeinflussung des inneren Willens gerichtet sind. Um ein solches handelt es sich bei dem Phänomen des sogenannten „Nudgings“, welches im Unterschied zu klassischen Lenkungsansätzen nicht auf die Verhaltens-,35 sondern auf die Willenssteuerung abzielt.36 „Nudging“ – zu Deutsch „anstupsen“ – bezeichnet eine Form „gezielte[r] Willensbeeinflussung“37, die jedoch reflektiv und unmerklich stattfindet. Das Nudging 29
BVerfG NJW 2001, 591, 591, ebenso Kahl, in: Der Staat 2004, 167, 171. Germann, in: BeckOK Grundgesetz, Art. 4, Rn. 25 ff.; BVerwG NJW 1992, 2496, 2498. 31 Vgl. hierzu oben S. 195 ff. 32 So auch Guski, Rechtsmissbrauch als Paradoxie. Negative Selbstreferenz und widersprüchliches Handeln im Recht, S. 121. 33 Gerg, Nudging. Verfassungsrechtliche Maßstäbe für das hoheitliche Einwirken auf die innere Autonomie des Bürgers, S. 43 ff. 34 Ebd., S. 45. 35 Zu Verhaltenssteuerungsmechanismen im Privatrecht vgl. umfassend Hellgardt, Regulierung und Privatrecht: staatliche Verhaltenssteuerung mittels Privatrecht und ihre Bedeutung für Rechtswissenschaft, Gesetzgebung und Rechtsanwendung, S. 15 ff. 36 Gerg, Nudging. Verfassungsrechtliche Maßstäbe für das hoheitliche Einwirken auf die innere Autonomie des Bürgers, S. 42, 47 u. 51. 37 Ebd., S. 52. 30
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setzt bereits an dem Willen an,38 der einer Entscheidung zugrunde liegt, indem es Entscheidungssituationen modifiziert. Das Subjekt gewinnt nach erfolgreicher Beeinflussung den Eindruck, der jeweilige Wille resultiere aus ihm selbst, sodass von einer selbstbestimmten Entscheidung ausgegangen werden soll.39 Die Einwirkung durch Nudging bezweckt eine Steigerung der Rationalität,40 wobei als übergeordnetes Ziel, neben dem Gemeinwohlinteresse,41 teilweise auch die Absicht beschrieben wird, „den Menschen zu einem besseren, längeren und gesünderen Leben […] verhelfen“42 zu wollen. Hierzu wird beispielsweise auf verschiedene Formen von Informationstätigkeiten oder Angebote zur Selbstbindung, wie im Kontext von Spielbankbesuchen, zurückgegriffen.43 In seiner verfassungsrechtlichen Würdigung des Nudge-Konzepts untersucht Stephan Gerg verschiedene Erscheinungsformen des Nudgings in Art. 1 I; 2 I; 2 I i. V. m. 1 I und 5 I 1 GG und kommt zu einem differenzierten Ergebnis. Hinsichtlich sachlicher Informationstätigkeiten,44 Empfehlungen, Warnungen, Widerrufsrechten und dem Unterbinden des Nudgings von Privatpersonen lehnt Gerg das Vorliegen eines Eingriffs in den Schutzbereich eines der genannten Grundrechte ab. Sofern die innere Autonomie des Subjekts unangetastet bleibt, ist das Nudging trotz seiner Ausrichtung auf eine Willensbeeinflussung in diesen Bereichen demzufolge mit der Verfassung vereinbar45 und kann insoweit für Rückschlüsse auf die Logik des geltenden Rechts im Rahmen der vorliegenden Untersuchung herangezogen werden. Fraglich bleibt jedoch, ob im Konzept des Nudgings eine Vollzugsform des von Menke ins Auge gefassten dialektischen Materialismus erblickt werden kann. Im Rahmen der Hinführung zu seiner Konzeption der Gegenrechte finden sich einige Hinweise darauf, wie Menke sich das Wirken des Eigenwillens im Rahmen eines dialektischen Materialismus vorstellt.46 Den elementarsten Unterschied zwischen dem positivistischen und dem dialektischen Materialismus bildet dabei der Umstand, dass letzterer den Eigenwillen nicht als Gegebenheit hinnimmt, sondern ihn als 38
Kritisch im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit der rechtlichen Steuerung individueller Motivation Klein, in: Der Staat 1971, 145, 165. 39 Gerg, Nudging. Verfassungsrechtliche Maßstäbe für das hoheitliche Einwirken auf die innere Autonomie des Bürgers, S. 51 f. u. 168. 40 Goerlich, in: JuristenZeitung 2020, 249, 249. 41 Gerg, Nudging. Verfassungsrechtliche Maßstäbe für das hoheitliche Einwirken auf die innere Autonomie des Bürgers, S. 150 f. 42 Ebd., S. 135 m. w. N. 43 Ebd., S. 1; Goerlich, in: JuristenZeitung 2020, 249, 249. 44 Siehe hierzu auch BVerfG NJW 2002, 2621, 2624 f. 45 Gerg, Nudging. Verfassungsrechtliche Maßstäbe für das hoheitliche Einwirken auf die innere Autonomie des Bürgers, S. 88 ff., 100 f. u. 120 ff.; ähnlich auch Kirchhof, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 2015, 136, 137; vgl. außerdem Felz, Rezension: Nudging, 01. 11. 2019, in: Die Rezensenten; weiterführend zur Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des Nudgings vgl. Hufen, in: Juristische Schulung 2020, 193, 193 ff.; Holle, in: Zeitschrift für das gesamte Lebensmittelrecht 2016, 596, 596 ff. 46 Menke, Kritik der Rechte, S. 378 ff.
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„Moment anstatt […] Grund[…]“47 versteht. Wird das „Sinnliche“ nicht länger als Gegebenes aufgefasst, so entfaltet es Menke zufolge die Fähigkeit, das Urteilen oder das „Begriffliche“ zu verändern, das heißt die im bürgerlichen Recht verloren gegangene Kraft der Negativität zu reaktivieren. Andernfalls könne das Begriffliche stets nur das Spiegelbild des Sinnlichen darstellen.48 Menke forciert dabei ein andersartiges Verständnis des Sinnlichen, welches er auch als „Passivität“ bezeichnet. Statt eine Schwäche oder ein „bloßes Unvermögen“ in ihr zu erblicken, müsse die Passivität als konstitutiver Bestandteil des Urteilens aufgefasst werden.49 Neben diesen teils kryptisch anmutenden Schilderungen bleibt eine konkrete Beschreibung dessen, wie die hierdurch vorausgesetzte Veränderbarkeit des Eigenwillens erreicht werden soll, in Kritik der Rechte aus.50 Klar wird lediglich, dass ein Vermittlungsprozess stattfinden soll.51 Daniel Loick interpretiert diesen Prozess als Veränderung des Wollens im Rahmen einer sozialen Vermittlung. Bezüglich des neuen Rechts der Gegenrechte führt er aus: „Es verlangt von den Rechtsgemeinschaftsmitgliedern, ihre eigene sinnliche Gewissheit im kommunikativen Prozess zur Disposition zur stellen. Dafür ist es nötig, dass sie sich auf einen ergebnisoffenen und darum immer unsicheren diskursiven Austausch einlassen.“52 Diese Interpretation deckt sich mit den Äußerungen Menkes im Gespräch mit Christian Schmidt und Benno Zabel.53 Hier beschreibt Menke nochmals pointiert, was er als den entscheidenden Fehler der subjektiven Rechte identifiziert: „Sie versuchen etwas, was nur Moment in einem permanenten dialektischen Aushandlungsprozess sein kann, zu einem bestimmbaren Segment […] zu machen.“54 In den subjektiven Rechten werde die Passivität zwar als konstitutiv für das Urteilen begriffen, allerdings werde sie durch die Naturalisierung aus dem Vermittlungsprozess ausgeklammert. Der Eigenwille müsse demnach vielmehr durch das Teilnehmen an einem kollektiven Urteilsprozess vermittelt werden. Auf diese Weise hofft Menke wohl, eine generelle Bindung der Rechtsausübung an ein übergeordnetes Wertkonzept ähnlich der traditionellen Rechtsordnungen vermeiden zu können und so einerseits die durch die subjektiven Rechte vermittelten Freiheit beizubehalten, andererseits jedoch die beschriebenen Pathologien zu vermeiden.55 Das Moment der Kollektivität und damit verbunden das der 47
Ebd., S. 379. Ebd., S. 379 f. 49 Ebd., S. 382. 50 Ähnlich auch hinsichtlich des „Dialektischen“ Ladeur, Recht Wissen Kultur. Die fragmentierte Ordnung, S. 72. 51 Menke, Kritik der Rechte, S. 380, siehe hierzu auch Zabel, in: MERKUR 2017, 69, 71. 52 Loick, Juridismus. Konturen einer kritischen Theorie des Rechts, S. 310. 53 Menke/Schmidt/Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 54, 55 f. u. 73. 54 Ebd., 54, 73. 55 Daher ist auch die polemische Anmerkung Röhls, Menkes Insistieren auf den Verlust der Sittlichkeit im modernen Recht wirke wie eine Einladung in Richtung der Scharia, vgl. Röhl, Schluss mit der Kritik der Rechte. Protokoll meiner Bemühungen um das Verständnis von Christoph Menkes „Kritik der Rechte“, 25. 02. 2019, in: RSOZBLOG.de, S. 18, fehl am Platz. 48
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Politisierung scheint in Menkes Konzept der entscheidende Wesenszug des Verhältnisses zwischen dialektischem Materialismus und Eigenwille zu sein. Stellt man dies heraus, so wird ersichtlich, weshalb das beschriebene Phänomen des Nudgings – trotz seiner Ausrichtung auf eine Beeinflussung des inneren Willens – nicht als eine Vollzugsform des von Menke forcierten dialektischen Materialismus aufgefasst werden kann. Nudging bezeichnet eine vom Staat ausgehende Einflussnahme auf den Willen des Subjekts, sodass eine entsprechend einseitige Wirkrichtung ausgemacht werden kann. Ein kollektiver Vermittlungsprozess, welcher auf einer intersubjektiven, diskursiven Auseinandersetzung fußt, ist insofern vom Konzept des Nudgings nicht umfasst. Gleichwohl mangelt es diesem knappen Exkurs in das Konzept des Nudgings nicht an Erkenntnispotential für die vorliegende Untersuchung. Zunächst verschärft das Nudge-Konzept die vor dem Hintergrund der im Recht angelegten Introspektionsvorgänge angezeigten Zweifel an einer Indifferenz des Rechts gegenüber den individuellen Motiven des Subjekts. Über die fehlende Indifferenz geht das Nudging einen Schritt hinaus, indem auch bestimmte Arten der Beeinflussung des subjektiven Willens zu rechtlichen Handlungsoptionen werden. Der Umstand, dass diese Optionen existieren, lässt den Schluss zu, dass das Recht den Eigenwillen nicht als feststehend und unveränderlich begreift. Es kann folglich nicht ohne Einschränkungen behauptet werden, dass die Rechtsordnung „die Veränderung dessen ausschließt, was sie legalisiert“56. Das Vorliegen einer Menkes Beschreibung entsprechenden Grenzziehung erscheint vor diesem Hintergrund mithin als weniger überzeugend. Die Beschreibung dieser Grenzziehung setzt bei der liberalen Deutung des Selbstreflexionsprozesses an, welche Menke dafür kritisiert, dass sie das Verhältnis von Recht und Nichtrecht als „Resignation des Rechts“ versteht: „Die Norm wird begrenzt durch das Faktische.“57Das liberale Modell ziehe daraus die negative Konsequenz einer „Selbstbegrenzung“ des Rechts am Nichtrecht und übersehe dabei den sich zugleich vollziehenden positiven Prozess der Setzung des Nichtrechts.58 Die Positivierung des Nichtrechts findet Menke zufolge im bürgerlichen Recht wiederum ihren Ausdruck in der Etablierung subjektiver Rechte, deren Form durch die Legalisierung des Natürlichen gekennzeichnet ist. In diesem Akt der Positivierung werde der nichtrechtliche Eigenwille als unveränderlich gesetzt.59 Die sich daraus ergebende Grenze mündet letztlich in demselben Zustand, welchen Menke hinsichtlich des liberalen Verständnisses kritisiert: die durch die Setzung des Nichtrechts bewirkte Unveränderlichkeit des Eigenwillens als unübersteigbare Grenze des Rechts. Wenn jedoch – wie anhand des Nudging-Beispiels illustriert – der Eigenwille nicht als unveränderlich gesetzt verstanden wird, kann von einer absoluten Be56
So aber Menke, Kritik der Rechte, S. 406. Ebd., S. 142. 58 Ebd., S. 144. 59 Ebd., S. 144, 262 ff. u. 406, siehe auch Menke, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 13, 29. 57
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grenzung des Rechts an der Starrheit des Gegenstands der Berechtigung nicht ausgegangen werden. Konsequent gedacht müsste diese Annahme zudem Auswirkungen auf den von Menke diagnostizierten Verlust der Kraft der Negativität60 haben. Diese VerlustThese ist insofern ebenfalls mit seinem Empirismus-Vorwurf verknüpft, als das Recht die Differenz von Recht und Nichtrecht im Wege der unterhinterfragten Positivierung des Eigenwillens vollziehe, sodass im Übrigen kein transformatives Potential zur Selbstverwandlung des Subjekts feststellbar sei.61 Wenn die Rechtsordnung den Eigenwillen nun aber – wie gezeigt – nicht als unhinterfragbar Gegebenes oder auch feststehende Tatsache begreift, öffnet dies den Spielraum für eben jenes Selbstverwandlungspotential. Ohne hier eine eigene Bewertung vornehmen zu wollen, kann jedoch festgestellt werden, dass das Nudge-Konzept faktisch jedenfalls genau hier ansetzt, wenn es den inneren Willen des Subjekts etwa in Richtung eines gesünderen Lebens zu beeinflussen sucht und dabei dennoch eine selbstbestimmte Entscheidung des Subjekts forciert. Abstrakter formuliert, vollzieht das Recht in diesem Fall die Differenz zwischen Recht und Nichtrecht gerade nicht der Form einer unhinterfragten Positivierung. Ein solches Vorgehen, welches den Grundsatz der Selbstbestimmtheit wahren will, bezweckt eine Selbstverwandlung des Subjekts statt einer schlichten Legalisierung des Eigenwillens, was der Annahme eines vollständigen Verlusts der Kraft der Negativität entgegensteht. d) Politische Grundrechte Illustriert werden kann das Vorliegen von Selbstverwandlungspotential im Rahmen subjektiver Rechte überdies auch am Beispiel politischer Grundrechte. Diese werden getragen von der Zielsetzung einer kollektiven Willensbildung, wobei dieser Prozess letztlich ebenfalls das Potential zu einer Selbstverwandlung in sich trägt. Menke zufolge kennzeichnet die politischen Grundrechte dieselbe Grundbestimmung wie alle anderen subjektiven Rechte auch, sodass das „Wie und das Ob“ der politischen Teilhabe dem freien Belieben der Einzelnen überlassen bleibt.62 Die politische Selbstregierung bildet „bloß eine weitere Option des Eigenwillens“.63 Auch im Hinblick auf politische Rechte versteht Menke folglich den Eigenwillen als starren Gegenstand der Ermächtigung und Positivierung, was wiederum mit der Annahme des Verlusts der Kraft der Negativität einhergeht. Diese Sichtweise übersieht indes die Besonderheit politischer Teilnahmerechte. Im Unterschied zu Freiheits- und Teilhaberechten, die – wie Honneth bemerkt – 60
Vgl. zum Begriff der Negativität insbesondere im Kontext des Rechts weiterführend Khurana/Quadflieg/Raimondi/Rebentisch/Setton, Negativität. Kunst – Recht – Politik, S. 169 ff. 61 Vgl. Menke, Kritik der Rechte, S. 263 ff. 62 Ebd., S. 317 f. 63 Ebd., S. 358.
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„eine Rückbesinnung auf den nur eigenen Willen nahe[legen]“, versuchen die politischen Teilnahmerechte „durch die Aufforderung zur demokratischen Interaktion [diesen] gerade aufzubrechen“, wodurch das Rechtsverhältnis „[i]n der Kategorie der politischen Rechte […] auf eine soziale Sphäre der Freiheit voraus[weist]“.64 Wie bereits im Kapitel zur Grundrechtsdogmatik festgestellt werden konnte, haben die politischen Teilnahmerechte nicht nur eine emanzipative Wirkung, sondern sie setzen außerdem zum Teil eine gemeinsame, kooperative Ausübung voraus. Hierdurch ermächtigen sie statt des individuellen Willens einen kollektiven Willen.65 Die Bildung eines solchen kollektiven Willens setzt wiederum das Gegebensein einer Selbstverwandlungsmöglichkeit voraus,66 die in diesem Kontext durch einen kollektiven und diskursiven Austausch vermittelt wird. Hierfür schafft die Rechtsordnung im Wege der Gewährung politischer Teilnahmerechte den notwendigen Spielraum. Inwiefern dieses Selbstverwandlungspotential in einer Konstellation, in der ein kollektiver Vermittlungsprozess hinzutritt, nicht den Voraussetzungen eines dialektischen Materialismus genügt, wäre eine von Menke zu beantwortende Frage. e) Zwischenergebnis Zu vermuten wäre, dass Menkes Kritik am Fehlen eines dialektischen Materialismus als der ontologisch richtigen Vollzugsform der Selbstreflexion darauf zurück geht, dass die Transformation des subjektiven Eigenwillens jedenfalls keine zwangsläufige Konsequenz der Rechtsform bildet. „[…], verbindlich fordern kann es [das Recht, Anm. I. K.] nur die äußere Begrenzung unserer Willkür.“67 Dieser Annahme kann nicht widersprochen werden. Auch wenn gezeigt werden konnte, dass das Recht den Eigenwillen zum einen nicht als unveränderlich Gegebenes begreift und es zum anderen Spielräume für die Transformation des Eigenwillens schafft, bleibt diese Transformation letztlich stets nur eine Option. Das Subjekt kann sich gleichwohl gegen sie entscheiden. Auch Habermas stellt fest: „Anders als die Moral kann das Recht nicht zu einer verständigungsorientieren Inanspruchnahme subjektiver Rechte verpflichten, auch wenn die politischen Bürgerrechte genau diese Art des öffentlichen Gebrauchs ansinnen.“68
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Honneth, Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, S. 145 f. Ebd., S. 144; vgl. hierzu außerdem oben S. 165 f. 66 Vgl. Menkes ablehnende Haltung hinsichtlich der Überlegung, dass eine autonome Willensbildung gleichsam eine eigene, private Sphäre des Subjekts voraussetzt, in der das Subjekt seinen Willen frei von Beeinflussung bestimmen kann: Menke/Schmidt/Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 54, 55 u. 73 f.; zur „legitimen Vereinzelung“ vgl. außerdem mit Bezug auf Hegel: Honneth, Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie, S. 59 ff. 67 Menke, in: Kritische Justiz 2018, 475, 476. 68 Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, S. 165. 65
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Auch wenn demnach einzelne Elemente eines dialektischen Materialismus in der Form der subjektiven Rechte nachweisbar sind, ist Menkes Rekonstruktion dennoch zuzugeben, dass der durch die subjektiven Rechte vermittelte Materialismus des bürgerlichen Rechts letztlich nicht dialektisch verfährt.
2. Differenzierender Materialismus Gleichwohl zeigt die bisherige Untersuchung auf, dass der das bürgerliche Recht kennzeichnende Materialismus ebenso wenig in der Beschreibung als positivistisch oder empiristisch aufgeht. Anhand verschiedener privat- und öffentlich-rechtlicher Rechtsfiguren wurde ersichtlich, dass der Eigenwille durch die subjektiven Rechte nicht unhinterfragt positiviert wird. Dies geht aus dem die Rechtsordnung als Ganzes prägenden Prinzip des Rechtsmissbrauchs und insbesondere aus der Figur des institutionellen Rechtsmissbrauchs klar hervor. Darüber hinaus konnte anhand von Beispielen wie der Nichtigkeit nach § 138 I BGB oder auch der grundrechtlichen Schrankendogmatik aufgezeigt werden, dass der durch die subjektiven Rechte berechtigte Eigenwille aufgrund überindividueller Anliegen einschränkbar ist. Deutlich kristallisierte sich diese überindividuelle Perspektive zudem hinsichtlich der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte heraus. Die Betonung der überindividuellen Ausrichtung ist dabei insofern von besonderer Relevanz, als dass eine Beschränkung schlicht aufgrund der subjektiven Rechte Dritter der von Menke beschriebenen Normativitätsstruktur nicht widerspräche. Bei einer Beschränkung durch konfligierende Rechte anderer Subjekte bliebe der Eigenwille nach wie vor das alleinige Zentrum der Normativitätsstruktur bzw. die alleinige Legitimationsquelle des Rechts. Die Aufgabe der Rechtsordnung beschränkte sich insofern auf die Gewichtung der jeweils kollidierenden Einzelinteressen. Das vorliegend heraus gestellte überindividuelle Moment weist indessen auf eine Normativitätsstruktur hin, die mehr als eine Legitimationsquelle kennt. Ob dieser verschiedenen – auch überindividuellen – Legitimationsquellen, muss der Eigenwille als solche gegebenenfalls zurücktreten. Dieser Aspekt widerspricht der Annahme einer unhinterfragten Legalisierung. Anders als Menke annimmt, wird der Eigenwille folglich nicht – begrenzt lediglich durch die Gleichheitsprämisse – eins zu eins in Recht übersetzt. Das Recht ist insofern nicht durch den Eigenwillen des Subjekts determiniert. Mangels Zwangsläufigkeit der Transformation des zu Positivierenden liegt zudem Menkes Analyse entsprechend ebensowenig ein dialektischer Materialismus vor. Wenn folglich weder die Annahme eines dialektischen noch die eines empiristischen Materialismus überzeugt, wirft dies die Frage einer zutreffenden Beschreibung des Verhältnisses von Recht und nichtrechtlichem Eigenwillen auf. Menkes Rekonstruktion legt diesbezüglich die Alternativlosigkeit der Beschreibung des Materialismus als entweder empiristisch oder dialektisch nahe. Die Verneinung des Vorliegens eines dialektischen Materialismus scheint für Menke gleichbedeutend mit
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der Annahme des Vorliegens eines empiristischen Materialismus zu sein. Wenn jedoch weder das eine noch das andere die Beobachtungen der vorliegenden Untersuchung umfassend erklärt, wäre in Betracht zu ziehen, dass neben die genannten Alternativen eine weitere Vollzugsoption tritt. Um sich der Frage nach dieser Vollzugsform des rechtlichen Materialismus annähern zu können, sollen zunächst noch einmal knapp die Beobachtungen der vorliegenden Untersuchung unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses zwischen Recht und Eigenwillen in Erinnerung gerufen werden. a) Rückschlüsse aus der rechtsdogmatischen Betrachtung Für die Ebene der Rechtshervorbringung gilt unzweifelhaft, dass die Entscheidung über die Berechtigung bestimmter Interessen zunächst zur Disposition der Gesetzgebung steht. Im demokratischen und parlamentarischen Prozess werden Positionen abgewogen und über deren Umsetzung in Recht entschieden. Während Menke dieser Annahme vermutlich nicht widerspräche, endet die Dispositionsfreiheit ihm zufolge jedoch sobald ein subjektives Recht dieses Stadium der Rechtshervorbringung verlassen hat: Sobald ein subjektives Recht existiert, setzt gewissermaßen ein Legalisierungsautomatismus des Rechts den Eigenwillen betreffend ein,69 welcher – entsprechend der Maxime der Ermächtigung des Eigenwillens eines jeden Subjekts – lediglich durch konfligierende subjektive Rechte Dritter relativiert werden kann. Demgegenüber konnte unter Einbeziehung des objektiven Rechts auf der Ebene der dogmatisch fundierten Rechtsanwendung gezeigt werden, dass auch der sich in einem bereits bestehenden subjektiven Recht manifestierende Eigenwille etwa hinter Interessen überindividueller Art zurücktreten muss und dass dies gerade keinen „Rechtsverstoß“70 sondern vielmehr den Rechtsvollzug darstellt. Im Falle des § 138 I BGB kann die Ausübung eines subjektiven Rechts gegen die guten Sitten und die darin verkörperten überindividuellen Wertentscheidungen verstoßen. Die Rechtsfolge der Nichtigkeit entzieht der betreffenden Rechtsausübung die rechtliche Geltung von Anfang an, wodurch eine auf die subjektiven Rechte und den Eigenwillen gerichtete Ziellogik durchbrochen wird. Der Eigenwille ist folglich nicht in dem Sinne unantastbar, dass seine Geltung unausweichliche Folge wäre. Vielmehr wird unter dem Vorzeichen der Generalklausel des § 138 I BGB der Gehalt eines Rechts immer wieder hinterfragt und auf das rechtlich und sittlich Zulässige reduziert. Der Widerspruch mit den geltenden Sittlichkeitsvorstellungen stellt für den Eigenwillen ein Geltungshindernis dar. Insofern gibt die objektiv-rechtliche Norm der Privatautonomie eine Gestalt, durch welche bewirkt wird, dass ein mit der rechtlichen Wertordnung nicht in Einklang stehender Eigenwille zwar nicht transformiert aber ebenso wenig legalisiert wird. 69
Vgl. hierzu Menke, Kritik der Rechte, S. 202 f., 206, 234, 249 f., 372 u. passim. So aber ebd., S. 258, bezüglich einer Begrenzung des Eigenwillens, welche nicht auf dem Gleichheitsprinzip beruht. 70
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Ein ähnliches Bild – wenn auch unter strukturell anderen Vorzeichen – ergab sich auch aus der Betrachtung der Grundrechtsdogmatik. Einem Grundrechtsgebrauch kann ebenfalls – selbst wenn das betreffende Verhalten oder Interesse vom Schutzbereich eines Grundrechts prinzipiell umfasst ist – die rechtliche Anerkennung versagt werden. Unter Einhaltung der jeweiligen Rechtfertigungsvoraussetzungen kann die rechtliche Geltung des sich im jeweiligen Grundrechtsgebrauch manifestierenden Eigenwillens staatlicherseits beschränkt werden. Die rechtliche Anerkennung des Eigenwillens kann auch hier zugunsten überindividueller Konzepte verweigert werden, indem das jeweilige subjektive Grundrecht im Rahmen der Abwägung eine geringere Gewichtung erfährt. Wenn auch keine bestimmte Art der Grundrechtsausübung vorgegeben werden kann, macht die Abwägung als Instrument zur Auflösung von Kollisionen individueller und überindividueller Rechtsgüter eine Bewertung des hinter der Grundrechtsausübung stehenden Eigenwillens erforderlich. Diese mündet zwar wiederum nicht in eine Transformation, kann jedoch letztlich aufgrund des beschriebenen Einflusses auf das Abwägungsergebnis gegebenenfalls ein Hindernis für die rechtliche Anerkennung darstellen. Angestrebt wird eine Kompatibilisierung mit verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen, welche sich nicht in der Ziellogik der Sicherung subjektiver Rechte erschöpfen. Diese Kompatibilisierungsbestrebung ist selbstredend nicht auf den Bereich der Grundrechte begrenzt, sondern bezieht sich auf die Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit, was sich insbesondere in der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte widerspiegelt. Während die vorherigen Beobachtungen Zweifel an einer unhinterfragten Positivierung des Eigenwillens durch die Form der subjektiven Rechte begründen, wurde durch die Beschäftigung mit der grundrechtsdogmatischen Figur der objektiv-rechtlichen Dimension eine über Ermächtigung und Erlaubnis hinausgehende Funktionsweise der Form sichtbar. Durch diese zusätzliche Dimension sind Grundrechte nicht auf eine berechtigende Wirkung beschränkt und dienen nicht allein der Abwehr staatlicher Eingriffe, sondern wirken auch auf die Umsetzung der grundrechtlichen Grundentscheidungen hin. Nachdem das Recht die Selbstverwandlung des Subjekts auch an dieser Stelle nicht verbindlich fordern kann, könnte die Herausbildung der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension überdies als eine Art Kompensation dessen interpretiert werden.71 Unabhängig von einem möglichen Kompensationsmechanismus hat die Untersuchung jedoch gezeigt, dass die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte sowohl die Einbeziehung des sozialen Kontextes und der sozialen Auswirkungen der Grundrechtsausübung als auch die Berücksichtigung der Eigenrationalität sozialer Sphären ermöglicht.72 Auch diese Faktoren wirken sich letztlich bei der Frage nach der Legalisierung des Eigenwillens im Rahmen subjektiver Rechte auf der Rechtsanwendungsebene aus. Im Unterschied zu den vorher genannten Untersuchungsgegenständen wird diese zusätzliche objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension vorliegend als Bestandteil der 71 In diese Richtung Schultz, Spiegelungen von Strafrecht und Gesellschaft. Eine systemtheoretische Kritik der Sicherungsverwahrung, S. 261 ff. 72 Siehe oben S. 216 ff.
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D. Schluss
Form des subjektiven Grundrechts charakterisiert73 und stellt insofern kein rein objektiv-rechtliches Korrektiv dar. Als der Form ebenfalls inhärentes Merkmal stellte sich unter Anknüpfung an die Innentheorie schließlich die Figur des institutionellen Rechtsmissbrauchs dar. Diese bildet eine funktionsbedingte Einschränkung der Willkürfreiheit. Hier zeigte sich einmal mehr und in besonderer Deutlichkeit, dass das Innehaben eines bestimmten Willens – selbst wenn dieser prinzipiell in einem subjektiven Recht Ausdruck findet – noch nichts über die Rechtmäßigkeit und Geltung der jeweiligen Rechtsausübung aussagt.74 Die „Tatsache, daß etwas der eigene Wille eines Subjekts […] ist“75 führt gerade nicht notwendig zu einer Berechtigung oder Geltung. In Falle des (institutionellen) Rechtsmissbrauchs wird der Ausübung eines Rechts, welches das Subjekt unzweifelhaft inne hat, gleichsam die rechtliche Anerkennung versagt. Der Legalisierung des Eigenwillens steht hier der von konfligierenden Rechten unabhängige zweckwidrige Rechtsgebrauch entgegen.76 All die beschriebenen Rechtsfiguren legen nahe, dass die Verständigung darüber, welche Interessen rechtlich als akzeptabel anerkannt werden, nicht mit dem Prozess der Rechtshervorbringung endet. Auch nach Abschluss dieses Prozesses bleibt das zu legalisierende Natürliche in der beschriebenen Weise verhandelbar. Diese Beobachtungen aus der Rechtsdogmatik können im Ausgehen von einem empiristischen Materialismus nicht plausibel gemacht werden. Abstrahiert man von den einzelnen Rechtsfiguren könnte man feststellen, dass die Legalisierung des Eigenwillens auf der Ebene der dogmatisch fundierten Rechtsanwendung zwar prinzipiell den Ausgangspunkt subjektiver Rechte bildet, während jedoch ein Abweichen von diesem Prinzip nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist. Während Menke das geltende Recht als von der „Autorität“77 des gegebenen Eigenwillens ausgehend versteht, zeigt sich auf Ebene der Rechtsanwendung, dass das Recht an diese Autorität nicht zwingend gebunden ist. Die Sachlogik des geltenden Rechts ist folglich nicht in der von Menke beschriebenen Weise durch die Berechtigung des Eigenwillens determiniert. Von der selbst gesetzten Maxime der Ermächtigung des Eigenwillens kann das Recht unter Umständen abweichen, da es – wie gezeigt – über den Eigenwillen hinausgehende Legitimationsquellen kennt. Das Vorliegen entsprechender Umstände kann dann angenommen werden, wenn entgegenstehende Rechtsprinzipien das Abweichen von der Maxime der Berechtigung erfordern, um die Einheit der Rechtsordnung zu wahren. Insoweit handelt es sich zuvörderst um selbstreferentielle Maßstäbe des Rechts. 73
Vgl. hierzu S. 220 ff. der vorliegenden Arbeit. So auch Hellgardt, Regulierung und Privatrecht: staatliche Verhaltenssteuerung mittels Privatrecht und ihre Bedeutung für Rechtswissenschaft, Gesetzgebung und Rechtsanwendung, S. 373. 75 Menke, Kritik der Rechte, S. 202. 76 Vgl. hierzu oben S. 238 ff. 77 Menke, Kritik der Rechte, S. 168. 74
I. Blockade der Selbstreflexion?
265
b) Operationsweise Mehr als die Frage, welche Umstände letztlich konkret ein Abweichen von der Ermächtigungsmaxime rechtfertigen können, ist vorliegend von Interesse, welche Rückschlüsse aus dieser Erkenntnis für den Operationsmodus des das Recht kennzeichnenden Materialismus gezogen werden können. Ausgehend davon, dass das Recht eine Unterscheidung vollzieht, anhand derer über die rechtliche Anerkennung des nichtrechtlichen Eigenwillens entschieden wird, wird vorliegend die Bezeichnung „differenzierender Materialismus“ vorgeschlagen. Durch den aufgezeigten Einfluss des objektiven Rechts und ebenso durch die in der Form des subjektiven Rechts selbst angelegten Differenzierungsmechanismen ist davon auszugehen, dass der Prozess der Selbstreflexion nicht durch eine unhinterfragte Positivierung des Eigenwillens „blockiert“78 wird. Vielmehr geschieht genau das, was Menke die Selbstreflexion des Rechts nennt: das Recht bringt „seine Beziehung zu dem, was nicht Recht ist, in sich selber noch einmal zur Verhandlung“79. Mangels dialektischer Vollzugsweise, das heißt mangels der Fähigkeit, die Transformation des Eigenwillens verbindlich zu fordern, stellt sich der differenzierende Materialismus des geltenden Rechts bezüglich der subjektiven Rechte indes als einseitige Operation dar. Es handelt sich nicht um einen beiderseits vermittelten Prozess, bei dem sich sowohl auf der Seite des Rechts als auch auf der des Eigenwillens Modifikationen vollziehen. Vielmehr bleibt die Modifikation oder Transformation des Eigenwillens eine Option, für deren Realisierung rechtlich zwar Spielräume geschaffen werden können, die jedoch nicht als zwangsläufige Konsequenz eintritt. Während die „(Selbst-)Verwandlung“ bezogen auf den Eigenwillen mithin lediglich potentiell bleibt, verwandelt sich das Recht auf der dogmatisch geprägten Rechtsanwendungsebene selbst, indem es sich der rechtlichen Anerkennung oder Geltung als Steuerungsinstrument bedient und sich damit die eigene Unabhängigkeit von einer möglichen „(Selbst-)Verwandlung“ des Subjekts sichert. Unter primärer Anwendung selbstreferentieller Maßstäbe80 entscheidet das Recht darüber, inwieweit das Nichtrecht vermittelt durch die Legalisierung in Recht transformiert wird. Habermas geht bezüglich der Rechtsgeltung, die er als „Legitimitätskomponente“81 versteht, soweit, in ihr einen Bezugspunkt des positiven Rechts zur Moral zu erblicken.82 Menke reduziert den Akt des „Ingeltungsetzen[s]“ demgegenüber auf die Begrenzung der Eigenwillen durch ein äußerlich wirkendes 78
Ebd., S. 165. Menke/Schmidt/Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 54, 65. 80 Zur Durchbrechung der Anwendungspraxis selbstreferentieller Maßstäbe im Rechtssystem z. B. durch die Orientierung von Rechtsentscheidungen an ihren gesellschaftlichen Folgen vgl. Teubner/Willke, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 1984, 4, 22 ff. 81 Zu Habermas’ Begriff der Legitimität vgl. Habermas, in: MERKUR 1976, 37, 39. 82 Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, S. 137. 79
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D. Schluss
„Gesetz der Gleichheit“83. Festgehalten werden kann jedenfalls, dass der Eigenwille im subjektiven Recht demnach nicht gilt, weil es sich um den allein am Gesetz der Gleichheit begrenzten eigenen Willen eines Subjekts handelt84, sondern Rechtsgeltung erlangt er insoweit als die Rechtsordnung entschieden hat, ihn gelten zu lassen und damit zu verrechtlichen.85 Sobald die Berechtigung der Einzelnen nicht mehr als alleinige normative Maxime und Legitimationsquelle verstanden wird, sondern anerkannt wird, dass eine Mehrzahl von Maximen existiert, ergibt sich eine Notwendigkeit zu differenzieren. In Anbetracht der Pluralität von Maximen kann sich das Recht denknotwendig nicht in jedem Fall für die Legalisierung eines die Gleichheitsprämisse achtenden Eigenwillens entscheiden, sondern muss differenzieren. Die Bedrohung durch die Paradoxie eines unrechten Rechts, die im Rahmen eines durch Selbstreflexion erzeugten Rechts stets mitgedacht werden muss, macht strukturell einen „Reflexionsstopp“ erforderlich.86 Während ein solcher im Konzept eines empiristischen Materialismus in der Gegebenheit des Eigenwillens erkannt werden könnte, bleibt in Menkes Konzept von einem dialektischen Materialismus unklar, wo ein solches Regeressende der Selbstreflexion zu verorten wäre,87 denn der dialektische Materialismus zeichnet sich gerade dadurch aus, keinerlei Gegebenheiten zu kennen. Demgegenüber birgt der differenzierende Materialismus den Vorteil, dass die Selbstreflexion zuletzt an der Verfassung als einem „vorausgesetzten Konsens“88 ihren Endpunkt oder auch letzten Grund findet. Der Materialisierungsprozess bleibt stets zurückbezogen auf die Verfassung, die – ausgestattet mit Ewigkeitsgarantien wie Art. 79 III GG – einen solchen „Reflexionsstopp“ markiert,89 ohne jedoch gleichzeitig zwangsläufig den Fehler der Naturalisierung des Eigenwillens zu begehen. Eine Verabsolutierungslogik könnte demnach unter Umständen im Hinblick auf die Verfassung kritisiert werden, nicht jedoch im Hinblick auf den Eigenwillen. Es ist daher mit der Sachlogik des Rechts vereinbar, unter den beschriebenen Umständen eine Legalisierung des Eigenwillens zu verweigern und somit von dem 83
Menke, Kritik der Rechte, S. 203. So aber ebd., S. 202 f. 85 In diese Richtung schon Savigny, System des heutigen römischen Rechts Bd. 1, § 4, S. 7, der im Hinblick auf das subjektive Recht, welches eine Person berechtigt, formuliert: „[…]: ein Gebiet, worin ihr Wille herrscht, und mit unserer Einstimmung herrscht.“; vgl. hierzu außerdem Chelidonis in: Juristische Ausbildung 2010, 726, 728 f. mit Bezug zu Windscheid. 86 Fischer-Lescano, in: JuristenZeitung 2018, 161, 165. 87 In diese Richtung auch – allerdings hinsichtlich Menkes „Recht und Gewalt“ – Ladeur, Die Textualität des Rechts. Zur poststrukturalistischen Kritik des Rechts, S. 113. 88 Luhmann, in: Rechtstheorie 1979, 159, 179 f. 89 Fischer-Lescano, in: JuristenZeitung 2018, 161, 165; vgl. hierzu außerdem Hellgardt, Regulierung und Privatrecht: staatliche Verhaltenssteuerung mittels Privatrecht und ihre Bedeutung für Rechtswissenschaft, Gesetzgebung und Rechtsanwendung, S. 437, der die Grundrechte gleichsam als Grenze für eine folgenbezogene Privatrechtstheorie verstanden wissen will. 84
I. Blockade der Selbstreflexion?
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Prinzip der Ermächtigung des Eigenwillens abzuweichen. Eine solche Weigerung manifestiert sich sodann beispielsweise in der Rechtsfolge der Nichtigkeit, die dem Eigenwillen die Geltung als Recht von Anfang an versagt. Zwar findet keine umfassende Emanzipation von der Form der subjektiven Rechte als Handlungsform des Rechts statt, jedoch tritt das Instrument der differenzierten rechtlichen Anerkennung als Korrektiv neben die Handlungsform der Etablierung immer neuer subjektiver Rechte. Diese mit dem differenzierenden Materialismus einhergehende Operationsweise des Rechts, welche über den von Menke beschriebenen Legalisierungsmechanismus der Form subjektiver Rechte hinausgeht, relativiert seine Annahme, das Recht sei „dem negativen Grenzfall eines denkmöglichen Rechtssubjekts“90 „hilflos ausgeliefert“91, „[d]enn subjektive Rechte gibt es nur zu den Bedingungen des Rechts selbst.“92 Unter Einbeziehung der Ebene der dogmatisch fundierten Rechtsanwendung wird erkennbar, dass der von Menke beschriebene ontologische Fehler der Form subjektiver Rechte keine Zwangsläufigkeit besitzt: „Er ist der Form subjektiver Rechte nicht eingeschrieben. Genesis und Geltung subjektiver Rechte fallen auseinander. Ihre philosophische Rekonstruktion darf nicht mit ihrer Operativität im Rechtssystem verwechselt werden, […].“93 c) Auflösung der Differenz zwischen Recht und Nichtrecht? Das Recht vollzieht die Differenz zwischen Recht und Nichtrecht folglich nicht allein im Wege der Ermächtigung des nichtrechtlichen Eigenwillens,94 sondern es findet eine Differenzierung statt zwischen dem zu positivierenden Nichtrecht einerseits und andererseits demjenigen Nichtrecht, welches mangels rechtlicher Anerkennung nichtrechtlich bleibt. Die Differenz zwischen Recht und nichtrechtlichem Eigenwillen geht nach hier vertretener Auffassung folglich nicht restlos in der Legalisierung auf. Vielmehr bleibt mit dem nichtrechtlichen Eigenwillen, dem die Verrechtlichung verwehrt wird, ein Residuum an Differenz erhalten.95 Dieses Residuum ergibt sich unabhängig davon, auf welchen Maßstab im Prozess der Positivierung abgestellt wird. Auch wenn der Eigenwille nicht aufgrund überindividueller Konzepte, sondern aufgrund des Maßstabes der Gleichheitsprämisse eine Relativierung „quantitativ[er]“ Art erfährt,96 vollzieht sich folglich keine vollständige Legalisierung, sodass die Differenz zwischen Recht und Nichtrecht insoweit auch hier erhalten bleibt. Die Beschränkung aufgrund der Gleichheitsprämisse, als die von 90
Denninger, in: Kritische Justiz 2018, 316, 319. Menke, in: Kritische Justiz 2018, 475, 477. 92 Wielsch, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 141, 148. 93 Ebd., 141, 160. 94 So aber Menke, Kritik der Rechte, S. 262 f. 95 Im Kontext der Gegenrechte versteht Loick, Juridismus. Konturen einer kritischen Theorie des Rechts, S. 312, die Aufrechterhaltung einer gewissen Differenz zum Nichtrechtlichen als Voraussetzung, um den „Charakter als Rechte“ bewahren zu können. 96 Menke, Kritik der Rechte, S. 264. 91
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D. Schluss
Menke einzig als rechtslogikkonform anerkannte Grenze der Legalisierung, hat mithin ebenfalls das Bestehenbleiben einer gewissen Differenz zwischen Recht und Nichtrecht zur Folge, welches Menke jedoch übersieht. Ungeachtet auf Grundlage welchen Maßstabes ein Legalisierungshindernis erkannt wird, kann jedenfalls festgehalten werden, dass mit dem das geltende Recht kennzeichnenden differenzierenden Materialismus keine vollständige Auflösung der Differenz zwischen Recht und nichtrechtlichem Eigenwillen einher geht, was insofern auch der Annahme einer Naturalisierung des Eigenwillens entgegensteht. Gleichwohl baut Menkes Begründung für den vollständigen „Verlust der Negativität“97 auf eben dieser Annahme auf. Ihm zufolge geht die Kraft der Negativität bzw. die Macht der „(Selbst-)Verwandlung“ des Subjekts dadurch verloren, dass das Recht durch die Form der subjektiven Rechte die besagte Differenz vollständig vollzieht.98 Unter Zugrundelegung eines Materialismus, der die Verrechtlichung des Eigenwillens in differenzierter Weise vollzieht und die Differenz zwischen Recht und Nichtrecht insoweit gegebenenfalls erhalten bleibt, entfällt indessen der Grund für die Annahme eines vollständigen Verlusts der Kraft der Negativität. Wo das Recht die Differenz entgegen Menkes Annahme in der Form der subjektiven Rechte nicht restlos vollzieht, kann das Potential für die Kraft der Negativität und einer damit einhergehenden Möglichkeit der „(Selbst-)Verwandlung“ des Subjekts lokalisiert werden. Diese Deutung bildet die abstrakt-theoretische Grundlage für diejenigen Phänomene im Recht, die Spielräume für eben jene Transformation oder Verwandlung schaffen. Als besonders augenfällige Beispiele dafür, dass das Recht den Eigenwillen nicht als unveränderlich Gegebenes auffasst, wurden vorliegend exemplarisch das Nudge-Konzept sowie die politischen Grundrechte herausgegriffen.
3. Ergebnis Ausgehend von der Ontologie des Rechts behält Menke darin recht, dass die Transformation des Eigenwillens durch das Recht nicht verbindlich gefordert werden kann. Aus diesem Grund setzt das Recht im Wege des differenzierenden Materialismus nicht dialektisch auch am Eigenwillen an, sondern vermittelt durch die rechtliche Anerkennung bei sich selbst. Die „Selbstbegrenzung des Rechts […] auf das Äußere“99 findet insofern zwar statt, jedoch resultiert diese nicht in einer zwangsläufigen, allein durch die Gleichheitsprämisse begrenzten Berechtigung des Inneren. So versteht das Recht den nichtrechtlichen Eigenwillen zwar grundsätzlich als „rechtserzeugende Tatsache“100, jedoch wird über die Legalisierung des untransformierten Eigenwillens im Rechtsanwendungsprozess eine Entscheidung ge97
Ebd., S. 248. Ebd., S. 262 ff.; ausführlich hierzu oben S. 70 ff. 99 Menke, Kritik der Rechte, S. 77. 100 Somek, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 107, 110.
98
I. Blockade der Selbstreflexion?
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troffen. Eine Legalisierung findet nicht lediglich qua seiner Existenz um jeden Preis statt. Es ist folglich nicht der Geltungsanspruch des Eigenwillens selbst, von dem das Recht sich nicht gegebenenfalls lösen kann, sondern das für das Recht unumgehbare Prinzip bildet lediglich die Unzulässigkeit einer verbindlichen Forderung nach Transformation. Insofern begrenzt sich das bürgerliche Recht am nichtrechtlichen Gegenstand der Berechtigung, was jedoch im Umkehrschluss nicht eine unhinterfragte Legalisierung impliziert. Menkes Kritik setzt sich im Wesentlichen zusammen aus der Kombination des Ausbleibens einer Transformation des Eigenwillens und eines auf den mit dem Gesetz der Gleichheit in Einklang stehenden Eigenwillen bezogenen Legalisierungsautomatismus. Wird letzterer jedoch durch die Operationsweise des differenzierenden Materialismus relativiert, verliert diese Kritik an Schlagkraft. Soweit der Gedanke der Einheit der Rechtsordnung es erfordert, kann das Recht anderen normativen Prinzipien den Vorzug vor der Ermächtigung des Eigenwillens einräumen. Da die „Legalisierung des Natürlichen“ insoweit nicht die einzige rechtliche Maxime bildet, ist von Differenzierungsprozessen des Rechts hinsichtlich des nichtrechtlichen Eigenwillens auszugehen, die vorliegend mit der Forderung nach einer Selbstreflexion in Form eines dialektischen Materialismus ins Verhältnis gesetzt worden sind. Ohne Anerkennung dieser Differenzierungsleistung des Rechts fehlt eine Erklärung für die aufgezeigten Introspektionsvorgänge sowie für die sich zum Teil vollziehende Bewertung des nichtrechtlichen Eigenwillens durch das Recht. Eine unterhinterfragte Positivierung des Eigenwillens böte hierfür keinen Raum, dennoch sind entsprechende Ansätze in der Rechtsdogmatik nachweisbar.101 Menke schließt die Bewertung des Wollens durch das Recht aus, da eine solche für ihn eindeutig zur Konsequenz hätte, dass es nur „ein Recht auf das sittliche oder selbständige Wollen“102 geben könnte, was in der Betrachtung des dogmatisch austarierten Rechtssystems unbestreitbar keine Stütze findet. Ein Recht ausschließlich auf ein sittliches Wollen ist indessen nicht die zwangsläufige Konsequenz einer Bewertung. Für die vorliegend exemplifizierten Bewertungsvorgänge ist sie das nicht, weil die Bewertung negativ ausschließt, was nicht berechtigt wird, anstatt positiv den Anspruchsinhalt zu bestimmen. Zwar sind jene Bewertungsprozesse folglich nicht so zu verstehen, dass der Eigenwille deshalb Geltung beanspruchen kann, weil eine Bewertung ergibt, dass er den Anforderungen der Rechtsordnung genügt – anders gewendet kann die Bewertung unter Umständen einen Widerspruch mit dem Prinzip der Einheit der Rechtsordnung ergeben, welcher sodann ein Geltungshindernis begründen kann. Die Bewertung stellt demgemäß nicht den Grund für die Geltung des Eigenwillens dar, sie kann jedoch der Legalisierung des nichtrechtlichen Eigenwillens entgegenstehen.
101 102
Vgl. hierzu u. a. oben S. 147 ff. und S. 194 ff. Menke, Kritik der Rechte, S. 203.
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D. Schluss
Selbstredend erlangt das Subjekt beispielsweise vermittelt durch die Privatautonomie „Kompetenzen“103, um rechtliche Verbindlichkeiten für andere zu schaffen. Ein subjektives Recht in Form eines privatrechtlichen Anspruchs räumt der Rechtsinhaberin einen „Möglichkeitsspielraum“104 ein, im Rahmen dessen sie nach Belieben entscheiden kann, ob und wie sie einen privatrechtlichen Anspruch durchsetzt. Insofern ist der von Menke angeführten Annahme Luhmanns, dass das Recht nur wollen will, „wenn und soweit der Einzelne will“105, zuzustimmen. Jedoch besteht dieser „Möglichkeitsspielraum“ nicht unbegrenzt, oder genauer: nicht allein begrenzt durch das formale Gesetz der Gleichheit. Denn, wie gezeigt, ist die Rechtsausübung des Subjekts einer normativen Bewertung durch das Recht nicht vollends entzogen,106 sodass der nichtrechtliche Eigenwille nur in den entsprechenden Grenzen legalisiert wird. „Die Durchsetzung […] von subjektiven Rechten richte[t] sich in allen tatsächlich existierenden Rechtsordnungen aber nicht maßgeblich nach dem tatsächlichen Willen des Rechteinhabers, sondern danach, inwieweit die Rechtsordnung die entsprechende Willensausübung akzeptiert und wo sie ihr Schranken setzt.“107
Ergibt die Bewertung im Rechtsanwendungsprozess sodann, dass die Rechtsausübung an Grenzen wie die der Sittenwidrigkeit gemäß § 138 BGB oder des Rechtsmissbrauchs gemäß § 242 BGB stößt, kann dies in die Versagung der rechtlichen Anerkennung münden, sodass der nichtrechtliche Eigenwille keine Legalisierung erfährt. Ähnlich verhält es sich, sobald die Abwägung zweier grundrechtlicher Positionen eine Bewertung der Rechtsausübung erforderlich macht oder aber die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte Wirkung entfaltet. Diese Introspektions- und Bewertungsprozesse bilden einen Bestandteil der sich unter Anwendung diverser Maßstäbe vollziehenden Materialisierung des Rechts und ihre Existenz kann im Ausgehen von einer auf dem „Mythos des Gegebenen“108 basierenden Blockade der Selbstreflexion nicht plausibel gemacht werden. Wenig plausibel erscheint unter Zugrundelegung eines empiristischen Materialismus ebenso die offenbare Diskrepanz zwischen dem Eigenwillen des Subjekts und derjenigen Materie, welcher mittels Legalisierung schlussendlich rechtliche Geltung zuerkannt wird. Diese Diskrepanz zeigt sich besonders deutlich am Beispiel der als 103
Alexy. 104
Menke, in: MenschenRechtsMagazin 2008, 197, 200 mit Verweis auf Hohfeld und
Ebd., 197, 201. Luhmann, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft Bd. 2, 45, 66. 106 So aber Menke, Kritik der Rechte, S. 203; Menke, in: MenschenRechtsMagazin 2008, 197, 200 f. 107 Hellgardt, Regulierung und Privatrecht: staatliche Verhaltenssteuerung mittels Privatrecht und ihre Bedeutung für Rechtswissenschaft, Gesetzgebung und Rechtsanwendung, S. 373. 108 Vgl. hierzu Menke, Kritik der Rechte, S. 168. 105
II. Abschließende Betrachtung
271
Selbstkorrekturmechanismus des Rechts identifizierten109 Rechtsfigur des Rechtsmissbrauchs. Wie kann ein empiristischer Materialismus, der von einem den nichtrechtlich Eigenwillen betreffenden Legalisierungsautomatismus ausgeht, den Umstand erklären, dass dem Rechtssubjekt die rechtliche Anerkennung der Ausübung einer ihm formal zustehenden Rechtsposition versagt wird, obwohl dieser Rechtsausübung – wie im Falle des institutionellen Rechtsmissbrauchs – kein konfligierendes subjektives Recht entgegensteht? Die Diskrepanz zwischen vorhandenem und zur Geltung gelangendem Eigenwillen lässt keinen anderen Schluss zu, als dass der Materialismus des geltenden Rechts nicht positivistisch im Menkeschen Sinne verfährt. Vielmehr bedarf die treffende Beschreibung der rechtsdogmatisch geformten Rechtsrealität des Rückgriffs auf einen differenzierend operierenden Materialismus, welcher mehr als nur die Legitimationsquelle der Ermächtigung des Eigenwillens kennt und so einer „Blockade“110 des Selbstreflexionsprozesses des Rechts entgegensteht.
II. Abschließende Betrachtung 1. Selbstreflexionsprozess Der Identifizierung des differenzierenden Materialismus als Vollzugsform des Selbstreflexionsprozesses des Rechts war die Frage nach dem Grundriss der die subjektiven Rechte prägenden Normativitätsstruktur vorgeschaltet. Erst die Beschäftigung mit dieser Grundstruktur konnte den Blick auf diese Art des Materialismus als Operationsweise des Rechts freigeben. Schwerpunktmäßig wurden vorliegend die in der Rechtsordnung vorfindlichen legitimen Möglichkeiten der Beschränkung subjektiver Rechte ausgewertet, da diese Rückschlüsse auf die Normativitätsstruktur erlauben. Den Ausgangspunkt bildete hierbei die von Menke angenommene normative Maxime der Ermächtigung des privaten Eigenwillens, beschränkbar allein aufgrund des Gesetzes der Gleichheit. Es ist diese normative Struktur, welche Menke letztlich dazu führt, den die Form des subjektiven Rechts kennzeichnenden Selbstreflexionsprozess des geltenden Rechts als einen „positivistisch“ oder „empiristisch“111 verfahrenden Materialismus zu beschreiben. Demgegenüber kommt die rechtsdogmatische Analyse in der Frage nach der Normativitätsstruktur zu einem abweichenden Ergebnis, was aufgrund des zwischen Normativitätsstruktur und Selbstreflexionsverständnis bestehenden Bedingungszusammenhangs den Schluss auf einen anders gelagerten Materialismus mit sich bringen muss. Während Menke die Ermächtigung der Einzelnen als singuläre Maxime versteht, womit denknotwendig einhergeht, dass lediglich konfligierende 109 110 111
Siehe hierzu oben S. 235 ff. Menke, Kritik der Rechte, S. 165. Vgl. ebd., S. 169 u. 175 f.
272
D. Schluss
subjektive Rechte Dritter eine legitime Beschränkung darstellen können, lässt die exemplarische Analyse der Rechtsdogmatik demgegenüber eine vielschichtige Normativitätsstruktur erkennen, im Rahmen derer die Grundkonzeption der Ermächtigung der Einzelnen in einem Spannungsverhältnis mit weiteren normativen Prinzipien steht. Dieses Spannungsverhältnis entsteht zudem nicht erst unter Hinzuziehung externer Normativitäten, sondern es ergibt sich aus der rechtsinternen Betrachtung. Der differenzierende Materialismus als Ausdruck dieser Normativitätsstruktur ist diejenige Vollzugsform des Selbstreflexionsprozesses, die sich zeigt, wenn die dogmatisch geprägte Rechtsanwendungsebene in der Analyse berücksichtigt wird. Diese Struktur bildet den Rahmen für die durch subjektive Rechte vermittelte Legalisierung des Natürlichen und prägt so den Selbstreflexionsprozess des Rechts. Gerade wenn im Hinblick auf die subjektiven Rechte als Medium der Selbstreflexion der Nachweis eines ontologischen Selbstwiderspruchs geführt werden soll, ist ihre Berücksichtigung unabdingbar. Indem Menke den Vorgang der Verrechtlichung des Eigenwillens schlicht als quantitative Begrenzung desselben am Maßstab der Gleichheit versteht,112 unterschätzt er das über den differenzierenden Materialismus zur Anwendung gelangende Instrument der rechtlichen Anerkennung. Vermittelt über die Zuerkennung rechtlicher Geltungskraft können darüberhinausgehende normative Zielvorstellungen wirksam werden, sodass das Recht nicht als dem Eigenwillen „hilflos ausgeliefert“113 angesehen werden kann. Dieser Befund deckt sich mit der eingangs dargestellten limitativen Konsequenz der Interessentheorie, die im Wege der Kombinationstheorie zu einem Bestandteil des rechtstheoretischen Fundaments des subjektiven Rechts geworden ist und die Berechtigung des Eigenwillens qua seiner Existenz und als reiner Selbstzweck relativiert.114 Es handelt sich bei der Berechtigung des Eigenwillens folglich nicht um einen normativen Primat im unausweichlichen Sinne. Der Umstand, dass das Recht über mehr als eine Legitimationsquelle verfügt, führt dazu, dass der Eigenwille in bestimmten Konstellationen eine Bewertung erfährt und seine Ermächtigung gegebenenfalls hinter andere Prinzipien zurücktreten muss. Eine umfassende Freisetzung von jeglichen andersartigen normativen Anforderungen115 kann folglich nicht angenommen werden, was wiederum dem Gedanken einer zwangsläufigen Naturalisierung entgegensteht.116 Über das Instrument der rechtlichen Geltung vollzieht das Recht eine Differenzierung, bei der ein der Gleichheitsprämisse entsprechender Eigenwille nicht als um jeden Preis zu legalisierendes Vorgegebenes verstanden wird. Mit den Worten Luhmanns lautet eine „negative Grundbedingung“ des Rechtssystems wie folgt: „Das System kann keine Positionen vorsehen, die auf alle Fälle Recht haben bzw. Recht bekommen. ,Auf alle Fälle‘ – das 112
Ebd., S. 264. So aber Menke, in: Kritische Justiz 2018, 475, 477. 114 Vgl. hierzu oben S. 113 ff. 115 So aber Menke, Kritik der Rechte, S. 258; vgl. hierzu außerdem Menke, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 13, 26. 116 Ähnlich Wielsch, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 141, 160. 113
II. Abschließende Betrachtung
273
heißt: ohne Rücksicht auf die Konditionen des Systems.“117 Wenn folglich die normative Bestimmung „Der Eigenwille gilt“118 auf der dogmatisch geprägten Rechtsanwendungsebene keine Stütze erfährt, kann Menkes These von einer „Blockade der Selbstreflexion“ insofern nicht zugestimmt werden. Die durch das Recht selbst gesetzte Maxime der Ermächtigung der Einzelnen stellt zwar den Ausgangspunkt dar, die Rechtsordnung ist hierdurch jedoch nicht in im Sinne einer „funktionalen Totalisierung des Anspruchs“ und einer „Legalisierung des Natürlichen“119 determiniert.120 Hinsichtlich der Grundausrichtung an individueller Freiheit kann Menkes Rekonstruktion folglich zwar zugestimmt werden, allerdings entgehen ihm durch das von ihm aufgespannte grobmaschige Netz substantielle Elemente, die das subjektive Recht gleichwohl kennzeichnen. Entsprechende Nachweise konnten sowohl im Hinblick auf den Einfluss des objektiven Rechts, als auch im Hinblick auf die Form des subjektiven Rechts selbst erbracht werden. Über das objektive Recht können überindividuelle Ziellogiken zu Faktoren in der Ausübung des subjektiven Rechts werden. Bezüglich der Form selbst zeigte sich, dass immanente Grenzen bestehen und der private Eigenwille zudem nicht den einzig möglichen Grund und Gegenstand der Berechtigung bildet.121 Vielmehr können beispielsweise auch ein kollektiv gebildeter Wille, die objektiv-rechtliche Werteordnung oder aber rechtliche Institutionen im Rahmen subjektiver Rechte berechtigt werden, sodass deren Ontologie mit der Ermächtigung des Eigenwillens nicht abschließend beschreibbar ist. Die rechtliche Anerkennung geht hier nicht auf in der Beschreibung: „[I]ch anerkenne etwas nur deshalb, weil es so ist, dass ein Subjekt dies will“122. Mit Menke kann folglich festgestellt werden, dass die Form der Rechte nicht neutral ist.123 Er begründet diese Nicht-Neutralität indessen damit, dass die Form das Außerrechtliche zum Ausdruck bringt,124 wohingegen die Einbeziehung der dogmatisch geprägten Rechtsanwendungsebene zeigt, dass sie sich hierin nicht erschöpft. Menke radikalisiert insofern die Dependenz des Rechts und der Rechte vom Eigenwillen zu einem unausweichlichen Verhältnis der Linearität, welches rechtsdogmatisch betrachtet zu diesem Grad nicht besteht. Seine Annahme, das Recht vollziehe die Selbstreflexion
117
Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 549. Menke, Kritik der Rechte, S. 316, ähnlich auch S. 249 u. 263. 119 Ebd., S. 33. 120 Insoweit kann auch Pistor nicht uneingeschränkt zugestimmt wird, wenn sie aus Menkes Rechtsformanalyse den Schluss zieht, dass die „Verrechtlichung außerrechtlicher Befugnisse […] den Anspruch [untergräbt], dass unser System ein System […] der Herrschaft des Rechts und nicht des Menschen [ist].“, vgl. Pistor, Der Code des Kapitals, S. 361. 121 So aber ebd., S. 63. 122 Menke/Schmidt/Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 54, 62. 123 Menke, Kritik der Rechte, S. 9. 124 So auch Röhl, Schluss mit der Kritik der Rechte. Protokoll meiner Bemühungen um das Verständnis von Christoph Menkes „Kritik der Rechte“, 25. 02. 2019, in: RSOZBLOG.de, S. 29. 118
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D. Schluss
schlicht dadurch, dass es sich den nichtrechtlichen Eigenwillen voraussetze,125 verstellt den Blick für den Unterschied zwischen der Ebene des Eigenwillens und der der Rechtsausübung, welche die rechtliche Gestalt des nichtrechtlichen Eigenwillens bildet. Die Begrenzung des Rechts am Eigenwillen als Gegenstand der Berechtigung hat zur Folge, dass zwar Spielräume für die Transformation des Natürlichen geschaffen werden können, diese rechtlich jedoch nicht gefordert werden kann. Gleichwohl ist hierdurch weder die Möglichkeit einer Bewertung des zu legalisierenden Eigenwillens ausgeschlossen, noch sind es Modifikationen, die das Recht sich selbst betreffend vollzieht. Solche Modifikationen ergeben sich aus der Entscheidung sowohl über das Geltenlassen des nichtrechtlichen Eigenwillens als auch über die Anwendung der dem Recht zur Verfügung stehenden Reaktionsweisen auf gegebenenfalls auftretende pathologische Effekte des Rechts in den Sphären des Nichtrechts. Selbst wenn man mit Menke von einer vollständigen Naturalisierung des Eigenwillens ausgehen wollte, würde dieses Resultat aufgrund dessen nicht zwangsläufig auf die Ebene des Rechts durchschlagen, wodurch den Negativeffekten bereits zu einem gewissen Anteil entgegengewirkt werden kann.
2. Pathologische Effekte a) Herrschaftsverhältnisse Die Antwortmöglichkeiten des Rechts auf Pathologien etwa in Form von Herrschaftsverhältnissen sieht Menke ebenfalls als durch die Form des subjektiven Rechts determiniert an. Wie gezeigt, sind diese jedoch nicht auf die Etablierung neuer subjektiver Rechte beschränkt. Handlungsformen wie die Rechtsfolge der Nichtigkeit, die objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension in ihrer Ausprägung als Ausstrahlungswirkung, oder der Selbstkorrekturmechanismus des Rechtsmissbrauchs gestatten es dem Recht, auf Gefährdungen durch Herrschaftsverhältnisse in einer Form zu antworten, die nicht in der Reaktionslogik subjektiver Rechte stecken bleibt. Gleichwohl ändert die Existenz dieser von Menke außer Acht gelassenen zusätzlichen Reaktionsoptionen nichts am Zutreffen seiner Analyse, dass die Handlungsform der Etablierung neuer subjektiver Rechte kein adäquates Mittel darstellt, um beispielsweise den durch Monopolbildung im gesellschaftlichen Raum geschaffenen Gefährdungslagen wirksam entgegen zu treten.126 Die Zuerkennung subjektiver Rechte bedingt, dass sich tatsächlich Ungleiche als vermeintlich Gleiche gegenüberstehen können und auch wenn die Rechtsordnung hierauf etwa in Form von Verbraucherschutzregelungen reagiert, kann der Anteil, den subjektive Rechte an der Herausbildung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse haben, nicht geleugnet werden. Eine Reaktion hierauf allein in Form der Etablierung zusätzlicher kompensatorischer subjektiver Rechte muss daher eine Logik fortspinnen, die mehr 125 126
Menke, Kritik der Rechte, S. 137 u. 263, passim. Vgl. ebd., S. 320 ff.
II. Abschließende Betrachtung
275
zur Reproduktion denn zur Auflösung dieser Verhältnisse führt. Zur wirksamen Korrektur dessen müssten die aufgezeigten andersartigen Reaktionsmöglichkeiten eine Ausweitung erfahren; vor allem in Anbetracht bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungen sollte aber gleichzeitig auch die Schaffung gänzlich neuartiger Reaktionsmuster in Gang gesetzt werden. Man denke hierbei beispielhaft an monopolistische Unternehmen, die aus der Zuerkennung subjektiver Rechte letztlich „quasipolitische […]“127 Macht generieren und so Gefährdungslagen schaffen, die nicht von staatlicher Seite bewirkt werden.128 Grundrechtlich betrachtet werden solche Unternehmen indes wie gewöhnliche Privatrechtssubjekte behandelt, sodass sie lediglich eine Berechtigung, aber keine Verpflichtung trifft. Denkbar wäre hier beispielsweise eine der quasipolitischen Macht entsprechende quasi-staatliche Grundrechtsverpflichtung.129
b) Entpolitisierung Bezüglich des von Menke zuvörderst hervorgehobenen pathologischen Effekts der Entpolitisierung wurde in der vorliegenden Untersuchung zunächst auf das Bestehen emanzipativer und kollektivierender Wirkungen der subjektiven Rechte hingewiesen. Überdies sind die politischen Handlungsmöglichkeiten des Subjekts nicht auf die Ausübung subjektiver Rechte in der von Menke beschriebenen, eine Vereinzelung bewirkende Gestalt beschränkt, sondern subjektive Rechte schaffen ebenso die Voraussetzungen für kollektive und politisierte Handlungsformen auf gesellschaftlicher Ebene. Insbesondere politische Teilnahmerechte zielen auf einen Perspektivwandel ab, bei dem die „Rückbesinnung auf das Eigene“ zugunsten „demokratische[r] Interaktion“130 durchbrochen wird. Darüber hinaus zeigt sich auch in diesem Kontext der Einfluss des differenzierenden Materialismus, da die zu treffenden Verrechtlichungsentscheidungen nicht auf einer gänzlich entpolitisierten Grundlage getroffen werden können. Durch die auf der Ebene der von juristischer Dogmatik geprägten Rechtsanwendung sichtbar werdende Prozesshaftigkeit subjektiver Rechte findet eine Rückkopplung an den politischen Prozess statt, die auch immer wieder den Rechtsinhalt miteinbezieht. Die Rechtsausübung bildet dabei das Medium, über welches das Recht auf den Rechtsinhalt und damit auch auf den Eigenwillen zugreift. Wenn folglich das Zurückziehen auf „die schiere Legalität des Wollens“131 nicht in jedem Fall als Legitimationsgrundlage genügt, so ist insoweit eine Entpolitisierung nicht anzunehmen. Während der Umstand, dass subjektive 127
Ebd., S. 321. Fischer-Lescano, in: Kritische Justiz 2017, 475, 490. 129 Vgl. hierzu weiterführend ebd., 489 ff., der mit seiner Forderung nach „subjektlosen Rechten“ indes wesentlich fundamentaler ansetzt; vgl. außerdem für den transnationalen Bereich Teubner, Verfassungsfragmente. Gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Globalisierung, S. 199 ff. 130 Honneth, Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, S. 145. 131 Loick, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 325, 330. 128
276
D. Schluss
Rechte private, der Politik entzogene Sphären hervorbringen, nicht in Abrede gestellt werden soll, begegnet jedoch die Annahme einer Zwangsläufigkeit der Entpolitisierung132 dessen, was durch die subjektiven Rechte berechtigt wird,133 folglich Zweifeln. Im Rechtsanwendungsprozess wird das Natürliche vermittelt über die Verrechtlichungsentscheidung mitunter zum Gegenstand von Politik, was jedoch nicht gleichbedeutend mit einer Veränderung des Natürlichen ist. Zwar lieferte die rechtsdogmatische Betrachtung Anhaltspunkte dafür, dass der natürliche Eigenwille aus rechtlicher Sicht nicht als unveränderbar Gegebenes verstanden wird. Gleichwohl besteht die Konsequenz der Begrenzung des Rechts am Gegenstand der Berechtigung darin, dass es die Transformation des Natürlichen nicht fordern kann. Für Menke gibt es in diesem Kontext indes keine Abstufungen. Seiner Ansicht nach scheint eine zutreffend verstandene Politisierung mit umfassender transformativer Veränderung einherzugehen,134 denn für ihn ist die Möglichkeit der Befreiung des Subjekts hieran geknüpft.135 Demgegenüber werden dem Staat entzogene Sphären des privaten Rückzugs in der geltenden Rechtsordnung als Bestandteil politischer Willensbildung angesehen,136 weshalb entsprechend entpolitisierte Räume hier nicht automatisch als problematisch angesehen137 und zudem eine totale Politisierung vermieden werden soll.
3. Gegenrechte Die Befreiung des Subjekts soll letztlich durch die Etablierung von Gegenrechten gelingen, mit denen Menke auf die seiner Ansicht nach durch die subjektiven Rechte vollzogene Naturalisierung des Gegenstands der Berechtigung reagieren möchte.138 Wenn auch den Darstellungen Menkes noch keine klare Gestalt der Gegenrechte139 entnommen werden kann, so scheint jedoch das Vehikel zur Erreichung dieses Zwecks ein dialektisch verfahrender Materialismus zu sein. Zwar konnte Menkes These einer durch einen positivistisch operierenden Materialismus bedingten Blockade der Selbstreflexion vorliegend der differenzierende Materialismus des Rechts 132 Mit Bezug auf den Positivismus subjektiver Rechte in diese Richtung auch Wielsch, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 141, 160. 133 So aber Menke, Kritik der Rechte, S. 12. 134 Vgl. ebd., S. 12; Menke, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 13, 29. 135 Menke/Schmidt/Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 54, 56. 136 Honneth, Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, S. 129; Menke/Schmidt/Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 54, 72 f. mit Verweis auf Hegel. 137 In diese Richtung auch Wihl, in: Die Idee subjektiver Rechte, 295, 296. 138 Menke, Kritik der Rechte, S. 406. 139 Vgl. hierzu auch Zabel, in: MERKUR 2017, 69, 74, der herausstellt, dass unklar bleibe, „welches normative Projekt die Gegenrechte eigentlich anvisieren“; vgl. außerdem Franzki, in: Neue Theorien des Rechts, 67, 80.
II. Abschließende Betrachtung
277
entgegengehalten werden. Jedoch handelt es sich hierbei nicht um einen dialektischen Prozess, sondern um einen sich einseitig auf das Recht beziehenden Materialismus, weshalb sich Menkes Vorschlag nicht bereits mangels Blockade der Selbstreflexion erledigt. Der dialektische Materialismus setzt voraus, dass auch auf der Seite des zu berechtigenden Nichtrechts eine Vermittlung stattfindet.140 „Das neue Recht greift ein in das, was es berechtigt; die Gegenrechte verändern indem sie berücksichtigen.“141 Zwar sollen die Gegenrechte die Passivität des Subjekts als Gelingensbedingung des Urteilens zum Gegenstand haben142 und es wird die Formulierung der „Selbstverwandlung [Herv. I. K.]“143 gewählt. Dennoch kann die Konzeption nur so verstanden werden, dass die Etablierung der Gegenrechte zumindest im Ergebnis auf eine kollektive Vermittlung der Passivität abzielt, da diese als „Moment in einem permanenten dialektischen Aushandlungsprozess“144 verstanden werden soll, um so die Problematik der Entpolitisierung aufzulösen. Dies wirft zunächst einmal die Fragen auf, welche Rolle die Gegenrechte bei der Initiierung dieses Vermittlungsprozesses konkret spielen sollen und ob hierin gar eine originäre Aufgabe des Rechts gesehen werden kann. Menke will die Nichtteilnahme zwar als ein Moment des Urteilsprozesses berücksichtigt wissen, allerdings versteht er die private Sphäre des Rückzugs nicht als einen Ort, an dem „Willensbestimmung“145 stattfindet. Es handelt sich hierbei für Menke vielmehr um „die Aussetzung von Willensbestimmung“146, während „man ein Subjekt des politischen Urteilens nur sein kann, indem man mit anderen zusammen, kollektiv urteilt“147. Die Willensbestimmung erfordert für Menke folglich immer schon einen kollektiven Prozess. Als Befreiung des Individuums wird dabei schlussendlich die „Möglichkeit der Selbstverwandlung, der Selbstüberschreitung“148 verstanden, welche wiederum das Teilsein in einem politischen Prozess voraussetze. „Das Subjekt mutiert zum politischen Bourgeois oder zum bourgeoisen Citoyen.“149 Befreiung bedeutet für Menke Politisierung.150 Diese möchte er mit seiner Konzeption der Gegenrechte sicherstellen.
140
Menke, Kritik der Rechte, S. 169 f.; siehe außerdem oben S. 255 ff. Ebd., S. 406. 142 Ebd., S. 366 u. 377 ff. 143 Menke/Schmidt/Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 54, 54 u. 56; vgl. hierzu auch Menke, Kritik der Rechte, S. 264 f. 144 Menke/Schmidt/Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 54, 73. 145 Ebd., 54, 73. 146 Ebd., 54, 73. 147 Ebd., 54, 72. 148 Ebd., 54, 56. 149 Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 136, 148. 150 Menke/Schmidt/Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 54, 73. 141
278
D. Schluss
Die Gegenrechte als notwendige Ergänzung der subjektiven Eigenrechte in Stellung zu bringen, setzt folglich das Teilen von Menkes Verständnis von der Befreiung des Individuums voraus. Eine Annäherung an diese Fragestellung würde eine eigenständige Bearbeitung auf mehreren Ebenen erfordern. Vor dem Hintergrund des vorliegend verfolgten rechtsdogmatischen Ansatzes soll indes das Grundgesetz als Orientierung herangezogen werden. Hierzu wurde bereits in einem anderen Kontext festgestellt, dass die freie Entfaltung des Individuums als mit der Einbettung in eine soziale Gemeinschaft verknüpft angesehen wird.151 Verfassungsrechtlich betrachtet, scheint folglich in der sozialen Einbettung ebenfalls eine Grundbestimmung zu bestehen. Gleichwohl bedeutet die Verknüpfung mit der Einbettung in eine soziale Gemeinschaft nach dieser Deutung nicht, dass die Entfaltung des Individuums vollends in dieser aufgeht. Insofern ist zu vermuten, dass das Verständnis des Grundgesetzes von demjenigen Verständnis, welches Menkes Forderung nach den Gegenrechten zugrunde liegt, abweicht. Wenn die Gegenrechte im Kontext des geltenden Rechtssystems also wie eine Art Fremdkörper erscheinen, könnte dies mitunter auf eben jene Abweichung des grundsätzlichen Verständnisses von individueller Befreiung zurückzuführen sein. Indem der differenzierende Materialismus mithilfe des Instruments der Geltung Modifikationen am Recht selbst vornimmt, statt eine Transformation des zu legalisierenden Eigenwillens anzustreben, entspricht er der im Namen der Freiheit gebotenen Unterscheidung von Rechts- und Gesinnungskontrolle.152 Wie genau die Gegenrechte auf den dialektischen Vermittlungsprozess als Gegenmaßnahme zur Entpolitisierung hinwirken sollen, bleibt ungewiss. Klar ist insoweit lediglich, dass die angestrebte Berücksichtigung der Nichtteilnahme – wie auch immer eine Verhinderung der Naturalisierung hierbei bewerkstelligt werden soll153 – der Natur der Sache nach keine Gesinnungskontrolle bedeuten kann, zumal sie in eine Selbsttransformation münden soll. Klar ist demgegenüber aber auch, dass es eine irgendwie geartete Effektuierung geben muss, da die Gegenrechte andernfalls nicht über das hinaus gingen, was die subjektiven Eigenrechte bereits leisten können, namentlich die Gewährung von Möglichkeitsspielräumen für die Selbsttransformation. Denn wie gezeigt, schließen die subjektiven Rechte eine Veränderung dessen, was sie berechtigen, nicht notwendigerweise aus.154 Ein über diese Gewährleistung hinausgehendes Fordernkönnen, sodass eine dialektisch vermittelte „Selbstverwandlung“155 eine zwangsläufige Konsequenz bildet, scheidet für die subjektiven (Eigen-)Rechte im System des geltenden Rechts indes aus. Wollte man daher mit Menke eine die Selbstverwandlung des Subjekts bewirkende Politisierung 151
BVerfG NJW 1971, 1645, 1646; siehe hierzu außerdem oben S. 205 f. Mangold, Das Böckenförde-Diktum, 09. 05. 2019, in: VerfBlog. 153 In diese Richtung auch Schmidt im Gespräch mit Menke und Zabel, vgl. Menke/Schmidt/ Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 54, 77. 154 So aber Menke, Kritik der Rechte, S. 406. 155 Menke/Schmidt/Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 54, 54 u. 56. 152
II. Abschließende Betrachtung
279
als Voraussetzung für eine gelingende oder schlicht ontologisch zutreffende moderne Rechtspraxis betrachten, bliebe es unter dem geltenden Grundgesetz in Anlehnung an Böckenförde vermutlich dabei, dass das Recht diese Voraussetzung selbst nicht sicherstellen kann.156 Menkes Gegenrechte zeichnen sich zudem durch einen anderen „Sinn und Grund“157 aus. Wie die subjektiven Eigenrechte, berechtigen auch die Gegenrechte die Einzelne, allerdings erfolgt diese Berechtigung nicht „aufgrund ihres Eigenen“, sondern „aufgrund des Gelingens der sozialen Praktiken“158. Die den Gegenrechten zugrundeliegende Logik besteht somit darin, das Gelingen sozialer Praktiken sicherstellen zu wollen. „Der Gegensatz besteht darin, dass die subjektiven Rechte vom Eigenen der Einzelnen ausgehen, während das andere Recht vom Gelingen der sozialen Praxis ausgeht.“159 Dass Menke eine derart gradlinige Abgrenzung zwischen diesen Begründungsmustern vollzieht, kann auf die eindimensionale Normativitätsstruktur, die er seiner Rekonstruktion der subjektiven Rechte zugrunde legt, zurückgeführt werden. Durch die rechtsdogmatische Betrachtung konnte demgegenüber aufgezeigt werden, dass die subjektiven Rechte nicht auf die Ermächtigung der Einzelnen begrenzt sind, sondern über verschiedene Ziellogiken verfügen. Dasjenige, was kollektiv als Voraussetzung „des Gelingens sozialer Praktiken“160 bestimmt wurde, kann bereits im System subjektiver (Eigen-)Rechte Wirksamkeit entfalten, da der Materialismus des geltenden Rechts nicht in dem Sinne positivistisch verfährt, dass der dem Gedanken der Gleichheit entsprechende Eigenwille zwangsläufig zur Geltung gelangt. Das Gelingen sozialer Praktiken wird über die in der Rechtsdogmatik nachgewiesenen Mechanismen, welche überindividuelle Interessen adressieren, zu einem relevanten Faktor im subjektiv-rechtlichen System. Das geschieht zum einen vermittelt durch das objektive Recht, welches im Hinblick auf überindividuelle normative Zwecksetzungen die Ausübung eines subjektiven Rechts einzuschränken vermag, ohne dabei auf konfligierende subjektive Rechte Dritter als Legitimationsgrundlage angewiesen oder in der Reaktion an die Form subjektiver Rechte gebunden zu sein. Zum anderen können auch mit den subjektiven Rechten selbst überindividuelle Zwecksetzungen – das Gelingen sozialer Praktiken eingeschlossen – verfolgt werden. Neben der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension bildet der Systemgedanke des Institutionenschutzes ein anschauliches Beispiel hierfür. Ausprägungen 156 Vgl. hierzu Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, S. 112 f., ihm zufolge ist eine Homogenität in Sinne einer gemeinsamen Vorstellung vom Zusammenleben notwendig. 157 Menke, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 13, 25. 158 Ebd., 13, 27 f.; vgl. hierzu auch Zabel, in: Recht auf Nicht-Recht. Rechtliche Reaktionen auf die Juridifizierung der Gesellschaft, 154, 161 f. 159 Menke, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 13, 25. 160 Ebd., 13, 25; siehe hierzu außerdem Menke, in: Polar 2006, 101, 101 ff.
280
D. Schluss
dessen ließen sich sowohl im Öffentlichen Recht als auch im Privatrecht nachweisen.161 Die institutionelle Dimension subjektiver Rechte bedingt gewissermaßen eine Objektivierung, die die Individualzentriertheit ihrer Schutzrichtung durchbricht. Die durch subjektive Rechte eingeräumten Berechtigungen werden hierbei nicht primär unter dem Aspekt des Mehrwerts für die Einzelnen betrachtet, „sondern [sie] werden von ihrem Sinn her gedacht, zum guten Funktionieren einer Institution beizutragen“162. Hierin spiegelt sich die mit den Gegenrechten verfolgte strukturelle Ausrichtung wider, wodurch ein Potential subjektiver Rechte offenbar wird, welches Menke in seiner Rekonstruktion entgeht. Wenn auch das Gelingen sozialer Praktiken nicht den Grund subjektiver (Eigen-)Rechte bildet, so kann sich gegebenenfalls dennoch die Konsequenz ergeben, dass aus ihnen folgende Ansprüche „relativ“ zu einem institutionellen Zweck „bestimmt“163 werden müssen, was auf der dogmatisch geprägten Rechtsanwendungsebene eine Sicherstellung erfährt. Damit leisten die subjektiven Rechte einen wertvollen Beitrag in dem Ringen um das notwendige Gleichgewicht zwischen Institutionen- und Individualrechtsschutz. In Anbetracht der bislang ungelösten Frage nach einer Möglichkeit der Institutionalisierung der Gegenrechte,164 könnte in einem Ausschöpfen dieses Potentials bereits bestehender subjektiver (Eigen-)Rechte – zu dem auch die zuvor beschriebene schablonenartige Berechtigung zu objektiv-rechtlich Vorgegebenem im Wege relativer Rechte165 zählt – ein vorzugswürdiger Lösungsansatz gesehen werden. Indem Menke in seiner Rekonstruktion der Form des subjektiven Rechts von der liberalen Annahme der „Naturalisierung rechtlicher Normativität“166 ausgeht, unterläuft ihm derselbe Fehler, den er Denninger zum Vorwurf macht,167 namentlich eine Vermengung von Formanalyse und Ideologie. Etwa die Verkennung des der institutionellen Dimension subjektiver Rechte innewohnenden Potentials könnte hierauf zurückzuführen sein.168 Gleichwohl macht die vorliegende Untersuchung 161
Vgl. hierzu oben u. a. S. 137 ff. und S. 161 ff. Menke/Schmidt/Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 54, 78; an dieser Stelle bemerkt Menke zudem, dass Teubner ihm gegenüber einen Ansatz ausgehend von der „institutionelle[n] Theorie der Rechte“ eingewandt habe; entsprechend findet sich die Andeutung eines ähnlichen Gedankens bei Teubner, in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, 357, 364 f. 163 Menke/Schmidt/Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 54, 78. 164 Vgl. hierzu die Beiträge insbesondere von Sheplyakova, Gruber, Horst und Loick in: Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts; vgl. außerdem Deitert/Wieland, in: Zeitschrift für philosophische Literatur 2016, 11, 18 f. 165 Vgl. oben S. 229 ff. 166 Menke/Schmidt/Zabel, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 2017, 54, 64. 167 Menke, in: Kritische Justiz 2018, 475, 476. 168 Vgl. hierzu Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz. Zugleich ein Beitrag zum institutionellen Verständnis der Grundrechte und zur Lehre vom 162
II. Abschließende Betrachtung
281
jedoch auch deutlich, dass ein allein auf die Form gerichteter Fokus nicht geeignet ist, eine repräsentative Aussage über subjektive Rechte zu treffen, da hierdurch die das subjektive Recht prägenden Spannungsverhältnisse nicht erfasst werden können. Substantielle Funktionsweisen und normative Ziellogiken werden so übergangen, wodurch einerseits bereits bestehende Wirkmechanismen und andererseits das Potential subjektiver Rechte verkannt wird. Zwar ist Menkes fundamentaler Ansatz einer Formkritik begrüßenswert, da er die Chance bietet, eine rein inhaltlich orientierte Reform zu einer „Revolution“169 zu potenzieren. Das Gelingen einer solchen Revolution setzt indes die zutreffende Analyse des status quo voraus, welche wiederum nur unter Einbeziehung der Einbettung subjektiver Rechte in ein rechtliches Gesamtkonzept und ihrer auf der Rechtsanwendungsebene zu verortenden Prozesshaftigkeit erfolgen kann. Die Formanalyse, die Menke zur Grundlage seiner Revolution macht, kann hingegen die Komplexität des Wesens subjektiver Rechte nicht erfassen.
Gesetzesvorbehalt, S. 90, der hier in ähnlicher Weise eine Verantwortlichkeit des Liberalismus für die Verkennung des Institutscharakters speziell der Grundrechte begründet. 169 Menke, Kritik der Rechte, S. 347, 355, 367 ff., 373 u. passim.
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Personenverzeichnis Adorno, Theodor W. 49 Alexy, Robert 14, 202 Auer, Marietta 144 ff. Böckenförde, Ernst-Wolfgang 279 Borowski, Martin 246 f. Buckel, Sonja 100 f., 106 f. Denninger, Erhard 107 f., 206 ff., 216, 219, 225, 252, 280 Durkheim, Émile 78 Dworkin, Ronald 57 f. Fezer, Karl-Heinz 15, 115 f. Foucault, Michel 51, 53, 69 ff. Gerg, Stephan 256 Grimm, Dieter 210 Guski, Roman 242 ff., 248 Habermas, Jürgen 48, 260, 265 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 28, 47, 73, 148 Hobbes, Thomas 28, 36, 76 Honneth, Axel 259
Locke, John 54 f. Loick, Daniel 257 Luhmann, Niklas 23, 36, 46, 59, 74, 215, 270 ff. Marx, Karl 19 f., 35 f., 68, 85, 89 ff. Möllers, Christoph 105 ff. Nietzsche, Friedrich 101 Quilisch, Martin 199 Raiser, Ludwig 16, 239 ff. Schlink, Bernhard 175, 199 f. Schmitt, Carl 28, 53, 77 ff., 176 Smend, Rudolf 157 Teubner, Gunther 25 f., 31, 44, 133, 135 f., 161, 253
Jellinek, Georg 15, 58 f.
Von Gierke, Otto 231 Von Jhering, Rudolf 41 f., 115 f. Von Ockham, Wilhelm 40 Von Savigny, Friedrich Karl 36 ff., 64, 73, 137, 152
Kant, Immanuel 114, 243 Kelsen, Hans 37, 53, 59, 153
Weber, Max 29, 46 f., 91 f., 129 ff. Windscheid, Bernhard 86 f. Zabel, Benno 105, 257
Stichwortverzeichnis Abstraktion vom Sittlichen 52 ff., 56, 62, 82 Anspruch 36 ff., 50, 61 f., 86 ff., 110, 125 ff., 230 – Unterlassungsanspruch 154 ff. Appropriation des Sozialen 52 ff., 62, 82, 216, 240 Arbeitsrecht 92, 120 Ausbeutung 90 ff., 163 Außentheorie 231 ff., 246 ff. Besitzindividualismus 54 f. Bürgschaftsfall 135 f. Doppelqualifizierung von Grundrechten 223, 227, 249 Eigentum 52, 82, 90, 114 ff., 166 ff., 178, 217 ff., 233 f. – Sozialbildung 116, 166 ff., 217 Eingliederungsvereinbarung 94 ff. Elfes-Urteil 174 Emanzipation 68 f., 163, 260, 275 Empirismus 49 ff., 71, 118, 259 Entpolitisierung 67, 83 ff., 107, 275 ff. Entsittlichung 82 f., 134, 140 Faktizität 22, 75 Gegenrechte 100 ff., 256 f., 276 ff. Generalklauseln 122 ff., 208 f., 232 ff., 262 Gesamtrechtsordnung 109, 202 ff., 227 f., 249 Gesinnungskontrolle 147 f., 278 Grund des Rechts 31 ff. Grundrechte 74, 88, 135, 152 ff., 246 ff., 253 ff., 259 ff. Grundrechtstheorien 156 ff., 196, 225, 248 Grundrechtsverwirkung 247 In dubio pro libertate 190 Indisponible Rechtsgüter 149, 211 ff.
Individualismus 54 f., 62, 116 ff., 118, 143 f., 152, 159, 204 ff. Innentheorie 231 ff., 246 ff. Institutsschutz 241 ff. Interessentheorie 40 f., 112 ff., 238 f., 272 Intervention, staatliche 77 ff., 85, 99, 123, 205 f. Introspektion 146 f., 254 ff., 269 Kapitalismus 90 ff. Klage 60, 86 ff., 153 f. Kollektivierung 164 f. Kombinationstheorie 41, 112 ff., 238 f., 272 Liberalismus 28 ff., 51 ff., 68 Lüth-Urteil 195, 203 f., 208 f. Materialisierung 29 ff., 44, 123 ff., 130, 132 ff., 193, 266, 270 Materialismus 49 ff., 100 ff., 152, 171 ff., 251 ff., 261 ff., 271 ff. Meinungsfreiheit 166 ff., 194 ff., 225 Menschenbild 204 f., 216 ff., 226 Menschenwürde 57 f., 138 ff., 206, 211 ff. Naturalisierung 38, 52, 102 ff., 150, 252, 266 ff., 272 ff., 280 Naturalismus 51 f. Negativität 69 ff., 257 ff., 268 Nichtigkeit 125 f., 262, 274 Normalisierung 78 f., 92 ff. Nudging 255 ff. Objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension 202 ff., 249, 261 ff. Ontologie 15, 35, 106, 109, 130, 143, 268 Passivität 257, 277 Peep-Show-Entscheidung 211 ff. Pflichtteilsrecht 119 Politizität 58 ff., 86, 129
Stichwortverzeichnis Positivismus 47 ff., 68, 103 Praktische Konkordanz 135, 189, 200, 225 Pressefreiheit 198 f. Privatautonomie 125 ff., 135 ff., 149 ff., 209 f., 230 Privatisierung 61 ff., 83 ff. Quasi-Rechtssubjekt 161, 253 Recht – objektives 16, 36 ff., 50, 109, 116, 132 ff., 150, 202 ff., 249, 262 ff., 273 ff. – responsives 30 f., 45, 133 – traditionelles 19 f., 26 f., 38, 45 f., 55 ff., 69, 80 ff., 126, 230, 252, 257 Rechte – absolute 228 ff., 280 – relative 228 ff. Rechtsmissbrauch 234 ff., 261 ff. Sampling-Entscheidung 218 f. Schrankendogmatik 65, 174 ff., 261 Schutzbereich 156, 165 ff., 224, 247, 263 Schutznormtheorie 153 (Fn. 283) Selbstexemtion 241 ff. Selbstreflexion 25 ff., 43 ff., 130, 251 f., 266, 271 ff.
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Sittlichkeit 34, 38, 52, 55, 61, 75, 81, 89, 127 ff., 146 ff., 178, 204, 230, 262 Souverän 28, 74 ff. Sozialatomismus 62, 240 Sozialrecht 54 f., 62, 92 ff. Sozialstaat 96 f., 120, 157 ff., 184 ff., 205 ff., 225 Staatsziele 186 f. Strafrecht 29 f., 106, 109 ff. Subordinationsverhältnis 59, 87, 153 Transformation 49 ff., 58, 150, 164, 173 f., 251 ff., 274 ff. Treu und Glauben 232 ff. Verbraucherschutz 123 f., 274 Verfassungskrise 205 ff., 225 f. Verhältnismäßigkeit 189 ff. Versammlungsfreiheit 154 f., 164, 170 ff., 198 f. Wesensgehaltsgarantie 201 ff., 225 Willenstheorie 40 f., 112 ff., 212, 238 f. Zwergenweitwurf 213 f.