Ideologie der Operette und Wiener Moderne: Ein kulturhistorischer Essay 9783205125808, 3205989309, 9783205989301


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Ideologie der Operette und Wiener Moderne: Ein kulturhistorischer Essay
 9783205125808, 3205989309, 9783205989301

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bóhlauWien

Moritz Csáky

Ideologie der Operette und Wiener Moderne Ein kulturhistorischer Essay

2., Überarb. Auflage

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Csáky, Moritz: Ideologie der Operette und Wiener Moderne : ein kulturhistorischer Essay / Moritz Csáky - 2., Überarb. Aufl. - Wien ; Köln ; Weimar : Böhlau, 1998 ISBN 3-205-98930-9

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.

© 1996 1. Auflage: by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG., Wien • Köln • Weimar 2., Überarb. Auflage: 1998 Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier Satz: Zehetner Ges. m. b. H., A-2105 Oberrohrbach Druck: Plöchl, Freistadt

Inhalt Einleitung Kapitel

1:

Wiener Operette - ein Zeichen des Wertvakuums? Zur neueren Operettengeschichte Operette: ein „minderwertiges" Runstprodukt? . . . . Vorbehalte gegenüber Unterhaltungsmusik Operette: ein Sprachrohr für Mentalitäten Operette: eine „ernstgenommene Sinnlosigkeit"? . . Operette: „ein zur puren Idiotie verflachter Abklatsch"? Kapitel

52 38 38 41 43 48

3:

Operette - ein Spiegel für Gesellschaft und Politik Der soziale Ursprung eines Genres Beseitigung gesellschaftlicher Schranken Gesellschafts- und Politik-Rritik Staatliche Zensur Rritik am „Vaterland" und Nationalismus Verborgene Facetten des „Zigeunerbaron" Ein realistisches Bild der Zigeuner? Verschlüsselte Sprache der „Lustigen Witwe" Verfremdete Politik-Rritik Ort des kulturellen Gedächtnisses Kapitel

15 15 17 20 25 29

2:

Operette und bürgerliche Gesellschaft Operette als das Unterhaltungstheater Sozio-kultureller Rontext der Operette Operette und urbane Bevölkerung „Glücklich ist, wer vergißt..." Kapitel

9

62 62 67 70 74 76 78 83 89 94 100

4:

Wiener Operette und Ironie Ironie als psychisches Ventil

109 109

6

Sigmund Freud und der Witz Jüdischer Witz Travestie - eine österreichische Tradition Identitätsstiftende Funktion des Witzes Obszöner und zynischer Witz

Inhalt

112 115 116 118 120

Kapitel 5:

Wiener Operette und Moderne Populäres Vehikel der Moderne? Moderne und sexuelle Freiheit Fragmentiertheit und Nervosität Moderne und Differenzierung der Gesellschaft . . . . Moderne und ethnisch-kulturelle Heterogenität . . . „Wiener Moderne" Die Operette und das „Junge Wien" „Sei modern!" „Stille Häuslichkeit" - ein Gegenbild der Moderne . Relevanz der Operette im Fin de siècle

125 125 129 132 134 139 140 147 150 154 157

Kapitel 6:

Die Heterogenität der mitteleuropäischen Region „ . . . give and take of melodies . . . " Widersprüchliche Kohärenz einer Region Politische und kulturelle Pluralität Verwaltung und sprachliche Pluralität Sprache und nationale Zugehörigkeit Pluralität und politische Loyalitäten Vielfältige Lebenswelt Kulturelle Heterogenität und Identität Pluralität und nationale Idee Das Wesen Österreichs ist Peripherie? Zitatenreichtum in der Musik Wien und die Juden der Monarchie Antisemitismus und Ausgrenzung des Fremden . . .

167 167 169 173 175 180 187 190 192 195 201 207 208 214

Kapitel 7:

Pluralität-Kultur-Geschichte Relevanz regionaler Pluralität

226 226

Inhalt

Kulturelles Umfeld „einer" österreichischen Geschichte Rechtfertigung durch Historizität Reduküonistisches Geschichtsbild Totalistisches Geschichtsbild Kultur als komplexes System Vergangenheit als „Text" Theorie einer österreichischen Geschichte

7

231 236 239 242 246 249 256

Kapitel 8:

Pluralität und die „Operettenwerkstatt" der Wiener Moderne Komplexes System im Spiegel der Operette Vagabundierende Militärkapellmeister Langeweile Viele Autoren der Operette Technik des „Auf-Zuruf-Instrumentierens" Reaktion auf die Akzeleration

264 264 267 273 277 282 285

Kapitel 9:

Ausklang Instrumentalisierimg der Operette Neue Operetten „Traurige" Operetten? Operette und kulturelle Identität

291 291 294 296 298

Bibliographie

303

Namenregister

323

Einleitung „Da wird immer gefragt, was stellt es dar? Immer soll es etwas sagen, soll erzählen. . . . Wenn man von einem Walzer verlangen würde, daß er eine Geschichte erzählen sollte, fragen würde, was er denn eigentlich meint und sagt, tadeln würde, daß er keinen deutlichen und klaren Sinn hat, müsste jeder lachen. Ein Walzer ist doch keine Novelle. Was braucht ein Walzer Vernunft und ethische Bedeutung? Wenn er nur klingt! Er soll schöne Töne schön gesellen, daß der Fluß dem Ohre schmeichle. Das ist sein Um und Auf. Ob sich dabei auch noch was denken läßt, ist gleich. Es kann ja sein. Es kann geschehen, daß er in uns den Tanz von Elfen oder Flüge von Libellen, also dichterischen Traum oder wirkliches Leben weckt. Das gibt ihm dann zu seinem musikalischen noch einen anderen unmusikalischen Reiz. Aber seinen musikalischen Werth wird es nicht ändern, nicht mehren." Hermann Bahr1

Wenn man sich mit der Vergangenheit beschäftigt, kann diese Neigimg einem ganz allgemeinen Interesse an der Geschichte entsprechen, sie kann aber, was die große Menge an historischen Werken zu belegen scheint, mit denen wir täglich überflutet werden, angefangen von Memoiren bis zu sogenannten seriösen, wissenschaftlichen historischen Untersuchungen, auch als Zeichen einer vermehrten Orientierungssuche in einer immer schnellebigeren Gegenwart gedeutet werden. Alle, die sich für die Vergangenheit interessieren und die diese Vergangenheit im Sinne von Friedrich Nietzsches ^weiter unzeitgemäßer Betrachtung' „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" nicht nur „monumentalisch" sehen, werden bisweilen traditionellen Themen, die etwa von der klassischen politischen Geschichte be-

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Einleitung

handelt wurden, weniger Beachtung schenken. Sie werden sich nicht nur vom Vorbildcharakter historischer Personen und Ereignisse faszinieren lassen oder nicht nur überwältigt von der Fülle, die sie bietet, / möglichst alle Daten und Fakten einfach sammeln und insofern „antiquarisch" aneinanderreihen und bewahren wollen, sondern Geschichte auch „kritisch" zu hinterfragen beginnen. Ja sie werden vielmehr solchen Aspekten eine besondere Aufmerksamkeit zuwenden, die für eine „monumentalische" oder „antiquarische" Sicht ungewohnt sein mögen, die jedoch anscheinend das Bewußtsein, die Lebenseinstellung und die alltäglichen Handlungen von Personen und sozialen Gruppen in der Vergangenheit nachhaltig geprägt haben und daher eine Vergangenheit vermutlich verständlicher erscheinen lassen als sogenannte „große" Ereignisse. Diese mögen zwar bis in die Gegenwart äußerst folgenreich gewesen sein und, um ein Bild zu gebrauchen, vielleicht sogar die politischen Grenzen über den Köpfen der Bevölkerung von Zeit zu Zeit hin und her verschoben haben. Doch ebenso folgenreich sind vermutlich auch die Formen des alltäglichen Lebens, soziale Umgangsformen, technische Innovationen oder kulturelle Fertigkeiten, die sich in der Vergangenheit herausgebildet haben und von denen sich die Mentalität bestimmter Schichten oder der Gesellschaft als Ganzes herleitet: „Denn da wir nun einmal die Resultate früherer Geschlechter sind", meint Nietzsche, „sind wir auch die Resultate ihrer Verirrungen, Leidenschaften und Irrthümer, ja Verbrechen; es ist nicht möglich sich ganz von dieser Kette zu lösen."2 Das konkrete Ziel, das ich mit diesem Essay verfolge, läßt sich daher mit folgenden kurzen Hinweisen verdeutlichen. Während Historiker zumeist aufgrund ganz bestimmter schriftlicher Quellenbestände, die ihnen zur Verfügung stehen, die Vergangenheit zu rekonstruieren versuchen und dabei den politischen, den sozialen und den wirtschaftlichen Faktoren - nicht immer unbegründet, wie ich meine - ein besonderes Gewicht beimessen, bleiben hierbei zuweilen gerade jene Bereiche weitge-

Einleitung

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hend ausgespart, die den eigentlichen Inhalt der Alltagserfahrung und des kulturellen Selbstverständnisses der Menschen vergangener Epochen dargestellt haben, für die aber die klassische Art von Quellen weniger ergiebig ist. Zu solchen Bereichen, die das Bewußtsein widerspiegeln, zählen beispielsweise Hinweise über die alltägliche Beschäftigung, der jemand nachging, das heißt der Arbeitsprozeß, in welchen ein Individuum einbezogen war. Freilich wurde diese Arbeit zumeist als eine Notwendigkeit, oft sogar als ein lästiger Zwang angesehen, den man in Rauf nahm, um Geld zu verdienen, das heißt um in der Not des Alltags existentiell zu überleben. Daher dürfte vor allem die Thematisierung anderer Beschäftigungen bzw. Bereiche, die eine gewisse Freiwilligkeit aufwiesen, welche sich die Menschen selbst schufen und denen sie daher gerne nachgingen, für das Bewußtsein im allgemeinen bzw. für die Kritik, die dadurch an den Zwängen des Alltags geübt werden konnte oder für die Sehnsüchte, dieser Situation, wenn auch nur für wenige Stunden, zu entfliehen, symptomatischer sein als die Darstellung der Arbeit selbst oder als die historische Rekonstruktion von großen Staatsaktionen, die zumeist abseits des eigentlichen, realen Bewußtseins der Bevölkerung abliefen. So verrät vermutlich die Art und Weise, womit und auf welche Weise man sich unterhielt, mehr über die eigentlichen Interessen von Individuen und sozialen Gruppen, als Beschäftigungen, die das Leben in einer vielleicht ungewollten Weise reglementierten. Die Art, sich in der Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts und um 1900 zu entspannen und zu unterhalten, mag uns heute zum Teil als banal, zum Teil als überholt erscheinen. Wir erkennen dahinter keinen Sinn mehr und suchen daher bei mancher Unterhaltung oder, in einer übertragenen Weise, bei jedem Walzer, wie Hermann Bahr meinte, vergeblich nach einer tieferen Bedeutimg. Dennoch kann man feststellen, daß manche dieser Unterhaltungsformen nicht nur für die immittelbaren Zeitgenossen, sondern ebenso für die nachfolgenden Generationen wichtig waren, sie sollten daher nicht gleich unter ästhetisch anspruchsvol-

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Einleitung

len Gesichtspunkten betrachtet, beurteilt bzw. verurteilt und von der historischen Betrachtung ausgeschlossen werden. So auch eine der wichtigsten Unterhaltungsformen, die Operetten der Jahrhundertwende nicht, von denen die meisten vielleicht zu Recht der Vergessenheit anheimgefallen sind, deren „klassische" Vertreter jedoch musikalisch und thematisch interessanter sein dürften als zuweilen angenommen wurde, und die daher heute von so bedeutenden Interpreten wie Nikolaus Harnoncourt oder John Eliot Gardiner wiederentdeckt werden. Wenn man des weiteren bedenkt, daß die Operette der Zeit um 1900 eine der beliebtesten Unterhaltungsformen breiter städtische Bevölkerungsschichten war, kann man aus ihr wohl auch auf das Bewußtsein der Repräsentanten dieser sozialen Schichten schließen. Darüber hinaus kann man mit Hilfe eingehender Analysen auch Mentalitäten aufdecken, die nicht nur in den Städten, sondern in einer ganzen europäischen Region vorhanden waren und die als kulturelle Erinnerung sogar bis in die Gegenwart von Bedeutung geblieben sind. Sowohl in den musikalischen Ausdrucksformen als auch in den Inhalten mancher Operette sind nämlich kulturelle Zusammenhänge wahrnehmbar, die gleichermaßen für das individuelle und kollektive Selbstverständnis jener Zeit, in welcher sie entstanden waren, als auch, in einem übertragenen Sinne, für das Selbstverständnis bis in die Gegenwart charakteristisch sein dürften. Ich bin mir des überaus fragmentarischen Charakters der Überlegungen, die ich in diesem Essay zuweilen nur andeuten konnte, durchaus bewußt. Der Facettenreichtum der Wiener Operette eröffnete die Möglichkeit, auf solche vielfältigen Zusammenhänge aufmerksam zu machen, welche dieses Genre neben seinem reinen Unterhaltungswert enthält; diese Zusammenhänge werden erst aus ihrer Rückversetzimg in jenen sozial-kulturellen Kontext sichtbar, dem die Operette entstammte. So ließen sich anhand der Operette nicht nur wesentliche Kriterien der Wiener Moderne verdeutlichen, sondern auch Fragen nach den Merkmalen einer mitteleuropäischen bzw. ei-

Einleitung

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ner österreichischen Kultur und einer österreichischen Geschichte aufzeigen. Freilich würden manche der angesprochenen Gesichtspunkte, die ich in einem jeweils unterschiedlichen Zusammenhang nur kurz berühren konnte, es gewiß nahegelegt haben, ausführlicher und begründeter dargestellt zu werden. Diejenigen, die sich daher von meinen Ausführungen vielleicht eine neue, eine umfassendere Darstellung der Wiener Operette erwarten, werden ebenso enttäuscht sein wie jene, die sich eine detailliertere Hintergrundinformation über den sozialen und kulturellen Rontext der Zeit um 1900 wünschen. Ich wollte jedoch weder eine Geschichte der Operette schreiben noch einen allgemeinen Überblick über die historisch-kulturellen Gegebenheiten der Zeit um 1900 anbieten. Hätte ich diesen beiden Forderungen gerechtwerden wollen, wäre die vorliegende Untersuchung auf das Vielfache ihres gegenwärtigen Umfangs angewachsen. Ich hielt es daher lieber mit Stefan Collini, der vor wenigen Jahren den „Geisteswissenschaftlern" geraten hatte, um auch gelesen zu werden, nicht viel zu schreiben, sondern sich auf Wesentliches zu beschränken. 3 Dieses Wesentliche anzudeuten, erblickte ich darin, daß ich versucht habe, mit Hilfe einer vielleicht ungewohnten Analyse der Wiener Operette der Jahrhundertwende nicht nur die gesellschaftlichen und kulturellen Implikationen eines der beliebtesten Unterhaltungsgenres nachzuzeichnen, sondern daß ich gleichzeitig versucht habe aufzuzeigen, wie aus einer Rückversetzung der Operette in ihren breiteren gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Kontext, aus ihrer „Rekontextualisierung" also, Rückschlüsse auf Bewußtseinsinhalte gemacht werden können, die das Leben in einer bestimmten europäischen Region bestimmt haben. Obwohl dem vorliegenden Essay Untersuchungen zugrundeliegen, die ich im Laufe der letzten Jahre veröffentlichen konnte 4 , haben mich erst eingehende Diskussionen zur Niederschrift der nachfolgenden Überlegungen geführt. Ich danke dafür in allererster Linie meiner Frau und meiner Familie. Nicht zuletzt gilt der Dank

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Einleitung

meinen Kollegen und vor allem manchen meiner eifrigen Studenten. Sie alle haben mit wertvollen Anregungen, mit zahlreichen Hinweisen und mit ihrer konstruktiven Kritik ganz erheblich zur Konzeption und zur Fertigstellung dieses kulturhistorischen Essays beigetragen. Wien, im Dezember 1995

Moritz Csáky

1 Hermann Bahr, Tagebücher, Skizzenbücher, Notizhefte Bd. 2: 1890-1900, hg. von Moritz Csáky, bearbeitet von Helene Zand, Lotteiis Moser, Lukas Mayerhofen Wien 1996, 89 [1894 Skizzenbuch 1], 2 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, in: Giorgio Colli - Mazzino Montinari (Hg.), Friedrich Nietzsche Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe Bd. 1, München 1980, 270. 3 Stefan Collini, Neue Leier, neue Dreier. Forschung in den Geisteswissenschaften, in: Kursbuch 91 (März 1988) 2-9. 4 Vgl. u. a.: Die Wiener Operette. Bemerkungen zu ihrem sozialkulturellen Kontext, in: Otto Kolleritsch (Hg.), Vom Neuwerden des Alten. Über den Botschaftcharakter des musikalischen Theaters. Studien zur Wertungsforschung 29, Wien-Graz 1995,79-98. - Der soziale und kulturelle Kontext der Wiener Operette, in: Ludwig Finscher - Albrecht Riethmüller (Hg.), Johann Strauß. Zwischen Kunstanspruch und Volksvergnügen, Darmstadt 1995, 28-65.

Kapitel 1:

Wiener Operette ein Zeichen des Wertvakuums? Zur neueren Operettengeschichte Es ist erstaunlich, daß das Genre Operette als Ganzes bis heute noch kaum einer gründlichen musik- und sozialwissenschaftlichen Analyse unterzogen worden ist. Erst recht gilt dies für jenen Operettentypus, der im Bereich der ehemaligen Habsburgermonarchie entstanden war, für die sogenannte Wiener Operette. Einer solchen Feststellung widerspricht auch nicht die Tatsache, daß gerade in den letzten Jahren die praktische und theoretische Auseinandersetzung mit der Operette wieder in Mode gekommen zu sein scheint. Ein Biograph des Komponisten Emmerich Kálmán hatte freilich schon vor vielen Jahren emphatisch verkündet: „Die Zeiten, wo man die Operette nicht ernst nahm und sie in künstlerischer Beziehung als zweit- oder drittrangig hintansetzte, sind heute endgültig überwunden". 1 TY-otz eines solchen offen zur Schau getragenen Optimismus in bezug auf eine Neubelebung der Operette scheint hingegen die mehr als sieben Jahrzehnte zurückliegende Einschätzung Erwin Biegers im Grunde genommen auch heute noch von einer gewissen Gültigkeit und an Glaubwürdigkeit kaum etwas eingebüßt zu haben: „Es ist merkwürdig, daß man sich so selten zu einer ernstlichen Auseinandersetzung mit dieser immerhin beachtenswerten und für das europäische Ruiturbild der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts mitbestimmenden Erscheinung entschloß, um so merkwürdiger, als sie das Theater in die tiefsten Niederungen riß und für sie heute sehr wohl das Wort gilt, das Emile Zola in seiner naturalistischen Unerbittlichkeit einst schon Offenbach entgegenzuschleudern für notwendig hielt: ,Die Operette ist ein öffentliches Übel. Man soll sie erwürgen wie ein schädliches Tier'".2 Sieht man von den beiden jüngsten Monographien von

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Wiener Operette - ein Zeichen des Wertvakuums?

Volker Klotz ab3, die vor allem den allgemeinen musikund literatursoziologischen Zusammenhang der Operettenproduktion und ihre Rezeption zu erörtern versuchen, verdienen vor allem zwei weitere Untersuchungen erwähnt zu werden: Die des Amerikaners Richard Traubner4, zwar „Operettengeschichte" in traditioneller Manier, jedoch gut recherchiert und mit relativ vielen Hintergrundinformationen, und die voluminöse Monographie des Italieners Carlo Runti über die Wiener beziehungsweise über die Operette der Habsburgermonarchie5. Runti kommt das große Verdienst zu, über die gewohnte Wiener lokalhistorische Berichterstattimg hinaus auch den zumeist vernachlässigten italienischen Kulturraum miteinzuschließen, statistisches Vergleichsmaterial anzubieten6 und sich zumindest ansatzweise in musikalische Analysen vorzuwagen. Traubner läßt es dem gegenüber, ähnlich wie die älteren Darstellungen von Otto Keller7, von Bernard Grun8 oder von Franz Hadamowsky und Heinz Otte9, bei einem geschichtlichen Überblick bewenden und verzichtet weitgehend nicht nur auf eine eingehende musikalische Analyse, die uns die Musikologen bis heute schuldig geblieben sind, sondern vor allem auch auf jene komparatistische Sichtweise, die der Erforschung eines so komplexen Phänomens, das die Operette darstellt, gerecht werden könnte. Denn erst eine Zusammenschau der vielfältigen Facetten der Operette, ein Vergleich ihrer rezeptions- und institutionsgeschichtlichen Paradigmen und die Berücksichtigung des soziokulturellen, des literarischen und des politischen Umfeldes wären wohl imstande das zu leisten, was man von einer Sozial- und Kulturgeschichte der Operette zu Recht erwarten müßte10. Erst in allerjüngster Zeit erschienen zwei Untersuchungen, die diesen Forderungen noch am nächsten kommen und damit eine neue Sicht der Operette ermöglichen. Es sind dies die Untersuchung von Michael Klügl über die Operette im allgemeinen und eine subtile Analyse über Franz Lehár von Stefan Frey.11 Wenn es also bisher, trotz solcher zögerlicher Versuche, zu keiner umfassenden, ernsthaften Beschäftigung mit

Operette: ein „minderwertiges" Kunstprodukt?

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der Wiener Operette gekommen ist, muß das wahrscheinlich seine Gründe gehabt haben. Abgesehen davon, daß man sich bei der Betrachtung der Vergangenheit in der Tat erst seit kurzem jenen kulturellen Phänomenen zuwandte, die für das alltägliche Leben und somit auch für das Bewußtsein, für die Mentalitäten breiterer sozialer Schichten von Bedeutung waren, ließen sich einige Gründe dafür namhaft machen, weshalb vor allem die Wiener Operette, jene erfolgreiche Variante eines musikalischen Genres, das seinerzeit große Teile des theaterhungrigen Publikums der Habsburgermonarchie zu begeistern vermochte, bisher keiner kritischen Analyse unterzogen worden ist. Die Aufforderung zu einer solchen kritischen Bestandsaufnahme ist freilich nicht gleichzusetzen mit dem Versuch der simplen Aufwertung einer Kunstgattung, die in sich so große Unterschiede aufweist, daß es schwer fällt, allen einzelnen und äußerst unterschiedlichen Operettenproduktionen und Typen gleichermaßen gerecht zu werden. Daher ist es noch immer leichter, die Operette insgesamt in das Reich der reinen Unterhaltung, des Amusements zu verweisen und sie damit mit der Etikette eines Vorbehalts zu versehen, der weder einer gerechten Beurteilung ihrer unterschiedlichsten musikalischen Ausdrucksmittel, ihrer Formensprache, noch ihrer sozialhistorischen Einordnung dienlich sein kann. Solche Pauschalurteile sind noch immer sehr verbreitet und finden sich allemal auch bei ernsthaften Musik- und Kulturwissenschaftlern.

Operette: ein „minderwertiges" Kunstprodukt? So hatte zum Beispiel der Soziologe und Musikwissenschaftler Theodor W. Adorno zeit seines Lebens ein äußerst ambivalentes Verhältnis zu dem, was allgemein als „leichte Musik" apostrophiert wird. Sein Urteil hatte vor allem in der Musikwissenschaft der letzten Jahrzehnte großes Gewicht. Daher sollte man seine Kritik ernst nehmen und sich gleichermaßen davor hüten, eine analyti-

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Wiener Operette - ein Zeichen des Wertvakuums?

sehe Untersuchung dieses Genres in dessen simple Verteidigung ausarten zu lassen; denn zu Recht meinte Adorno: „Wie stets der Schwachsinn den erstaunlichsten Scharfsinn aufbringt, sobald ein schlechtes Bestehendes zu verteidigen ist, haben die Sprecher der leichten Musik sich angestrengt, solche Standardisierung, das Urphänomen musikalischer Verdinglichung, des nackten Warencharakters, ästhetisch zu rechtfertigen und den Unterschied der gesteuerten Massenproduktion von der Kunst zu verwischen." 12 Genügt es aber, die Operette einfach dem Bereich der „leichten Musik" zuzuweisen, sie Adorno folgend pauschal als minderwertig abzutun und sich folglich mit ihr nicht weiter auseinanderzusetzen? Ohne Zweifel gibt es und gab es schon immer auch in der Musik Qualitätsunterschiede, wie im Theater und in anderen Kunst- und Kulturbereichen. Dennoch läßt sich vom Standpunkt ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz feststellen, daß gerade die zu ihrer Zeit oder im nachhinein oft als minderwertig apostrophierten Kunstprodukte in bestimmten Gesellschaftsschichten populärer waren und mehr Zuspruch erhielten als die sogenannte „hohe Kunst". Wenn dem so ist, dann gewinnen freilich unter diesem Aspekt auch die „minderwertigen" Kunstprodukte für die Rekonstruktion des kulturellen Selbstbewußtseins, der kulturellen Lebenswelt jener Bevölkerungsschichten, welche diese konsumierten, unabhängig von deren ästhetischer Gewichtung, an Bedeutung. Ein Vergleich mit der Beurteilung literarischer Produkte möge dies verdeutlichen. Was die Lesegewohnheiten von breiten Bevölkerungsschichten angeht, wissen wir, daß beispielsweise die TVivialliteratur zumeist eine viel weitere Verbreitimg hatte als „hochwertige" literarische Produkte. Wenn sich heute die Literaturwissenschaft diesem Geme zuwendet, dann bedeutet dies nicht, daß damit ästhetische Unterschiede verwischt werden sollen, vielmehr handelt es sich um die literatursoziologische Ortung eines Phänomens, das den Geschmack, die Vorlieben, die Sehnsüchte und schließlich die Mentalitäten größerer Leserschichten besser zu

Operette: ein „minderwertiges" Kunstprodukt?

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bestimmen vermag, als die ausschließliche Beschäftigimg mit einer sogenannten hochwertigen Literatur. Ähnlich verhält es sich mit der Analyse jenes Musiktheaters, nämlich der Operette, die in der Tat populärer war als zum Beispiel ihr „ernstes" Pendant, die Oper. Vergleicht man das musikalisch-theatralische Produkt Operette mit einem geschriebenen, trivialen literarischen Produkt, mit einem Buch, dann könnte man den Ausführungen des französischen Historikers Roger Chartier folgend annehmen, daß, analog zu diesem literarischen Text, auch die Aneignung des „Textes" Operette ein höchst komplexes und lebendiges Verfahren ist. „Die Texte", meint Chartier, „ruhen . . . nicht in ihren - hemdgeschriebenen oder gedruckten - Objekten wie in Behältern und schreiben sich nicht in den Leser ein wie in ein weiches Wachs. Um die Lektüre als konkretes Geschehen zu begreifen, muß man sich vor Augen führen, daß an jedem Prozeß der Sinnbildung - also der Deutung - zwei genau spezifizierte Parteien beteiligt sind: Leser mit bestimmten, nach Positionen und Dispositionen unterschiedenen Kompetenzen, charakterisiert durch ihre Lesepraktiken - und Texte, deren Bedeutimg von ihrer jeweiligen diskursiven und formalen . . . Anordnung abhängt." 13 Sowohl die Entstehung des Textes ist demnach ein soziales Phänomen als auch die Tatsache, wer sich einen Text konkret aneignet, und wie er dies tut und was er in den Text hineinliest. Das letztere hängt sicher davon ab, in welchem konkreten gesellschaftlichen und intellektuellen Zusammenhang sich ein Rezipient befindet. Freilich: was er nun tatsächlich aus dem Textzusammenhang, den er liest, versteht, kann im nachhinein erst dann festgestellt werden, wenn sich der Leser darüber äußert oder wenn feststeht, daß der Text bei dem Leser oder bei Lesern eines bestimmten intellektuellen Horizonts auf Zustimmung oder auf Ablehnung stieß. Aus der Zustimmung kann man nicht nur darauf schließen, daß der Text in der Tat rezipiert wurde, sondern es läßt sich daraus mit ebenso großer Wahrscheinlichkeit der Schluß ziehen, daß im Text Inhalte angesprochen werden, die

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Wiener Operette - ein Zeichen des Wertvakuums?

beim Leser auf Widerhall stießen, daß hier Codes vorhanden sein dürften, die vom Leser aufgrund seines kulturellen Rontextes dekodiert werden konnten, daß sie folglich die Lebenswelt des Rezipienten widerspiegeln bzw. dieser Lebenswelt entsprechen. Ähnlich wie bei der Rezeption eines noch so banalen literarischen Textes verhält es sich bei der Rezeption des „Textes" Operette. Aus der Zustimmung, den diese insgesamt, vor allem aber ganz bestimmte Operetten fanden, lassen sich zumindest Vermutungen anstellen über das „Cultural Behaviour" ihrer Rezipienten. Allein von diesem kulturhistorischen und kulturtheoretischen Standpunkt aus betrachtet ist die Beschäftigung mit der Operette nicht nur lohnend, sondern auch berechtigt: denn eine eingehende Auseinandersetzimg mit ihr vermag sowohl bereits bekannte sozial-kulturelle Zusammenhänge zu bestätigen als auch den Blick auf neue Perspektiven zu erschließen. Wie kam es aber, daß man der Operette, insbesondere der Wiener Operette, zunehmend auszuweichen versuchte oder sie ganz einfach pauschal abzulehnen bereit war? Vielleicht lassen sich dafür einige Gründe namhaft machen.

Vorbehalte gegenüber Unterhaltungsmusik Zahlreichen Musikwissenschaftlern schien es nicht der Mühe wert, sich mit einem musikalischen Produkt zu beschäftigen, dem schon aufgrund seiner bewußten rezeptions-, das heißt erfolgsorientierten gesellschaftlichen Tendenz eine musikalische Formensprache nachzuweisen ist, die mit jener der ernsten musikalischen Schöpfungen ihrer Zeitgenossen, etwa der Opernkomponisten, nur wenig gemeinsam zu haben scheint. An diesem Vorbehalt scheiterte bis in die jüngste Zeit selbst eine seriöse Auseinandersetzung mit der Tanzmusik eines Josef Lanner oder der Strauß-Dynastie, klassifizierte man doch die Lannersche oder Straußsche Musik - im Gegensatz zu den Tänzen Schuberts - als reine „Unterhaltungsmusik"

Vorbehalte gegenüber Unterhaltungsmusik

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(U-Musik) und nicht als ernste Musik (E-Musik). Freilich lassen sich Unterschiedlichkeiten, die zu einer autonomen Entwicklung der bürgerlichen Tanzmusik des 19. Jahrhunderts führten, eher aus ihrer gesellschaftlichen Einbindimg als aufgrund ästhetischer Kriterien nachweisen. In der Tat ging, wie Norbert Linke für die Anlange der Straußschen Kompositionen festgestellt hat, „der Antrieb zur Produktion solch disponierter und präsentierbarer Musik . . . von den Forderungen des Tages und von den Kommunikationswünschen einer konkret bestimmenden, weil zahlenden Klientel aus",14 die, im Unterschied zu anderen musikalischen Vorgaben und kompositorischen Produkten, stets Gegenwärtiges, Modisches, Unterhaltendes, das heißt eine Musik für einen aktuellen Anlaß erwartete. Daher versagten und versagen zum Teil bis heute die „etablierten Instanzen der Ästhetik, der Musikkritik und der Musiktheorie . . . gegenüber dieser Entwicklung, die zur Entstehung der kommerziellen Tanz- und Unterhaltungsmusik geführt h a t . . . ".15 Die Tanz- und Unterhaltungsmusik, seit Ende des 19. Jahrhunderts oft ebenfalls als qualitativ minderwertig abgeurteilt, hatte vom frühen 19. Jahrhundert an, als sie einem allgemeinen Bedürfnis entgegenkam, eine durchaus positive Konnotiation und sie behielt wohl bis in unsere Tage in breiten Bevölkerungsschichten eine fast uneingeschränkte Akzeptanz. Der Terminus selbst, nämlich „Unterhaltungsmusik", dürfte 1845 entstanden und von Johann Strauß Vater, dem damals bei der Produktion dieser Musik bereits eine führende Rolle zukam, zum ersten Mal verwendet worden sein. Wie die Tanzmusik der Strauß-Dynastie war auch die spätere Operettenproduktion für den Tag konzipiert, entsprach dem aktuellen Unterhaltungsdrang ihrer Besucher und war daher nicht nur von ihren Sujets, sondern auch von ihrer musikalischen Formensprache her gesehen ein Genre, das die „Banalitäten" des Alltags - ein Vorwurf, der später auch die Musik eines Gustav Mahler treffen sollte - einfing. Zudem zielte die Operette, ähnlich wie die Tanzmusik, stets auf möglichst effiziente Vermarktungsmöglichkei-

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Wiener Operette - ein Zeichen des Wertvakuums?

ten, die erst dann gegeben schienen, wenn auch dem Wunsch, das heißt dem Geschmack der Rezipienten Rechnung getragen wurde. 16 Hinter der Akzeptanz der Operette stand immer auch ihre „Vermarktung", das heißt auch das finanzielle Interesse der Komponisten, der Librettisten beziehungsweise der gesamten „Produktionsmaschinerie", die von Operettenaufführungen lebte. Theodor W. Adorno machte auf diesen Zusammenhang zwischen der Operettenproduktion und wirtschaftlichen Vermarktungstendenzen vor allem bei den sogenannten Revue-Operetten aufmerksam, und er vermeinte gerade hier eine direkte Verbindung zwischen dem Operettenerfolg und den Interessen der Modebranche feststellen zu können: Die Ursache für das Plötzlich-aus-der-Mode-Kommen der Operette hänge somit eng zusammen mit einer sinkenden Nachfrage nach bestimmten Konfektionswaren, was wiederum mit den gesellschaftlichen Veränderungen etwas zu tun hätte. „Die wahren Gründe für das Absterben der Operette europäischen Genres und der Revue herauszufinden, ist schwierig. Eine generelle soziologische Erwägung könnte wenigstens die Richtung bezeichnen. Jene musikalischen Typen hingen aufs engste mit der ökonomischen Sphäre der Zirkulation zusammen, und zwar, genauer, mit der Konfektionsbranche. Revuen waren nicht nur Entkleidungs-, sondern auch Kleidervorführungen. Einer der größten Operettenerfolge ungarisch-wienerischen Schlages, das ,Herbstmanöver', das Kálmán berühmt machte, stammte unmittelbar aus dem Assoziationsfeld der Konfektion; noch im Zeitalter des Musicals war diese Beziehung, in shows wie ,Pins and Needles' oder ,The Pajama Game', spürbar. Wie Stab, Herstellungsweise und Jargon der Operette auf die Konfektion zurückweisen, mochte sie auf die Konfektionäre als ihr ideales Publikum schielen." Da die Kleiderbranche und „andere Zirkulationsberufe zumindest in Europa, aus Gründen die von der ökonomischen Konzentration bis zum totalitären Terror reichen, an Relevanz während der letzten dreißig Jahre Entscheidendes einbüßten, so haben jene Gattun-

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gen der angeblich leichten Muse etwas von ihrer realen Basis verloren. Das ist nicht nur in dem engen Sinne zu verstehen, daß die spezifische Schicht ausstarb, die sie einmal trug, sondern mehr noch in dem diffizileren, daß mit dem Verfall der Zirkulationsspäre auch die Vorstellungsinhalte und Stimuli verblaßten, die weit in die Gesellschaft ausstrahlten, solange die Zirkulationssphäre Muster für den Erfolg individueller Initiative lieferte. Die Ontologie der Operette wäre die der Konfektion."17 Auch wenn man den geistreichen, aber zuweilen etwas übertriebenen Argumentationen Adornos zur Gänze nur schwer zu folgen vermag, war die Operette, die einerseits der Zerstreuung und Unterhaltung, andererseits unterschwellig freilich auch wirtschaftlichen Interessen diente, bei ihrer jeweiligen Produktion stets intensiv von den Wünschen ihres Publikums abhängig. Der gleich von Beginn an durchschlagende Erfolg von „Herbstmanöver" (1909), der deutschen Fassung von „Tatárjárás" (1908), war ganz sicher nicht das Verdienst einer modischen Kostümierung, vielmehr ist er einer innovativen Melodienführung, einer gekonnten Instrumentierung, einer glücklichen Rollenbesetzung bei der Wiener Uraufführung und vor allem zeitkritischen Anspielungen, wie der damals allgemein verbreiteten Kritik am Militär durch den Einjährig-Freiwilligen Marosi zu verdanken. 18 Das Publikum nahm am kreativen, kompositorischen Akt mehr Anteil, als es bei jener Musik der Fall sein mochte, welche nicht zum „Amüsement", sondern zur „Erbauung", das heißt für die Konzertsäle eines bildungsbeflissenen Bürgertums bestimmt war. Daß die zunehmend negative Einschätzung der Operette und der U-Musik insgesamt folglich auch etwas mit der Herausbildung und Überlieferung eines bürgerlichen musikalischen Wertekanons zu tun haben mochte, der seit dem 19. Jahrhundert in den mittleren und höheren Schulen vermittelt wurde, sei hier nur am Rande angedeutet. Man erinnere sich in diesem Zusammenhang im die angebliche Begeisterung, mit der Alma und Gustav Mahler die Musik Lehárs begrüßten. Ihr Enthusiasmus

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beschänkte sich aber auf die private Sphäre, und sie schämten sich diesen in der Öffentlichkeit zu bekunden. Alma Mahler berichtet darüber in den „Erinnerungen an Gustav Mahler". Gustav und Alma Mahler besuchten selten Theateraufführungen, jedoch: „Einmal waren aber wir in der Operette ,Die lustige Witwe', die uns vergnügt machte. Mahler und ich haben nachher zu Hause getanzt und uns den Walzer von Lehar gleichsam nach dem Gedächtnis rekonstruiert. Ja, es geschah etwas Komisches. Eine Wendung konnten wir nicht finden, wie wir uns auch bemühten. Wir waren aber beide damals so ,verschmockt', daß wir es nicht über uns brachten, den Walzer zu kaufen. So gingen wir beide zur Musikalienhandlung Doblinger. Mahler begann ein Gespräch mit dem Geschäftsführer über den Verkauf seiner Werke, und ich blätterte scheinbar achtlos in den vielen Riavierauszügen und Potpourris der ,Lustigen Witwe', bis ich den Walzer und die Wendung hatte. Dann trat ich zu ihm. Er verabschiedete sich schnell, und auf der Straße sang ich ihm die Wendung vor, damit sie mir nicht wieder entfalle."« Die Operette, eine der verbreitetsten Unterhaltungsweisen des städtischen Publikums, war also nicht seriös genug, um sich zu ihr zu bekennen, und diese Einstellung verhinderte auch deren eingehendere wissenschaftliche beziehungsweise ästhetische Analyse. Eine solche Einschätzung entsprach also jenen typischen bildungsbürgerlichen Voreingenommenheiten, die sich bereits in der ambivalenten Beurteilung der Operetten Offenbachs bei dessen Zeitgenossen kundtat. So notierte etwa der Schriftsteller Gustave Flaubert in dem während der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts entstandenen „Dictionnaire des idées reçues", das aperçuhafte Notizen zu einem zweiten, jedoch nicht mehr vollendeten Teil seines Romans „Bouvard et Pécuchet" enthält: „Offenbach. Wenn sein Name fällt, Finger kreuzen, um den bösen Blick abzuwenden. Sehr pariserisch - sehr beliebt"20.

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Operette: ein Sprachrohr für Mentalitäten Eine Auseinandersetzung mit der Operette setzt neben musikalischen auch literarische, theatergeschichtliche, kultursoziologische und nicht zuletzt zeithistorische, das heißt Kenntnisse von politischen Ereignissen voraus. Vielleicht noch mehr als die Oper war die Operette als typische Kunstgattung eines mittleren städtischen Bürgertums zugleich so etwas wie ein Repräsentant einer kulturellen und politischen Mentalität und das Sprachrohr von Ansichten und Sehnsüchten ganz bestimmter sozialer Schichten. Daher ist es wohl nicht zulässig, Operette ausschießlich oder vornehmlich vom Standpunkt einer traditionellen, „seriösen" musikwissenschaftlichen Perspektive zu behandeln, vielmehr gilt es, verschiedene „fachfremde" inhaltliche und methodische Aspekte miteinzuschließen, um dem Genre Operette als Ganzem gerecht zu werden. Es handelt sich also, mit aller gebotenen Vorsicht vor übereilten Schlüssen, darum, erstens zu verstehen, was für Absichten die Operette und ihre Autoren in ihren literarischen (Libretti) und musikalischen Artikulationen verfolgten und wie sich diese in jenen konkreten literarisch - musikalischen Kontext einfügten, dem sie letztlich zu verdanken sind; zweitens geht es um die Frage, welche Funktion die Operette, das Unterhaltungstheater katexochen, im Zusammenhang jener sozial-ökonomischen Transformationen einnahm, die für das ausgehende 19. und beginnende 20. Jahrhundert typisch waren; drittens sollten die für die Wiener Operette spezifischen Merkmale herausgearbeitet und erklärt werden; und viertens soll versucht werden, durch ein umgekehrtes Verfahren, nämlich durch die Rückversetzimg der Operette in ihren konkreten sozial - politischen und kulturellen Zusammenhang das gesellschaftliche und individuelle Bewußtsein der Zeit besser zu verstehen. Man nennt dieses Verfahren, das sich bemüht, ein kulturelles Phänomen bzw. Produkte wie zum Beispiel ein Gemälde, ein Gedicht oder ein Musikstück nicht allein aufgrund seiner inneren Merkmale, das heißt nicht allein

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aus dem vorhandenen Werk („werkimmanent"), sondern mit Hilfe des gesamten sozial-kulturellen Kontextes zu interpretieren, auch „Rekontextualisierung". Dies setzt zum ersten voraus, daß ein künstlerisches Werk Teil jenes „Textes" ist, den eine Kultur als Ganzes darstellt. Faßt man zum zweiten Kultur als das Ensemble von Überzeugungen und Praktiken auf, welche ein gesellschaftliches Zusammenleben bestimmen und regeln, dann kommt der Kunst im weitesten Sinne eine dreifache Funktion zu: Erstens wird durch sie dieses gesellschaftliche Zusammenleben organisiert, sie übt insofern Kontrollfunktion aus, als sie jene Mechanismen weitergibt und propagiert, durch die sich ein konkretes sozial-kulturelles Umfeld, eine spezifische kulturelle Konfiguration selbst bestimmen: durch Lob, Tadel oder durch das Aufzeigen von idealen oder abzulehnenden Gegenbildern. Zweitens ist das Kunstwerk selbst auch bereits das Produkt eines kulturellen Ganzen, indem es sich erst und nur mit solchen „Worten", Codes, Verständnis schaffen muß, die aus dem kulturellen Kontext entlehnt sind; würde es mit fremden Codes argumentieren, bliebe es weitgehend unverständlich. Daher ist das Verständnis eines zeitlich weit zurückreichenden Kunstprodukts für Rezipienten, die sich bereits in einem anderen kulturellen Kontext bewegen, oft erschwert und führt auch zu zahlreichen Fehlinterpretationen, es sei denn, man versucht sich ein Bild von der zeitlich „fremden" Kultur zu machen. Drittens vermag ein Kunstwerk, indem es zum Beispiel reale kulturelle Gegebenheiten, Kontroll- und Gewohnheitsmechanismen, innerhalb derer sich ein Individuum oder eine gesellschaftliche Schicht bewegen, angreift, offen desavouiert oder zu korrigieren versucht, das heißt private oder politische Verhaltensweisen ironisiert, persifliert oder auf den Pranger stellt, Kultur, die sich permanent dynamisch weiterentwickelt, zu verändern bzw. zu erweitern. Mit dem Versuch sowohl die musikalischen Elemente einzelner Operetten, wie zum Beispiel Walzer, Polka oder Csárdás mit den realen, gängigen Formen der musikalischen Unterhaltung, als auch ihre inhaltlichen Aussagen,

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wie etwa Anspielungen auf politische oder soziale Lebenszusammenhänge und Mißstände mit den aus anderen Quellen bekannten konkreten Zuständen jener Zeit, in welcher die Operette entstanden ist, zu vergleichen bzw. sie in einen größeren sozial-kulturellen Kontext zu stellen, erreicht man zumindest ein Doppeltes: Sowohl ein besseres Verständnis der Operette und ihrer musikalischen und thematischen Aussagen als auch die Bestätigung für allgemeine Mentalitäten, die für eine Zeit, als die Operette entstand, zumindest für die Produzenten der Operette und ihre Rezipienten prägend waren. Das heißt, wie die Entstehung und seinerzeitige breite Akzeptanz der Operette nicht zuletzt aus einem gesamtgesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhang erklärt werden sollte, so vermag auch die Reflexion über die Operette diese gesellschaftlich-kulturellen Bedingungen und deren Verständnis zu erklären und somit zu einer tieferen Einsicht in das kollektive oder individuelle gesellschaftlich-kulturelle Selbstbewußtsein der Zeit um 1900 beizutragen. Denn man wird zurecht annehmen können, daß ein Komponist oder ein Librettist mit den musikalischen und sprachlichen Codes und Inhalten seiner eigenen und nicht mit jenen einer anderen Zeit zu argumentieren wußte; er bediente sich all jener Elemente und „Vokabel", die sich in seinem unmittelbaren und weiteren sozio-kulturellen Umfeld vorfanden, die also zum kulturellen Instrumentarium seiner Zeit und seiner Umgebung gehörten. Selbst dann, wenn es ihm gelang, diesen engen zeitlichen beziehungsweise sozialkulturellen Rahmen kraft seiner Kreativität zu überschreiten. Denn auch in diesem Falle bediente er sich im allgemeinen der für seine künstlerische Tätigkeit ganz spezifischen „Vokabel" und brachte so, wie unterschiedlich auch die jeweiligen künstlerischen Ausdrucksweisen sein mochten, den „Geist seiner Zeit" in seine Produktion ein. Gerade dadurch kann aber sein Werk und dessen Interpretation auch ein in der Tat authentischer Zugang sein zu dem für seine Zeit typischen sozialkulturellen Bewußtsein. Adorno, welcher, wie bereits erwähnt, der „leichten

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Musik" und der Operette gegenüber skeptisch, ja ablehnend eingestellt war, meinte daher zu Recht: „Die Standardisierung der leichten Musik ist aber, um ihrer kruden Simplizität willen, nicht sowohl innermusikalisch zu deuten wie soziologisch."21 Die Operette als ein Mixtum compositum von Musik und Text ist also ganz ähnlich wie zum Beispiel ein literarische Produkt, ein Roman oder ein Theaterstück, nicht nur für ihre Produzenten, die Librettisten und die Komponisten repräsentativ, die mit den Vokabeln ihrer Zeit argumentierten, sondern gleichermaßen auch für ihre Rezipienten, die Zuhörer und die Zuschauer, die ihrerseits bestimmte kulturelle, soziale, wirtschaftliche und politische Überzeugungen und Zielvorstellungen hatten. So läßt sich aufgrund der Zustimmung zu einer Operette, an ihrem Erfolg, nicht nur feststellen, daß die Autoren dem Goût ihrer Rezipienten entsprachen, sondern daß aus diesem mentalen Gleichklang von Produzenten und Rezipienten wohl auch etwas von dem herausgelesen werden kann, was zu einem festen Bestand des kulturellen Milieus jener Zeit gehörte, in welcher die Operette ihren „Sitz im Leben" hatte. Die praktische Rezeption der Wiener Operette unterlag daher in der Zeit nach dem Zerfall der Monarchie einem zum Teil unbewußten, zum Teil bewußten Mißverständnis. Einerseits verstand man die zeit- und gesellschaftsabhängigen Pointen vieler Operetten in einer Zeit des raschen politischen und gesellschaftlichen Wandels nicht mehr und sah in ihren Inhalten nur mehr nette, unterhaltende Geschichten mit einem märchenhaften Happy-End. Andererseits versuchte man gerade aus diesem Mißverständnis die Operettenaufführungen und zahlreiche neue Operettenproduktionen, Operette insgesamt also, als die typische Kunstgattung einer vergangenen Zeit und eines untergegangenen gesellschaftspolitischen Systems (der Monarchie) hinzustellen und dementsprechend zu inszenieren und auch musikalisch zu interpretieren, nämlich nostalgisch, kitschig, zuweilen lächerlich. Dieses doppelte Mißverständnis mußte nicht nur die Operette als solche, vielmehr auch die Beschäftigimg mit ihr desavouieren.22

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Operette: eine „ernstgenommene Sinnlosigkeit"? Schließlich dürften auch bestimmte Einwände bzw. Aversionen, die schon von ihren unmittelbaren Zeitgenossen, wie etwa Karl Kraus, gegen die Nach-Offenbachsche Wiener Operettenproduktion verbreitet wurden, die allgemeine Einstellung der Operette gegenüber bis in unsere Tage maßgeblich mitbeeinflußt haben. Dabei zielten die Ausfalle von Karl Kraus nicht nur gegen die Wiener Operette als solche, sondern gegen eine von ihm immer wieder gegeißelte werte- und orientierungslose Bewußtseinshaltung, als deren typischester Repräsentant eben das Genre Operette herhalten mußte. Das Urteil von Kraus ist freilich nicht nur die Konsequenz seiner eigenen radikalen Zeitanalyse, es deckt sich wohl auch mit der Einschätzung vieler seiner bildungsbürgerlichen Zeitgenossen, die mit manchen kulturellen Phänomen ihrer Zeit, selbst mit „Jung Wien", mit der Wiener Moderne, mit der „Décadence" nicht viel anzufangen wußten. So richteten sich denn die Angriffe von Karl Kraus zwar vordergründig gegen die Operettenproduktion der sogenannten „silbernen Ära", in Wirklichkeit aber gegen die Mentalität jener neuen städtischen Mittelschicht, für die die Operette als repräsentativ angesehen werden konnte: „ . . . die ernstgenommene Sinnlosigkeit auf der Bühne entspricht durchaus der Lebensauffassimg einer Gesellschaft, die auf ihre alten Tage Vernunft bekommen hat und dadurch ihren Schwachsinn erst bloßstellte. Und ihren Blößen die Stoffe zurechtzumachen, ist eine Legion talentloser Flickschneider am Werke. Der Drang, das Leben der musikalischen Burleske zu verifizieren, hat die Gräßlichkeiten der Salonoperette erschaffen, die von der Höhe der ,Fledermaus' - des Übels Urquell - über die Mittelmäßigkeit des ,Opernballs' in die geistige Niederung der ,Lustigen Witwe' führen . . . Die Wiener Operette hat sich mit dem Geist des Drahertums verbündet und verzichtet auf das Opfer der Phantasie, das sie einmal ihren Genießern zugemutet hat." 23 Das heißt: In der Operettenproduktion

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der Zeit um 1900 vermeinte Kraus jenen Kulturverfall, jene „Décadence" bestätigt zu sehen, die er an der Literatur, der Journalistik, der bildenden Kunst oder der Politik anzuprangern nicht müde wurde: „Ohnmächtig stehen wir den Katastrophen der Kultur gegenüber, und wenn uns der Schrecken des Überstandenen und die Angst vor der Wiederholung die Ruhe des Rückblicks gönnen, dann sehen wir, wie sich das Bild dieser Stadt verändert hat, seitdem sie sich den Zwischenhändlern des Geistes übergab." 24 Dieses Urteil von Karl Kraus, das den gesellschaftlichen „Verfall" mit jenem einer Kunstgattung verglich und gleichsetzte, wurde gespeist von einem im Grunde genommen konservativen Rückgriff auf vergangene kulturelle Werte - Offenbach als Orientierung, als der unumstrittene, alleingültige Wertmaßstab für Operette - und einer gehörigen Portion von Kulturpessimismus. Damit steht aber auch Kraus selbst in einem zunächst zeitbedingten, wissenssoziologischen Kontext, welcher aber, trotz allem, auch für spätere Beurteiler der Operette Relevanz gehabt haben dürfte. Theodor W. Adorno hätte Kraus, wie den folgenden Ausführungen zu entnehmen ist, in bezug auf seine Ressentiments der Moderne gegenüber zwar als „Bildungsphilister" eingestuft, dürfte ihm aber hinsichtlich seiner Einschätzung der „leichten Muse", der Operette, durchaus Recht gegeben haben: „Wenn der von Bildungsphilistern gegen die Moderne mit Vorliebe zitierte Begriff des Verfalls irgend sein Recht hat", meinte Adorno, „dann in der leichten Musik. Er läßt mit Händen sich greifen und genau bestimmen. Bei Offenbach verband höchst originelle und doppelbödige Erfindung, bunte Phantasie, glücklich leichte Hand mit Texten, an deren sinnvollem Unsinn die Liebe von Karl Kraus entflammen durfte. Bei Johann Strauß, dessen eigentliche Kompositionsbegabung vielleicht die von Offenbach noch übertraf, - wie genial ist das Thema des Kaiserwalzers wider das Gefälle des Walzerschemas erfunden -, kündigt der Niedergang sich an in den abgeschmackten Libretti ebenso wie in einer instinktunsicheren Neigung zum

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aufgedonnerten Opernwesen, der übrigens auch der Offenbach der Rheinnixen nicht widerstanden hatte Ein Äußerstes an aufgeblasenem Schwachsinn stellt wohl die Goethe - Operette Friederike von Lehár, mit dem zugerichteten Mailied, dar. Was nach Offenbach und Strauß kam, hat ihr Erbe schnell vergeudet. Nach ihren unmittelbaren Nachfolgern, die noch etwas aus besseren Tagen hüteten wie Lecocq, kamen die abscheulichen Ausgeburten der Wiener, Budapester und Berliner Operette. Dem Geschmack bleibt es überlassen, ob man vom Budapester Schmalz oder von der Puppchen-Brutalität mehr abgestoßen wird. Aus dem schmutzigen Strom tauchte nur gelegentlich etwas locker Anmutiges auf wie manche Melodien von Leo Fall oder ein paar authentische Einfalle von Oscar Straus."25 Gegen Ende der zwanziger Jahre (1927/31) wurden die Thesen von Kraus durch Egon Friedeil, der auch selbst in der Krausschen „Fackel" publiziert hatte, in seiner „Kulturgeschichte der Neuzeit" aufgegriffen und wohl mit Erfolg popularisiert. Friedell, der ähnlich wie Friedrich Nietzsche in Bizets „Carmen" „ . . . eigentlich die ideale Operette" erblickte26, vermochte über die Wiener Operette nur wenig Gutes zu vermelden. Wie für Karl Kraus ist auch für Friedell bei der Beurteilung des Genres Operette, insbesondere aber der Wiener Operette, Jacques Offenbach der eigentliche und einzige Maßstab, - eine Einschätzung, die zum Teil bis heute andauert, wenn man an der Wiener Operette, in Unkenntnis der spezifischen österreichischen sozialen und kulturellen Traditionen und wohl auch der ursprünglichen Intentionen der Pariser Operette, immer wieder den Mangel an revolutionärem Pathos bemängelt. „Offenbach: französische Musik, mit einem Voltaire'schen Geist, frei, übermüthig, mit einem kleinen sardonischen Grinsen, aber hell, geistreich bis zur Banalität (- er schminkte nicht -) und ohne die mignardise krankhafte oder blond-wienerische Sinnlichkeit" hatte schon Nietzsche in seiner Auseinandersetzung mit Richard Wagner notiert. Diese Sicht der Offenbachschen Operette wurde dann später, durch Siegfried

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Kracauer etwa, bewußt mit einer befreienden, revolutionären Sozialfunktion der Operette insgesamt verbunden. Man würde aber der Wiener Operette gewiß nicht gerecht werden und sie sogar bewußt mißverstehen, wollte man sie ausschließlich an Kriterien messen wollen, die ihr einfach nicht, oder zumindest nicht in erster Linie, zugesprochen werden können. Friedell stand also bereits in jener Tradition, die die Operette und die Unterhaltungsmusik im allgemeinen an Offenbach zu beurteilen gewohnt war. Und so sind auch seine Bemerkungen in der „Kulturgeschichte der Neuzeit" zu verstehen, mit denen er zu einer durchwegs negativen Einschätzung der Wiener Operette einlädt: „Seinen Gipfel erreichte dieses Genre auf deutschem Boden in der,Fledermaus', die über ein sehr gutes Buch und eine Fülle reizender musikalischer Einfälle verfügt, aber über keine Atmosphäre und gar keine Weltanschauung, wodurch sie sich sowohl von Offenbach wie von Nestroy in einer weiten Distanz befindet: ihre Figuren kommen (auch musikalisch) aus keinem gemeinsamen Raum, ihre bezaubernden Melodien sind aufgesetzter Goldstuck... Der Haupteinwand gegen diese aber liegt darin, daß sie gänzlich domestiziert, problemlos, unrevolutionär ist, wiederum im Gegensatz zu Offenbach und Nestroy, obgleich dieser im finstersten Nachmärz, jener unter dem napoleonischen Säbelregiment blühte: kein Druck nämlich, ob er von links oder von rechts kommt, ist der Kunst so schädlich wie die lauwarme Zimmertemperatur des Liberalismus."27

Operette: „ein zur puren Idiotie verflachter Abklatsch"? Die Wiener Operette als Signal für einen Mangel an Atmosphäre, für den Verlust von Weltanschauung: Gerade das wußte ihr auch der Schriftsteller Hermann Broch anzulasten, als er unmittelbar nach 1945 über die Ursachen nachdachte, die für den Nationalsozialismus verantwortlich gemacht werden konnten und die Katastrophe

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des Zweiten Weltkriegs herbeigeführt hatten. Broch vermeinte im Verlust eines festen, verbindlichen Wertesystems die Erklärung für den politischen und moralischen Verfall Europas gefunden zu haben, welcher im Wien seiner Jugendzeit, der Zeit um 1900, bereits sichtbar wurde. Neben der Kunst und der Literatur im allgemeinen war für Broch letztlich auch die Operette ein signifikantes Beispiel dafür, daß Wien - im Gegensatz zur Weltstadt Paris - bereits zu dieser Zeit zu einem Ort des „Wert-Vakuums" geworden war: „Eine Stadt im akuten Wert-Vakuum, eine museal gewordene Stadt, hat mit einer, die sich in stürmischer Wert-Bewegung befindet [nämlich Paris, d.Vf.], nichts wesenhaft Gemeinsames mehr. Und ein provinziell gewordenes Volk hat einen andern Charakter als ein weltstädtisches, muß also auch eine andere Art Kunst produzieren. Gerade an der volkstümlichen Kunst wird das sichtbar. Vergleicht man die drei Operettentypen, die sich in Offenbach, Sullivan und Johann Strauß verkörpern, so fehlt diesem, im Gegensatz zu den beiden andern, jegliche satirische Tendenz: die ironische Note, welche die Wiener Volksbühne in ihrer klassischen Epoche, also in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ausgezeichnet hatte, romantisch bei Raimund, bissig bei Nestroy, war restlos verschwunden, und übrig geblieben war nichts als ein zur puren Idiotie verflachter Abklatsch der komischen Oper und ihrer teils liebenswürdigen, teils schalen Romantik; was sich da breit zu machen begann, war der platte Zynismus des schieren, d. h. des ausschließlich dekorativen Amüsements, und der adäquate Träger seiner Immoralität war das Strauß'sche Walzergenie . . . und so wurde die von Strauß begründete Operettenform ein spezifisches Vakuum-Produkt: Als Vakuum-Dekoration hat sie sich nur allzu haltbar erwiesen, und ihr späterer Welterfolg kann geradezu als ein Menetekel für das Versinken der Gesamtwelt in das unaufhaltsam weiterwachsende Wert-Vakuum genommen werden." 28 Operette als Ausdruck einer „fröhlichen Apokalypse" also? Freilich: Während Broch gewissermaßen in einer me-

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tahistorischen Rückblendung die weltanschaulich-philosophischen Wurzeln der Krise seiner Zeit zu orten versuchte und als ein Symptom dieser Krise die Wiener Operette bezeichnete, sollte es bei dem Versuch einer wissenschaftlichen Analyse der Wiener Operette nicht oder wenn, dann nur am Rande um solche weltanschaulichen Wertmaßstäbe gehen; vielmehr müßte man ganz einfach der Frage nachgehen, inwiefern die Operette der Ausdruck einer bestimmten Zeit, eines konkret vorhandenen gesellschaftlichen Bewußtseins und Instrumentariums war, inwiefern also die Operette repräsentativ gewesen sein könnte für ein „Social-Cultural Behaviour" einer städtischen Bevölkerung, die ihrerseits zu den wichtigsten Promotoren und Rezipienten dieser Kunstgattung gehörte. Wenige Jahre nach Broch betonte der Kunst- und Kulturhistoriker Arnold Hauser, der in seiner Jugend mit dem Philosophen Georg Lukács Mitglied des „Sonntagskreises", eines Sammelbeckens der Budapester Moderne gewesen war und später mit Broch das Emigrantenschicksal teilen sollte, gerade diesen gesellschaftlich-kulturellen Kontext, und zwar im Zusammenhang mit der französischen Operette des Zweiten Kaiserreichs: „Das originellste und in vieler Hinsicht ausdruckvollste künstlerische Produkt des Zweiten Kaiserreichs ist die Operette . . . Neben den konformistischen, dem nüchternen bürgerlichen Geschmack entsprechenden Richtungen und der naturalistischen Oppositionskunst bildet sie eine Welt für sich, - ein Zwischenreich. Sie ist viel reizvoller als das bürgerliche Drama oder der Moderoman und gesellschaftlich repräsentativer als der Naturalismus, und sie stellt als solche das einzige Genre dar, in dem populäre, sich an breitere Schichten richtende und zugleich künstlerisch wertvolle Schöpfungen entstehen." 29 Man steht heute der von Siegfried Kracauer propagierten These, die Offenbachsche Operette hätte, im Unterschied zu ihrem Wiener Pendant, eine bewußte und fast ausschließliche politische Funktion verfolgt, zu Recht skeptisch gegenüber. Carl Dahlhaus hat dies offen ausgesprochen: „Die

Anmerkungen

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Vorstellung vom ,subversiven' Offenbach, in dessen Musik eine Revolution rumort, ist jedenfalls, wenn nicht eine Legende, so doch eine grobschlächtige Naivität."30 Doch selbst wenn der Wiener Operette die zuweilen politische und sozialkritische Direktheit des Offenbachschen Vorbilds abgehen sollte, müßte man sie ebensogut als Ausdruck der „historischen Kultur" der letzten Jahrzehnte der Habsburgermonarchie ansehen, wie man die Operetten Offenbachs als Symptom des Deuxième Empire, des Frankreich Napoleon III. zu bezeichnen pflegt. „Die [Wiener] Operette", meinte daher der ungarische Kulturphilosoph László Mátrai, „ist der früheste und längste gemeinsame kulturelle Ausdruck von Österreich-Ungarn, freilich nicht sein einziger und offenbar nicht sein bedeutendster."31

1 Rudolf Oesterreicher, Emmerich Kálmán. Das Leben eines Operettenfürsten, Wien 21988,209. 2 Erwin Rieger, Offenbach und seine Wiener Schule, Zürich Leipzig - Wien 1920, 24. 3 Volker Klotz, Bürgerliches Lachtheater. Komödie - Posse Schwank - Operette, München 1980, bes. 185-252. -Ders., Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst, München -Zürich 1991. 4 Richard Traubner, Operetta. A Theatrical History, New York 1983. 5 Carlo Runti, Sull' onda del Danubio blu. Essenza e storia dell'operetta viennese, Trieste 1985. 6 Zum Beispiel eine Übersicht über Orte der Handlung S. 221-227, über Theater- und Opernparodien S. 228-238, über OperettenErstaufführungen, mit Angabe der Theater S. 242-246, über „amerikanische" Operetten S. 265 usw. 7 Otto Keller, Die Operette in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Musik - Libretto - Darstellung, Leipzig - Wien - New York 1926. 8 Bernard Grun, Kulturgeschichte der Operette, Berlin 1967. 9 Franz Hadamowsky - Heinz Otte, Die Wiener Operette. Ihre Theater- und Wirkungsgeschichte, Wien 1947. Es sei hier auch auf zwei ungarische Werke hingewiesen: Margit Gáspár, A múzsák neveletlen gyermeke. A konnyüzenés szinpad kétezer éve P a s unerzogene Kind der Musen. Zweitausend Jahre musikalisches Unterhaltungstheater], Budapest 1963, - György Sándor Gài - Vilmos Somogyi, Operettek könyve. Az operett regényes tôrténete [Das Buch der Operetten. Romanhafte Geschichte der

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Operette], Budapest 1976. - Außerordentlich nützlich ist auch ein von Otto Brusatti und Wilhelm Deutschmann verfaßter Ausstellungskatalog: Fle Zi Wi Csá & Co. Die Wiener Operette. 91. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Wien 1985. 10 Vgl. dazu auch die brilliante Einführung zum Thema Operette in: Carl Dahlhaus, Die Musik des 19. Jahrhunderts = Neues Handbuch der Musikwissenschaft 6, Laaber 1980, 187-197. Erste Informationen über die Wiener Operette in: Rudolf Flotzinger- Gernot Gruber (Hg.), Musikgeschichte Österreichs II: Vom Barock zur Gegenwart, Graz - Wien - Köln 1979, 346-348 (G. Gruber). 11 Michael Klügl, Erfolgsnummern. Modelle einer Dramaturgie der Operette, Laaber 1992. - Stefan Frey, Franz Lehár oder das schlechte Gewissen der leichten Musik, Tübingen 1995. 12 Theodor W. Adorno, Leichte Musik, in: Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen, Frankfurt/M., 3. Aufl. 1980, 40. 13 Roger Chartier, Die unvollendete Vergangenheit. Geschichte und die Macht der Weltauslegung, Frankfurt/M. 1992,20. 14 Norbert Linke, „Es mußte einem was einfallen". Untersuchungen zur kompositorischen Arbeitsweise der „Naturalisten", Tutzing 1992,13. 15 Norbert Linke, „Es mußte einem was einfallen" a. a. O. 164. Ders., Musik erobert die Welt, oder: Wie die Wiener Familie Strauß die „Unterhaltungsmusik" revolutionierte, Wien 1987, 97-106,155. 16 Norbert Linke, „Es mußte einem was einfallen" a. a. O. 36. 17 Theodor W. Adorno, Leichte Muse, in: Einleitung in die Musiksoziologie a. a. O. 37-38. 18 Julius Bistron, Emmerich Kálmán, Leipzig - Wien - New York 1932,128 ff. - Kálmán konzipierte „Herbstmanöver" in Kroisbach bei Graz. Ebd. 103. 19 Alma Mahler, Erinnerungen an Gustav Mahler, hg. von Donald Mitchell, Frankfurt/M. - Berlin - Wien 1980,148. 20 Gustave Flaubert, Wörterbuch der Gemeinplätze. Aus dem Französischen von Monika Petzenhauer und Cornelia Langendorf, Frankfurt/M. 1991,121. 21 Theodor W. Adorno, Leichte Musik, in: Einleitung in die Musiksoziologie a. a. O. 44. 22 Bereits 1921 machte der ungarische Schriftsteller Dezsö Kosztolányi auf diese Tatsache aufmerksam und meinte in bezug auf die zeitgenössische Operettenproduktion, daß es gegenwärtig nur mehr „traurige Operetten" gäbe. Vgl. Dezsö Kosztolányi, Az új operett [Die neue Operette], in: Ders., Szinházi esték [Theaterabende], Bd. 2, Budapest 1978, 752-754 (= Szinházi élet 6. 2. 1921).

Anmerkungen

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23 Karl Kraus, Grimassen über Kultur und Bühne, in: Die Fackel 10. Jahr, Nr. 270-71 (19. Jänner 1909), 1-18, Zitat S. 12. 24 Ebd. 17. - Kraus beklagt vor allem den Verlust jener Qualität, die die Offenbach'sche Operette aufzuweisen hatte und nennt als Beispiel für die Salon- oder Décadence-Operette immer wieder „Die Lustige Witwe" von Franz Lehár. Dazu u. a. Karl Kraus, Ernst ist das Leben, heiter war die Operette, in: Die Fackel 12. Jahr, Nr. 513-314, 31. Dezember 1910, 13-16, - Vgl. Georg Knepler, Karl Kraus liest Offenbach. Erinnerungen, Kommentare, Dokumentation, Berlin 1984 25 Theodor W. Adorno, Leichte Musik, in: Einleitung in die Musiksoziologie a. a. O. 36-37. 26 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. Giorgio Colli - Mazzino Montinari, Bd. 12: Nachgelassene Fragmente 1885-1887, München 1980, 344. 27 Egon Friedeil, Kulturgeschichte der Neuzeit, München o. J., 1319. 28 Hermann Broch, Hofmannsthal und seine Zeit [1947/48], in: Hermann Broch, Schriften zur Literatur Bd. 1. Kritik, Frankfurt/M. 1975 (= st 246), 152-153. - Vgl. dazu auch die Ausführungen von Theodor W. Adorno über die „Leichte Musik", in: Ders., Einleitung in die Musiksoziologie a. a. O. 35-54. Ähnlich wie Broch spricht Adomo über die „Idiotie der von der Operette nach Johann Strauß abgeleiteten leichten Musik" (48). 29 Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1967, 853. 30 Carl Dahlhaus, Die Musik des 19. Jahrhunderts a. a. 0.189. - Vgl. auch Siegfried Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, Frankfurt/M. 1980. 31 „Az operett a legkorábban létrejôtt és legtovább fennmaradó közös kulturális jelenség Ausztriában és Magyarországon, de korántsem az egyetlen, és nyilván nem a legjelentösebb." László Mátrai, Alapját vesztett felépitmény [Der Überbau, der seine Grundlage verloren hat], Budapest 1976,99-100. - Vgl. dazu auch die geistreiche Untersuchung von Péter Hanák, The Cultural Role of the Vienna-Budapest Operetta, in: Budapest and New York. Studies in Metropolitan Transformation: 1870-1930, ed. by Thomas Bender and Carl E. Schorske, New York 1994,209-223.

Kapitel 2:

Operette und bürgerliche Gesellschaft Operette als d a s Unterhaltungstheater Wollte man also der Wiener Operette als einem kulturellen Phänomen des ausklingenden Vielvölkerstaates Gerechtigkeit widerfahren lassen, dann sollte man nicht voreingenommen, mit einem ausschließlich von akademischen Disziplinen präformierten wissenschaftlichen Instrumentarium und Kriterienkatalog an sie herantreten, denn ihre Libretti sind ebensowenig „gute" Literatur, wie sich auch ihre musikalische Faktur kaum in das Korsett eines der sogenannten E-Musik entlehnten normativen Rasters wird einfügen lassen. Eine kulturhistorische Betrachtung müßte also die Operette vor allem als das sehen, als was sie auch von ihren Zeitgenossen angesehen wurde: Sie war eine der wesentlichstes Formen der zeitgemäßen Unterhaltungsbranche. Die Operettenproduzenten wußten sich diesen Umstand auch insofern zunutze zu machen, als sie es zum Teil ganz bewußt darauf absahen, aus ihren Produkten Kapital zu schlagen, ihr Œuvre weniger „künstlerisch einwandfrei" als eben so zu gestalten, daß es beim Publikum gut ankam und dadurch viel Geld einbrachte. Mit ihrer Vermarktung hing auch die sprunghafte Steigerung der Operettenproduktion zusammen, was zugegebenermaßen zumeist zulasten ihrer Qualität ging. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich, vergleichbar der späteren Musical- und Filmproduktion, eine „Operettenindustrie", die weniger qualitäts- als profitorientiert agierte, zugleich freilich dem vorhandenen Unterhaltungsbedürfhis des Publikums entgegenkam. Nicht nur in Wien, sondern auch in anderen, Wien durchaus vergleichbaren Urbanen Zentren der Monarchie war dies so. Um 1900 waren beispielsweise in Budapest 70-80% der aufgeführten Theaterstücke Unterhaltungsstücke: Weder Tragödien noch Komödien, Stücke,

Operette aïs d a s Unterhaltungstheater

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die in der Regel in „besseren Kreisen" spielten, den Aufstieg vom Armen zum Reichen, vom Bürgerlichen zum Adeligen („Milieuwechsel") auf der Bühne vorexerzierten und das mögliche Absinken in niederere Gesellschaftsklassen stets mit einem Happy-End auszugleichen wußten. 1 Es waren dies insgesamt jene beliebten Topoi, welche mit der Lebenswelt und mit der Aufsteigermentalität jener neuen sozialen Schichten unmittelbar zu tun hatten, aus denen sich auch das städtische Theaterpublikum dieser Jahrzehnte rekrutierte. Zu den bedeutendsten Schöpfern dieses Genres von Theater in Ungarn gehörten u. a. Schriftsteller, die sich auch als Operettenlibrettisten versuchten, wie Jenö Rákosi, Sándor Bródy, Ferenc Herczeg, Jenö Heltai, der Cousin Theodor Herzls, Dezsö Szomory oder Franz (Ferenc) Molnár. Ihre Stücke kreisten zumeist um Themen, die dem Geschmack, den Wünschen und den Sehnsüchten dieser Bevölkerungsschicht entsprachen und die ihre Anliegen, ihre alltäglichen Sorgen und Nöte widerzuspiegeln und gleichzeitig ins Heitere, Amüsante, Romische, ja ins Satirisch-Sarkastische zu pervertieren vermochten. Aus dieser Erkenntnis kann man für die kulturhistorische Betrachtung des Phänomens Operette zumindest zwei Schlußfolgerungen ableiten. Die erste Schlußfolgerung wäre folgende: Genausowenig wie die Literaturgattung „Unterhaltungsstück" ohne die Berücksichtigimg ihres wissenssoziologischen Rontextes verständlich wird und sich erschließen läßt, ebensowenig kann auch ihr musikalisches Pendant, die Operette, Unterhaltungstheater „katexochen", ohne ihren sozio-kulturellen Background gebührend beurteilt und erklärt werden. Was für das Wiener Vorstadttheater, für das Volksstück, für Ferdinand Raimund und Johann Nestroy oder für das ungarische „népszinmü" (Volksstück) gilt, daß man diese Literatur nämlich nicht einfach an einer zeitenthobenen „Rlassik" messen darf und daß die Renntnis des sozialen Milieus, aus welcher sie entstand, für ihre Interpretation von wesentlicher Bedeutung ist, gilt analogerweise erst recht für das Unterhaltungstheater und für die Operette

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der Jahrhundertwende. Der Ort, an dem dieses Unterhaltungstheater entstanden ist, waren die Städte. Die Entstehungsgeschichte der „Wiener" Operette hängt also engstens mit dem Wiener beziehungsweise österreichischungarischen städtischen sozialen Milieu zusammen und ihre wissenschaftliche Rekonstruktion muß sich der Kriterien dieser spezifischen sozio-ökonomischen und soziokulturellen Bedingungen bewußt sein. Die zweite Schlußfolgerung möchte ich mit der Bezeichnung der retrospektiven Funktion kultureller Phänomene umschreiben. Jedesmal, wenn man sich mit der Vergangenheit beschäftigt, wird man gewahr, wie bruchstückhaft, auch bei einer ausgezeichneten Quellenlage, Quellen und Überreste dieser Vergangenheit überliefert sind. Der Historiker pflegt daher die ihm zur Verfügung stehenden Elemente, die Zeugnisse dieser Vergangenheit, mit Hilfe allgemeiner erkenntnistheoretischer Überlegungen und mit dem Erkenntnis- und Wissenstand seiner eigenen Gegenwart zu rekonstruieren. Dabei setzt er sich freilich immer wieder der Gefahr aus, seine eigenen und die Vorstellungen seiner Gegenwart zum Maßstab einer Vergangenheit zu machen und Tatsachen oder Zusammenhänge, die ihm aufgrund fehlender Belege an sich nicht einsichtig sein mögen, in ein schlüssiges, logisches Korsett zu zwingen. Er versucht daher durch Vergleiche und durch das Bemühen möglichst vieler „serieller" Fakten, etwa durch statistische Erhebungen, durch das Herausfiltern wiederholbarer Tatsachen also, zu möglichst gesicherten Ergebnissen zu gelangen und diese zu einem System zusammenzufügen, das jenem der Vergangenheit möglichst nahe kommen sollte. Auch die Rekonstruktion des Phänomens Operette geschieht weitgehend aus dem Wissenskontext jener Zeit, in der sich der Historiker befindet, der sich diesem Phänomen zuwendet, und die Sicht, aus der er dieses beurteilt, spiegelt weitgehend den Beurteilungshorizont seiner eigenen und nicht den der damaligen Zeit wider.

Sozio-kultureller Rontext der Operette

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Sozio-kultureller Kontext der Operette Dieses Verfahren, das vor allem von den Vertretern der französischen Schule der „Annales" angewandt wurde und zu ganz neuen Einsichten und Ergebnissen über die Vergangenheit geführt hat, wird heute durch jenes der Kulturanthropologie ergänzt. Von den Erfahrungen der Ethnologie ausgehend, die es mit fremden, dem Europäer uneinsichtigen kulturellen Phänomenen zu tun hat und die zunächst als fremde, als andersartige begriffen werden wollen, um möglich zu machen, sie in ihren ursprünglichen, übergeordneten Zusammenhang einzufügen, sollte man sich ebenso bemühen, die Ereignisse, Zeugnisse und die kulturellen Überreste der eigenen Vergangenheit nicht mit den Kriterien der jeweiligen Gegenwart zu betrachten, sondern zunächst als „fremde" zu begreifen und als solche zu analysieren. Es gilt demnach zum Beispiel den Inhalt eines historischen Dokuments oder eines kulturellen Phänomens der Vergangenheit nicht von vornherein in eine bekannte Kausalkette einzufügen, sondern diesen Inhalt, dieses Phänomen erstens für sich, abgesondert zu betrachten, um zweitens aus ihm erst dann jenen konkreten Kontext zu rekonstruieren, der uns aufgrund der Einordnung eines solchen Phänomens in ein „bekanntes" System entgehen würde. Dieses Verfahren entspricht auch jenem, das ich als „Rekontextualisierung" bezeichnet habe. Dabei wird man erstaunlicherweise feststellen können, daß zunächst eindeutig klassifizierbare Texte, zum Beispiel ein politischer Vertrag oder ein Testament, neben den primären inhaltlichen, das heißt intentionalen Aussagen, auch Elemente enthalten, die über die Lebenswelt, über das Bewußtsein bestimmter Individuen oder gesellschaftlicher Schichten einer Zeit mehr auszusagen vermögen, als Zeugnisse, die mit der Absicht verfaßt wurden, diese Lebenswelt immittelbar zu beschreiben. Auch die Beschäftigung mit der Operette als einem kulturellen Phänomen soll es daher nicht allein bei der Betrachtung einer bestimmten musikalisch-theatralischen Gattimg bewenden lassen. Viel-

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mehr vermag ihre „Rekontextualisierung" zu neuen Einsichten in das soziale, politische und kulturelle Bewußtsein sowohl einer früheren als auch der eigenen Zeit beizutragen. Hugo von Hofmannsthal hatte fast zufällig auf diesen sozio-kulturellen Kontext der Operette aufmerksam gemacht, und zwar im Zusammenhang mit seinen Bemühungen, der amerikanischen Öffentlichkeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg die intellektuellen Vorzüge und Zusammenhänge Wiens vor Augen zu führen, welche er stets aus ihrem sozialen Zusammenhang abzuleiten versuchte. In seinem „Ersten Wiener Brief, in welchem er auf die wesentlichen Unterschiede zwischen dem Wienerischen beziehungsweise dem Österreichischen und dem Deutschen zu sprechen kommt, erwähnt er auch die Operette: „Lafcadio Hearn hat es als ein Wunder an sozialer Differenziertheit hervorgehoben, daß er, wenn eine japanische Frau an seiner Gartentür vorüberginge, an den Nuancen ihrer Sprache erkennen würde, welcher sozialen Schicht sie angehört, und daß es sich dabei nicht um zwei oder drei, sondern um zwölf oder vierzehn voneinander deutlich differenzierte Schichten handeln würde. Ganz dasselbe ist für Wien zu sagen, und der immer sehr wache und schnelle Sinn des Publikums für diese Nuancen hat der Bühne einen großen Reichtum gegeben: denn die mimischen Differenziertheiten der Stände gehen Hand in Hand mit den sprachlichen, und es gibt keine bessere Erziehimg für den Schauspieler als ein für Gebärden und das was sie sozial bedeuten sehr empfindliches, waches Publikum. In der Schauspielkunst flöß dies zusammen mit der musikalischen Begabung, im Walzer und im Couplet lebte sich dasselbe aus wie in der Farce und im Melodram, und es ist, unter anderm, nichts merkwürdiger, als daß hier an einer bestimmten Stelle Europas etwas sozusagen allgemein Menschliches entstehen konnte wie die Wiener Operette, das sich von Wien bis San Francisco und von Stockholm bis Buenos Aires allen so verschiedenen Menschen einschmeichelte, wie etwas Selbstverständliches, und das man nirgend zu

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adaptieren brauchte, weil es überall wie zuhause erschien." 2 Und kurze Zeit später ergänzte und präzisierte Hofmannsthal diese Aussage und meinte, daß Karl Eugen Neumann, Rudolf Rassner und Sigmund Freud ebensowenig „zufällig" in Wien beheimatet wären wie die Operette: „Ich finde es nicht zufallig, daß R. E. Neumann sein unbeachtetes Leben hier führte und beschloß: denn Wien ist die alte porta (Mentis für Europa. Noch finde ich es anders als sehr übereinstimmend, sehr richtig, daß Dr. Freuds Theorien von hier aus ihren Weg über die Welt nehmen - ganz ebenso wie die leichten, etwas trivialen, aber biegsamen und einschmeichelnden Operettenmelodien, mit denen sie doch so denkbar wenig zu schaffen haben. Wien ist die Stadt der europäischen Musik: sie ist die porta Orientis auch für jenen geheimnisvollen Orient, das Reich des Unbewußten."3 Mit diesen Hofmannsthal-Zitaten soll freilich weder eine Neubewertung, geschweige denn eine ungebührliche, qualitative Aufwertung der Wiener Operette angedeutet werden. Abgesehen davon, daß ein solches Unterfangen auch methodisch höchst fragwürdig sein könnte, ließen sich doch, wie bereits angedeutet, ähnliche Zitate beliebig für oder gegen die Operette bemühen, sollte damit nichts anders verdeutlicht werden als die Tatsache, daß, so wie jedes kulturelle Produkt nicht nur in einem bestimmten sozialen Rontext entsteht und ohne das Mitbedenken dieses sozialen Hintergrunds nicht vollgültig erfaßt und erklärt werden kann, auch die Wiener Operette nicht aus den spezifischen sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Rahmenbedingungen gelöst werden darf, daß also, um die Operette kulturhistorisch einzuordnen, ihr wissensoziologischer Rontext mitbedacht werden muß. Eben dies hat Hofmannsthal offenbar richtig erkannt.

Operette und urbane Bevölkerung Wenn im folgenden in aller Rürze auf diesen sozialen Rontext hingewiesen werden soll, dann könnte in erster

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Linie hervorgehoben werden, daß der Beginn der „klassischen" Operette in der Monarchie engstens verknüpft war mit dem Entstehen und Erstarken des Bürgertums des 19. Jahrhunderts, einer neuen sozialen Schicht, deren Repräsentanten zum Teil traditionalen, heterogenen sozialen Gruppierungen entstammten, die aber aufgrund der sich verändernden sozio-ökonomischen Bedingungen (Modernisierung) gleiche oder ähnliche politische, soziale und ökonomische Zielsetzungen verfolgten. Doch kann dieses neue Bürgertum deshalb nicht als eine in sich geschlossene, homogene gesellschaftliche Gruppe angesehen werden, denn auch innerhalb dieses neuen Bürgertums gab es unterschiedliche Schichtungen, die sich, abgesehen etwa von der traditionellen Schicht des beamteten Bürgertums, zum Teil aus der differenzierten Zuordnung zu den ökonomischen Produktionsweisen begründeten, welche ihrerseits aufgrund eines beschleunigten wirtschaftlichen und technischen Innovationsprozesses sich weiter aufteilten und in der Folge auch zu einer Differenzierung des Bewußtseins, zu einer Differenzierung von Identitäten beitrugen. Eine Folge der Modernisierung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert war auch in der Habsburgermonarchie die Zunahme beziehungsweise das rasche Anwachsen der städtischen Bevölkerung (Urbanisierung). Die Städte und ihre Lebenswelt, die sich in der gesamten Habsburgermonarchie im Hinblick auf die architektonische Gestaltung, auf den Verkehr, auf den Handel oder auf die täglichen Lebensbedingungen (z. B. Wohnkultur, Kommunikation und Pressewesen, Theater, Musik) in analoger Weise entwickelt hatten und sich daher sehr ähnlich waren, boten einen gemeinsamen äußeren Rahmen, einen zwar nur lockeren, jedoch mentalitätsprägenden Zusammenhalt. Demgemäß verfügte das Bürgertum, wie heterogen es im Grunde auch war, über ein gewisses Arsenal von gleichen oder analogen kulturellen Codes, die nicht nur von den Bewohnern einer bestimmten Stadt, sondern von den Bewohnern der unterschiedlichsten Städte der Monarchie verstanden wurden. Im Zusam-

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menhang mit unseren Überlegungen ist dies insofern von Bedeutung, als dieser analoge intellektuelle Mentalitätshorizont nicht nur zu analogen, vergleichbaren Rezeptionsweisen kultureller Einflüsse führte (ähnliche Lesegewohnheiten, ähnliche künstlerische und musikalische Geschmacksweisen), vielmehr - unabhängig von einer möglichen wechselseitigen Beeinflussung - auch die Produktion von analogen kulturellen beziehungsweise künstlerischen, das heißt auch musikalischen Inhalten begünstigte. So beobachten wir zu Beginn der Operettengeschichte der Monarchie eine fast synchrone Rezeption der Offenbachschen Operette in Wien, in Ofen-Pest (Budapest) und in anderen, kleineren Städten. Und auch die ersten Versuche einer eigenständigen Operettenproduktion weisen ähnliche inhaltliche und Stilelemente auf. Das mit musikalischen Nummern durchsetzte Volksstück, in Wien die den französischen Vaudevilles verpflichteten Nestroyschen Komödien, waren wichtige Voraussetzungen für den durchschlagenden Erfolg der ersten Offenbach-Operetten in den Städten der Monarchie. 1858 macht das Wiener Carl-Theater mit der deutschen Version von „Hochzeit bei Laternenschein" den Auftakt, dem bis Mitte der sechziger Jahre zahlreiche andere Offenbachstücke folgen sollten.4 Während das ungarische „Nemzeti Szinház" (Nationaltheater) mit einer ungarischen Version der „Hochzeit" erst im Dezember 1860 nachzieht3, im selben Jahr, als im der Hauptstadt nahegelegenen Kecskemét eine französische Gruppe mit Offenbachschen Originalen auftritt6, machte das ungarische Theater in Rlausenburg (Kolozsvár, Cluj) seine Besucher bereits im Dezember 1859 mit dieser Operette bekannt.7 Es ist erstaunlich, wie rasch auch kleinere Provinzbühnen, wie etwa jene von Raab (Györ) oder Miskolc8 mit den größeren Theatern der Hauptstädte mithalten konnten und wie intensiv die Verbindung und der Austausch zwischen den einzelnen Theatern der Monarchie gewesen ist. Nicht nur von Wien aus erfuhren die ersten Operettenversuche in Ungarn eine nachhaltige Unterstützung - im Pester Deutschen

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Theater wurde in den sechziger Jahren Offenbachs „Orpheus" im Rahmen eines Wiener Gastspiels sechzigmal en suite aufgeführt.9 Auch umgekehrt gab es von Beginn an zahlreiche Vorstellungen ungarischer Truppen in Wien, in Linz und in anderen Städten der Monarchie. 10 Durch die ersten Offenbach-Einakter angeregt, entwikkelte sich dann gleichzeitig sehr rasch eine autochthone Operettenproduktion in Wien und in Ungarn.11 In Wien zunächst unter der Federführung der Dalmatiner Franz von Suppé, der 1860 „Das Pensionat" herausbrachte 12 und Ivan (Giovanni) von Zajc (Zayc, Zaytz)15, der bald Operndirektor in Zagreb wurde, in Ungarn unter Géza Allaga, Jakob (Jakab) Jakobi und Josef (József) Konti.14 Die Anfänge der Operette in der Monarchie reichen zwar bis in das Volks- und Vorstadttheater zurück, woraus sich ihre populäre, zuweilen derb-komische Thematik und ihre volksverbundene Melodik, mit offenen Allusionen an das Wienerlied (Singspiel) beziehungsweise an ungarische Weisen, verdankt. Viele der Stücke Nestroys waren ganz einfach Übertragungen französischer Vaudevilles ins Wienerische. Die Tatsache aber, daß sich sehr bald zunehmend städtische Theater um die Aulführungen von Operetten kümmerten und bewarben, weist jedoch bereits auf einen wichtigen sozio-kulturellen Wandel hin: Ihre Rezipienten rekrutierten sich nun immer mehr aus jenen Urbanen Mittelschichten, die nicht identisch waren mit den weniger gebildeten gesellschaftlichen Kreisen der Vororte. Ein ähnlicher Prozeß ist auch in Ungarn feststellbar. Vielleicht hängt damit auch die Krise des musikalisch durchsetzten ungarischen Volksstückes (népszinmü) unter Josef (József) Szigligeti um 1860 zusammen, welches ja zunächst ebenfalls Zuschauer anderer sozialer Schichten angesprochen hatte. 15 Auch der enthusiastische Empfang des Olfenbach'schen „großstädtischen", internationalen Flairs mag eine Bestätigimg für diese Annahme sein: Man fühlte sich eben als Städter, als „bourgeois" und wollte viel lieber mit Paris verglichen als an einem Vorstadtpublikum gemessen werden, das wie in Ungarn - von seiner Mentalität her gesehen abge-

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schlossener, volkstümlich verhaftet, das heißt kaum oder weniger weltoffen war. Ein Indiz für die Richtigkeit dieser These dürfte auch die skeptische bis ablehnende Haltung des magyarischkalvinischen Publikums in Debrecen der Operette gegenüber sein: Sie war ihren Bewohnern zu „frivol" und nicht volkstümlich (später: national-magyarisch) genug. Der ungarische Dichter und Zeitkritiker Endre Ady (18771919), der seine sozialradikale Kritik mit kalvinischem Puritanismus und einem ausgesprochen antinationalistischen Internationalismus zu vereinen wußte, gleichzeitig jedoch allem „Deutschen", das heißt Österreichischen gegenüber stets national-magyarisch argumentierte, verurteilte um 1900 die deutschsprachige Wiener Operette und vor allem ihre Rezeption in Ungarn: „Die Öffentlichkeit klatscht auf einen Cancan, auf gesichtslose deutsche Couplets und die Aufführung dauert bis spät in die Nacht.. .".1β Würde es sich um eine ungarische Operette handeln, „wäre sie auch moralischer. Im ungarischen Geist ist eine geheime Keuschheit, welche eine fremde Sauerei zu zähmen vermag". Ähnlich nationalistisch urteilte Ady dann auch später. Als er einmal nachts der aus dem Vigszinház nach Hause strömenden Menge begegnete, die nach der Aufführung einer ihm verhaßten „deutschen" Operette sich auf der Straße sogar deutsch unterhielt, meinte er: „Jawohl, in diesem Lande ist jedwede Germanophobie berechtigt. Es ist dies unser großes Elend, daß wir uns der Kultur durch die deutsche Sprache ausliefern." 17 Die Operette war also mit ihrer inhaltlichthematischen und musikalischen Offenheit geeignet, ein breiteres Publikum anzusprechen, nämlich jenes, das sich aus dem noch sozial heterogenen neuen städtischen Bürgertum rekrutierte. Zudem fiel die frühe OffenbachRezeption in die Zeit des Neoabsolutismus, und man scheint den zumindest indirekten politischen Hintergrund, die versteckt-amüsante Sozialkritik Offenbachs vor allem in Ungarn sehr wohl verstanden, auf die eigene politische Situation bezogen 18 und die Operette auch im Hervéschen „musiko-therapeutischen" beziehungsweise

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sozial-therapeutischen Sinne empfunden und umgedeutet zu haben.19 Dieser hintergründige Aspekt der Operette konnte auch in Wien - man denke nur an Nestroy - auf eine gesicherte Tradition zurückweisen. Manche verdeckte Politik- und Sozialkritik, selbst in den frühen Strauß-Operetten - Verspottung der politischen Obrigkeit (Polizei) in der „Fledermaus" -, weist auf jene gesellschaftliche und politische Dimension hin, die der Operette nach 1918 fast völlig abhanden kommen sollte, die aber gerade den durchschlagenden Erfolg mancher Operetten, wie zum Beispiel der „Lustigen Witwe", gewiß auch mitbegründet und garantiert hatte. Das heißt die Nachfrage, die Rezeptionsbereitschaft von seiten eines neuen städtisch-bürgerlichen Publikums war nicht nur entscheidend für den triumphalen Einzug der „Pariser" Operette in die Monarchie und für ihr rasches Umfunktionieren in eine eigene Operettenproduktion, vielmehr dürfte der Publikumsgeschmack des quasi-demokratisch gesinnten, sozial-kritischen und politisch interessierten Bürgertums seinerseits auf den frühen Typ der „Wiener" Operette nachhaltigst eingewirkt haben.

„ G l ü c k l i c h ist, w e r v e r g i ß t . . . " Der hintergründige, gesellschaftsbezogene Rontext der Wiener Operette könnte mit verschiedenen Beispielen belegt werden, so unter anderem mit dem Hinweis auf einen Aspekt in der „Fledermaus". Deren Zuschauer rekrutierten sich wohl zum Teil aus einer bereits gebildeten bürgerlichen Schicht, denen auch ein verstecktes Schopenhauer-Zitat bzw. eine Entlehnimg aus dem „Oracolo manual" von Baldasar Gracian (1647) sehr wohl geläufig sein mochte: „Glücklich ist, wer vergißt, was nicht mehr zu ändern ist."20 Die Auseinandersetzung mit Schopenhauer oder zumindest der Besitz seiner Werke war für das bildungsbeflissene Wiener Bildungsbürgertum zu einer Selbstverständlichkeit geworden, „indem ja", wie Her-

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mann Bahr 1894 bemerkte, „unter dem Drucke der Mode auch die Wiener Schopenhauer lasen, aber nicht ohne doch immer auf einen Walzer daneben zu hören." 21 Und von der wohl allgemeinen Vertrautheit des Wiener Bildungsbürgertums mit Baldasar Gracian, dessen Werk seit 1862 in einer neuen Übertragung von Schopenhauer vorlag, weiß unter anderem auch Ferdinand von Saar in seiner Novelle „Der Burggraf' zu berichten: „Trotz des prachtvollen, fast sommerlichen Septemberwetters waren nur wenige Gäste anwesend, so daß ich ziemlich einsam bei meiner Tasse Kaffee saß. Ich war es aber ganz zufrieden; konnte ich doch desto ungestörter die Aussicht über die Donau und ihre bereits bunt gefärbten Auen genießen. Auch hatte ich ein Buch bei mir, in dem ich lesen wollte. Es war Gracians Handorakel der Weltklugheit, übersetzt von Schopenhauer. Ich kannte es schon; da ich es aber Jahre hindurch in meiner Bücherei neben den Werken des Frankfurter Philosophen vermißte, so hatte ich das schlanke Bändchen, das ich erst kürzlich von einem Freunde zum Geschenk erhalten, heute zu mir gesteckt und wurde j etzt von dem Inhalt wieder mehr und mehr angezogen." 22 Man kann also davon ausgehen, daß Gracians „Oracolo manual" in der Tat zum festen Bestand eines Wiener bürgerlichen Bildungskanons gehörte und daß daher dieses indirekte Gracian-Zitat von den Besuchern der „Fledermaus" durchaus als solches wiedererkannt wurde. Freilich geht das Gracian-Zitat ursprünglich auf die Antike zurück und entspricht der resignativen Lebenseinstellung der spätantiken Stoa eines Seneca, der wörtlich meinte: „Das Vergessen ist das Heilmittel gegen Ungerechtigkeiten" (Iniuriarum remedium est oblivio).23 Vor allem im 18. Jahrhundert fand das „Oracolo" weite Verbreitung, man bezog sich mehrfach bewußt auf Gracian und der ungarische Exjesuit Ferenc Faludi empfahl in der 67. Maxime seines „Weisen und auimerksamen Hofmanns", in welchem er Gracians „Oracolo" und „El Discreto" („Der Hofmann") kommentierend und paraphrasierend der aufgeklärten Elite seines Landes vor Augen

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hielt, das Vergessen des Unvermeidlichen als eine der wichtigsten Lebensmaximen. 24 Unabhängig von diesen direkten Rezeptionen im Bereich der Monarchie begegnen wir der im „Oracolo" ausgesprochenen Empfehlung des Vergessens bereits vor Gracian, nämlich im 15. Jahrhundert bei Kaiser Friedrich III. In dem von Alphons Lhotsky so benannten „Notizbuch Friedrich III." wird das Zitat der Straußschen Operette fast wörtlich vorweggenommen: „Das Vergessen der Dinge, die nicht wiedererlangt werden können, ist höchstes Glück" („Rerum irrecuperabilium suma [sic] felicitas est oblifio" [sic!])23. Der auch heute vielzitierte Ausspruch aus der „Fledermaus" ist also einerseits der Schopenhauer-Gracianschen Tradition zu verdanken, dürfte sich aber andererseits auch auf andere Traditionen zurückführen lassen und somit eine Lebenseinstellung widerspiegeln, die vielleicht gerade in einer „österreichischen" beziehungsweise mitteleuropäischen Mentalität tief verwurzelt gewesen sein mag. Diese mitteleuropäische Mentalität wurde ja von jenen politischen Rahmenbedingungen mitbeeinflußt, die sich seit der Gegenreformation herausgebildet hatten, welche mit Hilfe der von einer spanischen Seriosität geprägten Jesuiten durchgeführt worden war. Seit dem späten 16. Jahrhundert entwickelte sich so anscheinend die Etablierung eines „katholisch-barocken" obrigkeitsstaatlichen Autoritätsgefüges, obrigkeitsstaatliche Strukturen, die bis in die unteren Bevölkerungsschichten bestimmend und über Jahrhunderte bewußtseinsprägend werden sollten. Der Salzburger Historiker Ernst Hanisch hat in seiner jüngsten Darstellung der österreichischen Geschichte von 1890 bis 1990 auf diese Tatsache in überzeugender Weise aufmerksam gemacht. 28 Nach seiner Diktion ist seit der Gegenreformation das Katholisch-Barocke mit seinen hierarchisch-autoritären Strukturen zu einem kennzeichnenden Kriterium eines in Österreich vorherrschenden Bewußtseins geworden. Dieser Ansicht kann wohl prinzipiell zugestimmt werden. Einschränkend sollte aber diese Feststellung dennoch dahingehend präzi-

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siert werden, daß die Mentalität des Barock auch andere Facetten beinhaltet hatte als bloß jene von Hanisch benannten katholisch-gegenreformatorischen. Denn ganz unabhängig davon, daß das Barock vornehmlich in Regionen, zum Beispiel in den italienischen Ländern, vorherrschend wurde, in welchen der Reformation und folglich auch der Gegenreformation nicht das gleiche Gewicht zukamen, wie in der Monarchie, daß es spätestens seit den Forschungen von Karl Brandi, Joseph Lortz oder Ernst Bizer ein längst überholter historiographischer Standpunkt ist, Reformation und Gegenreformation, Protestantismus und gegenreformatorische Jesuiten wertend gegeneinander auszuspielen, könnte das Barock gleichwohl auch als ein Signal für eine gewisse Offenheit und foglich für eine Fragmentiertheit des Bewußtseins interpretiert werden. So erinnert sowohl die Sinnesfreude des Barock als auch die Aneignimg und Achtung vor Vielfalt, der Leibniz in seiner Monadologie eine ontologische Dimension zuerkannte, an diese barocke, fragmentierte Offenheit.27 Walter Benjamin hat die Literatur des Barock bereits der Moderne zugerechnet bzw. in ihr wesentliche Voraussetzungen und Analogien zur Zeit um 1900 benannt 28 ; es wäre kein Zufall, daß Werfel 1915 mit seinen „Troerinnen" einen gleichen literarischen Stoff verarbeitet hätte wie „Opitz im Beginn des Barockdramas. In beiden Werken war der Dichter auf das Sprachrohr und die Resonanz der Klage b e d a c h t . . . Zumal im Sprachlichen ist die Analogie damaliger Bemühimg mit der jüngstvergangenen und mit der momentanen augenfällig . . . Denn wie der Expressionismus ist das Barock ein Zeitalter weniger der eigentlichen Kunstübung als eines unablenkbaren Kunstwollens. So steht es immer um die sogenannten Zeiten des Verfalls."29 Auch die bildende Kunst des Barock dokumentierte diese offene Fragmentiertheit: Die allegorische Verschränkung vielfaltigster Elemente und Codes, die zeitgleich und zeitverschoben, synchron und diachron, in ihre Darstellungen Eingang gefunden haben, erinnert an einen fast beliebigen Zitatenreichtum, dessen sich in der postmodernen Offenheit

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der Gegenwart die Kunst ebenfalls zu bedienen weiß. Es ist dieses und nicht das explizit katholische Barock, auf das sich manche Repräsentanten der Jahrhundertwende bezogen haben, unter anderem Hermann Bahr schon seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts, Hugo von Hofmannsthal oder Max Reinhardt, die im Barock keineswegs nur das Religiös-Katholische, sondern einen Ausdruck ihrer eigenen Zeit und ein Gegenbild zur bürgerlichen Enge der Gegenwart erblicken wollten. Ich möchte mit diesen kurzen Hinweisen nur zu bedenken geben, daß wir es im Hinblick auf die Ausbildung von Mentalitäten mit durchaus ambivalenten Traditionen zu tun haben können, und daß stets Vorsicht geboten sein dürfte, individuelle und kollektive Bewußtseinszusammenhänge vereinfacht, monokausal und nicht aus ihrer Komplexität und vielfachen Verschränkung zu erklären. Unbeschadet dieser Beobachtung bietet gleichwohl, wie ich meine, gerade diese eine Seite des Barock, das Barock der Gegenreformation, in der Habsburgermonarchie mit seinen typischen obrigkeitsorientierten Verhaltensmustern, ein wichtiges Erklärungsmuster für die Ausbildung einer Mentalität, welche für die politische Kultur in dieser zentraleuropäischen Region besonders kennzeichnend geworden ist. Während des 18. Jahrhunderts vermochten Maßnahmen der Aufklärung dieses obrigkeitshörige, absolutistische Staatsgefüge zwar zu mildern, es jedoch nie völlig aufzuheben, zumal der Repräsentant dieses absolutistischen Systems weniger die Person des Herrschers oder der ständische Adel als vielmehr die breite Schicht der Beamtenschaft war, in deren Interesse es gelegen sein mußte, die politische Verwaltung übersichtlich und einheitlich, das heißt zentralistisch zu gestalten. Konkret wirkte sich dies durch ein allgemeines Kontrollsystem aus, dem die Untertanen ausgeliefert waren. Politische und soziale Reformen wurden nur insofern zugelassen, als sie das System der politischen Herrschaft in ihrer Funktion nicht zu gefährden vermochten. Der Literaturwissenschaftler Leslie Bodi prägte für diese typische Variante der Aufkärung

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in Österreich den Begriff „funktionale Aufklärung".30 Damit sollte zum Ausdruck gebracht werden, daß der Josephinismus, konform den Zielvorstellungen der Aufklärung, zwar einschneidende Veränderungen und Modernisierungen im politisch-gesellschaftlichen Bereich bewirkte, daß diese Modernisierung jedoch „verordnet" wurde, also von „oben" erfolgte, so daß sie das absolutistische politische System als solches nur wenig tangieren konnte. Zahlreiche innovative Reformen, wie die Lockerung der Zensur, die Toleranzpatente oder die Humanisierimg des Strafrechts, entsprachen inhaltlich den Freiheitsforderungen des aufgeklärten Zeitalters. Da sie jedoch von der Regierung verordnet wurden, blieben sie fest im Griff eines zwar aufgeklärten, jedoch absolutistischen politischen Systems. Die Vertreter einer neuen, aufgeklärten Intellektuellenschicht, die mittleren Beamten, die eine österreichische Variante der „bourgeoisie éclairée" darstellten, mußten jedoch bald erfahren, daß sie mit ihren Vorstellungen und Wünschen nach Freiheit und Gleichheit, nach Partizipation an politischen Entscheidungen, zwar theoretisch Gehör fanden, jedoch nur Handlanger des politischen Systems blieben, und daß sie bei dem Versuch, diese Forderungen im Sinne einer zunehmenden Mitsprache auch praktisch umzusetzen, auf Grenzen stießen, die sie nicht überwinden konnten. Ähnlich verhielt es sich im Bereich der sozial-ökonomischen Aufstiegschancen. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts reduzierte die Regierung dann sukzessive die bereits erreichten oder zumindest in Aussicht gestellten Freiheiten. Die Mentalität des Biedermeier ist die Reaktion des Bürgertums auf diese Situation. Das Bewußtsein des Nicht-Weiterkommens, des Sich-FügenMüssens, bewirkte jene Stimmung der Weltflucht, des sich Zurückziehens aus der politischen Öffentlichkeit und schließlich der Entdeckung der Privatsphäre, in der zunehmend nur auf der ästhetischen Ebene der Dichtung, des Theaters oder der Musik artikuliert werden konnte, was öffentlich zu erstreben oder gar zu fordern, existenzbedrohend sein konnte. Eine Veränderimg von

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„unten" mochte auch mit der Revolution von 1848 nicht gelingen. Diese Antinomie zwischen der staatlichen Obrigkeit als einem etablierten politischen System und der Gesellschaft wurde nicht nur allgemein registriert, sondern wurde mentalitätsprägend und für die politische Kultur im Bereich der Monarchie bis zu deren Ende weitgehend bestimmend. So scheint das „Glücklich ist, wer vergißt" seinen „Sitz im Leben" in einer Kultur gehabt zu haben, die sich auch diesen quasi-absolutistischen Strukturen verdankte. Das „Glücklich ist, wer vergißt" dürfte demnach nicht so sehr Ausdruck eines Wiener „Drahertums" (Karl Kraus) des ausgehenden 19. Jahrhunderts gewesen sein als vielmehr der Haltung einer resignativen „Melancholie" entsprochen haben, die zu den sozialen und politischen Lebensstrategien vor allem der Repräsentanten jener aufsteigenden Gesellschaftsschichten, nämlich des Bürgertums, gehörte, die „Schopenhauer lasen" und sich in den allabendlichen Unterhaltung des Theaters über ihre Situation in einer heitersatirischen Weise hinwegzutrösten versuchten. Die „Melancholie", die hier zunächst eine Begleiterscheinung des für die Monarchie typischen Modernisierungsprozesses war, mag aber auch aus einem anderen, tieferliegenden Zusammenhang erklärt werden. Bedenkt man nämlich, daß die Monarchie in ihrer politischen, sozialen und kulturellen Heterogenität ein höchst komplexes und sensibles Netzwerk von Bezügen darstellte und daß die Veränderung einzelner seiner Teile stets die Gefahr der Auflösung des Ganzen bewirken konnte, dann kann festgestellt werden, daß sich hier auf den verschiedensten Ebenen des politischen und sozial-kulturellen Handelns eine Art von sehr pragmatischen Verhaltensmustern ausbilden mußten, die in und mit Pluralitäten zurechtzukommen wußten, die bei jeder Entscheidung auf das andere achtzuhaben und zu reagieren vorgaben und deren Maxime es daher war, von größeren verändernden Neuerungen womöglich abzusehen. „Kakanien ist der Staat des Sowohl als auch und des Weder noch" notierte Musil als „Hauptergebnis des ersten Teils" seines

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Romans „Der Mann ohne Eigenschaften". 31 In der Tat ist ein solcher Pragmatismus für die gesamte Politik der Monarchie auch im 19. Jahrhundert kennzeichnend, mit dem Ergebnis, daß man sich weder im Positiven noch im Negativen zu radikalen Veränderungen entschließen konnte. Wollte man nämlich zum Beispiel bei den nationalen Auseinandersetzungen den Forderungen der einen Nationalität Recht geben, hätte dies - wie beim Ausgleich mit Ungarn von 1867 - bedeutet, die eine zuungunsten der anderen zu bevorzugen und damit das Gleichgewicht zwischen den vielfaltigen nationalen Positionen, das Gleichgewicht eines ganzen Systems zu stören oder zu zerstören. Der geringe Wille, Veränderungen vorzunehmen, wurde so zu einem festen Bestand der politischen Kultur breiter Bevölkerungsschichten, und die Einsicht in diese vom Pragmatismus diktierte politische Vernunft hatte nicht nur zur Folge, daß man sich um die gleiche Bewertung „fremder" Positionen - wie Adalbert Stifter im „Witiko" ausführte - bemühte, sondern daß man ganz einfach die Möglichkeit oder die Notwendigkeit von Veränderungen zu vergessen oder zu verdrängen suchte. Diese von einem Realitätssinn diktierte Postulat, das von der Einsicht in die Komplexität der politischen, sozialkulturellen und ethnisch-sprachlichen Pluralität der Monarchie herrührte, versuchte zwar den vorhandenen Gegebenheiten, den Einzelteilen und dem Staatsganzen, gerecht zu werden; seine Verteidigung erhielt freilich zunehmend eine konservierende, ja konservative Attitüde, war doch eine Grundmaxime dieser pragmatischen Haltung, das Vorhandene womöglich nicht zu verändern. Diese Haltung tritt uns zwar auch in liberal-progressiven, vor allem aber in solchen politischen Programmen entgegen, die, obwohl für Reformen eintretend, gegen jede radikale, „revolutionäre" Veränderung plädierten, wie zum Beispiel im Programm des konservativen ungarischen Politikers Graf Anton Szécsen. Es geht mir hier freilich weder darum, bestimmte Ansichten als konservativ im bloß negativen Sinne abzustempeln, noch darum, einzig auf der Seite von politisch „progressivem" Denken

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richtige Einsichten zu vermuten. Insofern, als dieser Pragmatismus, ähnlich wie der josephinische aufgeklärte Absolutismus, systemerhaltend agierte, ist ihm vom formalen Gesichtspunkt eine konservative Note nicht abzusprechen. Das bedeutete aber nicht, daß er sich auch inhaltlich allen innovativen, sozial-politischen Reformen verschlossen hätte. Es geht hier also ganz einfach darum, zu fragen, aufgrund welcher konkreten Erfahrungen diese politische Pragmatik entwickelt wurde, unabhängig davon, ob sie von Szécsen oder, zwar modifiziert, wenige Jahrzehnte später von Karl Renner vorgebracht wurden. Wie es scheint, lag dieser Pragmatik die Erfahrung eines komplizierten politischen und ethnisch-kulturellen Netzwerkes zugrunde, deren Zusammenhalt durch die Veränderung einzelner seiner Teile gefährdet zu sein schien. Szécsen, der gerade auf diese Aspekte aufmerksam machte, hatte sich schon in jungen Jahren durch weite Reisen ein unmittelbares Bild von der europäischen Politik verschafft, war historisch gebildet, 1848 ein expliziter Gegner von revolutionären Veränderungen und einer der Wortführer der Altkonservativen. Seine Ausführungen aus dem Jahre 1851 verdeutlichen die erwähnte pragmatische politische Haltung, die freilich in dieser Diktion bereits deutliche Züge eines typischen politischen Konservativismus aufweisen; von hier aus war der Weg zu jedweder Reformverweigerung nicht mehr allzu weit. Und in der Tat wurde das praktische politische Motto des „quieta non movere" der franzisko-josephinischen Epoche in weiten Bevölkerungskreisen auch so verstanden. „In keinem Staate", meinte Szécsen, „ist die blinde Nachahmung des Auslandes so gefahrlich wie in Oesterreich, weil keiner so wesentlich eigentümliche Verhältnisse darbietet - in keinem fällt die Herrschaft einseitiger Abstraktion, sei es auf dem politischen, sei es auf dem nationellen Felde, so vollkommen mit dem Begriff der Revolution, der Zertrümmerung des Ganzen und der Auflösung der einzelnen Länder zusammen. Eine weite, geographisch großentheils zusammengehörige Ländermasse, bewohnt von verschiedenen, meist nicht gesonderten,

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sondern schichtenweise übereinander gelagerten Völkerstämmen - eine große Verschiedenheit staatsrechtlicher Stellungen, bürgerlicher Gesetze, Gebräuche und Gewohnheiten; - ein wenn nicht organisch gegliederter doch organisch belebter Staatskörper, das war, das ist selbst heute noch in ihrer Wesenheit die österreichische Monarchie. Eines ihrer mächtigsten Bindemittel liegt in der Unmöglichkeit, eine Combination zu erfinden die für die Länder, welche sie bilden würden, nicht dieselben Nachtheile ohne dieselben Elemente des Fortbestandes, und ohne den mächten Kitt historischer Vereinigungen" bieten würde. Selbst wenn es erlaubt wäre, irgendeiner idealen Combination zuliebe, ein frevles Spiel mit dem Bestände von Staaten und dem Glücke von Völkern zu treiben, und die willkürlichen Länder- und Völkertheilungen des französischen Eroberers im Sinne der Revolution zu erneuern, selbst dann, würde die Einheit der nationeilen und politischen Grundlagen auch in der neuen Staatenbildung entweder gar nicht oder nur um den Preis langen Rampfes zu erreichen, und dafür nur mit schwächeren geographischen und historischen Grundlagen zu gewinnen sein. Viele Elemente des Kampfes, die jetzt in den einzelnen Ländern durch das Gleichgewicht der allgemeinen Verbindimg im Zaume gehalten werden, würden dann erst zur wahren Entwicklung kommen und aller Wahrscheinlichkeit nach würde die Bewegung mit Zerbröckelung aller einzelnen Länder zugunsten mächtiger Nachbarn endigen."32 Das melancholische Motto „Glücklich ist, wer vergißt, was nicht mehr zu ändern ist" der „Fledermaus" gewinnt unter Berücksichtigung solcher Aspekte eine zusätzliche qualitative Bedeutung. Die Einsicht in diesen Bedeutungszusammenhang, der sich daraus ergibt, daß man diesen Operetten-Ausspruch, um ihn zu verstehen, nicht einer Denotation unterziehen, sondern viel eher versuchen sollte, ihn in seinen sozio-kulturellen Bereich zu rekontextualisieren, vermag wohl über die Mentalität jener sozialen Schichten, an die er sich gerichtet hat und für die er daher repräsentativ ist, mehr auszusagen, als

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manche gelehrten zeitgenössischen Traktate. Mit Recht meint daher auch Hans Weigel in seinen Beobachtungen über die „Fledermaus": „Da ist die Synthese von Nestroy und Grillparzer vollzogen: Schatten sind des Lebens Güter, Schatten seiner Freuden Schar, Schatten Worte, Wünsche, Taten . . . und 's ist alles nit wahr! Das österreichische Weltbild kennt keinen authentischeren, kompetenteren Ausdruck als dieses Trink] i ed."53

1 Magyarország Tôrténete [Geschichte Ungarns] VII: 1880-1918, hg. von Péter Hanák und Ferenc Mucsi, Budapest 1978, 966 ff. (Miklós Szabó). - Vgl. auch den autobiographischen Bericht von Herczeg über die Entstehung des Librettos „Rébusz báró", das später, 1909, Jenö Huszka zu einer Operette vertonen sollte. Ferenc Herczeg, Emlékezései. A várhegy. A gótikus ház [Erinnerungen. Der Burgberg. Das gotische Haus], Budapest 1985, 295 („Rébusz báró") und passim. - Von Ferenc (Franz) Molnár stammt das Libretto der von Viktor Jacobi vertonten Operette „Märchen vom Wolf. Vgl. Julius Bistron, Emmerich Kálmán a. a. O. 90. 2 Hugo von Hoftnannsthal, Wiener Brief (= I. Brief), in: Oers., Gesammelte Werke, hg. von Bernd Schoeller und Rudolf Hirsch = Reden und Aufsätze III 1914-1924, Frankfurt/M. 1979, 273 (April 1922, für „The Dial"). 3 Hugo von Hoftnannsthal, Wiener Brief (= II. Brief), in: a. a. 0.195 (Herbst 1922, für „The Dial"). 4 „Hochzeit bei Laternenschein" (16. 10. 1858) dürfte aber nicht die erste Offenbach-Aufführung in Wien gewesen sein. Schon am 5.3.1857 hatte das Theater an der Wien „Aimons notre prochain" (Text von Méry) gegeben. Vgl. Anton Bauer, Opern und Operetten in Wien, Graz - Köln 1955, 3 (Nr. 80). 5 Székely György (Hg.), A Nemzeti Szinház [Das Nationaltheater], Budapest 1965, 181. - Im Verlaufe der nächsten drei Jahre (bis 1863) brachte das Nationaltheater insgesamt sieben OffenbachOperetten in ungarischer Sprache heraus (vgl. ebd. 153 IT.): Eljegyzés a lámpafénynél (= Le Mariage aux lanternes), 17.10721.11.1860; Férj az ajtó elött (= Un mari à la porte), 12.2. 1861; A varázshegedüs (= Le Violoneux), 14.3.1861; Az elizondói leány (= Pepito), 30. 9. 1861; Fortunio dala (= Le Chanson de Fortunio), 24. 1. 1862; Denis úr és neje (= Monsieur et Madame Denis), 31. 7.1862; Az átváltozott macska (= La chatte métamorphosée en femme), 12. 10. 1863. - Am 12. Juli 1861 gastierte Offenbach zum erstenmal selber am Nationaltheater mit „La

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chatte métamorphosé en femme" und „Mesdames de la Halle". 1872 folgte eine zweite Tournee (mit „Boule de la neige"). Vgl. Aladar Schöpflin (Hg.), Magyar szinmüvészeti lexikon [Ungarisches Theaterlexikon] III, Budapest o. J.[1956], 897. - Vgl. auch Sándor Galamb, A magyar operett elsö évtizedei [Die ersten Jahrzehnte der ungarischen Operette], in: Budapest! Szemle 204(1926) 359-390. Ferenc Joós, A vándorszinészettol az llami Szinházig. Recskemét szinészetének krónikája [Vom Wandertheater zum Staatstheater. Chronik des Theaters in Recskemét], Recskemét 1957,40. István Lakatos, A kolozsvári Magyar Zenés Szinpad (1792-1973). Adatok az Erdélyi magyar nyelvii szinház tôrténetéhez [Das Ungarische Musiktheater von Rlausenburg (1792-1973). Daten zum ungarischsprachigen Theater in Siebenbürgen], Bukarest 1977. Virgil Koltai, Györ szinészete [Das Theater in Raab] II: 1849-töl 1885-ig, Györ 1890, 171 ff. Die Aufführung von Offenbach-Operetten begann auch hier traditionsgemäß mit „Le Mariage aux lanternes" (1. 11.1862), „Le Voyage de M. Dunanan père" (1. 8. 1863), „Orpheus" (1. 8. 1863) usw. - Zu Miskolc, wo ab 1863 Offenbach aufgeführt wurde, vgl. Sándor Keresztesy, Miskolcz szinmüvészetének tôrténete [Geschichte des Theaters in Miskolc] 1753-tól 1904-ig, Miskolcz 1903, 90 ff. GyörgyMolnár, Világostól Világosig. Emlékeimbôl II: A budai népszinház második cziklusáig [Von Világos bis Világos. Aus meinen Erinnerungen Π: Bis zur zweiten Periode des Ofener Volkstheaters] 1849-1867, Arad 1881, 326. - Molnár, selbst Schauspieler und Schauspieldirektor, berichtet in seinen Memoiren ausführlich über die von ihm mitinitiierten Anfänge der Operette in Ungarn: „Die ungarischen Volksstücke (népszinmü) hatten sich im Nationaltheater bereits sehr abgenützt, Szigligeti selber hielt es daher für notwendig, diese auszusetzen, sie hatten keine Wirkung mehr, viel eher waren es die neuen Stücke mit Gesangseinlagen von Szigligeti, die faszinierten, obwohl sie nie ein volles Haus brachten. Der Geschmack des Publikums wurde gleichzeitig durch die Aufführungen der einaktigen Operetten, in welchen Rálmán Szerdahelyi und später Frau Pauli mit großem Furore auftraten, sowie durch das längere Gastspiel der Pariser Operettengesellschaft, auf die Rezeption der Operetten gelenkt." Ebd. 299. György Molnár, Világostól a. a. O. 390 f. Die Molnársche Truppe trat mit ihrem Offenbach-Repertoire im Herbst 1864 auch im Berliner Wallnerschen Theater auf. Erwin Rieger, Offenbach und seine Wiener Schule, Wien - Berlin 1920. Die erste deutschsprachige Aufführung im ungarischen Nationaltheater erfolgte am 14.5.1862. Vgl. György Székely, A Nemzeti Szinház a. a. 0.181. Ivan Zajc (Fiume 1831 - Zagreb 1914) komponierte neben 30

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Operetten 14 Opern, Messen und Instrumentalwerke. Er hatte in Mailand studiert und stand vor allem unter einem starken Einfluß der Musik Verdis. Rudolf Flotzinger, Ivan Zajc und das musikalische Wien um 1870, in: Zbornik, Zagreb 1982, 7-27. Vgl. Schöplin Aladar (Hg.), Magyar szinmüvészeti lexikon a. a. O. III, 176-176. - Géza Allaga (1841-1913) war Cellist, später (18901902) Cimballehrer an der Nationalen Musikschule; seine ersten beiden Operetten waren „A szerelmes kántor" [Der verliebte Kantor], 21. 4. 1862 (Ofener Volkstheater), „A zeneszerzö" [Der Komponist], 16. 9. 1862 (Ofener Volkstheater). - Jakob Jakobi (Berlin 1827-1882) war seit 1863 erster Kapellmeister am Ofener Volkstheater, seit 1871 Direktor der Klausenburger Musikhochschule, 1869-1881 Direktor des Klausenburger Nationaltheaters; seine erste dreiaktige Operette war „Cancan a tôrvényszék elött" [Cancan vor dem Richterstuhl], 17.4.1864 (Ofener Volkstheater). - Josef (József) Konti (Warschau 1852-1905) war Schüler von Dessoff in Wien, wirkte neben Suppé im Leopoldstädter Theater, war Kapellmeister in Salzburg und kehrte 1878 nach Ungarn zurück; seine früheste Operette war „Eleven ördög" [Der lebhafte Teufel], 1885. György Molnár, Világostól a. a. O. 416. Endre Ady, Brettli kultúra [Brettl-Kultur], in: Oers., Péntek esti levelek [Freitag-Abend-Briefe], Budapest 1975,16-17 (= Szabadság, 31. 5. 1900). Ebd. 68 (= Magyar kôzélet, 30. 4. 1905). György Molnár, Világostól a. a. O. 414 ff. Schöpflin Aladár (Hg.), Magyar szinmüvészeti lexikon a. a. O. III, 406. Vgl. das „Glücklich ist, wer v e r g i ß t . . . " mit den Aussagen von B. Gracian oder A. Schopenhauer. Baldasar Gracian, Handorakel lind Kunst der Weltklugheit. Deutsch von Arthur Schopenhauer, mit einer Einleitung von Karl Voßler, Stuttgart 1967, 110 f. (= Nr. 262). - Arthur Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, Stuttgart 1974, 146. Schopenauer plädiert in und für den gegenwärtigen Augenblick zu leben, sich nicht um Vergangenheit und Zukunft zu kümmern. Es ist dies eine Lebenseinstellung, die auch die „Fledermaus" als Grundtenor beherrscht. Hermann Bahr, Studien zur Kritik der Moderne, Frankfurt 1894, 107. Ferdinand von Saar, Der Burggraf, in: F. von Saars sämtliche Werke, hgb. von Jakob Minor, Bd. 11, Leipzig o. J., 65. Vgl. auch ebd. 71, 72. Seneca, Epistolae ad Lucilium 94,28: „Numquid rationem exiges, cum tibi aliquis hos dixerit versus? Iniuriarum remedium est oblivio. Audentis [Audentes] fortuna iuvat, Piger ipse sibi obstat." Vgl. Séneque, Lettres à Lucilius Tome IV., éd. François P r é c h a t Henri Noblot, Paris 1962, 70.

Anmerkungen

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24 Téli éjszakák. Válogatás Faludi Ferenc prózai müveiböl [Winterabende. Auswahl aus dem Prosawerk von Ferenc Faludi], Budapest 1978, 184. - Vgl. Moritz Csáky, Faludi und die geistigen Strömungen seiner Zeit, in: Burgenländische Heimatblätter 41(1979) 149-156. 25 Alphons Lhotsky, AEIOV. Die „Devise" Kaiser Friedrich III. und sein Notizbuch, in: Hans Wagner - Heinrich Koller (Hg.), Alfons Lhotsky, Aufsätze und Vorträge Bd. II: Das Haus Österreich, Wien 1971, 164-222, zit. 215. Vgl. weiters Karl-Friedrich Krieger, Die Habsburger im Mittelalter. Von Rudolf I. bis Friedrich III., Stuttgart - Berlin - Köln 1994, 170. 26 Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994, 24-28. 27 Vgl. Roger Bauer, La Réalité, Royaume de Dieu. Etudes sur l'originalité du théâtre viennois dans la première moitié du XIXe siècle, München 1965. -Ders., Die Welt als Reich Gottes. Grundlagen und Wandlungen einer österreichischen Lebensform, Wien 1974. - Maurice Ashley, Das Zeitalter des Barock. Europa zwischen 1598 und 1715, München 1978. - Pierre Chaunu, Europäische Kultur im Zeitalter des Barock, Frankfurt/M. 1989, v. a. 12-17, 525 ff. 28 Klaus Garber, Barock und Moderne im Werk Benjamins, in: Martin Liidke - Delf Schmidt, Verkehrte Welten. Barock, Moral und schlechte Sitten. Rowohlt LiteraturMagazin 29/1992, 28-46. 29 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Ders., Gesammelte Schriften Bd. l/l, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1990, 235. 30 Leslie Bodi, Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österreichischen Aufklärung 1781-1795, Frankfurt/M. 1977; Wien-Köln-Weimar 2 1995. - Ders., System und Bewegung: Funktion und Folgen des josephinischen Tauwetters, in: Wien und Europa zwischen den Revolutionen (1789-1848). 15. Wiener Europagespräch, Wien 1978, 37-53. - Ders., Ein Modell für Glasnost. Öffentlichkeit und Politik im Österreich Joseph II., in: Die Zeit, Hamburg 15. März 1991,45-46. 31 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Roman aus dem Nachlaß, hg. von Adolf Frisé, Reinbek b. Hamburg 1983, 1441. 32 Graf Anton Szécsen, Politische Fragen der Gegenwart, Wien 1851, S. 130-131, in: Josef Redlich, das österreichische Staats- und Reichsproblem. Geschichtliche Darstellung der inneren Politik der habsburgischen Monarchie von 1848 bis zum Untergang des Reichs. Bd. I: Der dynastische Reichsgedanke und die Entfaltung des Problems bis zur Verkündigung der Reichsverfassung von 1861,2. Teil: Exkurse und Anmerkungen, Leipzig 1920, S. 198-99. 33 Hans Weigl, Johann Strauß oder die Stunde der Operette, in: Ders., Flucht vor der Größe, Wien 1960, 267.

Kapitel 3:

Operette - ein Spiegel für Gesellschaft und Politik Der soziale Ursprung eines Genres In vielen Darstellungen der Musikgeschichte wird bis heute zwischen einer „goldenen" und einer „silbernen" Ära der Wiener Operette unterschieden, zwischen der „goldenen" Blütezeit der Operette um Johann Strauß und der „silbernen" um Franz Lehár, Oscar Straus und Leo Fall. Diese Einteilung stützt sich nicht nur auf musikalisch-ästhetische oder qualitative Unterschiede, sondern vor allem auch auf biographische Daten. Die drei bedeutenden Wiener Repräsentanten der Operettenproduktion des 19. Jahrhunderts waren kurz vor der Jahrhundertwende gestorben, Franz von Suppé bereits 1895, Johann Strauß Sohn im Juni 1899 und Carl Millöcker am 31. Dezember 1899. In der Öffentlichkeit wurde der Abschied von diesen allseits anerkannten und gefeierten Größen der Unterhaltungs- und Operettenmusik tatsächlich als eine Zäsur empfunden, denn es war nach deren Hinscheiden ohne Zweifel ein Vakuum entstanden, das auch dadurch sichtbar bzw. hörbar wurde, daß die jüngere Komponistengeneration weder an Bekanntheit noch an Beliebtheit an die ältere heranreichte. Zum anderen beruht die Unterscheidimg zwischen der „goldenen" und der „silbernen" Operette auch auf formalen und vermeintlichen qualitativen und ästhetischen Kriterien. War die Musik von Suppé, Strauß oder Millöcker noch weitgehend von einem klaren Kompositionsstil des 19. Jahrhunderts beherrscht, der trotz aller innovatorischen Elemente vor allem in der Melodik, sowohl in der musikalischen Harmonisierung als auch in der Instrumentation, jenen allgemein akzeptierten Regeln folgte, die man von einer Wiener Unterhaltungs- und Tanzmusik seit Jahrzehnten zu hören gewohnt war, wandten sich Komponisten seit den späten neunziger Jahren, sieht man von zahlreichen

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epigonalen Imitationen der erfolgreichen Vorgänger ab, bereits neuen Klangfarben und bisher imbekannten oder ungewohnten musikalischen Formelementen zu und versuchten diese auch in die Operette zu integrieren. Dies betraf vor allem das die Wiener Operette beherrschende bzw. charakterisierende Element, nämlich die Abfolge von Tänzen. Neue Tanzformen traten nun neben die gewohnten, und auch die bekannten Tänze wie Polka, Mazurka oder der Walzer wurden zum Teil rhythmisch modifiziert oder verfremdet. Dadurch vermochte auch ein weniger geschultes Ohr die Melodienführung einer Strauß-Operette von jener der Operette der nachfolgenden Ära zu unterscheiden. Trotzdem sollte man aber auch auf jenen formalen und qualitativen Unterschied, der Strauß, Suppé und Millökker einzeln unterscheidet, nicht vergessen. Dabei lassen sich wohl am ehesten bei Millöcker schon relativ früh, zumindest seit dem „Gasparone" (1884), musikalische Elemente ausmachen, die andeutungsweise die Formensprache des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts vorwegzunehmen scheinen. Die geringere Wertschätzimg der „neuen" Operette beruhte also nicht nur auf einem Generationenwechsel der Komponisten, sondern in der Veränderung von musikalischen Ausdrucksformen, die einen Wandel des musikalischen Geschmacks im Bereich der Unterhaltungsmusik anzudeuten schien. Dieser musikalische Geschmack orientierte sich aber nicht zuletzt an gesellschaftlichen Voraussetzungen und seine Veränderung hing vor allem auch von Veränderungen im sozial-kulturellen Bereich zusammen, aus welchem sich die Rezipienten und die Produzenten der musikalische Produkte rekrutierten. Der Erfolg der „Lustigen Witwe" (1905) von Franz Lehár, der ersten „modernen" Operetten, mit der man den Beginn der „silberne" Ära der Wiener Operette einsetzt, verdeutlicht diesen Geschmacks- und Stilwandel. Bedenkt man nun diese soziologischen Faktoren von künstlerischer Produktion und Rezeption, dann dürfte die alte Unterscheidung, die vornehmlich biographischen und

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formalen Kriterien folgte, nicht mehr ausreichen, um solchen offenkundigen Veränderungen gerecht zu werden. Vielmehr gilt es, danach zu fragen, für welche gesellschaftlichen Schichten Operetten produziert wurden und ob der gesellschaftliche Wandel, der sich zu Ende des 19. Jahrhunderts abzeichnete und der mit einer Veränderung des individuellen und kollektiven Lebensgefühls einherging, auch die Veränderung im Bereich der Operettenproduktion beeinflußt hatte. In der Tat kann festgestellt werden, daß während der „goldenen" Ära die Wiener beziehungsweise die Operette der Monarchie mehr dem Lebensgefühl des gehobenen, liberalen städtischen Bürgertums, der „Bourgeoisie" entsprach und daß sie daher auch als das Produkt dieses städtischen Bürgertums 1 apostrophiert werden kann. 1893 hatte der neunzehnjährige Hofmannsthal, der bereits die nachfolgende, junge Generation repräsentierte, diese Generation vor ihm, die Väter, als „die Zeitgenossen des jüngeren Offenbach" bezeichnet. 2 Analog dem Pariser Publikum der Zeit Offenbachs war seinerzeit auch dieses Bürgertum eine selbstbewußte, neue soziale Schicht gewesen. Sie war jedoch trotz ihrer inneren Differenziertheit in gewissem Sinne homogener als die ihr folgende, neuere städtische Mittelschicht, die sich in den letzten Jahrzehnten der Monarchie in den Urbanen Zentren zu etablieren begann, die nicht nur heterogener als die alte war, sondern deren schwächere ökonomische Basis und deren geringerer Bildungshorizont gewiß auch damit etwas zu tun hatte, daß sie sich aus Teilen jener mittleren Bevölkerungsschichten rekrutierte, die durch vermehrte Zuwanderungen und durch die Stadterweiterungen zustande gekommen waren. Während in Wien die Einbeziehung der „Vorstädte" zwar bereits nach 1848 eingesetzt hatte, aber nach verschiedenen Etappen (1867, 1890) erst 1904 ihren Abschluß fand, ist in Ungarn die Vereinigung von Ofen, Alt-Ofen und Pest zu „Budapest" im Jahre 1872 der Auftakt einer sozialen Veränderung, eines sozialen Wandels gewesen, der auch auf die Politik nicht ohne Rückwirkungen geblieben ist. Diese erweiterte, neue städtische Mit-

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telschicht, zwar auch „bürgerlich", unterschied sich in bezug auf ihre soziale Zusammensetzung und auch mentalitätsmäßig von der alten, bereits etablierten, liberalen städtischen Bourgeoisie, befanden sich doch unter ihr vornehmlich Vertreter des Kleingewerbes, Handwerker und Raufleute, die in der wirtschaftlichen Rezession und Stagnation der Jahre nach 1873 („Börsenkrach") in den ökonomisch Arrivierten der alten Bourgeoisie, unter denen sich auch zahlreiche assimilierte Juden befanden, ihre Hauptkonkurrenten erblickten. Diese neue Mittelschicht trug gewiß auch zum Niedergang der politischen Ideologie der Bourgeoisie, des politischen Liberalismus mit bei, denn die sozialen und politischen Zielvorstellungen dieser neuen Schichten deckten sich nicht mehr mit jenen eines bereits gesättigten Bürgertums. Sie fanden ihre politische Vertretung in den neuen „bürgerlichen" Massenparteien, die nicht nur zunehmend antiliberal, sondern auch antikapitalistisch bzw. antisemitisch agierten, wie zum Beispiel die „Christlich-Sozialen" oder die „Ungarische Volkspartei", Parteien also, deren Programme die politische Mentalität dieser neuen städtischen Mittelschicht widerspiegelten. Während nun die Adressaten der gehobenen Unterhaltungsmusik eines Johann Strauß, Suppé oder Millöcker, der vermeintlich „goldenen" Operettenära also, weitgehend etablierte Bürgerliche der liberalen Ära waren, wandte sich die Operette der Jahre ab 1900 zunehmend diesen neuen städtischen Mittelschichten zu. Dieser Wandel läßt sich zum Beispiel auch an den Texten, an direkten politischen Zitaten der „Lustigen Witwe" (1905) ablesen und verdeutlichen. Die Anspielung auf das allgemeine Wahlrecht - die Wahlrechtsdebatte wird mit einer Damenwahl verglichen -, das damals diskutiert wurde und von höchster politischer Aktualität war (die etablierte Bourgeoisie wünschte sich keine Ausweitung des Wahlrechts, da sie damit um die Einbußen ihrer Vorrechte fürchtete), die Ablehnung des in diesen Mittelschichten nicht beliebten Zweibundes (der Zweibund zwischen der Monarchie und dem Deutschen Reiche wird

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mit dem „Zweibund" der Ehe, die nichts tauge, verglichen) oder die Verspottung eines „Hurra-Patriotismus" (= Nationalismus) durch den Grafen Danilo spiegeln insgesamt eine politische Mentalität, die diesen neuen bürgerlichen Mittelschichten zueigen war. Der Anfang und das Ende der Operette hängt also engstens mit dem Aufstieg und dem Niedergang, mit dem Wandel jener Schichten zusammen, welche das soziale Bild in den Städten der Monarchie bestimmten. Die akzelerierte gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts hatte auch ein sich differenzierendes und sich stetig neu etablierendes städtisches Bürgertum zur Folge, und dieses war sowohl das Spiegelbild als auch der Adressat des neuen Theatergenres, der Operette. Die Operette der Monarchie oder Wiens fügt sich damit auch in das Bild einer gesamteuropäischen sozialen Entwicklung ein. Die beschleunigte soziale Differenzierung, eine Folge des Prozesses der Modernisierung, war ein gesamteuropäisches Phänomen und verursachte bei Individuen und sozialen Gruppen eine zunehmende Unsicherheit, ein Krisenbewußtsein, Identitätskrisen, die in der Kunst und in der Literatur der Moderne um 1900 gleichsam objektiviert wurden. Man versuchte diesen Identitätskrisen in unterschiedlicher Weise zu begegnen und ihrer Herr zu werden: Auf der ästhetischen Ebene mit den Annäherungsversuchen an „moderne" Stilrichtungen, im intellektuellen Bereich mit vertieften Reflexionen über diese neue Befindlichkeit, im Politischen mit neuen sozialen Lösungsvorschlägen und im alltäglichen Leben, auf einer breiteren Reflexionsebene, mit der Flucht in die Welt der Illusion, des Vergnügens. Denn das, was in der Realität des sozialen Lebens bitterer Ernst war, das konnte auf der Bühne ins Leichte, Heitere, Komische, ja Satirische verfremdet und aus der Perspektive des verdunkelten, anonymen Zuschauerraumes betrachtet, verlacht, verspottet und kritisiert werden. Der Erfolg der Offenbach-Operetten war gerade darin gelegen, daß sie auf die sozialen Transformationen, auf die politischen Instabilitäten und auf die Verunsicherung der „modernen" urba-

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nen Bevölkerung auf eine unterhaltende, zugleich aber auch kritische Weise zu reagieren wußten.

Beseitigung gesellschaftlicher Schranken Die Wiener Operette repräsentierte darüber hinaus jedoch auch jene typische Form einer „österreichischen" ironischen Selbstreflexion, die seit der josephinischen Zeit in der literarischen Parodie, in der Satire, in der Travestie zum Ausdruck kam.3 Die parodistische Thematisierung von sozialen Unterschieden ist ein grundlegender Topos der Wiener Operette, doch diese Unterschiede schienen sich hier immer wieder in einer märchenhaften Harmonie aufzulösen und die bitter erkämpfte soziale Permissivität, das heißt die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs, war hier mit der Anspielung einer Verkleidungsszene, im Rahmen eines Maskenballs, wo bezeichnenderweise die Bürgerlichen zumeist als die Repräsentanten einer höheren sozialen Schicht aufzutreten pflegten während Adelige sich als Bürgerliche verkleideten, ohne viel Mühe erreichbar, obwohl man den Adel, das ferne Traumziel vieler bürgerlicher Aufsteiger, im Theater, in der Operette immer wieder zur Zielscheibe des Spottes machte. Diese Aufsteigermentalität des Bürgertums, sein Versuch, durch den Eintritt in die frühere Führungsschichte des Adels auch einer breiteren Öffentlichkeit seinen sozialen und wirtschaftlichen Führungsanspruch zu demonstrieren, läßt sich durch die überaus zahlreichen erkauften Nobilitierungen zu Ende des 19. Jahrhunderts belegen.4 Im Adel erblickte man jedoch nicht nur einen höheren sozialen Status, er galt für viele Repräsentanten eines modernen Lebensgefühls auch als die Realisierung von Individualität, von Autonomie und Authentizität. Autonomie und Authentizität waren aber die allgemeine Forderung für die Kunst der Moderae, und so ist auch kaum verwunderlich, daß diese Kirnst als eine „aristokratische" Kunst bezeichnet werden konnte. In seiner Be-

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sprechung der ersten Wiener Secessions-Ausstellung (1898) läßt Rudolf Lothar nicht nur dieses Motiv durchklingen, sondern verschränkt es zugleich mit den sozialpolitischen Zielvorstellungen des Bürgertums: „Sie ist, wie jede wahre Kunst, persönlich, individuell. Sie ist aristokratisch im Gedanken - in seinem Empfindungskreise - und sie ist demokratisch in ihrer Wirkung. Denn sie wendet sich an Alle, die da mühselig sind und beladen von der Last des Tages. Und sie will diese alle zu Aristokraten machen! Die Aristokratisierung der Massen, das ist die Mission der Kunst."5 Die neugeadelten Bürgerlichen wurden freilich nicht gleich zu „Aristokraten", sondern gehörten der sogenannten „zweiten Gesellschaft" an, die sich bereits seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert herausgebildet hatte und nun, seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zu einem festen Bestand des sozialen Gefüges in der Monarchie wurde: „Die Wiener Geselligkeit", meinte Ferdinand von Bauernfeld, „welche sich, wie die einer jeden großen Stadt, in Kotterien bewegt, war lange Zeit harmlos und gemütlich geblieben. Der gebildete Mittelstand hing einigermaßen mit den höheren Finanzkreisen zusammen, denen sich hinwiederum ein gewisser Teil des Adels zugesellte, der sich nicht ungern als die „zweite Gesellschaft" bezeichnen läßt. Die eigentliche Aristokratie (die ,crème') existierte in unnahbarer, olympischer Höhe".6 Die meisten Operetten stellen jedoch den Adel nicht nur als das Ideal des Bürgertums, sondern zugleich mit dem ihnen innewohnenden kritischen Sarkasmus als eine soziale Schicht vor, die nicht mehr zeitgemäß und daher im modernen sozialen Gefüge als überholt gelten mußte. Dieses durchwegs ambivalente Adelsbild mag freilich auch der Ausdruck einer indirekten Selbstreflexion und heilsamen Sozialtherapie (Florimond Ronger Hervé) gewesen sein: Konnte doch der bürgerliche Theaterbesucher, einen dicken Siegelring am Finger, der ihm, einem Bürgerlichen noch nicht zustand, hier im verdunkelten Zuschauerraum über das lachen, was ihm außerhalb des Theaters, im alltäglichen Leben, bitterer Ernst

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war, wonach er sich sehnte und wonach er strebte: durch die Nobilitierung in die soziale Elite aufgenommen zu werden. Freilich mußte ihm zugleich bewußt sein, daß dieser soziale Status im Grunde genommen ein bereits überholter war. Er verlachte also hier, im Theater, zum Beispiel nicht nur einen imgarischen „Operettenbaron", eine in der Tat anachronistische Figur, sondern er konnte damit zugleich sich selbst und seine Aufsteigermentalität verlachen, sein „Strebertum" in eine Klasse, von der er sich eingestehen mußte, daß sie den sozialen Anforderungen der modernen Zeit eigentlich immer weniger entsprach. So gesehen waren also die Operetten immer wieder Ausdruck und Reflex jener sozialen Realität, aus welcher sie sich herleiteten und an deren Repräsentanten sie sich, als ihre Rezipienten, richteten. Anläßlich der Uraufführung des „Rosenkavalier" hat Hugo von Hofmannsthal in ähnlicher Weise gerade auf diese Übereinstimmung zwischen Kunstwerk und Gesellschaft und damit auf die Aktualität seines Sujets aufmerksam gemacht: „Die Marschallin ist nicht für sich da, und nicht der Ochs. Sie stehen gegeneinander und gehören doch zueinander, der Knabe Oktavian ist dazwischen und verbindet sie. Sophie steht gegen die Marschallin, das Mädchen gegen die Frau, und wieder tritt Oktavian dazwischen und trennt sie und hält sie zusammen. Sophie ist recht innerlich bürgerlich, wie ihr Vater, und so steht diese Gruppe gegen die Vornehmen, die Großen, die sich vieles erlauben dürfen. Der Ochs, sei er wie er sei, ist immerhin noch eine Art von Edelmann; der Faninal und er bilden das Komplement zueinander, einer braucht den a n d e r n . . . Sie gehören alle zueinander, und was das Beste ist, liegt zwischen ihnen: es ist augenblicklich und ewig, und hier ist Raum für Musik." Der „Rosenkavalier" sei also, trotz seiner Verfremdimg in ein vergangenes 18. Jahrhundert, ein Stück, das die Gegenwart widerspiegelt. „Es könnte scheinen, als wäre hier mit Fleiß und Mühe das Bild einer vergangenen Zeit gemalt, doch ist dies nur Täuschung und hält nicht länger dran als auf den ersten flüchtigen Blick." 7

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Ähnliches ließe sich auch hinsichtlich mancher Operette sagen: Mögen auch ihre Libretti schlechte Literatur, ihr musikalischer Ausdruck, gemessen an der zeitgenössischen Sprache der ernsten Musik, mittelmäßig sein, sie bleiben als ganzes gesehen trotzdem ein Produkt und Abbild jenes sozialen Kontextes, dem sie ihre Entstehimg und Daseinsberechtigimg verdanken. Etwas überspitzt ausgedrückt könnte man sogar behaupten: Eine redliche Auseinandersetzimg mit der Operette vermag der Zeit, in welcher sie entstanden ist, wohl zuweilen mehr abzugewinnen, als zum Beispiel die wissenschaftliche Analyse eines traditionellen historischen Quellenbestandes. Das fiktive Telephongespräch zwischen Hermann Bahr und der Schriftstellerin und Feuilletonistin Bertha Zuckerkandl klingt zwar banal, macht aber in einer bezwingenden Weise auf diesen Zusammenhang aufmerksam. Als sich Bahr bei ihr beklagte, daß weder die Oper, noch das Burgtheater oder die Kunstausstellungen in Wien Ausländer beeindrucken könnten, erwiderte Zuckerkandl: „Warten Sie. Einen Markstein - nein, zwei Marksteine kann ich Ihnen zeigen. Die Wissenschaft, insbesondere die Naturwissenschaften, die Medizin und, es ist komisch, gleichzeitig davon zu sprechen - die Wiener Operette . . . Ich führe sie [meine Pariser Freunde] heute abend ins Theater an der Wien. Dort ereignet sich ein österreichisches Wunder. Es gibt Johann Strauß, und es gibt Alexander Girardi, der - in seiner Art - Österreich beinahe mystisch verkörpert." 8

Gesellschafts- und Politik-Kritik Freilich war die Wiener Operette beziehungsweise Girardi, einer ihrer bekanntesten Interpreten, keineswegs nur eine „mystische Verkörperung" Österreichs. Die Operette der Monarchie hatte in ihrer Zeit vielmehr durchaus auch eine sozialkritische und politische Funktion, konfrontierte ihr Publikum mit der Realität sozialer und politischer Zu- und Mißstände, hielt also „Österreich", der Monar-

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chie, zwar in einer unterhaltend-heiteren Weise, die auch den Lustspielen Nestroys zueigen ist, einen Spiegel vor. Selbst ein Kritiker wie Endre Ady mußte dies anläßlich der Aufführung der ungarischen Operette „Bob herceg" (Uraufführung 1902) von Jenö Huszka zugeben: „Erschlagen Sie die Sache nicht dadurch, daß Sie meinen, hier spräche eine Operette zu uns, eine süße, naive, verrückte. In Wirklichkeit ist die Operette eines der ernstesten Bühnengenres, das allerschönste und freieste, mit welchem wir Königen ohne Gefahr eine Ohrfeige geben können. Die Operette ist gehaltvoll, einfallsreich, sie geht von Neuerern aus und vermag in dieser verdorbenen Welt mehr einzureißen und besser auf das zukünftige Gute vorzubereiten, - als fünf parlamentarische Obstruktionen . . ."9 Im Jahre 1911 führte das Sujet der Lehárschen Operette „Eva" die Zuschauer sogar in ein Arbeiter- und Fabriksmüieu. Mag sein, daß dieser Exkurs in eine Welt, die dem Bürgertum fern lag, eine Ausnahme in der Operettenproduktion darstellt. Dennoch evozierte die Thematik vor den Augen der bourgeoisen Zuschauer eine Realität, von der auch die Zeitungen täglich zu berichten wußten. Zudem wurde hier ein Randbereich angesprochen, der durchaus aktuell und bekannt war: Ein bürgerlicher Fabriksbesitzer verführt eine junge Arbeiterin, darauf revoltieren die Arbeiter. „Es gab zahllose Fabrikanten und vor allem Vorarbeiter, die ihre Machtstellung im Betrieb dazu mißbrauchten, sich junge Arbeiterinnen gefügig zu machen. Militante Arbeiterführer und namentlich die Anarchosyndikalisten äußerten wiederholt ihre Empörung über diese Neuauflage des ,ius primae noctis'. Angebüch untergrub diese Schändung junger Mädchen vom Land die Moral der Werktätigen - eine Einschätzung, die nicht unberechtigt war, wie wir wissen." 10 Nicht daß die Operette soziale Probleme hätte lösen wollen; sie wollte, gewiß im gewohnten Genre der heiteren Unterhaltung, dem neuen Bürgertum (z. B. Fabriksbesitzer) sein Verhalten vorrechnen. Es lag daher Lehár ganz gewiß fern, mit seiner Operette in die Debatte um die Lösung der sozialen

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Frage einzugreifen, und insofern hat die Erwiderung des Theaterdirektors Wilhelm Karezag auch recht: „Immer und immer wieder lese ich, daß Franz Lehár in seiner Operette ,Eva' sozialistische Probleme lösen wollte. Ja, um Gottes Willen, wo kommt in diesem musikalischen Werk nur ein einziges Wort von sozialistischem Problem vor? Weil Arbeiter revoltieren - ist das Sozialismus? . . . Nur ein oberflächlicher, gedankenloser Beurteiler kann, wenn er von einer Empörung der Arbeiter hört, behaupten, daß das gleichzeitig eine sozialistische Demonstration ist."11 Somit war die Operette also keineswegs ausschließlich „die populäre Form der sentimentalen Idealisierung der Vergangenheit"12, sondern hatte die Tendenz, die sozialpolitische und gesellschaftlich-moralische Realität, wie im Traum, zumindest an einem Abend zu durchbrechen. Die zuweilen negative Charakterisierung des Adels, zum Beispiel in Lehárs „Lustiger Witwe" (1905) oder im „Grafen von Luxemburg" (1909) und in Oscar Straus' „Walzertraum" (1907), die Verunglimpfung der Bourgeoisie bereits in der „Fledermaus" (1874), sollte wohl nicht nur als eine durch das Theater nach außen getragene Kritik verstanden werden; sie war wohl viel eher auch eine „Selbstpersiflage" 13 des konkreten gesellschaftlichen Status des Publikums, der bürgerlichen Zuschauer der Operetten. Einerseits mochte die Verspottung des Adels ein Trost für alle jene sein, die nicht Fürsten, Grafen oder Barone waren - Bürger, Bauern, Arme oder Outcasts wie die Zigeuner hatten zuweilen ein viel besseres Image als Adelige („Zigeunerbaron", 1885) -, andererseits konnte sich gerade so eine mittelständische Aufsteigerschicht, deren Ideal im Sinne des „sinkenden Kulturguts" der Eintritt in die sozial-politischen Rechte und in den Lebensstil der früheren Führungsschicht, nämlich des Adels war, über sich selber, das heißt über ihre sozialen und ökonomischen Attitüden lustig machen. Die kritisch-heitere Andeutung von Möglichkeiten der Überwindung von Klassengegensätzen bildet einen weiteren sozialen Aspekt, der sich nicht nur in der Pariser,

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sondern auch in der Wiener Operette vorfindet, und zwar in Form von Ball- oder Verkleidungsszenen (ζ. B. in „Fledermaus", „Opernball") oder in dem märchenhaften Happy-End einer von den realen sozialen Verhaltensnormen verpönten Verbindung zwischen Vertretern unterschiedlicher gesellschaftlicher Herkunft („Zigeunerbaron"), zwischen zahlreichen Hofmannsthalschen Sophies und Quinquins gleichsam. Freilich entspricht diese indirekte Korrektur der sozialen Realität durch das Theater weitgehend dem Schema der Projektion einer idealen Gesellschaft in eine utopisch-illusionäre, zuweilen rückwärtsgewandte heile Welt. Sie wird dadurch jedermann leicht verständlich. Darüber hinaus ist sie jedoch auch der indirekte Reflex einer allmählichen Korrektur, die sich im realen sozialen Leben anzudeuten beginnt, wo Standesund Klassenunterschiede immer weniger Bedeutimg haben. Auch Politikkritik14 wird in den Operetten verhandelt, sie tritt aber zumeist harmlos, witzig und verschleiert auf. Dennoch erfaßten wohl die meisten Zuschauer, daß der Schauplatz der „Lustigen Witwe", die „Pontevedrinische" Gesandtschaft in Paris, auf den Balkanstaat Montenegro verweisen sollte, in welchem es verworrene politische Zustände gab und daß damit indirekt der Wiener Hof gemeint sein mußte. Ein in zahlreichen Operetten der Jahrhundertwende beliebtes Angriffsziel war neben der staatlichen Obrigkeit und den irrationalen Irrwegen ihrer Bürokratie vor allem die Polizei. Neben den erotischen Abenteuern, die zu amüsanten Verwechslungen und Mißverständnissen führen, beherrscht als roter Faden den Hintergrund der Handlung der „Fledermaus" (1874) die über den wohl neugeadelten Gabriel von Eisenstein verhängte mehrtägige Haftstrafe: er hatte einem Amtsdiener Hiebe mit der Reitpeitsche versetzt und ihn außerdem auch einen Stockfisch genannt, eine Missetat, der kein ordentliches Gerichtsverfahren, sondern ein übliches Schnellverfahren folgte. Im „bourgeoisen" Selbstverständnis galt die Verfehlung Eisensteins freilich als reines Kavaliersdelikt. Eisenstein konnte sich daher der Sympa-

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thie der bürgerlichen Theaterbesucher sicher sein. Während die Operettenproduzenten und ihre Zuschauer sich über die Verwicklungen, die sich aus solchen und ähnlichen Polizei- und „Willkürakten" ergaben, im Theater noch zu amüsieren vermochten, waren ähnliche Amtshandlungen, die das Privatleben einzelner Staatsbürger betrafen, im Alltagsleben der Bewohner der Monarchie bittere Realität und keine Seltenheit. Vermutlich war bei den Zuschauern eine der bekanntesten Affären der letzten Zeit noch in lebhafter Erinnerung. Wenige Jahre vor der Uraufführung der „Fledermaus" mußte nämlich der bekannte Schriftsteller und Feuilletonist Ferdinand Kürnberger eine seit dem Jahre 1860 fällige zehntägige Arreststrafe absitzen, die aufgrund einer offiziell zwar geduldeten, aber unerlaubten Ausreise nach München über ihn verhängt worden war. Kürnberger stellte sich, ähnlich wie Eisenstein in der Operette, schließlich freiwillig, und so wurde er von der Polizei in des Wortes eigentlichem Sinne, wie er später zu berichten wußte, wieder Eisenstein in der Operette vergleichbar, nicht als Arrestant angesehen, sondern im Polizeigefangnis leidlich gut behandelt: „Als mich Kompert gestern besuchte und nach einem ,Arrestanten Dr. Kürnberger' fragte, antwortete man ihm mit großem Tugendstolze:,Bitte, dieser Herr ist nicht unser Arrestant; er ist freiwillig gekommen' . . .".is

Staatliche Zensur Freilich waren seit der Dezemberverfassung von 1867 auch in Österreich Grundrechte in Kraft getreten, die die Sicherheit des einzelnen Staatsbürgers gesetzlich garantierten. Trotzdem gab es für die staatliche Amtsgewalt auch weiterhin Möglichkeiten der Willkür, in die Privatsphäre der Bürger einzugreifen, sobald man der Meinung war, daß das Ansehen des Staates, der staatlichen Obrigkeit oder der öffentlichen Sittlichkeit in Frage gestellt würden. So bestanden trotz des Grundrechtes der Presse-

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freiheit bis zum Ende der Monarchie Zensurreglements, vor denen auch manche Operettenlibretti nicht verschont geblieben waren. Aus der Strauß-Operette „Indigo" verordnete die niederösterreichische Zensurbehörde 1871 die restlose Streichung der Anrede „Majestät" und aus dem „Zigeunerbaron" (1885) mußten all j ene Stellen weggelassen werden, in denen die Zensurbehörde eine Verunglimpfung der politischen Herrschaft und ihrer Amtsträger vermutete. Zum Beispiel mußte der ursprüngliche Ausdruck „geheime kaiserliche Sittenkommission" der zensurierten Fassung „geheime Sittenkommission" weichen, und die Bezeichnimg „k. k. Bezirkshauptmann", die ursprünglich im Zusammenhang mit der „k. k. Polizei-Direktion in Wien" genannt wurde, mußte weggelassen werden.16 Wenn der Wiener Operette bis heute der Vorwurf gemacht wird, ihr fehlte jene offene, sarkastische Sozial- und Politikkritik, die ihrem Pariser Pendant angeblich eigen wäre, dann mag dieser Mangel gewiß auch in der von der Obrigkeit vorgeschriebenen Glättung mancher ihrer ursprünglich zu direkten, jedoch stets theatralisch-poetisch verfremdeten Aussagen gelegen sein. Andererseits machen die Streichungen bzw. Umarbeitungen zum Beispiel mancher beanstandeter Stellen aus der „Fledermaus" (1874) deutlich, daß auch die umgeschriebenen Passagen von ihrer ursprünglichen Tendenz nicht viel eingebüßt hatten: Dem Publikum mag es wohl einerlei gewesen sein, ob hier die ursprüngliche Bezeichnung einer „Frau auf dem Throne" in „Königin" umgeändert werden mußte oder ob die Direktheit der Anspielung auf die Untreue Rosalindes in eine indirekte, dafür aber um so erotisch-prickelndere Fassung umgeschrieben wurde: „Spiel ich 'ne Dame von Paris, ach, ach, die Gattin eines Herrn Marquis, ach, ach, da kommt ein junger Graf ins Haus, ach, ach, der geht auf meine Tugend aus, ach, ach! Zwei Akte lang geb ich nicht nach, doch, ach, im dritten werd ich schwach .. ,"17

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Kritik am „Vaterland" und Nationalismus Die nicht ohne Grund immer wiederkehrende Kritik an der staatlichen Obrigkeit (Bürokratie) nahm also ganz konkret jene der Monarchie aufs Korn und sowohl die Librettisten als auch die Zuschauer mögen dabei auch an die bürokratische Zensur gedacht und diese gerade damit indirekt verspottet haben. Wie sollte man unter solchen autoritären Umständen ein treuer Untertan sein und die geforderte Liebe zum Vaterland unter Beweis zu stellen verpflichtet werden? Die indirekte oder direkte Verspottung des Vaterlandes hatte also eine wirkliche Ursache, ein „fundamentum in re" und zielte auf Mißstände ab, die sich im realen Leben zutrugen. „O Vaterland du machst bei Tag mir schon genügend Müh' und Plag": Mit dieser Arie aus der „Lustigen Witwe" sang Danilo seinen Zuschauern aus der Seele, sie konnten sich mit ihm und seiner Kritik durchaus identifizieren. 18 Wie hatte Hermann Bahr kurz zuvor, 1893, gemeint? „Vaterland. Die Liebe zum Vaterland ist ein natürliches Gefühl, das als solches weder Lob noch Tadel verdient. Wenn sie gerühmt und empfohlen wird, so kommt es daher, weil sonst das Vaterland für alle die ewige Quelle der Cultur war, wo die ermattende sich kräftigen und erneuern konnte. Jeder bestand seelisch aus Dingen, die er dem Vaterlande schuldete, und konnte sich nicht deutlicher, nicht wirksamer, nicht reiner empfinden, als wenn er sich recht in das Vaterland versenkte. Seine Idee war in der Idee des Vaterlandes. Heute stimmt das nicht. Die Seele hat heute ein anderes Vaterland als der Körper. Wenn man einen auf die Idee seines Vaterlandes reduciert, verkleinert man ihn heute. In mir ist gewiß mehr als Linz. Wenn man heute das nemliche erreichen will, was sonst durch kräftige Hingabe an das Vaterland erreicht würde, muß man das Vaterland seiner Seele nehmen, jenen European Club."19 Damit soll nur die allgemeine Sensibilität, mit der man der politisch verordneten Vaterlandsliebe begegnete, angedeutet werden. In der Monarchie, in der jeder ein anderes „Vaterland"

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hatte, das zunehmend national-ideologisch begründet wurde, war dieser Oberbegriff seit der Schrift von Joseph von Sonnenfels „Über die Liebe zum Vaterland" (1771) zu einem allgemeinen, die Vielfalt der Monarchie zusammenhaltenden Symbol geworden; es wurde vor allem seit der Proklamierung des „Oesterreichischen Raiserthums" (1804) von der politischen Propaganda der zentralistischen, absolutistischen Zentralregierung eingesetzt und instrumentalisiert. Vaterlandsliebe bedeutete also die Akzeptanz von Gesamtstaatsinteressen, die den separatistischen nationalen Einzelinteressen zunehmend widersprach. Und im Namen dieses Symbols, der Vaterlandsliebe, wurde auch zu Gehorsam gegenüber der übergeordneten zentralen politischen Herrschaft aufgerufen, was im konkreten bedeutete, daß vor allem die Vertreter der nach dem Ausgleich von 1867 noch verbliebenen gemeinsamen Dienststellen, des Äußern, der Verteidigung und der Finanz, die Bürokratie und das Militär also, immer wieder zur Vaterlandsliebe angehalten wurden. Zudem sollte der Zusammengehörigkeit des national keineswegs vereinheitlichten Teils der Monarchie, nämlich „Österreichs", mit seinen autonomen zisleithanischen Traditionen, vor allem durch ein gemeinsames Zusammengehörigkeitsgefühl, dem die Vaterlandsliebe zugrundegelegt wurde, Ausdruck verliehen werden. Dies war nicht ohne Folgen geblieben. Selbst Frantisek Palacky war noch im Jahre 1866 von der Relevanz dieser gemeinsamen Idee überzeugt, und der Schriftsteller und Direktor des Hofburgtheaters, Alfred von Berger, weiß zu berichten, daß in der höheren Beamtenschaft diese Vaterlandsliebe zu einer Selbstverständlichkeit geworden war: „ . . . es war ein durch philosophische und historische Geistesarbeit geschaffenes und genährtes Gefühl, das der Idee galt, deren Verkörperung Österreich für den, der sie hegte, war."20 Zu dieser Vaterlandsliebe wurde auch in zahlreichen „Bürgerkunden" und in den vielen halboffiziellen, volkstümlichen Werken aufgerufen. Je brüchiger freilich die Kohärenz der multiethnischen Monarchie in den letzten Dezennien ihres Bestehens wurde, um so öfter

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wurde auch jede Art des Staats- und Militärdienstes mit dem Motto der Vaterlandsliebe begründet. Vaterlandsliebe wurde also dadurch, daß sie immer öfter als Motivation zu Subordination und zu Verpflichtungen dem Staat gegenüber als eine moralische Instanz ins Spiel gebracht wurde, zunehmend zu einem leeren und in der Zeit der Moderne um 1900 daher zu einem durchaus umstrittenen Begriff.

Verborgene Facetten des „Zigeunerbaron" Die Sujets der Operetten apostrophieren also jene sozialen und politischen Tagesthemen, von denen der Alltag des neuen, nachliberalen Bürgertums erfüllt war. Wie steht es nun im konkreten mit der Operette der liberalen Hochbourgeoisie? Auch dort begegnen wir, wie bereits angedeutet, direkten Entlehnungen und Zitaten aus dem aktuellen politischen und sozialen Kontext, und die Operetten eines Suppé, eines Millöcker oder eines Johann Strauß reagieren in der ihnen eigenen sublimen und kritischen Weise auf die Lebenseinstellung ihrer Rezipienten. So ist die Handlung des „Zigeunerbaron" (1885) nicht mehr und nicht weniger als eine amüsante, in das 18. Jahrhundert verfremdete Aufarbeitung des österreichisch-ungarischen Verhältnisses nach dem Ausgleich von 1867. Der Ausgleich wurde von vielen Liberalen als Übervorteilung Österreichs durch die Ungarn angesehen, zumal durch die sogenannte Quotenregelung die ungarische Reichshälfte für den gemeinsamen Haushalt in absoluten Zahlen ausgedrückt, geringere finanzielle Lasten zu tragen hatte als die österreichische. Daraus ergaben sich permanente Spannungen und politische Querelen, die die Erneuerung der Ausgleichsverhandlungen, die alle zehn Jahre stattfanden, belasteten und ein negatives Bild in der öffentlichen Meinung über Ungarn entstehen ließen. Zugleich beleuchtet die Handlung mit ihren direkten und verdeckten Bezügen auf die Welt der Zigeuner die Bemühungen der Politik des Liberalismus in bezug

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auf die Minderheiten des Landes, eine Politik, die zumindest in zahlreichen theoretischen Konzeptionen als in der Tat tolerant und konziliant bezeichnet werden muß. Freilich entsprach dann die politische Praxis sehr oft nicht dieser theoretischen Vorlage. Im „Zigeunerbaron" werden all diese Probleme auf verschiedenen Ebenen indirekt reflektiert und darüber hinaus auch die politischen Zielvorstellungen des Hochliberalismus angesprochen. Ich will versuchen, dies mit wenigen Hinweisen zu verdeutlichen. Erstens entwirft „Der Zigeunerbaron", im Gegensatz zu der politischen Realität, ein durchaus positives, sympathisches Bild von Ungarn und seine multiethnischen Bewohner, wozu die in Wien bereits beliebte, feurige Musik, Csárdás und Verbunkos, das ihre dazu beitrug. War aber die allgemeine Vorstellung, die in Wien und in Zisleithanien (Österreich) über Ungarn vorherrschte, tatsächlich und durchwegs so negativ bestimmt, wie es die von der Zäsur des Jahres 1867 bestimmte Sprache des politischen Alltags vorgab? Allein die vielen verwandtschaftlichen Beziehungen zu Ungarn - in Wien lebten um 1900 ungefähr 60.000 Personen aus dem Königreich Ungarn - lassen daran Zweifel aufkommen. Zudem ist allgemein bekannt, daß man Ungarn durchaus mit positiven Stereotypen identifizierte, die nicht nur der Vorbild- und Beispielwirkung der Eliten des Landes (Adel) verdankten. Man konnte vielmehr auch auf eine sozial-kulturelle und politische Tradition verweisen, deren Erinnerung in der öffentlichen Meinung noch immer präsent war. Die „Hungaromanie" des Vormärz, die zur Zeit der beginnenden wirtschaftlichen Modernisierung, die große soziale Veränderungen und Verunsicherungen nach sich zog, das agrarische Ungarn als eine naturbelassene, heile Welt zeichnete, als ein imbekanntes, utopisches und daher „ideales" Land, wurde auch durch verschiedene historische Mythen bzw. politische Erinnerungen unterstützt, etwa durch die allgemein überlieferte Annahme, daß es die Ungarn gewesen wären, die die Monarchie zu Beginn der Regierimg Maria Theresias durch ihre aufopferungs-

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volle Unterstützung („vitam et sanguinem", 1741) gerettet haben sollen, daß aber auch die Ungarn, das heißt die Stände, immer wieder mit Erfolg gegen autokrate und absolutistische Herrschaftsformen relativ erfolgreich protestiert und 1848 sogar eine offene Revolution gewagt hatten. Auch dieses Ungarn-Bild war in der Öffentlichkeit präsent, und die Vorstellung von den „tapferen", „stolzen" Ungarn spiegelte sich unter anderem bis in die musikalischen und literarischen Unterhaltungsgenres. Zahlreiche Themen, Motive und Tänze von Johann Strauß belegen dies ebenso deutlich wie die Reminiszenz an Ungarn in verschiedenen literarischen Sujets und Bühnenstükken. Nicht zuletzt sei in diesem Zusammenhang an die als ungarische Gräfin verkleidete Rosalinde in der „Fledermaus" (1874) erinnert, die in dem gesungenen Csárdás (im 12. Bild des zweiten Aufzugs) ausspricht und gleichsam gebündelt wiedergibt, was diesen überlieferten, mythisch verfremdeten stereotypen Vorstellungen des Publikums durchaus entsprochen haben mag: „Klänge der Heimat, ihr weckt mir das Sehnen, rufet die Tränen ins Auge m i r ! . . . O Heimat, so wunderbar, wie strahlt dort die Sonne so klar, wie grün deine Wälder, wie lachend die Felder, o Land, wo so glücklich ich war."21 Zweitens wird im Sujet des „Zigeunerbaron" die achtundvierziger Revolution, der sich ja auch Wien angeschlossen hatte, aus ihrer traumatischen Verdrängung geholt und gleichsam literarisch-musikalisch aufgearbeitet. Bekanntlich wurden in Ungarn erst im Vorfeld der Ausgleichsverhandlungen manche führenden Revolutionäre von 1848, unter denen sich auch bekannte Aristokraten befanden, wie der spätere ungarische Ministerpräsident und gemeinsame Außenminister Graf Julius Andrássy, amnestiert. Erst jetzt konnten sie endgültig aus der Emigration in ihre Heimat zurückkehren und ihre Güter, derer sie nach 1848 für verlustig erklärt worden waren, legal wieder in Besitz nehmen. Das gleiche Schicksal widerfährt dem „Zigeunerbaron", dem „Emigranten" Sándor Barinkay, zwar nicht 1848, sondern ein Jahrhundert vorher, mitten im 18. Jahrhundert. Dieser ist jedoch

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zunächst kein Adeliger, sondern typischer Weise ein Bürgerlicher, was den gedanklichen Brückenschlag zur bürgerlichen Revolution von 1848 erleichtert haben mochte. Barinkay, der des Landes verwiesen worden war, weil seine Familie im letzten Krieg auf Seiten der Türken (das heißt der „Aufständischen") gegen die Kaiserlichen gekämpft hatte, kann nun aufgrund einer kaiserlichen Amnestie wieder auf sein inzwischen verwahrlostes Landgut zurückkehren. Drittens wird in der Operette das Verhältnis Sándor Barinkay s zu Saffi, einer vermeintlichen Zigeunertochter, zum Anlaß mehrfacher sozial-politischer Verquerungen. Zunächst erregt das Verhältnis der beiden, das nicht durch eine offizielle Eheschließung sanktionierte wurde, das Mißtrauen der staatlichen Obrigkeit. Die „Sittenkommission" wird auf den Plan gerufen. In der Vorstellung der Zuschauer des ausgehenden 19. Jahrhunderts mochte dieses außereheliche Verhältnis Barinkays und Saffis gleichsam eine Antizipation der freien Liebe der Moderne darstellen, es reflektierte freilich zugleich die geltenden staatskirchenrechtlichen Barrieren den „freien", nur zivilrechtlich geregelten Verbindungen gegenüber, für deren Anerkennimg der Liberalismus stets gekämpft hatte, indem er unermüdlich für eine strikte Trennung von Staat und Kirche eintrat, die dann in der Monarchie erst 1894, allerdings nur auf Ungarn beschränkt, Gesetzeskraft erlangen sollte. Die „Sittenkommission", das heißt die Ordnungsmacht, die in der Operette als Hüterin der öffentlichen, staatlich-kirchlichen Moral und der geltenden Gesetze auftritt, um das illegale, außereheliche Verhältnis, das unter der Assistenz des „Dompfaff"', eines Waldvogels, vollzogen wurde, zu ahnden und die Sache auf ihre Weise zu regeln, ist sich daher des Spotts und der Verachtung der Akteure und des Publikums gewiß. Als dann im Verlaufe der Handlung die wahre Identität Saffis, die in Wirklichkeit eine türkische Fürstentochter ist, gelüftet wird, stellt sich eine neue, unerwartete Schwierigkeit ein: Der Bürgerliche Barinkay kann nun Saffi wegen des Standesunterschieds, der ihn von der „Aristokratin" trennt,

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nicht mehr legal ehelichen, und erst seine nachträgliche Nobilitierung, die ihm aufgrund militärischer Verdienste zuerkannt wird, erlaubt ihm die Legalisierung seines Verhältnisses. Damit spielt das Libretto auf die realen Usancen des sozialen Aufstiegs zahlreicher Bürgerlicher an. In der Tat war unter den bürgerlichen Aufsteigern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Nobilitierung, die erkauft oder aufgrund von Verdiensten erworben werden konnte, eine der gängigsten und beliebtesten Methoden, soziale Schranken zu durchbrechen und sich der früheren Führungsschicht, dem Adel, anzugleichen. Viertens beleuchtet jene Szene des „Zigeunerbaron", in der mit patriotischen Slogans für das Militär und für den Krieg geworben wird, wofür man sich jedoch erst gegenseitig Mut zusprechen mußte, weil den Krieg im Grunde genommen jeder verabscheute, die kritische Einstellung des liberalen Bürgertums dem Militär, dem Krieg und jenen übertriebenen patriotischen Slogans gegenüber, die dazu dienten, den Militärdienst schmackhaft zu machen. Nicht nur die blutigen Ereignisse und militärischen Niederlagen des Jahres 1848 tauchen hier in der szenischen Verfremdung ins 18. Jahrhundert in der Erinnerung auf, auch die verlorenen Kriege von 1859 und 1866 ließen an der Berechtigimg und vor allem an der Sinnhaftigkeit des militärischen Einsatzes ganz allgemein Zweifel aufkommen. Arthur Schnitzlers „Lieutenant Gusti" sollte kurze Zeit später (1901) der literarische Höhepunkt einer solchen Kritik werden, die im Grunde genommen die Kritik der liberalen Vätergeneration am Krieg nur fortführte und radikalisierte, während Bertha von Suttners Boman „Die Waffen nieder" (1889) die antimilitaristische Stimmung zu Ende des 19. Jahrhunderts schon beinahe zu einem politischen Programm erhob; sie gründete dann 1891 bekanntlich die österreichische „Gesellschaft der Friedensfreunde" und beteiligte sich in der Folge an fast allen Weltfriedenskonferenzen. Schließlich, fünftens, weist der Handlungsort der Operette, das Temeser Banat in Südostungarn, auf die multiethnische Komponente hin, die in der österreichisch-

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ungarischen Monarchie vorherrschte. Vielen Vertretern des österreichischen Bildungsbürgertunis war entweder aus der Schule oder aufgrund persönlicher, verwandtschaftlicher Beziehungen zum Banat durchaus bekannt, daß gerade das Temeser Komitat als ein Musterbeispiel für Multiethnizität und Multikulturalität angesehen werden konnte. Die Multiethnizität dieser kleinen ungarischen Subregion, das Zusammenleben von Magyaren, Serben, Rumänen, Bulgaren, Deutschen („Schwaben"), Juden und Zigeimern (Roma) konnte als ein ethnischkultureller Mikrokosmos des Königreichs Ungarn und der Gesamtregion der Monarchie gelten, deren innere Politik gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend von Konflikten beherrscht war, deren Ursachen man oft einzig auf diese multiethnische Situation zurückführen wollte. Dem gegenüber ist es um so bezeichnender, daß im entsprechenden Band (1891) des Kronprinzenwerkes „Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild", für die Maurus Jókai die Redaktion der Ungarn-Bände übernommen hatte, ungarische Autoren „jenem bunten Kaleidoskop, als welches das südungarische Völkergemisch erscheint", durchwegs positive Aspekte abzugewinnen wußten, während der Band „Das Temeser Komitat" der ab 1896 von Samuel Borovszky redigierten Serie „Die Komitate und Städte Ungarns" dann bereits auf eine magyarisch-nationalistische Linie einschwenkte und fast nur mehr von Magyaren und Deutschen Notiz nahm. 22

Ein realistisches Bild der Zigeuner? Vom Gesichtspunkt einer solchen Multiethnizität ist nicht nur die im „Zigeunerbaron" angedeutete Aussöhnung zwischen Österreichern und Ungarn von Interesse, sondern vor allem das Bild, das hier von den Zigeimern, Outcasts unter den Völkern der Monarchie, gezeichnet wird. Diese Volksgruppe war ja bereits ab dem 15. Jahrhundert ins Land eingewandert, begleitete die kaiserli-

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chen Heere bei ihren Kriegszügen als Huf- und Waffenschmiede und betätigte sich in Friedenszeiten als beliebte Interpreten und Propagatoren der Musik jener Gastvölker, bei denen sie sich niedergelassen hatte. Martin Schwartners Bericht über die Zigeuner in seiner „Statistik des Königreichs Ungern" aus dem Jahre 1798 faßte all diese positiven Aspekte zusammen, ließ aber gleichzeitig auch die Voreingenommenheiten den Zigeunern gegenüber anklingen: „Die Geige, der Schmiedehammer, der Pferdehandel, die Chiromanthie und das Stehlen sind in Ungern ihr Haupt-Nahrungszweig. . .. Dem Unger verfertigte der Z.[igeuner] nach Erfindung des Schießpulvers die ersten Puffer und Donnerbüchsen... Die ungrischen National-Tänze und Gesänge spielt kein Virtuose mit der Geschicklichkeit, mit welcher sie der Zigeuner ohne Hülfe der Kunst doch richtig spielt. Auf dem Lande sind sie bey jeder Hochzeit, und bei jedem Saufgelage die gewöhnlichen Spielleute, auch der gesittete Adel findet an ihrer musikalischen Fertigkeit bey gesellschaftlichen Mahlzeiten, und wo die Umstände National-Tänze und National-Lieder erheischen, Wohlgefallen." 23 Erst im 19. Jahrhundert entstanden dann jene allgemein verbreiteten, einseitigen Klischeevorstellungen, welche die Zigeuner entweder als naturbelassenes, von der Zivilisation unberührtes Volk darzustellen wußten, sie vor allem mit der ihnen eigenen Art des Musizierens identifizierten, die jedoch, wie bereits angedeutet, von den folkloristischen Elementen ihrer Gastländer so nachhaltig geprägt war, daß Franz Liszt in seinem Werk „Des Bohémiens et de leur musique en Hongrie" (1859) ihre Musik irrtümlich mit der original ungarischen Volksmusik gleichzusetzen versuchte. Auch die Dichtung nahm sich solcher Klischees an und trug ganz wesentlich zur Propagierung dieser Stereotypen bei, wobei, wie bei Nikolaus Lenau oder dem ungarischen Dichter Mihály Vörösmarty, die ungebundene Ursprünglichkeit des Zigeuners mit den progressiven Freiheitsidealen des Vormärz in Einklang gebracht wurden. Zigeuner waren außerhalb von Ungarn, zum Beispiel auch in Wien, vor allem als Musikan-

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ten bekannt und beliebt und traten seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert unter anderem bei Volksbelustigungen im Prater auf. Adalbert Stifter erinnerte daran in „Wien und die Wiener" (1844) mit einer eindrucksvollen Beschreibung: „ . . . und nun kommen auch noch die Zigeuner, seltsame, starre Gesellen, ein Traum aus einer urfrühen Zeit der Weltgeschichte übrig gebliebene Gestalten, unberührt von der Gegenwart; darum wirst du gleich hören, wie sie, und wären sie schon ein Menschenleben lang im Prater gesessen, dennoch unberührt von dem Geist und der Weise unserer Töne ihr uraltes Klingen anheben, feurig melancholisch, wie ihr Auge, und phantastisch verworren hinschlürfend, wie der Faden ihrer Geschichte durch die andern Schicksale der Welt." 24 Zunehmend wurden Zigeuner jedoch auch mit negativen Stereotypen belegt und mit dem Anwachsen nationalideologischer Voreingenommenheiten aus der Gesellschaft ausgegrenzt, marginalisiert. Es ist daher auffallend, daß in der ungarischen Originalfassung des „Zigeunerbaron", die von dem damals beliebten ungarischen Romancier Maurus Jókai stammte und die dem von Ignaz Schnitzer verfaßten Operettenlibretto zugrunde lag, die Zigeuner in der Tat nicht als Fremde auftreten, als „starre Gesellen", wie sie noch Stifter gesehen hatte, oder als eine unbekannte, folkloristisch verbrämte, geheimnisvolle Gruppe. Die Zigeuner sind die einzigen, die den heimkehrenden Emigranten Barinkay mit offenen Armen aufnehmen und ihn beschützen. Die „Nation der Zigeuner" wird darüber hinaus durch die Beziehung zwischen Barinkay und der „Zigeunerin" Saffi - im Jókaischen Original heißt Sándor Barinkay Jónás Botsinkai, und Saffi stammt nicht, wie in der Operette, aus türkischem Adel, sondern ist die Nachfahrin eines vornehmen Tatarengeschlechts - mit den übrigen Bewohnern der Gegend auf die gleiche soziale Stufe gestellt, jedoch keineswegs in einer bloß naiven, bloß harmonisierenden Weise, sondern durchaus realistisch und kritisch. Auch im Libretto zur Operette ist diese Jókaische Sicht nicht gänzlich verlorengegangen. Das Verhältnis

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Barinkay - Saffi wird hier mit dem Lied der Saffi im zehnten Bild des ersten Aktes eingeleitet, und dieses Lied beleuchtet die realistische Rehrseite einer ausschließlich freundlichen, naiv-harmonischen Vereinnahmung der Zigeuner: Es ist als eine Anklage „der Kinder der Nacht", als ein Aufschrei der Minorität der Zigeuner einer voreingenommenen Majorität gegenüber ausgelegt, die den Zigeuner als Dieb und Feind „flieht und fürchtet". In Wahrheit sei der Zigeuner jedoch „treu und wahr . . . dem Freund er immerdar. Hält der Zigeuner dich nur wert, dann gehorcht er dir blind. Mann - vertrau' ihm dein Pferd! Weib - vertrau' ihm dein Kind . . . Reich' ihm die Hand, vertraue dem Zigeuner!" 25 Wie bereits erwähnt geht die Ignaz Schnitzersche Bearbeitung des Librettos des „Zigeunerbaron" auf eine Novelle des ungarischen Schriftstellers Maurus Jókai zurück. Jókai, der seinerzeit selbst als Parteigänger Ludwig Kossuths an der Revolution von 1848 teilgenommen hatte - der Inhalt des Stückes ist eine versteckte Anspielung auf diese Situation -, setzte sich später als überzeugter liberaler Politiker und als langjähriger Abgeordneter des ungarischen Parlaments nachdrücklich für die Rechte der Zigeuner ein und wollte sie als eine unter vielen Volksgruppen des Königreichs Ungarn, das heißt völlig gleichrangig, behandelt wissen. Um dies zu erreichen, machte er die Intellektuellen und die politisch Verantwortlichen seines Landes mit der Lebensweise und mit den ursprünglichen Inhalten der Gebräuche der Zigeuner bekannt. 26 Jókai verband zudem eine enge Freundschaft mit Erzherzog Joseph, dem Sohn des 1847 verstorbenen Palatin Joseph, eines Bruder von Kaiser Franz. Erzherzog Joseph hatte sich zeit seines Lebens auch um die soziale Integration der Zigeuner gekümmert und die Sprache der Roma und Sinti in Ungarn wissenschaftlich erforscht. 1888 veröffentlichte er eine wissenschaftlich fundierte Grammatik der Zigeunersprache. 27 In der Originalfassung der Jókaischen Novelle „Szaffi" - 1885 zum „Zigeunerbaron" („Cigánybáró") umgearbeitet - setzt sich die „Nation der Zigeuner" aus anständigen,

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fleißigen Untertanen des Kaisers zusammen, die als Waffenschmiede die kaiserlichen Heere begleiten und ihnen zum Siege verhelfen; es wird ihnen in Friedenszeiten daher gestattet, im Lande zu bleiben und sich im Bergwerks- und Hüttenwesen und als Dorfschmiede zu betätigen. Jónás Botsinkai (= Sándor Barinkay) hat zu den Zigeunern eine besondere Zuneigung, er achtet sie wie seinesgleichen und siedelt sie in einem großen Dorfe an, das „Cigandia" heißt. Tatsächlich hatte bereits Karl VI. und nach ihm Maria Theresia im Jahre 1761 den Zigeunern gestattet, sich im Banat anzusiedeln. Man versuchte sie also schon im 18. Jahrhundert sozial zu integrieren und nannte die seßhaften Zigeuner mit einer durchaus positiv gemeinten Bezeichnung als „Neu-Ungarn". „Die Zigeuner", meinte Jókai, der diese historischen Antezedenzien kannte, in seinem ,Cigánybáró', „sind kein kriegerisches Volk. Wenn sie den Krieg lieben würden, hätten sie sich nicht aus ihrer Heimat in die weite Welt begeben. Dem Zigeuner kann man befehlen - er stellt sich jedem Spaß, jeder Grobheit. Die Arbeit, die niemand verrichtet, wartet auf den Zigeuner. Er versteht sich anzugleichen . . . " Zugleich wußte Jókai freilich auch um die noch immer gängigen, negativen Stereotypen, welche die Zigeuner bei der übrigen Bevölkerung verächtlich erscheinen ließen, und erhob bittere Anklage gegen solche Voreingenommenheiten: ,„Zigeuner!' Niemand liebt es, wenn man ihn so nennt. Niemand will diesem Volk angehören. Den armen Zigeuner verachtet selbst der Bauer. Die verächtlichste Arbeit, die niemand erledigen will, wird dem Zigeuner zugeschoben. Man läßt ihn nicht einmal in die Nähe einer anderen Arbeit, mit dem Hinweis: ,Der Zigeuner liebt die Feldarbeit nicht'. Man vertreibt ihn aus einem Dorf in das andere, denn man glaubt, daß er stiehlt, betrügt und mit Hexen verkehrt. Wenn sie ihn schlagen, darf er nicht jammern, denn wenn er jammert, lacht man ihn aus." 28 Jókai versuchte nun dieses negative Klischeebild in seiner Novelle umzukehren, und dieser Tendenz folgte dann auch das ursprüngliche Operettenlibretto. In diesem sind es, wie bereits angedeutet,

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bezeichnenderweise gerade die Zigeuner, die dem heimkehrenden Emigranten Barinkay als Landsleute ehrlich zur Seite stehen und ihn vor dem Neid und vor der Mißgunst jener schützen, die ihm gesellschaftlich näher stehen müßten. Das Bild, das der „Zigeunerbaron" von den Zigeimern, den zahlreichen Roma und Sinti des Temeser Banats, Ungarns und der Monarchie zeichnet, kann also als ein direkter, ja bewußter Versuch angesehen werden, vor allem jener ethnischen Gruppe Achtung und Anerkennung zu verschaffen, die oft als verachteter Außenseiter an den äußersten Rand der Gesellschaft gedrängt wurde; dieses Bild von den Zigeunern beinhaltet aber mittelbar auch die indirekte Aufforderung, ethnische Minoritäten insgesamt, das heißt „fremde" Nationalitäten zu tolerieren und zu achten und in das multiethnische Gefüge der Gesamtmonarchie zu integrieren. Die Analyse des „Zigeunerbaron" macht also zumindest eines deutlich: Die Wiener Operette der Zeit des Hochliberalismus sollte ebenso wie die Operette der Moderne um 1900 als ein Spiegelbild der gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Mentalität jener sozialen Schicht verstanden werden, an die sie sich als deren Rezipienten richtete und deren intellektuellem Rontext ihre Sujets, die Inhalte ihrer Handlungen, zu verdanken sind. Ihre Rekontextualisierung in einen konkreten zeithistorischen und gesellschaftlichen Zusammenhang erlaubt uns daher, auch die gesellschaftliche Funktion dieses Unterhaltungsgenres besser zu erfassen. Ihre Politikund Gesellschaftskritik bewegt sich freilich auf jener Ebene des heiteren, amüsanten Unterhaltungstheaters, auf der stets die witzige, zum Lachen herausfordernde, zwingende Pointe die allgemeine Unzufriedenheit mit den realen Gegebenheiten zu domestizieren wußte. Insofern war sie nicht ein getreues Abbild von realen Zuständen, die sie kritisierte, sondern deren leichte Verfremdung in eine Welt des Amüsements, zuweilen in eine Welt der Illusion. Damit kam sie aber den Erwartungen des Zuschauers, der sich im Theater vor allem unterhalten woll-

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te, entgegen. Sie öffnete dem Theaterbesucher jene fiktiven Freiräume, in die er zumindest für einen Abend, für die Dauer des Stücks vor der Realität des sozial-politischen Alltags entfliehen konnte. Diese Fiktion war um so überzeugender, je mehr sich Handlung und Musik zwischen einer verfremdenden Ironie und einer in der realen Lebenswelt erfahrbaren Seriosität bewegten, was seit „Indigo" (1871) in vielen Strauß-Operetten der Fall war, besonders im „Zigeunerbaron". 29 Mit der für sie typischen Art der Thematisierung von Fiktional-Ironischem und von realen Vorgaben des bürgerlichen Lebens entfernte sich freilich die Wiener Operette bereits von einem ihrer Vorbilder, der Pariser Operette Offenbachs, die vor allem in der Ironie ihre Stärke bewies. Indem sich dann in der Folge diese ursprüngliche ironische Tendenz veränderte und sie nicht mehr allein in der pervertierenden Persiflierung der Wirklichkeit ihr Auslangen fand, sondern zu direkten, realistischen Zitaten aus dem Leben griff, nahm die Wiener Operette des ausgehenden 19. Jahrhunderts bereits jene Richtimg voraus, die einen Teil der Operetten aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg charakterisieren sollte: Es waren diese dann zwar auch heitere Stücke, jedoch mit einem ernsten, tragischen Ausgang. Auch die thematische und musikalische Sentimentalität, in die manche Operetten der Jahrhundertwende abgeglitten waren, mag bereits auf die Verschränkung dieser zwei Ebenen zurückzuführen sein. Noch nicht so in der „Lustigen Witwe" von Franz Lehár, die als eine der ersten Operetten der Moderne bezeichnet werden kann.

Verschlüsselte Sprache der „Lustigen Witwe" In der Tat konnte das in der „Lustigen Witwe" (1905) vorgestellte politische und gesellschaftliche Milieu einem Wiener Publikum der Jahrhundertwende nicht fremd sein. Da ist zunächst der Schauplatz der Handlung: die Botschaft des Staates Pontevedro in Paris. „Pontevedro", eine - vielleicht durch die staatliche Zensur verordnete -

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Verballhornung des Balkanstaates Montenegro, galt als Synonym für ein rückständiges Land, in dem „atavistische", veraltete quasi-absolutistische, das heißt vor-moderne Zustände herrschten und das von der Presse immer wieder als „Symbol des Lächerlichen" vorgestellt wurde.30 Zeitungen berichteten fast täglich vom Schauplatz der ehemaligen osmanischen Gebiete. Hier vermochte sich das kleine Fürstentum Montenegro in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erst nach jahrelangen Kämpfen von der türkischen Oberherrschaft zu befreien (18521854), seine mit Hilfe Österreichs errungene Unabhängigkeit wurde dann von den Großmächten im Berliner Vertrag 1878 international abgesichert. In der Folge gestalteten sich Montenegros Beziehungen zur Pforte zunehmend freundschaftlich, so daß sein Fürst bereits 1883 dem Sultan in Konstantinopel einen Freundschaftsbesuch abstatten konnte, wo er mit allen Ehren empfangen wurde. Einem gebildeten Bürgerlichen Wiens waren all diese Ereignisse durchaus bekannt und geläufig. Die Montenegrinische Politik war für Österreich auch im Hinblick auf die Sicherung Dalmatiens von Interesse, wie die Balkanpolitik insgesamt spätestens seit der Okkupation von Bosnien-Herzegowina (1878) durch Österreich-Ungarn in das engere Blickfeld der allgemeinen Aufmerksamkeit gerückt war. Die Politik am Balkan, dem „Wetterwinkel Europas", wie sich der Gemeinsame Minister des Äußeren, Graf Agenor Goluchowski, in den neunziger Jahren auszudrücken pflegte31, absorbierte seit dem späten 19. Jahrhundert in der Tat einen Großteil der außenpolitischen Energien der Doppelmonarchie mit dem Ziele, die immer offenkundigeren Tendenzen eines die österreichische Vormachtstellung am Balkan gefährdenden südslawischen Großreichs unter serbischer Führung zu verhindern und statt dessen Kleinstaaten wie Montenegro zu unterstützen und durch weitere Gebietsansprüche zu stärken. Die Monarchie war in Montenegro nicht nur durch einen eigenen diplomatischen Residenten, den k. k. Konsul in Cetinje, vertreten, sie hatte für das Land auch bestimmte Garantiefunktionen übernommen. Die Hafen-

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und Gesundheitspolizei längs der Küste oblag den Organen Österreich-Ungarns, Montenegro übernahm die in Dalmatien geltende Seegesetzgebung, und die Monarchie gewährte dem montenegrinischen Handel ihren besonderen Schutz. Der politische und gesellschaftliche Hintergrund der „Lustigen Witwe" war also keineswegs ein Phantasiegebilde, er entsprach tatsächlich Montenegro und seinen realen politisch-sozialen Zuständen. Hanna Glawari lüftet denn auch zu Beginn des zweiten Aktes das Geheimnis um Pontevedro mit einem eindeutigen Hinweis auf den Balkanstaat: „Ich bitte hier jetzt zu verweilen, wo alsogleich nach heimatlichem Brauch, das Fest des Fürsten so begangen wird, als ob man in Cetinje wär' daheim!" Noch bevor sie das berühmte Vilja-Lied vorträgt, verweist Hanna auf die Herkunft des Vilja-Motivs und damit abermals auf Montenegro: „Nun laßt uns aber wie daheim jetzt singen unsern Ringelreim von einer Fee, die wie bekannt, daheim die Vilja wird genannt." Dann folgt das bekannte Lied vom „Waldmägdelein": „Es lebt' eine Vilja, ein Waldmägdelein, ein Jäger erschaut sie im Felsengestein . . . Sehnsuchtsvoll fing er still zu seufzen an: Vilja, o Vilja du Waldmägdelein, faß mich und laß mich dein Trautliebster sein . . . Das Waldmägdelein streckte die Hand nach ihm aus und zog ihn hinein in ihr felsiges Haus . . ."32 Wie verhält sich nun diese Vilja der „Lustigen Witwe" zu ihrem ursprünglichen Vorbild? Tatsächlich geht das Vilja-Motiv auf eine alte dalmatinisch-montenegrinische Volkssage zurück. Man kann vermuten, daß so mancher aus dem Publikum um diese Volkssage Bescheid wußte, berichtete doch unter anderem der Dalmatien-Band des weit verbreiteten Werks „Die Österreichisch-ungarischen Monarchie in Wort und Bild" recht ausführlich darüber: „Die Vilen sind Mädchen mit Pferdehufen," heißt es dort, „sie halten sich in Höhlen auf und versammeln sich in Wäldern, am Ursprung eines Flusses oder an Quellen." Sie seien den Menschen wohlgesinnt, „zumal dann, wenn sich dieselben durch Tapferkeit oder eine andere Tugend auszeichnen, z. B. den Dichtern und

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Künstlern; den Frauen aber sind sie namentlich dann geneigt, wenn dieselben Schönheit besitzen, auf schönen Gesang, schöne Stickereien u.s.w. sich verstehen." 33 Abgesehen von den soeben erwähnten direkten Hinweisen auf topographische und ethnographische Zuordnungen des Sujets waren aber auch die Namen der handelnden Personen der „Lustigen Witwe" nicht rein erfunden, und sie mochten beim bürgerlichen Publikum manche Erinnerung wachgerufen haben. Aus freundlichen oder kritischen bis bissigen Zeitungsberichten, die in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre vor allem von der „Neuen Freien Presse" lanciert wurden, sowie aus verschiedenen Monographien, zum Beispiel aus dem 1893 in Wien erschienen Werk von Kurt Hassert „Reise durch Montenegro" war man mit dem Land und mit den Leuten dieses Staates und seinen zivilen und militärischen Einrichtungen einigermaßen vertraut. 34 Auch im Kreis von „Jung Wien", dem ja auch der Librettist Victor Léon angehörte, war man durch literarische Erzählungen eines ihrer Mitglieder, nämlich Robert Michel (18761957), der 1897 durch Leopold von Andrian in den „Griensteidl-Kreis" eingeführt worden war, über Montenegro in einem durchaus positiven Sinne informiert. 1898 veröffentlichte Michel in der von Hermann Bahr redigierten Zeitschrift „Die Zeit" eine seiner ersten Balkan-Erzählungen. Entscheidend für diese literarischen Berichte war der zweijährige Aufenthalt Robert Michels im Okkupationsgebiet Bosnien-Herzegowina, das heißt Michel verfaßte seine poetischen Berichte aus der unmittelbaren Anschauung der Sitten und Bräuche der Bewohner dieser Länder. Trotz seiner expansiven, zuweilen aggressiven Politik war Österreich-Ungarn ein nicht imbeliebter Protektor der Balkanländer. Nach dem Bericht einer Zeitzeugin „zeigte sich nie beim Volk [von Montenegro] eine Spur von Gehässigkeit gegen Österreich". Dieser freundlichen Einstellving der Montenegriner standen freilich Superioritätsgefühle und zahlreiche Voreingenommenheiten der Österreicher gegenüber. „Wer in Österreich bei der Matura durchfällt, kann in Montenegro noch Unterrichts-

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minister werden" 55 und ähnliche, beleidigende Äußerungen einer vermeintlichen kulturellen Überlegenheit, mit der man von Wien aus auf Montenegro herabzuschauen pflegte, vermochten jedoch an den freundschaftlichen Beziehungen der beiden Staaten, von denen auch die offizielle Politik beherrscht war, nicht zu rütteln. Die Öffentlichkeit war auch über die zeitgeschichtlichen Zusammenhänge der Balkanländer und insbesondere Montenegros, die ja die Interessen der Monarchie tangierten, relativ gut informiert. Es war daher nicht unbekannt geblieben, daß Fürst Danilo I. PetrowitschNjegosch 1852 von Österreich und Rußland die Anerkennimg seines Titels erwirkt und Montenegro zu einem absoluten Fürstentum nach dem Recht der männlichen Erstgeburt der Dynastie Petrowitsch-Njegosch erhoben hatte. Zwar regierte Fürst Danilo, auf den seine hübsche, gebildete und nach Frankreich orientierte Frau Darinka, die Tochter eines reichen Raufmanns namens Cuvikic, großen Einfluß hatte, mit Unterstützung der „Großen" Skuptschina, einer Art von Reichsrat, welcher de jure jeder großjährige Montenegriner angehörte; in der Regel stützte er sich aber bloß auf die „Kleine" Skuptschina, an welcher nur sämtliche Vornehmen, die „Glawari", erscheinen durften. Danilo, Glawari oder Njegosch (Njegusch), ein Beiname der Dynastie nach dem gleichnamigen Stammsitz, und Zeta - ein Fluß in Montenegro und gleichzeitig die Bezeichnung für eine kleine militärische Einheit - waren also keine erfundenen Namen. Im Sujet der Operette fanden sie sich gewiß entfremdet oder verschlüsselt wieder, sie waren jedoch mit Assoziationen verbunden und konnten von auch nur halbwegs gebildeten Zuschauern ohne weiteres dekodiert werden. So hatte zum Beispiel erst wenige Jahre vor der Uraufführimg der „Lustigen Witwe", nämlich 1899, der montenegrinische Kronprinz Danilo, der Sohn des regierenden Fürsten Nikola Petrowitsch-Njegosch, eine Mecklenburgische Prinzessin geheiratet.

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Verfremdete Politik-Kritik Darüber hinaus war all diesen Namen und dem Land noch ein verdeckter Symbolwert eigen, der mit der Nennung Pontevedros, das heißt Montenegros, jedesmal mitschwang. Es mochte nämlich nicht so weit hergeholt sein, wenn man Parallelen zwischen Montenegro und der Donaumonarchie herstellen zu können glaubte, wenn man in „Pontevedro" die politischen und sozialen Zustände der Monarchie wiederzuerkennen meinte. Ich glaube, es ist wichtig, diese doppelte Argumentationsebene des persiflierenden Spottes der „Lustigen Witwe" eigens hervorzuheben und nicht bloß naiv ihrer vordergründigen, klischeehaften Vision eines fremden, exotischen, komischen Balkanlandes zu erliegen, dieses Bild mit den Negativberichten der Tagespresse auf eine Stufe zu stellen und das Exotische und Fremde auch in ihrer musikalischen Artikulation zu orten, wo doch gerade einem Bewohner größerer urbaner Zentren der Monarchie diese musikalischen Klangbilder aus der fast täglichen Begegnung mit der allgemein verbreiteten Unterhaltungsoder Militärmusik durchaus positiv vertraut waren. Die Operette ganz allgemein, insbesondere aber die Wiener Operette bediente sich immer wieder dieser doppelbödigen Ironie und hier in erster Linie ihrer travestierenden Verfremdung. Wer dies nicht wahrnehmen will und zu akzeptieren nicht bereit ist, müßte beispielsweise in manchen Offenbach-Operetten bloß eine Verhöhnung der Antike und nicht die der eigenen Gegenwart, nämlich des Deuxième Empire, erblicken. Daher scheint mir die Einschätzung, die Operetten der Jahrhundertwende, und so auch die „Lustige Witwe", hätten vor allem den „Fremden" lächerlich gemacht 36 , deren zweite, hintergründige, jedoch eigentliche Funktion und Aussage nicht recht begriffen zu haben: Nämlich die indirekte Kritik und den Spott über die eigenen, „hausgemachten" Zustände. Felix Saiten in Wien und seine Schriftstellerkollegen in Ungarn, die an der „Lustigen Witwe" sogleich das allgemein Zeitgemäße und den Spiegel ihrer eigenen Verfaßtheit

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wiedererkannt und hervorgehoben hatten, sind da schon bessere und authentischere Beobachter gewesen als manch andere, vor allem spätere Deuter. Nun war die Gleichsetzung von Pontevedro und der Donaumonarchie in der Tat naheliegend, und einige Hinweise mögen dies hier zu verdeutlichen versuchen. Wo lagen die Vergleichsmöglichkeiten zwischen Österreich und Montenegro? Beispielsweise im Verhältnis der Monarchie zu Deutschland, das sich nun, ähnlich wie das Verhältnis Montenegros zur Pforte, nach dem Krieg von 1866 zunehmend gebessert und freundschaftlich entwikkelt hatte; in einer der montenegrinischen vergleichbaren monarchischen Regierungsstruktur Österreichs; in der Machtlosigkeit der „Volksvertretung" beider Länder; und in der für einen Durchschnittsbürger völlig undurchsichtigen Diplomatie und Außenpolitik des Vielvölkerstaates. Solche Analogien zu Österreich-Ungarn wurden auch durch die Ähnlichkeit der äußeren Symbole der beiden Staaten unterstrichen. Das Wappen Montenegros sah jenem der Monarchie zum Verwechseln ähnlich: Ein mit der Kaiserkrone gekrönter Doppeladler hielt in seiner Rechten Zepter und Schwert, in seiner Linken den Reichsapfel. Einem auch nur halbwegs gebildeten Besucher der Lehárschen Operette mußten sich also aufgrund dieser und anderer Vergleiche Ähnlichkeiten zwischen den beiden Staaten aufdrängen, und sobald die durch das Sujet der Operette intendierte Verfremdung durchschaut war, hatten vermutlich der Librettist Léon und der Komponist Lehár ihr Ziel auch schon erreicht: Ging es ihnen doch darum, nicht Pontevedro - Montenegro, sondern die eigenen, die österreichischen bzw. „kakanischen" Zustände szenisch und musikalisch aufs Korn zu nehmen. Das Publikum dürfte diese ironischen Verfremdungen in der Tat auch rasch begriffen und deren verdeckte Kritik an den heimischen Zuständen verstanden haben; es bedankte sich dafür mit einer begeisterten, enthusiastischen Zustimmimg im Laufe von mehr als vierhundert En-Suite-Aufführungen. Immer wieder setzte sich die Operette auch mit aktuel-

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len tagespolitischen Ereignissen auseinander: Da ist in der „Lustigen Witwe" vom „Zweibund", vom „Dreibund", vom „europäischen Gleichgewicht" oder von der „Politik der offnen Türen" die Rede, alles Schlagworte, die der realen politischen Sprache der Monarchie entlehnt waren und den Zeitgenossen außerordentlich vertraut sein mußten. Der im Oktober 1879 zwischen der Monarchie und dem Deutschen Reiche geschlossene „Zweibund" war gegen einen vermeintlichen russischen Angriff gerichtet und wurde im Jahre 1882 durch eine Vereinbarung mit dem Königreich Italien zum „Dreibund" erweitert. Da das Bündnis auch Schutzmaßnahmen für Fälle vorsah, wenn einer der Vertragspartner von einer fremden Macht angegriffen würde, bemühte man sich in den darauffolgenden Jahren solche möglichen überraschenden Krisenfälle durch eine präventive Politik, die auch auf andere Staaten im „Konzert" der europäischen Mächte Rücksicht nehmen sollte, zu vermeiden, das heißt freundschaftliche Beziehungen auch zu anderen europäischen Mächten zu unterhalten, vor allem zu jenen Westeuropas: Man erhoffte sich durch eine solche Politik die Aufrechterhaltung des „europäischen Gleichgewichts". Tatsächlich begegnete man dem Bündnis jedoch auch in der Öffentlichkeit mit zunehmender Skepsis: Einerseits mußte man in Österreich-Ungarn in der offensiven Ausrichtung gegen Rußland, das am unmittelbar benachbarten Balkan seine Interessen wahrnahm und sich als Protektor der Slawen der Monarchie, vor allem jedoch der Serben, die der Orthodoxie angehörten, aufspielte, eine Gefahr für die Aufrechterhaltung des Friedens erblicken; andererseits befürchtete man durch die Bindimg an und durch die zunehmende militärische Abhängigkeit von Deutschland eine Schwächung des eigenen politischen Aktionsradius. Nicht nur österreichische Altliberale vertraten diese Meinung. Einer der bedeutendsten Skeptiker war der österreichische Kronprinz Erzherzog Rudolf, der in einem anonymen, offenen Brief an seinen Vater Kaiser Franz Joseph mit dieser einseitigen Bindung an das Deutsche Reich abrechnete, die seiner Meinung nach für den zu-

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künftigen Bestand der Monarchie eine große Gefahr barg: „Nach sechshundertjähriger ruhmvoller Regierung sind die Habsburger in Ihrer würdigen Person vor einem Scheidewege angelangt. Wählen Sie mit Vorbedacht, Majestät! Der Weg, welchen Ihnen der Verführer zeigt, auf welchem er Ihnen allgemeine und besondere Interessen verlockend vorspiegelt, führt zur Auflösung und zum sicheren Untergange. Der andere Weg, der schon darum der bessere ist, weil ihn der Kanzler [d. i. Bismarck, d. Verf.] versperren will, führt zur Wiederherstellung der vergangenen Größe Oesterreichs, zum allgemeinen Frieden, zur Erleichterung vor den erdrückenden Lasten und der quälenden Sorge, welche heute auf ganz Europa lastet, - und da sollten Sie noch zögern, Majestät? Es giebt nur eine Alliance in Europa, welche begründet ist, das ist die offene oder stille Verbindung Oesterreichs mit Rußland und Frankreich." 37 Zu Beginn des Jahrhunderts, als die militärische Aufrüstung der Bündnispartner immer offenkundiger wurde, bekundeten auch die Vertreter der Großparteien, nicht zuletzt die Christlichsozialen, ihr Unbehagen an der offiziellen Bündnispolitik, und diese skeptische Einstellung spiegelte durchaus die Meinung ihrer Wähler wider. Die Wähler der Christlichsozialen rekrutierten sich nämlich zumeist aus den breiten Schichten des neuen städtischen Bürgertums, jenes Bürgertums also, das auch zu den primären Rezipienten der zeitgenössischen Operetten zählte. Die spöttisch-ironische Verunglimpfung des Zweiund Dreibundes und die Parteinahme für das „europäische Gleichgewicht" und für eine „Politik der offenen Türen", ein ursprünglich (1899/1900) von den USA propagierter politischer Slogan, der sich für die Wirtschaftsund Handelsfreiheit der europäischen Staaten in China einsetzte, bald jedoch im übertragenen Sinne mit Handelsfreiheit ganz allgemein assoziiert wurde, spiegelt also durchaus die politische Mentalität jener Bevölkerungsteile, die zu den hauptsächlichen Besuchern der „Lustigen Witwe" gehörten. Insgesamt meine ich also, daß der allgemeine Anklang,

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den die „Lustige Witwe" gefunden hat, zumindest zu einem Teil von daher rührte, daß sie etwas artikulierte, was in der öffentlichen Meinung bereits vorhanden und bekannt war. Die große Resonanz, die die Operette nicht zuletzt durch die Verspottung dieser Politik ausgelöst hatte, ist ein Indiz dafür, daß mittlere urbane Schichten dieser Politik gegenüber in der Tat skeptisch bis ablehnend eingestellt waren. Und die Rückversetzung solcher Passagen aus der vorsätzlichen Doppeldeutigkeit des Operettensujets in das reale politische Umfeld, das heißt deren Rekontextualisierung in ihr sozial-politisches und kulturelles Umfeld, vermag deutlich zu machen, daß die hier verwendeten politischen Schlagworte keine vagen Erfindungen, sondern der offiziellen politischen Sprache der Gegenwart entlehnt waren. Der durchschlagende Erfolg der in der Operette geäußerten Kritik lag freilich vor allem in der bewußten Verschränkving von zwei unterschiedlichen Ebenen, der Ebene des öffentlich-politischen und der Ebene des privaten Bereichs, zum Beispiel dem intimen Bereich der Ehe, was freilich auf die Zuschauer eine völlig unerwartete und unvermittelte Wirkung haben mußte und daher ebenso geistreich wie komisch und witzig wirken konnte und ein befreiendes Lachen zur Folge hatte. Die Ehe, meint zum Beispiel Danilo, der Repräsentant der Moderne, sollte nach einer veralteten, bürgerlichen Vorstellung stets ein „Zweibund" sein, „doch bald stellt sich ein Dreibund ein, der zählt oft nur nach schwachen Stunden. Vom europäischen Gleichgewicht... von dem ist bald nichts mehr zu spüren. Der Grund liegt meistens nur darin: Es gibt Madame zu sehr sich hin der Politik der offnen Türen"! 38 Auch das allgemeine Wahlrecht wird in der „Lustigen Witwe" thematisiert und persifliert, zum Teil sogar ins Lächerliche gezogen, was den Ansichten mancher bürgerlicher Kreise zur Zeit der Wahlrechtsdebatten um 1905 durchaus entsprochen haben mochte. Denn als die Diskussion um die Einführimg des allgemeinen Wahlrechts nach der ungarischen Regierungskrise von 1905 wieder voll entbrannt war, erhofften sich manche Hof-

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und Regierungskreise davon zum einen die Stärkung der konfessionellen und sozialistischen Massenparteien, die für den Erhalt und für die Einheit der Monarchie eintraten und von der Einführung des allgemeinen Wahlrechts nur profitieren konnten, zum anderen die Einschränkung des politischen Einflusses zunehmend nationalistisch agierender, ehemals liberaler, nun jedoch zunehmend national gesinnter Kreise und Parteien; diese mußten, sollte das allgemeine Wahlrecht eingeführt werden, um den Verlust ihrer politischen Vorherrschaft bangen. Die Diskussion um das Wahlrecht erreichte ihren Höhepunkt, als am 4. November 1905 Ministerpräsident Freiherr von Gautsch die endgültige Vorlage einer Wahlrechtsreform versprach. Am 28. November fand in Wien eine von den Sozialdemokraten organisierte Massendemonstration für die Einführung des allgemeinen Wahlrechts statt, an der an die 200.000 Menschen teilnahmen. Freilich erlangte das allgemeine Wahlrecht für Männer dann erst ein Jahr später, am 26. Jänner 1907, Gesetzeskraft.59 Kein geringerer als Arthur Schnitzler paraphrasierte diese öffentliche Diskussion und vor allem die Skepsis vieler Bürgerlicher der Wahlrechtsreform gegenüber in seinem Roman „Der Weg ins Freie" (1908): „Denn mir scheint, Politik ist das phantastischeste Element, in dem Menschen sich überhaupt bewegen können, nur daß sie es nicht merken . . . Dies fiel mir ein, als ich neulich einer politischen Versammlung anwohnte, (unwahr, diese Gedanken kommen mir soeben), jawohl - einer Versammlung von Arbeitern und Arbeiterinnen in der Brigittenau, in die ich mich an der Seite von Mademoiselle Therese Golowski verfügt hatte und in der ich sieben Reden über das allgemeine Wahlrecht anzuhören bemüßigt war. Jeder der Redner auch Therese war darunter - sprach ungefähr so, als gäbe es für ihn persönlich nichts Wichtigeres als die Lösung dieser Frage, und ich glaube, keiner von ihnen ahnte, daß ihm in der Tiefe der Seele die ganze Frage ungeheuer gleichgültig war. Therese war natürlich sehr empört, als ich ihr das eröffnete."40 Das allgemeine Wahlrecht und das von den Frauen erstrebte Recht, durch ihre Einbin-

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dung in das allgemeine Wahlrecht die Politik mitzubestimmen, wird in der „Lustigen Witwe" mit der Situation auf einem Ball verglichen, wo die Herren die Damen umwerben, (von einem „marcia moderato" begleitet) „agitieren" und „affichieren", um bei der Damenwahl dann dem umgekehrten Interesse der Frauen ausgesetzt zu werden, was aber letztlich zu nichts führe, denn: „Es kämpfen die Damen schon lange um das nämliche Recht mit dem Mann, jetzt haben Madam' hier das Wahlrecht, und fangen damit gar nichts an"! 41 Damit wurde auch die Frauenemanzipationsbewegung der Zeit um 1900 ironisch apostrophiert und sarkastisch persifliert. Freilich wäre es verfehlt, daraus eine frauenfeindliche Tendenz der Operette ableiten zu wollen, vielmehr ging es hier, nach den Worten der Hanna Glawari, um eine kritische Persiflierung und Verurteilung von Politik im allgemeinen: „ . . . verhaßt ist mir Politik, verdirbt sie beim Mann den Charakter, so raubt sie uns Frauen den Schick."42 Welchen Schluß kann man aus diesen Verquickungen und Verquerungen der Operetten mit den realen sozialpolitischen und kulturellen Gegebenheiten ihrer Zeit ziehen? Ich meine jenen, daß das Genre Operette immer wieder als das betrachtet werden sollte, was es ursprünglich sein wollte: realitätskonform und zugleich amüsant, kritisch aber zugleich heiter, ernst jedoch gleichzeitig mit einer Brise Spaß und Sarkasmus versehen - so also, wie schließlich alle Komödien seit Aristophanes aufgefaßt und interpretiert werden wollen.

Ort des kulturellen Gedächtnisses Von einem kulturtheoretischen Standpunkt aus gesehen könnte im Anschluß an diese konkreten Hinweise und Überlegungen freilich noch auf einen anderen Aspekt der Wiener Operette aufmerksam gemacht werden. Sie bediente sich nämlich im Musikalischen und im Inhaltlichen, auch wenn sie kritisch-ironisch argumentierte, zunehmend solcher motivischer Topoi, die sie ganz gezielt

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als Versatzstücke zu verwenden und einzusetzen wußte. Der Walzer oder das „süße Mädel" - die gleichnamige Operette von Heinrich Reinardt wurde im Jahre 1901 uraufgeführt-wurden ebenso zu stereotypen Synonymen für Wien wie die Polka für Böhmen, die Mazurka für Polen oder der Csárdás, die Puszta bzw. die im „Zigeunerbaron" evozierte Welt der Zigeuner zu einem gängigen Stereotyp für Ungarn. Analog dazu erhielten bestimmte Personengruppen, das heißt der Adel, Bauern oder Bürgerliche, ganz bestimmte Bedeutungszuweisungen, die auch in der Sprache des Alltags Verwendung fanden, als Klischees fortlebten und später in zahlreichen Operetteninszenierungen bewußt im Sinne von bestimmten weltanschaulichen oder politischen Ideolgien ganz gezielt instrumentalisiert werden konnten. Anders ausgedrückt konnte die Operette aufgrund ihrer vielfachen Zitate daher auch zu einem Ort der „mémoire culturelle" werden, einem Ort des kulturellen Gedächtnisses, in dem beispielsweise die vielfaltigen sozial-kulturellen Codes der Region der Monarchie aufgehoben waren und weitervermittelt wurden. Solche sozial-kulturellen Codes entstammten nicht nur aus jener regionalen kulturellen Vielfalt, die sich im kulturellen Selbstverständnis, in der kulturellen Identität breiter urbaner Bevölkerungsschichten widerspiegelte, sie konnten auch einen Reflex jener vielfältigen sozial-politischen Mentalitäten beinhalten, die in konkreten, kritischen Reaktionen auf Ereignisse des politischen Alltags zum Ausdruck kamen und die in ihrer Gesamtheit die Inhalte einer typischen politischen Kultur der Bewohner des Vielvölkerstaates ausmachten. Der Operette kam damit mittelbar auch noch eine weitere Funktion zu, nämlich jene, identitätsstiftend zu wirken. Diese Funktion konnte die Operette dadurch erreichen, daß sie den Zuschauern, die, wie in Wien oder in Budapest, einer multiethnischen Urbanen Schicht angehörten, durch direkte oder versteckte literarische oder musikalische Zitate die multikulturelle Verfaßtheit der Region immer wieder vor Augen führte und sie anhielt, sich dieser ethnischen und kulturellen Vielfalt bewußt zu

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werden. Dabei erhielten einzelne solcher vorgeführten kulturellen Merkmale zuweilen auch zusätzliche inhaltliche Ronnotationen bzw. die Chance, mehr auszudrükken, als sie ursprünglich beinhaltet hatten, indem zum Beispiel all das, was ein Walzer auszudrücken vermochte, nämlich rhythmische Beschwingtheit, Leichtigkeit, Seligkeit unvermittelt mit dem Ort identifiziert wurde, wo dieser entstanden war: Jedesmal, wenn ein Walzer erklang, konnte dieser als ein „Signal" für Wien und die Wiener aufgefaßt werden. Dabei ließen sich gerade solche klischeehaften Typisierungen nicht vermeiden, und sie verdrängten zuweilen sogar die ursprünglich bestimmenden Kriterien. Hinter der Entstehung solcher Identitätsmerkmale, die manchmal aus der Fiktionalität der Bühnensprache in die Realität der Alltagssprache übernommen werden konnten, indem das im Theater an einem Abend Vorgegebene bei Tag wiederholt und schließlich auch geglaubt wurde, verbirgt sich freilich die Problematik der Erfindimg von historisch-kultureller Realität, der sogenannten „invention of traditions". Folgt man den Überlegungen des englischen Sozialhistorikers Eric J. Hobsbawm43, dann haben wir es im kulturellen Rontext vor allem während der letzten zweihundert Jahre oft mit Inhalten zu tun, die erst in der jeweiligen Gegenwart relevant wurden, weil man einfach vorgab, sie wären ursprünglich und alt und aus einer weiten Vergangenheit ableitbar. Tatsächlich sind es aber neue Inhalte und als solche Reaktionen auf eine bestimmte Situation der Gegenwart, oder es handelt sich dabei bloß um eine behebige Thematisierung von Inhalten, die ursprünglich in einem ganz anderen Rontext vorkommen, denen aber in ihrem neuen Zusammenhang Authentizität und Autorität verliehen werden, indem man ihnen eine „erfundene" historische Zuordnimg zuweist und durch andauerndes Wiederholen ihrer angeblichen Historizität allgemeine Relevanz zu verschaffen sucht Es handelt sich hier also entweder um Inhalte, die künstlich geschaffen wurden, im Sinne der Hobsbawmschen „invention of traditions", einem Phänomen, das vor allem

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seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert für neue gesellschaftliche Schichten relevant wurde; 44 oder aber es handelt sich um Inhalte, die für Bedeutungszusammenhänge neu eingesetzt wurden, die diesen Bedeutungszusammenhängen ursprünglich nicht eigen waren. Hobsbawm liefert Beispiele dafür und verweist unter anderem auf bürgerliche Festzüge im 19. Jahrhundert, die mit einer bestimmten Kleidung (Tracht), die vorgeführt wurde, durch die Zuweisimg bestimmter Merkmale an soziale Gruppen, durch „lebende Bilder" usw. eine Verbindung zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit zu insinuieren versuchten. Das heißt man ließ zum Beispiel eine ländliche Tracht „Wiederaufleben" und wies ihr historische Authentizität zu, die ihr ursprünglich gar nicht zukam. In Wirklichkeit war diese Tracht eine „erfundene Tradition", von der man jedoch bald meinte, sie wäre ursprünglich und alt. Vom strengen historischen Gesichtspunkt aus betrachtet, hält dieser Rekurs auf die Vergangenheit nicht stand, und erst durch ständiges Wiederholen und Indoktrinieren schenkt man ihm schließlich Glauben und vermeint, sich tatsächliche historische Inhalte angeeignet zu haben. Im Unterschied zu den Inhalten eines lebenden kulturellen Gedächtnisses („mémoire culturelle") handelt es sich bei der erfundenen Tradition um künstliche Gebilde. Aber selbst die Inhalte einer „mémoire culturelle", zum Beispiel ein lebendes Brauchtum oder eine unreflektierte Verhaltensweise des Alltags laufen Gefahr, durch Manipulationen, wie sie auch im Theater und auf der Bühne geschehen, zu artifiziellen Bewußtseinskriterien umgedeutet zu werden. Gerade dies geschah, nicht zuletzt in der Operette, zum Beispiel mit dem Walzer oder mit dem Csárdás. Selbst kritische Stellungnahmen der Operette zu politischen oder gesellschaftlichen Befindlichkeiten oder noch so ehrlich gemeinte Präsentationen von minoritären Randgruppen wie den Zigeunern konnten also letztlich zu einem falschen Bewußtsein mit beitragen. Das Bild der Zigeuner ist im Jókaischen Original ein noch viel differenzierteres als später im Schnitzerschen Libretto des

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„Zigeunerbaron". Die Veränderungen, die dann die Aufführungspraxis des „Zigeunerbaron" in der Folge vornahm, ist zum Teil bereits eine Vorwegnahme des exotisierenden Zigeuner-Klischees der „Zigeunerliebe" (1910) von Franz Lehár oder des „Zigeunerprimas" (1912) von Emmerich Kálmán. Die bewußtseinsbildende Funktion der Operette blieb zwar auch so noch gewahrt, sie konstituierte aber neben der Evokation vorhandener kultureller Inhalte und Zusammenhänge eben auch falsches Bewußtsein, indem sie „invented traditions" vorgab und diese neben den anderen ebenso zu konstitutiven Merkmillen einer Identität hochstilisierte und stereotypisierte. Aber nicht nur Inhalte, die ein Libretto vermittelte, auch musikalische Inhalte, welche die Operetten verarbeiteten, konnten zu einem solchen falschen Bewußtsein beitragen: Indem zum Beispiel die in der Art der Zigeuner dargebotenen ungarischen Volksweisen als originale ungarische Volksmusik präsentiert wurde und man folglich die ungarische Volksmusik mit der Zigeunermusik gleichzusetzen begann, verschloß sich die Operette - vielleicht mit Ausnahme der ungarischen Singspiele der Jahre tun 1900, wie dem „János Vitéz" von Pongrác Racsóh dem Zugang zu jener ursprünglichen musikalischen Sprachenvielfalt, die durch die Forschungen von Béla Bartók oder Zoltán Kodály unmittelbar nach der Jahrhundertwende wiederentdeckt wurde. Falsches Bewußtsein und eine klischeehafte Identifikation mit einer „erfundenen" kulturellen Vergangenheit läßt sich also auch unmittelbar auf jene musikalische Vermittlung zurückführen, der sich gerade die Wiener Operette verschrieben hatte.

1 Zur Charakterisierung des Bürgertums in der Monarchie vgl. Ernst Bruckmüller - Hannes Stekl, Zur Geschichte des Bürgertums in Österreich, in: Jürgen Kocka - Ute Frevert (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, München 1988, 160-192. - György Ránki, Die Entwicklung des ungarischen Bürgertums vom späten 18. zum frühen

Anmerkungen

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20. Jahrhundert, ebd. 247-265. - Péter Hanák, Ungarn in der Donaumonarchie. Probleme der bürgerlichen Umgestaltung eines Vielvölkerstaates, Wien - München - Budapest 1984, 281 ff. - Ernst Bruckmüller - Ulrike Docker - Hannes Stekl - Peter Urbanitsch (Hg.), Bürgertum in der Habsburgermonarchie, Wien - Köln 1990. Hugo von Hofmannsthal, Gabriele D'Annunzio [1893], in: Ders., Reden und Aufsätze Bd. 1 = Gesammelte Werke in zehn Bänden, hg. von Bernd Schoeller-Rudolf Hirsch, Frankfurt/M. 1979,174. Vgl. u. a. Leslie Bodi, Tauwetter in Wien a. a. O. 311 ff., 321 ff., 354 ff. Vgl. Hanns Jäger-Sunstenau, Statistik der Nobilitierungen in Österreich 1701-1918, in: Gerhard Geßner (Hg.), Österreichisches Familienarchiv. Ein genealogisches Sammelwerk Bd. 1, Neustadt an der Aisch 1963, 3-16. - Berthold Waldstein-fVartenberg, Österreichisches Adelsrecht 1804-1918, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 17/18 (1964/65) 109-146. Moritz Csáky, Adel in Österreich, in: Das Zeitalter Kaiser Franz Josephs. Von der Revolution zur Gründerzeit I., Ausstellungskatalog Schloß Grafenegg 1984,212-219. Rudolf Lothar [= Lothar Spitzer], Von der Secession, in: Die Wage 1(1898) 813. ZiL nach: Jugend in Wien. Literatur um 1900. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar, Marbach am Neckar 21987, 277. Ferdinand von Bauernfeld, Aus Alt- und Neu-Wien, in: Bauernfelds ausgewählte Werke, hg. von Emil Horner, Bd. 4, Leipzig o. J., 216. Hugo von Hofmannsthal, Ungeschriebenes Nachwort zum „Rosenkavalier" (1911), in: H. von Hofmannsthal, Gesammelte Werke a. a. 0., Dramen V: Operndichtungen, 146-147. Bertha Zuckerkand!, Österreich intim. Erinnerungen 1892-1942, hg. von Reinhard Federmann, Frankfurt/M. - Berlin - Wien 1970, 12. - Bertha Z. war die mit dem Anatomen Prof. Emil Zuckerkandl verheiratete Tochter des Schriftstellers und Publizisten Moritz Szeps. Sie war mit Clémenceau verschwägert und spielte bei den Friedensbemühungen des Prinzen Sixtus von Bourbon-Parma eine Vermittlerrolle. Endre Ady, Péntek esti levelek a. a. 0. 28 (= Nagyváradi Napló 10. 5. 1903). Philippe Ariès - Georges Duby (Hg.), Geschichte des privaten Lebens 4: Von der Revolution zum Großen Krieg, hg. von Michelle Perrot, Frankfurt/M. 1992, 566. Thorsten Stegemann, „Wenn man das Leben durchs Champagnerglas betrachtet.. .". Textbücher der Wiener Operette zwischen Provokation und Reaktion, Frankfurt/M. 1995, 225. - Arnold Hauser, Sozialgeschichte a. a. O. 857.

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12 Arnold Hauser, Sozialgeschichte a. a. O. 857. 13 Arnold Hauser, Sozialgeschichte a. a. O. 854. - Dazu auch László Mâtrai, Alapját a. a. O. 99. - Karlheinz Rossbacher macht auf diesen sozialen Rontext bzw. auf die sozialkritische Komponente der Wiener Operette (insbesondere der „Fledermaus") ebenfalls aufmerksam. Vgl. Karlheinz Rossbacher, Literatur und Liberalismus. Zur Kultur der Ringstrassenzeit in Wien, Wien 1992, 147157, bes. 150 f. 14 Hanna im Finale des 1. Aktes der „Lustigen Witwe": „ . . . verhaßt ist mir Politik, - Verdirbt sie beim Mann den Charakter, - So raubt sie uns Frauen den Schick", in: Franz Lehár, Die lustige Witwe. Klavierauszug mit Text, Wien o. J. [Doblinger 1905], 42 f. 15 Vgl. Ferdinand nürnberger, Rriefe an eine Freundin, hg. von Otto Erich Deutsch, Wien 1907, 404. - Ders., Geschichte meines Passes. Eingabe an Se. Exzellenz den Staatsminister Grafen Belcredi. Persönlich überreicht im Sommer 1866, in: Die Fackel, hg. von Karl Kraus, VIII(1906) Nr. 214-215, 7-38. 16 Zu „Indigo" vgl. Norbert Nischkauer, Bemerkungen zum Thema Johann Strauss und die Zensur, in: Die Fledermaus Nr. 4, März 1992,10-16. - Zum „Zigeunerbeiron" vgl. Norbert Nischkauer, Die Zensurakten zu Strauss' Operette „Der Zigeunerbaron", in: Die Fledermaus Nr. 5, September 1992, 59-67. 17 Couplet-Lied der Adele im 3. Aufzug, 4. Auftritt. Johann Strauß, Die Fledermaus, Stuttgart (Reclam) 1981, 75. - Vgl. auch Thorsten Stegemann, „Wenn man das Leben durchs Champagnerglas b e t r a c h t e t . . a . a. O. 21-24. 18 Auftrittslied des Danilo im 1. Akt der „Lustigen Witwe", in: Franz Lehár, Die lustige Witwe a. a. O., 30 ff. 19 Hermann Bahr, Tagebücher, Skizzenbücher, Notizhefte 2 a. a. O. 74 [1894: Skizzenbuch 1], 20 Alfred Freiherr von Berger, Der Prozeß Richter, in: Ders., Buch der Heimat I., Berlin 1910, 39. 21 Johann Strauß, Die Fledermaus. Text nach H. Meilhac und L. Halévy, von C. Haffner und Richard Genée. Vollständiges Textbuch, hg. und eingeleitet von Wilhelm Zentner, Stuttgart 1981, 58-59. 22 Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Ungarn, Bd. II, Wien 1891, 511 ff. (= Eugen Szentkláray, Temesvár und seine Umgegend), Zitat 531. - SamuBorovszky (Hg.), Temes vármegye [Komitat Temes], Budapest o. J. 23 Martin Schwartner, Statistik des Königreichs Ungern. Ein Versuch, Pest 1798,105-106. 24 Adalbert Stifter, Wien und die Wiener, in: Ders., Die Mappe meines Urgrossvaters. Schilderungen. Briefe, München 1968, 326 („Der Prater"). 25 Text der Gesänge zu „Der Zigeunerbaron", Leipzig - Brüssel London (Verlag August Cranz) o. J., 14-15.

Anmerkungen

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26 Vgl. auch András Batta, Träume sind Schäume. Die Operette in der Monarchie, Budapest 1992, 105 ff. 27 Erzherzog Joseph, Czigány nyelvtan. Romano csibákero sziklaribe [Zigeuner-Grammatik], Budapest 1888. - Später publizierte er eine umfassende ethnographische Darstellung der Zigeuner: A czigányokról, a czigányok torténelme, életmódja, néphite, népkôltészete, zenéje, nyelve és irodalma [Über die Zigeuner, ihre Geschichte, Lebensweise, den Volksglauben, die Volksdichtung, die Musik, die Sprache und Literatur], Budapest 1894. 28 Jókai Mór, A Cigánybáró. Sárga rózsa. Jókai Mór munkái 55., Budapest o. J. [1995], 77, 87-88. 29 Vgl. unter anderem Eduard von Hanslick, Johann Strauß als Operncomponist, in: Ders., Die moderne Oper, Berlin 1892,555541. 50 Christian Glanz, Aspekte des Exotischen in der Wiener Operette am Beispiel der Darstellung Südosteuropas, in: Musicologica Austriaca 9 (1989) 80. 51 Richard Charmatz, Österreichs äußere und innere Politik von 1895 bis 1914, Leipzig - Berlin 1918, 9. 52 Introduktion zum „Vilja-Lied", Beginn des zweiten Aktes, in: Franz Lehár, Die Lustige Witwe a. a. O. 62. 55 Johann Danilo, Das Volksleben, in: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Dalmatien, Wien 1892,128. 54 Zoran Konstantinovic, Deutsche Reisebeschreibungen über Serbien und Montenegro, München 1960,145 ff. 55 Ernst Mach (Hg.), Erinnerungen einer Erzieherin, Wien - Leipzig 21915, 169-207 (Erinnerungen aus Montenegro), Zitate 204, 202. 56 Christian Glanz, Aspekte des Exotischen a. a. O. 81, 89. 57 Julius Felix (= Kronprinz Rudolf), Oesterreich-Ungarn und seine Alliancen. Offener Brief im S. M. Kaiser Franz Joseph, Paris 1888, in: Brigitte Hamann (Hg.), Kronprinz Rudolf, „Majestät ich warne Sie . . . " . Geheime und private Schriften, München - Zürich 1987, 221. 38 Finale II des 2. Aktes der „Lustigen Witwe", in: Franz Lehár, Die lustige Witwe a. a. O. 108 ff. 59 Vgl. Richard Charmatz, Österreichs innere und äußere Politik von 1895 bis 1914, Leipzig - Berlin 1918, 68 ff. 40 Arthur Schnitzler, Der Weg ins Freie. Roman 1908, Frankfurt/M. 1990,205. Der Roman erschien zwar erst 1908, Schnitzler arbeitete an ihm kontinuierlich bereits seit 1905. Vgl. u. a. Hugo von Hofmannsthal - Arthur Schnitzler, Briefwechsel, hg. von Therese Nicki und Heinrich Schnitzler, Frankfurt/M. 1985, 171, 192 ff., 258 f. und passim. - Kritik am allgemeinen Wahlrecht war vor allem in bürgerlichen Kreisen verbreitet. 41 Finale I des 1. Aktes der „Lustigen Witwe", in: Franz Lehár, Die lustige Witwe a. a. O. 40 ff.

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42 Ebd. 42-45. 45 Eric Hobsbawm - Terence Ranger (Ed.), The Invention of Tradition, Cambridge 1994 [1983], vor allem 1-14. 44 Eric Hobsbawm, Mass-Producing Traditions: Europe, 1870-1914, in: Eric Hobsbawm - Terence Ranger (Ed.), The Invention a. a. O. 263-397.

Kapitel 4:

Wiener Operette und Ironie Ironie als psychisches Ventil Die sarkastisch-witzige Art, mit welcher die Wiener Operette über politische oder soziale Zustände zu befinden wußte, wies ihr die Rolle eines psychischen Ventils zu, mit dessen Hilfe sich Einzelindividuen und ganze soziale Schichten - hier die Repräsentanten der Urbanen Mittelschicht als ihre Rezipienten- abzureagieren wußten: Man machte sich mit ihrer Hilfe über die Enge der sozial-politischen Wirklichkeit lustig. Diese Funktion, die der Operette zukam, hatte bestimmte Voraussetzungen. Man kann davon ausgehen, daß die Kultur, hier die bürgerliche Kultur der Jahrhundertwende, bestimmte Verhaltensnormen festzusetzen wußte, die sich im politischen Bereich, zum Beispiel in konkreten rechtlich-politischen Verhaltensregeln äußerten, welche, wenn sie nicht eingehalten wurden, zwar geahndet werden mußten, was jedoch allgemeines Mißfallen erregte. Gerade solche unangenehmen Folgen eines kulturellen Korsetts wurden folglich in der Operette immer wieder bewußt gemacht und in einer witzig - humorvollen Art persifliert und ad absurdum geführt. Die „fünf Tage Arrest" in der „Fledermaus" sind ein Beispiel dafür. Beleidigung der politischen Obrigkeit mußte gesühnt werden, auch wenn der „Delinquent" Gabriel von Eisenstein die Sinnhaftigkeit dieses Sühneaktes sich rein rationed nicht eingestehen mochte, sich dagegen verwahrte und einen Advokaten beizog, der jedoch so ungeschickt agierte, daß aus fünf unversehens acht Tage wurden: „Fünf Tage sagst du? Jetzt sind's gar acht! Man hat mir drei dazugeschlagen. So weit hat's dieser Mensch gebracht! noch heut soll ich stellen mich, und komm ich nicht, so holt man mich!"1 Was blieb dem neugeadelten Eisenstein übrig, als sich über sein Schicksal lustig zu machen und in der Villa Orlofskys sich bei Souper und Maskenball darüber hinwegzutrösten. Den-

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noch fügte er sich den Rahmenbedingungen der politischen Wirklichkeit: Sie umfaßten ja seine eigentlich „bürgerliche" Realität, die er als Ganzes bejahte, an der er sogar - eventuell - gestaltend mitgewirkt hatte. Das heißt im Rontext einer bürgerlichen politischen Welt, in der politischen Kultur des Bürgertums, gab es immer wieder Situationen, in welchen die Unterdrückung, die Negierung bestimmter menschlicher Bedürfnisse und Vorstellungen mit in Kauf genommen wurden. Diese durch die bürgerliche politische Kultur erzeugten Widersprüche wurden zum Teil bewußt reflektiert, zum Teil entzogen sie sich aber dem reflektierten Bewußtsein und wurden dadurch einfach aus dem alltäglichen Leben verdrängt. Die Persiflage politischer Zustände, sozialer Ungleichheiten, sozial-politischer Mentalitäten, bezog sich zumeist auf solche Verdrängungsprozesse, die in der Operette in Form des Witzes oder in einer im Unterschied zur echten Komödie „häufig cynischen Art", wie Hermann Bahr bemerkte, zum Gegenstand einer bewußten Selbstreflexion wurden: „Es ist nicht jedermanns Sache, sich tagaus tagein schwere Trauerspiele vormiemen zu lassen und von dem crassen Pessimism[us] der modernen Autoren fühlen sich viele abgeschreckt, die doch wieder an der allzu leichten, häufig cynischen Art der Operette oder der modrigen französischen] Posse, die das Carlth[eater], das Th[eater] a[n] d[er] W[ien] und die J[osefstadt] bieten, keine rechte Freude haben können. So beklagen sich viele Gebildete, daß es kein Theater gibt, wo man einen Abend mit einem heiteren, aber doch noch ästhetischen Geist und Gemüth mit Grazie [sich] ansprechenden Vergnügen hinbringen könnte."2 Auch Volker Klotz hat in seiner Untersuchung über das bürgerliche Lachtheater auf solche Zusammenhänge aufmerksam gemacht.3 Seine Analyse ist freilich umfassender: Während die sozial-politischen Ereignisse seit der Französischen Revolution selten direkt szenisch dargestellt wurden - sie waren ja zum Beispiel im Vormärz auch aus dem offiziellen politischen Diskurs verbannt, verdrängt - oder wenn sie es wurden, dann anscheinend

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wenig Publikumserfolg hatten, konnten in der Posse und in den Schwänken diese indirekt angesprochen werden und lösten damit ein befreiendes Lachen aus.4 Insgesamt übernehme das Lachtheater, so Volker Klotz, die Aufgabe, die gesellschaftlichen Zustände bürgerlicher Mittelschichten bewußt zu machen: „So, wie die genannten Momente ineinandergreifen, erfüllt das Lachtheater einige Bedingungen und Aufgaben. Lachen können die Zuschauer nur, wenn das, was die Bühne im Augenblick sichtbar und hörbar entstellt, ihre persönlichen und öffentlichen Alltagserfahrungen aufrührt. Was dann bei diesem Lachen herauskommt, hängt ab von den besonderen historischen, gesellschaftlichen und psychologischen Umständen. Es kann die Lachenden beruhigen: meine und unsre Verhältnisse sind längst nicht so schief wie die vorgeführten; sie können bleiben, wie sie sind. Oder es kann die Lachenden beunruhigen: meine und unsre Verhältnisse sind ähnlich schief wie die vorgeführten; sie sollten anders werden."5 Die Operette fügt sich in diese TYadition des Lachtheaters ein. Doch ist sie „nichts weniger als vertonter Schwank. Sie ist sogar so etwas wie sein Gegenpol."6 Denn der Operette fehle „jene nüchterne Teilnahmslosigkeit, den äußeren und inneren Status quo einer zukunftslosen Mittelschicht nur noch karikierend zu bekräftigen. Die Operette rüttelt daran. Teils satirisch, teils ironisch, teils anarchisch. Satirisch angriffslustig geht sie vor, wenn sie auftrumpfenden Machtträgern - Personen wie Institutionen - mit dem Imponiergehabe zugleich den öffentlichen Anspruch untergräbt."7 Das heißt die Funktion der Operette nimmt, auch und vielleicht gerade mit ihrer satirisch-witzigen Perspektive, die Aufgabe wahr, gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen zu kritisieren, in welchen sich die bürgerliche Gesellschaft der Zeit um 1900 wiederfand.8

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Sigmund Freud und der Witz Es mag ein Zufall sein, daß Sigmund Freud gerade 1905, im Jahr der Uraufführung der „Lustigen Witwe", seine Abhandlung über den Witz veröffentlichte.9 Freuds Analysen, die als eine Ergänzung seiner Traumdeutung (1900) verstanden sein wollten, waren nicht nur ein ergänzender und vertiefender Beitrag zur Theorie des Unbewußten im Menschen, sie vermögen in einem übertragenen Sinne auch auf die Relevanz aufmerksam zu machen, die dem Witz und dem Humor bei seinen eigenen Zeitgenossen, vor allem des Wien der Jahrhundertwende, beigemessen wurde. Nun lebte das Unterhaltungstheater in erster Linie von der humoristischen, witzigen Behandlung von Sujets, Personen und Situationen und der Erfolg einer Operette, als einer der beliebtesten Formen des zeitgenössischen Unterhaltungstheaters, hing nicht zuletzt davon ab, inwiefern es ihr gelang, ihre musikalischtheatralischen Inhalte vergnüglich, witzig, humoristisch zu präsentieren. Witz und Humor wurden als jene wesentlichen Unterscheidungskriterien angesehen, die eine Operette von einer Oper trennten, und als bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert sich diese Unterscheidung zu verwischen drohte, etwa im „Zigeunerbaron" (1885) von Johann Strauß, wurde der Verlust des humoristischen Elements als ein Zeichen des Niedergangs des ganzen Genres Operette beklagt. Freilich erwähnt Freud in seinem Buch die Operette mit keinem Wort, und es ist meines Wissens nach auch nicht überliefert, daß er jemals eine Operette besucht hätte, wiewohl dies, wenn man seine bedeutenden Zeitgenossen betrachtet, ohne weiteres anzunehmen wäre. Daß jedoch die Operette der Jahrhundertwende, die vor allem jene sozialen und kulturellen Phänomene, die die Bewohner der Stadt bewegten, zu registrieren pflegte, auch auf die neuen Methoden der Psychoanalyse in witzig-sarkastischer Weise reagierte, bezeugt unter anderem das Textbuch der Chanson-Operette „Fürstin Ninetta" (1892/93) von Strauß, in der „Sigmund Freuds neue Be-

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handlungsmethode auf Polka-Rhythmus gebracht" wird: „'s ist wirklich interessant sich im Schlafe zu verwandeln; fehlt Geist, Genie, Verstand, laß hypnotisch dich behandeln".10 Abgesehen von der eigentlichen Intention der Freud'schen Untersuchung ist diese insgesamt auch ein Indiz dafür, daß Witz und Humor in den Überlegungen der Zeitgenossen der Wiener Operette (um 1900) eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben.

Jüdischer Witz Freud entwickelt seine Theorie des Witzes überwiegend aus der Erfahrung mit dem zeitgenössischen jüdischen Witz. Dieser spezifische jüdische Aspekt mag auch für das Verständnis von Operettenwitzen insofern seine Gültigkeit haben, als zum einen zahlreiche Librettisten (und Operettenkomponisten) jüdischer Herkunft waren und aus dem reichen Schatz ihres eigenen kulturellen Gedächtnisses zu schöpfen wußten und zum anderen auch die Rezipienten, das mittlere urbane Bürgertum, zumal in Wien und in Budapest, sich aus jenem Personenkreis rekrutierte, der entweder zu einem beträchtlichen Teil jüdischer Herkunft war oder zumindest mentalitätsmäßig mit kulturellen Elementen, die in das jüdische Milieu hineinreichten, vertraut sein mußte. Unter anderem trug dazu auch ein Teil der Wiener und Budapester Tagespresse bei, die von Redakteuren, Journalisten und Karikaturisten besorgt wurde, die entweder einen jüdischen Background aufzuweisen hatten oder denen der Gebrauch von Codes vertraut war, die aus einer jüdischen kulturellen Lebens- und Vorstellungswelt entstammten. Man kann in diesem Zusammenhang ohne weiteres auf einen gewissen Typus des Wiener und auch des Budapester Feuilletons hinweisen, der zu einem wichtigen und einflußreichen Bestandteil der führenden Tageszeitungen zählte. Diese Feuilletons unterschieden sich von vergleichbaren journalistischen Darstellungsweisen in erster Linie dadurch, daß sie auf wichtige Tagesfragen nicht mit klaren,

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eindeutigen Antworten aufwarteten, sondern solche Fragen mit Gegenfragen „beantworteten", daß sie selbst wichtige Probleme der Gegenwart daher anscheinend nicht mit dem gewohnten moralischen Ernst, sondern mit zuweilen witzigen, heiter-ironischen Umschreibungen zu entschärfen versuchten. Der aus Ungarn gebürtige Schriftsteller Moritz Gottlieb Saphir (1795-1858), der gemeinsam mit Adolf Bäuerle die Wiener „Theaterzeitung" redigiert hatte, später - 18371855 - den „Humorist" herausgab und Verfasser des fünfbändigen „Conversations-Lexikon für Geist, Witz und Humor" war, war einer der ersten, der diese Kirnst der Umschreibimg, der heiter-ironischen Persiflierung tagespolitischer Ereignisse zu einer wahren Meisterschaft entwickelt hatte, nicht ohne deswegen von seinen Schriftsteller- und Journalistenkollegen verachtet und entschieden abgelehnt zu werden. Doch gerade diese allgemeine Empörung über Saphir ist ein Indiz dafür, daß man sich mit ihm gründlich auseinandergesetzt, daß mim ihn gelesen hatte. Diese intensive, polemische Beschäftigung mit Saphir hatte zur Folge, daß man sich ungewollt mit der typischen Art seiner Argumentation auch vertraut machte und unvermittelt manches von dem übernahm, was man zunächst bekämpft hatte. Moritz Gottlieb Saphir hatte in seiner Jugend, von seinem elften bis zu seinem neunzehnten Lebensjahre, eine „Talmudschule" (Cheder bzw. Jeschiwa) in Prag besucht, die ihm anscheinend nur in schlechtester Erinnerung geblieben war: „Ich hatte keine Kindheit, keine J u g e n d . . . Das Flügelkleid des Lebens war für mich eine Zwangsjacke!" Er war ein guter Schüler, und anläßlich der großen Prüfung aus dem Talmud waren „die Rabbinen . . . außer sich über meine Capacität, und prophezeiten, ich werde ein großer Rabbiner werden!" 11 Wie an anderen, vergleichbaren Schulen dieser Art wurde hier der Lehrstoff auch im mündlichen Verfahren nach einer ganz bestimmten Methode vermittelt. Sie bestand darin, daß Fragen des Schülers nicht immer mit eindeutigen Antworten erwidert, sondern, um das autonome Denken der Schüler zu schärfen, durch

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weitere Gegenfragen des Lehrers, die auch fiktiven, irrealen Charakter haben konnten (Chilluk), mehr offen gelassen als beantwortet wurden. Es war dieser Unterrichtsmethode (Pilpul) auch eigen, daß diesem Frageund Antwortspiel zuweilen naturgemäß eine leichte, heitere, ironische Note zukam, und das nicht nur im Hinbück darauf, die Aufmerksamkeit der Kinder zu fesseln, sondern auch insofern, als ja das Fragen und Gegenfragen nicht eindeutig festzulegen schien, was nun in der Tat endgültig, was richtig und was falsch war und daher die letzte Entscheidimg darüber dem fragenden Schüler überlassen wurde. 12 Man darf annehmen, daß Saphir von dieser Methode zeit seines Lebens geprägt blieb bzw. diese so gründlich erlernt hatte, daß sie für ihn auch als Schriftsteller und Journalisten maßgeblich wurde. Mag nun ein bestimmtes Genre des Wiener Feuilletons der Jahrhundertwende, in dem ähnlich argumentiert wurde, auch auf französischen Einflüssen, auf dem „europäischen" Vorbild Heinrich Heines oder auf der durch Ferdinand Kürnberger vermittelten österreichischen Tradition beruhen, dürfte es doch nicht so abwegig sein, auch den Einfluß Saphirs dafür verantwortlich zu machen, zumal Saphir, wie bereits erwähnt, sich einer allgemeinen Bekanntheit erfreute. Wenn diese Hypothese des Saphirschen Einflusses richtig sein sollte, dann ließe sich aus ihr in bezug auf die multikulturelle Zusammensetzimg „einer" österreichischen Kultur folgender interessanter Schluß ziehen: Bekanntlich ist die österreichische Kultur von Inhalten bestimmt, die aus den Subkulturen der verschiedenen Ethnien der mitteleuropäischen Region stammen. Es sind nicht nur deutsche oder alpenländische, sondern auch ungarische, böhmische, polnische, kroatische, italienische und selbstverständlich auch jüdische kulturelle Codes in ihr enthalten, die sich zu einer neuen kulturellen Konfiguration zusammenfügen. Hier, in einer bestimmten Variante des Wiener Feuilletons, könnte vielleicht konkret auf einen Code hingewiesen werden, der sich nicht nur den immer wieder erwähnten Einflüssen, sondern vermutlich dem Kontext der jüdi-

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sehen Kultur verdankte. Und ein Feuilletonist der Jahrhundertwende, unabhängig von seiner Herkunft, der sich dieser Art des Schreibens bediente, folgte daher unbewußt einer Argumentationsweise, die einer alten kulturellen Tradition der Talmud-Schulen entstammte.

Travestie - eine österreichische Tradition Andererseits kann aber in diesem Zusammenhang auch auf eine gewisse Analogie hingewiesen werden, die zwischen der sogenannten jüdischen Selbstironie, dem jüdischen Witz, der Travestierung und Persiflierung von sozialen und politischen Zuständen also, und einer bestimmten „österreichischen" Tradition besteht, in welcher, vor allem in der literarischen Reflexion, der Witz, die Travestie, die Ironie, die Selbstpersiflage stets eine vorrangige Rolle gespielt und die sozial-politische Kultur mitbestimmt hatte. Die witzig-ironische Argumentation läßt sich beispielsweise von Alois Rlumauer über Johann Nestroy, Karl Kraus und Robert Musil bis in die Gegenwart, etwa zu Thomas Bernhard, nachweisen. Diese österreichische TVadition der Satire, der literarischen Persiflierimg, der Travestie, des sarkastischen „österreichischen" Witzes hat in der gescheiterten Aufklärung des Josephinismus, das heißt in quasi-absolutistischen, autoritären politischen Strukturen, in der „Unmöglichkeit oder Ausweglosigkeit, im gesellschaftlichen Leben handelnd oder verändernd aktiv zu werden" - wie Ulrich Greiner im „Tod des Nachsommers" ausgeführt hat ihren Ursprung.13 Unter diesen Voraussetzungen konnte sich hier ein realistischer Gesellschaftsroman zunächst nicht entwickeln, vielmehr „unternehmen einige engagierte Schriftsteller" der josephinischen Zeit, wie Leslie Bodi bemerkte, „wiederholt den Versuch, die Problematik der Reformbewegung durch allegorische und utopische Formen der Satire zu erfassen."14 Die Flucht in die Parodie und Travestie war also in einem politischen System, welches die offene politische

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Artikulation und Sozialkritik unterband, weil in ihr stets der Reim der Gefahrdung, der Infragestellung des gesamten Systems erblickt wurde, zu einem gängigen Muster des literarisch verfremdeten Protests geworden. Aber nicht nur die Literatur, zum Beispiel Alois Blumauers Travestie der Virgilschen Aeneis, sondern bereits manche Opernproduktionen des 18. Jahrhunderts, „Parodie-Operetten", wie sie damals genannt wurden, machten sich diese Form parodistischer Darstellungen eines zunächst ernsthaften Sujets zunutze. Neben manchen „kleinen Opern" Ditters von Dittersdorfs, „II Democrito cornetto" (1787), „Orpheus der Zweite" (1787) oder manche seiner mit Stephanie dem Jüngeren verfaßten Unterhaltungs„Operetten" sind hier vor allem Ferdinand Rauers „Der travestierte Telemach" (1805) oder Wenzel Müllers „Die Entführung der Prinzessin Europe" (1816) Beipiele für musikalische Travestierungen, die dann später Jacques Offenbach in seinen gesellschaftskritischen Operetten „Orpheus in der Unterwelt" (1858) oder in „Die schöne Helena" (1864) erfolgreich aufgreifen sollte. Franz von Suppé konnte an diese Wienerische beziehungsweise Offenbachsche Tradition mit seiner „Die schöne Galathea" (1865) dann nahtlos anknüpfen. Dieser österreichischen Situation entspricht zwar im jüdischen Rontext nicht die gleiche, jedoch eine analoge sozial-politische Begrenztheit, aus welcher sich der jüdische Witz herleitet: dort eine sozial-politische Struktur, der es sich, wenn man (über)leben wollte, zu fügen galt, hier die Enge des nicht zu entrinnenden Ghettos oder die Widersprüchlichkeit emanzipatorischer oder assimilatorischer Bemühungen. Im Witz wird diese widersprüchliche, ja perverse Situation, die offen zu diskutieren gefährlich sein mochte, auf eine andere Ebene des Bewußtseins erhoben und trägt dadurch zur Selbstfindung in einer beengten, unfreien, kontingenten Lage bei. In einer feinsinnigen Untersuchung über den ostjüdischen Witz hat Desanka Schwara gerade auf solche sicher allgemein gültige Zusammenhänge aufmerksam gemacht: „Das Lachen, durch das Erkennen der Funktion der Pointe aus-

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gelöst, macht den Witz zu einem sozial und psychologisch wichtigen Phänomen: er bietet Identifikationsmodelle, seine implizierte Kritik an Normen, Sitten und Institutionen gewinnt Ventilfunktion. Wesentlich ist, daß die Verfasser und Rezipienten von Witzen Form- und Sprachempfinden besitzen müssen. Die Art und der Grad der sprachlichen Manipulation bedingen auch den geistigen Anspruch eines Witzes. Neben dieser sprachlich-formellen Übereinstimmung ist auch eine psychische notwendig. Die Erzähler und Zuhörer müssen über ähnliche innere Hemmungen verfügen, die durch Witzarbeit überwunden werden können. Über die gleichen Witze zu lachen ist ein Beweis weitgehender psychischer Übereinstimmung. Jeder Witz verlangt so sein eigenes Publikum . . . Humor war eine Möglichkeit, mit Auseinandersetzungen, Uneinigkeiten und Mißstimmungen gewaltfrei umzugehen." 15

Identitätsstiftende Funktion des Witzes E. L. Oring weist der Tatsache, daß Sigmund Freud vor allem aggressiv-abfällige Witze über Ost-Juden zum Gegenstand seiner Untersuchung gemacht hat, eine für Freud selbst identitätsstiftende Funktion zu.16 Tatsächlich begegnet man im jüdischen Humor immer wieder ironischen Selbstreflexionen über die eigene jüdische Existenz, so daß, wie der Soziologe Alphons Silbermann meinte, „man versucht ist anzunehmen, sie stammten aus antisemitischer Feder." In Wirklichkeit war diese Selbstironie ein nicht unwichtiger Bestandteil der eigenen Identitätsfindung: „Aus dieser Selbstironie spricht in den meisten Fällen eine defensive Unentbehrlichkeit: Gelacht wird über dasjenige, mit dem man assoziiert wird, zu dem man gehört und das man am meisten liebt."17 Peter Gay bezieht solche autoreflexiven Witze jedoch auch auf die typische „pluralistische" Situation der Habsburgermonarchie, in welcher man sich ständig mit Fremdem konfrontiert sah, sich seiner eigenen Identität anscheinend

Identitätsstiftende Funktion des Witzes

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unsicher war, diese Unsicherheit jedoch in aggressiv-witziger Art auf den Anderen, auf den Fremden übertrug. „Orings Analyse übersieht den Anteil der Kultur - der deutsch-österreichischen Kultur - an Freuds Sinn für Humor. Der Kulturhistoriker weiß, daß diese Kultur von solchen bösen Geschichten durchdrungen war - von harten, grausamen Geschichten über Polen und Iren, Bayern und Saupreußen. Freud lebte mit Menschen, die meisten von ihnen assimilierte Juden, die vollkommen bereit waren, die gemeinsten Witze gegen andere Völker wie gegen ihr eigenes loszulassen. Jüdische Verleger und jüdische Komiker hatten die Lacher auf ihrer Seite, wenn sie sich über häßliche jüdische Parvenus lustig machten. Ihre Witze und Satiren waren nichts weniger als geschmacklos, aber es war nichts Besonderes an ihnen. Im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert, vor Hitler, erschienen solche Witze amüsant und ziemlich harmlos. Es wäre höchst unhistorisch, ihnen das Gewicht zu verleihen, das sie während und nach den Nazijahren erhalten haben." 18 Angesichts dieser Feststellung mag es um so mehr auffallen, daß, zwar nur vereinzelt, die Operette der Jahrhundertwende den Gegenstand von allgemeiner Belustigung und selbstverständlichem Witz, nämlich den „armen" (Ost-)Juden, zuweilen ins Positive kehrt: Der Jude wird auch für nichtjüdische Mitbürger zum Vorbild, wie zum Beispiel Wolf Bär Pfefferkorn im „Rastelbinder" (1902) von Franz Lehár und Victor Léon. Man sollte sich hier vor Augen halten, daß dies gerade zu einer Zeit geschehen konnte, als der Antisemitismus der Christlichsozialen unter Karl Lueger seine Hochblüte erlebte. Und die mittleren Urbanen Bevölkerungsschichten, die Rezipienten der Operette, waren zu einem überwiegenden Teil Anhänger Luegers! Ebenso ist bedenkenswert, daß die Verteidigung des Wolf Bär Pfefferkorn Victor Léon, ein jüdischer Librettist, unternimmt, wo doch - man beachte nur die Ausfälle von Karl Kraus gegen die „jüdischen Schmocks" - vermutlich eher eine witzige Persiflage des armen Dorfjuden zu erwarten gewesen wäre.

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Sigmund Freuds Theorie des Witzes vermag in der Tat Funktion und Erfolg des Operetten-Witzes zu erklären, sie vermag auch zu seiner tieferen Deutung im sozial-politischen Gefüge der Jahre um 1900, des ethnisch-kulturell pluralistisch besetzten Wiener Urbanen Milieus, beizutragen: „Man darf auch daran gemahnen", meint daher Freud, „welch eigentümlichen, geradezu faszinierenden Reiz der Witz in unserer Gesellschaft äußert. Ein neuer Witz wirkt fast wie ein Ereignis von allgemeinstem Interesse, er wird wie die neueste Siegesnachricht von dem einen dem anderen zugetragen." 19 Unter der von Freud vorgenommenen Einteilung in den obszönen, den aggressiven, den zynischen und den skeptischen Witz20 scheint in unserem Zusammenhang vor allem ein Blick auf die ersten beiden von Interesse. Freud bezeichnet alle vier Arten als „tendenziöse" Witze, weil ihnen die Tendenz, den „Dritten", d. h. den Zuhörer, zum Lachen zu bewegen, innewohnt, denn es sei ausgemacht, daß nicht, „wer den Witz macht, ihn auch belacht, also dessen Lustwirkung genießt, sondern der untätige Zuhörer". 21

Obszöner und zynischer Witz Der obszöne Witz hat „Verdrängungen" zum Gegenstand, die aus dem Sexualbereich gewählt sind: „Wir gestehen der Kultur und höheren Erziehung einen großen Einfluß auf die Ausbildung der Verdrängung zu und nehmen an, daß unter diesen Bedingungen eine Veränderung der psychischen Organisation zustande kommt, die auch als ererbte Anlage mitgebracht werden kann, derzufolge sonst angenehm Empfundenes nun als unannehmbar erscheint und mit allen psychischen Kräften abgelehnt wird. Durch die Verdrängungsarbeit der Kultur gehen primäre, jetzt aber von der Zensur in uns verworfene Genußmöglichkeiten verloren. Der Psyche des Menschen wird aber alles Verzichten so sehr schwer, und so finden wir, daß der tendenziöse Witz ein Mittel abgibt, den Verzicht rückgängig zu machen, das Verlorene wiederzuge-

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Winnen. Wenn wir über einen feinen obszönen Witz lachen, so lachen wir über das nämliche, was den Bauer bei einer groben Zote lachen macht; die Lust stammt in beiden Fällen aus der nämlichen Quelle; über die grobe Zote zu lachen, brächten wir aber nicht zustande, wir würden uns schämen, oder sie erschiene uns ekelhaft; wir können erst lachen, wenn uns der Witz seine Hilfe geliehen hat."22 Der obszöne, in den zynischen Witz gekehrt, insinuiert bei einer dritten, der zuhörend lachenden Person, die Absicht, sich über die bestehenden Verhaltensnormen im Bereich des Sexuellen, welche Unterdrückung und Verdrängimg erzeugen, einfach hinwegzusetzen, um zu jenem Genuß zu gelangen, der ja nicht in der Gegenwart und auch nicht in der Zukunft - etwa im Alter, nach dem Tode - erreicht werden kann: „Unter den Institutionen, die der zynische Witz anzugreifen pflegt, ist keine wichtiger, eindringlicher durch Moralvorschriften geschützt, aber dennoch zum Angriff einladender als das Institut der Ehe, dem also auch die meisten zynischen Witze gelten. Rein Anspruch ist ja persönlicher als der auf sexuelle Freiheit, und nirgends hat die Kultur eine stärkere Unterdrückung zu üben versucht als auf dem Gebiete der Sexualität."25 Die Persiflage, die Travestie, die Verspottung der bürgerlichen Ehe in der „Lustigen Witwe", aber auch die zumindest verhalten ausgesprochene oder offen ersehnte sexuelle Freiheit in anderen Operetten („Fledermaus", „Zigeunerbaron", „Walzertraum" u. a.), ist gewiß ein Ausfluß jener Antinormativität der Moderne, welche die veralteten bürgerlichen Verhaltensmuster, die nach dem Niedergang einer religiösen Begründung von Wertvorstellungen nun, in der Zeit des Historismus, historisch, untermauert werden, zurückweist; sie wird aber mit einer Methode zurückgewiesen, die dem Bereich des Witzes angehört und insofern auf allgemein menschlichen Dimensionen gründet. Sowohl das Sich-zur-Wehr-Setzen gegen die Ehe bei Danilo und Hanna in der „Lustigen Witwe", der „Vorwurf" einer freien, offenen Beziehung, vergleichbar der „Politik der offenen Türen", oder das

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Plädoyer für die „Pariser Offenheit" - später heißt es dann: „Sie geht links, er geht rechts" („Der Graf von Luxemburg", 1909) - als auch die Flucht Danilos aus einem bürokratisch reglementierten Diplomatenalltag, welcher - mit Freud gesprochen - Sexualität verdrängt und ins Kulturelle sublimiert, zu den Mädchen des Maxim, sind Ausdruck des „zynischen" Witzes, der gegen die Aggression einer bürgerlichen Welt gerichtet ist. Ähnliches gilt für die Verspottung des Bildes einer „bürgerlichen" Ehe, der „trauten Häuslichkeit" im Duett St. Brioche-Valencienne. Ganz wesentlich erscheint auch der von Freud betonte Effekt des Witzes, nämlich Hemmungen zu entspannen und Lust zu bewirken. Diese durch den Operettenwitz erzeugte Lust betrifft jedoch nicht die Realität der eigentlichen Lebenswelt, sondern findet in der verdunkelten Atmosphäre des Theaters statt, und sie äußert sich im entspannten Lachen des Dritten, nämlich des Zuhörers, des Rezipienten der Operetten. Wie ja der psychische Vorgang des Witzes sich vollzieht „zwischen der ersten, dem Ich [dem Erzählenden] und der dritten, der fremden Person, nicht wie beim Romischen zwischen dem Ich und der Objektperson"24, auf welchen sich der Inhalt des Witzes bezieht. Daher meint Freud weiter: „Es leuchtet nun ein, daß die Technik des Witzes überhaupt von zweierlei Tendenzen bestimmt wird, solchen welche die Bildung des Witzes bei der ersten Person ermöglichen, und anderen, welche dem Witz eine möglichst große Lustwirkimg bei der dritten Person gewährleisten sollen. Die j anusartige Doppelgesichtigkeit des Witzes, welche dessen ursprünglichen Lustgewinn gegen die Anfechtimg der kritischen Vernünftigkeit sicherstellt, und der Verlustmechanismus gehören der ersteren Tendenz an; die weitere Komplikation der Technik durch die in diesem Abschnitt ausgeführten Bedingungen ergibt sich aus der Rücksicht auf die dritte Person des Witzes. Der Witz ist so ein an sich doppelzüngiger Schelm, der gleichzeitig zweien Herren dient."25 Der große Erfolg der Wiener Operette bei ihren Zeitge-

Anmerkungen

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nossen läßt sich gewiß nicht zuletzt auch auf die Bedeutung und die Funktion ihrer Witze zurückführen. Sie boten dem Publikum einen Fluchtweg an aus den Unterdrückungen einer politischen und spießigen, bürgerlichen Enge, die im Alltag vorherrschte. Sie machten es möglich, sich jener sozial-politischen Schranken zu entledigen, die die bürgerliche Welt im Aufbau eines gesellschaftlichen und politischen Verhaltenskodex sich sogar selbst gesetzt hatte. Und sie eröffneten zumindest ein Vorgefühl der Lust an jener utopisch ersehnten, unbegrenzten Freiheit, von der die bürgerlichen Zuschauer hier, vielleicht gerade hier, im Zuschauerraum des Theaters, nur zu träumen wagten.

1 Johann Strauß, Die Fledermaus. Operette in drei Aufzügen. Text nach H. Meilhac und L. Halévy, von C. HaffnerxmA Richard Genée, hg. und eingeleitet von Wilhelm Zentner, Stuttgart 1981, 19 (1. Aufzug, 6. Auftritt). 2 Hermann Bahr, Tagebücher, Skizzenbücher, Notizhefte Bd. 2 a. a. O. 162 [1894-97: Skizzenbuch 2]. 3 Volker Klotz, Bürgerliches Lachtheater. Komödie, Possen, Schwank, Operette, München 1980 (= dtv 4357). 4 So in Adolf Bäuerles „Die Bürger von Wien" (1813), wo eine Kongestion mit der Revolution verglichen wird. Vgl. V. Klotz, Bürgerliches Lachtheater a. a. O. 34. 5 Volker Klotz, Bürgerliches Lachtheater a. a. 0 . 1 1 . 6 Ebd. 186. 7 Ebd. 187. 8 Vgl. dazu auch die Ausführungen von Martin Lichtfuss, in: Operette im Ausverkauf. Studien zum Libretto des musikalischen Unterhaltungstheaters im Österreich der Zwischenkriegszeit, Wien - Köln 1989, 96 ff. 9 Sigmund Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Einleitung von Peter Gay, Frankfurt/M. 1992 (= Fischer tb 10439). 10 Norbert Linke, Johann Strauß (Sohn) mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek b. Hamburg 1982, 146. 11 Moritz Gottlieb Saphir, Ausgewählte Schriften Bd. 7, Brünn Wien 4. Aufl. 1870,58-64 (Lebende Bilder aus meiner Selbst-Biographie), Zitate 59, 61. 12 Kurt Graff, Die jüdische Tradition und das Konzept des autonomen Lernens, Weinheim - Basel 1980.

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13 Ulrich Greiner, Der Tod des Nachsommers. Aufsätze, Porträts, Kritiken zur österreichischen Gegenwartsliteratur, München Wien 1979,14 f. 14 Leslie Bodi, Tauwetter in Wien a. a. 0. 521. 15 Desanka Schwara, Kalkulierte Weltfremdheit Der ostjüdische Witz und seine sozialen Hintergründe, in: Neue Zürcher Zeitung, Freitag, 2. September 1994 (Nr. 203) 38. 16 E. L. Oring, The Jokes of Sigmund Freud: A Study in Humor and Jewish Identity, Philadelphia 1984, 44, 51. - Vgl. S. Freud, Der Witz a. a. 0 . 1 5 (Einleitung von P. Gay). 17 Alphons Silbermann, Was ist jüdischer Geist? Zur Identität der Juden, Zürich 1984, 61. 18 Sigmund Freud, Der Witz a. a. O. 15 (Einleitung P. Gay). 19 Ebd. 32. 20 Ebd. 129 f. 21 Ebd. 114 22 Ebd. 115-116. 23 Ebd. 125. 24 Ebd. 157. 25 Ebd. 168.

Kapitel S.-

Wiener Operette und Moderne Populäres Vehikel der Moderae? Die Wiener Operette der Jahre um 1900 war aber nicht nur sozial-kritisch und politisch in dem soeben angedeuteten Sinne. Ihre sozial-kulturelle Relevanz erwies sich vor allem darin, daß sie bisweilen zu einem populären Vehikel der Inhalte der Wiener Moderne geworden war, wodurch sie ihrerseits zu belegen schien, daß zwischen einem Kunstprodukt und ihrem gesellschaftlichen Umfeld ein enger Zusammenhang besteht und daß im konkreten die Trägerschicht dieser Moderne keineswegs nur auf einen exklusiven, ästhetisierenden Zirkel weniger Personen eingeschränkt werden darf. Die Bedachtnahme auf das sozio-kulturelle Netzwerk, in und aus welchem ein intellektuelles oder künstlerisches Produkt entsteht, gehört heute ebenso zum selbstverständlichen methodischen Rüstzeug jeder kulturhistorischen Rekonstruktion wie die Einsicht, daß Produktion und Rezeption sich zwar nicht monokausal bedingen, jedoch funktional zusammengehören und voneinander nicht streng getrennt werden können. 1 Schon die Zeitgenossen der späten StraußOperetten registrierten seit den ausgehenden achtziger Jahren ein gewisses Auf-der-Stelle-Treten, eine Stagnation, nicht nur was die Produktion innovativer Werke betraf, sondern auch hinsichtlich der Beurteilung durch das Publikum. Die große Operette schien seit den späten achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts allmählich ausgedient zu haben. Selbst Johann Strauß war nach dem „Zigeunerbaron" (1885), gemessen an seinen früheren großen Operetten, kein wirklich durchschlagender Erfolg mehr beschieden gewesen. Ob dies, wie bereits angedeutet, unter anderem damit in Zusammenhang gebracht werden muß, daß die Kompositions- und Instrumentationswerkstätte Strauß - Genée zerbrochen war, oder daß sich dieses typische Genre Operette, dem min-

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dere Textbücher zugrunde lagen, welche die Dramaturgie der Stücke gefährdeten, von einer nachrückenden Generation einfach nicht mehr goutiert wurde, mag dahingestellt bleiben. Wahrscheinlich war es auch der von Eduard Hanslick bemängelte opernhafte musikalische Stil mancher späten Strauß-Operetten, der nicht nur die traditionellen Erwartungen des Publikums nicht zu befriedigen vermochte, sondern der Bühnenrealisierung zusätzliche Schwierigkeiten bereitete. Anscheinend dürften hier mehrere Komponenten zusammengekommen sein, die zu dieser Krise der Operette beigetragen haben. Unter anderem auch der von dem Wiener Schriftsteller und Feuilletonisten Theodor Antropp geltend gemachte Rückhalt der Wiener Operette im Volksstück, im Lustspiel, der nun verlorengegangen war: „Der Wandel der Operette zum Hochstaplerischen, der sich im „Zigeunerbaron" ankündigte, nahm gar bald ungeheuerliche Dimensionen an. Historische Staatsaktionen traten an die Stelle der scherzhaften Götter- und Gesellschaftssatire, Witz und Laune erstickten in dem Bestreben nach neuen Kostümen und neuen ethnographischen Bildern, und der Rest war ein Wetteifern mit der großen Oper, ein ehrgeiziges Aufbauen von pomphaften Ensemblesätzen, die nicht genug Blech und Pauken in Bewegimg setzen konnten." Erst mit der „Lustigen Witwe" schien sich eine Rückbesinnung auf populare Traditionen anzudeuten: „Was nun war der positive Gewinn, den uns die „Lustige Witwe" gebracht hat? Es gab wohl auch in ihr noch Einlagen, aber man sah nach langer Zeit zum ersten Male wieder eine Handlung lustspielmäßig durchgeführt und in der Musik Lehárs tat sich das Bestreben kund, den schlichten Liebeshandel psychologisch zu vertiefen. Das bißchen Sentimentalität, das dabei mitlief, ließ man sich um jener Vorzüge willen ohne Widerspruch gefallen."2 Geht man also davon aus, daß für ein künstlerisches Produkt unter anderem auch der gesellschaftliche Kontext von Wichtigkeit ist, dann dürfte dabei, wie bereits erwähnt, die Veränderimg der mittleren und höheren Urbanen Schichten eine nicht unmaßgebliche Rolle ge-

Populäres Vehikel der Moderne?

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spielt haben: Durch die umfassenden Eingemeindungen der Vororte von Wien und von Budapest wurde das soziale Gefüge dieser Städte wesentlich beeinflußt bzw. verändert. Mit dieser räumlich-gesellschaftlichen Ausweitimg ging auch ein Mentalitätswandel einher, was soviel bedeutete, daß die Operette als Unterhaltungstheater dieser veränderten sozialen Situation, das heißt den veränderten Rezipientenschichten, Rechnung tragen mußte, sollte sie weiterhin oder aufs neue Erfolg haben. Dazu kam, wie bereits angedeutet, eine neue Generation, die nicht mehr großbürgerlich dachte, sondern sich von der Elterngeneration und deren bürgerlichem Ehrenkodex bewußt abzusetzen versuchte. Tatsache ist jedenfalls, daß nun, unmittelbar nach der Jahrhundertwende, eine neue Operette im Entstehen war, die sich Themen zu eigen machte und Inhalte behandelte, welche von dieser neuen Generation verstanden und als ihre eigenen empfunden wurden; sie versetzte ihre Sujets in ein Milieu, das zeitkonform, das heißt eben „modern" war. Ein erster Höhepunkt dieses neuen Operettentyps, der nicht mehr Vergangenes zum Gegenstand hatte, war zweifelsohne die „Lustige Witwe" (1905), und ein kurz danach komponierter Einakter Lehárs hatte das Epitheton „modern" sogar als Signal seinem Titel integriert: „Mitislaw der Moderne" (1907). Heinrich Eduard Jacob identifizierte in seiner Monographie über Johann Strauß den modernen Operettentypus mit drei Komponistennamen: mit Franz Lehár, Oscar Straus und Leo Fall, wobei Lehár mit der „Lustigen Witwe" der eigentliche Durchbruch gelungen wäre: „Warum langweilte sich niemand? Es waren wirkliche Menschen, die sangen; es war eine Angelegenheit frohen, zeitgerechten Lebensgefiihls. Die Musik hatte Leichtigkeit, Klarheit, zugleich versetzte sie eine Reihe betäubender, kleiner, elektrischer Schläge. Sie war gesund und etwas schwül. ,Fledermaus 1906'".3 Nun wurden also, wenn auch literarisch verfremdet, soziale und politische Inhalte der eigenen Gegenwart angesprochen. Zum Beispiel wurde das Geschlechterverhältnis nicht mehr bloß „bürgerlich" verklärt oder ver-

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steckt thematisiert, sondern wie es die moderne, „rebellierende Jugend" verstand, offen diskutiert, das heißt die offene Darstellung der Erotik begann in der neuen Operette eine zunehmend wichtige Rolle einzunehmen. Lou Andreas-Salomé machte gerade auf diese Verbindung zwischen Erotik und Intellektualität im Wien der Jahrhundertwende aufmerksam und sah darin einen wesentlichen Unterschied zu Berlin oder anderen Zentren der europäischen Moderne: „Wenn ich die Wiener Atmosphäre im Vergleich zu der anderer Großstädte schildern sollte, so erschien sie mir damals am meisten gekennzeichnet durch ein Zusammengehen von geistigem und erotischem Leben: was anderwärts etwa als Lebemannstypus sich vom Berufs- und Geistesmenschen scheidet, das fand hier eine Anmut, die das ,süße Mädel', sogar das bloß süße Mädel, in erhöhte Erotik hineinschob und wiederum sogar die ernsteste Drangabe an Geistesberuf und Berufung noch in ein Verhalten löste, das dem nur zweckbezogenen Ehrgeiz etwas von seiner Schärfe nahm." 4 Die Operette vermittelte nun auch jenes vibrierende, nervöse Lebensgefühl, das sich, wie Andreas-Salomé meinte, einer jüngeren Generation um die Jahrhundertwende bemächtigt hatte: „Die Nordseebäder, die Riviera, Holland, Schweden, das Mittelmeer: das alles, als lauschendes Vorzimmer, hört in die ,Lustige Witwe' hinein. Musik der ersten Vormittagsstunden, taufrisch, unter den Parfümen moderner Instrumentation weht ein bäuerlicher Geruch. Erste Sonnenstrahlen und Baumgrün vermischen sich mit den Klangmassen; es ist eine Promenadenmusik, die die Konversation nicht stört, weil sie selber Konversation macht, Menschen kommen in Tennisjacken auf eine Terrasse, lesen Zeitung, legen das Rackett auf einen Stuhl, frühstücken, sind einen Augenblick müde, werden munter durch einen Wind oder durch eine Lindenblüte, die lautlos in die Teetasse fiel. Zu diesen Selbstverständlichkeiten gehört der Klang der ,Lustigen Witwe'."5 Aber schließlich war der eigentliche Topos dieser vibrierenden Erotik, dieser Dekonzentriertheit, dieser Nervosität, dieses „transitoire" Paris, die sogenannte „Pariser

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Offenheit". Was in der „Fledermaus (1874) die Kammerzofe Adele nur anzudeuten wagte, wurde in Richard Heubergers „Der Opernball" (1898), dessen Textbuch vom selben Victor Léon stammte, der für Lehárs erfolgreiche neue Operetten mitverantwortlich zeichnete, bereits unverblümt ausgesprochen. Paris wurde zu einem Topos für erotische Freiheit, für das „süße tête-à-tête" im „chambre séparée", Paris wurde zur Metapher für die nun schon offen artikulierten Sehnsüchte einer neuen Generation. Nach dem Motto „Man lebt nur einmal in der Welt, je toller, je lieber: und chic zu leben mir gefällt, da geht nichts darüber" erschließen sich dem Besucher des „Opernball" die ein wenig später von Hofmannsthal im „Rosenkavalier" ins 18. Jahrhundert verfremdeten Freiheiten von Paris, denen die bürgerliche Moral enge Fesseln angelegt hatte. „Paris", heißt es da, „ist eine Götterstadt, und mir geht's ganz brillant! So lang' ich leb', fand ich noch nie das Leben so amüsant!" 6

Moderne und sexuelle Freiheit Wie ist es zu dieser Neubewertung von Erotik gekommen? Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts hatte sich die Auffassung vom Verhältnis der Geschlechter zueinander und von der bürgerlichen Ehe, die nach traditionellen Verhaltensnormen geregelt war und die dem verheirateten Manne zwar außereheliche sexuelle Beziehungen zugestand, die Frau jedoch in das Korsett der passiven Untertänigkeit unter ihren Ehemann zwang, zu verändern begonnen. Während bis dahin bloß dem Mann das Recht auf sexuelle Befriedigimg zugestanden worden war, er auch als Unverheirateter ohne weiteres eine „élève" haben konnte und das Aushalten einer Konkubine oder „Grisette" während der Ehe, zumindest in Großstädten wie Paris, zur geduldeten Alltagserfahrung auch des familiären Beisammenseins gehörte, setzte sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die Erkenntnis durch, daß auch die Frau sexuelle Bedürfnisse hätte, deren Erfüllung

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sie vom Mann einzufordern berechtigt wäre. Auch wenn man dies noch nicht offiziell zugeben wollte, so wurde doch nicht nur der ledigen, sondern zunehmend auch der verheirateten Frau stilschweigend zugebilligt, nach eigenem Belieben, das heißt autonom „Verhältnisse" einzugehen - womöglich mit einem verheirateten Manne, weil dies weniger auffiel -, die unter dem Deckmantel von Badeaufenthalten, von längeren Beisen, von Kaufhausoder Kaffeehausbesuchen zustandegekommen waren. Dadurch wurden die rigorosen sexuellen Moralvorschriften des bourgeoisen 19. Jahrhunderts im Prinzip nicht in Frage gestellt, es wurden aber in gewissen Kreisen zunehmend Freiheiten geduldet, gegen die man in der Öffentlichkeit zu Felde ziehen konnte, oder besser gesagt, die man unterdrückte, verheimlichte oder über die man „hinwegsah", wie Stefan Zweig in seinem Essay über Sigmund Freud ausführte: „Im strengen Sinn kann man also sagen: die Sittlichkeit des neunzehnten Jahrhunderts geht an das eigentliche Problem gar nicht heran. Sie weicht ihm aus und beschränkt ihren ganzen Kraftaufwand auf dieses Darüberhinwegsehn." Diese doppelbödige Moral, die nur im Geheimen duldete, was in der Öffentlichkeit nicht sein durfte, inkludierte einen Verdrängungsprozeß, der zu Ende des 19. Jahrhunderts vor allem bei der Generation der Jungen immer größeres Unbehagen auslöste. Nicht Freud allein ist die Enttabuisierung der Sexualität zu verdanken, Freud könnte vielmehr bloß als der Exponent eines allgemeinen Gesinnungswandels angesehen werden. Nur gelang es Freud bewußt zu machen, was ein Teil der jungen Generation dachte und was zunehmend auch in der Öffentlichkeit, in der Literatur, im Theater und nicht zuletzt in der Operette seinen Ausdruck fand. Schon damals begann man also deutlich zu fühlen, was Zweig drei Jahrzehnte später schon offen aussprach: „Ein Jahrhundert lang wird innerhalb Europas die sexuelle Frage unter Quarantäne gesetzt. Sie wird weder verneint noch bejaht, weder aufgeworfen noch gelöst, sondern ganz im stillen hinter eine spanische Wand geschoben. Eine ungeheure Armee von Wächtern,

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uniformiert als Lehrer, Erzieher, Pastoren, Zensoren und Gouvernanten, wird aufgestellt, um eine Jugend von ihrer Unbefangenheit und Körperfreude abzuzäunen." 7 Unter solchen Voraussetzungen erschien es also vor allem der Jugend gerechter und aufrichtiger, „offene", freie Verhältnisse, „Ehen auf Probe" einzugehen, statt sich durch einen oft nur von den Eltern arrangierten Ehevertrag vorschnell zu binden, um dann heimlich all das zu tun, was sowohl diesem Vertrag als auch dem überkommenen bürgerlichen Moralkodex widersprechen mußte. Freilich, im Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts war all dies kein Tabuthema mehr. In Frankreich war zu der Zeit die Ehescheidung bereits gesetzlich geregelt, und dadurch war eine wahrnehmbare Mobilität in die Beziehung von Mann und Frau eingetreten; freie Formen des Zusammenlebens erregten nicht mehr ein solches Aufsehen wie früher. 8 In der Donaumonarchie jedoch war die in Frankreich und in anderen westlichen Staaten bereits gesetzlich anerkannte Ehescheidung und Wiederverheiratung im allgemeinen nicht möglich. Es gab einzig die Möglichkeit der legalen „Trennung von Tisch und Bett" oder die Flucht in die sogenannte „ungarische Ehe". Um sich scheiden zu lassen und legal wiederverheiraten zu können, konnte man, was freilich umständlich genug war, die ungarische Staatsbürgerschaft annehmen. Dort war nämlich 1894/95 die volle Trennung von Kirche und Staat durchgeführt worden, was zur Folge hatte, daß nicht mehr die kirchlich geschlossene, sondern allein die staatliche Zivilehe Gültigkeit hatte, und diese konnte wiederholte Male eingegangen bzw. geschieden werden. Ein Plädoyer für die „Pariser Offenheit", für Ungebundenheit und gegen eine Ehe, die nicht mehr getrennt werden konnte und insofern gleichsam in einem doppelten Sinne der Freiheitsauffassimg mancher jungen Modernen widersprach, hatte also, mit Ausnahme Ungarns, in der Monarchie und in Wien eine ganz andere Konnotation als vergleichsweise zur selben Zeit in Paris oder in Frankreich.

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Fragmentiertheit und Nervosität Nach dem „Opernball" wurde dann in der „Lustigen Witwe" für diese neue Einstellung der Ehe und Sexualität gegenüber, für diese „Offenheit" bereits ganz ungeschminkt geworben. Die „Lustige Witwe" traf damit tatsächlich die Mentalität der Jugend, das heißt der Repräsentanten der Moderne, auch jener in Wien. Freilich entsprach diese Offenheit in der Geschlechterbeziehung letztlich auch der Fragmentiertheit und Nervosität, die ganz allgemein für die Moderne kennzeichnend wurde und die sich im besonderen in den zwischenmenschlichen Beziehungen manifestierte. Man wollte in jeder Weise „offen", ungebunden sein und bleiben, um inmitten der vielfachen Ausrichtungen und belastenden Beanspruchungen existieren zu können. Wie sehr diese Mentalität mit einer weit über Wien hinausreichenden Lebenseinstellung übereinstimmte, mag mit dem Hinweis auf den Ungarn Endre Ady verdeutlicht werden. 1903 hielt der ungarische Schriftsteller Ady anläßlich einer Italienfahrt die ruhige Beschaulichkeit Venedigs nicht mehr aus und floh aus dem Café Floriani in das Pester Café Royal. „Es ist dies die Krankheit des modernen nervösen Menschen", notierte Ady, „ und wer weiß von sich selber, daß er krank ist. Er braucht nur das fiebrige, nervöse Leben. Dies ist sein Credo. Und obwohl ihm bewußt ist, daß ein kleines schweizerisches Nest wahrhaftiger und menschlicher ist als Paris, sehnt sich das moderne Leben nach Paris . . . Wir verspüren die Krankheiten des modernen Lebens, können aber ohne diese Krankheiten nicht mehr leben".9 Diese subjektiv empfundene und wahrgenommene vibrierende Nervosität betonte und unterstrich auf ihre Art auch die Musik der Operetten, etwa durch den raschen Wechsel zwischen traditionellen und modernen Tänzen - in die ungarische Variante der Wiener Operette hält zu dieser Zeit bereits der amerikanische Einfluß mit seinen gegensätzlichen Tanzabfolgen Einzug - und man empfand, wie einer Rezension der Uraufführung der „Lustigen Witwe" zu ent-

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nehmen ist, die „schwebende Tonalität", den raschen Dur-Moll-Wechsel der Lehárschen musikalischen Ausdrucksformen, das „Slawische" seiner Musik, wie man meinte, als unerwartet, als neuartig, als modern. Kann aber die Wiener oder mitteleuropäische Moderne ausschließlich in dieser Dekonzentriertheit, in der Vibration von Nerven in einer allgemeinen Empfindung von Fragmentiertheit begriffen werden, die sich auf der ästhetischen Ebene, in der Malerei, in der Architektur, in der Dichtung und in der Musik spiegelte? Die subjektive Wahrnehmung vermochte die gesellschaftlichen Veränderungen der Jahre um 1900 und ihre Auswirkungen auf die alltägliche Lebenswelt im Urbanen Milieu Wiens gewiß mit diesen Metaphern zu umschreiben und ihrer künstlerische Reflexion zu integrieren. Vor mehr als einer Generation war im Paris Charles Baudelaires und Théophile Gautiers für dieses Lebensgefühl die Bezeichnung „décadence" aufgekommen, eine Bezeichnung, mit der sich um 1890 auch die frühen Wiener Symbolisten und Antinaturalisten zu schmücken wußten. Man meinte, die eigene Zeit am besten mit der Zeit des verfallenden und untergehenden Römischen Reichs vergleichen zu können, und identifizierte sich mit der Kunst und vor allem mit der Literatur dieser Epoche, in der die alte Ordnung aufzubrechen und jeder künstlerische Stil einer „Verflüssigung" anheimgefallen zu sein schien. Gautier bezeichnete daher seinen und den Stil seiner Zeitgenossen als jenen, „der die Grenzen der Sprache immer weiter hinausrückt, der bei allen Fachwörterbüchern Anleihen macht, der von allen Paletten Farben und von allen Tastwerken Töne nimmt, der sich anstrengt, das Unaussprechlichste des Gedankens und die unbestimmtesten und fliehendsten Umrisse der Form wiederzugeben" und der versuchte, „alles darzustellen, und das bis zur äußersten Übertreibung". Paul Bourget diagnostizierte dann 1883 in seinem „Essay de psychologie contemporaine" die Dekadenz bereits als „den Zustand einer Gesellschaft, die eine zu große Anzahl von Individuen hervorbringt, welche zu den Arbeiten des gewöhnlichen Lebens ungeeig-

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net i s t . . . und die Anarchie, die dann eintritt, stellt die Dekadenz der Gesamtheit dar".10 Die Repräsentanten der literarischen Moderne in Wien beriefen sich gewiß auf ihre französischen Vorbilder und versuchten diese nachzuahmen. Doch genügt der vor allem durch Hermann Bahr vermittelte Bezug auf die zeitgenössischen französischen Symbolisten nicht, um den gesamten sozial-intellektuellen Rontext der Wiener Moderne zu erklären. Denn die Wiener Moderne repräsentierte vielmehr einen gesellschaftlichen und intellektuellen Habitus, der sich sowohl auf gesamteuropäische als auch auf typische regionale Konditionen zurückführen ließ.

Moderne und Differenzierung der Gesellschaft Die Wiener Moderne kann somit weder in bezug auf ihre spezifischen inhaltlichen Ausformungen noch hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen und intellektuellen Rahmenbedingungen umfassend erklärt werden, wenn man sie nicht in einen umfassenderen, gesamteuropäischen Zusammenhang zu versetzen versucht. Dieser gesamteuropäische Zusammenhang betraf zum einen die einschneidenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationen des 19. Jahrhunderts, besser bekannt unter dem Stichwort Modernisierung, zum anderen jene diachronen und synchronen Anleihen und Rezeptionen, die den Diskurs in Wien - und in Zentraleuropa - um 1900 ganz wesentlich beeinflußt haben. Der Prozeß der Modernisierung, das heißt die Innovation in der Wirtschaft (Industrialisierung), die Einführimg neuer Technologien und deren rasche, akzelerierte Entwicklung veränderten bzw. verbesserten nicht nur die alltäglichen Lebensbedingungen der Menschen des 19. Jahrhunderts, sie hatten auch eine akzelerierte Differenzierung der Gesellschaft zur Folge, deren positive Ronsequenzen, wenn man so will, die Überwindung ihrer feudalen, traditionalen Strukturen waren, deren negative, krisenhafte Auswirkungen jedoch die Zerstörung alter Formen von Gemein-

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schaft, Landflucht, Verelendung großer Teile der Bevölkerung (Arbeiterschaft) und das Symptom der Entfremdung zwischen dem Produktionsprozeß und dem Produzenten darstellten. Einer der aufmerksamsten zeitgenössischen Beobachter und Kritiker dieses Prozesses war Karl Marx, und der französische Soziologe Emile Durkheim wies später auf die anomischen Effekte dieser Arbeitsteilung hin. Dem Fortschrittsoptimismus der Aufklärung wurde damit ein Riegel vorgeschoben, und es machte sich neben der Wissenschaftsgläubigkeit bereits ein zunehmender Skeptizismus breit. „Das Grauen der gegenwärtigen Epoche ist kein Ausnahmezustand gegen die Norm des Fortschritts", sollte Theodor W. Adorno Jahrzehnte später diese ambivalente Situation umschreiben, „sondern selber die Regel. Ihr hat der Fortschritt bis heute gehorcht, und sie selber zehrt vom Fortschritt".11 Diese kritische Aussage ist um so bemerkenswerter, als zu gleicher Zeit der amerikanische Soziologe Talcott Parsons noch an eine Selbstregulierung der Gesellschaft innerhalb des Prozesses der Modernisierung glaubte. Die Differenzierung der Gesellschaft vollzog sich aber nicht nur analog zur Vervielfältigung von Produktionsweisen, sie vollzog sich auch aufgrund eines sich beschleunigt vermehrenden Warenangebotes, worunter ich nicht allein die materiellen Produkte verstehe, die vermehrt erzeugt wurden und erworben werden konnten, sondern ebenso das Angebot an neuen Transport- und Informationsmitteln (Telegraph, Telephon, Radio), welche die Zunahme von Mobilität förderten und ein vermehrtes Angebot an kulturellen Produkten begünstigte. Wie der Soziologe Georg Simmel in seiner „Philosophie des Geldes" 1900 ausführte, wurde Geld nun einerseits zum Repräsentativ von Ware; Ware wurde in Geld meßbar, und man konnte um Geld alles erwerben. Andererseits bewirkte die Tatsache, daß um Geld alles erworben werden konnte, eine beschleunigte Verunsicherung bei Wahlentscheidungen und entsprechend der Vielfalt des Angebotes eine Differenzierung des Interesses. 12 Damit sollte angedeutet werden, daß die gesellschaftliche Diffe-

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renzierung auch in eine Differenziertheit und Fragmentiertheit des kollektiven und individuellen Bewußtseins mündete und zu einer Krise von kollektiven und individuellen Identitäten führte. Man lebte in einer Situation der Inkonsistenz, in einer von Baudelaire und seinen Zeitgenossen empfundenen und beschriebenen kontinuierlichen Veränderung, in einer Situation der Verunsicherimg, die aufgrund des flüchtigen und fließenden Charakters der Elemente der neuen Lebenswelt zustandekam. Im Bereich der künstlerisch-ästhetischen Produktion machten sich nun beispielsweise bildende Künstler immer rascher hintereinander verschiedene Stilrichtungen zu eigen, und sie begannen mn 1900 sogar Codes verschiedener Stile ineinander zu verschränken. Mit dieser Beobachtung soll nicht nur die individuelle, die subjektive Verunsicherung, die Baschlebigkeit und Fragmentiertheit der Produzenten, der Künstler angedeutet werden; vielmehr korrespondierte diese auch mit einer Differenziertheit der Rezipienten, das heißt der Öffentlichkeit, deren Repräsentanten entsprechend ihren unterschiedlichen Voraussetzungen aus einer Fülle von Codes auswählen konnten: Einzelne Rezipienten vermochten individuell, unabhängig voneinander aus einem pluralistischen künstlerischen Angebot zumindest den einen oder den anderen Code zu dekodieren. Insgesamt kann also in aller Kürze festgehalten werden: Die Modernisierung hatte auf der einen Seite ökonomische und soziale Transformationen zur Folge, welche die Lebensbedingungen der Menschen der Moderne grundlegend veränderten; diese verdankte sich jedoch, wie Reinhard Bendix oder Barrington Moore - Parsons korrigierend - festgehalten haben, nicht nur den ökonomischen Innovationen, sondern ebenso anderen „Kontexten", zum Beispiel auch politischen Veränderungen, die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert das Selbstverständnis der Gesellschaft ganz wesentlich beeinflußt hatten. 13 Auf der anderen Seite bewirkten gerade diese Veränderungen eine Verunsicherung, die sich in einem zunehmenden Krisenbewußtsein manifestierte, worauf

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gerade die junge Generation mit einer besonderen Sensibilität und Nervosität reagierte. Die Erfahrungen Théophile Gautiers und Charles Baudelaire blieben, wenige Jahre später, auch den Wiener Zeitgenossen Paul Bourgets nicht erspart. Es war dies jenes Erlebnis, dem Hofmannsthal in seiner ersten Rezension über Gabriele D'Annunzio 1893 mit den Worten Ausdruck verlieh: „Man hat manchmal die Empfindung, als hätten uns unsere Väter, die Zeitgenossen des jüngeren Offenbach, und unsere Großväter, die Zeitgenossen Leopardis, und alle die unzähligen Generationen vor ihnen, als hätten sie uns, den Spätgeborenen, nur zwei Dinge hinterlassen: hübsche Möbel und überfeine Nerven. Die Poesie dieser Möbel erscheint uns als das Vergangene, das Spiel dieser Nerven als das Gegenwärtige."14 Der junge Georg Lukács schätzte diesen Zustand 1910 noch radikaler ein. Während die Differenziertheit der Gesellschaft und die Fragmentiertheit des Bewußtseins mit einem Rekurs auf die autonome Verantwortung des Einzelnen (Subjektivität) aufgefangen werden sollte, erkannte Lukács bereits die Inkonsistenz dieser Authentizität des Individuums und meinte, daß „mit dem Verlust der Stabilität der Dinge" auch „die Stabilität des Ichs verloren"gegangen wäre. „Es blieb nichts außer Stimmungen von gleichem Rang und gleicher Bedeutung."15 So rückte denn, trotz der Altlast des Vergangenen, die jeweils neue Beschäftigung mit der Gegenwart und ihre Thematisierung in den Mittelpunkt der allgemeinen Wahrnehmung. Man konzentrierte sich in der Folge auf das Jetzt und argumentierte in einer und für eine Generation, die von den Transformationen und von der zunehmenden, auch subjektiv empfundenen akzelerierten Veränderimg betroffen war. Man „adaptierte" Vergangenes an die Gegenwart, an das „Modo" (Jetzt), und zitierte Vergangenes als ein konstitutives Kriterium der eigenen Gegenwart. Eben darin bestand auch die Kernaussage der Kritik des Architekten Otto Wagner am Historismus, die er in seinem bahnbrechenden Werk „Moderne Architektur" (1896) festhielt. In diesem Sinne ist auch die Aussage Hermann

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Bahrs, des intellektuellen Vermittlers neuer Inhalte und des sensiblen Seismographen der Wiener Moderne, zu verstehen: Die Modernen, meinte er 1893, „verehren die Tradition. Sie wollen nicht gegen sie treten. Sie wollen nur auf ihr stehen. Sei möchten das alte Werk der Vorfahren für ihre neue Zeit richten. Sie möchten es auf die letzte Stunde bringen". 16 Max Burckhard, der ehemalige Hoftheater-Direktor und Protektor der neuen Dichtervereinigung „Junges Wien", deren offizieller Versammlungsort bis zu seiner Demolierung 1897 das Café Griensteidl am Michaelerplatz war, faßte diese Überlegungen zusammen und umschrieb den raschen Wechsel, die Beschleunigung als eines der wesentlichen Merkmale der Moderne: „Nicht an die Mode lehnt sich der Moderne, nicht auf die Vergangenheit blickt er zurück mit ängstlichem Bemühen, möglichst viel aus ihr für die Zukunft zu retten. Anders will er alles machen, als es bisher war, das ist der unbewußte Zug in ihm . . . Er repräsentiert das eine der zwei welterhaltenden Prinzipien, die Bewegungstendenz gegenüber der Beharrungstendenz." 17 Diese Bewegungstendenz als Charakteristikum der Zeit wurde in zahlreichen Feuilletons jener Jahre thematisiert, und die Einsicht in die allgemein wahrgenommene Akzeleration auch einer breiten Öffentlichkeit vermittelt. Es seien dies Einsichten „der Sittenbeobachter" in „die Symptome einer gewissen fieberhaften Uebereilung", wie Gaston Deschamps in einem Beitrag in der „Neuen Freien Presse" bemerkte: „ . . . die Sucht, rasch zu leben, die Begierde, Alles, was das Dasein bietet, sofort und eiligst zu genießen. Man hat keine Zeit, man will schnell fertig werden, man verliert gleich den Athem. Die weise Bedächtigkeit der guten alten Zeit ist verschwunden." 18 Diese Fragmentiertheit des Bewußtseins, diese Betonung der Bewegungstendenz, der Akzeleration, wurde unter anderem auch zur Grundlage, die zwar schon im Entschwinden begriffene Authentizität des Individuums hervorzukehren und zu betonen. Diese Erfahrungen dienten den Repräsentanten der Wiener Moderne auch ganz entschieden zur Begründung von Antinormativität, die sich auch

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in einer Vielfalt von sich beschleunigt abwechselnden Möglichkeiten, von Stilrichtungen kundtat. „Sie waren Rebellen", so ein Vetter Schönbergs, „anziehende Rebellen . . . weil sie unkonventionell waren in der konventionellen Umgebung des alten traditionellen Wien". 19

Moderne und ethnisch-kulturelle Heterogenität Die Differenziertheit der Gesellschaft und die Fragmentiertheit des Bewußtseins wurde in Zentraleuropa und in Wien noch von einer zusätzlichen Erfahrung unterstützt, nämlich von jener der ethnischen und sprachlich-kulturellen Pluralität einer Region, die in den großen Urbanen Zentren, welche durch Zuwanderer aus dem heterogenen Umland rasch angewachsen waren, besonders deutlich sichtbar wurde. Diese Vielfalt von ethnischen und kulturellen Traditionen, die sich in den Städten begegneten, war die Voraussetzung für intensive Wechselwirkungen, für kulturelle Anleihen und für Prozesse andauernder kultureller Diffusionen und Akkulturationen. Sie wurde gewiß auch insofern zu einem Stimulans für individuelle Kreativität, als durch sie die Möglichkeit vermehrt wurde, unter verschiedenen Variablen zu wählen oder kulturelle Elemente unterschiedlichster Provenienz in bisher ungewohnter Weise miteinander zu verschränken. Gerade der Zitatenreichtum der musikalischen Produktion in Wien um 1900 ist ein Indiz dafür, daß man sich diese Chancen nicht entgehen ließ und sich ihrer noch mehr als bisher zu bedienen wußte. Doch die regionale Heterogenität wurde in der engen Dichte des Urbanen Milieus auch als bedrohlich empfunden. Man erfuhr hier das Andersartige, das Fremde in der immittelbaren Umgebung, man fühlte sich dadurch verunsichert, man reagierte darauf zunehmend gereizt und versuchte dieser Fremdheit, dieser ethnischen und kulturellen Fragmentiertheit durch sprachlich-kulturelle Vereinheitlichungen oder durch bewußte Ausgrenzungen des anderen zu entgehen.

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Diese „nationale" Vielfalt der Städte der Monarchie wurde zu einer der Ursachen für jene Krisen und Konflikte, die in nationalistischen, in xenophoben oder in antisemitischen Bewegungen ihren Höhepunkt erreichten. Das heißt, die ethnische und kulturelle Pluralität der Region wurde gerade in den Städten wie in Wien auch zu einer der wesentlichen Voraussetzungen für die Differenziertheit und Fragmentiertheit des kollektiven und individuellen kulturellen Bewußtseins. Im Kontext von kollektiven oder individuellen Rezeptions- und Assimilationsprozessen, die für multikulturelle und multiethnische Gesellschaften typisch sind, entstanden also insofern zahlreiche kollektive und individuelle Verunsicherungen, als man sich nicht mehr allein an angestammten, traditionellen kulturellen Werten zu orientieren vermochte, sondern die fremden, unbekannten in die eigene Identität zu integrieren genötigt war. Die allgemeine Verunsicherung, die sich aufgrund der differenzierenden Tendenz der Modernisierung einstellte, die Problematik, mit einer Lebenswelt vielfacher Bezüge fertig zu werden, wurde hier durch diese spezifischen regionalen Konditionen, durch die ethnisch-kulturelle Vielfalt und Heterogenität vertieft und erhielt so - wenn man will - eine zusätzliche qualitative Dimension, durch die sich die Wiener Moderne von analogen kulturellen Phänomenen in Westeuropa unterschied. Jacques Le Rider hat vor allem am Beispiel des jüdischen Anteils diese „crises de l'identité" als ein besonderes Kennzeichen der Wiener Moderne hervorgehoben.20

„Wiener Moderne" In seinen „Studien zur Kritik der Moderne" hat Hermann Bahr 1894 die Wiener literarische Moderne zu umschreiben und von anderen „modernen" Strömungen in Europa abzugrenzen versucht. Folgt man seinen Überlegungen, die zum Teil bis heute unbestritten geblieben sind, dann wären für die Wiener Moderne vor allem vier Merkmale

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kennzeichnend: Erstens war die Wiener Moderne offen, das heißt sie besaß kein offizielles Programm, zweitens war sie - im Gegensatz zu ihrem Berliner Pendant antinaturalistisch, drittens war sie nicht „revolutionär", die Vergangenheit zerstörend, sondern tradiüonsverbunden und viertens „österreichisch". In der Tat lohnt es im Zusammenhang mit unseren Überlegungen diesen Kriterien etwas näher nachzugehen, da sie, wie mir scheint, für das kulturelle Geschehen der Jahre um 1900 insgesamt von Relevanz gewesen sind. Wenn das Spezifische dieser Wiener kulturellen Konfiguration hervorgehoben wird, dürfen zunächst gewiß viele Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen der Wiener mit der zentraleuropäischen Moderne, das heißt mit der gesamteuropäischen Entwicklung nicht außer acht gelassen werden. Worin bestand dieses Gemeinsame? Neben den allgemeinen, indirekten Reflexionen über die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen, auf welche die jungen Intellektuellen sowohl europaweit als auch in Wien alsbald reagierten, wurde wohl erst die direkte, bewußte Auseinandersetzung der jungen Wiener Generation mit den west- und nordeuropäischen philosophischen, literarischen und künstlerischen Neuerungen für die Herausbildung einer eigenen Wiener Moderne entscheidend. Es sei hier daher nur mit wenigen Stichworten erinnert: an die Tatsache, daß sich die ersten „Essays" bzw. Rezensionen des jungen Hofmannsthal mit Henri-Frédéric Amiel, mit Paul Bourget, Maurice Barrés und Gabriele D'Annunzio beschäftigten; an die wichtigen Vermittlung französischer, belgischer und skandinavischer Dichter der Moderne durch Hermann Bahr, der unmittelbar vor seiner Übersiedlung nach Wien im Jahre 1890 in Paris gelebt hatte - sein Tagebuch21 ist ein Indiz dafür, mit welcher Intensität Bahr in Paris alles Neue, vor allem den Symbolismus, in sich aufgesogen hatte - und in Wien die Autoren des „Jungen Wien" mit den französischen Impressionisten und Symbolisten bekannt gemacht hat; an den großen Einiluß, den Henrik Ibsen auf die Modernen in Wien unmittelbar ausgeübt hatte; an die „Secession", die durch

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die Abspaltung junger Künstler vom traditionellen Künstlerhaus 1897 zustandegekommen war und deren jährliche Ausstellungen vor allem moderne europäische Kunst präsentierten; an die Wiederentdeckung der englischen Prärafaeliten durch die Maler des Jugendstils; an die stilistischen Anleihen, die Gustav Klimt bei dem Belgier Fernand Khnopff gemacht hatte; an die enge Bindung der Wiener Werkstätte an die englische „Arts and Crafts"-Bewegung; an die Bedeutung des amerikanischen Funktionalismus für den ornamentlosen Stil eines Adolf Loos; und schließlich an die Zusammenhänge der frühen Psychoanalyse Sigmund Freuds mit der medizinischen Psychologie in Paris. Mögen auch einzelne Vertreter der Wiener Moderne von ausländischen Vorbildern beeinflußt gewesen sein, so gilt doch die Feststellung, daß sich in Wien kein einheitlicher moderner Stil, kein übereinstimmendes Programm der Moderne zu etablieren vermochte. In bezug auf „Jung Wien" meinte daher Bahr wohl zu Recht: „Sie haben kein Programm. Sie haben keine Aesthetik. Sie wiederholen nur immer, dass sie modern sein wollen. Dieses Wort lieben sie sehr, wie eine mystische Kraft, die Wunder wirkt und heilen kann." 22 Den gleichen Eindruck hatte auch Robert Musil, und er gab ihm sowohl im „Mann ohne Eigenschaften" als auch in einigen seiner Essays Ausdruck. In dem mit „Geistiger Umsturz" überschriebenen Kapitel seines Romans beschreibt Musil dieses Wiener Fin de siècle mit folgenden Worten: „ . . . überall standen Menschen auf, um gegen das Alte zu kämpfen. Allenthalben war plötzlich der rechte Mann zur Stelle . . . Es entwickelten sich Begabungen, die früher erstickt worden waren oder am öffentlichen Leben gar nicht teilgenommen hatten. Sie waren so verschieden wie nur möglich, und die Gegensätze ihrer Ziele waren unübertrefflich. . . . würde man jene Zeit zerlegt haben, so würde ein Unsinn herausgekommen sein wie ein eckiger Kreis, der aus hölzernem Eisen bestehen will, aber in Wirklichkeit war alles zu einem schimmernden Sinn verschmolzen." 23 In einem Essay aus dem Jahre 1921 präzisierte Robert Musil

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diese Einschätzung der Wiener Moderne und meinte, diese sei viel eher eine Ansammlung von Stilgenerationen als daß sie von einem einheitlichen Generationsstil bestimmt gewesen wäre: „Um 1900 konnte man noch glauben, daß Naturalismus, Impressionismus, Dekadence, und heroischer Immoralismus alleines seien, verschiedene Auswirkungen einer neuen Generation; um 1910 wußte man bereits . . . , daß die ganze Gemeinsamkeit nur darin bestand, daß viele Leute um das gleiche - Loch, um das gleiche Nichts herumgestanden waren." 24 Im Gegensatz zu Berlin oder zu den radikalen, „revolutionären" Richtungen der Pariser Moderne zeichnete sich die Wiener Moderne vor allem durch eine gewisse Traditionsverbundenheit aus, zwar nicht, wie Otto Wagner meinte, durch ein „Nachäffen" des Vergangenen, wie es noch der Historismus getan hatte, der auf die Wiedergeburt vergangener Stile gesetzt hatte, sondern durch deren „naissance", nämlich durch die diachrone Integration von dessen Inhalten und Metaphern in und für die Gegenwart. 25 So ist dem Kunsthistoriker und Direktor der Waffensammlung des Kaiserlichen Museums Albert Ilg mit seinem Beitrag „Die Barocke" 26 eine Neubewertung jener Epoche und ihres Stiles gelungen, die auch bei Schriftstellern wie Hugo von Hofmannsthal oder Musikern wie Gustav Mahler einen besonderen Stellenwert einnehmen sollte und durch die Neurezeption der in Österreich durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch vorhandenen Präsenz der spanischen Barockmentalität eine besondere Note erhielt. Stefan Zweig verwies in seinen Erinnerungen „Die Welt von Gestern" verschiedentlich auf diese Hochschätzimg des kulturellen Erbes im Wien der Zeit um 1900 und Hofmannsthal nutzte alle jene Möglichkeiten, die sich in dem reichen Arsenal einer überlieferten und erinnerten Geschichte vorfanden. Dieser Rekurs auf die eigene Vergangenheit und ihre kulturellen Inhalte, der sich dadurch äußerte, daß die Wiener Modernen „das alte Werk der Vorfahren für ihre neuen Zeiten richten" und „es auf die letzte Stunde bringen" wollten, wäre, wie Hermann Bahr meinte, das eigentlich „Österreichische"

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an der Wiener Moderne. Sie, die Modernen, wollten zugleich „die österreichische Farbe und den Geruch des Tages".27 Die Hochachtung vor der Kultur der eigenen Vergangenheit hat, so scheint es, vor allem dort ein besonderes Gewicht, wo andere gemeinschaftskonstituierende Merkmale wie Staat und Nation nicht so stark ausgeprägt sind. Sie bekam daher bei den Völkern der Monarchie schon seit dem 18. Jahrhundert eine identitätsstiftende Funktion und unterstützte mittelbar auch die im Entstehen begriffenen Nationsbildungen, noch bevor die sozial-ökonomischen TVansformationen des 19. Jahrhunderts diesen eine anscheinend von der ökonomischen Rationalisierung bedingte und geforderte „moderne" Prägung verliehen. Diese Funktionalisierung von Kultur für das Selbstbewußtsein einer jeweiligen Gegenwart ist aber nicht nur für Österreich, sondern für das Selbstverständnis ganz unterschiedlicher Länder und ihrer Bewohner von besonderer Bedeutung geworden, und sie darf nicht im vorhinein einfach als „konservativ", im negativen Sinne oder gar als „reaktionär" abgetan werden. So hat jüngst Ruggiero Romano in einer Untersuchimg über Italien in überzeugender Weise auf die Tragweite einer solchen „mémoire culturelle", auf die Bedeutung des Rekurses auf historische kulturelle Wertmuster für eine italienische Identität bis in die Gegenwart hingewiesen, die von einer Selbstbestimmung, die sich primär auf eine politische motivierte staatliche Dimension beruft, zu unterscheidenwäre. 28 Freilich, wenn den Wiener Modernen die „ungestüme Erbitterung", wie Bahr in den „Studien zur Kritik der Moderne" festhielt, „der jüngsten Deutschen gegen die alte Kunst, als ob diese erst niedergemacht und ausgerottet werden müsste", fehlte, hieß dies nicht, daß sie sich in der Manier der historisüschen Vätergeneration einer bloß imitativen Verehrung des Alten hingegeben hätten. Wie man die Gegenwart mit Hilfe der Vergangenheit, moderne Zielsetzungen und die Antinormativität der Jugend mit traditionellen Metaphern auszudrücken vermochte, versuchte unter anderem Hof-

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mannsthal im „Rosenkavalier" zu verdeutlichen, einem Sujet, das in Bildern des österreichischen 18. Jahrhunderts die enge, brüchige Bürgerlichkeit der Gegenwart mit einer märchenhaft-heiteren Ironie anprangern sollte: „ . . . denn es ist mehr von der Vergangenheit in der Gegenwart, als man ahnt, und weder die Faninal, noch die Rofrano, noch die Lerchenau sind ausgestorben, nur ihre drei Livreen gehen heute nicht mehr in so prächtigen Farben."29 Gerade im Zusammenhang mit diesem Stück Hofmannsthals, der gleichzeitig auch der Librettist von „Elektra" und „Salome" gewesen war, sei neben der Antikenrezeption der Wiener Moderne noch eigens hervorgehoben, daß gerade diese andere Seite des 18. Jahrhunderts, nämlich der Bezug auf die Aufklärung und ihre von der Ratio bestimmten, emanzipatorischen Tendenzen, in der Argumentation der Wiener Moderne eine zu Unrecht wenig beachtete Position einnahm. Man denke dabei nur an Ernst Mach, dessen Hauptreferenz der englische Frühsensualismus des 17. und 18. Jahrhunderts war, an die Voltaire-Verehrung von Josef Popper-Lynkeus oder an Sigmund Freud, der auf Anraten von Theodor Gomperz John Stuart Mill als erster ins Deutsche übersetzt hat. Ist aber diese Bezugnahme auf das Vergangene, die sich auch darin äußerte, daß man die ältere Künstlergeneration nicht einfach negierte, sondern in das „modo" zu integrieren versuchte, das einzige Merkmal, das die Wiener Moderne von anderen Modernen unterschied? Zusätzlich dazu kam noch das ganz eigene Verhältnis, das die Repräsentanten der Wiener Moderne zu ihrer eigenen kulturellen Vergangenheit, zu Österreich im weitesten Sinne hatten. „Man frage einen der jungen Wiener nach der Eschenbach oder Saar - und der herzlichsten Verehrung, der innigsten Liebe, der zärtlichsten Treue ist kein Maass", meinte Hermann Bahr. „Die Werke der Ebner und des Saar wirken wunderlich auf sie. Was in diesen Werken ist, ist alles auch in ihren Gefühlen."30 Einem Zeitgenossen Bahrs, dem aus Berlin nach Wien zugereisten Rheinländer Franz Servaes, der mehrere Jah-

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re lang Feuilletonist bei der Wiener „Neuen Freien Presse" war, war diese besondere Beziehung zur eigenen Vergangenheit bald aufgefallen, und er verwies in diesem Zusammenhang noch auf etwas Zusätzliches, nämlich auf die bewußtseinsprägende Präsenz der ethnisch-kulturellen Pluralität der Region. Servaes versuchte in seinem Wien-Buch den Nachweis zu erbringen, daß das Andersartige Wiens gegenüber einer deutschen Stadt vor allem darin bestünde, daß hier die vielfältigsten ethnischen und kulturellen Einflüsse eine Symbiose eingegangen wären und auch die Gegenwartskultur maßgeblich mitgeprägt hätten: „ . . . alle diese Völkerschaften, die in ihren verschiedenen Landschaften voll Erbitterung als nie zu vereinbarende Gegensätze wider einander stehen, sind auf Wiener Boden längst zu einer großen und unlösbaren Gemeinschaft verschmolzen, zu der aus Widerspielen so glücklich zusammengefügten,Wiener Rasse'."31 In der Tat definierten sich die Urbanen Zentren der Monarchie besonders nachhaltig von dieser ethnischen und kulturellen Pluralität der Region, die in den jeweiligen Städten zu spezifischen kulturellen Konfigurationen beigetragen hatte. Zum Beispiel läßt sich bei der Verwendimg des Jugendstils um 1900 eine unterschiedliche Ornamentik wahrnehmen, wobei die Verschränkimg mit autochthonen, „nationalen" florealen Mustern den Budapester vom Zagreber oder vom Krakauer deutlich abhebt. Bei den Schriftstellern des „Jungen Wien" ist es die Verwendung von vielfältigen Themen und Motiven, die diesem diachronen und synchronen pluralistischen Hintergrund zu verdanken ist. In der Alltagskultur der Wiener Moderne, in der Küche, in Umgangsformen, in Redewendungen und nicht zuletzt in der Unterhaltungsmusik wie in der Operette ist die Präsenz der ethnisch-kulturellen Pluralität der Region besonders augenfällig. Gerade in dieser Mischung von Codes und Elementen der zentraleuropäischen Region vermeinten Repräsentanten der Wiener Moderne, wie Bahr in seiner Rezension der „Deutsch-österreichischen Literaturgeschichte", oder wie ein wenig später Leopold von Andrian oder Hof-

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mannsthal in ihrer Diskussion über die Unterschiede zum Deutschen, ein charakteristisches Merkmal alles Österreichischen ausmachen zu können. Hermann Bahr schrieb dieses unterscheidende „österreichische" Merkmal bereits im Jahre 1894 auch der Wiener Moderae zu: „Und es könnte", schrieb er in seinem Essay „Das junge Oesterreich", „wenn sie [die jungen Wiener Dichter, Anm. d. Vf.] die rechte Gestalt des Oesterreichischen finden, wie es jetzt ist, mit diesen bunten Spuren aller Völker, mit diesen romanischen, deutschen, slavischen Zeichen, mit dieser biegsamen Versöhnung der fremdesten Kräfte - es könnte scjion geschehen, dass sie, in dieser österreichischen gerade, jene europäische Kunst finden würden, die in allen Nationen heute die neuesten, die feinsten Triebe suchen". 32

Die Operette und das „Junge Wien" Unter den Operettenlibrettisten der Jahre um 1900 finden sich Namen, die im Kontext der Literatur der Wiener Moderne einen zwar nicht hervorragenden, aber gesicherten Platz eingenommen haben. Felix Saiten33, in der Zwischenkriegszeit Präsident des österreichischen PEN und heute weitgehend nur mehr als der Verfasser der Erzählung „Bambi" bekannt, Felix Dörmann 34 , einer der ersten Übersetzer von Baudelaire und gleichzeitig gefeierter Dichter der Décadence, vor allem aber Victor Léon33, Dramaturg am Deutschen Volkstheater, Feuilletonist und Bühnenschriftsteller, der mit seinen Texten zum Erfolg nicht nur mancher Lehár-Operette beitrug. Ganz abgesehen von dem Stellenwert, den die Operette um 1900 in der breiten Öffentlichkeit einnahm und den man aufgrund der enormen Operettenproduktion oder mit einem Blick auf ihre Erfolgsaufführungen nur erahnen kann, sind auch die Namen der Librettisten, die nicht einfach als „zweite Garnitur" abgetan werden können, ein Indiz dafür, daß die Operette auch in gehobeneren bürgerlichen Intellektuellenkreisen akzeptiert war. Zählt

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man das Singspiel „Der tapfere Kassian" von Oscar Straus (1909) 36 im weiteren Sinne auch zu den Operetten, dann müßte man in diesem Zusammenhang auch dessen Textdichter, Arthur Schnitzler, erwähnen. 37 Oder man müßte auf den Vater des Zionismus Theodor Herzl verweisen, der Redakteur bei der „Neuen Freien Presse" war und der sich wie sein imgarischer Cousin Jenö Heltai (Herzl) als Librettist versuchte. Herzl verfaßte nach einer Vorlage von Meilhac und Mortier den Text zu der Operette „Des Teufels Weib" (1890), die von Adolf Müller vertont wurde und die, nach Herzls eigenen Worten, „ungeachtet der kühlen Aufnahme bei der Première, zu einem unerwarteten Kassenerfolg" wurde. Denn: „Gestern bei der fünfzehnten Aufführung war das Haus, wie fast an allen früheren Tagen, ausverkauft." 38 Kurz zuvor hätte er einen weiteren Operetteneinfall gehabt, „den ich", wie er an die Eltern schrieb, „für Strauss skizziren und der Schönerer einsenden werde", ein Einfall, der wohl nie zur Ausführung gekommen sein dürfte. 39 Mit Schnitzler, Saiten und Dörmann gehörte auch Victor Léon dem „Jimgen Wien" im Café Griensteidl an. Léon kannte also die Vorstellungswelt dieser „rebellierenden Jugend" und wußte sie mit seinen Theaterstücken und Operettenlibretti einem breiten Publikum schmackhaft zu machen. Mit bürgerlichem Namen Victor Hirschfeld, war Victor Léon der Bruder des Schriftstellers Leo Feld. Seit den frühen neunziger Jahren verband ihn eine enge Freundschaft mit Felix Saiten und Arthur Schnitzler. Eine Tagebucheintragung Schnitzlers vom 17. März 1891 berichtet erstmals von einer Zusammenkunft mit Léon im Restaurant „Wieninger", an der außer Schnitzler namhafte Vertreter und Propagatoren von „Jung Wien" teilgenommen hatten, unter anderem Gustav Schwarzkopf, Karlweis, Eduard Michael Kafka, Felix Dörmann, Felix Saiten und Hugo von Hofmannsthal. 40 Ähnliche Begegnungen in Restaurants und Cafés wurden in den nächsten Jahren immer häufiger, und Léon war stets mit dabei. In diesem konkreten sozial-kulturellen Kontext war also die Gedankenwelt Léons verankert. Sein erster wirklicher

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Erfolg als Operettenlibrettist war der von Richard Heuberger vertonte „Opernball" (1898), in den folgenden Jahren arbeitete er vor allem für Lehár. Léon wußte in der Tat die Inhalte der Moderne in seinen Libretti in Worte und Handlungen zu kleiden und sie für ein breiteres Publikum interessant und verständlich zu vermitteln. Da Léon freilich auf Erfolg bedacht sein mußte, das heißt auf finanzielle Einkünfte angewiesen war, schrieb er, um akzeptiert zu werden, seine Stücke notgedrungen nach dem Geschmack seiner Zuhörer, was darauf schließen läßt, daß die gerade in seinen Erfolgsstücken behandelten „modernen" Themen durchaus dem Lebensgefühl seines Publikums entsprochen haben mochten. Und dieses Publikum war ja selbst das Produkt der gesellschaftlichen Transformationen, die der Prozeß der Modernisierung in Gang gesetzt hatte, und wollte mit den Problemen der eigenen Gegenwart konfrontiert werden: entsprechend seinem eigenen Bildungsgrad und Auffassungsvermögen, jedoch in einer unterhaltenden, entspannenden, vergnüglichen Weise. Welches Genre, wenn nicht das musikalische Unterhaltungstheater, die Operette, war dafür geeigneter, in einer Zeit, als Film, Kino, Schallplatte und Radio erst ihre ersten Gehversuche unternahmen und keineswegs zur Massenunterhaltung beitragen konnten? Rein Geringerer als Karl Kraus hatte in der „Demolirten Literatur" neben den bekannten Vertretern der frühen Wiener Moderne auch Victor Léon sarkastisch aufs Korn genommen und spöttisch persifliert. Damit bezeugt er indirekt, welchem kulturellen und intellektuellen Kontext Léon entstammte: „Endlich einmal ein wirklich nervöser! Das thut förmlich wohl in dieser Umgebung des posirten Morphinismus. Es ist kein Künstler, nur ein schlichter Librettist, der hier den Anderen mit gutem Beispiel vorangeht. Abgehetzt, von den Aufregungen der Theaterproben durch und durch geschüttelt, nimmt er geschäftig Platz: Kellner, rasch alle Witzblätter! Ich bin nicht zu meinem Vergnügen da! - Während seine modernen Tischgenossen in das geistige Leben Wandel zu bringen bemüht sind, sehen wir ihn dem Handel Eingang in

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die Literatur verschaffen. Seine Beziehungen zur Bühne sind die eines productiven Theateragenten, und er entwickelt eine fabelhafte Fruchtbarkeit, die sich auf die meisten Bühnen Wiens erstreckt. Nach jeder einzelnen seiner Operetten glaubt man, jetzt endlich müsse er sich ausgegeben haben. Doch ein Antäus der Unbegabung, empfängt er aus seinen Misserfolgen immer neue Kräfte.'"»

„Sei modern!" Diese besondere Beziehung der Operette der Zeit um 1900 zur Moderne ist nicht nur in Wien nachweisbar. Im Prolog, mit welchem das neue Operettentheater (Vigszinház) im Jahre 1896 in Budapest feierlich eröffnet wurde, verwies der ungarische Dichter Andor Kozma auf diesen Zusammenhang zwischen Unterhaltungstheater und Moderne: „Blick' auf die Gesellschaft, die heute l e b t . . . die mit ihren großen Komödien eine so vortreffliche Lehre gibt, wie es eine vergangene nicht vermag. Gegenwärtiges spiel' für die Gegenwart, das ist allemal das Unterhaltendste, das Interessanteste. Mit einem Wort: Sei modern!"« Anhand der „Lustigen Witwe", die, wie bereits angedeutet, politisch und sozial-kritisch agierte, kann gleichsam stellvertretend die Beziehung mancher Operette zur Moderne veranschaulicht werden. Es ist wohl kein Zufall, wenn eine der ersten ungarischen Rezensionen (1907) meinte, die „Lustige Witwe" wäre „nicht mehr bloß eine Operette, sondern ein zeithistorisches Ereignis, eine Manifestation des Zeitgeistes, sie ist zu einem Inbegriff geworden . . ."43, denn Ähnliches hatte ihr bereits ein Jahr zuvor auch Felix Saiten attestiert und sie in übertragenem Sinne als „unsere Melodie" apostrophiert: „Unsere Melodie - in der Lustigen Witwe wird sie angestimmt. Alles, was so in unseren Tagen mitschwingt und mitsummt, was wir lesen, schreiben, denken, plaudern, und was für neue, moderne Kleider unsere Empfindungen tragen, das tönt

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in dieser Operette, klingt in ihr an. Nicht restlos, nicht vollendet; aber es reicht hin zu faszinieren, weil es eben unsere Melodie ist. Gar nicht notwendig, daß Lehár wirklich gelesen hat, was wir schreiben, oder auf das, was wir denken, aufpaßt. Lehár trifft den Zeitton, unbewußt... Diese Musik hat nicht viel Wienerisches in sich. Lehár ist mehr allgemein modern als wienerisch; er ist mehr durch die Zeit als durch einen Ort bestimmt. Er ist von 1906, von jetzt, von heute, gibt den Takt an zu unseren Schritten."44 Der Erfolg der „Lustigen Witwe" läßt sich gewiß nicht nur darauf zurückführen, daß mit ihr das musikalische Unterhaltungstheater, nach einer Operetten-Flaute während der vorangegangenen Jahre, wieder neuen Schwung und musikalische Originalität erhalten hatte. Über vierhundert En-Suite-Aufführungen dürften nur so zustandegekommen sein, daß das Publikum, die Rezipienten, sich auch mit den Inhalten dieser „neuen Operette", mit ihrer theatralischen „Botschaft" zu identifizieren vermochten. Wie sah diese aus? In der Tat thematisierte Victor Léons Libretto Bewußtseinszusammenhänge, die für die Moderne charakteristisch sein dürften. Die zwei Paare, Hanna - Danilo und Valencienne - Camille, verkörpern den Gegensatz „modern" und „rückständig", ungebunden-offen beziehungsweise bürgerlich-beengt. Eine der Grundaussagen des Stückes ist die Verherrlichung von moderner Ungebundenheit, von Antinormativität. Sie kommt beispielsweise zum Ausdruck in der antikapitalistischen Attitüde, dem sich das moderne Paar Hanna - Danilo verschrieben hat. Die attraktive Witwe Hanna Glawari wird aufgrund ihres Reichtums, ihrer „Millionen" umworben, was sie als Bewertung ihrer Person ebenso entschieden ablehnt wie Danilo, der zwischen Hanna, die er liebt, und ihrem Geld, das er verabscheut, weil es mit ihrer Person identifiziert wird, zu trennen weiß. Gleich im Entrée des ersten Aktes bringt Hanna diese „Philosophie des Geldes" (Georg Simmel) in das Stück ein: „Die Herrn sind liebenswürdig sehr, gilt dies meiner Person? Ich fürchte, dies gilt mehr meiner vielfachen Million". Freilich, St.Brioche und Camille, typischen

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Vertretern veralteter, bürgerlicher Lebensideale, ist das Umwerben der Witwe um ihres Reichtums willen eine Selbstverständlichkeit. Und als sie, darob zur Rede gestellt, dies verneinen, hält ihnen die Witwe ihre bürgerlichen, antimodernen Lebensattitüden unverblümt vor Augen: „Ach, tun sie doch nicht so! Gar oft hab' ichs gehört, wir Witwen ach, wir sind begehrt. Erst wenn wir armen Witwen reich sind, ja, dann erst haben wir doppelten Wert. Ja, in unserem Gelde liegt unser Wert, so hab ichs immer gehört." 45 Analog zum bürgerlichen verhält sich das staatskapitalistische Denken des pontevedrinischen Gesandten Zeta, der die Millionen für sein Land sichern möchte und daher an der Verehelichung der Witwe mit einem Pontevedriner höchstes Interesse hat. Moderne Antinormativität äußert sich auch in der Ablehnimg bürgerlicher Institutionen wie der Ehe: Danilo sieht in der Ehe „einen Standpunkt, der längst überwunden", 46 und Hanna pflichtet ihm hierin bei, indem sie sich zu der „Pariser Art . . . wo jeder seine Wege geht", bekennt. 47 Paris wird hier, im Gegensatz zu Pontevedro (im übertragenen Sinne zu Wien), ein Synonym für Freiheit, Offenheit, Modernität. Ganz ähnlich hatte bereits 1889 Hermann Bahr argumentiert, als er einzig Paris als den eigentlichen Ort der „modernen" Ehe verherrlichte: „ . . . die ganze moderne Ehe ist eben außer Paris nicht möglich; sie setzt als unvermeidliche Bedingung Pariser Leben voraus. Da geht es ja wunderschön, natürlich . . . aber es müßte doch der Rest der Menschheit mehr berücksichtigt werden." 48 Im Gegensatz zu dem modernen Paar Hanna - Danilo steht das verliebte bürgerliche Paar Valencienne und Camille; Valencienne ist mit Baron Zeta, dem pontevedrinischen Gesandten in Paris verheiratet, benützt die gängigen Phrasen des Ehrenkodex einer bürgerlichen Moral und läßt Camille wissen, daß sie - trotz ihrer geheimen Beziehung zu ihm - im Grunde genommen eine „anständ'ge Frau" sei und bleibe, was sie auch rasch, nicht ohne Ironie, auf den nämlichen Fächer schreibt, auf dem bereits ihre Liebeserklärung an Camille steht. Mehr noch: Sie möchte, wohl um die heimliche

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Verbindung noch unauffälliger fortdauern zu lassen, Camille mit Hanna Glawari verheiraten. Diese Metapher von der „anständ'gen Frau" war in der bürgerlichen Lebenswelt der Zeit um 1900 ein gängiges Synonym ehelicher Wertvorstellungen, es wurde jedoch auch zum Klischee, unter dessen Schutz man sich zunehmend jene kleinen „Freiheiten" erlauben wollte, welche die antinormative Lebensauffassung der Moderne vorgab - schützte es doch die Ehe sowohl als „bürgerliche" Institution als auch vor persönlichen peinlichen Hinterfragungen. In den Vorstudien für das Trauerspiel „Die große Sünde" thematisierte Hermann Bahr die Ehe vom Standpunkt der Modernen in ähnlicher Weise. Die Bruchlinie modern - bürgerlich verläuft bei Bahr mitten durch die Ehe: Während der Mann der Frau vorwirft, „wie die Mama", das heißt bürgerlich zu sein, erwidert sie mit dem Hinweis auf diese bürgerlichen Wertvorstellungen: „Darüber kann ich einmal nicht hinweg, daß mir die Ehre und der gute Name meiner Familie über alles gehen. Ich bin einmal eine anständige Frau." Mit solchen bürgerlichen Phrasen vermag freilich der Mann, der Moderne, der um die Gespaltenheit, um die Fragmentiertheit der modernen Lebenswelt weiß, überhaupt nichts mehr anzufangen: „Eine anständige Frau! Hoho! Laß dich ausstopfen, damit man dich noch den Enkeln für Geld zeigen kann, ah, ah, es bricht - es bricht - und wohin ich greife, edles, alles nur berstende Trümmer, kein Halt auf dieser ganzen unendlichen] Welt, kein Gott - alles morsch." 49 Die „Lustige Witwe" verrät eine ähnliche Tendenz: Valencienne als die „anständ'ge Frau" und er, Camille Rosillon, der verliebte Verführer, preisen die traute Zweisamkeit, die Vorzüge einer romantischen Beziehung, eines beschaulichen bürgerlichen Ehelebens in der Abgeschiedenheit des „eigenen Heims", das fern und unberührt bleibt von der „Welt", in welcher es unwirtlich, stürmisch, eben modern zugehe: „Das ist der Zauber der stillen Häuslichkeit, - Die Welt liegt draußen so fern und weit! - Das ist der Zauber, der uns gefangen hält, - Wir sind für uns allein die ganze Welt!" (Valencienne:) „Ja,

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wenn man es so recht betrachtet, - Wo findet man das Lebensglück? - Dort, wo das Leben lärmend braust? Dort, wo's im Stillen friedlich haust? - Ja, wenn man es so recht betrachtet, - Gibt's einen einz'gen Zufluchtsort, Das ist das Haus, - Das ist das Heim, - Dort ist das Glück, nur dort, nur dort." (Beide:) „Das ist der Zauber der stillen Häuslichkeit, - Die Welt liegt draußen, so fern, so fern, so weit, - Das ist der Zauber, der uns gefangen hält, - Wir sind für uns allein die ganze Welt, - Wir wär'n für uns ganz allein die Welt." Die musikalische Untermalung des ersten Teils dieses „bürgerlichen" Duetts ist ein Twostep (Allegretto), ein moderner Tanz also, der, im Gegensatz zur langsamen, traditionell-schwülstigen (bürgerlichen) Getragenheit des zweiten Teils die Widersprüchlichkeit, die Brüchigkeit dieser Situation von der musikalischen Seite her erst recht verdeutlicht.50

„Stille Häuslichkeit" ein Gegenbild der Moderne Die Vorstellung vom „Zauber der stillen Häuslichkeit" war in der bürgerlichen Wertvorstellung des europäischen 19. Jahrhunderts verankert, sie entsprach den bourgeoisen Idealen einer Ehe, die überwiegend dem Bereich der Privatheit, der Viktorianischen „privacy" zugeordnet wurde. „Die Quintessenz seiner Welt war dem Bourgeois sein Zuhause", meint in diesem Zusammenhang der Historiker Eric J. Hobsbawm, „denn hier und nur hier ließen sich die Probleme und Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft vergessen oder künstlich beseitigen. Hier und nur hier konnte die bürgerliche und mehr noch die kleinbürgerliche Familie die Illusion harmonischen, hierarchischen Glücks nähren, umgeben von den materiellen Gebilden, die dieses Glück zum Ausdruck brachten und es zugleich ermöglichten".51 In dieser „stillen Häuslichkeit" war vor allem der Frau ein gesicherter Platz zugewiesen, denn es bedeutete jene private Zone, die Schutz vor äußeren Einflüssen zu garantieren vorgab.

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Diese Auffassung war zur allgemeinen Lebensmaxime des Bürgertums im 19. Jahrhundert geworden. Das Ideal von Privatheit und die Abkehr von der Öffentlichkeit waren seit dem Biedermeier auch in der österreichischen Mentalität tief verankert, sie wurden aber zugleich schon in der ersten Hälfte des Jahrhunderts zum Ziel heftiger Angriffe „progressiver" Tendenzen. Denn der Rückzug aus der Öffentlichkeit in die Privatsphäre konnte gleichgesetzt werden mit einem gesellschaftlichen Desinteresse, mit Untätigkeit in der Politik. Die „öffentliche", das heißt die politische-gesellschaftliche Arbeit wurde mit der Arbeit im Hause kompensiert, wo Sparsamkeit als Tugend angesagt war und folglich Geld einen besonderen Glanz hatte. Diese Vorstellung von einer idealen Ehe blieb in der Folge auch das Ideal des sich aus der Öffentlichkeit zurückziehenden liberalen Bürgertums. 52 Wenn nun in der „Lustigen Witwe" Valencienne und Camille vom „Zauber der stillen Häuslichkeit" schwärmten, vermochten die Zuschauer ohne weiteres die spießigen, frauenfeindlichen Relikte vielleicht sogar ihrer eigenen bürgerlichen Attitüden wiederzuerkennen und darüber nachzudenken, Wertvorstellungen, denen in der ungebundenen Offenheit von Hanna Glawari und Danilo als Gegenbild ein Ideal der Moderne entgegengesetzt wurde, nach dem sie sich im geheimen vielleicht sogar selber sehnten. Dieses ungebundene, moderne Gegenbild richtete sich gegen einen Habitus bürgerlicher Selbstkontrolle, die in einem überschaubaren Raum von gesellschaftlich-ökonomischen und intellektuellen Bedingungen der „Vätergeneration" vielleicht noch möglich war, die sich aber nun, aufgrund der zunehmenden Differenziertheit und Fragmentiertheit, aufgrund des „transitoire" der Elemente, welche die konkrete Lebenswelt zunehmend bestimmte, zu verflüchtigen begann und für die „moderne Jugend" weder relevant noch akzeptabel sein konnte. Karl Kraus, der nur Offenbach gelten lassen wollte und alle späteren Operettenproduktionen, vor allem die in Wien, einzig an diesem Vorbild maß, bestätigte mit seiner wiederholt geäußerten Aversion gegen die „Lu-

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stige Witwe" indirekt, daß diese Lehár-Operette in der Tat ein Stück der von ihm bekämpften „Décadence" war: „Diese tiefe Seelenanalyse, diese subtile Schilderung eines dekadenten Milieus und diese exakte Art, in der das Problem der anständigen Frau gelöst ist, ich muß wirklich zugeben, diese Operette ist schlecht." 55 Es wäre gewiß einseitig, sich nur auf die „Lustige Witwe" zu beziehen, um den inneren Zusammenhang zwischen der Operette um und nach 1900 und der Moderne zu belegen. Tatsächlich könnte man noch zahlreiche andere Beispiele bemühen, mit denen sich dieser Zusammenhang untermauern ließe. So argumentierte etwa Leo Falls „Die geschiedene Frau" (1908) ähnlich wie die „Lustige Witwe" gegen die überkommenen Normen heterosexueller Beziehungen, was schon allein deshalb nicht verwundert, weil Victor Léon hier im „Kommt, begrabt den schönen Ehestand" seine Überlegungen über Ehe und Moral von 1905 nur konsequent fortschrieb: „Jede Ehe ist ein Zwang, Liebe, sie ist frei! Ehen dauern niemals lang, ist die Lieb vorbei! Hält die Liebe aber an, braucht's die Ehe nicht, frei sei Weib und frei sei Mann, Liebe sei nicht Pflicht! Freie Liebe, freie Liebe, du mein einziges Prinzip." 54 1907 wurde dem „Walzertraum" von Oscar Straus ein ähnlicher Erfolg zuteil wie wenige Jahre zuvor der „Lustigen Witwe", und das Erfolgsrezept dieser Operette, deren Text der dem „Jungen Wien" zugehörige Autor Felix Dörmann gemeinsam mit Leopold Jacobson verfaßt hatte, ist nicht zuletzt darin begründet, daß sie ebenso wie das Léon-Lehársche Produkt Vorstellungen zu artikulieren wußte, die der Lebenseinstellung dieser Zeit entsprachen. Auch im „Walzertraum" wird die „freie Liebe" gegen „des Hauses Einerlei", gegen die Vorstellung, daß man sich in der Ehe „manchmal versagen kann" - wie Helene meint - ausgespielt. Freilich trägt hier schließlich das alte Verzichts-Prinzip des „Glücklich ist, wer vergißt" aus der „Fledermaus" den Sieg davon. Die Offenheit der Moderne, die sich mit der Realität des bürgerlichen Alltags nur schwer vereinbaren läßt, bleibt für Franzi nur ein Traum: „Man muß manches im Leben

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vergessen, wer gescheit ist, der fügt sich darein. Doch das Stück, das vom Glück ich besessen, das bleibt immer und ewig jetzt mein." 55 Ganz anders in Lehárs „Graf von Luxemburg" (1909): Die Ehe wird zwar - notgedrungen - hingenommen, sie sollte aber für Angèle und René ein Ort jener offenen Ungebundenheit bleiben, die in der Oscar Strausschen Version ins Reich des Traumes verwiesen wird: „Das ist, das ist fürwahr, eine Ehe wunderbar. Sie geht links, er geht rechts, Mann und Frau, jeder möcht's, ideal ist solche Ehe, schmerzlos, ohne jedes Wehe! Er geht rechts, sie geht links, das ist praktisch allerdings. Leicht erträgt man solch ein Los, lebt dabei famos!"56

Relevanz der Operette im Fin de siècle Ich habe bereits erwähnt, daß unter den Librettisten der Operette der Jahrhundertwende sich nicht nur Autoren befanden, die gleichsam die zweite Schriftstellergarnitur repräsentierten, sondern daß neben Arthur Schnitzler, der den Text zu Oscar Straus' Singspiel „Der tapfere Kassian" verfaßte, auch andere, zu ihrer Zeit angesehene Schriftsteller zum Erfolg dieses leichten Genres beitrugen: Felix Saiten, Felix Dörmann oder in Ungarn Ferenc Herczeg und Jenö Heltai. Und es ist in diesem Zusammenhang erneut daraufhinzuweisen, daß selbst Komponisten ersten Ranges entweder der Operette nicht abgeneigt waren, wie anscheinend Gustav Mahler oder Arnold Schönberg, die sich eingehend für die Aufführung beziehungsweise für die Instrumentierung von Operetten verwendet haben. Hält man diesen Tatsachen die apodiktische, negative Einschätzung eines Karl Kraus und mancher seiner Zeitgenossen entgegen, dann mag man sich zu Recht fragen, ob es sich bei dieser sympathischen Zustimmung einfach um einen belanglosen „Seitensprung", um eine reine Geschmacksverirrung gehandelt hat, die man nicht ernst nehmen und lieber gleich vergessen sollte. Oder handelte es sich für manche ihrer Zeitge-

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nossen bei der Operette vielleicht doch um mehr als um den flüchtigen Ausdruck eines négligablen Amusements? Haben Theaterkritiker wie Eduard Hanslick, Bertha Zuckerkandl, Erich Wolfgang Korngold oder Ludwig Karpath völlig daneben gegriffen, wenn sie der Operette als einer eigenen Kunstgattung gerecht werden und in ihrer Zeit Geltung verschaffen wollten? Sind Schriftsteller wie Hugo von Hofmannsthal oder Franz Werfel schon allein deshalb, weil sie der Operette manche positiven Aspekte abzugewinnen vermochten, weniger seriös als Karl Kraus oder Hermann Broch, die die Operette in Bausch und Bogen abgelehnt und verdammt haben? Bei der näheren Betrachtung zahlreicher Operettenrezensionen oder mancher Aussagen Hofmannsthals und anderer Schriftsteller der Jahrhundertwende muß freilich vorweg festgehalten werden: Es lag nicht in ihrer Absicht, die Operette zu verherrlichen oder ihr eine qualitative Dimension zuzuschreiben, die sie nicht haben konnte, vielmehr versuchten sie die Operette einfach als ein signifikantes Zeitphänomen des Unterhaltungsgenres und somit als den Beflex auf einen konkreten historischen und sozio-kulturellen Kontext zu begreifen. Bei aller Vorsicht, die mit dem Umgang der Erinnerungen Alma Mahlers geboten erscheint, einer Frau mit durchaus ernst zu nehmender musikalischer Kompetenz - sie war Schülerin Alexander von Zemlinskys -, dürften dennoch manche ihrer Aussagen für die Mentalität jener gesellschaftlichen Schicht, der sie angehörte, aufschlußreich sein, auch in bezug auf die wenigen Stellungnahmen der Operette gegenüber. So verrät die Eintragung vom Juni 1920 zwar eine kritische, in ihrer Ambivalenz jedoch eine auch durchaus positive Sicht der Operette als einer allseits beliebten Kunstgattung jener Jahre. „Gestern waren wir beide im Prater", weiß Alma Mahler zu berichten, „in einer dummen Operette. Diese brachte uns in ein langes Gespräch über die Zukunft der Operette. Franz Werfel meinte: ,In dieser banalen Kunstform spiegelt sich das alte Österreich, mit all seinem Rhythmus, seinem Witz, ja mehr als das . . . die ganze alte Opernform hat sich nur

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mehr hier rein erhalten können und hat auf diese Weise Fortdauer im Volk. Vielleicht gibt es von da aus wieder eine Art Auferstehung der Oper."' 57 Hier handelt es also nicht tun eine Ehrenrettung, hier wird vor allem auf die soziale Funktion einer auch noch so „dummen" Operette aufmerksam gemacht, auf eine anscheinend noch funktionierende Übereinstimmung zwischen einer wenn auch „banalen" musikalisch-theatralischen Ausdrucksform und ihrem zeitgenössischen Publikum. Es sind dies Gedanken, die auch Hofmannsthal bei der Niederschrift seiner Operntexte begleitet haben dürften. Wollte er dadurch, daß er „Rosenkavalier" und „Arabella" zwischen Oper und Operette anzusiedeln wußte58, der Verlockung und der Gefahr einer bourgeoisen Hochkultur entfliehen, die das Kunstwerk auf ein hohes Podest versetzen wollte und jedem direkten, breiteren gesellschaftlichen Zugriff entzog? Manche Stellen aus seiner Korrespondenz mit Richard Strauss scheinen dies nahezulegen. Sollte diese Annahme richtig sein, dann kann es sich keineswegs um einen „blasphemischen Bezug" 59 handeln, wenn Hofmannsthal, Oper und Operette auslotend und gegeneinander abwägend, seinen Opernvorlagen etwas von dem hinzufügen wollte, was der zeitgenössischen Oper weitgehend mangelte, der Operette aber anscheinend noch eigen war: nämlich die lebende Verbindung von Musik, Handlung und Gesellschaft, zwar nicht in jener direkten Weise, die manche Operetten suggerieren, sondern „immer nur als Folie". Er, Hofmannsthal, fühle sich im Gegensatz zu Strauss gewiß „fern von musikalischem Geschmack und musikalischer Bildimg, aber auch fast beängstigend frei von Zeiturteilen, Wertabstufungen", er vermöge daher „hinein in alle Musik" zu horchen, „ob es Beethoven ist oder Lehár, eine Szene von Verdi oder von Ihnen, eine Zigeunermusik oder ,L'après midi d'un faune"'. Dies könnte, meint Hofmannsthal weiter, auch die Voraussetzung für ein zeitgemäßes Kunstschaffen sein, das eben auf einem konkreten gesellschaftlichen Kontext beruhe und sich dem „gelehrten deutschen Musikgeist" entwinde: „Wenn ich so in die

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Leute, unsere Zeitgenossen, für die wir ja schließlich diese Sache schaffen, mich hineindenke und hineinfühle, so schwant mir freilich ganz ganz genau (aber so unfaßbar für meine barbarischen Ausdrucksmittel) - was sie ersehnen würden, wodurch man ihren nach Freude begierigen Gemütern einen Sturm von Freude abringen könnte - noch weit über die Freude hinaus, die ihnen der ,Rosenkavalier' beschert." Gelänge dies auch der Oper, dann wäre der „Operette ihr Zauberring entwunden, mit dem sie die Seelen der Zuhörenden so voll bezwingt".60 Wer meint, daß sich Hofmannsthal damit voll auf die Seite der Operette geschlagen hat, der irrt. Das Urteil von 1910, daß die Operettenkomponisten Lehár und Oscar Straus „Herrschaften dritten Ranges" wären, hat Hofmannsthal nicht zurückgenommen. Für das von Alma Mahler kolportierte Bonmot, Hofmannsthal hätte nach einem Besuch von Lehárs „Libellentanz", was wohl 1923/24 gewesen sein mochte, bemerkt: „Gott, wie schön wäre es, wenn Lehár doch die Musik zum,Rosenkavalier' gemacht hätte, statt Richard Strauss"61, findet in seinen authentischen Schriften und Briefen keine, auch nicht eine indirekte Bestätigung. Was freilich Hofmannsthal an der Operette faszinierte, war die Beobachtung, daß sie sich, anders als die Oper, die, wie im 18. Jahrhundert Niccolò Piccini über Christoph Willibald Gluck bemerkte, „vor Musik stinkt"62, in Übereinstimmung und Einklang mit den Sehnsüchten und mit den Stimmungen ihres Publikums befand, daß es ihr anscheinend gelang, Ausdruck der Mentalität einer Zeit zu sein, in der sie geschaffen wurde und für die sie einstand, und daß sie als Kunstform nicht der Versuchung eines puren Ästhetizismus erlegen war63, wie das „deutsche literarische Ingenium" - Überlegungen, die Hofmannsthal, wie eine Tagebuchnotiz verrät, gerade in seinen letzten Lebensjahren bewegt haben: „Deutscher Ästhetizismus ist das schärfst Abzulehnende, weil völlig eitel, ohne Zusammenhang, parasitär."64 Bei der Lektüre dieses Disputs zwischen Hofmannsthal und Strauss drängt sich ein Vergleich auf. Die Argumentation Hofmannsthals könnte bis zu einem gewissen Grad

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als Fortschreibung jener Überlegungen verstanden werden, die Friedrich Nietzsche in „Der Fall Wagner" (1888) so eingehend beschäftigt haben. Die Auseinandersetzung Nietzsches mit Richard Wagner war zwar eine Abrechnung mit der Décadence, mit den von Nietzsche so deutlich wahrgenommenen „Verfallserscheinungen" der Moderne, deren musikalischer Exponent für ihn eben Wagner war. In Analogie zu den Gedankengängen Hofmannsthals ist jedoch von Interesse, daß Nietzsche der Musik von Wagner gerade eine solche entgegenstellte, die einem konkreten sozialen Kontext verpflichtet blieb. Es ist jene von George Bizet, der in „Carmen" „den Muth zu dieser Sensibilität gehabt hat, die in der gebildeten Musik Europa's bisher noch keine Sprache hatte". Nietzsche machte dabei nachdrücklich auf die Volksverbundenheit, auf die Natürlichkeit des Franzosen gegenüber der Brutalität, Künstlichkeit und „Senta-Senümentalität" der deutschen Musik Wagners aufmerksam: „Diese Musik ist böse, raffinirt, fatalistisch: sie bleibt dabei populär - sie hat das Raffinement einer Rasse [eines Volkes, Anm. d. Vf.], nicht eines Einzelnen. Sie ist reich. Sie ist präcis. Sie baut, organisirt, wird fertig: damit macht sie den Gegensatz zum Polypen in der Musik, zur ,unendlichen Melodie'."65 Es wäre müßig darüber zu rechten, ob Hofmannsthal, während er Strauss seine Überlegungen zu einer volksnahen Musik auseinanderzulegen versuchte, an Nietzsche auch nur im entferntesten gedacht haben mochte. Es bleibt aber trotzdem von Interesse, daß sowohl Nietzsche als auch Hofmannsthal, mögen sie auch noch so verschiedene Ziele verfolgt haben, sich gegen eine „intellektuelle", allzu artistische Musik zur Wehr gesetzt haben. Und Hofmannsthal verwies, um seine Intentionen noch besser zu verdeutlichen, nicht auf Bizet, sondern auf ein populäres musikalisches Genre, nämlich auf die Operette, die, wie er meinte, noch jene Nähe zum Volk, zur Gesellschaft aufzuweisen schien, von der er sich auch bei der Vertonung seiner eigenen Textvorgaben ein wenig mehr gewünscht hätte.

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1 Vgl. u. a. Michel de Certeau, L'opération historique, in: Jacques Le Goff - Pierre Nora (Hg.), Faire de l'histoire I: Nouveaux problèmes, Paris 1974, 19-68, bes. 21 ff. 2 TheoAorAntropp, Vom Verfall der Wiener Operette, in: Der Strom 1(1911) 65-71, zit. 66, 70. - In der zurückhaltenden Kritik Antropps an der Operette seiner eigenen Gegenwart kann man wohl zu Recht auch eine Antwort auf die puristischen Ansichten eines Karl Kraus erblicken. 3 Heinrich Eduard Jacob, Johann Strauss und das neunzehnte Jahrhundert. Geschichte einer musikalischen Weltherrschaft (1819-1917), Amsterdam 1937, 392. 4 Lou Andreas-Salomé, Lebensrückblick. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Ernst Pfeiffer, Frankfurt/M. 1974,114. 5 Ebd. 394. 6 Richard Hellberger, Der Opernball (Textbuch), Wien - Leipzig o. J., 5, 8, 30. 7 Stefan Zweig, Sigmund Freud, in: Ders., Die Heilung durch den Geist [1931], Frankfurt/M. 1993, 273-380, Zit. 277, 279. 8 Philipe Ariès - Georges Duby (Hg.), Geschichte des privaten Lebens 4: Von der Revolution zum Großen Krieg, hg. von Michelle Perrot, Frankfurt/M. 1992, 531-577. 9 Endre/Wy, A hétrôl [Über die Woche, 1903], in: E. Ady Publicisztikai Irásai, Budapest 1987,158. - Diese „Krankheit des modernen Lebens" ist auch der Inhalt des allerersten Feuilletons von Ady. Vgl. Endre Ady, Betegen [Krank, 1898). In: Ebd. 5-6. 10 Théophile Gautier und Paul Bourget, zit. nach Max Nordau, Entartung, Bd. 2, Berlin 21893,101-102,105-106. 11 Theodor W. Adorno, Bemerkungen über Statik und Dynamik in der Gesellschaft, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 8 (1956) 327. 12 Georg Simmel, Philosophie des Geldes, hg. von David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke = Georg Simmel, Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstett, Bd. 6, Frankfurt/M. 1989. - Georg Simmel, Das Geld in der modernen Cultur, in: Ders., Aufsätze und Abhandlungen 1894 bis 1900, hg. von Heinz-Jürgen Dahme und David P. Frisby = Georg Simmel, Gesamtausgabe a. a. O. Bd. 5, Frankfurt/M. 1992, 178-196. - Ders., Die Bedeutung des Geldes für das Tempo des Lebens, in: ebd. 215-234. Vgl. David Frisby, Fragmente der Moderne. Georg Simmel Siegfried Kracauer - Walter Benjamin, Rheda - Wiedenbrück 1989, 45-115. 13 Dieter Rucht, Modernisierung und neue soziale Bewegungen. Deutschland, Frankreich und USA im Vergleich, Frankfurt/M. New York 1994,33-43. - Vgl. weiters Peter Wehling, Die Moderne als Sozialmythos. Zur Kritik sozialwissenschaftlicher Modernisierungstheorien, Frankfurt/M. - New York 1992. 14 Hugo von Hoftnannsthal, Gabriele D'Annunzio, in: Ders., Reden

Anmerkungen

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und Aufsätze, Bd. 1 = Gesammelte Werke in zehn Bänden, hg. von Bernd Schoeller - Rudolf Hirsch, Frankfurt/M. 1979,174. György Lukács, Die Wege gingen auseinander. Die „Acht" und die neue ungarische Bildende Kunst (= Nyugat 1910). Zit. nach Aranka Ugrin - Kálmán Vargha (Hg.), „Nyugat" und sein Kreis 1908-1941, Leipzig 1989, 66. Hermann Bahr, Das junge Österreich [1893]. Zit. nach Gotthart Wunberg, Das Junge Wien. Österreichische Literatur- und Kunstkritik 1887-1902, Bd. 1, Tübingen 1976, 366. Max Burckhard, Modern, in: Die Zeit, Bd. 20, 1899. Zit. nach Gotthart Wunberg, Das Junge Wien a. a. O., Bd. 2,1008. Gaston Deschamps, Die moderne Frau, in: Neue Freie Presse, 25. Dezember 1900. Hartmut Zelinsky, Der „Weg" der „Blauen Reiter", in: Arnold Schönberg - Wassily Kandinsky, Briefe, Bilder und Dokumente einer außergewöhnlichen Beziehung, hg. von Jelena Hahl-Koch, München 1983, 242. Jacques Le Bider, Modernité viennoise et crises de l'identité, Paris 21994. - Deutsch: Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität, Wien 1990. Hermann Bahr, Tagebücher, Skizzenbücher, Notizhefte, Bd. 1: 1885-1890, hg. von Moritz Csáky, bearbeitet von Lotteiis Moser und Helene Zand, Wien - Köln - Weimar 1994. Hermann Bahr, Studien zur Kritik der Moderne, Frankfurt/M. 1894, 78. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften a. a. 0.54-56, Zitat 55. Robert Musil, Stilgeneration oder Generationsstil, in: Ders., Gesammelte Werke I: Prosa und Stücke, hg. Adolf Frisé, Reinbek b. Hamburg 1983, 662. Otto Wagner, Moderne Architektur, in: Otto Antonia Graf (Hg.), Otto Wagner 1 : Das Werk des Architekten 1860-1902, Wien - Köln - Graz 1985, 263-287. In: Albert Ilg (Hg.), Kunstgeschichtliche Charakterbilder aus Österreich-Ungarn, Prag - Wien - Leipzig 1893, 257-308. Hermann Bahr, Studien zur Kritik der Moderne a. a. O. 77 f. Ruggiero Bomano, Paese Italia. Venti secoli di identità, Roma 1994. Hugo von Hoftnannsthal, Ungeschriebenes Nachwort zum „Rosenkavalier" (1911), in: Ders., Gesammelte Werke. Dramen V: Operndichtungen, hg. von Bernd Schoeller - Rudolf Hirsch, Frankfurt/M. 1979, 147. Hermann Bahr, Studien zur Kritik der Moderne a. a. O. 75, 78. Franz Servaes, Wien. Briefe an eine Freundin in Berlin, Leipzig o. J. (= 1907), 47. Hermann Bahr, Studien zur Kritik der Moderne a. a. O. 79. Unter dem Pseudonym Leopold Stollberg z. B. „Reiche Mäd-

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chen", 1909 (Operette in 3 Akten, nach „Göttin der Vernunft" von Johann Strauß [189η), „Mein junger Herr", 1910 (Operette in 3 Akten, Oscar Straus), „Der blaue Held" (Operette in 3 Akten, nach „Karneval in Rom" von Johann Strauß [1873]) - Vgl. Richard Traubner, Operetta a. a. 0.131. - Bernard Grun, Kulturgeschichte der Operette a. a. 0.403. 34 Felix Dormami schrieb an die vierzehn Operettenlibretti, u. a. „Walzertraum", 1907 (Operette in 3 Akten, mit Leopold Jacobson, Oscar Straus), „Der unsterbliche Lump", 1910 (Operette in 3 Akten, Edmund Eysler), „Majestät Mimi", 1911 (Operette in 3 Akten, mit Roda Roda, Bruno Granichstädten), „Eriwan", 1918 (Operette in 3 Akten, Oskar Nedbat), u. a. - Vgl. Bernard Grun, Kulturgeschichte der Operette a. a. O. 391, 407 f. - Martin Lichtfiiss, Operette im Ausverkauf. Studien zum Libretto des musikalischen Unterhaltungstheaters im Österreich der Zwischenkriegszeit, Wien - Köln 1989, 312. - Jens Malte Fischer, Fin de siècle. Kommentar zu einer Epoche, München 1978,114-124. 35 Léon verfaßte die Libretti u. a. zu: „Der Rastelbinder", 1902 (Franz Lehár), „Der Göttergatte", 1904 (Franz Lehár), „Die lustige Witwe", 1905 (Franz Lehár) u. a. Léon schrieb bzw. bearbeitete auch das Libretto „Opernball" (Richard Heuberger), „Wiener Blut" (Johann Strauß) und „Der fidele Bauer" (LeoFa«). Vgl. Otto Schneidereit, Franz Lehár. Eine Biographie in Zitaten, Innsbruck 1984. 36 Vgl. Franz Mailer, Weltbürger der Musik. Eine Oscar-Straus-Biographie, Wien 1984, 59-71. 37 Vgl. Arthur Schnitzler, Briefe 1875-1912, hg. von Therese Nicki und Heinrich Schnitzler, Frankfurt/M. 1981, 618 f., 946 und passim. 38 Brief Theodor Herzls an die Theateragentur A. Entsch in Berlin, Wien 7. Dezember 1890, in: A. Brein - H. Greive - M. Scharf - J. H. Schoeps (Hg.), Theodor Herzls Briefe und Tagebücher Bd. 1: Theodor Herzls Briefe und autobiographische Notizen 18661895, bearb. von Johannes Wachten, Berlin 1983, 408. 39 Theodor Herzl an die Eltern, Reichenau 5. Juni 1890, in: ebd. 389. 40 Werner Welzig (Hg.), Arthur Schnitzler Tagebuch 1879-1892, Wien 1987, 320. 41 Karl Kraus, Die Demolirte Literatur (1897; hier zitiert nach der 5. Auflage aus dem Jahre 1899), in: Karl Kraus, Frühe Schriften 1892-1900, hg. von Johann J. Braakenburg, Bd. 2, München 1979, 293. 42 „Vesd a szemed a társaságra - Mely ma él; mely óriási - Méretekben áll elötted. - Mely ki nem merithetö - Üde forrás; mely az élet - Nagy komédiáival - Oly tôkéletesen oktat, - Hogy nem képes arra múlt. - A jelent játszd a jelennek, - Mindig a legmulattatóbb ez, - Mindig a legérdekesb. - Szóval, úgy van: légy modem!" Vgl. György Székely - István Szilágyi (Hg.), A Vigszin-

Anmerkungen

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ház 75 ève [75 Jahre Vigszinház], Budapest 1975. - Vgl. auch Bálint Magyar, A Vigszinház tôrténete. Alapitásától az államositásig 1896-1949 [Geschichte des Vigszinház. Von der Gründung bis zu seiner Verstaatlichung], Budapest 1979, 58 f. „Vagyis: A Lehár Ferenc darabja immár nem operett, hanem kortôrténeti esemény, az idök szellemének megnyilvánulása, csaknem fogalom . . . " . Rároly Lovik, A vig özvegy [Die lustige Witwe], in: A Hét. Politikai és irodahni szemle [Die Woche. Politische und literarische Rundschau], 1900-1907. Válogatás [Auswahl], 445-445, Zitat 443 (aus dem Jahre 1907). Felix Saiten, Die neue Operette, in: Die Zeit (1906), zitiert nach Otto Schneidereit, Franz Lehár. Eine Biographie in Zitaten, Innsbruck 1984, 107-108. Hanna im Entrée-Lied des 1. Aktes, in: Franz Lehár, Die lustige Witwe a. a. O. 24 ff. Danilo im Finale II. des 2. Aktes: „Verlieb dich oft, verlob dich selten, heirate nie! - Die Ehe ist für mich privat - Ich rede nur als Diplomat - Wahrhaftig nur ein Standpunkt, der längst überwunden", in: Franz Lehár, Die Lustige Witwe a. a. O. 107 ff. Hanna im Finale II. des 2. Aktes: „Ein flotter Ehestand soll's sein - ,Ganz nach Pariser Art'! - Er sagt,Madame', ich sag,Monsieur': - ,Ganz nach Pariser Art'! - Wir lieben uns, wie sich's versteht, ,Ganz nach Pariser Art'! - Wo jeder seine Wege geht! - ,Ganz nach Pariser Art'!" In: Franz Lehár, Die lustige Witwe a. a. O. 109 ff. Hermann Bahr, Marokkanischer Roman. Skizze [1889], in: Hermann Bahr, Tagebücher, Skizzenbücher, Notizhefte. Hg. von Moritz Csáky, bearbeitet von Lotteiis Moser und Helen Zand, Bd. 1: 1885-1890, Wien - Köln - Weimar 1994, 374. - Übrigens berichtet Hermann Bahr aus der Zeit seines Pariser Studienaufenthaltes (1889) in seinem Tagebuch von einem zaghaften Einzug der Wiener Operette in Paris: „L'Etudiant Pauvre - unser Bettelstudent [von Carl Mttlöcker, 1882], Primière mit mäßigem Erfolge. Girardi haben sie keinen. Dagegen Madame Lardois allerliebst und Madame Freder, eine ganz kleine Puppe mit großen, leuchtenden schwarzen Augen, eine Mischung von schelmischer Ingenue und raffmirter Buhlerin, die sich köstlich ausnimmt". Ebd. 98 (18. Jänner 1889). Hermann Bahr, Tagebücher, Skizzenbücher, Notizhefte, Bd. 1, a. a. O. 129-130 [1888 Skizzenbuch I], - Vgl. auch Birgit PankeKochinke, Die anständige Frau. Konzeption und Umsetzung bürgerlicher Moral im 18. und 19. Jahrhundert, Pfaffenweiler 1991. Duett Nr. 5,1. Akt, in: Franz Lehár, Die lustige Witwe a. a. O. 34 ff. Eric J. Hobsbawm, Die Blütezeit des Kapitals. Eine Kulturgeschichte der Jahre 1848-1875, Frankfurt/M. 1980, 287. Vgl. Philippe Ariès - Georges Duby (Hg.), Geschichte des privaten Lebens, Bd. 4: Von der Revolution zum Großen Krieg, hg. von Michelle Perrot, Frankfurt/M. 1992,16 f. - Konstanze Mittender-

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fer, Stichworte zur Biedermeierzeit: „Haus" und „Häuslichkeit", in: Bürgersinn und Aufbegehren (= Ausstellungskatalog), Wien 1988, 565-567. 53 Karl Kraus, Ernst ist das Leben, heiter ist die Operette, in: Die Fackel Nr. 313/514 (31. Dezember 1910) 16. 54 Otto Brusatti - Wilhelm Deutschmann, FleZiWiCsá & Co. Die Wiener Operette, Wien 1985, 56. 55 Textbuch der Gesänge „Ein Walzertraum". Operette in drei Akten von Felix Dörmann und Leopold Jacobson, Musik von Oscar Straus, Wien [Verlag Doblinger] 1907, 10, 37. 56 Der Graf von Luxemburg. Operette in drei Akten von A. M. Willner und Robert Bodanzky, Musik von Franz Lehár, Wien [Glocken-Verlag] 1957,18. 57 Alma Mahler-Werfel, Mein Leben. Vorwort von Willy Haas, Frankfurt/M. 1993, 149-150. 58 Hoflnannsthal an Strauss, Ende Juni 1924, in: Richard Strauss Hugo von Hoftnannsthal, Briefwechsel, hg. von Willi Schuh, München 1990, 521. 59 Juliane Vogel, Zu Hofmannsthals Operndichtungen, in: Dies. (Hg.), Hugo von Hofmannsthals Operndichtungen, Salzburg Wien 1994,484. 60 Hoftnannsthal an Strauss, 26. Juli 1928, in: Richard Strauss Hugo von Hoftnannsthal, Briefwechsel a. a. O. 649 ff. 61 Alma Mahler-Werfel, Mein Leben a. a. O. 354. 62 Hoftnannsthal an Strauss, 26. Juli 1928, in: Richard Strauss Hugo von Hoftnannsthal, Briefwechsel a. a. O. 651. 63 Über Hofmannsthals Anti-Ästhetizismus, Anti-Décadence und Anti-Dilettantismus seit den frühen 90er Jahren vgl. Roger Bauer, Gänsefüßchendekadence. Zur Kritik und Literatur der Jahrhundertwende in Wien, in: Literatur und Kritik, Februar/März 1985, 21-29.-Ders., Eine „Décadence, die sich Gänsefüßchen gefallen lassen muß." Anmerkungen zur Literatur des Wiener „fin de siècle, in: HerbertZeman (Hg.), Die österreichische Literatur. Ihr Profil von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart (18801980), Graz 1989, 273-278. 64 Hugo von Hoftnannsthal, Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze III 1925-1929, Buch der Freunde, Aufzeichnungen 1889-1929, hg. von Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert in Beratung mit Rudolf Hirsch, Frankfurt/M. 1980, 593 f. 65 Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, in: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. Giorgio Colli- Mazzino Montinari, Bd. 6, München 1980, 13-14.

Kapitel 6:

Die Heterogenität der mitteleuropäischen Region „ . . . give a n d t a k e of m e l o d i e s . . ." In seinen „Œuvres dansantes ,Décaméron dramatique'" ließ Jacques Offenbach bereits 1854 eine ganze Reihe von „nationalen" europäischen Tänzen, nämlich Walzer, Polka, Mazurka, Redowa [böhmischer Tanz], Varsovienne [Warschauer Mazurka] und Schottische Tänze aufspielen. 1 Vielleicht ist dies ein Indiz dafür, daß das Pariser Publikum der Offenbachschen Musik nicht nur das Fremde, das Exotische liebte, sondern auch das Internationale bevorzugte und damit seine großstädtische Weltoffenheit zum Ausdruck brachte. Ahnliches findet sich auch in Wien. In der selten gespielten Balletteinlage am Ende des zweiten Aktes der „Fledermaus" finden sich folgende Tänze: Spanisch, Schottisch, Russisch, Böhmisch (Polka) und Ungarisch (Csárdás), gefolgt vom großen Fledermaus-Walzer. Und in einer Textpassage im Finale I des ersten Aktes der „Lustigen Witwe" wird die Kenntnis verschiedenster Tänze rühmend hervorgehoben: „Der junge Mann tanzt Polka, - Ich hab es ausprobiert, - Auch tanzt famos er Mazurka, - Ich hab es ausprobiert, - Nach rechts und links kann er tanzen, - Ich hab es ausprobiert, - Im Walzer, da hat er exzelliert, - Drum wird er von mir protegiert." 2 Eine solche Internationalität in den Tanzabfolgen der Wiener Operette mag als eine Anlehnung an das Offenbachsche Vorbild gedeutet werden, dennoch konnte sie ebenso auf eigene, autochthone Traditionen zurückgreifen. Trotz des zwar nicht allgemein bewußten europäischen Backgrounds in der musikalischen Kompositions- und Aufführungspraxis des 19. Jahrhunderts hatte eine solche Internationalität und der Rückgriff auf mannigfache „nationale", das heißt folkloristische Stilelemente und musikalische Motive in der Habsburgermonarchie eine eigene, eine ganz besondere Konnotation, die

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sich sowohl aus der Pluralität des Vielvölkerstaates als auch aus einer kulturellen und musikalischen Offenheit seiner einzelnen Subregionen (Länder) begründete. Zum Beispiel sind in Melodien- und Tanzsammlungen des pannonischen Raumes zumindest seit dem 17. Jahrhundert Anleihen aus den folkloristischen Elementen der gesamten Region nachweisbar. Im 1688 erschienenen „Musicalisch-Türckischen Eulen-Spiegel", der auch als „Dacianischer Simplicissimus aus Güntz" Verbreitung gefunden hat, trug der gebürtige Schlesier Daniel Speer Tänze zusammen, die er auf seinen Reisen gehört und gesammelt hatte: türkische, polnische, ungarische, moskowitische, wallachische, griechische und kosakische Lieder und Ballette.3 Spätestens seit den Forschungen von Béla Bartók kann auch wissenschaftlich als erwiesen gelten, daß das ungarische Volkslied beziehungsweise die Lieder und Melodien der Völker der mitteleuropäischen Region keineswegs national homogen sind, daß sie vielmehr immer wieder von vielfältigen „nationalen" Codes, von Anleihen bei den Nachbarn profitierten und entweder aufgrund musikalischer Assimilations- und Akkulturationsprozesse entstanden sind oder sich durch eine gegenseitige Beeinflussung weiterentwickelt haben. Bartók hat dieser Ansicht in einem kurzen, aber bahnbrechenden Aufsatz, in welchem er sich während der vierziger Jahre, also zur Zeit des Nationalsozialismus, mit Rassenvoreingenommenheiten in der Musik auseinandergesetzt hat, Ausdruck verliehen: „From the very beginning I have been amazed by the extraordinary wealth of melody types existing in the territory under investigation in Eastern Europe. As I pursued my research, this amazement increased. In view of the comparatively small size of the countries numbering forty orfiftymillion people - the variety in folk music is really marvellous! It is still more remarkable when compared with the peasant music of other more or less remote regions, for instance North Africa, where the Arab peasant music presents so much less variety. What can be the reason for this wealth? How has it come to pass?

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The answer to this question appeared only later, when sufficient material from the various Eastern European peoples was available to permit of scientific analysis. Comparison of the folk music of these peoples made it clear that there was a continuous give and take of melodies, a constant crossing and recrossing which had persisted through centuries." 4 Weshalb fand gerade hier, in der zentraleuropäischen Region, eine so intensive musikalische Interaktion statt, die selbst vor der Volksmusik nicht haltmachte?

Widersprüchliche Kohärenz einer Region Die Habsburgermonarchie befand sich in einem Teil einer europäischen Region, deren auffallendes, signifikantes Merkmal darin bestand, daß sich in ihr eine besonders dichte ethnische, sprachliche und kulturelle Vielfalt vorfand. So paradox dies auch klingen mag, das Übereinstimmende dieser Region bestand in ihrer pluralistischen Verfaßtheit. Die Einheit und Kohärenz der Monarchie und die Einheit und Kohärenz der in ihr befindlichen Königreiche und Länder läßt sich konsequenter Weise ebenfalls auf diese pluralistische Situation zurückführen. Denn die in einer großen Dichte nebeneinander lebenden und miteinander verflochtenen Völker und Kulturen der Monarchie konnten einzeln oder gesondert jeweils nur dann einen gesicherten Bestand haben, wenn sie einander respektierten und miteinander auszukommen trachteten. Daraus entwickelte sich ein gewisser Pragmatismus des Zusammenlebens, und dieser Pragmatismus, der auf die ethnische und sozio-kulturelle Reziprozität Bezug nahm, wurde auch in der praktischen politisch-ökonomischen Realität zu einer wichtigen Leitlinie des politischen und sozialen Handelns. Auf dieser Einsicht beruhte jene Erkenntnis, die bereits auf der ersten „internationalen Wirtschaftskonferenz" von Visegrád (in Ungarn) im Jahre 1335 den ungarischen, polnischen und böhmischen Königen und den bayerischen und lothringischen Abgesand-

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ten deutlich geworden war. Die Teilnehmer dieser Konferenz ließen sich von der Überzeugung leiten, daß die Länder dieser zentraleuropäischen Region nicht unabhängig voneinander existieren konnten, sondern wirtschaftlich aufeinander angewiesen wären, so daß sie, um wirtschaftlich überleben zu können, miteinander kooperieren müßten. Sie verfolgten daher die Idee der Schaffung eines einheitlichen, nach dem Westen orientierten mitteleuropäischen Wirtschaftsraumes, der allein gegen störende Einflüsse, zum Beispiel gegen das erst kurz zuvor restriktiv ausgelegte Wiener Stapelrecht, das den gesamten West-Ost-Handel nicht nur kontrollierte, sondern lahmzulegen drohte, bestehen konnte. Von ähnlichen ökonomischen Überlegungen ließen sich auch die österreichischen Kameralisten des späten 17. und 18. Jahrhunderts leiten. Auch für sie beruhte die Einheit der Region bzw. der Monarchie gegenüber dem Heiligen Römischen Reich auf wirtschaftlichen Voraussetzungen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die nach der zweiten Türkenbelagerung Wiens (1683) verfaßte Schrift Philipp Wilhelm von Hörnigks „Österreich über alles, wann es nur will" (1684). Hörnigks Anliegen bestand vor allem darin, die wirtschaftliche Autarkie der Donaumonarchie theoretisch zu begründen und Mittel und Wege aufzuzeigen, wie diese im europäischen Kontext und gegenüber dem Heiligen Römischen Reich erreicht werden könnte. Es ist daher verständlich, daß für ihn die Monarchie in ihrer Vielfalt eine kohärente Einheit darstellte. So beschrieb er zu Beginn seiner Ausführungen sein Objekt, das heißt er versuchte eine Definition davon zu vermitteln, was er unter „Österreich" verstand: „Durch vorausgesetztes mein ,Österreich' verstehe ich nicht bloßer Dinge das weltbelobte, zu beiden Seiten des Donaustroms erstreckte Erz-Herzogtum dieses Namens, sondern anbei alle und jede des Deutschen Österreichischen Erzhauses, es sei in- oder außerhalb des Rom. Reichs gelegene Erbkönigreich und Länder, demnach Ungarn mit darunter begriffen.'^ Parallel zu Kooperationsbestrebungen die Wirtschaft-

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lieh motiviert waren, gab es bereits seit dem Hochmittelalter auch rein politisch motivierte Föderalisierungsbestrebungen. Diese wurden von den Dynastien Ungarns, Polens, Böhmens oder Österreichs (Erblande) jeweils unterschiedlich definiert, hatten aber stets den politischen Zusammenschluß zumindest eines Teils der mitteleuropäischen Region zum Ziele und wurden durch Erbverträge, durch eine gezielte Heiratspolitik oder durch Militäraktionen vorangetrieben. Während sich die Politik der Babenberger und der ihnen nachfolgenden Habsburger zunächst auf einen Zusammenschluß, auf eine Föderation der Erblande richtete, waren regionale, zentraleuropäische Föderalisierungsversuche bereits im 13. und 14. Jahrhundert von den imgarischen Arpaden und Anjous, von dem Böhmen Ottokar Premysl und im ausgehenden 14. und 15. Jahrhundert von den böhmisch-ungarischen Luxemburgern, den polnisch-böhmischen Jagiellonen oder dem Ungarnkönig Matthias Corvinus unternommen worden. Die Habsburger des 15. und 16. Jahrhunderts bedienten sich dann dieses auf der dynastischen Ebene etablierten Know-hows. Dank eines für Ferdinand I. glücklichen Zufalls traten nach der Schlacht von Mohács, in deren Folge der ungarische König Ludwig II. aus dem polnischen Hause Jagiello 1526 ohne männliche Erben zu hinterlassen gestorben war, die Erbschaftsverträge des Wiener Kongresses von 1514/15 in Kraft. Die bereits unter den Jagiellonen in einer Personalunion regierten Königreiche Böhmen und Ungarn wurden nun mit den österreichischen Erblanden vereinigt, womit den Habsburgern die Vereinigung jenes Länderkomplexes gelang, der im wesentlichen bis 1918 das Herrschaftsgebiet der Donaumonarchie bleiben sollte. Freilich wäre allein diese dynastische Föderalisierungspolitik ohne Erfolg geblieben, wären nicht auch auf den verschiedensten sozialen und politischen Ebenen vergleichbare Anstrengungen und Interessen verfolgt worden. Hier wäre zunächst auf eine gewisse Homogenität auf der ständischen Ebene zu verweisen, auf ein über die jeweiligen engeren Landesgrenzen hinausreichendes

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Die Heterogenität der mitteleuropäischen Region

Übereinkommen oder Zusammenspiel der politisch potenten Schichten, der Stände bzw. des Adels, das gerade seit dem 15. Jahrhundert in einer gemeinsamen Frontstellung gegen eine politische Zentralgewalt ebenso zum Ausdruck kam wie in einer von der politischen Vernunft diktierten Kooperation auf der militärischen Ebene gegenüber einer die Gesamtregion, also auch die einzelnen Länder gefährdenden militärischen Bedrohung von außen (Türkenabwehr). Diese politischen Kooperationen hatten eine sozio-ökonomische und privat-familiäre Annäherung etwa des Adels der einzelnen Länder zur Folge, die sich in einer „regionalen" Heiratspolitik manifestierte, was wiederum eine wichtige Voraussetzung für die Ausbildung einer analogen Mentalität, eines analogen Bewußseins zumindest in diesen sozialen Schichten sein mochte. Das heißt, diese regionale Angleichung auf der oberen sozialen Ebene kam nicht nur in einer die jeweiligen Staatsterritorien überschreitenden verwandtschaftlichen Beziehung zum Ausdruck, es lockerten und relativierten sich damit auch politische Loyalitäten, wofür die wachsende Zahl von Inkorporierungen (Inkolaten) zunächst fremder ständischer Repräsentanten in die Landtage der verschiedenen Länder ein Indiz sein mag. Ähnliches ließe sich auch von den Bewohnern der Städte dieser Region sagen. Die überregionale, insbesondere aber die regionale Mobilität der städtischen Bewohner dieser Länder war in der Frühen Neuzeit wesentlich größer, als wir im allgemeinen anzunehmen gewillt sind. Sowohl die politische als auch die ethnisch-kulturelle Pluralität der mitteleuropäischen Region blieb in der Habsburgermonarchie bis zu ihrem Ende erhalten und war in den verschiedensten Bereichen sichtbar. Die einzelnen Territorien, Provinzen und Länder bewahrten bis zuletzt zum Teil wesentliche Merkmale ihrer eigenständigen politischen Verfassimg, trotz der Klammer eines übergeordneten zentralen Verwaltungssystems. Die bundesstaatliche Struktur des heutigen Österreich beruht auf diesen Traditionen und leitet sich von dieser historischen Entwicklung ab. Zudem waren verschiedene Teilberei-

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che der Monarchie, die zunehmend zu einer kohärenten Einheit zusammengewachsen waren, bis ins 19. Jahrhundert mit dem Heiligen Römischen Reich verbunden, wie Böhmen oder die Erblande; andere Länder aber, wie etwa das Königreich Ungarn, verstanden es, ihrer politischen Souveränität, die von einem starken ständischen System getragen war, über Jahrhunderte hindurch eher Rechnung zu tragen als eben zum Beispiel das Königreich Böhmen, das seit dem Dreißigjährigen Krieg, seit der „verneuerten Landesordnung" vom Jahre 1627, durch die Entmachtung der Stände in seinen politischen Rechten beträchtlich beschnitten worden war. Nimmt man diese politische Komplexität der Monarchie insgesamt in Betracht, dann lassen sich zumindest drei wesentliche Strukturebenen namhaft machen, die für die pluralistische politische Verfaßtheit dieser Region und für die politische Kultur ihrer Bewohner von entscheidender Bedeutung geworden sind: die politisch-administrative Ebene, die allgemeine kulturelle Ebene und die Ebene der sprachlichen Diversität.

Politische und kulturelle Pluralität Man kann zunächst beobachten, daß der Zusammenschluß der unterschiedlichen Länderkomplexe historisch so verlaufen ist, daß wir es zunächst mit einem kleinen, in sich jedoch noch immer differenzierten Kern von Ländern, nämlich den Erblanden, die keine Königreiche waren, zu tun haben, zu denen dann große Länder, etwa die Königreiche Böhmen und Ungarn, die zudem eine gesicherte politische Tradition aufweisen konnten, hinzukamen. Wenn man dies bedenkt, ist es eigentlich nicht verwunderlich, daß es auch im Verlaufe von Jahrhunderten nicht gelingen konnte, die großen, dominanten „Randgebiete" an dieses kleine Zentrum anzugleichen. Vielmehr konnten die großen Teilbereiche ihrer Eigenständigkeit nie verlustig gehen, bezogen doch beispielsweise die Habsburger als Regenten der Gesamtmonar-

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chie ihr praktisches politisches Renommee zunächst aus diesen Randgebieten. Als regierende Könige von Böhmen und Ungarn hatten sie selbst als Kaiser im Reich, das heißt im Deutschen Reichstag, mehr Gewicht denn als Erzherzöge von kleinen Erblanden; zudem konnten sie sich hier, im Unterschied zum Heiligen Römischen Reich, wo die Wahl zum Kaiser immer von neuem anstand, allmählich auf eine durch das Erbrecht gesicherte politische Autorität berufen. Diese Ansicht vertrat Mitte des 19. Jahrhunderts unter anderem der Politiker und Schriftsteller Joseph von Eötvös. Der heute sehr zu Unrecht vergessene Eötvös war ohne Zweifel einer der bedeutendsten liberalen Staatstheoretiker; er verfaßte unter anderem ein Alexis de Tocqueville verpflichtetes zweibändiges Werk „Der Einfluß der herrschenden Ideen des 19. Jahrhunderts auf den Staat" (1851-1854). In seinem Essay „Die Garantien der Macht und Einheit Oesterreichs" hat er 1859 auf die oben dargelegte Sonderentwicklung der Habsburgermonarchie aufmerksam gemacht und gemeint, daß ein wesentlicher Unterschied bei der Herausbildung der Monarchie im Vergleich zu westeuropäischen Staaten eben in dieser Pluralität und in der Diskrepanz zwischen einem kleinen Zentrum und den mächtigen Randgebieten liege: „Die Vergrößerung des Hauses Oesterreich ist eine in der Geschichte beispiellose. Auch wenn man von Spanien ganz abstrahirt, so stehen doch jene Länder, welche zugleich mit der böhmischen und ungarischen Krone dem Erzhause zufielen, in Hinsicht ihrer Größe mit den Erblanden, welche es damals besaß, in gar keinem Verhältniß, so daß bei den nationeilen und Culturverschiedenheiten eine Assimilation vernünftig auch nicht einmal zu versuchen war."6 Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, daß nämlich auf der politisch-verfassungsmäßigen Ebene eine totale Vereinheitlichimg und Angleichung der Königreiche und Länder nicht möglich war, wird es auch besser verständlich, daß die Initiativen, die aus der locker zusammengefügten Monarchie einen österreichischen Einheitsstaat machen wollten, zunehmend auf die kulturelle Ebene

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verlagert wurden. So wurde seit dem 18. Jahrhundert der Ronkurrenz- und Machtkampf der einzelnen Teilbereiche, der Kronländer, immer mehr auf dem Bildungs- und Sprachensektor ausgetragen, und man bemühte sich mit wachsender Aggressivität verschiedene Vereinnahmungsversuche, die den anderen Volksgruppen gegenüber - „Deutsche" gegen Slawen, Magyaren gegen Slawen und Rumänen usw. - stets auch mit der jeweiligen politischen Überlegenheit begründet wurden, zunehmend mit einer ideologisch motivierten kulturellen „Auserwähltheit", etwa der Kulturmission der deutschen Österreicher den Slawen gegenüber, zu rechtfertigen. Ferdinand von Bauernfeld brachte dies in seinen Erinnerungen „ A u s Alt- und Neu-Wien" (1873) mit folgenden Worten kurz und bündig zum Ausdruck: „Österreich ist deutschen Ursprungs. Seine frühere Aufgabe war, die Barbaren zu bekämpfen, seine spätere: sie zu kultivieren." 7 Eine vergleichbare Entwicklung begegnet man auch im politisch heterogenen Heiligen Römischen Reich: dort wurden zwar einzelne Staaten und „Volksgruppen" wie Bayern oder Sachsen, ebenfalls gegeneinander ausgespielt; seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wurde jedoch die Idee einer deutschen Kulturnation zum Ersatz und Surrogat solcher Übervorteilungen und zur einigenden Grundlage für die noch nicht vorhandene politische Nation.

Verwaltung und sprachliche Pluralität Die Idee von der Monarchie als Gesamtstaat und die politische Umsetzung dieser Idee vollzog sich seit der Frühen Neuzeit vornehmlich auf der Ebene der politischen Verwaltung und der zentralen Administration.8 Zuweilen waren es freilich äußere Zwänge, die dafür ausschlaggebend sein mochten, eine koordinierte, zentrale Verwaltung zu fordern. Die Generallandtage des 16. Jahrhunderts, zu denen sich die ständischen Vertreter verschiedener Erblande zusammenfanden, waren nicht zu-

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letzt die Folge der drohenden Türkengefahr: Gemeinsam und koordiniert konnte die Finanzierung, die für die militärische Abwehr vonnöten war, besser organisiert und wirksamer eingesetzt werden. Ein anderer Aspekt war die Frage nach der effizienten Regierbarkeit eines politisch so völlig differenzierten Staatengebildes, wie es die Habsburgermonarchie darstellte. Die übergeordneten Interessen der Gesamtmonarchie zwangen bereits seit dem 16. Jahrhundert dazu, wichtige Regierungsgeschäfte der einzelnen Länder nach Wien, an den Sitz des Herrschers, auszulagern. Dort siedelten sich nicht nur die Hofkanzleien der einzelnen Königreiche und Länder, sondern auch wichtige Dikasterien (Ministerien) dieser Länder an, weil sie so dem politischen Entscheidungsträger, dem Herrscher, näher waren und zudem auch untereinander besser kommunizieren konnten. Es entwickelten sich folglich allgemein verständliche bürokratische Grundverkehrsregeln, und jene, die sich ihrer bedienten, die Beamten, konnten nun miteinander in einer Verwaltungssprache verkehren, die sie alle verstanden; sie benutzten Verwaltungs-Codes, die zunehmend vereinheitlicht wurden und schließlich allseits verwendet werden konnten. Die strukturelle Vereinheitlichimg der Verwaltung lag also vornehmlich im Interesse der Beamten dieser Hof- und Zentralstellen. Die Tendenz, die Inhalte (Verordnungen) und das für deren Abfassung und Verbreitung (Durchführung) nötige Instrumentarium, etwa die Verwaltungssprache, zu vereinheitlichen, ging von der Bürokratie aus. Benedict Anderson hat in seiner Untersuchung über die Entstehung des Nationalismus auf die Bedeutimg der sich vereinheitlichenden Verwaltung aufmerksam gemacht, deren Erlässe und Verordnungen in einer für jedermann verständlichen und verbindlichen Sprache abgefaßt sein mußten und durch den Buchdruck allgemein verbreitet werden konnten. Für die Herausbildung des modernen nationalen Flächenstaates wurde diese vereinheitlichte und im Buchdruck verschriftlichte Verwaltung von großer Bedeutung. 9 Freilich konnte sich in der Habsburger-

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monarchie aufgrund der bereits erwähnten Tatsache, daß die regional-politische Inhomogenität auch mit beträchtlichen landessprachlichen Unterschieden verbunden war, eine moderne einheitliche Verwaltungssprache nicht recht durchsetzen. War zunächst Latein die allgemein verbindliche Sprache der Bürokratie gewesen, so kamen seit dem 17. Jahrhundert auf den einzelnen Landesebenen zunehmend die Nationalsprachen zur Geltung, ganz abgesehen davon, daß Erlässe und Verordnungen in den kleinen Subregionen, etwa den ungarischen Romitaten, schon immer auch auf die jeweilige Regionalsprache Rücksicht zu nehmen hatten. Bekanntlich war wegen der Sprachenpluralität im Königreich Ungarn Latein bis ins Jahr 1844 die gesetzlich verbindliche Verwaltungssprache geblieben, und auch die späteren magyarischen Uniformisierungsversuche hatten es nicht zustande gebracht, aus dem Königreich Ungarn, einem „Europa im kleinen" (Johann Csaplovics, 1820), einen homogenen Nationalstaat mit einer Nationalsprache zu machen. So bemerkt noch 1879 der ungarische Schriftsteller Imre Gáspár: „Unsere Heimat ist ein polyglottes Land. Ungarn, Deutsche, Kroaten, Slowaken, Serben, Slowenen, Rumänen leben hier - und wer weiß, wer noch alles. Es ist ein kleines Land, aber mit vier, fünf selbständigen Literaturen; außerdem ist hier das italienische, französische, deutsche, lateinische, jüdische Buch eine notwendige Selbstverständlichkeit, ganz abgesehen von Büchern, Zeitschriften und Schulen in noch weiteren fünf Sprachen, die hier alle von Wichtigkeit sind."10 Einen deutlichen Ausdruck fand diese Vielfalt an Sprachen und Literaturen im ehemaligen Köngreich Ungarn unter anderem in der Buchproduktion. Es ist auffallend, daß zumindest bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts namhafte ungarische Druckereien Bücher in allen hier gebräuchlichen Sprachen herausbrachten und daß sie durch die Unterstützung, die so all diesen Literaturen zuteil wurde, auch wichtige Propagatoren der Multikulturalität der Region gewesen sind. Eine vor wenigen Jahren erschienene Publikation über die Universitätsdruckerei in Ofen (Bu-

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da) dokumentiert für die Jahre 1777 bis 1848 das Erscheinen von Büchern in folgenden hier gebräuchlichen Sprachen neben Latein: Deutsch, Bulgarisch, Kroatisch, Hebräisch, Jiddisch, Ungarisch, Neugriechisch, Rumänisch, Ruthenisch, Serbisch und Slowakisch. 11 Ein Verzeichnis der Jahre 1825 bis 1849 zählt allein für die Universitätsdruckerei 2157 Titel auf, 524 lateinische, 951 imgarische, 81 slowakische, 372 deutsche, 512 serbische, 45 kroatische, 90 rumänische und 40 hebräische. Noch in der Zeitspanne von 1850-1866 finden sich unter den 641 hergestellten Büchern neben 80 lateinischen und 255 ungarischen Titeln 40 in slowakischer, 115 in deutscher, 60 in serbischer und 85 in hebräischer Sprache. 12 Es ist bezeichnend, daß seit der Frühen Neuzeit gerade in der mitteleuropäischen Region wohl aufgrund der reichen Sprachenvielfalt, Wörterbücher großen Absatz hatten. So zum Beispiel das zehnsprachige „europäische" Wörterbuch des Ambrosius Capelinus, das speziell für die Monarchie bestimmte Dictionarium des Pragers Peter Loderecker und das lateinisch-, ungarisch-, tschechischund deutsche Lexikon des Ungarn Fabricius von Sziksza. 13 Die weite Verbreitimg solcher Wörterbücher bereits in der Frühen Neuzeit ist nicht nur ein Indiz für die tatsächlich vorhandene Vielsprachigkeit, sie unterstreicht auch den Respekt vor und den praktischen Umgang mit Pluralitäten auf der sprachlichen Ebene. Sie ist aber auch ein Beleg dafür, daß neben den verschiedenen Standards, also Latein, Deutsch oder Französisch, die Sprachen der Region lebende Gebrauchssprachen waren und ihre Kenntnis für die Kommunikation geschätzt wurde. Noch in den Jahren 1818-1821/23 erschien bei dem Verleger Gustav Heckenast in Pest das große Wörterbuch für Latein, Ungarisch und Deutsch (Lexicon trilingue) von Joseph Márton. Márton, übrigens ein Bruder des ungarischen Kantianers Stephan Márton, war außerordentlicher Professor für ungarische Sprache und Literatur an der Universität Wien und trat als Verfasser verschiedener ungarischer und deutscher Lehrbücher und Grammatiken und als Initiator und Herausgeber von

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„Pannonia, eine Zeitschrift für Freunde der ungarischen Sprache und Literatur" hervor. 14 Die josephinische Sprachenverordnung von 1784, mit der lediglich erreicht werden sollte, Deutsch als verbindliche Verwaltungssprache einzuführen, stieß bekanntlich auf heftigen Widerstand. Deutsch war zwar im Gegensatz zu Latein eine „moderne" Sprache, welche die meisten Intellektuellen der Region beherrschten. So begründete 1802 Ludwig Schedius, Professor für Ästhetik und Literaturwissenschaft an der Pester Universität, mit folgenden Worten, weshalb er seine neue „Zeitschrift von und für Ungern zur Beförderung der vaterländischen Geschichte, Erdkunde und Literatur" in deutscher Sprache herausgab: „Niemand wird hoffentlich so kleinlich denken, es für eine Verachtung der Landessprache zu heilten. Man bedenke nur, daß der Kreis der deutschen Lesewelt, d. h. derjenigen, die deutsch zu lesen und zu verstehen im Stande sind, bey uns weit größer ist, ids jedes andern gebildeten Publicums, welches sich für solche Unternehmungen interessieren könnte; daß diese Sprache für die genaue Bezeichung der unserem Zeitalter angemessenen Begriffe, Vorstellungen und Empfindungen, schon mehr bearbeitet und gebildet ist, als jede andere bey uns anwendbare; daß endlich nur dadurch die Verbindung mit Deutschland, welche für unsere Cultur und Literatur die vortheilhafteste ist, erhalten werden kann." 15 Deutsch war aber gleichzeitig eine Sprache, aus welcher ein Teil der Bevölkerung der Monarchie seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ihre „nationale" Identität abzuleiten begann. Daher konnte die Sprachenverordnung in diesen Jahren des erwachenden Sprachnationalismus rasch auch als Germanisierungsversuch empfunden werden, was bekanntlich nicht die Absicht der josephinischen Verordnung von 1784 war. Dennoch erreichte die josephinische Verordnimg zum Teil das Gegenteil von dem, was sie wollte: Statt einer strafferen Zentralisierung wurden durch sie zentrifugale Tendenzen freigelegt, die unvermittelt in die nationalistischen Bestrebungen des 19. Jahrhunderts mündeten. Der heftige Widerstand gegen die

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Sprachenverordnung führte beispielsweise in Ungarn zur Begegnung und Verschmelzung der bis dahin getrennt agierenden zwei Bewegungen zu einer einheitlichen national-politischen Ideologie. Der politische Widerstand der Stände, das heißt der ständischen „natio hungarica", gegen die Zentralisierungsbestrebungen Wiens bediente sich zunehmend der „sprachnationalen" Agitation jener Intellektuellen, welche ursprünglich bloß die ungarische Sprache und Literatur zu beleben und zu reformieren beabsichtigten.

Sprache und nationale Zugehörigkeit Die Politisierung der Sprache als einer essentiellen Grundlage des zu erstrebenden Nationalstaates betraf zwar alle Volksgruppen der Monarchie, sie wurde aber besonders bei zwei Sprachgruppen, den Deutschen und den Italienern, von entscheidender Bedeutung, weil bei ihnen die Durchsetzimg von nationalsprachlichen Ansprüchen den Bestand der Monarchie aufs Spiel zu setzen drohte. Die Abtretung eines Großteils der italienischen Provinzen (1859, 1866), die fortan zu einem wichtigen Bestandteil des neuen italienischen Nationalstaates geworden waren, erschien manchen - so auch Joseph von Eötvös - als eine Warnimg vor jenen viel weiterreichenden Folgen, die ein Anschluß der deutschsprechenden Teile Österreichs an einen zukünftigen deutschen Nationalstaat haben könnte. Wer sich in der Monarchie zur Zeit des späten Vormärz, im Jahre 1848 und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts politisch als Deutscher bekannte, tat dies im Bewußtsein, daß er aller Voraussicht nach dem Deutschtum eines deutschen Nationalstaates angehören würde, dem er sich potentiell schon jetzt zugehörig fühlte. Er argumentierte vielleicht mehr oder weniger unbewußt gegen die Monarchie der Habsburger, die ja nur zu einem Teil in einen deutschen Nationalstaat eingehen konnte, weil viele ihrer Gebiete niemals dem Heiligen Römischen

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Reich angehört hatten, oder er stellte sich, vor allem nach Königgrätz (1866), mit seiner deutschen Gesinnung ganz bewußt in einen offenen Gegensatz zur Politik der Monarchie, die gegen die kleindeutsche Lösung unter der Vorherrschaft Preußens gerichtet war. Andere „deutsche" Österreicher, die „österreichisch-kaisertreu" waren, befanden sich in einer zunehmend schizophrenen Situation, weil sie sich zwar einem Österreichertum verpflichtet fühlten, sich gleichzeitig aber zu einem deutschen sprachlich-kulturellen Erbe bekannten, was als Zugehörigkeit zur deutschen Kulturnation interpretiert wurde. Beiden also, den „deutsch-nationalen" und den „deutschösterreichischen" Österreichern, konnte es passieren, daß sie von Außenstehenden daher ganz pauschal in ein deutsches nationales Eck gedrängt wurden, da Mehrfachloyalitäten im 19. Jahrhundert, vor allem von seiten national-ideologisch Argumentierender, immer weniger verstanden bzw. geduldet wurden. Ich glaube, daß es in diesem Zusammenhang ganz entscheidend ist, sich die vielfältigen Sinnbedeutungen von „deutsch" und den semantischen Wandel, den dieser Begriff gerade in diesen wenigen Jahrzehnten durchgemacht hat, zu vergegenwärtigen. Um das unterschiedliche Selbstbewußtsein von Individuen und von ganzen sozialen Gruppen besser zu begreifen, ist es wichtig, gerade bei einer historischen Analyse solche verschiedenen Begriffsinhalte nicht miteinander zu vermengen. Bis ins 19. Jahrhundert bezeichnete sich ein Teil der Bewohner der Monarchie entweder aufgrund der deutschen Mutter- oder Umgangssprache oder aufgrund der Tatsache, daß sie Territorien bewohnten, die bis 1806 dem Heiligen Römischen Reich angehört hatten, als Deutsche. Sie bezeichneten sich nicht nur selbst als „Deutsche, sondern wurden auch von den anderssprachigen Bewohnern der Monarchie als „Deutsche" (német, nemec, tedesco) angesehen. Das Wort „Deutscher" wurde hier in einem pränationalistischen Sinne verwendet und hatte noch nicht jenen exklusiven nationalen Anspruch, der ihm kurze Zeit später zukam. Erst als Sprache im Verlaufe

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des 19. Jahrhunderts zu einem nationalen Kriterium wurde, und der jeweilige konkrete Sprachgebrauch bzw. das Bekenntnis zu einer konkreten Muttersprache, so auch das Bekenntnis zu Deutsch, mit der jeweiligen konkreten nationalen Zugehörigkeit identifiziert wurde, begann man jeden, der im Bereich der Monarchie Deutsch als Mutter- und Hauptverkehrssprache angab und sich als „Deutscher" bekannte, auch der deutschen Nation zuzurechnen, ganz unabhängig davon, daß im alltäglichen Sprachgebrauch „deutsch" noch nicht diese semantische Zuspitzimg erfahren hatte und selbst zahlreiche Intellektuelle, wie der Publizist und Politiker Viktor von AndrianWerburg oder der Dichter und Abgeordnete Anastasius Grün, sich trotz ihrer deutsch-nationalen Attitüden zugleich als österreichische Patrioten fühlten. So bestanden nebeneinander zumindest zwei Deutungen von „Deutsch" mit einer unterschiedlichen inhaltlichen Gewichtung, was nicht nur zu Unklarheiten, sondern zu einem Dilemma beitrug, in das viele „Deutsch-Österreicher" geraten waren. Diese Problematik verschärfte sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts. Sprache war natürlich schon immer eines der wichtigsten Vehikel von kulturellen Transfers, von Inund Akkulturationsprozessen und von kulturellen Diffusionen. Deutsch als Kultur vermittelnde Sprache wurde daher im Kontext einer zunehmend deutsch-nationalen Argumentation zu einem der wichtigsten verbindenden Kriterien für eine zunächst imaginierte deutsche Nation. Georg Bollenbeck hat dies in einem jüngst erschienenen Werk über das deutsche Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts überzeugend nachgewiesen.16 Kultur orientierte sich hier zunehmend am Vorbild der Weimarer Klassik. Das auf Weimar fixierte Bildungsideal entzog sich jedwedem Zugang zu anderen, ebenfalls möglichen, vielfältigen (deutschen) Bildungsidealen. Das hatte weiterhin zur Folge, daß sowohl das Verständnis für die Plurizentrik von Kultur als auch für die Plurizentrik von Sprache, die im Grunde genommen jede große Kultur und Sprache aufweist, verlorengehen mußte. In der internationalen Dis-

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kussion der Gegenwart spielt diese Überlegung von Plurizentrik vor allem dort eine Rolle, wo es um große Sprachräume geht und wo es sich darum handelt, unterschiedliche kulturelle Identitäten in einem großen Sprachraum zu begreifen. So spielen nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern ebenso in Kanada und Australien Überlegungen über das Verhältnis zum Englischen und die sprach- und kulturwissenschaftliche Betonung kultureller Eigenständigkeiten dem Englischen gegenüber eine wichtige Rolle. Diese vor allem von Linguisten und Kulturwissenschaftlern diskutierten Überlegungen stützen sich in erster Linie auf die Erkenntnis einer kulturellen und sprachlichen Plurizentrik, wobei immer wieder auch auf das Übereinstimmende und auf das Unterschiedliche zwischen dem Deutschen und dem Österreichischen hingewiesen wird. Australische Linguisten wie Michael Clyne oder australische Literaturwissenschaftler wie Leslie Bodi wußten jene Einsichten, die sie anhand der Untersuchung des australischenglischen Verhältnisses gewonnen haben, auch auf das deutsch-österreichische anzuwenden.17 Von zahlreichen „Deutsch-Österreichern" wurde im Verlaufe des 19. Jahrhunderts eine eigene „österreichische" deutschsprachige Kultur als minderwertig angesehen. Man glaubte zuweilen, die hier nicht vorhandene „deutsche Kultur" sich aus dem „Reich" möglichst perfekt aneignen zu müssen, was zur Folge hatte, daß eigene Traditionen ganz einfach verdrängt wurden. Die Deutsch-Nationalen betrachteten Österreich als einen Teil Deutschlands und wollten einen Anschluß an das neugebildete Deutsche Reich. Als Beispiel dafür möchte ich an einen Vorfall erinnern, von dem Hermann Bahr in seinen Lebenserinnerungen berichtet. Der junge Bahr war anläßlich eines Richard-Wagner-Kommerses 1883 wegen seiner deutsch-nationalen Attitüden von der Wiener Universität relegiert worden, was ihn jedoch in seiner Gesinnung nur noch bestärkte. Bezeichnenderweise war es ein beabsichtigter Besuch bei Fürst Bismarck in Berlin, der ihn vor seiner übertriebenen deutsch-nationalen Hai-

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tung abbrachte. Der Fürst teilte nämlich seine übertriebene deutsch-nationale Gesinnung nicht und ließ ihm dies von seinem Vertrauten in der Reichskanzlei, Franz Johannes von Rottenburg, ausrichten: „Aber dann fragte mich der Rat", weiß sich Bahr in seiner Autobiographie zu erinnern, „ . . . ob ich mir denn noch niemals überlegt hätte, wieviel doch, wenn die Deutschen Österreichs aus ihrer geschichtlichen Symbiose mit Slawen, Ungarn und Italienern abgelöst würden, ihnen selbst und damit doch auch dem ganzen Deutschtum verloren gehen müßte, wie wichtig es vielmehr für das ganze Deutschtum sei, daß der deutschen Palette sozusagen die Farbe des Österreichers erhalten bleibt, eine Farbe, die er doch nur eben jener nahen Berührung mit anderen Nationen verdankt und die bald verlöschen oder doch verblassen und den hellen Glanz, um den der Österreicher in der ganzen Welt bewundert und von den übrigen Deutschen leise beneidet wird, verlieren müßte, wenn wir in den großen Teich des allgemeinen Deutschtums eingelassen würden, in dem wir ja schließlich doch kaum die Hechte wären, und ob nicht also, wenn man Gewinn und Verlust recht abschätzt, doch eigentlich schad wäre, des Österreichers Eigenheit in ein vages Neudeutsch ausrinnen zu lassen. . . . Zum erstenmal hatte mir jemand Österreichs Sinn, Gewicht und Bedeutung, gerade für das Deutschtum, gezeigt. Nie zuvor war mir noch so von Österreich gesprochen worden."18 Die Ambivalenz des deutschsprachigen Österreichers dem Deutschen und das zunehmende Minderwertigkeitsgefühl dem „Reich", seiner Sprache und Kultur gegenüber wurden freilich auch in der Monarchie durch Maßnahmen unterstützt, die ihrer Modernisierung und Innovation dienen sollten. Die Thunsche Universitäts- und Schulreform hatte nach 1849 die österreichischen Bildungsstätten weitgehend nach dem deutschen bzw. preußischen Muster eingerichtet. So sensible Fächer wie die Germanistik oder die Geschichte wurden mit deutschen Professoren besetzt mit der Folge, daß unter deutscher Literatur vornehmlich die binnendeutsche verstanden

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wurde und daß die „österreichische Geschichte" - auch in dem von Theodor von Sickel geleiteten Institut für Österreichische Geschichtsforschung - als Teil der Reichsgeschichte, das heißt aber im Verständnis der damaligen national-historischen Betrachtungsweise, als ein Bestandteil der deutschen Geschichte angesehen wurde und ihre mittelalterlichen Quellen, die „Monumenta" Austriaca, in die „Monumenta Germaniae histórica" einverleibt wurden. Dadurch entstand auch im wissenschaftlichen Bereich eine Verunsicherung der österreichischen kulturellen Tradition gegenüber, welche die bereits latent vorhandene Verunsicherung auf dem sprachlichen Sektor, die im Verlaufe des 19. Jahrhunderts durch die Aneignimg des Exklusivitätsprinzips der nationalen Ideologie, die nur ein einzige nationale Zuordnung zuließ, noch verstärkte. Es entwickelten sich, nach den Worten Leslie Bodis, „wachsende Minderwertigkeitsgefühle dem im Zeichen des deutschen Sprachnationalismus triumphierenden neuen Bismarckschen Reich gegenüber. . . . An die Stelle der traumatisierten josephinischen Aufklärung war für die Österreicher längst die Identifikation mit der Bildungsideologie der Goethezeit getreten, die immer stärker auch eine Gleichsetzung von ,deutscher Weltanschauung' und ,deutscher Bildung' mit ,deutscher Nation' postulierte." 19 Autochthone Traditionen wurden nun von einem Teil dieses am „Deutschtum" orientierten österreichischen Bildungsbürgertums entweder systematisch verdrängt oder als sekundär, wenn nicht gar als minderwertig eingestuft. Ich meine, daß gerade diese Entwicklung, neben den autoritären sozialpolitischen Strukturen, welche ein charakteristisches Merkmal der österreichischen politischen Kultur geworden war, auf jene ironische, masochistische Selbstreflexion Einfluß genommen hat, die hier bis ins 20. Jahrhundert mentalitätsprägend bleiben sollte und als „Austromasochismus" bezeichnet zu werden pflegt. Dieses offenkundige österreichisch-deutsche Dilemma wurde auch von Repräsentanten der Wiener Moderne offen angesprochen und zur Diskussion gestellt. Es ging

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dabei um die Problematik, die sich aus der Ambivalenz des von der gemeinsamen deutschen Sprache suggerierten deutschen Bildungsbewußtseins und einer zugleich erfahrenen andersartigen, eigenständigen österreichischen kulturellen Identität ergab. In der Argumentation konnte man sich, was die Frage nach einer österreichischen Eigenständigkeit betraf, solcher Metaphern bedienen, die ziun Teil bereits in der mittleren Schulbildung, etwa durch ein in den Gymnasien vermitteltes Geschichtsbild, das die gesamte Monarchie als „Österreich" behandelte und Österreich als von vielfältigen, auch von nicht-deutschen Codes bestimmt vorstellte. Als die deutsche Zeitschrift „Pan" 1898 eine Sondernummer plante, in der das literarische Leben Wiens, als einer von vielen deutschen Städten, behandelt werden sollte, entspann sich eine heftige Auseinandersetzung, von der vor allem der Briefwechsel zwischen Leopold von Andrian und Hugo von Hofmannsthal zeugt. Andrian versuchte seinen Freund zu überzeugen, daß die Wiener und österreichische Literatur nicht, so wie sie von Deutschen verstanden würde, einfach ein Teil der deutschen Literatur wäre. Er hätte erfahren, „daß dieses österreichische Heft vom Pan durchaus nicht eine Anerkennung der Selbständigkeit der österreichischen Kunst ist, sondern das gerade Gegenteil davon; es soll eine Anzahl von Heften erscheinen, jedes für ein anderes ,Deutsches Centrum', eins für Berlin, eins für München, eins für Dresden u. s. f., und als eins dieser »Deutschen Teilcentren' nehmen sie auch Wien."20 Dagegen verwahre er sich. Andrian riet daher Hofmannsthal eindringlich, an diesem Heft nur dann mitzuarbeiten, wenn ihm, Andrian, gestattet würde, eine klärende Einführung zu verfassen: „Mein Princip, Wien nicht als Deutsches Provinzcentrum ansehn und behandeln zu lassen, Österreich nicht als Annex von Deutschland .. ."21 Der Meinungsaustausch über den „Pein" bildete den Auftakt für zahlreiche weitere Briefe, welche die beiden Freunde über das Problem Deutsch - Österreichisch in den folgenden Jahren wechseln sollten. Andrians Überle-

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gungen zu einer österreichischen Identität mündeten dann später in seinem Spätwerk „Österreich im Prisma der Ideen" (1957), jene von Hofmannsthal in seiner „Österreich-Idee", deren wichtige Aussage darin bestand, daß sich das Österreichische erst aus seiner regionalen historisch-kulturellen Vielfalt definieren lasse. Hofmannsthal betonte dabei vor allem den Rekurs auf die historische Erinnerung und argumentierte vornehmlich auf einer literarisch-künstlerischen Ebene, ohne auf die sozial-politischen Gegebenheiten oder auf umfassendere kulturtheoretische Ansätze zu achten. Dadurch bekam seine Argumentation vor allem nach dem Zusammenbruch des Vielvölkerstaates in der Tat einen konservativen Anstrich und leistete jenem Klischeebild Vorschub, das Österreich ganz einfach mit der Monarchie zu identifizieren versuchte. 22

Pluralität und politische Loyalitäten Die übergeordnete, gesamtstaatliche Bürokratie unterstützte bereits seit der Frühen Neuzeit mit ihren Vereinheitlichungsbemühungen nicht nur Zentralisierungsbestrebungen, sie wurde in der Folge auch zur eigentlichen Trägerschicht einer zentralen, absoluten Herrschaft, nämlich des politischen Absolutismus, der sich über sozial-politische und sozial-kulturelle Unterschiede selbstherrlich hinwegzusetzen suchte. Die Tatsache, daß im 18. Jahrhundert, zur Zeit des aufgeklärten Absolutismus, die wichtigen sozialen und politischen Reformen der Aufklärung sich nicht von unten, von einer breiten aufgeklärten Öffentlichkeit, sondern von oben, von der politischen Regierung, nach unten durchsetzten und daß die wichtigste Trägerschicht dieser staatlichen Reformen die zentrale (Wiener) Beamtenschaft war, dürfte eine Bestätigimg für die Richtigkeit dieser Annahme sein. Die allgemeine Akzeptanz solcher bürokratisch-politischer Herrschaftsstrukturen in breiten Schichten der Bevölkerung mag auch darauf hinweisen, daß in einer pluralistischen, he-

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terogenen und folglich stets konfliktträchtigen Situation die Neigung zu quasi-absolutistischen oder zumindest zentralistisch-bürokratischen Strukturen stets latent vorhanden sein dürfte. In Österreich und in den Ländern Zentraleuropas wurde diese Art der Abhängigkeit von der politischen Machtstruktur und der praktische, alltägliche Umgang mit dieser symptomatisch für die Entwicklung einer spezifischen politischen Kultur. Nachdem Eigeninitiativen weitgehend ausgeschaltet blieben oder zumindest zweitrangig waren, konnte sich Kritik am System im allgemeinen nur indirekt, zum Beispiel im ästhetischen Bereich artikulieren, in der literarisch verfremdeten Travestie, in der Parodie oder in der Art einer ironischen Selbstreflexion. In unserem Zusammenhang ist jedoch von weiterem Interesse, daß sich diese typische Verhaltensweise letztlich auf eine pluralistische sozial-politische Lebenswelt zurückführen läßt und daß umgekehrt diese pluralistische Lebenswelt, auch nach ihrem Zerfall, in der „mémoire culturelle" noch vorhanden und bewußtseinsprägend geblieben ist. Ich möchte schließlich auch auf die Ambivalenz hinweisen, die in einer solchen komplexen politischen Situation politische Loyalitäten betraf. Die politisch-verfassungsmäßige Heterogenität der Monarchie leitete sich unter anderem aus einer Vielfalt von mehr oder weniger autonomen Königreichen und Ländern ab, die zwar dem Ganzen der Habsburgermonarchie angehörten, sich jedoch in dieses übergeordnete Ganze nie so eingefügt hatten, daß sie ihre Eigenindividualität verloren hätten. Für die Bewohner entstand daraus eine durchaus ambivalente Situation: sie waren Untertanen ihres eigenen politischen Territoriums und gleichzeitig Untertanen des Gesamtstaates. Dem einzelnen, aber auch ganzen sozialen Schichten wurde also nicht nur eine einzige politische Loyalität abgefordert, und Mehrfachloyalitäten, das heißt die Multipolarität von politischen Zuordnungen und Ausrichtungen, gehörten nicht zur Ausnahme, sondern zur Regel. Denn die Anerkennung der politischen Herrschaft manifestierte sich nicht nur durch die Einbindung in eines der König-

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reiche oder Länder, sie war auch vom Bewußtsein der Abhängigkeit von den zentralen politischen Stellen geprägt, die in der allen verständlichen Metapher der Casa d'Austria, der Dynastie, der man Untertan war und der zu dienen man vorgab, ihren symbolischen Ausdruck fand. Dazu keimen noch Querbezüge, die das umfassendere Herrschaftsgebiet der Monarchie überschritten, wie zum Beispiel die Zugehörigkeit mancher ihrer Teile zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, dessen oberste Leitung jedoch vom gleichen Regenten ausgeübt wurde wie die Herrschaft im eigenen Lande. Diese Multipolarität von politischen Loyalitäten, anders ausgedrückt: das gleichzeitige Vorhandensein mehrerer politischer Identitäten, war freilich nicht allen sozialen Schichten in gleicher Weise eigen und wohl vom konkreten Vorhandensein eines gereifteren politischen Bewußtseins abhängig. Unter dem Aspekt der von der nationalen Ideologie des 19. Jahrhunderts geforderten Ausrichtung auf ausschließlich eine einzige politische Identität wurde dann freilich versucht, dieses in der Realität vorhandene komplexe, vielfältige politische Loyalitätssystem seiner Komplexität zu entledigen. Man könnte sich freilich zu Recht fragen, ob die dadurch erreichte Reduktion, die ja darauf ausgerichtet gewesen war, Konfliktzonen zu beseitigen, deren Ursachen man in der politischen Pluralität und in der gesellschaftlichen Differenziertheit zu orten vermeinte, ihr Ziel auch tatsächlich und auf Dauer erreicht hatte. Zumindest hat das kulturelle Gedächtnis (mémoire culturelle) und zahlreiche Orte der Erinnerung (lieux de mémoire) die Möglichkeit von mehrfachen sozial-politischen Loyalitäten durchaus im kollektiven Bewußtsein der historischen Erinnerung belassen. In der erfahrbaren Realität der Bewohner dieser Region kann eine solche Multipolarität durchaus noch immer zum Bestand des politischen Alltags seiner Bewohner gehören. Ganz abgesehen davon, daß man neuerdings ohne weiteres im Besitz von zwei Staatsangehörigkeiten, also einer Doppelidentität sein kann, bietet auch die bundesstaatliche Verfassung Österreichs, die sich auf eine lange historische Tradition zurückführen

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läßt, die Grundlage für das Vorhandensein von politischen Mehrfachidentitäten: als Österreicher und als Steirer, als Kärntner und als Österreicher oder als Südtiroler beziehungsweise „Österreicher" und als Italiener.

Vielfältige Lebenswelt Neben der politischen war die ethnische Vielfalt für die Monarchie und für einzelne ihrer Länder ebenso kennzeichnend wie ihre Vielsprachigkeit. Dazu kamen noch bedeutende kulturelle Unterschiede, welche die Lebenswelt ihrer Bewohner wie ein farbenprächtiges Bild erscheinen ließen, wobei die Farben eines solchen Bildes nicht so einfach, säuberlich zu trennen waren, sondern wie die Farben auf einem Gemälde von Kokoschka ineinander übergingen und sich wechselseitig durchdrangen.23 Bereits im 16. Jahrhundert wurde eine solche ethnisch-kulturelle Pluralität vor allem in den größeren Städten der Monarchie wahrgenommen. Im „Lobspruch Wiens" beschreibt Wolfgang Schmeltzl 1548 die Vielfalt von Nationen und Sprachen, denen man in der Residenzstadt begegnen konnte: „An das Lugek kam ich ongfer, Da tratten Kaufïleut hin und her, Al Nación in jr claidung. Da wirt gehört manch sprach und zung, Ich dacht ich wer gen Babl khumen, Wo alle sprach ein anfang gnomen, Und hört ein seltzams dräsch und gschray, Von schönen sprachen mancherlay. Hebreisch, Griechisch und Lateinisch, Teutsch, Französisch, Türkisch, Spanisch, Behaimisch, Windisch, Italienisch, Hungarisch, guet Niderlendisch, Natürlich Syrisch, Crabatisch, Rätzisch, Polnisch und Chaldeisch."24 Vor allem infolge der zunehmenden Industrialisierung wuchsen die Städte durch Zuwanderung vom Lande zu Ende des 18. Jahrhunderts besonders stark an, und die ethnische Vielfalt und kulturelle Gegensätzlichkeit der Monarchie wurde gerade den Bewohnern dieser Städte nun bewußter als zuvor. Vor allem in den Urbanen Zentren, vorab in der Haupt- und Residenzstadt Wien, wurde freilich nicht nur die in der Region tatsäch-

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lieh vorhandene Vielfalt sichtbar, hier wurde diese Vielfalt zusätzlich noch mit Merkmalen angereichert, die auf außerregionale, gesamteuropäische Einflüsse zurückzuführen waren. Im Kulturellen hatte dies zur Folge, daß Codes dieser regionalen, das heißt inneren (endogenen) und Codes der außerregionalen, äußeren (exogenen) kulturellen Pluralität zu spezifischen kulturellen Anleihen, also zu Akkulturationsprozessen und zu besonderen kulturellen Wechselwirkungen, insgesamt also zu Konfigurationen einer typisch mitteleuropäischen oder „österreichischen" Kultur führten, die sichtbar wurde in der Architektur, hörbar im Musizieren, wahrnehmbar in besonderen Denk- und Ausdrucksformen oder in Sprachwendungen, und genießbar in den pluralistischen Elementen einer Speisenabfolge, die eine „Wiener" oder „österreichische" Küche bot. 25 Unabhängig von der Wahrnehmung dieser ethnischen und kulturellen Vielfalt durch die Zeitgenossen entspricht freilich die bewußte, problemorientierte Betonung und die Reflexion dieser kulturellen Unterschiedlichkeit und Vielfalt, vom methodischen Gesichtspunkt aus betrachtet, einer modernen Sichtweise der Kulturtheorie. Denn im Bewußtsein der Menschen der Frühen Neuzeit differenzierte sich die Gesellschaft nicht so sehr durch die wahrnehmbaren Unterschiedlichkeiten im sprachlichen oder „nationellen" Bereich, als vielmehr durch innergesellschaftliche Kriterien der Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Schichten. So konnte etwa am Hof oder auf Adelssitzen der Unterschied zwischen den Menschen, die sich dort befanden, weniger aufgrund ihrer Sprache oder aufgrund ihrer ethnischen Abstammung wahrgenommen werden, als viel eher aufgrund ihrer Kleidung, durch die sie unterschiedlichen sozialen Schichten (Ständen) zugeordnet wurden. Trotzdem barg kulturelle Vielfalt, welche die kulturelle Diffusion, Prozesse von Akkulturation und kulturelle Wechselwirkungen begünstigte, immer wieder auch den Keim von Gegensätzen, von „Vielsprachigkeit" (Gianni Vattimo) im übertragenen Sinne, von Versuchen der Selbstbehauptung, von Ausgrenzungen des vermeint-

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lieh Fremden; das heißt Multikulturalität war und blieb bis heute auch ein Nährboden für Gegensätze und Konflikte. Jedes nationale Selbstbewußtsein, das „Bedürfnis, zu einer leicht identifizierbaren Gruppe zu gehören", läßt sich, wie Isaiah Berlin feststellte, „als ein natürliches Bedürfnis der Menschen" bis in die Antike zurückverfolgen. 26 Ein solches Nationalbewußtsein sei aber nicht gleichzusetzen mit dem Nationalismus, wie er sich erst im 19. Jahrhundert zu entwickeln begann. Denn während das Nationalbewußtsein dem Grundbedürfnis einer Zusammengehörigkeit entsprach, verfolgte der moderne Nationalismus wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Zielsetzungen, versuchte diese auch unter Anwendung von Zwang und Gewalt durchzuführen und erhob „die Einheit und Selbstbestimmung der Nation zum höchsten Wert, dem im Konfliktfall alle anderen Erwägungen untergeordnet werden mußten". 27 Ethnischsprachliche Gegensätze wurden also vor allem im 19. Jahrhundert politisch relevant, als die nationale Ideologie auf die Eigenständigkeit der einzelnen Volkskulturen, der Volkssprachen und der ethnischen Homogenität der einzelnen Nationen rekurrierte und nicht so sehr das Gemeinsam-Vermittelnde, als das Trennende zu betonen begann. Bekanntlich setzte dabei auch die praktische politische Argumentation zunehmend auf die Karte dieser ethnisch-kulturellen Unterschiede und trug dadurch zur inneren Destabilisierung der Länderunion der Monarchie, aber auch ihrer einzelnen „Königreiche und Länder" bei, waren doch auch diese ebenso von einer ethnischen und sprachlich-kulturellen Pluralität durchsetzt wie die Monarchie als Ganzes.

Kulturelle Heterogenität und Identität Die Frage ist berechtigt, ob diese zunehmend offizielle, ideologisch motivierte Politik dem realen Bewußtsein der Bewohner dieser Region auch tatsächlich entsprach. Wenn man nicht nur der offiziellen politischen Propagan-

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da folgt, sondern sich zahlreiche direkte und indirekte Aussagen vor Augen hält, wenn man sich die kulturelle Produktion und Rezeption vor allem städtischer Bevölkerungsschichten bis ins 20. Jahrhundert vergegenwärtigt, dann kann man daraus schließen, daß die nationale Ideologie in der Tat an ganz bestimmte soziale Schichten gebunden war, insbesondere an einen Teil des auf eine nationale Identität ausgerichteten Bildungsbürgertums. Das Bewußtsein breiter Bevölkerungsschichten wurde auch weiterhin von einer Lebenswelt bestimmt, welche nach wie vor „Vokabeln" dieser Pluralität aufwies. Kulturelle Codes, die nun von Vertretern einer nationalen Ideologie als Bestandteile einer fremden, einer Gegenkultur abqualifiziert wurden, blieben in der Alltagswelt auch weiterhin als Codes bestimmend und als konstitutive Elemente einer eigenen Kultur erlebbar. Kulturell Peripheres konnte beim Nachbarn oder in anderen sozialen Schichten ebenso zu einem zentralen Konstituens von Kultur werden wie dieses Zentrale anderswo bloß ein peripheres Merkmal der Kultur sein konnte.28 Die kulturelle Lebenswelt wurde so zu einem Reservoir von kulturellen Inhalten, von denen jeder seine eigene Geschichte, seinen spezifischen „Sitz im Leben", sein historisches Gedächtnis hatte. Und als Ganzes hatte auch die jeweilige kulturelle Konfiguration ihr historisches Gedächtnis, welches von kulturellen Codes, die sich aus der Gesamtregion ableiteten, besetzt war. Insofern kam diesem pluralistischen kulturellen Gedächtnis über seinem allgemeinen auch noch ein spezifischer identitätsstiftender Charakter zu, welcher freilich zugleich die Multipolarität von kulturellen Identitäten signalisierte und begünstigte.29 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten unter anderem Josef von Hormayr und sein Kreis in Zeitschriften und Büchern, zum Beispiel im zwanzigbändigen „Österreichischen Plutarch" (1807-1814), im „Taschenbuch für Vaterländische Geschichte" (1811-1848, 18 Bände) und im „Archiv für Geschichte, Statistik, Literatur und Kunst" (1810-1837) versucht, die Geschichte und Kultur der

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verschiedenen Völker der Monarchie als ein gemeinsames Erbe und völlig gleichwertig vorzustellen. Es war dies eine Initiative von großer kulturpolitischer TVagweite, die bei zahlreichen österreichischen Dichtern und Schriftstellern des 19. Jahrhunderts auf einen fruchtbaren literarischen Widerhall gestoßen war (Franz Grillparzer, Adalbert Stifter u. a.). Kurz vor der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches (1806) war das souveräne „Oesterreichische Raiserthum" (1804) proklamiert worden, der Römisch-Deutsche Kaiser Franz II. hatte sich in Franz I., Kaiser von Österreich, umbenannt, und alle Kronländer der Monarchie, auch Ungarn, hatten sich dem Konzept des neuen Kaisertums gegenüber loyal erklärt. Die ideologische Basis des Gesamtstaates war die Ausrichtung auf eine allseits anerkannte politische Herrschaft, repräsentiert durch eine gemeinsame Dynastie und ein durch den Gesamtstaatspatriotismus propagiertes Zusammengehörigkeitsbewußtsein, das sich vor allem auf das zwar vielfältige, aber allen gemeinsame kulturelle Erbe des Gesamtstaates berief. Der Schriftsteller Franz Sartori legte in diesem Sinne 1830 seine „Historisch-ethnographische Übersicht der wissenschaftlichen Kultur des oesterreichischen Kaiserthums" vor. Eine ähnliche Intention vertrat der von Friedrich Schlegel und Joseph Anton Pilat redigierte „Oesterreichische Beobachter" (1811 ff.) oder Johann Paul Kaltenbaecks „Oesterreichische Zeitschrift für Geschichte und Staatskunde, und Blätter für Literatur, Kunst und Kritik" (1835 ff.). 1835-1838 erschien die sechsbändige „Oesterreichische National-Encyklopädie" von Franz Gräffer und Johann Jakob Czikann, eine Fundgrube für die Geschichte der Völker und Kulturen der Monarchie, in welcher die Summe der Völkervielfalt als „Staatsvolk", als „österreichische Nation" im Sinne einer Staatsnation, vorgestellt wurde. Ähnliche Überlegungen lagen zu Ende des Jahrhunderts auch noch dem vierundzwanzigbändigen Kronprinzenwerk „Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild" (1883/86-1902) zugrunde. 30 Das vom Ersten Allgemeinen Beamtenverein ab 1871 herausgegebene Ii-

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terarische Jahrbuch „Die Dioskuren" wurde zwar bereits der seit 1867 dualistischen Einteilung der Monarchie gerecht, seine Grundtendenz lag aber darin, seinen Lesern nicht nur die deutschsprachige österreichische, sondern auch die aktuellen Produkte der mehrsprachigen Literaturen des Gesamtstaates zu präsentierten. Es waren dies insgesamt intellektuelle Reflexe, die einerseits die Kohärenz der Königreiche und Länder in einem gemeinsamen Kaisertum hervorhoben und ganz gezielt nationalistischen Bestrebungen entgegengesetzt waren und die andererseits auch dem Bewußtsein breiter Bevölkerungsschichten dieser Region (Adel, Militär, Bürger, Beamte) entsprachen. Noch um und nach 1900 sind solche Überlegungen bei Künstlern und Schriftstellern der Wiener Moderne, zum Beispiel bei Hugo von Hofmannsthal, bei Leopold von Andrian, bei Stefan Zweig oder bei Robert Musil durchaus präsent.

Pluralität und nationale Idee Man mag sich daher zu Recht die Frage stellen, warum diese „moderne" Vorstellung einer alle Nationalitäten umfassenden Staatsnation jener Nationalideologie unterlegen ist, welche die einzelnen Nationen des Vielvölkerstaates gegeneinander auszuspielen begann, was für den Fortbestand dieser „Staatenunion" letztlich politisch letale Folgen haben mußte. Die zunehmend geringe Akzeptanz dieses Konzepts einer österreichischen Staatsnation mag verschiedene Ursachen haben. Zum einen könnte auf die allgemeine soziale und bewußtseinsmäßige Verunsicherung hingewiesen werden, welche durch den josephinischen Modernisierungsschub, das heißt durch die Auflösimg alter Sozialgefüge und die zunehmende Zentralisierung entstanden war. Frühnationalistische Re-Aktionen bei den Ungarn, den Tschechen, aber auch bei den deutschen Österreichern sind in der Tat bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert die Antwort auf diese „funktionalen" Maßnahmen der josephinischen Staatspolitik. Zinn

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anderen hatte seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, als auch in den Ländern der Monarchie die dissoziativen Folgen der ökonomischen Modernisierung sichtbar und fühlbar wurden, das „reaktionäre" Metternichsche System, das jede liberal-demokratische Erneuerung bekämpfte, sich nicht nur auf die Fortsetzung der josephinischen Zentralisierung berufen, sondern diese auch mit der Konzeption der übergreifenden Staatsnation zu untermauern versucht, kam diese doch seinen eigenen Zielvorstellungen sehr entgegen. In Wirklichkeit stand freilich hinter der Idee einer völkerumfassenden Staatsnation (Demos) die Vorstellung von einer „civil society". Um diese jedoch auch staatsrechtlich zu verankern, hätte es einer allgemein verbindlichen, demokratischen Verfassimg bedurft, welche für alle die gleichen Rechte garantieren sollte. Der Historiker Gerald Stourzh hat vor kurzem darauf aufmerksam gemacht, daß die Idee der Gleichberechtigung der Nationalitäten seit 1848 auf der Vorstellung der Rechtsgleichheit beruht habe, die alle Staatsbewohner umfassen sollte.31 Der Idee des liberalen Nationalstaates, der durch einen freien Zusammenschluß seiner Bewohner Zustandekommen sollte und diesen eine selbst gewählte „nationale" Identität versprach, lag ursprünglich in der Tat ein demokratisches Konzept zugrunde, und entsprechend diesem Konzept sollten nicht nur die Rechte der einzelnen, sondern auch jene von verschiedenen ethnisch-kulturellen Gruppen, die in einem Staate lebten, gesetzlich verankert und institutionalisiert werden. In einer sich kontinuierlich differenzierenden Gesellschaft stellte eine solche Idee weiterhin in Aussicht, den Prozeß der akzelerierten sozialen Pluralisierung und Fragmentierung, der eine Folge der sozial-ökonomischen Transformationen (Modernisierung) war, zu überwinden und in einer selbstgewählten, „nationalen" Einheit münden zu lassen. Daß im konkreten, das heißt in einer Situation ethnisch-kultureller Vielfalt und komplexer Heterogenitäten, von welchen die Habsburgermonarchie bestimmt war, das Erlangen einer solchen nationalen Einheit besonders schwierig

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sein mußte, zeigt die politische Entwicklung der Jahre nach 1848, als man diese Einheit zunehmend unter Ausgrenzung von sogenannten Fremdelementen zu erreichen suchte. Im Österreichischen Vormärz jedoch, als man die Idee einer übergeordneten österreichischen Staatsnation propagierte, kam diese Idee den Zentralisierungsbestrebungen der Regierung zwar entgegen, sie verschloß sich jedoch konsequent ihrer rechtlichen, konstitutionellen Verankerung, da sie erkennen mußte, daß Demokratie und Konstitution den Bestand der quasi-absolutistischen Herrschaft des franziszeischen Systems gefährden mußten. Je mehr jedoch die bloße Vorstellung von einer „Staatsnation" von der Regierung in ihrem eigenen absolutistischen Sinne vereinnahmt wurde, um so weniger konnten sich die politisch progressiven, frühliberal-demokratisch gesinnten bürgerlichen Repräsentanten mit ihr fortan identifizieren: Hätten sie dies auch weiterhin getan, wären sie in den Verdacht geraten, mit ihr auch die Politik des verhaßten reaktionären Systems zu unterstützen. So wandten sie sich in der Folge zunehmend Konzepten zu, die einer übergeordneten „Staatsnation" entgegengesetzt waren und diese zu vereiteln versprachen. Sie hofften damit auch das absolutistische, antidemokratische System zu Fall bringen zu können. So wurde die Parteinahme der Liberalen für den Nationalismus, für die auf Sprache und Abstammung beruhende nationale Ideologie zu einem Synonym für Liberalismus, für die Verteidigung von Freiheit und Demokratie. In der Tat wurde die Idee von einer übergeordneten österreichischen Staatsnation, die aufgrund einer solchen politischen Entwicklung zunehmend nur mehr mit kulturellen Argumenten begründet wurde, bis ins 20. Jahrhundert hinein den Verdacht nicht los, wenn schon nicht reaktionär, so doch zumindest apolitisch und konservativ zu sein. So betrachtet waren auch die völlig apolitischen Argumente mancher Schriftsteller der Wiener Moderne, welche die „Österreich-Idee" und eine „österreichische Kultur" ausschließlich aus dem pluralistischen kulturellen Hintergrund einer gemeinsamen Vergangenheit zu defi-

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nieren versuchten und den tatsächlichen gesellschaftlichen Gegebenheiten wenig Rechnung trugen, rückwärtsgewandt und ohne jeden Bezug auf die sozial-politische Realität und ihre Transformationen geblieben, unabhängig davon, daß der Kern ihrer Beweisführung durchaus richtig sein mochte. Anders verhielt es sich nach 1848 mit den Überlegungen eines Frantisek Palacky, eines Aurel Popovici, eines Karl Renner, Otto Bauer oder des Ungarn Oszkár Jászi, die, zwar spät, die vielfältigen Elemente der Gesamtregion, der Monarchie, als ein konstitutives Kriterium der eigenen kulturellen Identität ansahen und gleichzeitig die Verankerung der nationalen Diversität in einer verbindlichen, gemeinsamen, demokratischen Verfassimg beziehungsweise die Modifikation der in der österreichischen Verfassung von 1867 (Artikel 19) und im ungarischen Nationalitätengesetz von 1868 (Gesetzesartikel 44) festgelegten Nationalitätenrechte forderten. Damit waren sie Verfechter einer demokratischen Umgestaltung der Monarchie, zugleich setzten sie sich für die Reziprozität und die gleichwertige Anerkennung der Vielfalt von Ethnien und Kulturen (Sprachen) ein und widersetzten sich damit den separatistischen, nationalistischen Tendenzen ihrer Zeit. Palacky hatte noch 1865/66 ganz entschieden die Meinung vertreten, daß „die Regierung in Österreich weder deutsch noch magyarisch, nicht slavisch oder romanisch, sondern im höheren und allgemeinen Sinne österreichisch, d. i. allen ihren Angehörigen eine gleich gerechte sein" sollte. „Ich glaube", meinte er weiterhin, „daß Manche aus wirklicher Unkenntniß und aus Unverständniß handeln, da sie entweder die verschiedenen Länder Österreichs nie oder wenigstens nicht mit dem Gefühle und Bewußtsein bereist haben, daß wir alle, die wir innerhalb der staatlichen Marken wohnen, zu einander gehören, und daß sie auf den Satz vergessen: Austriacus sum, Austriaci nihil a me alienum esse puto". 32 Diese von Palacky beschworene Einheit „Österreichs" hatte sich dann im Jahre 1867 mit der Einführung des Dualismus grundsätzlich geändert. Die Monarchie bestand nun,

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vom staatsrechtlichen Standpunkt aus gesehen, aus zwei Teilen, in denen de facto jeweils eine Nationalität, die deutsch-österreichische und die magyarische den Ton angab. „Österreich" war nun auch staatsrechtlich in zwei Reichshälften aufgeteilt, in „eine rot-weiß-grüne Jacke" und eine „schwarz-gelbe Hose", wie sich Robert Musil später ausdrücken sollte: „Die Jacke war ein Stück für sich, die Hose aber war der Rest eines nicht mehr bestehenden schwarz-gelben Anzugs, der im Jahre achtzehnhundertsiebenundsechzig zertrennt worden war." 33 Der Artikel 19 des österreichischen Staatsgrundgesetzes von 1867 hielt zwar für Zisleithanien, als einen Nationalitätenstaat, die Gleichberechtigung aller „Volksstämme des Staates" und das „unverletzliche Recht" jedes Volksstammes „auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache" fest 34 , jedoch wurde die praktische Durchführung des mit zahlreichen zusätzlichen und nachträglichen Erläuterungen versehenen Artikels in der Folge Anlaß zunehmender Konflikte, da die nationalen Rechte weitgehend nach „Volksstämmen" oder Territorien und weniger personenbezogen definiert waren. In seinem detaillierteren und großzügigeren ungarischen Pendant, dem Artikel 44 aus dem Jahre 1868, waren die nationalen Rechte zwar theoretisch personalisiert; es konzipierte eine „civil society", eine, wie es in der Präambel hieß, „einheitliche ungarische Nation, deren Mitglied jeder Bürger des Vaterlandes, gleichviel welcher Nationalität er angehört, ist",35 und der Respekt vor der Mehrsprachigkeit des Landes erfuhr in einer großzügigen Regelung Geltung, die sowohl die Verwaltung als auch die Schulen betraf. Die praktische Durchführung des Gesetzes blieb aber in Ungarn, einem Nationaltaat mit einer Vielzahl von nationalen Minoritäten, weit hinter den ursprünglichen Erwartungen zurück, und die ungarische Regierung und ihre Verwaltungsorgane versuchten dieses in den kommenden Jahren für eine mehr oder weniger direkte Magyarisierungspolitik zu nutzen. In Anbetracht solcher restriktiver Auslegungen der Nationalitätenregelungen in den beiden Reichshälften und

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angesichts der daraus erwachsenen zunehmenden Krisen und Konflikte ist die Warnung des späteren ersten Staatspräsidenten der Tschechoslowakischen Republik Thomas G. Masaryk zu verstehen, die er im Jahre 1892 vor dem österreichischen Abgeordnetenhaus aussprach: „Man wird aufhören müssen mit der Analogie mit großen Völkern zu rechnen, sondern muß Österreich als einen Staat kleiner Völker hinnehmen. . . . So lange das nicht geschieht, ist es nicht möglich, daß in Österreich Ruhe und Ordnung herrschen. . . . Das ist eben Österreich, Österreich ist ein Bund mehrerer kleinerer und größerer Völker, das muß endlich anerkannt werden." 36 Der ungarische Reichstagsabgeordnete rumänischer Nationalität Aurel Popovici unterbreitete dann 1906 in seinem Buch „Die Vereinigten Staaten von Groß-Ö sterrei eh" einen konkreten Vorschlag, die Monarchie in eine staatsrechtliche Föderation umzugestalten. Karl Renner veröffentlichte noch als Bibliothekar des österreichischen Abgeordnetenhauses unter dem Pseudonym Rudolf Springer 1902 die Untersuchung „Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat", in der es vor allem um konstitutionell verankerte Kulturautonomien ging. Otto Bauer behandelte die nationalen Rechte der einzelnen Völker der Monarchie unter dem Aspekt der sozialdemokratischen Ideologie. Und Oszkár Jászi bemühte sich in Budapest, wenige Jahre vor dem Zusammenbruch der Monarchie, um eine ausgewogene politische Lösung der nationalen Gegensätze im Kontext einer „Donauföderation" 37 . All diese politischen Überlegungen waren von der realen Erfahrung ausgegangen, wonach multi-ethnische Staaten und multi-kulturelle Regionen immer auch als komplexe Systeme zu betrachten wären, die den Keim von Gegensätzen und von dissoziativen Tendenzen aufwiesen. Solche latenten Krisen und Konflikte könnten jedoch nur mit Hilfe der Politik einer reziproken, demokratischen Anerkennung gebannt werden.

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Das Wesen Österreichs ist Peripherie? Die Bemühungen der Literaten lagen auf einer anderen Ebene: Sie argumentierten nicht im konkreten politischen Bereich, sondern versuchten jene kulturellen Elemente zu benennen, die trotz der vorhandenen Unterschiede zu einem gemeinsamen Bewußtsein beigetragen hätten. Der konkrete Anlaß solcher Überlegungen und Orientierungssuchen lag entweder darin, daß Österreich um 1900 zunehmend als deutsch apostrophiert wurde oder daß nach dem Zerfall des Vielvölkerstaates der neu geschaffene Staat, die Republik Österreich, sich in einer Identitätskrise befand, die dadurch noch verstärkt wurde, daß man das historische oder kulturelle Gedächtnis, das heißt die historisch-kulturelle Kontinuität mit dem früheren Österreich bewußt leugnete oder zu verdrängen versuchte, um ja nicht mit der früheren monarchischen Staatsform identifiziert zu werden. Es erscheint mir im Zusammenhang mit den vorliegenden Überlegungen wichtig, gerade auf diese Argumentationen hinzuweisen, da ihnen oft zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Hugo von Hofmannsthal, Stefan Zweig, Joseph Roth oder Franz Werfel bemühten sich in einer Zeit, als der ausschließlich deutsche Charakter Österreichs auch von den führenden politischen Parteien propagiert wurde, auf ihre Art nachzuweisen, daß nicht eine uniforme, mono-nationale Ausrichtung, sondern gerade die Vielfalt kultureller Elemente das kulturelle und folglich auch „nationale" Bewußtsein der Völker dieser Region, vor allem der Österreicher, bestimmte. So impolitisch sie auch argumentierten, sie beteiligten sich damit, zwar indirekt, aber sehr bewußt, an einer aktuellen politischen Diskussion. Denn, so Hofmannsthal, das „Besondere der österreichischen Wesensart gegenüber dem Gepräge der im Deutschen Reich vereinten Stämme, trotz des mächtigen Bandes der Sprache und der gemeinsamen wissenschaftlichen und philosophischen Kultur, ist ein Phänomen, das aus der Geschichte verstanden werden m u ß . . . Das Machtinstrument dieser Universalmonarchie war eine Armee, so bunt

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und übernational zusammengesetzt wie die des alten Rom. Noch bis in den Weltkrieg hinein weist der MilitärSchematismus ein Offizierskorps auf, das durchsetzt ist mit den Nachkommen von Franzosen, Wallonen, Irländern, Schweizern, Italienern, Spaniern, Polen, Kroaten, den Nachkommen von Männern, deren Ahnen im siebzehnten oder achtzehnten Jahrhundert innerhalb dieser Armee sozusagen ihre Heimat fanden . . . Hierzu tritt noch die natürliche Verbindung mit dem Südosten Europas . . . Völlig das gleiche spiegeln die geistigen Anstalten, sei es daß sie vom Hof gelenkt und abhängig waren, sei es von der Wiener Universität. Dieser Hof versammelte um sich mindestens ebenso viele italienische Musiker und Architekten, französische Lehrer, niederländische Gelehrte, als er in seiner Armee wallonische oder italienische Generale hatte." 38 Ähnlich wie jene Hofmannsthals klangen ein wenig später manche Überlegungen von Joseph Roth, der unter anderem meinte: „Das Wesen Österreichs [d. h. des Vielvölkerstaates] ist nicht Zentrum, sondern Peripherie. Österreich ist nicht in den Alpen zu finden, Gemsen gibt es dort und Edelweiß und Enzian, aber kaum eine Ahnung von einem Doppeladler. Die österreichische Substanz wird genährt und immer wieder aufgefüllt von den Kronländern." 39 Diese Aussagen klingen zwar fast wie eine poetische Reflexionen über eine multi-ethnische und multi-kulturelle Befindlichkeit, die, wie bereits angedeutet, in der Realität des politischen Alltags keineswegs so harmonisch war. Robert Musil hat im „Mann ohne Eigenschaften" in einem Kapitel mit dem vieldeutigen Titel „Aus einem Staat, der an einem Sprachfehler zugrundegegangen ist" auf die schmerzhafte Ambivalenz, ja Widersprüchlichkeit von Vielfachorientierungen im alten Österreich, die eine Folge der ethnischen und sprachlichen Vielfalt war, hingewiesen. Fragte man einen Österreicher, was er sei, „so konnte er natürlich nicht antworten: Ich bin einer aus den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern, die es nicht gibt, - und er zog es schon aus diesem Grunde vor, zu sagen: Ich bin ein

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Pole, Tscheche, Italiener, Friauler, Ladiner, Slowene, Kroate, Serbe, Slowake, Ruthene oder Wallache, und das war der sogenannte Nationalismus . . . in solchem Verhältnis zu einander befanden sich aber die Kakanier und betrachteten sich mit dem panischen Schreck von Gliedern, die einander mit vereinten Kräften hinderten, etwas zu sein".40 Jene aber, die trotz oder gerade wegen dieser Schwierigkeiten immer wieder die Vielfachausrichtung, die Multipolarität als einen positiven Gesichtspunkt betonten und gerade darin auch das eigentlich Unterscheidende des Österreichischen anderen Nationen gegenüber erblickten, griffen vielleicht nur unbewußt eine Tradition auf, die - man vergleiche die Hormayrsche Konzeption nicht zuletzt durch die Vermittlung der universitären Ausbildung und des Geschichtsunterrichts an den Gymnasien und Bürgerschulen, wo mit den sogenannten „Reichsgeschichten" Gesamtstaatsaspekte betont wurden, kontinuierlich präsent war. Im Bereich der Habsburgermonarchie gab es seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert eine beachtliche Zahl von historischen Darstellungen, welche die politisch-verfassungsmäßige, die ethnische und die sprachlich-kulturelle Pluralität der Region, im Unterschied zu späteren national gefärbten Darstellungen, als positiv und als gleichwertig hervorzukehren versuchten. Noch zu Ende der Monarchie beruhten die Lehrbücher von Arnold von Luschin-Ebengreuth, Alfred Dopsch oder jenes des in Graz lehrenden jüdischpolnischen Soziologen Ludwig Gumplowicz auf diesen Überlegungen. 41 Obwohl diese Sicht in erster Linie von deutschsprachigen Intellektuellen vertreten wurde, gesellten sich zu diesen durchaus auch Vertreter anderer Nationalitäten, welche die Einheit des Reiches in der Vielfalt seiner Elemente begründet sahen und keineswegs auf einen ausschließlich dynastischen Aspekt, also auf einen „habsburgischen Mythos", bezogen, so unter anderen der Ungar Victor Hornyánszky oder der Tscheche Václav V. Tomek. Dessen 1852 in tschechischer Sprache verfaßte „Geschichte des österreichischen Kaiserstaates"

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reflektierte als ein wesentliches Kriterium der Monarchie deren vielfältige Elemente. In der Beantwortung einer kritischen Beanstandung gerade dieses Aspekts machte Tomek auf die Grundtendenz seiner Überlegungen, die vielleicht von der Euphorie der föderalistischen Bestrebungen der Generation des Kremsierer Reichstags geprägt war, aufmerksam: „Die österreichische Monarchie ist ein großartiges, politisches Gebäude, welches sich in Betreff seiner historischen Entwicklung, auf die hier alles ankommt, vor andern europäischen Staaten vornehmlich dadurch unterscheidet, daß es aus so verschiedenartigen Elementen entstanden ist." Denn hier hätte sich „aus den verschiedensten Volksstämmen, die sich lange feindlich entgegenstanden, aus Staaten und Ländern der verschiedensten historischen Entwicklung ein Ganzes gebildet, welches wir immer fester und fester zusammenwachsen, politisch immer gleichartiger sich fortentwickeln sehen, ohne daß die einzelnen Theile in ihrem sonstigen besonderen Volksleben wesentlich gestört werden". 42 Dieses „Ganze", das nach Tomek aus den vielfältigen ethnischen und kulturellen Traditionen der Region entstanden war, betraf freilich zum einen bestimmte soziale Schichten, die aufgrund von ethnischen Interaktionen, zum Beispiel von Mischehen, die sie eingegangen waren (hoher Adel, neues Bürgertum), von kulturellen Mehrfachbestimmungen, die sie in ihrem Alltag, zum Beispiel in Sprach-, Eß- und allgemeinen Lebensgewohnheiten, praktizierten oder aufgrund der beruflichen Betätigung, die sie über die Interessen einzelner Landesteile stellte (zentrale Beamtenschaft, Heer), sich ein qualitativ neues, multikulturelles Bewußtsein angeeignet hatten. Zum anderen manifestierte sich dieses „Ganze" vor allem bei den Bewohnern der neuen Urbanen Zentren, die infolge der sozio-ökonomischen Modernisierung der letzten Jahrzehnte entstanden waren, immer rascher anwuchsen und sich aus Bevölkerungsteilen zusammensetzten, die der Pluralität der Gesamtregion entstammten. Diese sozialen Schichten entwickelten auch jene „Ideologie" eines gemeinsamen Bewußtseins, das neben den äußeren Symbo-

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len der Zusammengehörigkeit, nämlich der gemeinsamen Dynastie („Habsburgermythos"), des Doppeladlers oder ganz allgemein der übergeordneten politischen Herrschaft den Humus für die Idee des „Österreichischen" abgab. Erst hier und jetzt konnte sich aus einer pluriethnischen und plurikulturellen Gesellschaft der heterogenen Monarchie eine Multiethnizität und Multikulturalität entwickeln, die, in die Gegenwart übertragen, auch zu einem der interessantesten Untersuchungsbereiche der Kulturanthropologie, konkret zum Beispiel der Erforschung der amerikanischen Gesellschaft geworden ist. Demnach wäre zu unterscheiden zwischen Gesellschaften, die eine Vielzahl, eine Pluralität von Ethnien und Kulturen aufweisen, die zwar durch vielfältige Interaktionen und Wechselwirkungen miteinander vernetzt sein können, jedoch mehr oder weniger getrennt nebeneinander bestehen, und Gesellschaften, in denen solche Interaktionen und Wechselwirkungen so intensiv sind, daß sie zu einer neuen Form von kulturellen und ethnischen Konfigurationen geführt haben. Unter der ersten Variante verstehe ich pluriethnische und plurikulturelle, unter der zweiten multiethnische und multikulturelle Gesellschaften. Multikulturalität besteht also nicht in einem vagen ethnisch-kulturellen oder regionalen Pluralismus, Multikulturalität weist vielmehr eine qualitativ unterschiedliche, „höhere" Dimension auf, die sich aufgrund von besonders intensiven Interaktionen von unterschiedlichen ethnischen, kulturellen oder regionalen Merkmalen entwickelt. Multikulturalität besteht jedoch nicht aus einem ethnisch-kulturellen Einerlei, in dem Aufgehen von kulturellen Einzelelementen in einen kulturellen „Einheitsbrei".43 Vielmehr bleibt das ethnisch und kulturell Unterschiedliche, das sogenannte „Fremde", „le différent" der einzelnen kultureller Codes erhalten und deutlich wahrnehmbar, doch sind all diese Codes und Einzelelemente eine spezifische kulturelle Konfiguration eingegangen und wurden dadurch zu konstitutiven, tragenden Elementen einer neuen kulturellen Einheit. Im

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Unterschied zu der ethnischen und kulturellen Vielfalt, zu Pluriethnizität und Plurikulturalität im Bereich der zentraleuropäischen Region in der prämodernen Phase, entfaltete sich Multiethnizität und Multikulturalität hier vor allem infolge der Modernisierung, als sich seit dem 18. Jahrhundert in den sich rasch entwickelnden Urbanen Regionen, die vielfaltigen Ethnien und Kulturen der Region zu einer neuen ethnischen und kulturellen Einheit zusammengefügt haben. Multikulturalität bezieht sich aber nicht nur auf diese ethnisch-kulturellen Merkmale, aus welchen sich jene zusammensetzt. Multikulturalität ist in der zunehmenden sozio-ökonomischen und soziokulturellen Differenziertheit, die in der Moderne, seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, aufgrund einer akzelerierten Modernisierung entstanden war, auch in ethnisch, kulturell oder sprachlich homogenen, das heißt einheitlichen Gesellschaften nachweisbar. Multikulturalität entsteht zum Beispiel auch infolge von kulturellen Interaktionen zwischen ganz unterschiedlichen kulturellen Traditionen von differenten sozialen Schichten innerhalb einer Gesellschaft, von unterschiedlichen Lebensgewohnheiten oder unterschiedlichen Geschlechtern. Nicht nur der erste Aspekt, die kulturelle Symbiose vielfältiger ethnisch-kultureller und sprachlicher Elemente zu einer neuen kulturellen Einheit, auch innergesellschaftliche kulturelle Prozesse, die eine neue kulturelle Symbiose, nämlich Multikulturalität, bewirkte, waren im Bereich der Habsburgermonarchie von Bedeutimg, sondern auch diese innergesellschaftlichen Austauschprozesse. Trotzdem sollte hier zunächst auf die spezifischen ethnischkulturellen Konfigurationen als der hervorstechenden Grundlage von Multikulturalität hingewiesen werden und gleichzeitig auf die Aktualität aufmerksam gemacht werden, welche die Erkenntnis von und die Beschäftigung mit solchen Phänomenen haben können. Zum einen für das gegenwärtige Verständnis von Identitäten in der zentraleuropäischen Region, die sich aus einem kulturellen Gedächtnis speisen, das von kulturellen Vielfachkodierungen bestimmt wird. Zum anderen für das Ver-

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ständnis der Konstitution einer Lebenswelt in der Postmoderne des ausgehenden 20. Jahrhunderts, in welcher vielfache ethnisch-kulturelle Interaktionen und Transformationen eine ganz wesentliche Rolle spielen.

Zitatenreichtum in der Musik Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts bediente man sich auf der Schaubühne und in künstlerischen Darbietungen, wenn auch nur gelegentlich, dann aber ganz bewußt dieser kultur-vermittelnden „Reichsideologie". So versammelte Karl Daniel Nitsch in seiner Preßburger Oper „Das Aufgebot oder die Nation um den Thron" alle Völker der Monarchie: Ungarn, Böhmen, Österreicher, Mährer, Schlesier, Tiroler, Steirer, Kärntner, Friulaner, Istrier, Kroaten, Dalmatiner, Slowenen, Siebenbürger, Bukowiner und Galizier. Die Oper wurde von Heinrich Klein, dem aus Mähren gebürtigen Direktor der Preßburger Musikakademie, vertont und 1805 zu Ehren des ungarischen Landtags aufgeführt. Trotzdem ist unter „Nation" nicht etwa die ungarische, die „natio hungarica" gemeint. Vielmehr bilden hier zu einer Zeit, als gerade das „Österreichische Kaiserthum" proklamiert worden war (1804), die Repräsentanten aller Völker der Monarchie die eine „österreichische" Staatsnation.44 Auch auf künstlerischer und musikalischer Ebene verschmolzen somit zuweilen die vielfältigen regionalen Codes zu einem kohärenten Ganzen. Einerseits war bereits der sozio-kulturelle Kontext der musikalischen Wiener Klassik im pluralistischen Milieu der Urbanen Situation Wiens verankert 45 , ihre Repräsentanten griffen nicht nur auf gesamteuropäische, sondern oft ganz gezielt auf folkloristische Elemente dieser Region zurück;46 andererseits begünstigte die Zuwendung zu nationalen musikalischen Motiven im 19. Jahrhundert bewußt zum Beispiel die Rezeption ungarischer oder tschechischer (böhmischer) Melodien und stilistischer Formelemente. 47 Die „Wiener Operette" dürfte sich eines solchen intellektuell-

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musikalischen pluralistischen Bezugsrahmens, der schon am Zitatenreichtum Haydns, Mozarts, Beethovens oder Schuberts nachgewiesen werden kann, ganz hewußt bedient haben. Selbst volksmusikalische, also sogenannte „nationale" musikalische Traditionen, wie zum Beispiel vom imgarischen „Verbunkos", beeinflußt4®, fanden ebenfalls hier Eingang. Es ist dies ein Prozeß, der, wie Béla Bartók nachzuweisen wußte, auch bei der Volksmusik dieser Region beobachtet werden kann: „Comparison of the folk music of these peoples made it clear that there was a continuous give and take of melodies, a constant crossing and recrossing which had persisted through centuries." 49

Wien und die Juden der Monarchie Der folkloristische Zitatenreichtum der Operette entsprach vor allem der ethnischen und kulturellen Realität der Urbanen Zentren der Monarchie. Die Adressaten und Rezipienten der Operette, die mittleren Urbanen Schichten, entstammten ja dem Gesamtbereich der ethnisch und kulturell heterogenen Monarchie. Folgende Hinweise mögen dies verdeutlichen. Die Einwohnerzahl von Wien vermehrte sich innerhalb von zwanzig Jahren, von 1890 bis 1910, von 1,364.548 auf 2,031421. Dieser rasante Zuwachs ist natürlich nicht auf eine überdurchschnittlich hohe Gebmienrate in Wien zurückzuführen; er ist der vermehrten Zuwanderimg zu verdanken, von welcher die Bevölkerung aller Urbanen Zentren der damaligen Zeit, auch jene der Habsburgermonarchie, profitierte. In der Tat waren von den Bewohnern Wiens zwischen den Jahren 1890 und 1910 nicht einmal die Hälfte gebürtige Wiener (1890: 44,7%, 1900: 46,4%, 1910: 48,8%). Sie stammten aus den Erblanden, den späteren Bundesländern (1890: 15,1%, 1900: 15,0%, 1910: 14,8%), aus Böhmen und Mähren (1890: 26%, 1900: 24,5%, 1910: 23%), aus Ungarn (1890: 7,4%), aus Galizien und der Bukowina (1890: 1,8%, 1900: 2,2%, 1910: 2,3%), aus anderen Teilen der Monarchie (1890: 2,3%, 1900: 2,2%, 1910: 2,1%) oder

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aus dem Ausland (1900: 9,7%, 1910: 9,0%).50 Bereits eine Generation vorher, 1858, war ein Plan aufgetaucht, der dann freilich ebenso rasch wieder verworfen wurde, Wien in gesonderte Nationalitätenbezirke aufzuteilen.51 Wenn auch keineswegs alle Zuwanderer dem Bildungsbürgertum zugerechnet werden können, war ihr Anteil an der Wiener Intelligenz, am kreativen Potential der Wiener Jahrhundertwende doch beträchtlich. Dies betraf vor allem den Beitrag der Juden an der Kultur der Zeit um 1900. Auch zahlreiche Operettenkomponisten und Librettisten waren jüdischer Herkunft, so unter anderem Leo Fall, Edmund Eysler, Oscar Straus, Emmerich Kálmán, Victor Léon oder Felix Dörmann.52 Nach 1848 waren die jüdischen Zuwanderer vor allem aus der ungarischen Reichshälfte nach Wien gekommen, ab dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts wurde der Zustrom aus Galizien beträchtlich. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung Wiens vermehrte sich innerhalb weniger Jahrzehnte von 3,2% (15.116) im Jahre 1857 über 5,3% (118.495) im Jahre 1890 auf 8,6% (175.318) im Jahre 1910. 1923 zählte man in Wien 201.513 Personen mosaischen Glaubensbekenntnisses, was einem Anteil von 10,8% gleichkam. Der starke Zustrom in die Städte entsprach den Assimilations- und Emanzipationsbestrebungen der Juden der Monarchie. Ohne hier auf dieses Phänomen näher eingehen zu können, sei in unserem näheren Zusammenhang nur an die Tatsache erinnert, daß gerade die jüdischen Zuwanderer sich sehr rasch bürgerlichen und vor allem akademischen Berufen zuwandten; Stefan Zweig meinte, daß dies die Sehnsucht gewesen wäre, „durch Flucht ins Geistige sich aus dem bloß Jüdischen ins allgemein Menschliche aufzulösen".53 Dies ist eine eher idealisierende Begründung, die Tatsache des hohen Anteils jüdischer Intellektueller wird jedoch auch durch neuere Untersuchungen erhärtet: „Stärker ausgeprägt als bei anderen religiösen Bevölkerungsgruppen war bei Juden aller Schichten das Streben, Söhne etwas lernen zu lassen. Beispielsweise hatten im Studienjahr 1885/86 von insgesamt 5.926 an der Universität Wien

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inskribierten Studenten 2.095 (35,4%) mosaisches Glaubensbekenntnis. Ιηπ selben Jahr waren 28,8 Prozent der Wiener Mittelschüler mosaisch. Wegen geringer Karrierechancen im öffentlichen Dienst bevorzugten jüdische Studenten das Jura- und Medizinstudium." 54 Entsprechend ihrem hohen Anteil an der Intelligenz und an kaufmännischen Berufen war der Beitrag vor allem des assimilierten oder sich assimilierenden Judentums, welches „das Staatsvolk ,par excellence' in Österreich" 55 bildete, am kulturellen Geschehen der Hauptund Residenzstadt ein unverhältnismäßig hoher. 1893 waren von 681 Anwälten 394 jüdischer Herkunft, 42% der Journalisten und etwa 60% der Kaufleute rekrutierten sich aus ihren Reihen. Der Zustrom jüdischer Bevölkerung zumeist aus den östlichen Provinzen der Monarchie in die Städte war freilich nicht allein auf Wien beschränkt. Ihr Anteil erhöhte sich zum Beispiel in Budapest von 70.879 (19,6%) im Jahre 1880, über 103.317 (21,2%) im Jahre 1890 auf 203.687 (23,1%) im Jahre 1910. Entsprechend hoch war ihr Anteil an Studierenden der Universität: 1910 waren von 6.659 an der Budapester Universität inskribierten Studenten 2.359 jüdischen Glaubensbekenntnisses. 56 Doch war der Zustrom von „Fremden" und der hohe Anteil des Judentums an der Bevölkerung der rasch anwachsenden Städte kein ausschließlich auf die Monarchie beschränktes Phänomen, er müßte daher in einem größeren, europäischen Zusammenhang gesehen werden. Zum Beispiel war davon nicht nur Berlin betroffen, auch Paris hatte einen überdurchschnittlich hohen Anteil im „Fremden" aufzuweisen: „In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der Zustrom von Belgiern, Italienern und von Juden, die vor Pogromen in Osteuropa geflohen waren, massiv (zwischen 1880 und 1925 kamen ca. 100.000 Juden nach Frankreich, die sich zu 80 Prozent in Paris konzentrierten). Ihre Zahl erhöhte sich von 380.000 im Jahre 1851 auf über eine Million im Jahre 1901, das heißt, auf 2,9 Prozent der Gesamtbevölkerung Frankreichs und auf 6,3 Prozent der Einwohnerschaft von Paris. Die Einwanderer waren in der Regel arme Leute.

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Und sie wurden als ,fremd' empfunden. Beleg dafür sind das Mißtrauen, mit dem assimilierte Juden aus alteingesessenen Familien die Neuankömmlinge aus den Gettos Osteuropas empfingen, und der Haß des einfachen Volkes, vor allem in Krisenzeiten, auf die Italiener. Um überleben zu können, mußten die Einwanderer ihre Familienstrukturen und Lebensweise intakt halten; doch die Gesetzgebimg (etwa das Gesetz von 1889 über die Einbürgerimg) begünstigte eher die Assimilierung."57 Steven Beller hat in seiner Untersuchung „Vienna and the Jews 1867-1938" den hohen Anteil jüdischer Intellektueller zur Zeit der Wiener Jahrhundertwende gleichfalls einer eingehenden Analyse unterzogen und statistisch, mit dem methodischen Rüstzeug einer „histoire sérielle", zu untermauern versucht. Man kann bei ihm sehr ausführlich nachlesen, was in unserem Zusammenhang nur mit wenigen Beispielen angedeutet werden konnte, nämlich daß es unzweifelhaft eine „enormous Jewish presence in the élite and, in many of the most important groups, a predominant one" gegeben habe. 58 Nicht nur die Kulturschaffenden, auch die Rezipientenschichten setzten sich zum Teil aus assimilierten oder assimilationsbereiten Bürgern jüdischer Herkunft zusammen. Während dies als gesicherter Tatbestand festgehalten werden kann, sollte man jedoch zumindest zwei Gesichtspunkte nicht aus dem Auge verlieren: Erstens, daß die Wiener Juden, auch wenn sie erst in der ersten Generation aus Ungarn, Galizien, Mähren oder anderen Teilen des Vielvölkerstaates in die Stadt gekommen waren, ebenso wie die Zuwanderer anderer ethnisch-kultureller Gruppen, österreichische Juden waren, die seit Jahrhunderten Bewohner der Monarchie gewesen waren und sich auch als solche fühlten. Wohl ist festzuhalten, daß die Juden innerhalb der Monarchie kein festes, politisch anerkanntes Territorium besaßen, auf das sie sich hätten beziehen können und das sie als ihre eigentliche Heimat betrachten konnten. Sie waren hierin zunächst auch anderen sogenannten „geschichtslosen" Völkern wie den Slowaken oder Slowenen und deren städtischen Repräsentanten

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vergleichbar, denen bis ins 20. Jahrhundert ein eigenes territorial-politisches Heimatrecht streitig gemacht wurde. Zweitens sollte man bedenken, daß es wohl nicht genügt, den Anteil des Judentums an einer Wiener oder „österreichischen" Kultur überwiegend vom ethnischen Gesichtspunkt aus zu betrachten. Steven Beller bezieht sich freilich weitgehend auf diese ethnischen Unterscheidungsmerkmale. Wenn man jedoch dieser Argumentation folgt, dann könnte und müßte man redlicherweise auch die Angehörigen anderer Ethnien und ihren Anteil am kulturellen Leben Wiens - oder Budapests - gesondert ausweisen, was jedoch nur in den seltensten Fällen geschieht und kaum zielführend wäre. Sobald man dies zum Beispiel bei der Musik der Jahrhundertwende, etwa bei der Musik Franz Lehárs, versuchte, wären letztlich nicht ethnische Kriterien maßgebend, und es interessierte dabei zumeist die Frage, welche „fremden" kulturellen Codes zu den „eigenen" einer Wiener musikalischen Kultur geworden waren, mehr als die Frage nach der „nationalen" Zugehörigkeit ihres Vermittlers. Zwar mag auch die Frage nach der Abstammung manche Kenntnis über den ursprünglichen kulturellen Zusammenhang vermitteln - man denke nur an Sozialisationsprozesse wie jene in der Familie, in denen kulturelle Inhalte tradiert werden; wichtiger und lohnender dürfte es für die Frage nach dem jüdischen Anteil an der Wiener Kultur der Zeit um 1900 aber sein, jenen Codes und der Art ihrer Diffusion und Rezeption nachzuforschen, die ursprünglich einer genuin jüdischen „mémoire culturelle" angehört hatten, später aber zu typischen Elementen einer Wiener bzw. österreichischen Kultur wurden. Gerade Personen, die sich von ihren ursprünglichen Traditionen emanzipieren und an andere, „fremde" sozio-kulturelle Inhalte und Formen zu assimilieren versuchen, werden möglichst wenig „Eigenes" behalten wollen. Dies gilt im Wien der Jahrhundertwende ebenso für Juden wie für Tschechen, Magyaren oder Italiener. Was vom Eigenen noch übrig bleibt, wird in das Fremde, das man sich aneignet, eingeschlossen, und es wird daher mit der Zeit

Wien und die Juden der Monarchie

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auch von jenen, die zu der Gruppe gehören, an die man sich assimiliert, gegebenenfalls als etwas Neues empfunden, jedoch unvermittelt in den täglichen kulturellen Gebrauch überführt. Natürlich ist dies ein allgemeiner Vorgang, der in den verschiedensten sozialen Schichten mit unterschiedlicher Intensität vor sich geht und in Bildungsschichten am deutlichsten wahrnehmbar ist. Es ist eine Erfahrungstatsache, daß gerade Personen, die sich von ihrem ursprünglichen sozial-kulturellen Rontext zu emanzipieren versuchen, die Inhalte des neu angeeigneten kulturellen Kontextes möglichst perfekt zu verwenden verstehen oder zumindest zu verwenden vorgeben und den ursprünglich eigenen bewußt verdrängen oder verleugnen. Man wird also daraus, daß jemand magyarischer oder jüdischer Herkunft ist, nicht ohne weiteres schließen können, daß er häufiger und intensiver als andere magyarische oder jüdische kulturelle Codes benutzen wird. Vielleicht finden sich solche bisweilen ausgeprägter bei Personen vor, die mit einem magyarischen oder jüdischen Kontext herkunftsmäßig in keinem Zusammenhang stehen, die sich jedoch dieser Codes bewußt oder unbewußt bedienen, weil sie ein bereichernder Teü der „eigenen" Kultur geworden sind. Wenn das Judentum zweifelsohne einen wichtigen Anteil am Prozeß der Urbanisierung des ausgehenden 19. Jahrhunderts und folglich auch an der Entwicklung einer spezifischen Urbanen Kultur der Zeit um 1900 hatte, dann sind, so meine ich, die erwähnten Gesichtspunkte für den jüdischen Anteil an der Wiener Kultur der Jahrhundertwende wohl wesentlicher, als Fragen nach der ethnischen Herkunft ihrer kulturellen Trägerschichten. Und ihr Beitrag im einer Kultur der Wiener Moderne erhält unter dem Aspekt, daß vor allem die sozialen und politischen Inhalte der Moderne jenen Freiheitsraum vorgaben, in welchem die volle Emanzipation, welche zahlreiche Juden anstrebten, erst möglich erschien, eine qualitativ ganz andere Dimension, als es jener Aspekt ist, der nur nach einem biographisch begründbaren Zusammenhang zu fragen weiß.

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Antisemitismus und Ausgrenzung des Fremden Freilich, wie sehr sich die Juden in den größeren Städten der Monarchie und vor allem in Wien, wohin sie aus ihren „Stetln", aus dem Osten des Reiches oder aus anderen Gegenden zugezogen waren, auch zu emanzipieren und zu assimilieren versuchten und wie hoch ihr quantitativer und qualitativer Anteil an einer „österreichischen" Kultur auch war, sie wurden als „Fremde" wahrgenommen, und es haftete ihnen zumindest in der ersten Generation oft ein gewisser „Konvertitenstatus" an, der ohne weiteres wahrnehmbar war und von der antisemitischen Agitation aufgegriffen und politisch instrumentalisiert wurde. Ihr eminent wichtiger Beitrag an einer Kultur Mitteleuropas und insbesondere der Wiener Moderne wurde immer wieder zu Recht hervorgehoben. Stellvertretend für zahlreiche Untersuchungen sei hier neben jenen Steven Bellers 39 an die jüngsten Arbeiten von Leon Botstein60, Jacques Le Rider oder an die klugen Überlegungen von Carl E. Schorske erinnert. Derwachsende Antisemitismus dieser Jahre wurde schon damals neben der Benennung wirtschaftlicher Gründe in der Tat mit dem Hinweis auf die, wie man meinte, überproportionale Präsenz jüdischer Intellektualität gerechtfertigt. Dabei wird diese Intellektualität zuweilen einseitig in Parallele gebracht mit dem Bestreben jüdischer Mitbürger, sich die deutsche Kultur anzueignen. Wirklich nur die deutsche Kultur? Wer so vereinfachend argumentiert, wie unter anderen Steven Beller oder auch Peter Gay61, hat meiner Meinung nach weder über das komplizierte Verhältnis deutschösterreichisch nachgedacht noch sich klargemacht, daß die „Sprache" in Österreich gegenüber jener in Deutschland von einer doch sehr unterschiedlichen Lebenswelt beeinflußt wird. Das „Deutschtum" von Österreichern jüdischer Herkunft wie Arthur Schnitzler, Gustav Mahler, Joseph Roth oder Stefan Zweig - man lese nur dessen Erinnerungen -, weicht doch beträchtlich von jenem „deutscher" Deutschen ab. Zudem bleibt bei Beller und

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Gay unberücksichtigt, daß zuweilen auch solche jüdische Intellektuelle die Wiener Moderne qualitativ mitgestaltet haben oder dieser in einem weiteren Sinne zugezählt werden, die sich entweder einer anderen „Sprach-Kultur" zu assimilieren versuchten oder zumindest aufgrund ihres persönlichen Assimilationsprozesses eine kulturelle Mehrfachloyalität aufwiesen: Ludwig Hevesi, einer der wichtigsten Propagatoren der Wiener Secession, hatte sich zunächst ebenso mit der ungarischen Kultur identifiziert wie später der Philosoph Georg Lukács, der Filmtheoretiker Béla Balázs, der Sozialökonom Karl Polányi oder - um auch aus dem Umfeld der Wiener Operette einen Namen zu nennen - Emmerich Kálmán; der Grazer Soziologe Ludwig Gumplowicz blieb zeit seines Lebens zutiefst der polnischen Kultur verpflichtet. Der zunehmenden Ausgrenzung der Juden aus der Gesellschaft lagen verschiedene Motive zugrunde. Hier könnte man zunächst unter anderem ein die These von Hermann Bahr erinnern, die seinem „internationalen Interview1' über den Antisemitismus zugrunde lag. Demnach wäre, meint Bahr seine Interviews mit einundvierzig namhaften Zeitgenossen zusammenfassend, der Antisemitismus als Ideologie zumindest auch eine Erfindung der Antisemiten, die sich durch diesen selbst zu legitimieren versuchten. „Der Antisemitismus", schreibt Bahr im Jahre 1894 „will nur sich selbst. Er ist nicht etwa ein Mittel zu einem Zwecke. Der einzige Zweck des Antisemitismus ist der Antisemitismus. Man ist Antisemit, um Antisemit zu sein. . . . Die Beichen halten sich an Morphium und Haschisch. Wer sich das nicht leisten kann, wird Antisemit. Der Antisemitismus ist der Morphinismus der kleinen Leute." Die Antisemiten wollen „so eine Art von Nietzsche'schen Übermenschen werden, die durch alle Mittel den Genuß der Macht erwerben". 62 Vom kulturtheoretischen Gesichtspunkt aus betrachtet, könnte freilich der spezifische österreichische Antisemitismus auch mit dem Hinweis auf jene krisenhafte Situation begründet werden, die von der Multiethnizität und Multikulturalität der mitteleuropäischen Region herrührte.

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Das Differente der Juden manifestierte sich nämlich im Kontext der ethnisch-kulturellen Vielfalt nicht nur durch die Unterscheidung einer anderen Herkunft und eines fremden Idioms, sondern zudem durch eine differente kulturelle Tradition, die sich ihrerseits durch die Religion legitimierte, das heißt von einer unterschiedlichen, nichtchristlichen Religion herleitete. Die Juden konnten daher zu einem besonderen Fremdelement erklärt werden, und die wachsende Radikalität und Unerbittlichkeit ihrer Ausgrenzung sollte daher wohl auch als ein sozial-psychisches Phänomen beachtet werden. Der Judenhaß diente folglich als besonderes Surrogat für den Haß auf alle ethnischen und kulturellen Fremdheiten, von denen man in der Region und in den Städten umgeben war. Diese hypothetische Annahme könnte mit dem Hinweis untermauert werden, daß, wollte man auch eine andere ethnisch-kulturelle Gruppe als besonders fremd brandmarken, man diese in die Nähe des Judentums brachte. So sprach Karl Lueger, wenn er die Magyaren und in ihnen den Liberalismus bekämpfte, immer wieder von der „judäo-magyarischen Clique". Auf der anderen Seite mußten die Juden im Prozeß ihrer Emanzipation in erster Linie gerade auf solche politische Vorgaben und Ideologien zurückgreifen, die eine egalitäre Gesellschaft versprachen, wie Liberalismus und Sozialismus, weil ihre eigene Anerkennung und Freiheit nur in einer gesellschaftlichen Gleichheit, in der gleichwertigen Anerkennimg von Vielfalt gewährleistet schien. Im konkreten sympathisierten daher auch viele von ihnen mit jenen Bestrebungen, welche die egalitäre Ausgewogenheit zwischen den Völkern und Kulturen der Monarchie und ihre wertfreie Anerkennung zum Ziele hatten. Vielleicht unbewußt wurden sie so neben dem Adel, der nur mehr wenig politisches Gewicht hatte, der hohen Bürokratie, dem Heer und einzelnen kirchlichen Kreisen zu den Propagatoren jenes komplexen Systems, das die Monarchie nicht als Regierungssystem, wohl aber als ein sozial-kulturelles und politisches Netzwerk ausmachte. Damit gerieten sie aber in Gegensatz zu den von vielen

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als fortschrittlich apostrophierten konkurrierenden, separatistischen, das heißt nationalistischen Bestrebungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts und der Zeit um 1900. „Weder die Treue zum Kaiser", meint daher zu Recht Carl E. Schorske, „noch die Treue zum Liberalismus als politisches System boten den Juden einen Status, ohne eine Nationalität zu fordern; sie wurden zum übernationalen Volk des Vielvölkerstaates und in der Tat zu dem Volk, das in die Fußstapfen der früheren Aristokratie trat. Ihr Glück stand und fiel mit dem des liberalen kosmopolitischen Staates. Noch wichtiger für uns ist es, daß das Schicksal des liberalen Bekenntnisses selbst mit dem Schicksal der Juden sich verstrickte. In dem Ausmaß, wie die Nationalisten jedes Volkes versuchten, in ihrem Interesse die Zentralgewalt der Monarchie zu schwächen, wurden die Juden somit im Namen jeder Nation angegriffen." 63 Wenn man die Verdrängung von Pluralitäten und die Begründung von ganzheitlichen, holistischen Konzepten als Tendenzen ansehen kann, die sich gegen die Moderne richteten, weil diese ja von einer zunehmenden Differenzierung und Pluralisierung gekennzeichnet war, dann sollte man, so wie es Zygmunt Bauman versucht hat 64 , den Antisemitismus auch als ein allgemeines, krisenhaftes Phänomen der europäischen Moderne benennen. Je differenzierter die Gesellschaft aufgrund akzelerierter ökonomischer Transformationen wurde, je vielfaltiger, fragmentierter, daher komplexer und unsicherer die Lebenswelt sich gestaltete, um so leichter konnten sich diesem allgemeinen Prozeß der Moderne holistische Programme entgegenstellen, die diese Fragmentiertheit zu beseitigen beabsichtigten und gegenüber Mobilität - zuweilen mit dem Hinweis auf prämoderne Zustände Beruhigung, „Seßhaftigkeit", Sicherheit zum Beispiel in klar umgrenzten Nationen oder in einer überschaubaren, in Wirklichkeit freilich imaginierten „Heimat" versprachen. Von einer solchen Position aus mußten all jene marginalisiert und ausgegrenzt werden, die entweder diese Differenziertheit und Fragmentiertheit repräsentierten oder eine ethnisch-kulturelle und sozial-politische

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Vielfalt bejahten beziehungsweise in dieser zu leben versuchten. In der Wiener oder zentraleuropäischen Moderne begegnen sich in einer gemeinsamen Brechung diese pluralistischen Tendenzen der europäischen Moderne mit der ethnisch-kulturellen Heterogenität der Region. Ausgrenzungen, Fremd- und Feindbilder, Xenophobien und die Antisemitismen in dieser Moderne lassen sich daher ebenso auf gesamteuropäische wie auch auf gesamtregionale Ursachen zurückführen. Nur selten wird angesichts einer solchen sozialen und intellektuellen Situation auf jene Anstrengungen aufmerksam gemacht, die den jeweils eigenen Wert des Anderen zu akzeptieren oder dem Differenten und Fremden Anerkennimg und Achtimg entgegenzubringen versuchten. Hier denke ich nicht so sehr an Überlegungen und Projekte, welche die Pluralität der Region auf der Ebene der intellektuellen Reflexion zum Gegenstand von Erörterungen machten. Ich denke hier vor allem an jene Artikulationen des Differenten, die einer breiteren Öffentlichkeit bewußt waren und, so sie auf Akzeptanz stießen, für die Rekonstruktion des Bewußtseins dieser Öffentlichkeit auch heute von Relevanz sind. Die Wiener Operette, das Unterhaltungsgenre breiter urbaner Bevölkerungsschichten in der Zeit um 1900, lebte ja vom musikalischen und thematischen Zitatenreichtum der Gesamtregion. Daß diese Vielfachkodierung der Wiener Operette ein Beleg für Akkulturationsprozesse ist, die gerade zu einer Zeit stattfanden, als im politischen Bereich die Hervorstreichung des Trennenden immer wichtiger wurde, ist die eine Seite der kulturpolitischen Relevanz der Operette. Daß in der Operette sich ebenso Stereotypen von Fremdbildern widerspiegelten und sie diese Fremdbilder in einer heiter-verfremdeten Weise festschrieb, ist ihre andere Seite. Christian Glanz hat jüngst auf „Aspekte des Exotischen in der Wiener Operette am Beispiel der Darstellung Südosteuropas"65 hingewiesen. Um so mehr fallt es daher auf, daß in den Jahren des zunehmenden Antisemitismus, als antisemitische Slogans die politische Sprache zu beherrschen begannen,

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diese antisemitischen Ausfälle in den Operetten, wenn ich richtig beobachtet habe, kaum eine Rolle spielen. Dies mag unter anderem auch darauf zurückzuführen sein, daß die meisten Operettenlibrettisten und zahlreiche Komponisten aus dem jüdisch-intellektuellen Milieu Wiens stammten. Es könnte aber auch ein Indiz dafür sein, daß der Antisemitismus der Rezipienten von Operetten entweder nicht die Radikalität der politischen Akteure aufwies oder aber daß sich unter den Rezipienten auch zahlreiche jüdische Zuschauer befanden, die eine antisemitische Note der Operette nicht goutiert hätten. Um so bemerkenswerter ist es aber, daß zu einer Zeit, als antisemitische Attitüden zu den allgemeinen Umgangsformen der Wiener Gesellschaft zu zählen schienen, zwei Operetten von Franz Lehár, „Der Rastelbinder" (1902) und „Rosenstock und Edelweiß" (1912), ein nicht nur sympathisches, sondern ausgesprochen positives Bild vom Juden zeichneten. Den Text des „Rastelbinder" verfaßte der Erfolgslibrettist Victor Léon, der Inhalt befaßt sich mit der Geschichte armer slowakischer Kesselflicker aus dem Trencsiner Komitat und erinnert an die spätere Erzählung „Vom armen Franischko" des Sprachphilosophen Fritz Mauthner. Die Uraufführung fand im Dezember 1902 unter der Stabführung von Alexander Zemlinsky im Carl-Theater statt. Der große Erfolg dieser Operette blieb trotz der Attacken mancher Rezensenten nicht aus. Die Angriffe bezogen sich in der Tat sowohl auf den Librettisten als auch auf das „ungewohnte" Sujet, in dem die Hauptrolle der Jude Bär Pfefferkorn einnimmt, dessen „Überfluß von Geschmacklosigkeiten und Unappetitlichkeiten", wie die ,Neue Freie Presse" zu berichten wußte, „mit denen ihn der Autor aus einem schier unerschöpflichen Füllhorn begabt", eigens hervorgehoben wurden. Der Kálmán-Biograph Julius Brion erinnerte sich noch Jahrzehnte später: „Bei der Premiere des Rastelbinder schrieb ein prominenter Musikreferent einen zehn Zeilen langen Bericht, in dem der Satz vorkam: Ich bekam einen Brechanfall und mußte das Theater verlassen!"66 Dem armen Hausierjuden Pfefferkorn, der im Entréelied

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„jiddelnd" bekennt: „Ich bin ä armer Jud! Es geht mir gar nix gut, ich bin ä armer Jud", wird im Stück die Position einer allseits geachteten moralischen Instanz zuerkannt. Neben Ratschlägen, die den stereotypen Vorstellungen vom Juden entsprechen, unter anderem wie man einen guten finanziellen Profit erzielt, wiederholt er unentwegt einen Refrain, der allgemein menschliche Wertvorstellungen propagiert und der auch den abschließenden Höhepunkt des Stückes bildet: „Das is' a einfache Rechnung, mei Kind, vergess die nit, auch Wohlthun trägt Dir Zinsen, das is der rechte Profit."67

1 Vgl. P. Walter Jacob, Jacques Offenbach mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek b. Hamburg 1988, 171-172. 2 Johann Strauß, Die Fledermaus. Originalfassung, hg. von Hans Swarowsky, Leipzig o. J., 442-497. - Vgl. auch die Wiederholung dieser Tanzabfolgen in anderen Operetten. - Franz Lehâr, Die lustige Witwe a. a. O. 52 ff. 3 Vgl. u. a. Zoltán Falvy, Speer: Musikalisch-Türckischer EulenSpiegel, in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae 12 (1970) 131-151. - üers., Danses du XVIIIe siècle en Hongrie dans la collection „Linus", in: ebd. 13 (1971) 15-59. 4 Béla Bartok, Race Purity in Music [1942], in: Béla Bartok Essays, ed. by Β. Suchoff, London 1976, 29-30. Am Ende seiner Ausführungen kommt Bartok auf den bekannten Rákóczy-Marsch zu sprechen, der keineswegs „rein" ungarische musikalische Elemente aufweise, vielmehr über einen Verbunkos auch auf arabische Zitate zurückgreife. Ebd. 31-32. - Vgl. auch Béla .SartoÄ, Faji tisztaság a zenében [„Rassenreinheit" in der Musik], in: Bartók Béla Összegyujtött irá sai [Béla Bartók Gesammelte Schriften], Bd. 1., hg. András Szöllösy, Budapest 1967, 601-603. 5 Philipp Wilhelm von Hörnigk, Österreich über alles, wann es nur will, hg. von Gustav Otruba, Wien 1964,49. 6 [Joseph von Eötvös], Die Garantien der Macht und Einheit Oesterreichs, 4. Aufl., Leipzig 1859, 11. 7 Ferdinand von Bauernfeld, Aus Alt- und Neu-Wien [1873], in: Bauernfelds ausgewählte Werke, hg. von Emil Horner, Bd. 4, Leipzig o. J., 140. 8 Vgl. dazu unter anderem Hermann Ignaz Bidermann, Geschichte der österreichischen Gesammt-Staats-Idee 1526-1804, 2 Bde., Neudruck Wien 1972. - Josef Bedlich, Das österreichische Staatsund Reichsproblem. Geschichtliche Darstellung der inneren Po-

Anmerkungen

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litik der habsburgischen Monarchie von 1848 bis zum Untergänge des Reiches, Bd. 1, Leipzig 1920,1-58. 9 Benedict/1 «derson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/M. 1988. 10 Zitat in: István Nemeskiirty, A köszivü ember unokái. A kiegyezés utáni also nemzedék 1867-1896 p i e Enkel des Mannes mit dem steinernen Herzen. Die erste Generation nach dem Ausgleich 1867-1896], Budapest 1987, 85-86. 11 Péter Király (ed.), Topographie Universitatis Hungaricae Budae 1777-1848, Budapest 1983, vgl. hier den Index librorum selectorum 477-497. 12 Käfer István, Aζ egyetemi nyomda négyszáz ève (1577-1977) [Hundert Jahre Universitätsdruckerei], Budapest 1977, 226-233 (statistische Übersicht der Buchproduktion). 13 Ambrosii Capelini Dictionarium decern linguarum . . . ubi Latinis dictionibus Hebraeae, Graecae, Gallicae, Italicae, Germanicae et Hispanicae itemque nunc primo et Polonicae, Ungaricae atque Anglicae adiectae s u n t . . . Lugduni [= Lyon] 1585. Dieses Wörterbuch erlebte bis Ende des 17. Jahrhunderts zahlreiche Auflagen. - Peter Loderecker, Dictionarium Septem diversarum linguarum, videlicet Latine, Italice, Dalmatice, Bohemice, Polonice, Germanice et Ungarice . . . Prag 1605. - [Szikszai Fabricius Balázs] Dictionarium quatuor linguarum: Latinae, Hungaricae, Bohemicae et Germanicae, diligenter et accurate primum editum, Wien 1629. 14 Mikó Pálné, Marseillaise és Gotterhalte. Találkozás Márton JózselTel [Marseillaise und Gotterhalte. Begegnung mit Josef Márton], Budapest 1986. 15 Zeitschrift von und für Ungern zur Beförderung der vaterländischen Geschichte, Erdkunde und Literatur, hg. von Ludwig von Schedius, l(Pesth 1802) 14-15 (Einleitung). 16 Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt/M. - Leipzig 1994. 17 Michael Clyne, Österreichisches Deutsch. Zur Nationalvarietät einer plurizentrischen Sprache, in: Literatur und Kritik 11/1995, 60-67. - Leslie Bodi, Austria und Australia: ÖsterreichbewuDtsein und australische Identität, in: ebd. 54-59. - Vgl. ferner Joshua Fishman, The Rise and Fall of Ethnic Revived: Perspectives on Languages and Ethnicity, Berlin 1985. - Michael Clyne, Community Languages, Melbourne 1991. - Marianne Bodi, The Changing Role of Minority Languages in Australia: The European and the Asia-Pacific Nexus, in: Journal of Multilingual and Multicultural Development 15(1994) 219-227. 18 Hermann Bahr, Selbstbildnis, Berlin 1923,185-186. 19 Leslie Bodi, Austria und Australia a. a. O. 56. 20 Hugo von Hofrnannsthal - Leopold von Andrian, Briefwechsel, hg. von Walter H. Perl, Frankfurt/M. 1968, 105 (20. 7. 1898).

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21 Ebd., 110 (28. 7. 1898). 22 Vgl. das Kapitel „L'idée autrichienne de Reich centre-européen", in: Jacques Le Rider, Hugo von Hofmannsthal. Historíeme et modernité, Paris 1995,181-206. 23 Ernest Gellner, Nationalismus und Moderne, Berlin 1991, 202 ff. 24 Wolfgang Schmeltzl, Ein Lobspruch der hochlöblichen . . . Stat Wien in Osterreich [1548], anastatischer Neudruck, hg. Heinrich Diezel, Wien 1913, Vers 325-338. 25 Vgl. dazu: Moritz Csáky, L'Aufklärung et la conscience autrichienne, in: Roland Mortier - Hervé Hasquin (Hg.), Unité et diversité de l'Empire des Habsbourg, Bruxelles 1988,173-195. Ders., Le Problème du pluralisme dans la région mitteleuropéenne, in: Miklós Molnár - André Reszler (Hg.), Le Génie de l'Autriche-Hongrie. État, société, culture, Paris 1989, 19-29. Ders., La Pluralité. Pour contribuer à une théorie de l'histoire autrichienne, in: Austriaca 33, Rouen 1991,27-42.-Ders., Historische Reflexionen über das Problem einer österreichischen Identität, in: Herwig Wolfram, - Walter Pohl (Hg.), Probleme der Geschichte Österreichs und ihrer Darstellung, Wien 1991,29^7. - Ders., Pluralité Culturelle et identité. Critères d'une auto-reconnaissance transnationale sous la monarchie des Habsbourg, in: Les Temps Modernes 48/Mai, Paris 1992,154-170. 26 Isaiah Berlin, Der Nationalismus, Frankfurt/M. 1990, 45. 27 Ebd. 46. 28 Vgl. Roland Posner, Kultur als Zeichensystem. Zur semiotischen Explikation kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe, in: Aleida Assmann - Dietrich Harth (Hg.), Kultur als Lebenswelt und Monument, Frankfurt/M. 1991,57 ff. 29 Jan Assmann, Kulturelles Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Jan Assmann - Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/M. 1988, 9-19. - Jacques Le Goff, Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt/M. 1992. 30 Vgl. die jüngste Analyse des Kronprinzenwerkes von Georg Schmid, Die Reise auf dem Papier, in: Britta Rupp-Eisenreich Justin Stagi (Hg.), Kulturwissenschaften im Vielvölkerstaat. Zur Geschichte der Ethnologie und verwandter Gebiete in Österreich ca. 1780 bis 1918, Wien - Köln - Weimar 1994,100-112. 31 Gerald Stourzh, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848-1918, Wien 1985. 32 Franz Palacky, Oesterreichs Staatsidee, Prag 1866 [Neudruck Wien 1974], 27, 33. 33 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften a. a. O. 451. 34 Julius Giegl (Hg.), Die Staatsgrundgesetze, Wien, 8. Aufl. 1909, 77-80. - Edmund Bernatzik (Hg.), Die österreichischen Verfassungsgesetze mit Erläuterungen, Wien 2 1911,426,879-1016 (Erläuterungen).

Anmerkungen

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35 Gustav Steinbach (Hg.), Die ungarischen Verfassungsgesetze, Wien, 4. Aufl. 1906,59-65 („Gesetzesartikel XLIV v. J. 1868"). Zit. S. 59. 36 Zitat in: Erazim Kohák, Masaryk und die Monarchie: Versuch einer Demythisierung, in: Josef Novák (Hg.), On Masaryk. Texts in English and German = Studien zur österreichischen Philosophie Bd. XIII, hg. von Rudolf Haller, Amsterdam 1988, 376. 37 Robert A. Kann, Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie, Bd. 2: Ideen und Pläne zur Reichsreform, Graz - 2Köln 1964. - Gerald Stourzh, Probleme der Koniliktlösung in multi-ethnischen Staaten: Schlüsse aus der historischen Erfahrung Österreichs 1848 bis 1918, in: Erich Fröschl - Maria Messner - Uri Ra'anan (Hg.), Staat und Nation in multi-ethnischen Gesellschaften, Wien 1991, 105-120. - Theodor Hanf, Konfliktminderung durch Kulturautonomie. Karl Renners Beitrag zur Frage der Konfliktregelung in multi-ethnischen Staaten, in: ebd. 61-90. - Oszkár Jászi, A nemzeti államok kialakulása és a nemzetiségi kérdés [Die Entstehung von Nationalstaaten und die nationale Frage], hg. György Litván, Budapest 1986. - Péter Hanák, Jászi Oszkár dunai patriotizmusa p e r Donau-Patriotismus von O. Jászi], Budapest 1985. 38 Hugo vonHoflnannsthal, Bemerkungen [1921], in: Ders., Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze II., hg. von B. Schoeller und R. Hirsch, Frankfurt 1979,474. 39 Joseph Roth, Die Kapuzinergruft, in: Ders., Werke in vier Bänden, hg. von H. Kesten, Bd. 2, Köln o. J. 828. 40 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften a. a. O. 445^153, Zitat 451. 41 Vgl. Franz Krones, Grundriß der Oesterreichischen Geschichte, Wien 1882,79 ff. - Alphons Lhotsky, Österreichische Historiographie, Wien 1962, 197. 42 W. Tomek, Ueber die Behandlung der österreichischen Gesammtgeschichte, in: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 4 (1853) 824-833, Zitat 824-25. 43 Vgl. Volker Bischoff - Marino Mania, Melting Pot-Mythen als Szenarien amerikanischer Identität zur Zeit der New Immigration, in: Bernhard Giesen (Hg.), Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kolleküven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt/M. 1991, 513-536. 44 Über Nitsch (1763-1808) vgl. József Szinnyei, Magyar irók élete és munkái [Leben und Werke ungarischer Schriftsteller] Bd. 9, Budapest 1903,1067-1069 und Johann W. Nagl - Jakob ZeidlerEduard Castle (Hg.), Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte Bd. 2: 1750 bis 1848, Wien 1914, 1047 (mit einer zwar irreführenden und unvollständigen Inhaltsangabe). - Zu Heinrich Klein (1756-1823) vgl. Bence Szabolcsi - Aladar Tóth- Dénes Bartha (Hg.), Zenei lexikon [Musiklexikon] Bd. 2, Budapest 2 1965, 335-336.

224

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45 Vgl. u. a. die Ausführungen von Ludwig Finscher über die Musikkultur Wiens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Carl Dahlhaus (Hg.), Neues Handbuch der Musikwissenschaft Bd. 5, Laaber 1985,232 ff. 46 Horst Reichenbach, Zur Frage des Popularen bei Mozart. Ein Beitrag zur Mozartforschung, Halle - Wittenberg (Ms.) 1975. 47 Wilhelm Seidel, Nation und Musik. Anmerkungen zur Ästhetik und Ideologie ihrer Relationen, in: Helga de la Motte-Haber (Hg.), Nationaler Stil und europäische Dimension in der Musik der Jahrhundertwende, Darmstadt 1991, 5-19. 48 Vgl. dazu Moritz Csáky, Gesamtregion und Musik. Akkulturation am Beispiel von Musik (im Druck). - Géza Papp, Unbekannte „Verbunkos"-TY,anskriptionen von Ferenc Liszt, in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae 29 (1987) 181-218. 49 Béla Bartók, Race Purity in Music [1942], in: Béla Bartók Essays, ed. by Β. Suchojf, London 1976, 30. 50 Michael John - Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien - einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten, Wien - Köln 1990, 14-17. 51 Rudolf Till, Ein Plan der Gliederung Wiens in Nationalitätenviertel, in: Wiener Geschichtsblätter 10 [70] (1955) 73-76. 52 Steven Beller, Vienna and the Jews 1867-1938. A cultural history, Cambridge 1989, 23 f. 53 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Hamburg 1982, 26. 54 Michael John - Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien a. a. O. 34. 55 Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de siècle, Frankfurt/M. 1982, 112. 56 Lajos Venetianer, A magyar zsidóság tôrténete [Geschichte des ungarischen Judentums], Budapest 1922, Repr. Budapest 1986, 457, 473. 57 Philippe Ariès - Georges Duby (Hg.), Geschichte des privaten Lebens, 4. Band: Michelle Perrot (Hg.), Von der Revolution zum Großen Krieg, Frankfurt/M. 1992,17. 58 Steven Beller, Vienna and the Jews a. a. O. 32 59 Vgl. auch Steven Beller, Die Position der jüdischen Intelligenz in der Wiener Moderne, in: Jürgen Nautz - Richard Vahrenkamp (Hg.), Die Wiener Jahrhundertwende. Einflüsse, Umwelt, Wirkungen, Wien - Köln - Graz 1993, 710-719. 60 Leon Botstein, Judentum und Modernität. Essays zur Rolle der Juden in der deutschen und österreichischen Kultur 1848 bis 1938, Wien - Köln 1991. 61 Peter Gay, Freud, Juden und andere Deutsche. Herren und Opfer in der modernen Kultur, Hamburg 1986. 62 Hermann Bahr, Der Antisemitismus. Ein internationales Interview, hg. von Hermann Greive, Königstein/Ts. 1979,15-16. 63 Carl E. Schorske, Wien a. a. O. 123.

Anmerkungen

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64 Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeiten, Hamburg 1992, bes. 111 ff. 65 In: Musicologica Austriaca 9, hg. von Josef-Horst Lederer, Föhrenau 1989, 75-89. 66 Zitate in Otto Schneidereit, Franz Lehár. Eine Biographie in Zitaten, Innsbruck 1984, 76. 67 Der Rastelbinder. Vollständiger Clavier-Auszug, Leipzig o. J., 13, 19, 59.

Kapitel

7:

Pluralità! - Kultur - Geschichte Relevanz regionaler Pluralität Den Hinweisen auf die verfassungsmäßige, ethnische und sprachlich-kulturelle regionale Situation könnte man zu Recht mit dem Einwand begegnen, daß Pluralitäten in der zentraleuropäischen Region bzw. in der Habsburgermonarchie gewiß vorhanden und wahrnehmbar waren und daß sie auch mit Hilfe einer historischen Rekonstruktion mühelos nachgewiesen werden können, daß sie aber für das Rewußtsein ihrer Rewohner und für einzelne Individuen doch nicht jenes Gewicht hatten, das ihnen zuweilen beigemessen wird, daß vielmehr die praktische Politik und der soziale Alltag eher von ganz anderen, sogar gegenläufigen Motiven und Leitbildern geprägt war. Die innere Politik war beherrscht von heftigen Auseinandersetzungen um nationale Abgrenzungen (Sprachenstreit), von Kämpfen um mehr soziale Gerechtigkeit (soziale Frage), um einen demokratischen Zugang zu den politischen Machtinstrumentarien (allgemeines Wahlrecht); in der äußeren Politik herrschte die wachsende Sorge um die Konsolidierung des Staates vor, der von außen zunehmend bedroht schien, wogegen man sich im „europäischen Konzert der Mächte" seit dem Berliner Kongreß im Jahre 1878 mit einem Bündnissystem (Zweibund, Dreibund) zu wappnen versuchte, was freilich letztlich zur Katastrophe des Ersten Weltkrieges führen sollte. Es wäre gewiß sowohl inhaltlich als auch vom methodischen Gesichtspunkt verfehlt, über diese Fakten einfach hinwegzugehen, von denen die reichen Bestände der Archive oder die täglichen Berichterstattungen der Zeitungen zeugen und derer sich dann die Historiker späterer Generationen vornehmlich zu bedienen wußten, um die Geschichte dieser Zeit des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts zu rekonstruieren. Eine schwerwiegende Folge dieser verengten Sicht war

Relevanz regionaler Pluralität

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freilich die fast ausschließliche Betonung oder zumindest die einseitige Gewichtung des „offiziellen", des politischen und sozialen Geschehens in den Darstellungen über die Zeit um 1900. Es wurden vornehmlich jene Bereiche thematisiert, die den Gegenstand der offiziellen politischen Auseinandersetzungen gebildet haben oder die für die weitere sozial-politische Entwicklung von Relevanz geworden waren. Auf der Basis der zeitgenössischen nationalen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts entwickelte sich eine Nationalismusforschung, die sich vornehmlich auf jene Kriterien stützte, auf die man sich auch in der damaligen Tagespolitik zu berufen pflegte, und man beachtete daneben kaum oder nur am Rande jene Aspekte, die nicht zu den dominanten Faktoren der offiziellen Politik gehörten. Aufgrund eines solchen einseitigen Formalaspekts der historischen Forschung entzogen sich denn auch jene Zonen der Aufmerksamkeit oder sie wurden sogar ganz einfach ausgeklammert, die sich in dieses Bild nicht einfügten. Jene Tendenzen und intellektuellen Reflexionen, die einer allgemeinen Entwicklung entweder entgegengesetzt waren oder die sich letztlich nicht durchzusetzen vermochten, wie zum Beispiel alternative politische und sozial-kulturelle Überlegungen, die auf einen Ronsens der Nationalitäten zielten, wurden entweder verschwiegen oder als ineffiziente Alternativen zwar erwähnt, aber für das Kalkül der politischen Entwicklung und für das allgemeine Bewußtsein der damaligen Zeit als irrelevant angesehen. Vom Gesichtspunkt einer kulturhistorischen und kulturanthropologischen Forschimg, die neben den politischen vor allem den ökonomischen, sozialen, intellektuellen und ästhetischen Konditionen bei der Rekonstruktion eines dichten „kulturellen" Systems eine besondere Rolle zuweist, gewinnen freilich gerade diese „zones de silence", die entweder „,Entscheidungen' zum Ausdruck" bringen, „die den ,Tatsachen' vorausgehen, die nicht das Ergebnis von Beobachtung sind" oder „Orte", die einfach negiert werden, eine neue qualitative Dimension. Michel de Certeau hat erstmals explizit auf dieses

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„Schweigen" der traditionellen Geschichte aufmerksam gemacht, wie Hexen, Wahnsinn, volkstümliche Literatur oder bäuerliches Leben. 1 Jacques Le Goff plädierte dafür, noch weiter zu gehen. Man sollte diese „zones de silence" noch ausdehnen „und die historischen Belege in bezug auf ihre Auslassungen untersuchen, sich nach dem Vergessen, den Löchern, den weißen Flecken der Geschichte fragen . . . Es gilt, ein Inventar der Archive des Schweigens zu erstellen und Geschichte auf der Grundlage von Quellen und fehlenden Quellen zu erarbeiten". 2 Folgt man der Definition des amerikanischen Kulturanthropologen Clifford Geertz, dann umfaßt Kultur als „Lebenswelt" (Alfred Schütz)3 „ein historisch überliefertes Muster von Bedeutungen . . . mittels derer Menschen kommunizieren und ihr Wissen über das Leben und ihre Einstellungen zu ihm weitergeben und erweitern". 4 In einem solchen Kommunikationssystem, dessen innere Zusammenhänge weniger durch schlüssige kausale Bezüge als durch das Benennen ihrer einzelnen Indikatoren aufgezeigt werden können, kommt der Interaktion von unterschiedlichen Elementen als Muster, das heißt von Codes aus den verschiedensten Lebensbereichen, eine besondere Bedeutung zu. Gesetzt den Fall, man thematisiert die nationale Frage in der zentraleuropäischen Begion des 19. Jahrhunderts, dann gilt es vor allem zu fragen, welche spezifischen und vielfältigen politischen, sozialen und kulturellen Elemente diesem Nationalismus zugrunde lagen und ob es Modelle gab, die es den Menschen nachweisbar möglich machten, in einem von Multiethnizität und Multikulturalität geprägten komplexen System miteinander zu kommunizieren. Man könnte in der Tat aus den zahlreichen literarischen und politischen Reflexionen über die ethnische, kulturelle und politische Kohabitation in einer solchen komplexen Situation den Versuch ablesen, Pluralitäten intellektuell zu verarbeiten; ebenso könnte man aus den praktischen Versuchen, divergierendste kulturelle Codes auf der künstlerisch-ästhetischen Ebene miteinander zu verschränken, darauf schließen, daß solche komplexen Kommunikationsmu-

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ster praktisch funktioniert haben. Sie waren für die alltägliche Verhaltensweise von Individuen und ganzen sozialen Schichten zumindest ebenso relevant wie das Unterschiedliche, das Trennende, auf das in solchen Zusammenhängen immer wieder hingewiesen wird. Der Rekurs auf die Multiethnizität und Multikulturalität der Region war somit nicht ein harmonisierendes oder utopisches Unterfangen, wie mehrfach behauptet wurde, sondern die Thematisierung tatsächlich vorhandener Lebens· und Bewußtseinszusammenhänge. Nachdem sich auch nationalistische und chauvinistische Argumentationen auf diese pluralistische Situation beriefen, nur daß sie diese durch eine „multikulturelle Apartheid", durch den Versuch, ethnische Minderheiten um eine kulturell definierte Mehrheit herumzugruppieren 3 , beseitigen wollten, lassen sich auch die Nationalismen der Monarchie aus diesem spezifischen sozial-kulturellen Rontext ableiten. Die politisch so erfolgreiche nationale Variante war also ein Versuch, in der Komplexität und Vielfalt von Elementen, einer Situation also, die stets krisen- und konfliktanfällig ist, nur einzelne Teile gelten zu lassen und die übrigen aus ihr auszugrenzen und zu marginalisieren. Zwar entspricht dieser Vorgang durchaus jedem Prozeß kultureller Aneignung. Ein heranwachsender Jugendlicher wird im Verlaufe seines Erwachsenwerdens (Enkulturation), seiner Integration in die Gemeinschaft der Erwachsenen (Sozialisation), sehr wohl zwischen verschiedenen kulturellen Inhalten zu unterscheiden und zu wählen wissen, um seine individuelle Identität zu begründen. Dabei werden immer wieder kulturelle Inhalte („Werte") der Vätergeneration ganz bewußt nicht übernommen. Der daraus resultierende Gegensatz zwischen den Generationen wird zumeist als Generationenkonflikt bezeichnet. Das heißt: auch hier geschieht eben das, was der Kultursoziologe Hans Peter Thum als „Dekulturation" bezeichnet, wo zu beobachten ist, „daß Menschen einzeln oder gemeinsam, sei es ihre eigene sei es fremde Kultur, nicht nur konstruktiv und mit Wohlwollen behandeln, sondern kultureller Wirklichkeit auch ablehnend

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Pluralität - Kultur - Geschichte

bis destruktiv gegenübertreten, um sie aus inneren und/oder äußeren Veranlassungen heraus mehr oder weniger rigide zu beeinträchtigen".6 Solche Dekulturationstendenzen betreffen aber nicht nur Individuen unterschiedlicher Altersstufen, sie sind ebenso in jenen sozialen Prozessen wahrnehmbar, in welchen es zum Beispiel im Interesse der Identitätsbildung um die Akzeptanz oder eben um die Ablehnung bestimmter (kultureller) Inhalte geht, in denen also primäre oder sekundäre Einzelelemente des kulturellen Kontextes bewußt abgelehnt oder ausgegrenzt werden. Politische Bewegungen oder sozialpolitische Ideologien bedienten sich zuweilen mit Erfolg solcher Dekulturationsmuster, um sich selbst zu legitimieren. Hans Peter Thurn verweist in diesem Zusammenhang im ter anderem immer wieder auf den Nationalsozialismus. Ich meine, daß sich auch die nationale Ideologie seit dem 19. Jahrhundert dieses Mechanismus von Dekulturation recht erfolgreich bedient hat. Die Stigmatisierung von Sprachen, von kulturellen Inhalten oder von Menschen, die plötzlich als „Fremde" apostrophiert aus dem eigenen sozial-kulturellen Rontext ausgeschlossen werden, sind deutliche Indizien eines solchen dekulturativen Verhaltens. Dekulturativ deshalb, weil gerade im sozial-kulturellen Zusammenhang Zentraleuropas bzw. der Monarchie und ihrer Länder die nationale Ideologie nun ganz bewußt und in der Tat mit erstaunlichem Erfolg solche Merkmale des pluralistischen, ethnisch-kulturellen Gefüges auszugrenzen, zu verleugnen und zu „vergessen" versuchte, die zu konstitutiven Kriterien des kulturellen Bewußtseins ihrer Bewohner bzw. bestimmter sozialer Schichten gehört hatten. Die politisch erfolglose antinationalistische Vorstellung versuchte die Vielfalt der ethnisch-kulturellen Elemente zu belassen, sie zu achten, und erblickte gerade in dieser Vielfalt, wie Joseph von Eötvös sich ausdrückte, die Garantie für die Einheit der Region, die Garantie für die „Macht und Einheit Österreichs". Blieb dieses Konzept politisch auch erfolglos, was im Erwartungshorizont des 19. Jahrhunderts noch keineswegs feststand, so können wir doch annehmen, daß es

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gerade im sozial-kulturellen Bereich der Urbanen Milieus und in bestimmten sozialen Schichten durchaus präsent war, daß es das praktische Geschehen und die Überlegungen des Alltags bestimmte, und daß es auch auf der Ebene der künstlerisch-ästhetischen Reflexion, beispielsweise durch die Verschränkung vielfältiger Elemente und Codes oder in der wiederholten Reflexion der kulturellen Vielfalt und Fragmentiertheit immer wieder zum Ausdruck kam.

Kulturelles Umfeld „einer" österreichischen Geschichte Wenn als gesichert gelten kann, daß Österreich in der zentraleuropäischen Region eingebunden war und sich daher in einem dichten Netzwerk von Bezügen befand, das gesamtregionale und gesamteuropäische Verbindungen aufwies, so kann diese Erkenntnis, die sich aus der Beobachtung vielfältiger Vorgaben (Quellen) ableitet, auch für eine Geschichte Österreichs und seiner Kultur nicht ohne Belang sein. Deren historische Rekonstruktion wird daher solchen Bezügen, solchen sozial-kulturellen Koordinaten auf den vielfaltigsten Ebenen, das heißt im gesellschaftlichen, im ökonomischen, im politischen oder ganz allgemein im kulturellen Bereich zu berücksichtigen haben, zugleich aber auch beachten müssen, daß die jeweiligen Inhalte, die diesen Wechselseitigkeiten zugrunde lagen oder aus ihnen entstanden sind, einer kontinuierlichen prozeßhaften Veränderung unterworfen waren. Legt man diese hypothetische Erkenntnis einer österreichischen Geschichte zugrunde, dann wird weiterhin zu beachten sein, daß für das jeweils unterschiedliche Bewußtsein einer Zeit und das unterschiedliche Bewußtsein unterschiedlichster sozialer Schichten oder Individuen zumeist solche Quellen von besonderer Relevanz sein werden, die von jener Geschichtsschreibung vernachlässigt worden waren, die bislang vornehmlich politische Zusammenhänge zu analysieren versucht hat;

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Pluralität - Kultur - Geschichte

Quellen des alltäglichen Lebens, Dokumente, Schriftstücke, literarische Werke, die dieses Leben direkt zu dokumentieren oder Zeugnisse der Kunst, der Musik, des Denkens, die dieses Leben indirekt zu reflektieren vermögen. Solche spezifischen Quellen und Zeugnisse gilt es dann dem jeweils übergeordneten, größeren sozialen Rontext einzuordnen bzw. ihre inhaltlichen Aussagen in ein größeres Bezugsfeld zu „rekontextualisieren". So gesehen wird auch eine „banale" Runstform wie die Operette zu einer historischen Quelle, die über das kulturelle, soziale und politische Bewußtsein breiter urbaner Bevölkerungsschichten der Zeit um 1900 zuweilen mehr auszusagen vermag als zum Beispiel ein diplomatischer Aktenwechsel, der zwar die Hintergründe und Zusammenhänge mancher politischen Entscheidungen zu verdeutlichen vermag, der aber nur für eine kleine soziale Schicht, die politische Elite nämlich, von eigentlicher Relevanz war und für die Rekonstruktion des Bewußtseins anderer, breiter sozialer Schichten daher von sekundärer Bedeutung ist. Auch wenn politische Maßnahmen und Veränderungen für einzelne Individuen und soziale Gruppen einschneidende Folgen haben konnten, sollte doch danach gefragt werden, welche Inhalte das alltägliche Bewußtsein von Individuen und sozialen Schichten quantitativ und qualitativ nun wirklich bestimmt haben. Darf man zum Beispiel Rorrespondenzen oder Tagebuchaufzeichnungen von Personen des 19. Jahrhunderts, die nicht einer politischen Elite angehörten, Glauben schenken, dann wird aus solchen Quellen ersichtlich, daß sich die Menschen zeit ihres Lebens zwar auch, aber nur nebenbei für Politik interessiert haben und daß ihre alltäglichen Überlegungen, Entscheidungen und Handlungen von ganz anderen Motiven bestimmt waren. Diese Feststellung bedeutet nicht, daß ich damit leugnen wollte, daß zum Beispiel die so tiefgreifenden sozialen Transformationsprozesse des 19. Jahrhunderts, die auch die politischen Massenparteien hervorgebracht haben, das soziale und individuelle Leben, den Rampf um eine existentielle soziale Neurorientierung weitgehend unbe-

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rührt gelassen hätten. Ich will damit nur sagen, daß wohl auch das Bewußtsein der Arbeiter nicht ständig von Überlegungen ausgefüllt war, auf welche Weise mehr soziale Gerechtigkeit und mehr politische Mitsprache zu erreichen wären, sondern daß ihr Alltagsbewußtsein sehr wohl von der erfahrenen sozialen Bedrängnis, von seinen Erlebnissen im Arbeitsprozeß, vor allem aber von den täglichen Erlebnissen in ihrem sozialen Umfeld, in der Familie, im Freundeskreis, ausgefüllt waren, und daß sie, wie alle Menschen, danach trachteten, einfach gut zu leben und dieses gute Leben nicht zur Reflexion explizit politischer Überlegungen gemacht haben. Das heißt: es waren ganz andere inhaltliche Vorgaben, über die sie vornehmlich nachdachten oder die sie sogar als Selbstverständlichkeiten hinnahmen und daher seltener direkt artikulierten, die jedoch in ihrer Summe für ihr Bewußtsein ausschlaggebender waren als die von einer anderen sozialen Gruppe gefällten politischen Entscheidungen. Zwar mag die Notwendigkeit der Analyse gerade dieser Bewußtseinsinhalte im Rahmen einer historischen Rekonstruktion einleuchten, die praktische Durchführung einer solchen Analyse ist aber nicht immer so einfach wie zunächst angenommen werden könnte. Im letzten Kapitel seines Buches „Das wilde Denken" (La pensée sauvage) 7 macht der Kulturanthropologe Claude Lévi-Strauss darauf aufmerksam, daß die Geschichte, das heißt Vorgänge und Zusammenhänge der Vergangenheit, uns vor allem erst dann einsichtig zu werden beginnt, wenn wir uns mit einzelnen ihrer Inhalte auch zu identifizieren vermögen. Je weiter zum Beispiel die zeitliche Distanz und je unbekannter und daher auch emotionell unbegreifbarer die vergangenen Phänomene sind, um so unverständlicher werden sie uns und um so schwerer tun wir uns damit, sie in diese Vergangenheit einzuordnen. Es sei daher ein leichtes, die Vergangenheit mit Hilfe von Elementen zu rekonstruieren, die uns aus der eigenen Gegenwart bekannt sind. Dies hat weiterhin zur Folge, daß wir mit der Fülle jener inhaltlichen Elemente, die uns die überlieferten Quellen bieten, selektiv verfahren und

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Pluralitöt - Kultur - Geschichte

von ihnen nur jene in das Bild der Vergangenheit einfügen, die wir auch verstehen. Das Ergebnis eines solchen Verfahrens ist jedoch, so Lévi-Strauss, nicht die „wirkliche", sondern eine konstruierte Vergangenheit. Hierbei handle es sich daher um eine Geschichte, „wie die Historiker sie wissentlich machen, oder schließlich um die Geschichte der Menschen, wie sie der Philosoph interpretiert"8, es sei eine Geschichte, die auf dem erkenntnistheoretischen und wissenssoziologischen Kontext der jeweils eigenen, „bekannten" Gegenwart beruht. Geschichte derart begriffen bleibe daher in Wirklichkeit weitgehend ein Konstrukt der Gegenwart, weil sie mit bekannten Elementen der Gegenwart rekonstruiert wird. Versucht man jedoch Vergangenes aus den ihm eigenen Elementen zu rekonstruieren, genüge es schon, „daß die Geschichte sich zeitlich von uns entfernt oder daß wir uns im Denken von ihr entfernen, und schon ist sie nicht mehr interiorisierbar und verliert an Intelligibilität".9 Der Historiker, der die Vergangenheit zu analysieren versucht, sollte daher bestrebt sein, sich ihr nicht mit Hilfe von solchen interpretativen Inhalten zu nähern, die ihm aus seiner eigenen Gegenwart bekannt sind, er sollte vielmehr versuchen, der Vergangenheit so gegenüberzutreten wie der Ethnologe einer ihm unbekannten Kultur, die er zunächst als fremdes, als „wildes Denken" zu begreifen und zu analysieren genötigt ist. Tatsächlich begegnen uns bei zahlreichen kulturellen Phänomenen der eigenen Vergangenheit inhaltliche Elemente, kulturelle Codes und kulturelle Zusammenhänge, die uns weniger geläufig sind und die daher in das von der eigenen Gegenwart vorgefaßte Bild dieser Vergangenheit nicht passen. Diese Feststellung trifft in analoger Weise auch auf manche kulturellen Phänomene unserer gegenwärtigen, unmittelbaren Umgebung zu. In verschiedenen Bräuchen, Verhaltensweisen, Redewendungen oder in kulturellen Traditionen wie im Kulinarischen oder in der Musik läßt sich eine Dichte von Elementen, von Codes wahrnehmen, die uns oft fremd sind. Der Umgang mit solchen Codes kann nun entweder der sein, daß man versucht,

Kulturelles Umfeld „einer" österreichischen Geschichte

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solche Unbekannten mit Hilfe bekannter Inhalte zu deuten und zu „dekodieren", wodurch man freilich Gefahr läuft, die ursprüngliche Botschaft solcher Signale zu verfremden; oder man versucht die unbekannten Codes als unwesentlich auszugrenzen, sie zu marginalisieren. Beiden Verfahrensweisen liegt eine vorgefaßte Wertung zugrunde, die zur Folge hat, daß man sich dadurch den Weg versperrt, komplexere Konfigurationen analytisch zu entflechten oder diese in ihrem umfassenderen Beeinflussungs- und Wirkungszusammenhang zu erkennen. Wenn beispielsweise zahlreiche literarische Werke der Zeit um 1900 die ethnisch-kulturelle Pluralität der Region und eine Vielfalt von sozial-politischen Traditionen voraussetzen und thematisieren, wenn in den „Reichsgeschichten" oder in Geschichtsbüchern der Gymnasien des 19. Jahrhunderts diese regionale Vielfalt in ihrer historischen Verschränktheit beschrieben wird, glaubt man dieser Vielfalt dadurch gerecht werden zu können, daß man sie entweder in bloß bekanntere Einzelelemente zerlegt oder daß man sie in das Bild späterer nationaler Eigenentwicklungen einordnet und ihnen aufgrund späterer politischer Entwicklungen kein sonderliches Gewicht beimißt, sie bestenfalls als den Ausdruck eines anachronistischen, bereits nicht mehr vorhandenen oder bloß intendierten „Gesamtstaatsbewußtseins" gelten läßt und als für eine spätere Entwicklung unmaßgeblich ansieht. Damit nimmt man sich aber die Möglichkeit, das gesamte sozial-politische und sozial-kulturelle Umfeld einer Vergangenheit, für das auch ein komplexes kulturelles Einzelphänomen, wie zum Beispiel die Operette der Zeit um 1900, einsteht, und insgesamt das individuelle und kollektive Bewußtsein einer vergangenen Zeit einer kritischen Analyse zu unterziehen. Vermag man den Empfehlungen von Claude Lévi-Strauss auch nur einigermaßen zu folgen, dann sind diese nicht nur für die Analyse von historischen und kulturellen Zusammenhängen im allgemeinen von Relevanz; sie sind im speziellen gerade für die Analyse solcher Phänomene von Belang, die bei Einzelindividuen und ganzen sozialen

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Pluralität - Kultur - Geschichte

Schichten in dieser Region nachweisbar sind und die in ihrer Zusammensetzung, in ihrer spezifischen Konfiguration (qualitativer Aspekt) und aufgrund ihrer Häufigkeit (quantitativer Aspekt) eine „österreichische" Kultur ausmachen und die sich in ihrer prozeßhaften Abfolge zu einer „österreichischen" Geschichte zusammenfügen. Ohne auf Bekanntes oder auf bereits Erwähntes erneut einzugehen, möchte ich in diesem Zusammenhang nur einige Überlegungen anstellen, die als eine anregende Ergänzung zu traditionellen Annäherungsversuchen an „eine" österreichische Vergangenheit und Kultur verstanden werden sollen. Im übrigen bin ich mir sowohl des fragmentarischen ids auch des selektiven Charakters dieser Überlegungen durchaus bewußt.

Rechtfertigung durch Historizität Darstellungen der österreichischen Geschichte folgen im allgemeinen gewissen stereotypen Gesichtspunkten und Voraussetzungen, die dem Positivismus des 19. Jahrhunderts verpflichtet bleiben. Eine von solchen Voraussetzungen, welche die österreichische Geschichte mit anderen Staatengeschichten teilt, ist ein bestimmter Formalaspekt, nämlich jener der „politischen" Geschichte. Selbst dann, wenn zunehmend soziale und wirtschaftliche Aspekte mitberücksichtigt werden, dienen diese im Prinzip nur dem besseren Verständnis der inneren und äußeren politischen Vorgänge, von denen man annimmt, daß sie besonders in ihrer historischen Reflexion für einen Staat wie Österreich ganz wesentlich gewesen wären. Ein weiterer Formalaspekt, der sich aus dem ersten ergibt, betrifft die Umschreibung des zu untersuchenden Objekts. Ich will dies mit einigen Hinweisen zu verdeutlichen versuchen. Die meisten Darstellungen der Geschichte Österreichs konzentrieren sich auf Österreich in seinen gegenwärtigen staatspolitischen Grenzen. Diese regionale Eingrenzimg könnte insofern einleuchten, als einer historischen Rekonstruktion, die sich als politische

Rechtfertigung durch Historizität

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Geschichte versteht, nicht zuletzt das Interesse für eine aktuelle politische Situation zugrunde liegt: Denn fundierte historische Recherchen sollten ja nicht nur die Frage zu beantworten versuchen, wie dieser Staat entstanden ist, sondern mit der Kenntnis der Vergangenheit auch dazu beitragen, sich mit diesem Staat zu identifizieren. Als der Historie seit dem 18. Jahrhundert die Funktion zugesprochen wurde, Legitimationen zu schaffen, die für eine sich zunehmend differenzierende Gesellschaft von Bedeutung wurden, die Konstitution von Identitäten folglich nicht mehr wie bisher durch die Religion - als Beispiel sei auf die Legitimation der politischen Herrschaft „von Gottes Gnaden" erinnert - , sondern geschichtlich begründet wurde, vermeinte man auch politische Gemeinschaften wie Staaten mit dem Hinweis auf deren Historizität, auf ihre weit in die Vergangenheit zurückreichende Dauer rechtfertigen zu können. Das hatte folgende Überlegung zur Folge: Je weiter ein Staat sich in die Vergangenheit zurückverfolgen ließ, um so glaubhafter schien er auch in der jeweiligen Gegenwart zu sein. Die Nationalstaatskonzeptionen des 19. Jahrhunderts gingen dann noch einen Schritt weiter und versuchten nicht nur Staaten, sondern die Entstehung der jeweiligen Nation aus einer historischen Zielgerichtetheit, aus einer der Geschichte immanenten Teleologie zu erklären und den Nationalstaat als das Endziel dieser Teleologie zu betrachten. Dieser retrospektiven Teleologie lag also ganz wesentlich das ideologische Konzept von Identitätsstiftung zugrunde. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist nicht die, ob sich ein solcher historischer Nachweis tatsächlich erbringen läßt, sondern ob mit einem solchen Nachweis, unbewußt oder zuweilen sogar bewußt, nicht doch einer „invention of tradition" Vorschub geleistet wird, von der Eric Hobsbawm spricht, und zwar in einem doppelten Sinne: Erstens indem mit der teleologischen Ausrichtung ein ideologisch motiviertes und also artifizielles historisches Bild von Nation und Staat geschaffen

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Pluralität - Kultur - Geschichte

wird, in welches eine gegenwärtige politische Gemeinschaft diachron rückversetzt wird, und zweitens indem man Vergangenes mit Hilfe von bekannten Inhalten der Gegenwart zu erklären versucht. Denn nicht nur „Nation" und „Staat" sind, so die These von Benedict Anderson, weitgehend „imagined communities" 10 , sondern auch manche Inhalte, mit denen man solche Gemeinschaften der Vergangenheit zu umschreiben gewohnt ist, sind insofern erfundene Inhalte, als man diese als geschichtliche Traditionen in der Vergangenheit verankert und für eine jeweilige Gemeinschaft (Nation, Staat) als allgemeinverbindlich ansieht. Auch einem in der Geschichte weniger Bewanderten wird jedoch schon zuweilen aufgefallen sein, daß, je weiter er Gegenwärtiges von der Vergangenheit abzuleiten oder Gegenwärtiges in der Vergangenheit wiederzufmden versucht, er dies nicht tun kann, ohne die Ereigniszusammenhänge der Vergangenheit stillschweigend dem Postulat einer kohärenten Vorstellung seiner eigenen Gegenwart zu unterwerfen. Gerade dies geschieht aber durch die „historistische" Begründung von Nation und Nationalstaat. Doch je weiter sich der Betrachter von der eigenen Gegenwart entfernt, um so anachronistischer und folglich fiktiver muß eine solche nationalstaatliche Begründimg werden, denn sie bedient sich eines vorgefaßten Rasters, in den „Ereignisse" der Vergangenheit arüfiziell eingefügt werden. Zahlreiche Darstellungen der Geschichte Österreichs bedienen sich ebenfalls dieser Methode: Ihr Interesse an der Vergangenheit betrifft die Vergangenheit des gegenwärtigen Staates, der in seiner gegenwärtigen politischen Form in die Vergangenheit rückprojiziert wird. Das heißt aber, daß man einem von der jeweiligen politischen Gegenwart vorgegebenen reduktionistischen Verfahren huldigt; man glaubt die staatliche Gegenwart aus der Vergangenheit legitimieren zu können und unterwirft damit zugleich die in der Vergangenheit vorgefundenen Inhalte den Interessen der eigenen Gegenwart.

Reduktionistisches Geschichtsbild

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Reduktionistisches Geschichtsbild Man könnte das soeben Gesagte auch durch das Beispiel der österreichischen Zeitgeschichte verdeutlichen. Handelt es sich nämlich um die Aufarbeitung einer zeitlich unmittelbar zurückliegenden Epoche, etwa um die Darstellung von politischen oder gesellschaftlichen Zuständen der Ersten Republik, so ist der erwähnte reduktionistische Raster, das heißt die Eingrenzung des historischen Objekts auf seinen gegenwärtigen Zustand, methodisch durchaus vertretbar. Es wird jedoch oft deutlich, daß mit der formalen staatspolitischen Eingrenzung darüber hinaus auch qualitative Aspekte der Gegenwart für die interpretative Einordnung der jüngeren Vergangenheit maßgeblich werden, so wenn beispielsweise die parteipolitische Situation der Zweiten in die Erste Republik zurückprojiziert wird und man dadurch parteipolitische Auseinandersetzungen der Zweiten Republik zeitverschoben in die Erste überträgt, ohne zu beachten, daß politische Leitbilder der Gegenwart wie Demokratie oder Österreichbewußtsein einer prozeßhaften Entwicklung unterliegen, so daß das Selbstverständnis nach 1945 nicht einfach mit jenem in der Ersten Republik identifiziert werden kann. Da uns die Worte der politischen Sprache der dreißiger Jahre nicht fremd, sondern durchaus bekannt vorkommen, meinen wir, auch die mit den Worten bezeichneten Inhalte zu verstehen, obwohl bei einer eingehenderen Betrachtung gerade die Inhalte einen beträchtlichen Bedeutungswandel durchgemacht haben. Das methodische Dilemma bei dieser Vorgehensweise besteht unter anderem darin, daß man meint, die Vergangenheit deshalb zu verstehen, weil ihr Instrumentarium, etwa die politische Sprache, mit der damals argumentiert wurde, uns aus unserer eigenen Gegenwart bekannt zu sein scheint. Greift die historische Darstellung zeitlich vor das Jahr 1918 zurück, so erscheint mir sowohl diese als auch die vom gegenwärtigen politischen Territorium Österrreichs ausgehende reduktionistische Methode kaum mehr ver-

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tretbar. Darstellungen, die dieser Methode folgen, merkt man ohne weiteres an, wie schwer sie sich tun, ihr - oft nicht direkt ausgesprochenes - reduktionistisches Prinzip konsequent und plausibel durchzuhalten. Wie läßt sich unter einem solchen Aspekt Österreich im 19., im 16. oder im 13. Jahrhundert begründen und darstellen? Zuweilen nur dadurch, daß man seine Methode dort, wo es notwendig erscheint, einfach ein wenig korrigiert und ihr damit untreu wird. So wird man zu einer Ausweitung der Perspektive gezwungen. Solche „Grenzüberschreitungen" werden jedoch nur dann akzeptiert, wenn sie zur Erklärung eines kohärenten Entwicklungszusammenhangs oder Prozesses für die Entstehung des Staates in der Gegenwart unerläßlich sind. Im übrigen zieht man sich auf die Darstellung jener Subterritorien zurück, welche die heutigen Bundesländer (manchmal auch in ihrer erweiterten Variante der ehemaligen Erblande) darstellen. Komplexere, über die heutigen staatspolitischen Grenzen hinausreichende, vernetzte geschichtliche Abläufe, die von den heutigen politischen Grenzen nicht beeinflußt waren, werden aus ihrem Zusammenhang gerissen und wenig verständlich oder kaum einsichtig dargeboten. Diese Variante einer Geschichte Österreichs bedient sich im Prinzip jener Methode, die auch die Nationalgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts angewendet hatte. Diese hatte ja das Idealbild eines Nationalstaates, der oft noch nicht verwirklicht, sondern eher eine politische Zielvorstellung war, anachronistisch in die Vergangenheit zurückprojiziert. Der deutsch-französische Historikerstreit des vergangenen Jahrhunderts, ob Karl der Große ein „Deutscher" oder ob „Charlemagne" ein Franzose war, mutet uns heute skurril an; er findet aber auch heute, im Rahmen der österreichischen Geschichte seine Fortsetzung, etwa bei dem immer wiederkehrenden Versuch einer „nationalen" Zuordnung von Ludwig van Beethoven als „Deutscher" oder als „Österreicher", oder von Franz Liszt, Franz Lehár oder Emmerich Kálmán als „Österreicher" oder als „Ungar". Da es sich bei dem Österreich der Gegenwart um eine

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Föderation von einzelnen Bundesländern handelt, erhält eine vom Gegenwartsstandpunkt aus betriebene Geschichtsdarstellung oft einen zunehmend regionalen, „alpenländischen" und folglich provinziellen Anstrich, und zwar unter einem doppelten Gesichtspunkt. Erstens rekonstruiert man unter dem Etikett „österreichische Geschichte" zuweilen nur die Bundesländer. Es scheint dies auf den ersten Blick zwar eine vernünftige Methode zu sein, erspart man sich doch so manche wesentlichen Fragen wie jene nach der Abgrenzung einer österreichischen Geschichte, und weicht zugleich auch all jenen Problemen aus, die sich daraus ergeben. Aber auch bei einer solchen Verfahrensweise wird man unversehens mit der Schwierigkeit konfrontiert, daß die heutige territoriale Größe mancher Bundesländer von jener in der Vergangenheit beträchtlich abweicht, daß die Grenzen der heutigen Bundesländer nicht mit jenen der ehemaligen Erblande identisch sein müssen. Zweitens vernachlässigt man dabei die wichtige Tatsache, daß die heutigen „Außengrenzen" der Bundesländer in der Vergangenheit zumeist nicht existierten und daß folglich sowohl die ökonomische als auch die sozial-intellektuelle Vernetzung mit jenen angrenzenden Regionen, die heute zum Ausland zählen, eine andere war als in der Gegenwart und daß auch die soziale und sprachliche Zusammensetzung dieser Subregionen mit jenen der heutigen Bundesländer nicht so ohne weiteres vergleichbar ist. Die Widersprüchlichkeiten, die sich aus einer solchen Sichtweise einer österreichischen Geschichte ergeben, belegen manche historischen Großausstellungen (Landesausstellungen) in der Gegenwart, welche die regionalen Phänomene noch enger, nämlich fast ausschließlich im Rahmen der Grenzen des jeweiligen Bundeslandes darzustellen versuchen und dadurch weder politische oder ökonomische noch soziale oder kulturelle Vernetzungen, Abhängigkeiten oder Beeinflussungen, die über die Grenzen des jeweiligen Bundeslandes oder des gegenwärtigen Österreich hinausreichten, schlüssig darzustellen vermögen. Liegt also einer solchen Sichtweise die Reduktion des

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historischen Blickes auf ein Subterritorium des „historischen" Österreich zugrunde, wird auf der anderen Seite versucht, neu hinzugekommene Gebiete, wie zum Beispiel das Burgenland, mit größter Selbstverständlichkeit in die Geschichte Österreichs zu integrieren, ohne dem historischen Gesichtspunkt Rechnung zu tragen, daß das Burgenland über neunhundert Jahre dem Königreich Ungarn angehörte und deshalb im Vergleich zu den anderen Bundesländern zumindest in der Vergangenheit zum Teil völlig unterschiedliche soziale und politische Strukturen aufzuweisen hatte. Beide Vorgangsweisen depravieren ihre methodische und inhaltliche Inkonsequenz. Sie verdanken sich im Grunde genommen einem nationalstaatlichen bzw. territorialen Auswahlkriterium und folgen somit einer Vorgabe der nationalen Historiographie des 19. Jahrhunderts. Die Enge oder Weite des jeweiligen historischen Blickfelds folgt den Vorgaben der politischen Verhältnisse der Gegenwart, und die Beurteilung der Vergangenheit erfolgt unter dem Aspekt von sozial-politischen Erfahrungen in der Gegenwart. Es ist dies nichts anderes als eine Geschichte, die, wie Claude Lévi-Strauss meinte, „die Historiker wissentlich machen" 11 , und sie sagt daher vermutlich mehr über die Verfassung und über die Bewußtseinslage jener aus, die sie schaffen, als über ihr Objekt, über das Bewußtsein von Individuen, sozialen Schichten oder sozio-kulturellen Phänomenen vergangener Epochen.

Totalistisches Geschichtsbild Das Gegenteil von dem beschriebenen reduktionistischen ist ein totalistisches Bild der österreichischen Geschichte. Ich meine damit den Versuch, das heutige Österreich mit der Habsburgermonarchie und seine Geschichte mit jener der Monarchie zu identifizieren. Um die falsche Optik dieser Identifikation zu begreifen, könnte man erneut auf die Hobsbawmsche „inventions of tradition" verweisen und auf einen Parallelfall aufmerksam

Totalistisches Geschichtsbild

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machen. Eric Hobsbawm meint, daß eine der gelungensten Erfindungen („invention of tradition") des Wilhelminischen Deutschland die Identifikation des neuen Kaiserreichs mit dem alten Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gewesen wäre: „to establish the continuity between the Second and First German Empires, or more generally, to establish the new Empire as the realization of the secular national aspirations of German people".12 Der Versuch, die österreichische Geschichte mit jener der Monarchie zu identifizieren, ist diesem Vorgang vergleichbar. Wie bei der Rekonstruktion der deutschen Geschichte geht auch dieser Versuch von Voraussetzungen aus, die schwer zu rechtfertigen sind. Es ist bekannt, daß das, was man unter Österreich verstand, vielfachen Wandlungen unterworfen war, daß der Begriff Österreichs, der im Hochmittelalter zunächst ein kleines Territorium umschrieb, später zur Bezeichnung einer Dynastie wurde und folglich all jene Territorien, die von dieser Dynastie beherrscht wurden, in einem übertragenen Sinne auch Österreich darstellten.15 Das 1804 proklamierte Kaisertum Österreich umfaßte zwar alle der politischen Herrschaft der Habsburger unterstellten Königreiche und Länder, beließ diesen aber autonome politische Rechte. Einer Vereinheitlichung standen im 19. Jahrhundert nicht nur das nationale, das heißt das sprachliche und ethnische und zunehmend national-politische Selbstverständnis der Länder bzw. gewisser Subregionen entgegen, sondern vor allem die Tatsache, daß die Übereinstimmimg Österreichs mit der Gesamtheit der Monarchie auch insofern nicht funktionierte, als dieser eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Verfassung fehlte, welche die Voraussetzung einer „österreichischen" civil society gewesen wäre. Die zwei Verfassungen von 1867 bezogen sich dann nicht mehr auf die Gesamtheit, sondern auf zwei autonome Reichshälften, und Zisleithanien oder „die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder" war weder unter einem territorial-politischen noch unter einem sozial-kulturellen Gesichtspunkt ein „moderner" Einheitsstaat.

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Nach ihrem Zerfall entstanden auf dem Territorium der ehemaligen Monarchie Nationalstaaten, und „DeutschÖsterreich" war einer dieser neuen Staaten. Gewiß hatten diese neuen Staaten ihre historischen Traditionen in der Monarchie, es wäre aber anachronistisch, diese Traditionen mit den Inhalten der Gesamtheit der Monarchie zu identifizieren. Freilich stellt sich hier die mit der These von Hobsbawm diskutierte Frage nach der Unterscheidung von „erfundenen" und „wahren" Traditionen besonders deutlich. Denn einerseits versuchten politische Repräsentanten des neuen Österreich jegliche Verbindung mit dem alten zu leugnen, nicht zuletzt im Interesse der Stärkimg eines republikanischen Bewußtseins gegenüber einer monarchischen Staatsform. Das Bekenntnis zu Deutschland war diesen akzeptabler als ein Bekenntnis zu Loyalitäten dem „alten" Österreich, der Monarchie gegenüber. Andererseits widersetzte sich das allgemeine Bewußtsein, in welchem Kontinuitäten des neuen mit dem alten Österreich präsent waren, diesem politischen Oktroy und identifizierte seinerseits in einer verkürzten Form Österreich mit der Monarchie. Unter dem Aspekt der politischen Entwicklung ist eine solche verkürzte Identifikation in der Tat fragwürdig. Doch die einfache Leugnung jeglicher historischer Verbindungen zwischen dem neuen und dem „alten" Österreich scheint ebenso verfehlt, sie unterstützte dann, wie mir scheint, im Verlauf der zwanziger und dreißiger Jahre jene kollektive Neurose, die zum März 1938 führte, wie die simple Identifikation, die das Österreich nach 1918 zunehmend nostalgisch, aus einer rückwärtsgewandten Utopie der Monarchie zu beurteilen wußte, zumindest falsches Bewußtsein konstituierte. Wir haben bisher nur zwei Modelle einer österreichischen Geschichte erwähnt. Das erste Modell ist dadurch gekennzeichnet, daß es Österreich in seinen gegenwärtigen politischen Grenzen anachronistisch in die Vergangenheit zurückprojiziert, das zweite versucht Österreich mit seiner „großen Vergangenheit", also mit der Monarchie, zu identifizieren. Beide Modelle haben, wie mir

Totalistisches Geschichtsbild

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scheint, eines gemeinsam: Sie thematisieren Österreich vornehmlich unter dem Aspekt seiner politischen Geschichte und analysieren diese mit Hilfe eines methodischen Rüstzeugs, das im Grunde genommen der Nationalgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts entlehnt ist. Und beide Modelle setzen noch etwas Weiteres voraus: Sie argumentieren unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß die Elemente, aus denen sich diese Vergangenheit zusammensetzt, sich aus dem Erkenntniskontext der Gegenwart zu erschließen vermögen. Ich will nicht bezweifeln, daß dies auch ein möglicher Zugang zur Geschichte sein kann, es ist aber nur einer von verschiedenen möglichen Zugängen, und es fragt sich, ob er, wie zuweilen vorgegeben wird, der einzig legitime sei. Denn wird man auf diese Weise den vielfaltigen, sich kontinuierlich verändernden Gegebenheiten einer Lebenswelt, für die politisches Handeln und politische Prozesse zwar auch, aber keineswegs ausschließlich bestimmend gewesen sind, in der Tat gerecht? Wie stellt sich die Geschichte einer Region und ihrer Bewohner, eines „Volkes", die Geschichte von gesellschaftlichen Gruppen und Einzelpersonen dar, wenn man all jenen Kriterien gerecht werden will, die, wie zahlreichen Zeugnissen zu entnehmen ist, zu den unterschiedlichsten Bewußtseinsebenen von Individuen und sozialen Schichten ganz wesentlich mit beigetragen haben? Wie berücksichtigt man dabei die oft kaum beachtete Tatsache, daß ein „Volk", eine „Nation" sich in einer andauernden, prozeßhaften Entwicklung befindet? Eine der wichtigen Problemstellungen der Mittelalterforschung besteht heute darin, diesen Prozessen von Ethnogenesen nachzugehen. 14 Es wäre auch für die Darstellung der Neuzeit und der Zeitgeschichte wichtig, diesen Aspekt mehr zu berücksichtigen, zumal mit der wachsenden Mobilität von Personen und Gruppen vor allem seit dem 19. Jahrhundert das Postulat bzw. die historische Begründung von Nation im Grunde genommen noch problematischer geworden ist als in früheren Jahrhunderten. Vielleicht könnte man die Antwort auf solche Fragen mit den folgenden Hinweisen verdeutli-

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chen, die nicht den Anspruch erheben wollen, daß damit die Geschichte Österreichs neu definiert werden soll, die aber als eine kritische Revision einer bislang überwiegend politisch orientierten Geschichtsschreibung verstanden werden und daher eine Erweiterung des historischen Horizonts darstellen könnten. Ich möchte hierbei zugleich an das anschließen, was ich über die zentraleuropäische Region als einen Ort eines komplexen sozialkulturellen Systems gesagt habe und die Geschichte Österreichs aus dieser kulturellen Verflechtung zu erklären versuchen.

Kultur als komplexes System Wenn Kultur nicht allein als „mentalistische" Größe, das heißt als ideenbildendes und gedankliches System, sondern als ein komplexes System verstanden wird, das die Gesamtheit der Lebensweise in sich vereinigt, die „Artefakte, Institutionen, Ideologien und die gesamte Breite gebräuchlicher Verhaltensweisen, mit denen eine Gesellschaft für die Ausbeutung ihrer besonderen Umwelt ausgestattet ist"13, dann schließt die historische Betrachtung von Kultur das traditionelle politische Geschehen zwar nicht aus, fügt es aber in einen umfassenderen Kontext der jeweiligen vergangenen Lebenswelt. Als einen möglichen Zugang zu einer Analyse von solchen komplexen Systemen empfiehlt der Kulturanthropologe Clifford Geertz die „dichte Beschreibung"16, das heißt die gleichzeitige Identifizierung von unterschiedlichen ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Phänomenen. Das bedeutet, daß diese Beschreibung auch jenen Erscheinungen gleichwertige Aufmerksamkeit schenkt, die sich in ein traditionelles Bild, das wir uns von der Vergangenheit machen, nicht leicht einfügen lassen und daher oft als négligeable Elemente ausgegrenzt wurden. Doch gerade diese gilt es zu beachten, um eine entfernte Vergangenheit in ihrer Fremdheit analytisch zu erfassen. Diese Empfehlung von Geertz, die aus der Ethnographie

Kultur als komplexes System

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gewonnen wurde, hat sowohl für die Geschichtsschreibung im allgemeinen als auch für eine österreichische Geschichte im besonderen zur Folge, daß neben den direkten Aussagen, Quellen und Zeugnissen, welche das politische Denken und Handeln dokumentieren, auch jene Quellen, philosophische, literarische und künstlerische Zeugnisse und Überreste von Belang sind, die bisher wohl auch, aber nur unter gewissen formalen Gesichtspunkten und unter bestimmten begrenzten Erkenntnisinteressen herangezogen wurden. Konkret heißt das, daß für die Rekonstruktion von Mentalitäten einer Epoche und für die Rekonstruktion von Mentalitäten jener sozialen Schichten, die eine vergangene Zeit repräsentieren, die Analyse von Stilrichtungen, ein baugeschichtliches Denkmal, ein literarisches Produkt, verschiedene Formen der alltäglichen künstlerischen Unterhaltung - unter anderem auch die Operette - und die Akzeptanz, die diesen in der Öffentlichkeit zuteil wurde, von ebenso gewichtiger Relevanz sind wie Zeugnisse des politischen Handelns. Nimmt man so die Vielfalt von Quellen ernst, dann läßt sich daraus aufgrund des Charakters solcher Quellen, aufgrund der Tatsache, daß in ihnen eine Vielfalt von Codes und Elementen nachgewiesen werden können, die sich weder aus dem Wissenskontext der Gegenwart noch aus einer staatspolitischen Begrenzung der Gegenwart erschließen lassen, eine weitere wichtige Schlußfolgerung ziehen. Will man sich nicht der Gefahr aussetzen, die Vergangenheit aufgrund vorgefaßter Stereotypen zu verfremden, dann sollte man versuchen, auch die Geschichte Österreichs weder vom politischen Ist-Zustand der eigenen Gegenwart aus zu beurteilen (reduktionistische Betrachtung) noch ausschließlich in ein politisches Korsett einer bestimmten vergangenen Epoche zu zwängen (totalistische Betrachtung). Kultur in dem oben beschriebenen umfassenden Sinne wird in der Gegenwart zwar auch von ökonomischen und politischen Bedingungen bestimmt, aber keineswegs ausschließlich. Die Vielfalt von Elementen, welche die Kultur ausmachen, haben

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vor politischen Grenzziehungen nur wenig Respekt, und auch ihre spezifische Konfiguration, die das konstituiert, was man als eine österreichische Kultur in einem umfassenden Sinne bezeichnen kann, weist Abhängigkeiten und Vernetzungen auf, die nicht nur einen politisch abgegrenzten Raum, sondern auch das, was man als österreichisch im heutigen politischen Sinne versteht, weit transzendieren. Die Koordinaten, innerhalb derer sich in der Vergangenheit ein Wechselspiel kultureller Codes und Elemente abgespielt hat, haben sich zwar immer wieder verändert und waren sicher auch von bestimmten politischen Konditionen, beispielsweise der staatlichen Kohärenz der Habsburgermonarchie, abhängig. Ihre Codes und Elemente verblieben aber auch später in den jeweiligen „Orten des kulturellen Gedächtnisses". Eine sorgfältige Analyse wird ohne weiteres aufzeigen können, daß viele von ihnen als sekundäre „Fremdelemente" in einer österreichischen Konfiguration vorkommen, sich in ihrer ursprünglichen Form jedoch als Elemente ausweisen, die eventuell in einer tschechischen, ungarischen oder italienischen Konfiguration von primärer Bedeutung sind. Ein österreichisches Barock, nicht nur im kunsthistorischen, sondern in einem umfassenderen, mentalitätshistorischen Sinne, ist in Böhmen zum Teil besser nachweisbar als in den ehemaligen Erblanden, die in veränderter Form das heutige Österreich ausmachen. Akkulturationsprozesse sind unter anderem in Traditionen des Alltags deutlicher wahrnehmbar als in Produkten der geistigen oder der politischen Kultur. Niemand wird leugnen, daß das Wiener Schnitzel ein für die urbane Küche Österreichs typisches kulturelles Merkmal ist, als Costoletta alla Milanese ist es jedoch in seiner ursprünglich italienischen Konnotation ein originales Merkmal der oberitalienischen Küche. Worin erweist sich die musikalische Formensprache der Wiener Operette als typisch österreichisch? Sicher vor allem darin, daß in ihr musikalische und literarisch-thematische Zitate (Elemente) nachweisbar sind, die einer pluralistischen regionalen Herkunft zu verdanken sind.

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Die Rekonstruktion der Vergangenheit und ihrer Kultur wird daher nicht nur eine Interpretation, eine gültige „Erzählung" zulassen, sondern je nach dem Formalaspekt, von dem man ausgeht, eine Vielfalt von Rekonstruktionsmöglichkeiten zu berücksichtigen haben. Und sie wird neben diesem Formalaspekt vor allem auf die Vielfalt, auf die Heterogenität ihres Objekts bzw. ihrer Objekte bedacht sein müssen. Sie wird daher offen, transdisziplinär agieren und auch das Widersprüchliche, das Kontingente, das Zufällige zu berücksichtigen haben und all diese von einer linearen historischen Erzählung ausgeklammerten komplexen Bereiche thematisieren. Die Analyse einer derart komplexen Vergangenheit ist daher nicht die Analyse bloß einer Geschichte, wie sie war, sondern von einer Vielzahl von Geschichten, wie sie waren oder gewesen sein können. Damit widerspricht diese Sicht von Vergangenheit, welche die Vielfalt von Elementen zu berücksichtigen hat, nicht nur dem Konzept eines politisch oder national eingeengten Geschichtsverlaufs, sondern ebenso dem Mythos von einer „reinen" Nationalkultur. Denn jede als „Nationalkultur" ausgegebene Kultur ist in Wirklichkeit eine komplexe, in einem kontinuierlichen Wandel begriffene kulturelle Konfiguration mit zahlreichen Unscharfen und „Fremdelementen". Wenn in den Kulturen der zentraleuropäischen Region, aufgrund einer engen Dichte von Codes und Elementen, besonders intensive Wechselwirkungen, Beeinflussungen, Akkulturatiönsprozesse und folglich permanente Prozesse von Ab- und Ausgrenzungen stattgefunden haben, gilt das soeben Gesagte auch für die Geschichten dieser Region. Nicht nur für eine österreichische, sondern ebenso für eine tschechische, eine slowakische oder eine ungarische Kultur und ihre Geschichte.

Vergangenheit als „Text" Unbeschadet der großen Verdienste bisheriger Betrachtungsweisen und Thematisierungen der österreichischen

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Pluralitftt - Kultur - Geschichte

Geschichte, möchte ich meine Überlegungen, die keine praktischen Rezepte anzubieten haben oder anbieten wollen, noch mit einem weiteren Aspekt illustrieren. Jede Vergangenheit, insbesondere aber die Vergangenheit einer Region, in welcher deutlicher als in manchen anderen europäischen Regionen Pluralitäten, Vielfachbezüge und Ambivalenzen auszumachen sind, bietet sich dar wie ein komplexer Text, der erst gelesen und interpretiert werden will. Um einen literarischen Text zu verstehen, muß man zunächst lesen, das heißt die Buchstaben- und Wortsymbole erkennen können und die Codes, in welchen ein geschriebener Inhalt verschlüsselt vorliegt, zu dekodieren wissen. Man muß weiters auch die Sprache verstehen, in der ein Text abgefaßt ist. Doch selbst wenn man diese zwei Voraussetzungen erfüllt und einen Text zu lesen versteht, ist er in Wirklichkeit noch nicht erschlossen, sind die Inhalte, die er zu vermitteln beabsichtigt, nicht in ihrer Gesamtheit gegenwärtig, sind Redewendungen, Phrasen, die vom Autor nur indirekt oder nur in einem bestimmten Sinnzusammenhang in den Text gelangt sind und deren Mehrdeutigkeit dem Verfasser vielleicht gar nicht bewußt gewesen sein mag, noch nicht voll ausgedeutet. Insofern sind literarische Texte niemals eindeutig, sie sind komplex und mehrdeutig. Das wird jeder erfahren haben, der eine Novelle oder ein Buch von mehreren Personen lesen ließ oder der einen Text selber mehrmals gelesen hat: In beiden Fällen wird die Mehrdeutigkeit eines Textes offenkundig. In einem Text sind nicht nur verschiedene Aussagen enthalten, auch die Wörter, Sätze, Abschnitte oder Kapitel sind zumeist ambivalent. Es finden sich Zitate, Verschränkungen, Intertextualisierungen, auf die man vielleicht erst aufgrund eingehender Vergleiche und aufgrund der Berücksichtigung vielfacher Faktoren aufmerksam wird. Obwohl ein literarischer Text in der Regel in einer konkreten Sprache abgefaßt ist, ist doch jeder Text auch vielsprachig in einem übertragenen Sinne und insofern mit einer Fülle von Variablen befrachtet. Ein Text erschließt sich erst mit Hilfe der Kenntnis seines sozialen, ökonomischen, kulturellen und

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politischen Umfelds, das heißt aus seinem wissenssoziologischen Kontext und nicht aus der Kenntnis der Gegenwart des Lesers. Überträgt man dieses Bild vom Text auf die Kultur, dann gilt das soeben Gesagte auch für diese und erst recht für ein kulturelles Netzwerk, für ein komplexes kulturelles System, das in seiner Vielfalt und in seinen Deutungsmöglichkeiten mit einem Text verglichen oder als Text interpretiert werden kann. Versteht man unter Kultur die Summe aller Lebensbereiche und Aktivitäten, dann liest sich ihre Vergangenheit wie ein Text, der sich aus einer Vielzahl von Komponenten zusammensetzt, der niemals eindeutig, sondern äußerst ambivalent ist und dessen Entzifferung und dessen Verständnis voraussetzt, daß man nicht nur einzelne seiner Worte oder Sätze entziffert und versteht, sondern den Text als Ganzes, das heißt die Vielzahl von Komponenten als „Lesender" zu einem intelligiblen Text zusammenfügt. Seine Intelligibilität und Interpretation bleibt jedoch auch dann noch vieldeutig, weil die Worte (Komponenten), aus denen sich dieser Text zusammensetzt, und die vielfaltigen Faktoren, die diesen Wörtern Sinn geben, vieldeutig bleiben und in unterschiedlichen Verknüpfungen vorkommen können. Die Vertreter der neueren Geschichtsschreibung setzen heute eine Diskussion über einen kritischen Zugang zur Geschichte fort, die vor etlichen Jahren der Franzose Michel Foucault mit seiner Theorie der Vergangenheit als einem „Archiv" eingeleitet hat. 17 Foucault verglich den Umgang mit diesem „Archiv" mit der Tätigkeit eines Archäologen, der eine „Archäologie des Wissens" anzuwenden hätte, um das große Reservoir von historischen Fakten, ökonomischen, sozialen, politischen, kulturellen Phänomenen, die jeder, der Vergangenheit thematisiert, zu berücksichtigen hat. Wie mit einer solchen Fülle von „Funden", die den Text der Vergangenheit ausmachen, umzugehen sei, hängt vom jeweiligen Gesichtspunkt (Diskursanalyse) ab, den man zu wählen genötigt ist, um diese Überfülle von Angeboten auch zu verstehen, intelligibel zu machen. Das heißt, man gewinnt Einsicht in den

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Text nicht dadurch, daß man einfach die Vielfalt möglichst aller Elemente, aus denen sich dieser Text zusammenfügt, vor Augen hat, sondern dadurch, daß man den Text mit Hilfe jeweils verschiedener Durchgänge (Diskurse) wiederholt zu lesen versucht. Daher wird jener, der den Text zu analysieren beginnt, den Text nie in seiner Eindeutigkeit als die große Erzählung über eine so oder so abgelaufene Vergangenheit deuten können, wie noch der Historismus des 19. Jahrhunderts gemeint hat. Man glaubte damals die Vergangenheit als politisches Phänomen begreifen und gültig ausdeuten zu können und setzte dafür „ideologische" Deutungsmuster voraus, die aus der eigenen Gegenwart gewonnen wurden, wie zum Beispiel Staat, Nation oder Gesellschaft. Die Annahme, daß sich Geschichte so deuten lasse, beruhte tatsächlich auf einem Mißverständnis. Vielleicht läßt sich dies mit einem Vergleich verdeutlichen: Es fällt uns schon bei selbst Erlebtem schwer, eindeutig zu behaupten, wie sich etwas zugetragen habe, und wir wissen nur zu gut, wie oft wir aus diesem Grund der Versuchung erliegen, das Erlebte aus einem umfassenden Lebensverständnis zu deuten, ohne daß wir dadurch den wirklichen Ablauf des Erlebten befriedigend zu erklären vermögen. Daher versuchen wir das Erlebte immer wieder neu zu deuten, indem wir verschiedene Aspekte und Umstände neu hinzunehmen, was aber zur Folge hat, daß wir uns nie endgültig festzulegen vermögen. Doch gerade diese Offenheit, dieser Perspektivenwechsel scheint uns insofern zielführender zu sein, als wir uns so zumindest nicht dem Vorwurf aussetzen müssen, nicht alle möglichen Umstände genutzt zu haben, die das Erlebte erklären könnten. Dies gilt erst recht für die Komplexität von Vergangenem, dessen unmittelbare Zeugen wir nicht sein konnten. Wie ein literarischer Text immer neue Interpretationen zuläßt, die nicht nur in der vieldeutigen Verschränktheit des Textes gelegen sein mögen, sondern zusätzlich von der Kenntnis jener Umstände abhängig sind, die das sozialkulturelle oder ökonomisch-politische Umfeld dieses Textes bestimmen, ebenso stellt die Vergangenheit als ein

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komplexer Text nicht eine feste, eindeutige Größe dar. Auch das Umfeld eines solchen Textes gilt es daher als einen diesem zugehörigen Teil in den Text mit einzubeziehen, um ihm jeweils eine seiner möglichen Aussagen zu entringen. Um die Vergangenheit zu verstehen, genügt es also nicht, diese als Text bloß linear lesen zu können; es bedarf darüber hinaus noch mehr. Über die Kenntnis des Sinnzusammenhangs von einzelnen Wörtern, Sätzen oder über die Beachtung von Texteinschüben hinaus bedarf es auch der sorgfältigen Berücksichtigung all jener vielfaltigen Faktoren, die in diesen Text Eingang gefunden haben und die uns seine mögliche Deutung wahrscheinlich erscheinen lassen, nämlich die Berücksichtigimg all jener Phänomene, welche die Gesamtheit von Kultur ausmachen. Solche Überlegungen über die Vergangenheit als Text liegen auch jenen Diskussionen zugrunde, die heute über die Perspektiven und über die Methoden von Geschichtsschreibung geführt werden. All diese Überlegungen haben eines gemeinsam: Insofern, als die Rekonstruktion des Vergangenen sich sämtlichen kulturellen Faktoren zu stellen habe, bleibe sie stets unscharf und mehrdeutig. Die historische Rekonstruktion sei daher, wie der Amerikaner Hayden White meint 18 , einem literarischen Text vergleichbar, der aufgrund zahlreicher Unsicherheiten metaphorisch argumentiere und daher immer fiktionalen Charakter aufweise. Für White ist nicht nur die Vorlage ein Text, das, was Foucault ein „Archiv" nennt, auch die Rekonstruktion dieser Texvorlage durch den Historiker gleiche einem Text, der eher einer poetischen Darstellung ähnlicher wäre als endgültigen, normativen Aussagen. Entsprechend argumentieren die Anhänger des „New Historicism".19 Bei ihnen handelt es sich vor allem um die Frage, wie ein literarischer Text in und aus den kollektiven kulturellen Praktiken einer vergangenen Zeit zu deuten wäre. So betrachtet Stephen Greenblatt die Vergangenheit selbst auch als einen aus der Vielfalt kultureller Phänomene zusammengesetzten „Text" und moniert für die literarhistorische Deutung einer konkreten

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literarischen Vorgabe, zum Beispiel für die Deutung eines Shakespearschen Stückes, die Berücksichtigung all jener kulturellen Vorgaben und Interaktionen, die den literarischen Text konstituieren. Literaturwissenschaft wird für ihn so zu einer „Poetik der Kultur".20 Ebenso wie die Geschichte im allgemeinen könnte auch die österreichische Geschichte in der Vielfalt ihrer kulturellen Phänomene, welche die Heterogenität, die Ambivalenz und die Widersprüchlichkeit einer ganz bestimmten europäischen Region widerspiegeln, als ein Text aufgefaßt werden, den es zu dekodieren, zu entziffern und zu verstehen gilt. Die Mehrdeutigkeit dieses Textes läßt sich ganz offenkundig auf Mehrfachkodierungen zurückführen, die auf zahlreichen sozial-politischen und ethnisch-kulturellen Beeinflussungen, Wechselbezügen, Akkulturationen und Abgrenzungen beruhen, die „Vielsprachigkeit" dieses Textes läßt daher seine eindeutige Auslegung vielleicht mehr in der Schwebe als die Auslegung vergleichbarer Texte. Die Mehrfachkodierung und Ambivalenz bezeugt unter anderem ganz konkret jene zu beobachtende Mehrdeutigkeit, welche die Aneignung eines kohärenten individuellen und sozialen Bewußtseins gerade hier stets so problematisch und schwierig gemacht hat. Die sich stets verändernde Legitimierung von individuellen und kollektiven Identitäten und die Tatsache, daß Personen und ganze soziale Schichten stets mehrere Identitäten aufwiesen, waren hier immer von jener Vielfalt mitverursacht, die auf eine vielsprachige kulturelle Lebenswelt sowohl im übertragenen als auch im konkreten Sinne zurückgeführt werden kann. Die simple Vorstellung der nationalen Sprachideologie, wonach Identität mit Hilfe der Festlegung von Personen und sozialen Gruppen auf bestimmte konkrete Sprachen gewonnen werden könnte, war hier stets problematisch und mußte zu zahlreichen Mißverständnissen und Fehlinterpretationen führen. Daher trug in der mitteleuropäischen Region die Forcierung moderner Literatursprachen nicht nur zur Bildungsvermittlung bei, was die primäre Zielsetzung der Aufklärung gewesen war, sondern

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hatte aufgrund der Separierung, das heißt der Politisierung von Sprache, unvermittelt zahlreiche individuelle und kollektive Krisensymptome zur Folge. Ist ein „Österreicher" alleine deshalb, weil er deutsch spricht, ein Deutscher oder muß nicht auch hierbei stets auf den größeren, umfassenderen kulturellen Kontext geachtet werden, das heißt auf ökonomische, soziale, politische, ästhetisch-intellektuelle Faktoren, welche die Vielfalt, die Plurizentrik einer konkreten Sprache bedingen? Ist ein Bewohner Kärntens, der slowenisch spricht, ein Slowene oder ein Österreicher? Ist in der Zeit um 1900 ein Jude, der aus Galizien nach Wien einwandert, Jude aufgrund seiner ethnischen oder sprachlich-religiösen Herkunft, oder ist er Pole, weil er auch polnisch spricht, Deutscher, weil er fortan sich in dieser Sprache ausdrückt und sich einem deutschen Bildungsideal nähert, ist er Österreicher oder Wiener? Ich meine, daß der historische Nachweis von Mehrfachidentitäten und von Ambivalenzen, aber auch die Krisenhaftigkeit dieser multipolaren Ausrichtungen ein wichtiges Kriterium dessen darstellt, was als „österreichisch" bezeichnet werden kann und was daher in einem übertragenen Sinne auch eine österreichische Geschichte kennzeichnet. Die Aporie jeder Einengung der historischen Betrachtung mit Hilfe der nationalen Ideologie läßt sich gerade hier ganz deutlich aufzeigen. Aufgrund der Konfliktanfälligkeit einer solchen ambivalenten Situation, aufgrund der Vielfachbezüge und Vielfachkodierungen einer österreichischen Kultur und aufgrund der pluralistischen Bedingungen einer österreichischen Geschichte ist auch der „Text", den es zu entziffern und zu deuten gilt, ein vieldeutiger und ein komplexer. Er läßt sich nicht, wie eine eindimensionale politische Geschichtsschreibung meint, einfach linear lesen, sondern er impliziert die Notwendigkeit, die Vieldeutigkeit seines kulturellen Umfelds stets mitzubedenken. Die Ironie, die Travestie, die Persiflage als literarische Gattung und als Lebenshaltung sind der eine mögliche Reflex auf diese Situation, der immer wiederkehrende Versuch, sich an vermeintlich sicheren, eindeutigen Vorbildern

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wie Nationalsprache, Volkstum oder autoritären Formen der Politik zu orientieren, sind eine andere Variante dieses als Austromasochismus bezeichneten Selbstzweifels. Dieser ist somit gewiß auch durch jene Heterogenität, durch jene Ambivalenz verursacht, die in der Komplexität des Textes „Österreich" gelegen sein mag.

Theorie einer österreichischen Geschichte Die Thematisierung einer österreichischen Geschichte unter dem Aspekt eines komplexen kulturellen „Textes" weist somit über die vorgegebenen politischen Grenzen hinaus, und ihr Gegenstand wird, je nach der konkreten Problemstellung, das eine Mal enger, das andere Mal weiter zu fassen sein. Dies gilt nicht nur für die Erfassung spezifischer kultureller Phänomene der Vergangenheit, sondern ebenso für die Analyse von Kultur in einem umfassenden Sinne, also auch für die Herausbildung von sozialen Schichten, etwa den Adel, das Bürgertum, die Beamtenschaft, die Arbeiterschaft oder für Traditionen einer von der Gegenreformation und vom Josephinismus geprägten politischen Kultur, die aufgrund einer „longue durée" bis in die jüngste Vergangenheit mentalitätsprägend geblieben sind und die daher das politische Handeln maßgeblich beeinflußt haben. Es gilt auch für eine Analyse der „mémoire culturelle" in der Gegenwart, die erst dann einsichtig wird, wenn man sich klar macht, daß sich in ihr Elemente vorfinden, die nur aus der regionalen Pluralität, aus der Vielfalt ihrer Bezüge verständlich werden. Die Methode, derer sich eine Analyse solcher historischer Phänomene zu bedienen hat, wird in der Art einer „dichten Beschreibung", an verschiedenen konkreten Beispielen nicht nur Gemeinsamkeiten hervorzuheben haben, sondern ebenso das Unterscheidende, das Differente, das Vieldeutige, das heißt die latente Krisen- und Konfliktträchtigkeit zu betonen haben, von der eine solche pluralistische Lebenswelt, ein derart komplexes System bestimmt wird. Trotz intensiver Akkulturationsprozesse

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bleibt die „Fremdheit" (le différent) der Einzelelemente, die zuweilen auch bewußt hervorgehoben werden („nationale" Stereotypen) erhalten und birgt den Reim von Krisen und Konflikten, da im Rezeptionsprozeß in der Regel bestimmten Elementen der Vorzug gegeben wird; gleichermaßen wirkt das gleichzeitige Nebeneinander einer Vielzahl von Elementen nicht beruhigend, sondern verunsichernd und kann Krisensymptome hervorrufen oder unterstützen. Das Typische an solchen synkretistischen, komplexen Systemen, die einer andauernden, prozeßhaften Entwicklung unterliegen, ist also die Ambivalenz ihrer Aussagen. Je nach dem besonderen formalen Gesichtspunkt, mit dem man an solche Systeme herangeht und sie befragt, läßt sich dieselbe kulturelle Konfiguration verschieden einordnen. Ein vermeintlich österreichisches Phänomen läßt sich daher nicht nur als ein typisch österreichisches, sondern auch als ein typisch böhmisches, italienisches oder ungarisches klassifizieren. Die Analyse eines komplexen Systems wird vor allem jenen Bereichen mehr Aufmerksamkeit schenken müssen, die ein solches System besonders deutlich werden lassen und die von der traditionellen, weitgehend politisch motivierten Geschichtsbetrachtung ausgeklammert worden sind, weil sie mit ihrem Konzept, das von späteren politischen und territorialen Entwicklungen ausging, nicht übereinstimmte. Dieses Konzept setzte ja bereits jenen von Reinhard Koselleck definierten „Erfahrungshorizont" 21 voraus, der für die damalige Gegenwart, nämlich die Vergangenheit, noch nicht vorhanden war und bloß als eine von vielen möglichen Entwicklungen, als schwer kalkulierbarer „Erwartungshorizont" existierte. Der „Erfahrungshorizont" der damaligen Zeit war ein anderer, er setzte sich aus all j enen Codes und Elementen zusammen, die von einer späteren politischen Geschichte ausgeklammert oder marginalisiert wurden. Zu den Inhalten des damaligen „Erfahrungshorizonts" gehörte ganz wesentlich der tägliche Umgang mit politischen und sozial-kulturellen Pluralitäten und das Erleben ihrer Problematik. Mögen daher die in den „Reichsgeschichten" oder im „Kronprinzenwerk" angebo-

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tenen Konzepte einer wertfreien Beachtung der Elemente der ethnisch-kulturellen Vielfalt im nachhinein auch als ein utopischer Reichspatriotismus erscheinen, dem vom Gesichtspunkt späterer Entwicklungen keine Dauer beschieden sein konnte; in der damaligen Gegenwart waren sie nicht nur mögliche Alternativen, die zur Diskussion anstanden, sondern Konzepte, die auf einer erlebten Erfahrung beruhten. Die bereits erwähnten Überlegungen eines Eötvös, Palacky, Popovici, Renner oder Jászi liegen auf dieser Linie. Die Wertigkeit, die solchen Überlegungen zugrunde lag, wird auch durch Theoriebildungen belegt, die auf einer pluralistischen Lebenswelt beruhten und Pluralitäten wissenschaftlich reflektierten. Es wäre reizvoll, in einer ähnlichen Weise wie die Operette der Zeit um 1900, auch andere musikalische, literarische, philosophische, politische, sozialwissenschaftliche, ökonomische oder politische Überlegungen, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hier angestellt wurden, nicht nur als ästhetische oder wissenschaftliche Aussagen ihres eigenen, engeren Bereichs zu sehen, sondern sie ihrer disziplinären „Autonomie" und Abgeschiedenheit zu entledigen, sie zu „dekonstruieren" und zu fragen, ob sie nicht insgesamt, sobald man sie in einen umfassenderen sozial-kulturellen und sozial-politischen Kontext zurückversetzt, das heißt „rekontextualisiert", als Zeugen dieses komplexen kulturellen Systems der zentraleuropäischen Region angesehen werden könnten. Das trifft, um nur einige Beispiele zu nennen, nicht nur auf den Machschen Empiriokritizismus zu, der das Ich aus einer Vielfalt von fließenden Elementen deutet, sondern ebenso auf die Sprachphilosophie, die nach Fritz Mauthner die Vielsprachigkeit einer Region voraussetzt, auf die Freudsche Psychoanalyse, die das Gleichgewicht der Vielfalt durch die Verdrängung einzelner Elemente gefährdet sieht, auf die Soziologie Ludwig Gumpowicz', der seine Theorie von der Gesellschaft aus der ethnisch-kulturellen Heterogenität der Monarchie ableitet, und, wenn man will, auf die Dodekaphonie der Zweiten Wiener Schule, die jedem der zwölf

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Töne die gleiche Valenz zuschreibt. Ebenso betrifft es die Theorie über Gestaltqualitäten von Christian von Ehrenfels, die nach der Relation der einzelnen Teile zum Ganzen fragt, und in der jüngst Wolfgang Grassi und Barry Smith einen möglichen Zugang zu einer ÖsterreichTheorie zu erblicken vermeinten. 22 All diesen Überlegungen lag jedoch auch das Bewußtsein der Problematik einer solchen ambivalenten Situation zugrunde. Im politischen Bereich versuchte man dieser Ambivalenz freilich zunehmend mit einem nationalistischen Konzept zu begegnen, das auf eine Trennimg und politische Aufteilung einer pluralistischen politischen und ethnisch-kulturellen Lebenswelt abzielte. Doch auch der nationalen Ideologie kamen Erfahrungen zustatten, die in jenen individuellen und kollektiven Krisen dieser Region manifest wurden, die sich gerade aus der Ambivalenz ethnischkulturell bedingter Mehrfachidentitäten, aus der Multipolarität von Identitäten ergaben. Im Verlaufe des Prozesses der Modernisierung, der die Urbanen Zentren mit Bewohnern der ethnisch-kulturell heterogenen Gesamtregion anwachsen ließ, waren diese Identitätskrisen vornehmlich zu einem Problem der Städter geworden. Die nationale Ideologie suchte dieser Krisen Herr zu werden, indem sie auf ein holistisches Konzept, auf politisch und kulturell homogene Einheiten setzte, was letztlich in einer „vernünftigen" Ausgrenzung, das heißt in der beabsichtigten und schließlich auch erreichten Aufteilung der Monarchie mündete. Der „Erfahrungshorizont" der Bewohner dieser Region war, gewiß in verschiedenen sozialen Schichten unterschiedlich ausgeprägt, von dieser erlebten Pluralität mit ihren positiven und negativen Facetten bestimmt. Eine historische Rekonstruktion dieser Region hat sich folglich all diesen Voraussetzungen zu stellen. Auch eine österreichische Geschichte wird nicht allein eine dieser Varianten zur Grundlage ihrer Überlegungen machen können, zum Beispiel jene, welche politisch relevant geworden ist, sondern die vielfachen Gegebenheiten, welche die Kultur in ihrem umfassenden Sinne bestimmt hat, zu berücksichtigen haben und damit die

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Aporie einer weitgehend von der nationalen Ideologie bestimmten Methode aufzeigen können. Die Theorie einer österreichischen Geschichte beruht somit auf einer kontinuierlichen Reflexion jener pluralistischen Situation, welche die Lebenswelt in der jeweiligen Vergangenheit bestimmt hat und die in den „Orten der Erinnerung", in einem „kulturellen Gedächtnis", das heißt in lebenden kulturellen Traditionen, die dieser „Text" Österreich beinhaltet, bis in die Gegenwart präsent geblieben ist. Damit könnte gerade eine Geschichte Österreichs, aber auch die Geschichte der Völker dieser zentraleuropäischen Region über die engere historischdeskriptive Absicht, die jeder historischen Retrachtung innewohnt, auch als ein Releg dafür gelten, daß letztlich jede historische Darstellung, die sich von einer nationalideologisch motivierten Zielvorstellung leiten läßt, im Grunde genommen falsch und nicht möglich ist Zusätzlich dazu vermag eine solche Geschichte Österreichs aber noch zwei weiteren Aspekten gerecht zu werden. Erstens ein Indiz für die Relevanz jener postmodernen Theoriebildungen zu sein, welche für die Akzeptanz von Pluralitäten plädieren, und zweitens mittelbar zum Diskurs über zwei wesentliche Theorien über die Moderne beizutragen: Über jene, die in der Moderne seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert vor allem die Differenzierung und Pluralisierung des Lebens hervorhebt, die in der Postmoderne besonders deutlich wurde, welcher aber immer wieder holistische Konzepte entgegengesetzt würden, mit deren Hilfe die Krisenanfälligkeit der Moderne beseitigt werden sollte; und über jene, welche das Konzept der Moderne vornehmlich auf den von der Aufklärung bestimmten emanzipatorischen Prozeß der Vereinheitlichung und Aufhebung „prämoderner" Pluralitäten reduziert und die Vollendung des Projektes der Moderne daher letzlich im Holocaust erblickt.23 Die Relevanz solcher Überlegungen wird unter anderem auch durch jene neuen Theorien untermauert, die im Umkreis des „New Historicism" entstanden sind. Es ist auffallend, wie sehr diese Theorien jenen ähnlich sind,

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die in Österreich um 1900 gebildet wurden. Ich möchte in diesem Zusammenhang nur auf einen kulturtheoretischen Aspekt verweisen, der seit mehreren Jahren von Vertretern der „Cultural Studies" in den USA entwickelt worden ist. Es handelt sich dabei erstens um die Frage einer Definition Amerikas, das heißt um eine Bestimmimg Amerikas als seiner „multikulturellen", also pluralistischen gesellschaftlichen Situation - man vergleiche dazu „Österreich", die Monarchie als pluralistisches System -, und zweitens um die Reflexion jener - der Wiener Moderne durchaus vergleichbaren - postmodernen kulturellen Befindlichkeit, die sich als fragmentiert und differenziert, das heißt als „demokratisch" darstellt. Um eine solche komplexe kulturelle Situation, die nun Amerika ist, zu begreifen, intellektuell in den Griff zu bekommen, bedürfe es vom methodischen Gesichtspunkt aus gesehen eines inter- oder transdisziplinären Verfahrens.24 Was Alice Kessler-Harris 1991 vor der „American Studies Association" über ein „Amerika-Konzept" gesagt hat, ist in der Tat dem von mir in bezug auf „Österreich" vorgeschlagenen analytischen Verfahren durchaus vergleichbar: „Far from undermining, the search for unity, identity, and purpose, the multicultural enterprise has the potential to strengthen i t . . . . If it redefines identity from a fixed category to a search for democratic culture, if it refuses to acknowledge a stable meaning or precise unchanging definition of America, multiculturalism nevertheless opens the possibility of conceiving democratic culture as a process in whose transformation we are all invited to participate." 25 Anders ausgedrückt bedeutet dies nichts Geringeres, als daß die Kriterien der Theorie „einer" österreichischen Geschichte auf ähnlichen inhaltlichen und konzeptionellen Voraussetzungen beruhen wie die Kriterien der Theorie „einer" amerikanischen Geschichte. Das Interesse an „einer" Geschichte, an „einer" Kultur Österreichs und dieser zentraleuropäischen Region ist also nicht nur in einem begrenzteren Sinne von Bedeutung, es berührt unmittelbar Fragen, die auch für andere kulturelle Phänomene zutreffend sein mögen.

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Pluralität - Kultur - Geschichte

1 Michel de Certeau, Das Schreiben der Geschichte, Frankfurt/M. 1991, 71 ff. Zit 74. 2 Jacques Le Goff, Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt/M. 1992, 228. 3 Alfred Schütz, Theorie der Lebensformen, hg. und eingel. von Ilja Srubar, Frankfurt/M. 1981. - Alfred Schütz - Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, 2 Bde, Frankfurt/M. 1984. 4 Clifford Geertz, The Interpretation of Cultures, New York 1973, 89. - Vgl. auch C. Geertz, Kulturbegriff und Menschenbild, in: Rebekka Habermas - Niels Minkmar (Hg.), Das Schwein des Häuptlings. Sechs Aufsätze zur Historischen Anthropologie, Berlin 1992, 56-82. 5 Claus Leggewie, Ethnizität, Nationalismus und multikulturelle Gesellschaft, in: Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2, hg. von Helmut Berding, Frankfurt/M. 1994, 46-65. 6 Hans Peter Thum, Abbau von Kultur: Dekulturation, in: Friedhelm Neidhardt - M. Rainer Lepsius - Johannes Weiss (Hg.), Kultur und Gesellschaft. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 27, Opladen 1986, 379-396, Zit. 382. 7 Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, 9. Aufl., Frankfurt/M. 1994, 282-310. 8 Ebd. 288. 9 Ebd. 294. 10 Benedict/1 nderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/M. 1988. 11 Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken a. a. O. 288. 12 Eric Hobsbawm - Terence Ranger (ed.), The Invention of Tradition a. a. O. 274. 13 Vgl. Erich Zöllner, Der Österreichbegriff. Formen und Wandlungen in der Geschichte, Wien 1988. 14 Vgl. dazu u. a. Herwig Wolfram, Ethnogenesen im frühmittelalterlichen Donau- und Ostalpenraum (6. bis 10. Jahrhundert), in: Helmut Beumann - Werner Schröder (Hg.), Frühmittelalterliche Ethnogenesen im Alpenraum, Sigmaringen 1985,97-151.-Ders., Die Geburt Mitteleuropas. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung 378-907, Wien 1987. Als Neuauflage: Ders., Grenzen und Räume. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung, Wien 1995. - Herwig Friesinger - Brigitte Vacha, Die vielen Väter Österreichs. Römer, Germanen, Slawen. Eine Spurensuche, Wien 1987. 15 Frank Robert Vivelo, Handbuch der Kulturanthropologie. Eine grundlegende Einführung, München 1988, 51. 16 Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M. 31994, v. a. 7-43. 17 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1981, bes. 113 ff.

Anmerkungen

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18 Hayden White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1991. - Vgl. auch ders., Der historische Text als literarisches Kunstwerk, in: Christoph Conrad Martina Kessel (Hg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994,123-157. 19 Moritz Baßler (Hg.), New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt/M. 1995. 20 Stephen Greenblatt, Kultur. In: Moritz Baßler (Hg.), New Historicism a. a. O. 48-59. 21 Vgl. Reinhard Koselleck, „Erfahrungsraum" und „Erwartungshorizont" - zwei historische Kategorien, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfrut/M. 1979. 22 Wolfgang Grassi - Barry Smith, A Theory of Austria, in: J. C. Nyiri (Hg.), Von Bolzano zu Wittgenstein. Zur Tradition der österreichischen Philosophie, Wien 1986,11-30. 23 Stephen Toulmin, Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne, Frankfurt/M. 1992. - Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 1992. 24 Vgl. Lawrence Grossberg - Cary Nelson - Paula Treichler (Hg.), Cultural Studies, New York - London 1992. 25 Alice Kessler-Harris, Cultural Locations. Positioning American Studies in the Great Debate, in: American Quarterly 44 (1992) 311. Zit. nach Günter H. Lenz, American Culture Studies. Multikulturalismus und Postmoderne, in: Berndt Ostendorf {Hg.), Multikulturelle Gesellschaft: Modell in Amerika?, München 1994, 167-187.

Kapitel S:

Pluralität und die „Operettenwerkstatt" der Wiener Moderne Komplexes System im Spiegel der Operette Kehren wir nach diesem längeren Exkurs wieder zur Operette zurück und fragen wir uns, in welchem Verhältnis sie sich zu solchen Pluralitäten, zu einem solchen komplexen System befindet, welche Funktion ihr dabei in der Vergangenheit zukam und welche Funktion sie als „Ort der Erinnerung" für die Gegenwart haben könnte. Bei der Beantwortimg dieser Fragen könnte man zum ersten von folgender Überlegung ausgehen. Wollte eine Kunstgattung wie die Operette, die sich an eine breite städtische Öffentlichkeit wandte, Erfolg haben, mußte sie danach trachten, mit Vokabeln zu argumentieren, die verstanden wurden, musikalische und literarische Codes zu benützen, die von den Rezipienten dekodierbar waren, eine Lebenswelt auf der Bühne des Theaters entstehen zu lassen, in welcher die Zuschauer ihre eigene wiedererkennen konnten. Walzer, Csárdás, Polka, Mazurka oder ein Wiener Heurigenlied, eine kroatische Volksweise und eine ungarische Melodie waren musikalische Signale, welche den Zuhörern die Welt, aus der sie kamen, in der Tat vergegenwärtigen konnten. Indem freilich solche Signale nebeneinander und ineinander verwoben dargeboten wurden, schuf die Operette ein Netzwerk von musikalischen und thematischen Bezügen und trug damit nicht nur zu einer musikalischen Akkulturation bei, sondern machte die Zuschauer außer mit dem Eigenen auch mit dem ihnen zunächst Fremden vertraut, was zur Folge hatte, dafl allmählich dieses Fremde nicht nur bekannt und entzifferbar, sondern auch Teil ihres eigenen kulturellen Besitzes wurde. Es war dies ein Prozeß eines gewiß nicht alle sozialen Schichten erfassenden - kulturellen Austauschs, gerade zu einer Zeit, als man im politischen Bereich zunehmend auf Unterschiede setzte und

Komplexes System im Spiegel der Operette

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das Eigene vom Fremden abzugrenzen trachtete.1 Die historische Rekonstruktion sollte sich also nicht ausschließlich auf diese politischen Argumentationen stützen, die für das politische Bewußtsein nur ganz bestimmter sozialer Gruppen repräsentativ waren, vielmehr auch den Bewußtseinsebenen anderer sozialer Schichten und den unterschiedlichen Bewußtseinsinhalten Rechnung tragen. Es ist auffallend, daß gerade zu Ende des 19. Jahrhunderts, als in der Politik ein extremer Nationalismus und Chauvinismus ein vernünftiges Gespräch kaum mehr zuließ, auf den verschiedensten kulturellen Ebenen, insbesondere in der Musik, intensive Austauschprozesse klaglos funktionierten: Csárdás, Polka oder Mazurka wurden in Wien beziehungsweise im deutsch-sprachigen Österreich (oder in Zisleithanien) gerade dadurch zur eigenen Musik, wie zum Beispiel der Wiener Walzer ebenso zu einem Bestandteil des popularen musikalischen Repertoires in Ungarn oder Böhmen wurde. Zweitens waren sich auch die Operettenproduzenten dieser pluralistischen Situation ihrer Rezipienten durchaus bewußt und wußten diese zu nutzen. Der Erfolg ihrer Werke war ja nicht zuletzt an die Voraussetzimg gebunden, daß ihre Produkte auch verstanden wurden. Schon zu Ende des 18. Jahrhunderts hatte der josephinische Schriftsteller Johann Pezzi bemerkt, daß „die originalen Wiener verschwunden" wären, weil die Bevölkerung hier mehr als anderswo völlig vermischt wäre, weil „keine Familie ihre einheimische Abstammung mehr bis in die dritte Generation hinaufführen" könne: „Allein in Wien hat sich das vaterländische Geblüt durch Vermischung mit allen Nationen so sehr verdünnt, daß es nicht sehr häufig mehr hervorsticht." 2 Deutsch-national gesinnte Wiener, wie der Dichter Ferdinand von Bauernfeld, wollten dies zwar im späteren 19. Jahrhundert nicht mehr gelten lassen: „Wo ist der Kitt, der die polyglotten Provinzen miteinander verbindet... Wien fühlte sich zuletzt als eine deutsche Stadt, hielt an der Tradition seines Ursprungs fest." 3 Die soziale Realität und die des Bewußtseins entsprach dennoch eher oder zumindest auch jener

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Pluralität und die „Operettenwerkstatt" der Wiener Moderne

Beschreibung, die nach einer anekdotenhaften Überlieferung Johann Strauß zugeschrieben wird: „Aber für mich war der Offenbach der erste Anstoß. Was bei Offenbach aus dem Geist kommt, kommt bei mir aus dem Gemüt. No - und das Gemüt ist, wenn es sich um einen echten Wiener handelt, vielfarbig: ober- und niederösterreichisch, böhmisch, ungarisch, polnisch und südlich. Bei mir kommt noch was Extras dazu. Mein Großvater, der ist aus Spanien eingewandert. Von dem hab' ich mein edles Hidalgogesicht. Er hat eine Wirtstochter in der Leopoldstadt geheiratet. Das Wirtshaus ist am Donauufer gelegen. Da sind die Schiffer herauf- und heruntergefahren und haben ihre Weisen gesungen. Mein Vater war damals ein Bub - dem ist das spanische Blut und das österreichische Gemengsei zum Wiener Musizieren geworden . . . Jetzt illustriere ich Österreich auf andere Weise. Ihr werdet staunen, wie das meine Frau gemacht h a t . . . Menu: ,Risotto-Suppe auf Triestiner Art'; ,FIschpörkölt - Ungarisch'; ,Braunbraten mit Zwiebeln - Polnisch'; .Serviettenknödel - Böhmisch'; ,Backhendeln mit Gurkensalat Oberösterreichisch'; »Apfelstrudel - Wiener Idealgericht.' Weine: Tokayer, Donauperle; Sliwowitz. Dieses kulinarische Symbol Österreichs wurde mit Andacht verzehrt." 4 Drittens wäre diesen beiden Gesichtspunkten noch jener hinzuzufügen, auf den ich bereits früher hingewiesen habe: Die Entlehnung folkloristischer Elemente durch die Wiener Operette ist ein Hinweis darauf, daß sie musikalisch und literarisch sich des gesamtregionalen, pluralistischen Zitatenreichtums der Region bediente. Sowohl der Wiener Walzer als auch der durch die Zigeunermusik verfremdete ungarische Csárdás oder die böhmische Polka waren jedoch bereits „stilisierte" volksmusikalische Ausdrucksformen, durch die den Städtern eine volksnahe Ursprünglichkeit nahegebracht wurde, die der wahren Realität kaum mehr entsprach. Es handelt sich also hier um so etwas wie eine „musikalische Verfremdung", die sehr oft an der eigentlichen Realität vorbeiführte, zumindest jedoch ein falsches Bild von Realität konstituierte. Damit trug die musikalische Sprache der Wiener Operette

Vagabundierende Militärkapellmeister

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ebenso zu einem „falschen Bewußtsein" bei, zu einer Scheinwelt, die weder mit der sozio-kulturellen noch mit der sozio-politischen Realität in voller Übereinstimmung war, wie auch die märchenhafte Thematisierung der literarischen Sujets einer eher wirklichkeitsfremden Einschätzung der gesellschaftlichen Zusammenhänge Vorschub leistete. Es entstanden Klischees, die zuweilen bis in die Gegenwart erhalten geblieben sind: so wenn der Wiener Walzer als ein Synonym für Wien und Österreich oder der ungarische Csárdás als Identifikationsmerkmal für alles Ungarische eingesetzt wird. Diese klischeehaften Identifikationsmuster waren um 1900 schon so weit verbreitet, daß zum Beispiel die Entdeckung einer „ursprünglichen" Volksmusik, in Ungarn durch Béla Bartók und Zoltán Kodály (1906), von der Operette ganz einfach ignoriert wurde beziehungsweise ignoriert werden konnte.

Vagabundierende Militärkapellmeister Die Kenntnis des vielialtigen musikalischen Kolorits verdankt sich aber nicht nur der pluralistischen ethnischkulturellen Herkunft der Produzenten der Operette, und sie ist nicht nur auf die spezifische Situation der Rezipienten in einem multikulturellen Urbanen Milieu zurückzuführen. Ebenso bedeutend sind persönliche Begegnungen mit dem kulturellen Reichtum einer Region, die zum Teil zufällig gewesen sein mögen, sich jedoch in den Werken von Künstlern leicht identifizieren lassen. Ein Blick in das Strauß-Elementar-Verzeichnis zeigt, daß Strauß seine jeweiligen Aufenthaltsorte, deren Wahl zumeist mit konkreten Aufträgen zusammenhing, dazu nützte, die jeweils lokalen folkloristischen musikalischen Elemente und Stile zu verarbeiten oder seinen Kompositionen zu unterlegen. 5 Zahlreiche Operettenkomponisten und Komponisten von Unterhaltungsmusik waren selbst Militärmusikkapellmeister oder die Söhne von Militärmusikkapellmeistern, wie etwa Carl Michael Ziehrer,

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Pluralilät und die „Operettenwerkstatt" der Wiener Moderne

Karl Komzák, Béla Kéler, Emil Nikolaus von Reznicek oder Julius Fucik. Die Militärmusikkapellen, die auf die Infanterieregimenter beschränkt blieben, waren Berufsorchester, hatten seit 1851 aus mindestens 48 Musikern zu bestehen - Lehárs Militärkapelle in Pola konnte sogar 110 Mann aufweisen6 - und hatten in der Regel ein hohes musikalisches Niveau. Ihre vornehmliche Aufgabe bestand darin, die Marschmusik für das Militär, Parade- und Platzkonzerte für eine größere Öffentlichkeit zu bestreiten und eventuell anläßlich von Trauerkondukten aufzuspielen. Daneben hatten sie aber auch in den Offizierskasinos oder, was noch wichtiger war, auf Bürgerfesten und Bürgerbällen mit Konzert- und Tanzmusik aufzuwarten. In bezug auf die Instrumentenverteilung bedeutete dies, daß neben Bläsern auch eine Streichorchesterbesetzung vorhanden sein mußte, und es war daher nicht außergewöhnlich, daß einzelne Mitglieder von Militärmusikkapellen nicht nur eines, sondern in der Regel mehrere Instrumente beherrschten. Franz Lehár diente als Militärmusikkapellmeister volle zwölf Jahre (1888-1900) bei verschiedenen Garnisonen, in Wien, Losoncz in Oberungarn (Slowakei), Pola, Triest und in Budapest. Abermals in Wien, tat er im Jahre 1900 den entscheidenden Schritt und wechselte von der 26er Regimentskapelle in das Theater an der Wien. In dieser neuen Funktion dürfte ihm seine frühere Erfahrung als Militärkapellmeister sehr zustatten gekommen sein. Er hatte sich dort ein reiches Repertoire an „ernster" und unterhaltender Musik angeeignet, hatte diese Musik zu instrumentieren gelernt, war gezwungen gewesen, auch mit kleineren Orchesterbesetzungen auszukommen und die Musiker in den verschiedensten Bereichen einzusetzen, sie mit unterschiedlichen Instrumenten zu betrauen. Ein Militärkapellmeister wie Lehár verstand es also, je nach Bedarf, Stücke unterschiedlich zu arrangieren und zu instrumentieren. „Dabei lernten nun die Militärkapellmeister, mit quantitativ wie auch qualitativ geringen Ansprüchen auszukommen: das Orchester mußte trotzdem gut klingen, sollte der Kapellmeister einen guten Ruf

Vagabundierende Militärkapellmeister

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haben und ihn auch behalten. Lehár und der ihm künstlerisch, d. h. kompositorisch, und als ausgezeichneter Orchesterleiter zunächst stehende Karl Komzák (auch dieser Absolvent des Böhmischen Prager Landeskonservatoriums) hatten im Orchesterfache zwei leuchtende Vorbilder, die schon erwähnten Bedrich Smetana und Antonin Dvorák. Man könnte ruhig behaupten, daß die Partituren von Dvoráks Slawischen Tänzen Komzák oder Lehár gesetzt hätten, jedoch niemals Suppé, Millöcker oder Johann Strauß!"7 Eine erschöpfende Antwort auf die Frage, ob und in welchem Ausmaß die Militärmusik die Tanz- und Unterhaltungsmusik der Zeit, also auch die Operette, beeinflußt und qualitativ geformt hat, ist noch ausständig. Der Johann Strauß-Spezialist Norbert Linke hält hierfür einige anregende Anmerkungen bereit: „Wer nach der Herkunft militärischer Signale und Instrumentenbehandlung nicht nur in Märschen, sondern in der Tanz- und Unterhaltungsmusik überhaupt forschen will, wird zahlreiche Recherchen anstellen können. Derlei Resultate ergäben eine umfangreiche, eigenständige Arbeit, die noch aussteht." Linke meint, daß bei Strauß „fast alle einladenden Walzer-Introduktionen im Stile militärischer ,Aufreißer' gestaltet worden sind", daß oft „Trompeten-Signale . . . verbindend den Zusammenhang zwischen den Melodien und Melodie-Phrasen" herstellen: „Im übrigen drangen derlei Merkmale - mehr oder weniger versteckt - fast in alle Zellen und Strukturen der ,U-Musik' ein."8 Abgesehen von der Erwerbung solider „handwerklicher" Fertigkeiten und einer gewissen musikalischen Formensprache, die auch andere musikalische Gattungen beeinflußte, mag die Tätigkeit bei der Militärmusik auch die musikalische Phantasie und Melodieninvention angeregt haben. Militärmusikkapellmeister hatten ja gleichsam die Musik, die Melodien und die Rhythmen der gesamten Monarchie in ihrem Tornister. Sie zogen mit ihren Regimentern durch die verschiedensten Landesteile des Reiches, oder es verschlug sie von Garnison zu Garnison. Dort spielten sie bei öffentlichen Auftritten

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neben den gewohnten Märschen und Weisen der jeweiligen Regimentsmusik nicht nur Arrangements aus Opern oder Symphonien, sondern der Bevölkerung zuliebe auch einheimische Melodien. Ihr Repertoire, das „von der Oper bis zur Unterhaltungs- und Volksmusik reichte" 9 , wurde so mit musikalischen Elementen der verschiedensten Nationalitäten der Gesamtregion angereichert, von denen selbstverständlich überall, wo sie sich befanden oder wo sie gerade hinkamen, Gebrauch gemacht wurde. Damit trugen die Militärkapellmeister mit ihren Regimentsorchestern mittelbar zur Verbreitung und Popularisierung der unterschiedlichsten volksmusikalischen Elemente der Gesamtmonarchie bei, mit der Wirkung, daß die Kenntnis der Musik der Völker der Monarchie sich rasch ausbreitete und die verschiedensten volksmusikalischen Elemente allmählich zu festen Stereotypen für ihre Herkunftsländer wurden. Die Sympathie für eine solche Vielfalt von volksmusikalischen Darbietungen dürfte vor allem bei jenen Zuhörern am größten gewesen sein, bei jenen Rezipienten besonderen Anklang gefunden haben, die selbst aus den verschiedensten Teilen der Monarchie stammten, wie bei der mittleren städtischen Bevölkerimg Wiens, die, was ihre Herkunft betraf, zu weit über fünfzig Prozent nicht „originale Wiener" waren. Daß ehemalige Militärmusikkapellmeister, nicht zuletzt im Hinblick auf ihre derart bunt gemischten Rezipienten, auch als Operettenkomponisten sich dieses angesammelten musikalischen Reichtums, dieses volksmusikalischen Repertoires bedienten, kann am Beispiel Lehárs - schon in „Kukuschka", im „Rastelbinder" oder in der „Lustigen Witwe" - ohne weiteres nachgewiesen werden. Die entsprechenden Fertigkeiten, populare Musik zu harmonisieren, zu orchestrieren, zugleich aber auch mit anderen musikalischen Vokabeln anzureichern - und insofern zu verfremden hatten sie sich in ihrer früheren Tätigkeit angeeignet, wie zum Beispiel Lehár bereits zur Zeit seines Aufenthaltes in Losoncz: „Um seine dürftige Gage aufzubessern, stellte er Opern- und Volkslieder-Potpourris zusammen, richtete

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klassische Partituren ein und schneiderte beliebte Musikstücke für Militärkapellen zurecht." 10 Mit autochthonen Elementen angereichert, konnte auch jene prickelndexotische, das heißt „fremde" musikalische Wirkung erzielt werden, die dann die Wiener Operette der Jahrhundertwende für viele so anziehend machen sollte.11 Dieser musikalische Zitatenreichtum der Wiener Operette wurde schließlich auch noch dadurch unterstützt, daß ihre Komponisten als Kapellmeister an Theatern der verschiedensten Orte der Monarchie - und zum Teil auch im benachbarten Ausland - engagiert waren oder mit ihren Orchestern, wie Johann Strauß, halb Europa und die Monarchie bereisten: Suppé, der angeblich nie richtig Deutsch erlernt hat, war zeitweilig auch in Preßburg tätig, Millöcker war, bevor er in Wien eine Anstellung erhielt, Theaterkapellmeister in Graz, und Oscar Straus oder Leo Fall hatten sich im Wolzogenschen „Überbrettl" in Berlin betätigt, waren Kapellmeister in Brünn, Teplitz oder Mainz, bevor sie ganz in Wien ansässig wurden. Übrigens folgten sie hiermit einer Tradition, von welcher auch andere Musiker wie der Dirigent Gustav Mahler zu profitierten wußten. Daß eine solche berufliche Mobilität auch der Mobilität und folglich der Kreativität im Musikalischen zugute kam, muß wohl nicht eigens hervorgehoben werden. Abgesehen von ihrer kulturvermittelnden Funktion wurden durch die Operette gewiß auch Fremd- und Feindbilder oder zumindest ethnische und kulturelle Unterschiede, das heißt das Differente, hervorgehoben und propagiert. Weiters suggerierte schon die musikalischtheatralische Form des Genres Operette, die nicht realitätskonformen, sondern in eine heitere, märchenhafte Darstellung verfremdeten Sujets, eine Typisierung von Personen und ihrer Herkunft, von kulturellen Kontexten wie Lebensgewohnheiten und Umgangsformen oder von signifikanten sozial-kulturellen Identifikationssymbolen wie Sprache, von ökonomischen Zuordnungen (typische Berufe und Berufsgewohnheiten nicht nur unterschiedlicher Schichten, sondern der Bewohner unterschiedlicher

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Länder) und von moralischen oder von religiösen Überzeugungen. Das Unterhaltungstheater war ohne Zweifel auf Identitätsstiftung ausgerichtet, und dies geschah in einer sowohl gewohnten als leicht verständlichen Weise, indem die eigene, subjektive Befindlichkeit oder das, was man zu sein vermeinte oder sein wollte, durch die Gegenüberstellung von „fremden" Mustern, durch die Hervorstreichung von unterschiedlichen Merkmalen des anderen betont oder konterkariert wurde. Insgesamt repräsentierte also die Wiener Operette als spezifische Kunstgattung der Monarchie beziehungsweise Zentraleuropas in der Tat das komplexe System der ethnischen und kulturellen Pluralität dieser europäischen Region. Damit trug sie aber zu jener gegenseitigen Kenntnis und Wertschätzung bei, welche die Politik kaum mehr zu leisten imstande war. Es lag daher nahe, daß man die Operette auch in diesem Sinne, gleichsam politischideologisch, einzusetzen versuchte. Man verstand beispielsweise das Zusammentreffen des Jókaischen Sujets in der Bearbeitung von Ignaz Schnitzer im „Zigeunerbaron" (1885)12, mit einer typischen „österreichisch-ungarischen" musikalischen Anreicherung durch Johann Strauß, als einen Beitrag zur Versöhnung des „österreichischen" mit dem „magyarischen" Element in der nach 1867 dualistischen Monarchie. Damit war die Wiener Operette auch die letzte, vielleicht sogar die einzige Kunstgattung des Gesamtstaates der Habsburgermonarchie. Ganz gewiß war sie aber ein Produkt der ethnischkulturellen Pluralität der mitteleuropäischen Region, ein Genre, in welchem sich das kulturelle Gedächtnis der Völker und Kulturen dieses Raumes spiegelte, ein Beispiel für Akkulturation und kulturelle Diffusion gerade zu einer Zeit, als dissoziative, zentrifugale Tendenzen, die gleichfalls auf diese Pluralität zurückzuführen waren, den regionalen Zusammenhalt bereits zu sprengen drohten.

Langeweile

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Langeweile Die Wiener Operette war aber nicht nur die musikalischthematische Kristallisation der Pluralität der mitteleuropäischen Region. In der Operette spiegelten sich, literarisch und musikalisch, nicht nur die Mentalität der mittleren Urbanen Bevölkerungsschicht, vielmehr auch deren Reaktionen auf die sozio-ökonomischen und sozialpolitischen Transformationen, welche der gesamteuropäische Prozeß der Modernisierung ausgelöst hatte. Dieser trug dazu bei, daß folglich auch das Leben in den Städten der Habsburgermonarchie, vornehmlich in den großen Urbanen Zentren, sich grundlegend veränderte. Die Kunst und Literatur der „Wiener Moderne" kann unter anderem als der sublimierte ästhetische Ausdruck jener sozio-kulturellen Veränderungen, jener Differenzierung der Gesellschaft und jener Fragmentiertheit des Bewußtseins in einem gehobeneren bürgerlichen Intellektuellenmilieu angesehen werden, welche sich nicht nur hier, sondern auch in anderen sozialen Schichten manifestierten. 13 Die Produzenten und die Rezipienten der Wiener Operette spiegeln den nämlichen wissenssoziologischen Kontext. Nur begegneten sie den „crises d'identité" (Jacques Le Rider) oder der „Langeweile", die eine solche Situation hervorrief, nicht nur mit literarischen Überlegungen und Reflexionen, das heißt nicht nur mit einer intellektuell-ästhetischen Autopsie, sondern ebenso durch die Flucht in eine imaginierte Welt der Unterhaltung, welche die Unannehmlichkeiten des Alltags beziehungsweise die Langeweile, die eine Folge der Kapitulation vor dem Alltag bedeuten konnte, vergessen machen sollten. In seiner Monographie über das Paris Offenbachs hat Siegfried Kracauer ein eigenes Kapitel der Langeweile gewidmet. Kracauer führt die Unterhaltungssucht der damaligen Zeit, welche die Operettenproduktionen zu nutzen wußten, auf eine allgemeine Langeweile zurück, die für die Moderne kennzeichnend wäre. 14 Walter Benjamin sieht darin eine symptomatische Erscheinung der Zeit Baudelaires, sein „Passagen-Werk" weist

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daher auch eine lange Textsammlung zur Langeweile auf. is Die Langeweile war in der Tat ein Phänomen, welches die Zeitgenossen nicht nur einfach wahrnahmen, das sie vielmehr auch zum Gegenstand von Untersuchungen gemacht haben, wie beispielsweise der Franzose Émile Tardieu im Jahre 1903. 16 Doch weder Kracauer noch Walter Benjamin haben versucht, dieses Phänomen der Langeweile aus seinem umfassenderen Zusammenhang, aus den veränderten wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten zu erklären. Die Langeweile in einem unreflektierten Marx- und Engelsschen Sinne nur „auf die endlose Arbeitsqual, worin derselbe mechanische Process immer wieder durchgemacht wird"17, zurückzuführen, genügt meines Erachtens für die Erklärung eines Phänomens nicht, das ja nicht nur die Arbeiterklasse betraf, sondern vor allem für das Bürgertum kennzeichnend werden sollte. Die eigentliche Ursache für Langeweile, die ja die Repräsentanten aller sozialen Schichten erfaßt hatte, dürfte wohl in dem sozio-ökonomischen Differenzierungsprozeß der Modernisierung gelegen sein. Die durch den Prozeß der ökonomischen Modernisierung hervorgerufene Differenzierung, das zunehmend vermehrte, beschleunigte, differenzierte Warenangebot, nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im kulturellen Bereich, das sich potentiellen Abnehmern gleichsam aufdrängte und dessen sich in der Folge auch immer mehr Menschen zu bedienen wußten, und schließlich die Erfahrung, daß Geld allmählich jede Ware, selbst das kulturelle Warenangebot, erschwinglich machte, daß man aber trotz allem sehr wohl unter der Fülle von angebotenen Waren zu wählen hatte, was oft subjektive Unsicherheit, Unentschlossenheit hervorrufen mußte, all dies hatte eine Differenzierimg und Fragmentierung des Bewußtseins zur Folge und war wohl die eigentliche Ursache von Langeweile. Aus dieser Langeweile floh man entweder in das Vergnügen, kompensierte sie mit einem gesteigerten Angebot an Unterhaltung, um damit die subjektive Krisensituation zu verdrängen und vergessen zu

Langeweile

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machen, oder begegnete ihr mit bestimmten individuellen Posen. Der Dandy, der Flaneur sind typische Figuren dieser Zeit der Moderne, im Paris Baudelaires und in anderen europäischen Metropolen, hinter beiden verbirgt sich die Haltung einer „mode de vivre" vis-à-vis einer zunehmenden Differenziertheit und Akzeleration des großstädtischen, das heißt „modernen" Alltags.18 Aus der Feder Richard von Schaukais, eines Wiener Zeitgenossen der Operetten, besitzen wir eine fast im Stil eines gesprochenen Dialogs eines Operettenlibretto verfaßte, rasch hingeworfene, treffliche Beschreibung dessen, was unter einem (Wiener) Dandy zu verstehen sei: „Was den brutalen Beobachter am Dandy unangenehm berührt, ist seine Vielfältigkeit, die aus hundert Flächen sich komponierende Rundheit, die ihn reizt, weil er einseitig, einfältig, eckig ist. Der Dandy ist geschliffen. Er kann, indem er sich langsam dreht, alle seine Façetten erglänzen lassen. Er kann sie funkeln und erlöschen lassen. Aber sie bleiben alle geschliffen." Der Dandy - und dies scheint auch mit der Ironie und Persiflage in der Operette zu tun zu haben - „ironisiert sein Bewußtsein, der Gentleman ironisiert weder sein Bewußtsein noch irgend etwas auf der Welt". 19 Gerade in den Städten, in denen dieses Phänomen am deutlichsten spürbar wurde, kam noch ein weiteres Erlebnis dazu, das Langeweile zu vermehren vermochte: daß nämlich die Bewohner dieser Städte voneinander im besten Falle zwar Kenntnis nahmen, sich jedoch in Wirklichkeit kaum oder nur flüchtig begegneten, sich nicht angesprochen fühlten und miteinander daher in einer kontinuierlichen Fremdheit und Anonymität lebten. Das zunehmende Bedürfnis nach Unterhaltung, dem ja gerade das Unterhaltungstheater entgegenkommen wollte, könnte somit als eine Reaktion auf diese Mentalität der Moderne gedeutet werden: Man versuchte der Langeweile zu entfliehen, wenn auch nur für einen Abend, im verdunkelten Raum eines Theaters, man konnte hier mit Heiterkeit kompensieren, was im Ernst des Alltags versagt blieb. Andererseits erlebte man hier, im Zuschauer-

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räum und Foyer des Theaters, zwar eine bestimmte Form der gegenseitigen Kenntnisnahme, und das Interesse am Unterhaltungssujet war ja eine die Anonymität und Fremdheit überwindende Plattform, es war das gemeinsame Interesse, das die vielen Zuschauer einander näher brachte und eine gewisse Übereinstimmung zwischen den Einzelindividuen herzustellen vermochte. Zugleich war es aber ein sich Begegnen unter ganz bestimmten Bedingungen, welche die Anonymität in Wirklichkeit nicht aufhoben, sondern diese im Dunkel des Parterres oder im wogenden Gedränge der Couloirs nur als aufgehoben erschienen ließen. Die Operette, eine der beliebtesten abendlichen Unterhaltungsweisen breiter städtischer Gesellschaftsschichten, war nun auf der einen Seite eine durchaus subtile und raffinierte Form der Unterhaltung, die der Langeweile entgegengesetzt war. Man konnte sich auch durch die „modernen" Inhalte, welche die Operette vermittelte und von denen sich alle angesprochen fühlten, eine Übereinstimmung erwarten, die so etwas wie eine kollektive Identität zu schaffen im Stande war. Auf der anderen Seite ist die zunehmende Flucht in die Unterhaltung, welche die Operette bot, bzw. die immer neuen Angebote, die gemacht werden mußten, um die Zuschauer zu befriedigen, auch ein Indiz dafür, daß sowohl die Langeweile als auch die Fremdheit und Anonymität nicht gemildert werden konnten, sondern anscheinend in einem kontinuierlichen Anwachsen begriffen waren. Die Tatsache, daß seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Monarchie die Nachfrage nach Operetten offenbar immer größer wurde, ließ ganze Operettenwerkstätten entstehen, ähnlich der angeblichen „Fabrique de romans, Maison Alexandre Dumas et Cie" im Paris der frühen fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts, um mit immer neueren, aktuelleren Produktionen der wachsenden Nachfrage gerecht zu werden. Feuilletons und vor allem Romane, das heißt unterhaltende Lektüren, die in regelmäßigen Fortsetzungen in der Tagespresse erschienen, sind jedoch nicht nur ein Zeichen für ein zunehmendes

Vielen Autoren der Operette

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Bedürfnis nach Unterhaltung, sie waren die besten Garanten für eine große Abnehmer- und Abonnentenzahl und brachten somit auch einen nicht unbeträchtlichen Profit ein. Daher wurden Schriftsteller verpflichtet, ein möglichst großes Quantum an Lesestoff, Feuilletons und Romane, zu liefern, und sie wurden von den Redakteuren beziehungsweise Herausgebern dafür auch überdurchschnittlich gut entlohnt. So wurde beispielsweise Dumas verpflichtet, für den „Constitutionel" um 63000 Francs jährlich achtzehn Romane zu liefern. Daß dieses Pensimi die Arbeitskraft eines einzelnen überforderte und er daher gezwungen war, Mitarbeiter als „Ghostwriter" zu engagieren, ist weiter nicht verwunderlich. „Es ging die Sage, Dumas beschäftige in seinen Kellern eine ganze Kompagnie armer Literaten." 20 Wie ein Feuilleton nicht immer vom firmierenden „Autor" stammen mußte und wie an einem Roman der „Unterhaltungsliteratur" in Paris mehrere Autoren „fabriksmäßig" zusammenwirken konnten, so waren auch in anderen kulturellen Produktionsbereichen ganze Kollektive beschäftigt. In der bildenden Kunst, etwa in der Malerei, bedeutete dies freilich nichts Neues: Man denke nur an die großen Malerschulen eines Rembrandt oder Rubens. Die originale Zuordnimg eines Gemäldes ist daher für die Kunstgeschichte bis heute eine ebenso wichtige wie schwierige Aufgabe.

Viele Autoren der Operette So ist es keineswegs verwunderlich, daß, ganz abgesehen von der traditionellen Arbeitsteilung zwischen Komponisten und Librettisten, bei der Operettenproduktion in Wien zuweilen auch mehrere „Autoren" verantwortlich zeichneten. Dabei wäre zunächst festzuhalten, daß die meisten Libretti nicht von einem, sondern von mehreren Verfassern stammten. Doch nicht nur die Libretti verfaßten in der Regel mehrere Autoren, auch für die kompositorische Ausführung von Operetten zeichneten oft mehrere Personen. Bereits bei den Gebrauchskompositionen,

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das heißt bei der Tanz- und Unterhaltungsmusik des Biedermeier war es allgemein verbreitet, daß an der Melodiengestaltung, an der Harmonisierung und vor allem an der Instrumentierung mehrere Personen beteiligt sein konnten. Bedenkt man, daß an der von Josef Lanner 1819 gegründeten „Triovereinigung, bestehend aus zwei Geigen und Gitarre", welcher sich dann Johann Strauß Vater mit seiner Viola anschloß, nur wenige ausführende Musiker beteiligt waren, dann ist es einleuchtend, daß auch dieses kleine Ensemble sich gleichsam als „Walzermanufaktur" zu etablieren begann: „Wurden die Gebrauchskompositionen in Lanners kleinem Ensemble anfangs wie in einer Walzermanufaktur, oftmals in kollektiver Zusammenarbeit, komponiert, so individualisierte sich mit den immer differenzierteren Ausdrucksformen auch der Kompositionsvorgang selbst."21 Als Johann Strauß Sohn bei der Harmonisierung und Instrumentierung dieser Tradition der vorangehenden Generation folgte - abgesehen von gelegentlichen gemeinsamen Bearbeitungen durch die Brüder Strauß erfolgte die Instrumentierung zahlreicher Straußscher Werke durch fachkundige, erfahrene Routiniers22 -, dann sollte man dabei weniger an mangelhafte kompositorische Erfahrungen von Strauß denken als vielmehr an eine gängige Form musikalischer Produktion, welche an die unterschiedlichsten Aufführungsweisen gebunden war, „für die,Helfer' gesucht und gefunden wurden. Diese Arbeiten wurden nicht selten heimlichen ,Mitarbeitern' überlassen, die notfalls der Musikverleger zur Verfügung stellte".23 Freilich behielt sich Strauß eine äußerst penible Endkorrektur der Instrumentation vor. „Die Correctur", bekannte er 1892 seinem Schulfreund Gustav Lewy gegenüber, „hat mir mehr Mühe gekostet als hätte ich die Instrumentation selbst besorgt".24 In einem Brief an den Verlag Breitkopf und Härtel in Leipzig aus dem Jahre 1887 beschrieb Strauß, wie so eine Zusammenarbeit praktisch vor sich ging: „Früher gehörte zum Componiren nur Eines: ,es mußte Einem was einfallen', wie man sich populär auszudrücken pflegte. Und merkwürdigerweise ,fiel Einem auch immer was

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ein'. Das Selbstvertrauen in dieser Richtung war so groß, daß wir Alten häufig eine Walzerparthie für einen bestimmten Abend ankündigten, von welcher am Morgen desselben Tages noch keine Note vorhanden war. In einem solchen Falle erschien zumeist das Orchester in der Wohnung des Compositeurs. Sobald dieser einen Theil fertiggestellt hatte, wurde der vom Personale für das Orchester hergerichtet, copirt etc. Inzwischen wiederholte sich das Wunder des ,Einfallens' beim Compositeur bezüglich der übrigen Theile; nach einigen Stunden war das Musikstück fertig, wurde durchprobirt und am Abend vor einem in der Regel enthusiastischen Publicum zur Aufführung gebracht." Norbert Linke nannte diese teamwork-orientierte Arbeitsweise das „erprobte Drei-Phasen-Modell": „Die Funktion des Komponisten ist beschränkt auf die Vorlage der Teile zum Instrumentieren und Kopieren: ihm muß ,was einfallen'." 25 In bezug auf Strauß als Operetten-Komponisten sei hier unter anderem auf die „vertrauensvolle Zusammenarbeit" zwischen Johann Strauß und seinem Compagnon, Richard Genée, erinnert. Während schon bei der StraußDynastie, sowohl beim Vater als auch den Söhnen, wie bereits erwähnt, eine enge musikalische Kooperation bestanden hatte, wurde der wesentliche Anteil, der Genée bei der musikalischen Ausführung von Strauß-Operetten zukam, von Johann Strauß schon zu dessen Lebzeiten, als er nämlich immer mehr als der berühmte Komponist gefeiert wurde, bewußt verschwiegen oder verheimlicht. Heute wissen wir, daß Strauß zwar ein hervorragender Instrumentator war, bei vielen seiner Operetten jedoch hauptsächlich Melodienlieferant war, während die Harmonisierung, vor allem aber die Instrumentierung Genée überlassen blieb. Ob dafür nur die Arbeitsüberlastung oder die Zerfahrenheit von Strauß verantwortlich gemacht werden muß oder aber ganz einfach sein Unvermögen, seine Unbeholfenheit oder seine Unlust, eigene musikalische Einfälle auch für eine instrumentale Aufführung voll zu Papier zu bringen, möge dahingestellt bleiben. Tatsache ist jedenfalls, daß die Operetten von

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Pluralität und die „Operettenwerkstatt" der Wiener Moderne

Johann Strauß in einem Teamwork entstanden und daß beispielsweise weite Teile der Partitur der „Fledermaus" von Genée und nicht von Strauß stammten. „Noch dreizehn Jahre nach Beginn dieser Zusammenarbeit steuerte Strauß hauptsächlich Melodien bei. Genée textierte sie, erweiterte sie mit musikalischen Koloraturen, setzte Melodien in Gesangsform um (Duett, Kanon, Chor, Ensemble), erfand Gegenmelodien und melodische Einkleidungen, harmonisierte und instrumentierte sie."26 Erst 1884/85, als der Bruch mit Genée vollzogen war, stellte Strauß seine Fähigkeit, auch alleine zu harmonisieren und zu instrumentieren, mit dem „Zigeunerbaron" unter Beweis. Und daß der Erfolg der früheren Strauß-Operetten der musikalischen Kreativität und Invention von Strauß und nicht vornehmlich den Hilfestellungen, zum Beispiel der perfekten Instrumentierung durch Genée, zu verdanken ist, beweist wohl unzweideutig die geringe Resonanz der eigenständigen Operetten des letzteren und der Welterfolg, den jene Operetten hatten, die „bloß" auf die kreativen musikalischen Inventionen von Johann Strauß zurückgehen. Dies trifft freilich nicht nur für Strauß zu. Es ist hinlänglich bekannt, daß Carl Michael Ziehrers KomponistenKarriere „ohne Haseis kongeniale Mitarbeit . . . nicht möglich gewesen wäre" und selbst „Komponisten wie Bruckner . . . zeitlebens um ihre Instrumentation gerungen und oft Überarbeitungen vorgenommen" haben, „andere - wie Franz Liszt, Modest Mussorkskij, der junge Erich W. Korngold, Richard Heuberger . . . und Emerich Kálmán - ließen sich von Arrangeuren helfen." 27 Franz Lehár bezog in Losoncz für seine Instrumentationen mehr als für seine eigenen kompositorischen Versuche: „Sie zahlten fünf Gulden für Orchesterarrangements und nur zwei Gulden für eigene Kompositionen."28 Es ist auch bekannt, daß der junge Arnold Schönberg, vor allem in seiner frühen Berliner Zeit, zahlreiche Operetteninstrumentationen vorgenommen hat, eine Beschäftigung, die finanziell mehr einbrachte als die Beschäftigung mit eigenen Kompositionen. Schönberg orchestrierte unter

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anderem mehrere Operetten seines Freundes Bogumil Zepler: „Von den sechstausend Partiturseiten, die Schönberg um die Jahrhundertwende im Auftrag anderer Musiker schreiben mußte, um existieren zu können, beruht ein großer Teil auf Zeplerscher Musik."29 Doch abgesehen von der finanziellen Notlage, die Schönberg dazu brachte, Operetten- und Unterhaltungsmusik zu instrumentieren: Schönberg empfand von frühester Jugend ein gewisses Naheverhältnis zu dieser Musik: „Er hat sich zeitlebens eine gewisse Zärtlichkeit für die klassische Wiener Operette bewahrt, hörte sich gute Aufführungen der Stücke von Franz Lehár gern an und übertrug diese Neigimg auch auf einige seiner Schüler. Im Gegensatz von Anton von Webern, der jede Art von Unterhaltungskunst verabscheute, hatte Alban Berg viel dafür übrig."50 Die über sein ganzes Leben andauernde Zuneigung Schönbergs zu dieser Art von Unterhaltungsmusik mag in seiner frühen Jugend geweckt worden sein. Einer der Jugendfreunde Schönbergs, der bekannte Musikkritiker der Arbeiterzeitung, David Josef Bach, der in späteren Jahren zu einem wichtigen Propagator der modernen Musik unter der Arbeiterschaft werden sollte und unter anderem die „Arbeitersinfoniekonzerte" unterstützte, weist uns in seinen Lebenserinnerungen auf mögliche Ursachen dieses für manche flüchtigen Kenner Schönbergs erstaunliche Phänomen hin. Bach berichtet, daß eine der wenigen konkreten Anlässe, Musik zu hören, für diese mittellosen jungen Musikliebhaber vor allem die zahlreichen Gartenkonzerte gewesen wären, welche von Militärmusikkapellen in den frühen neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts im Prater veranstaltet wurden: „Wir standen damals alle, Siebzehn- und Achtzehnjährige, vor dem Zaun, um gratis Musik zu hören. Ein junger Militärmusikmeister - wenn ich nicht irre, Großmann mit Namen - spielte Bruchstücke aus Wagner, einmal sogar aus den ,Meistersingern', im Jahre 1891 oder 1892. Auch Komzák hat manches zur Verbesserung der Gartenkonzerte und des Publikumsgeschmacks getan. Für die allermeisten unter uns war es die einzige Möglichkeit, ein

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bißchen Musik wirklich zu hören." 31 Worauf es hier ankommt, ist die hinlänglich bekannte Tatsache, daß diese Militärmusiken natürlich nicht nur Wagner, sondern ebenso und vor allem unterhaltende Musik spielten und daß sich die Sympathie Schönberg und seiner Freunde für diese Art von Musik wohl auf solche frühen Erfahrungen zurückführen lassen dürfte. Auch Alexander Zemlinsky, Schwager Schönbergs und Musiklehrer Alma Mahlers, war dieser Gattung Musik nicht abhold und nahm verschiedene Operetteninstrumentationen vor, „von denen Schönberg selbst berichtet hat".32 Es ist dies um so weniger verwunderlich, als ja Zemlinsky seine Karriere als Operettendirigent am Wiener Carltheater und am Theater an der Wien begonnen hatte, und unter seiner „umsichtigen und sicheren Leitung"33 wurde dort, wie ich bereits früher erwähnte, am 20. Dezember 1902 Lehárs „Rastelbinder" uraufgeführt. Max Schönherr, der in einem Aufsatz die „Instrumentation bei Lehár" auf die hohe Perfektion Lehárs beim Instrumentieren hingewiesen hatte, kam zum Schluß, daß „alle anderen Partituren der Ziehrer, Eysler, Ascher, Reinhardt, Raimann, Oscar Straus, Kálmán, Granichstaedten . . . mit den Lehár'schen nicht konkurrieren" könnten, „weil sie teils nach Klischees mit unbedeutenden Orchestrierungsformen, teils jedoch gar nicht von den Komponisten selbst geschrieben sind. Zu Granichstaedten wäre zu sagen, daß die Partitur des Singspiels ,Auf Befehl der Kaiserin' wohl ebenfalls nicht von ihm stammt, jedoch so apart und reizvoll ausgeführt ist, daß sie eine von denen sein könnte, von welchen die Biographen Zemlinskys und Schönbergs berichten, beide hätten zu gewissen Zeiten Wiener Operetten instrumentiert". 34

Technik des „Auf-Zuruf-Instrumentierens" Abgesehen von der Kooperation mehrerer Beteiligter an einer Operette und der Instrumentation zahlreicher Stücke durch „fremde Hand" wurde darüber hinaus die

Technik des „Auf-Zuruf-Instrumentierens"

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Orchestrierung oft erst in letzter Minute vorgenommen beziehungsweise an die jeweils vorhandene Orchesterkapazität adaptiert. Selbst für Franz Lehár, Absolvent des Prager Konservatoriums und gestandener Militärmusikkapellmeister und daher wohl einer der gewandtesten Operettenkomponisten mit einer ausgezeichneten Orchestererfahrung, bedeutete Komponieren einen andauernden Prozeß, wobei Instrumentation und Arrangement oft erst unmittelbar vor der Aufführung, mit Hilfe des praktischen Experimentierens mit dem Orchester, nämlich „auf Z u r u f , festgelegt wurden. „Die Technik dieses ,Auf-Zuruf-Instrumentierens', des Revidierens eines Klanges gleich während der Probe, hatte Lehár in Pola erlernt, als er Kukuschka orchestrierte. Freilich hatte er das unvorstellbare Glück, daß ihm ein vollendeter Orchesterkörper zur Verfügung stand, mit dem er experimentieren konnte. Nummernweise überhörte er so, was er eben geschrieben hatte, und nahm voll und ganz das Orchester zum Sondieren und Ausprobieren in Anspruch. In Pola wurde er der absolut sichere Orchestrator, der es sich erlauben durfte, seine Partituren ,auf Zuruf zu retouchieren." 35 Diese praxisorientierte Arbeitsweise hatte sich Lehár also bereits als Marinekapellmeister in Pola (1894) zueigen gemacht, wobei zu bemerken wäre, daß gerade der Umgang mit einer Militärkapelle, das heißt die Orchestereinrichtung und Instrumentation für ein Blasorchester Spezialkenntnisse voraussetzt, daß also, wie Norbert Linke feststellt, „die Instrumentation von Militärmusik-Werken . . . zu den schwierigsten Aufgaben, die einem Komponisten gestellt sind" zählt: „Zwischen 22 und 30 Stimmen müssen bedacht werden. Die gelegentlichen Oktavierungen, vor allem die unterschiedliche Transposition vieler Instrumente bieten Anlaß zu unzähligen Fehlern (4 bis 5 verschiedene Tonarten sind zu bedenken)." 36 Militärmusiker, die in das Operettenfach wechselten, hatten also die besten Voraussetzungen, ihre Kompositionen selbständig und mit einer gewissen Perfektion zu instrumentieren. Und sie instrumentierten eben zumeist mit Hilfe des vorhandenen oder vorgestell-

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Pluralität u n d die „Operettenwerkstatt" der Wiener Moderne

ten Orchesters, wie zur Zeit, als sie einer Militärmusik vorstanden, was Lehár auch bestätigte: „Nicht mit Unrecht meinte später einmal einer meiner Freunde: Wenn andere am Klavier komponieren, komponiert Lehár am Orchester." 37 Ein solches Verfahren konnte freilich bei jenen, die mit dieser Praxis nicht vertraut waren, zu schweren Mißverständnissen führen. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Wenige Monate vor der Uraufführung der „Lustigen Witwe" verriet Lehár noch eine Eigenart seiner Arbeitsweise: „Fast immer wurde ich erst in der letzten Nacht, oft erst am Tage der Premiere, vollkommen fertig . . . mit dem Instrumentieren. Das ist gleichbedeutend mit Komponieren; ich widme der ersten wie der letzten Note der Partitur die gleiche Sorgfalt."38 Vor der Uraufführimg der „Lustigen Witwe", ergänzte Lehár, wie Fritz Stein berichtet, „die Instrumentation sogar noch am Tag der Generalprobe in dem kleinen Zimmer Steiningers zum Entsetzen der Direktoren, die feststellten, daß die Operette noch nicht einmal fertig sei."59 Nur am Rande sei angemerkt, daß Lehár, wie auch Johann Strauß Sohn, ein Nachtarbeiter war und oft lange Nächte bis zur völligen Erschöpfung durchkomponiert beziehungsweise seine musikalischen Einfälle notiert hatte. Das nachfolgende Zitat ist nicht nur dafür ein wichtiger Beleg. Es verdeutlicht darüber hinaus die prozeßhafte Arbeitsweise des Operetten-Komponisten Lehár, die auch bei seinen großen Wiener Vorgängern nachweisbar ist. Der Partitur beziehungsweise der Orchesterbehandlung gingen stets „vorbereitende Skizzen, Melodieentwürfe, Particelle - und so weiter" 40 voraus, die sich erst allmählich zu einem Ganzen zusammenfügten: „Wenn alles schläft, wenn um mich vollkommene Ruhe herrscht, dann fallen mir die besten Sachen ein. Da mache ich zuerst am Rande des Textes mit einigen Noten nur für mich verständliche Skizzen. Die werden später immer klarer und klarer. Ich ändere so lange, bis ich das Gefühl habe, so und nicht anders muß es sein. Die Zeit dieser Arbeit ist für mich die glücklichste. Sie birgt für mich die köstlichsten Erinnerungen und die größte Be-

Reaktion auf die Akzeleration

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friedigung. Nacht füir Nacht bis zum Morgengrauen am Schreibtisch, bis der Körper seine Rechte fordert! Oft bin ich am Schreibtisch eingeschlafen."41

Reaktion auf die Akzeleration Es würde sich in der Tat lohnen, die Wiener Operettenproduktion unter den eben genannten Aspekten und unter dem Aspekt ihres Teamworkcharakters eingehender zu untersuchen. Dabei sollte man diese Arbeitsweise wenigerwertend oder gar abwertend beurteilen, sondern sie in den größeren Zusammenhang einer alten und bis in die Gegenwart vorhandenen Praxis des Komponierens und Instrumentierens stellen. Zum Beispiel belegt die Kompositionsweise des zeitgenössischen italienischen Komponisten Luciano Berio gleichfalls diese Praxis: seine Arbeitsweise ist „verblüffend handwerklich . . . beim Werk fur Oboe übertrug zuerst ein Assistent nach Berios Anweisungen rein mechanisch die bloss proportionell notierte Sequenza in eine metrische Umschrift und sparte für die Streicher die nötigen Notensysteme aus. (In gewissen Orchesterwerken liess Berio von Schülern gar ganze harmonische Strukturen ausprobieren; der Vergleich mit einer Malerwerkstatt der Renaissance liegt nahe)." 42 Abgesehen von Berio und anderen „seriösen" Komponisten trifft dies für die zeitgenössische Unterhaltungsmusik ganz besonders zu, an welcher, was die Instrumentation, das Arrangement oder die Registrierung betrifft, selbstverständlich ein ganzes Team von Spezialisten beteiligt ist. Bei der Operette der Zeit um 1900 dürfte freilich zur Erklärung für ihre teamworkartige Produktion noch der Hinweis auf einen weiteren, nämlich auf einen soziokulturellen Gesichtpunkt von gewisser Bedeutung sein. Es kann als unbestritten angesehen werden, daß, wie in der Gegenwart, die steigende Nachfrage nach Unterhaltung, nach Unterhaltungstheater, also auch nach Operette, zu akzelerierten, das heißt zu immer rascheren Produktionsweisen zwangen und daß eine solche Aufga-

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Pluralität und die „Operettenwerkstatt" der Wiener Moderne

be eine Person alleine kaum mehr zuwege brachte, daß vielmehr nur perfekte Teamworks, Produktionswerkstätten, sich einer solchen Arbeit zu bewältigen vermochten. Damit erscheint die Operettenproduktion nicht nur als ein Resultat jener allgemeinen Beschleunigung, welche für die Lebenswelt der Zeit um 1900 typisch war, vielmehr auch als ein Beleg für die Differenziertheit, für die Fragmentiertheit des modernen Lebens. Die zunehmende Differenzierung der Gesellschaft, die sich in der Fragmentiertheit des kollektiven und individuellen Bewußtseins manifestierte und eine auch subjektiv wahrnehmbare und erlebbare Beschleunigung von Entwicklungen und Ereignissen nach sich zog, hatte zuweilen eine Verunsicherung, eine Orientierungslosigkeit zur Folge, welche man mit einer Flucht in die Unterhaltung zu verdrängen beziehungsweise zu kompensieren versuchte. Hier fügt sich die Funktion der Operette der Zeit der Moderne ein. Einerseits weist sowohl die große Fülle von Operettenproduktionen als auch die andauernde Veränderung und Anpassung einzelner Operetten auf die Akzeleration beziehungsweise auf die Kurzlebigkeit der konkret erlebten Lebenswelt hin. Sie war eine Kunstgattung, die auf die Befindlichkeit der Zeit reagierte und zugleich ein der Zeit der Moderne inhärentes Kriterium, nämlich die Beschleunigung, zum Kriterium ihrer eigenen Produktion werden ließ. Andererseits wollte man mit der Operette in immer rascherer Folge den Bedürfnissen der Zeit nach Unterhaltung, das heißt nach Zerstreuung, nach Überwindung von Langeweile begegnen, die eine Folge des nicht mehr alles Wahrnehmenkönnens, der Überfrachtung mit immer neueren Angeboten von Kommerz und Kultur war. Man reagierte also mit der Operette, nicht zuletzt auch mit dem Genre der Wiener Operette, auf diese Langeweile als einer Zeiterscheinimg der sozialen und intellektuellen Wirklichkeit der Moderne.

Anmerkungen

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1 Die Operette als Kunstgenre einer Urbanen Bevölkerung sprach gewiß nicht alle Bevölkerungsschichten an und wirkte somit nicht unbedingt integrativ. Trotzdem sollte bedacht werden, daß bis in die Gegenwart auch bei ländlichen Festen (ζ. B. Hochzeiten) der Völker dieser Region Melodien aus Wiener Operetten erklingen; zumindest ist der Wiener Walzer dort ebenso bekannt wie die Polka oder der Csárdás. Vgl. Zoltán Horváth, Magyar századforduló [Ungarische Jahrhundertwende], Budapest 2 1974, 461. 2 Johann Pezzi, Skizze von Wien. Ein Kultur- und Sittenbild aus der josefinischen Zeit, hg. von Gustav Gugitz und Anton Schlossar, Graz 1925, 22, 50. - Ähnliche Feststellungen finden sich bei Johann Graf Fekete, Kaspar Riesbeck oder Friedrich Nicolai. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (1836/37) legt die Engländerin Frances TroUope in ihrer Reisebeschreibung von der Multiethnizität und Vielsprachigkeit Wiens ein beredtes Zeugnis ab. Vgl. Frances Trollope, Briefe aus der Kaiserstadt. Herausgegeben und bearbeitet von Rudolf Garstenauer, Frankfurt/M. 1980,175178. 3 Ferdinand von Beuernfeld, Aus Alt- und Neu-Wien a. a. 0.141. 4 Bertha Zuckerkandl, Wien intim a. a. 0.22-23. - Der Urgroßvater von Johann Strauß, Johann Michael Strauß, wurde 1720 in Ofen (Buda) in Ungarn geboren. Die spanische Abstammung ist entweder eine Fehlinformation von Bertha Zuckerkandl oder war vielleicht von der Familie Strauß bewußt kolportiert worden. Vgl. Norbert Linke, Johann Strauß (Sohn), mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek b. Hamburg 1982,10 f. 5 Strauß-Elementar-Verzeichnis. Thematisch-bibliographischer Katalog der Werke von Johann Strauß (Sohn), hg. vom Wiener Institut für Strauß-Forschung (Ernst Hilmar), Tutzing 1990 ff. Bereits ein flüchtiger Blick auf die ersten Werksnummern bestätigt diese These: Walzer = op. 1, 4, 5, 11, 12 . . .; Quadrille: op. 2, 6, 10, 14 (= „Serben-Quadrille"), 15, 16, 24 (= „Zigeuner-Quadrille") . . . ; Polka: op. 3, 9,13 (= „Serben-Polka"), 18 (= „Jux-Polka") . ..; Marsch: op. 7, 20 (= „Austria-Marsch") . . . ; Csárdás: op. 23 (= „Pesther Csárdás") . . .; „Slaven-Potpourri": op. 39. - Vgl. dazu auch Norbert Linke, Musik erobert die Welt, oder: Wie die Wiener Familie Strauß die „Unterhaltungsmusik" revolutionierte, Wien 1987. 6 Bernard Grun, Gold und Silber. Franz Lehár und seine Welt, München - Wien 1970, 50. 7 Karl Schönherr, Die Instrumentation bei Lehár, in: AndrewLang, Unterhaltungsmusik aus Österreich. Max Schönherr in seinen Erinnerungen und Schriften, Bern 1992, 98. 8 Norbert Linke, „Es mußte einem was einfallen". Untersuchungen zur kompositorischen Arbeitsweise der „Naturalisten", Hitzing 1992,164.

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9 RudolfFlotzinger, Ivan Zajc und das musikalische Wien um 1870, in: Zbornik, Zagreb 1982,18. 10 Bernard Grün, Gold und Silber a. a. O. 44. 11 Die Rezensionen der Uraufführung der Lustigen Witwe (29. 12. 1905, Theater an der Wien) beziehen sich beispielsweise auf diese „Exotismen": Die „sehr reizvolle Musik" wäre „sehr originell, in den slavischen Motiven des zweiten Aktes von zarter lyrischer Besonderheit" (Neue Freie Presse, 31. 12. 1905), das Marschseptett mit einem „so niederträchtigen Schmiß, daß man ihm nicht widerstehen kann", hätte Begeisterung ausgelöst (Arbeiter-Zeitung, 31. 12. 1905) und der „Chor mit Tamburizzenbegleitung, dessen urnationale Färbung Lehar Stoff zu einem seiner charakteristischesten Einfälle bot" (Die Zeit, 31. 12. 1905) wird besonders hervorgehoben. 12 Das erste Treffen zwischen Strauß und Maurus Jókai fand im Februar 1883 in Budapest statt Nachdem Ignatz Schnitzer, der aus Budapest gebürtige Wiener Korrespondent des Neuen Pester Journals und bekannte Übersetzer ungarischer Dichter und Schriftsteller, die Jókaische Novelle „Saffi" ins Deutsche übertragen und gemeinsam mit Strauß zum Operettenlibretto verarbeitet hatte, begann Strauß Ende 1883 mit der Romposition des „Zigeunerbaron". Die Uraufführung fand am 24. Oktober 1885 im Theater an der Wien statt. Vgl. Norbert Linke, Johann Strauß a. a. 0 . 1 3 0 ff. - Otto Schneidereit, Johann Strauß und die Stadt an der schönen blauen Donau, Berlin 1885, 198 ff. - Franz Hadamowsky - Heinz Otte, Die Wiener Operette a. a. O. 220 ff. Heinrich Eduard Jacob, Johann Strauss und das neunzehnte Jahrhundert. Die Geschichte einer musikalischen Weltherrschaft (1819-1917), Amsterdam 1937, 351 ff.-György Sándor Gài - Vilmos Somogyi, Operettek könyve a. a. O. 178 ff. 13 Moritz Csâky, Pluralität und Wiener Moderne, in: Maurice Godé - Ingrid Haag- Jacques Le Rider (Hg.), Wien - Berlin. Deux sites de la Modernité - Zwei Metropolen der Moderne, Montpellier 1993,233-251. 14 Siegfried Kracauer macht auf den Zusammenhang zwischen Langeweile und Unterhaltung als Stimulans für die Offenbachsche Operette aufmerksam. Vgl. Siegfried Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, Frankfurt/M. 1980, 96-107. 15 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, in: W. Benjamin, Gesammelte Schriften V/1, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 2 1982, 156-178 [= Die Langeweile, Ewige Wiederkehr]. 16 Émile Tardieu, L'ennui, Paris 1903. 17 Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, zit. nach Walter Benjamin a. a. O. 162. 18 Vgl. Gerd Stein, Dandy - Snob - Flaneur. Exzentrik und Dekadenz. Kulturfiguren und Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahr-

Anmerkungen

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hunderte Bd. 2, Frankfurt/M. 1985. - Jeanine Charue-Ferrucci, Le dandy à Paris et à Vienne, in: Etudes Danubiennes 4/1 (1990) 53-63. Richard von Schaukai, Andreas von Balthesser über den „Dandy" und Synonyma, in: Ders., Leben und Meinungen des Herrn Andreas von Balthesser [1907], Stuttgart 1986,19,17-18. Vgl. dazu die Ausführungen von Walter Benjamin, Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, in: W. Benjamin, Gesammelte Schriften 1/2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhausen Frankfurt/M. 31973, 531, Zitat 532. Michael Klügl, Erfolgsnummern. Modelle einer Dramaturgie der Operette a. a. O. 55-56. - Marcel Prawy, Johann Strauß. Weltgeschichte im Walzertakt, Wien 1975, 31. Norbert Linke, „Es mußte einem was einfallen" a. a. O. 173-200 (= Zur kompositorischen Arbeitsweise und Instrumentationskunst der Strauß-Söhne). Ebd. 63. Ebd. 178. Ebd. 198, 199. Norbert Linke, Musik erobert die Welt, Wien 1987,241-256, Zitat 243. Norbert Linke, „Es mußte einem was einfallen" a. a. O. 63f., 125. Bernard Grun, Gold und Silber a. a. O. 44. Hans Heinz Stuckenschmidt, Schönberg. Leben - Umwelt - Werk, Mainz 1989,48. Ebd. 50. Henriette Kotlan-Werner, Kirnst und Volk. David Josef Bach 18741947, Wien 1977, 13. Ernst Hilmar, Zemlinsky und Schönberg, in: Otto Kolleritsch (Hg.), Alexander Zemlinsky. Tradition im Umkreis der Wiener Schule, Graz 1976, 60. Rezension der Uraufführung in: Wiener Allgemeine Zeitung, 22. Dezember 1902, zit. nach Franz Lehár, Der Rastelbinder, Raimundtheater Spielzeit 1983/1984 (Programmheft). Max Schönherr, Die Instrumentation bei Lehár, in: Andrew Lang·, Unterhaltungsmusik aus Österreich. Max Schönherr in seinen Erinnerungen und Schriften, Bern 1992, 93-101, Zit. 98. Bernard Grun, Gold und Silber a. a. O. 54. Norbert Linke, „Es mußte einem was einfallen" a. a. O. 123. Otto Schneidereit, Franz Lehár. Eine Biographie in Zitaten, Innsbruck 1984, 38 (mit dem Nachweis des Lehár-Zitats aus dem Jahre 1944). Otto Schneidereit, Franz Lehár a. a. O. 98. Fritz Stein, 50 Jahre „Die Lustige Witwe", Wien - Wiesbaden o. J. 20. Norbert Linke, „Es mußte einem was einfallen" a. a. O. 120. Otto Schneidereit, Franz Lehár a. a. O. 98. - Johann Strauß als

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Pluralität und die „Operettenwerkstatt" der Wiener Moderne

Nachtarbeiter, vgl. Norbert Linke, „Es mußte einem was einfallen" a. a. 0.173 ff. 42 Thomas Gartmann, Musikalische Denkprozesse. Annäherungen an Luciano Berios Instrumentalwerke, in: Neue Zürcher Zeitung 11712. März 1995 (Nr. 59), 49.

Kapitel 9:

Ausklang Instrumentalisierung der Operette Die Wiener Operette verlor nach dem Zusammenbruch des alten politischen Systems, der österreichisch-imgarischen Monarchie, auch jene gesellschaftliche Basis, welcher sie entstammte, das heißt, es kamen ihr jene sozialen Schichten abhanden, denen sie sich verdankte und an die sie sich ursprünglich gerichtet hatte. Anders ausgedrückt: sowohl die Adressaten als auch die Absender dieser Kunstform hatten sich infolge der Ereignisse des Ersten Weltkriegs entweder wesentlich verändert oder waren nach 1918 nicht mehr vorhanden. Denn mit der Auflösung des Vielvölkerstaates war nicht nur eine Staatsform, vielmehr auch ein - zwar längst nicht mehr voll funktionierendes - soziales und kulturelles System zugrunde gegangen. Das politische Umfeld war ein anderes geworden, es war nicht mehr das alte: Der Vielvölkerstaat existierte nicht mehr, die Aufgaben des politischen Alltags konzentrierten sich nun beispielsweise nicht mehr auf die Lösung von Nationalitätenkonflikten, die zum innenpolitischen Dauerbrenner der letzten Jahrzehnte der Monarchie gehört hatten. Nun hatte man sich vornehmlich um die Bekämpfimg des neuen wirtschaftlichen und sozialen Elends zu kümmern, welches eine Folge sowohl des Weltkriegs als auch der Außenpolitik gewesen war, die - im Zweibund begründet - die Völker der Monarchie in dieses soziale Desaster gestürzt hatte. Die Operette alten Typs wurde also nach 1918 weitgehend „sinnentlehrt". Man verstand ihre Aussagen, ihre Pointen zunehmend nicht mehr, sie mußte daher allmählich zur puren Nostalgie verflachen, und auch das Bild, das sie von einer Gesellschaft, die in Auflösung begriffen war, auf der Bühne entstehen ließ, erweckte nur mehr Reminiszenzen an eine vergangene, nicht mehr vorhandene Zeit. Diese Attitüde der Rückwärtsgewandtheit, welche den

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Ausklang

Aufführungen der Operetten der Wiener Moderne nun anhaftete, hatte zur Folge, daß sie in der Zeit nach 1918 auch von vielen Besuchern vornehmlich so verstanden wurden: Entweder dienten sie nur mehr zur Untermauerung einer Erinnerung an Vergangenes, oder sie wurden zu einer Plattform, auf der nostalgische Sehnsüchte wachgerufen wurden - nach einer in einer märchenhaften Illusion beheimateten heilen Welt. Das neue politischgesellschaftliche Selbstverständnis, demokratisch und republikanisch zugleich, nutzte seinerseits diese nostalgische Attitüde zur Stärkung und Legitimierimg seiner eigenen Position. Die Operette wurde daher in ihrem nur mehr nostalgischen Verständnis nun insofern politisch instrumentalisiert, als man die auf die Bühne projizierte Vergangenheit, die Welt der Monarchie, mit der man auf der realen politischen Ebene ganz bewußt nichts mehr zu tun haben wollte, von der man sich politisch distanziert hatte, nicht nur in einem Gewand darbot, das bloß diese Vergangenheit wachrief, sie wurde auch bewußt nostalgisch-kitschig und übertrieben lächerlich aufgeführt, um dadurch ihren Zuschauern die Sympathie für die vergangene Staatsform, die, ohne das Volk danach zu befragen, abgeschafft worden war, endgültig auszutreiben. Das hieß aber, daß damit zum Beispiel auch eines der wesentlichen Kennzeichen der Operette der Jahrhundertwende, der Witz, die Persiflage einen Bedeutungswandel erfahren mußten. Denn es konnten ja nun nicht mehr die von der Operette intendierten Zeit- und Gesellschaftsumstände einer Gegenwart verlacht und ironisiert werden, die nicht mehr existent war. Unvermittelt wurde daher nicht mehr die Gegenwart das Objekt der musikalisch-theatralischen Verfremdimg der Operette, sondern eine Vergangenheit, auf die man zurückblickte. Damit verlor aber die Wiener Operette der Moderne nicht nur ihre ursprüngliche Funktion, sondern in gewissem Sinne auch ihre Daseinsberechtigung. Denn sie wurde damit nicht nur vom inhaltlichen, sondern auch von einem formalen Gesichtspunkt aus gesehen, retrospektiv, rückwärts gewandt, und übernahm so weitgehend die Klischees der historisieren-

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den Operetten der „goldenen Ära". Die Wiener Operette der Moderne erhielt also ohne ihr Zutun, allein aufgrund des veränderten sozio-kulturellen Umfeldes und durch ein neues Verständnis, das man ihr entgegenbrachte, eine konservative, eine „re-aktionäre" Attitüde. Mit der ihr aufgezwungenen konservativ-nostalgischen Deutung und einer bis ins Lächerliche reichenden Interpretation wurde ihr nun eine neue Botschaft unterschoben, nämlich jene, die Vergangenheit der eigenen Gegenwart zu vergällen. Damit verlor die ursprünglich gegenwartsbezogene Operette der Moderne ihre eigentliche Daseinsberechtigung und wurde endgültig diskreditiert. Freilich verlor damit die Wiener Operette insgesamt, auch wenn sie nun anders aufgefaßt wurde, nicht an Attraktivität und an Beliebtheit: Sie blieb vielmehr auch weiterhin eines der wichtigsten Unterhaltungsgenres des städtischen Theaterpublikums. Die neuen Operettenproduktionen reagierten freilich nur zum Teil auf die veränderte sozial-politische und ökonomische Situation der Nachkriegszeit. Andere nutzten die nostalgische Stimmung und thematisierten weitgehend jene Vergangenheit, auf die man, wie in Balph Benatzkys „Im Weißen Bössl" (1930), in dem selbst der „alte Kaiser" auftrat, sehnsüchtig oder spöttisch-lächelnd zurückblickte. Emmerich Kálmáns „Gräfin Mariza" (1924), deren Handlung in Siebenbürgen angesiedelt ist, wurde sogar vom damaligen ungarischen Bevisionismus beschlagnahmt, der sich mit den neuen, durch den Friedensvertrag von Trianon festgesetzten politischen Grenzen nicht zufriedengeben wollte und von der Wiedererrichtung des alten Königreichs Ungarn träumte. In der imgarischen Fassung wurden dem bekannten Duett der deutschen Version „Komm mit nach Varasdin... Dort ist die ganze Welt noch rot-weiß-grün"1 die Worte unterlegt „Klausenburg, du schöne Stadt" („Szép város Kolozsvár"), womit ein Ort angesprochen war, der nun, nach dem „ungerechten" Friedensdiktat, zu Bumänien gehörte. Dies hatte zur Folge, daß die ungarischen Aufführungen der „Gräfin Mariza" zu einer wahren politischen Manifestation ausarteten

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und das Duett in einzelnen Aufführungen bis zu zwanzigmal wiederholt werden mußte. 2

Neue Operetten Wenn die Annahme zu Recht besteht, daß für die Erklärung des nachhaltigen Erfolges und der qualitativen Dimension des Unterhaltungstheaters gerade die sozialen Rahmenbedingungen, in welchen dieses entsteht und auf welche es reagiert, von Bedeutimg sind, dann wird auch der augenfällige Wandel, den die Wiener Operette nach 1918 durchgemacht hatte, besser verständlich. Ich möchte darauf nur mit wenigen Beispielen eingehen. Vielleicht sollte man sich dafür noch einmal vergegenwärtigen, daß die „Ideologie" der Wiener Operette der Jahrhundertwende vor allem von zwei Zielrichtungen bestimmt war: Erstens repräsentierte sie musikalisch und thematisch die Idee der Gesamtregion der Monarchie, und zweitens war sie ein Vehikel der Inhalte der Moderne. Nun war aber zum einen durch den Zerfall der Donaumonarchie die politische und sozial-kulturelle Kohärenz der Region in Frage gestellt, zum anderen war auch die „klassische Moderne" der Zeit um 1900 von einer Entwicklung abgelöst worden, die, so gegensätzlich diese Tendenzen auch sein mögen, sowohl durch den Expressionismus und die Avantgarde gekennzeichnet waren als auch durch die Zunahme holistischer, prä-faschistoider Inhalte, die dem Differenzierungsprozeß, einem der Moderne inhärenten Kriterium, entgegengesetzt waren. Weiters bedeutete nach 1918 die soziale Verunsicherimg in Mitteleuropa und die politische Präponderanz der westlichen Siegermächte, insbesondere der USA, eine zunehmende, neue Orientierung nach Westen und eine Rezeption von kulturellen Angeboten dieses Raumes. Ob und wie die Wiener Operette auf solche Veränderungen reagierte, wie sie sich selbst veränderte, möge zum Abschluß nur ganz kurz und hypothetisch angedeutet werden. Die sogenannte Revue-Operette ist ein Beleg für die

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veränderten sozio-ökonomischen Konditionen der zwanziger und dreißiger Jahre. Hatte Lehár in der „Lustigen Witwe" 1905 noch auf Offenbachsche Cancans zurückgegriffen, um „Pariser Offenheit" zu demonstrieren, so bezog man sich jetzt auf Rhythmen aus Übersee und zitierte damit, entsprechend der neuen ökonomischen Ausrichtung, „Weltoffenheit". Die frühen Operetten von Paul Ábrahám sind dafür ebenso ein Beispiel wie Emmerich Kálmáns „Die Herzogin von Chicago" (1928). Erste amerikanische Elemente finden sich freilich andeutungsweise bereits in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in den Werken der Ungarn Jenö Huszka (1875-1960) oder des in Amerika jung verstorbenen Freundes von Kálmán, Viktor Jacobi (1883-1925). Auch soll in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, daß zu den ersten Musical-Produzenten in Amerika Komponisten aus dem Bereich der Monarchie zählten, die zu Hause nicht reüssierten, unter anderem der Budapester Jean Schwartz (1878-1956), Karl Hoschna (1877-1911) aus Böhmen, der Prager Rudolf Friml (1879-1972) oder der Ungar Sigmund Romberg (1887-1951)3. Sie konnten die zu Hause erlernte musikalisch-thematische Verschränkung von unterschiedlichen folkloren Elementen auf eine der Monarchie vergleichbare amerikanische Situation übertragen. Doch auch zwischen der europäischen Revue-Operette und der Operette der Monarchie bestand vom methodischen Gesichtspunkt aus betrachtet insofern eine Übereinstimmung, als die Revue-Operette musikalisch und inhaltlich nicht historisierend agierte, sondern die Gegenwart und nicht die Vergangenheit thematisierte. Die Operette nach 1918 unterstrich auch die Tendenz, die sozial-politische Realität des Alltags vergessen zu machen. Dies ist zwar im Bereich des Unterhaltungstheaters und daher auch der Operette nichts Neues, doch wußten sich gerade die autoritären und totalitären politischen Systeme der Zwischenkriegszeit diese Absicht, die das Unterhaltungstheater ja stets latent beinhaltet hatte, bewußt zunutze zu machen, um damit von den realen Gegebenheiten des politisch zunehmend reglementierten

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Alltags abzulenken bzw. Kritik und Unzufriedenheit durch eine ganz gezielt eingesetzte „heitere Stimmung" zu übertünchen oder im Reim zu ersticken. Die RevueOperette wurde zu einer sinnentleerten Ausstattungsoperette, die nicht Ironie und Kritik der Gegenwart zum Ziele hatte, sondern die realen Zustände der Gegenwart einfach vergessen machen sollte.

„Traurige" Operetten? Weiters möchte ich auf einen Operettentypus aufmerksam machen, der seit dem Zerfall des Vielvölkerstaates ganz besonders in manchen Werken von Franz Lehár nachweisbar ist: Es ist dies die traurige Operette, die man als solche fast als eine Anti-Operette bezeichnen könnte. Dezsö Kosztolányi umschrieb dieses Phänomen im Jahre 1921 mit folgenden Worten: „Heute gibt es bereits traurige Operetten. Ganz im Gegenteil, es scheint so, als ob nur mehr traurige Operetten beliebt wären. Die heiteren, jene Waren einer vergangenen Mode, fallen der Reihe nach durch, zu Hause ebenso wie im Ausland . . . Einst gab es rote Operetten, mit von wilder Liebe flammenden Farben und buntem Lärm. Dann kamen weiße auf den Spielplan, in die man zuweilen auch junge Mädchen, an Sonntagnachmittagen, einladen konnte. Heute sind schwarze Operetten in Mode, mit Trauerflor und Zypressen, mit herzergreifenden Todesszenen und verführerischem Mondschein hinter den Wolken, mit traurigen und unlösbaren Problemen." 4 Mit dieser treffenden Charakterisierung konfrontierte der bekannte ungarische Dichter und Schriftsteller die Öffentlichkeit mit einer Erscheinung, die nach 1918 zwar nicht ganz neu war, nun aber deutlicher und akzentuierter hervortrat. Neben den Revue-Operetten, die sich wachsender Beliebtheit erfreuten und die der zunehmenden Schnelllebigkeit der zwanziger und dreißiger Jahre entsprochen haben mochten, komponierte Lehár zunehmend nach Textvorlagen, die großen Opernwerken nachempfunden

„Traurige" Operetten?

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waren: ohne märchenhaftes Happy-End, wie es Operetten ursprünglich eigen war, ohne Ironie und Persiflage, sondern ernst und mit tragischem Ausgang. Der Widerspruch, der sich in diesem Operettentypus vorfand, lag darin, daß die musikalische Faktur Lehárs - war es ein Zugeständnis an sein Publikum? - sich trotzdem von der Leichtigkeit der Melodienführimg und Instrumentation seiner früheren Werke nicht loszulösen vermochte, daß er die musikalische Perfektion seines Vorbilds Giacomo Puccini ebenso wenig erreichte, wie die „Operetten" des letzteren: „La fanciulla del West" (1910) oder „La Rondine" (1917) an die Lehársche Operetten-Perfektion und -Leichtigkeit heranreichten. Die neue Lehársche Stilrichtung mochte ihre Ursache auch darin gehabt haben, daß Lehár seit seinem Erstlingswerk „Kukuschka" (1896) im Grunde genommen sich immer danach gesehnt hatte, ernste Musik zu schreiben, um mit ihr die großen Opernbühnen der Welt zu erobern. Wäre es möglich, daß, nachdem er unmittelbar nach 1900 an der Produktion der klassischen Operette der Wiener Moderne ganz maßgeblich mitbeteiligt gewesen war, nach 1918 seine Versuche, eine „seriöse" Operette zu schaffen, vielleicht auch damit etwas zu tun haben mochten, daß ihm nun nicht nur seine eigentliche Rezipientenschicht, das großstädtische Publikum der Monarchie und Wiens, abhanden gekommen zu sein schien, sondern daß mit dem Untergang der Monarchie auch jenes Bindeglied verlorengegangen war, das die kulturelle Vielfalt zusammengehalten hatte, aus welcher Lehárs musikalischer Melodienreichtum stammte? Die großen Verzichtsoperetten „Friederike" (1928) oder „Das Land des Lächelns" (1929), eine Umarbeitung der „Gelben Jacke" (1923), thematisierten im Grunde genommen die als tragisch empfundene Unvereinbarkeit von differenten gesellschaftlichen und ethnisch-kulturellen Positionen. Gerade „Das Land des Lächelns" könnte jedoch nicht nur in diesem Sinne, sondern darüber hinaus noch immer auch als „Monarchieoperette" apostrophiert werden, wobei die regionale Vielfalt hier bloß auf die europäisch-chinesi-

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sehe Ebene transponiert wurde und das tragische Unvermögen, zwischen diesen unüberbrückbaren Gegensätzen zu vermitteln, vielleicht unbewußt das endgültige Scheitern des in der Monarchie versuchten Ausgleichs zwischen der Diversität ethnisch-kultureller Vielfalt reflektierte. Das bekannte, resignative Motto des „Immer nur lächeln und immer vergnügt, immer zufrieden, wie's immer sich fügt"5 - repräsentiert es nicht auf einer anderen Ebene jene „österreichische" Mentalität des „glücklich ist, wer vergißt", die, wie ich versucht habe darzustellen, gerade auch der ethnisch und kulturell heterogenen Situation entsprach?

Operette und kulturelle Identität Die Wiener Operette der Jahrhundertwende blieb auch nach 1918, trotz der zunehmenden nostalgisch-kitschigen Aufführungspraxis, immer noch ein Ort des kulturellen Gedächtnisses, der ebenso wie die Literatur oder die Kunst aus vergangenen Jahrhunderten bzw. der Zeit der Wiener Moderne ein Arsenal von Inhalten in sich zu vereinigen wußte, die in den zwanziger Jahren, nach dem „Zerfall Österreichs mit seiner Geschichte", als jedoch „die Oberfläche des Lebens bald nach dem Kriege wieder glatt und soigniert" zu sein schien - wie Heimito von Doderer 1946 befunden hatte6 -, für das Bewußtsein von Individuen und sozialen Gruppen bestimmend geblieben ist. Aber auch zahlreiche Operetten-Neuschöpfungen der zwanziger und der dreißiger Jahre, solche von Komponisten wie Emmerich Kálmán, Leo Fall, Oscar Straus, Ralph Benatzky oder Robert Stolz, trotz der ihnen oft eigenen musikalischen Sentimentalität und der Banalität ihrer literarischen Vorgaben, bezogen sich immer wieder auf jene Multiethnizität und Multikulturalität, die sich nach 1918, zumindest in ihren politischen Rahmenbedingungen, aufgelöst zu haben schien. War aber auch die Wiener Moderne nun endgültig zu Ende gegangen, zu einer kulturgeschichtlichen Epoche geworden, oder waren ihre

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eigentlichen, bestimmenden Kriterien in Form einer „longue durée" weiterhin wirksam? Sowohl Kontinuitäten in der Kunst, in der Literatur wie bei Schnitzler, Broch, Musil, als auch in der ernsten Musik, zum Beispiel in der Zweiten Wiener Schule, legen die letztere Vermutung ebenso nahe wie nachträgliche kulturtheoretische Betrachtungen, die in der Wiener Moderne bereits eine Antizipation von postmodernen Befindlichkeiten, von der Fragmentiertheit des Bewußtseins und folglich von der Mehrdeutigkeit von Aussagen zu orten vermeinen und damit auf die inneren Zusammenhänge zwischen Moderne und Postmoderne aufmerksam machen. Einer von ihnen ist der französische Philosoph Jean-François Lyotard, der dies in seinem bahnbrechenden Werk „Das postmoderne Wissen" mit folgenden Worten umschrieben hat: „Dies ist der Pessimismus, der die Generation der Jahrhundertwende in Wien genährt hat: die Künstler Musil, Kraus, Hofmannsthal, Loos, Schönberg, Broch, aber auch die Philosophen Mach und Wittgenstein. Sie haben ohne Zweifel das Bewußtsein wie die theoretische und künstlerische Verantwortung der Delegitimierung so weit wie möglich ausgedehnt. Man kann heute sagen, daß diese Trauerarbeit abgeschlossen ist. Sie muß nicht wieder begonnen werden. Es war die Stärke Wittgensteins, daß er dem nicht auf die Seite des Positivismus entwich, den der Wiener Kreis entwickelte, und daß er in seiner Untersuchung der Sprachspiele die Perspektive einer anderen Art von Legitimierung als die der Performativität entwarf. Mit ihr hat die postmoderne Welt zu tun." 7 Dennoch schienen vor allem die veränderten sozio-politischen Konditionen, das Überhandnehmen von holistischen gesellschaftlichen und politischen Programmen, die, wie die Faschismen, die Grundtendenz der Moderne, nämlich die ihr zugrundeliegende akzelerierte Differenziertheit beseitigen wollten, der Rezeption von künstlerischen Bewußtseinsäußerungen, die gerade diese Differenziertheit zum Ausdruck brachten, nicht gerade entgegengekommen zu sein. Die Auseinandersetzung mit seiner Musik gestaltete sich schon zu Lebzeiten Gustav

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Mahlers immer schwieriger; er hatte, wie er dem Musikkritiker Josef Reitler andeutete, „manchmal die Empfindung, daß ich ,meine Zeit' nicht erleben werde", und er wünschte sich daher, wie er einem seiner Briefe aus dem Jahre 1904 an Alma anvertraute: „0, könnt ich meine Symphonien fünfzig Jahre nach meinem Tode uraufführen." 8 Die eigentliche Neubewertimg von Mahlers Musik zu Beginn der sechziger Jahre oder die Neurezeption der Wiener Moderne in den Jahrzehnten nach 1945 dürfte dies zur Genüge bestätigen. Auch die Wiederentdeckung oder die Neubewertung des Genres Operette seit den achtziger Jahren, vornehmlich der Wiener Operette der Zeit um 1900, dürfte nicht nur ein Indiz sein für die Wertschätzung für manche ihrer musikalisch-thematischen Aussagen, sondern ebenso als ein Beleg für die Aktualität eines bereits totgesagten, historischen Genres angesehen werden: Ist doch die Wiener Operette ein Kunstprodukt, aus der sich der Kontext einer Zeit unmittelbar zu erschließen vermag. Darüber hinaus ist sie Teil eines kulturellen Textes, welcher, in der ihm eigenen Art, auf Mentalitätszusammenhänge aufmerksam zu machen vermag, die in ihrer Komplexität nicht nur in Österreich und nicht nur in der zentraleuropäischen Region vorhanden zu sein scheinen, sondern von einer umfassenderen, gerade in der Gegenwart ganz allgemeinen Relevanz geworden sind. Somit impliziert auch eine Analyse des Genres Operette nicht nur den Zugang zu einem vergangenen, komplexen kulturellen System, sie vermag den Bogen bis in die Gegenwart zu spannen und erleichtert uns vielleicht gleichermaßen das Verständnis für eine nicht unwesentliche Facette unserer eigenen multipolaren Identität.

Anmerkungen

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Namenregister Ábrahám, Paul 295 Adorno, Theodor W. 17, 18, 22, 23, 27, 30, 36, 37, 135, 162, 303 Ady, Endre 47,60,71,105,132, 162, 303 Allaga, Géza 46, 60 Amiel, Henri-Frédéric 141 Anderson, Benedict 176, 221, 238, 262, 303 Andrássy, Julius Graf 80 Andreas-Salomé, Lou 128, 162, 303 Andrian, Leopold von 92, 146, 186, 195, 221,311 Andrian-Werburg, Viktor von 182 Antropp, Theodor 126,162, 303 Aristophanes 100 Ascher, Leo 282 Bach, David Josef 281, 289, 313 Bahr, Hermann 9,11,49,51, 52,60,70, 76,92, 106,110, 123, 134, 138, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 152, 153, 163, 165, 183, 184, 215, 221, 224, 303 Balázs, Béla 215 Barrès, Maurice 141 Bartók, Béla 104,168,208,220, 224, 267, 303, 304 Baudelaire, Charles 133,136, 147, 273, 275, 289, 304 Bauer, Otto 198, 200 Bäuerle, Adolf 114,123 Bauernfeld, Ferdinand von 68, 105, 175, 220, 265, 287, 304 Bauman, Zygmunt 217,225, 263, 304 Beethoven, Ludwig van 159, 208, 240

Beller, Steven 211,212,214, 224, 304 Benatzky, Ralph 293,298 Bendix, Reinhard 136 Benjamin, Walter 51, 61,162, 273,274,288,289, 304, 305, 309 Berg, Alban 281 Berger, Alfred von 77, 106, 305 Berio, Luciano 285,290, 309 Berlin, Isaiah 192,222, 305 Bernhard, Thomas 116 Bismarck, Fürst Otto ν. 183,185 Bizer, Ernst 51 Bizet, George 31, 161 Blumauer, Alois 116,117 Bodi, Leslie 52, 61,105, 116, 124,183,185,221,305 Bollenbeck, Georg 182, 221, 305 Borovszky, Samuel 83, 106, 305 Botstein, Leon 214, 224, 305 Bourget, Paul 133, 137, 141,162 Brandi, Karl 51 Breitkopf und Härtel, Musikverlag 278 Brion, Julius 219 Broch, Hermann 32, 33, 34, 37, 158,299, 306 Bródy, Sándor 39 Bruckner, Anton 280 Burckhard, Max 138,163 Capelinus, Ambrosius 178 Certeau, Michel de 162, 227, 306 Chartier, Roger 19, 36, 306 Clyne, Michael 183, 221, 306 Collini, Stefan 13,14, 306 Corvinus, Matthias 171 Csaplovics, Johann 177 Czikann, Johann Jakob 194

324 D'Annunzio, Gabriele 105, 137, 141, 162 Dahlhaus, Carl 34, 36, 37,224, 307 Deschamps, Gaston 138, 163, 307 Dittersdorf, Karl Ditters von 117 Dopsch, Alfred 203 Dörmann, Felix 147,148,156, 157, 164, 166, 209, 320 Dumas, Alexandre 276, 277 Durkheim, Emile 135 Dvorák, Antonin 269 Ebner-Eschenbach, Marie von 145 Ehrenfels, Christian von 259 Engels, Friedrich 274, 288 Eötvös, Joseph von 174,180, 220, 230, 257, 258, 308 Eysler, Edmund 164,209,282 Fabricius von Sziksza, Blasius (Balázs) 178,308 Fall, Leo 31, 62, 127, 156,164, 209, 271, 298 Faludi, Ferenc 49, 61, 308 Feld, Leo 148 Ferdinand I. 171 Flaubert, Gustave 24, 36, 308 Foucault, Michel 251,253, 262, 308 Franz II. (I.), Römisch-Deutscher Kaiser, seit 1804 Kaiser von Österreich 86, 194 Freud, Sigmund 43, 112, 113, 118, 119, 120, 122, 123, 124, 130, 142, 145, 162, 224, 258, 308, 309, 317, 322 Frey, Stefan 16, 36, 308 Friedell, Egon 3 1 , 3 2 , 3 7 , 3 0 8 Friedrich III. 50 FrimI, Rudolf 295 Fuöik, Julius 268

Namenregister Gardiner, John Eliot 12 Gáspár, Imre 177 Gautier, Théophile 133,137, 162 Gautsch, Paul, Freiherr von 99 Gay, Peter 118,123,124,214, 215, 224, 308, 309 Geertz, Clifford 228,246,262, 309 Genée, Richard 106,123,125, 279, 280, 320 Girardi, Alexander 70,165 Glanz, Christian 107, 218, 309 Gluck, Christoph Willibald 160 Goethe, Johann Wolfgang von 31 Goluchowski, Agenor Graf 90 Gomperz, Theodor 145 Gracian, Baldasar 48,49, 50, 60, 309 Gräffer, Franz 194 Granichstaedten, Brano 282 Grassi, Wolfgang 259,263, 310 Greenblatt, Stephen 253,263, 310 Greiner, Ulrich 116, 124, 310 Grillparzer, Franz 58,194 Großmann 281 Grün, Anastasius 182 Grünwald, Alfred 301, 312 Grun, Bernhard 16, 35,164, 287, 288, 289, 310 Gumplowicz, Ludwig 203,215, 258 Hadamowsky, Franz 16,35,288, 310 Hanisch, Ernst 5 0 , 5 1 , 6 1 , 3 1 1 Hanslick, Eduard 107,126, 158, 311 Harnoncourt, Nikolaus 11,12 Härtel (s. Breitkopf) Hasel 280 Hassert, Kurt 92

325

Namenregister Hauser, Arnold 34, 37,105, 106, 311 Hearn, Lafcadio 42 Heckenast, Gustav 178 Heine, Heinrich 115 Heltai, Jenö 39, 148, 157 Herczeg, Ferenc 39, 58,157, 311 Hervé, Florimond Ronger 47, 68 Herzl, Theodor 39, 148, 164, 311 Heuberger, Richard 129, 149, 162, 164, 280,511 Hevesi, Ludwig 215 Hirschfeld, Victor 148 Hitler, Adolf 119 Hobsbawm, Eric J. 102,103, 108, 154, 165, 237, 242, 243, 244, 262, 311 Hofmannsthal, Hugo von 37, 42, 43, 51, 52, 58, 64, 69, 73, 105, 107,129,137,141, 143, 144, 145, 146, 148, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 166, 186, 187, 195, 201,202,221, 222,223, 299, 306,311,314, 320 Hormayr, Josef von 193,203 Hörnigk, Philipp Wilhelm von 170,220,311 Hornyánszky, Victor 203 Hoschna, Karl 295 Huszka, Jenö 58, 71,295 Ibsen, Henrik 141 Ilg, Albert 143, 163, 312 Jacob, Heinrich Eduard 127, 162, 312 Jacobi, Viktor 58,295 Jacobson, Leopold 156,164, 166, 320 Jakobi, Jakob (Jakab) 46, 60 Jászi, Oszkár 198, 200,223, 258, 310, 312

Jókai, Maurus 83, 85, 86, 87, 103,272,288,312 Joseph, Erzherzog 86 Joseph, Palatin 86 Kacsóh, Pongrác 104 Kaíka, Eduard Michael 148 Kálmán, Emmerich 15,22, 35, 36, 58,104,209,215,219,240, 280,282, 293,295,298, 301, 305,312,317 Kaltenbaeck, Johann Paul 194 Karezag, Wilhelm 72 Karl der Große 240 Karl VI. 87 Karlweis, Carl 148 Karpath, Ludwig 158 Kassner, Rudolf 43 Kauer, Ferdinand 117 Kéler, Béla 268 Keller, Otto 16, 35, 313 Kessler-Harris, Alice 261, 263, 313 Khnopff, Fernand 142 Klein, Heinrich 207, 223 Klimt, Gustav 142 Klotz, Volker 16, 35,110, 111, 123,313 Klügl, Michael 16,36,289,313 Kodály, Zoltán 104, 267 Kokoschka, Oskar 190 Kompert, Leopold 74 Komzák, Karl 268, 269,281 Konti, Josef (Józsel) 46, 60 Korngold, Erich Wolfgang 158, 280 Koselleck, Reinhard 257,263, 313 Kossuth, Ludwig 86 Kosztolányi, Dezsö 36,296, 301,313 Kozma, Andor 150 Kracauer, Siegfried 32, 34, 37, 162, 273,274,288, 309, 313 Kraus, Karl 29,30,31,37,54,

326 106, 116, 119, 149, 155, 157, 158, 162, 164, 166, 299, 513, 314 Kiirnberger, Ferdinand 74, 106, 115, 314 Lanner, Josef 2 0 , 2 7 8 Le Goff, Jacques 162, 222, 227, 228, 262, 306, 314 Le Rider, Jacques 140,163, 214, 222, 273, 288, 307, 314 Lecocq, Alexandre Charles 31 Lehár, Franz 16,23, 36, 37, 62, 63, 71, 72, 89, 95, 104,106, 107, 119, 126, 127, 129, 133, 147, 149, 151, 156, 157, 159, 160, 164, 165, 166, 212, 219, 220, 225, 240, 268, 269, 270, 280, 281, 282, 283, 284, 287, 289, 295, 296, 297, 301, 308, 310, 314, 315, 318 Lenau, Nikolaus 84 Léon, Victor 92, 95, 119,129, 147, 148, 149, 151, 156, 164, 209, 219, 301, 314 Leopardi, Giacomo, Graf 137 Lévi-Strauss, Claude 233, 234, 235, 242, 262, 315 Lewy, Gustav 278 Lhotsky, Alphons 50, 61,223, 315 Unke, Norbert 21, 36, 123, 269, 279, 283, 287, 288, 289, 290, 315 Liszt, Franz 84, 240, 280 Loderecker, Peter 1 7 8 , 2 2 1 , 3 1 5 Loos, Adolf 142, 299 Lortz, Joseph 51 Lothar, Rudolf 68, 105 Ludwig II., König 171 Lueger, Karl 119,216 Lukács, Georg 34,137,163,215 Luschin-Ebengreuth, Arnold von 203

Namenregister Lyotard, Jean-François 301, 315

299,

Mach, Ernst 107, 145, 258, 299, 315 Mahler, Alma 23, 24, 36,158, 160, 166, 281, 282, 300, 315, 316 Mahler, Gustav 23, 24, 36, 143, 157, 214, 271, 299, 300, 301, 315 Maria Theresia 79, 87 Márton, Joseph 178,221,316 Márton, Stephan 178 Marx, Karl 135,274 Masaryk, Thomas G. 200, 223, 313 Mátrai, László 35, 37, 106, 316 Mauthner, Fritz 219, 258 Meilhac, Henri 106, 123, 148, 320 Metternich, Fürst Clemens 196 Michel, Robert 92 Mill, John Stuart 145 Millöcker, Carl 62, 63, 65, 78, 165, 269, 271 Molnár, Franz (Ferenc) 39, 58 Moore, Barrington 136 Mortier, Α. 148 Mortier, Roland 148, 222, 307 Mozart, Wolfgang Amadeus 208 Müller, Adolf 148 Müller, Wenzel 117 Musil, Robert 6 1 , 1 1 6 , 1 4 2 , 163, 195, 199, 202, 222, 223, 299, 316 Mussorkskij, Modest 280 Napoleon III. 35 Nestroy, Johann 32, 33, 39, 45, 4 6 , 4 8 , 58, 71, 116 Neumann, Karl Eugen 43 Nietzsche, Friedrich 10,14,31, 37,161, 166,215,316 Nitsch, Karl Daniel 207, 223

527

Namenregister Offenbach, Jacques 15, 24, 29, 50, 51, 32, 55, 34, 35, 37, 45, 46, 47,58,59,64,66,89,94,117,137, 155,167,220,266,275,288,295, 512, 313,318 Opitz, Martin 51 Oring, E. L. 118, 119, 124, 317 Otte, Heinz 16,55,288,510 Palacky, Frantiseli 77, 198, 222, 257,258, 517 Parsons, Talcott 155, 136 Petrowitsch-Njegosch, Danilo I. 93 Petrowitsch-Njegosch, Nikola 93 Pezzi, Johann 265, 287, 317 Piccini, Niccolò 160 Pilât, Joseph Anton 194 Polányi, Karl 215 Popovici, Aurel 198,200,258 Popper-Lynkeus, Josef 145 Premysl, Ottokar 171 Puccini, Giacomo 297 Raimann, Rudolf 282 Raimund, Ferdinand 33, 39 Rákosi, Jenö 39 Reinhardt, Heinrich 101 Reinhardt, Max 51,52,282 Reitler, Josef 500, 501 Rembrandt, H. 277 Renner, Karl 55, 56,198, 200, 225, 258, 510 Reznicek, Emil Nikolaus von 268 Rieger, Erwin 15, 518 Romano, Ruggiero 144,163,518 Romberg, Sigmund 295 Roth, Joseph 201,202,214,223, 318 Rottenburg, Franz Johannes von 184 Rubens, Peter Paul 277 Rudolf, Erzherzog Kronprinz 96

Runti, Carlo

16, 35, 318

Saar, Ferdinand von 49, 60,145, 518 Saiten, Felix 94,147,148, 150, 157, 165 Saphir, Moritz Gottlieb 114, 115,125,518 Sartori, Franz 194 Schaukai, Richard von 275, 289, 518 Schedius, Ludwig 179, 221, 522 Schlegel, Friedrich 194 Schmeltzl, Wolfgang 190, 222, 518 Schnitzer, Ignaz 85, 86,105, 272,288 Schnitzler, Arthur 82, 99,107, 148,157,164,214,299,511, 518 Schönberg, Arnold 158,159, 157,163,280, 281,282,289, 299,311,320, 322 Schönerer, Alexandrine von 148 Schönherr, Max 281, 282, 287, 289, 318, 319 Schopenhauer, Arthur 48, 49, 50, 54, 60, 309, 519 Schorske, Carl E. 57,214,217, 224, 510, 519 Schubert, Franz 20,208 Schütz, Alfred 228, 262, 319 Schwara, Desanka 117,124, 319 Schwartner, Martin 84, 106, 519 Schwartz, Jean 295 Schwarzkopf, Gustav 148 Seneca, Lucius A. 49, 60 Servaes, Franz 145, 146, 165, 519 Shakespeare, William 254 Sickel, Theodor von 185

328 Silbermann, Alphons 118,124, 319 Simmel, Georg 135,151,162, 309, 319 Smetana, Bedrich 269 Smith, Barry 259,263,310 Sonnenfels, Joseph von 77 Speer, Daniel 168 Stein, Fritz 284, 289, 319 Steininger 284 Stephanie der Jüngere 117 Stifter, Adalbert 55, 84, 85,106, 194, 320 Stolz, Robert 298 Stourzh, Gerald 196, 222,223, 320 Straus, Oscar 31, 62, 72, 127, 148, 156, 157, 160, 164, 166, 209, 271, 282, 298, 320 Strauß-Dynastie 20 Strauß, Johann 14, 30, 31, 33, 37,48, 50, 61, 62, 63, 65, 70, 78, 80, 89, 106, 107,112, 123, 125, 126, 127, 148, 164, 220, 266, 267, 269, 271, 272, 278, 279, 280, 287, 288, 289, 307, 315, 317, 318, 320 Strauß, Johann, Sohn 62, 278, 284 Strauß, Johann, Vater 21,278 Strauss, Richard 159,160,161, 166, 320 Sullivan, Arthur 33 Suppé, Franz von 46, 60, 62, 63, 65,78, 117,269, 271 Suttner, Bertha von 82 Szécsen, Anton 55, 56, 61, 320 Szigligeti, Josef (József) 46, 59 Szomory, Dezsö 39

Namenregister Tardieu, Émile 274,288, 321 Thun, Leo Graf 184 Thum, Hans Peter 229,230, 262, 321 Tocqueville, Alexis de 174 Tomek, Václav V. 203, 204 TVaubner, Richard 16, 35, 164, 321 Vattimo, Gianni 191 Verdi, Giuseppe 60, 159 Voltaire, Françoi M. 31, 145 Vörösmarty, Mihály 84 Wagner, Otto 137,143,163, 321 Wagner, Richard 31,161,183, 281,282 Webern, Anton von 281 Weigel, Hans 58, 321 Werfel, Franz 51, 158, 201 White, Hayden 253,263, 321, 322 Wittgenstein, Ludwig 263,299, 310 Zajc (Zayc, Zaytz), Ivan (Giovanni) von 46,59,60,288, 308 Zemlinsky, Alexander von 158, 219,281,282,289,311 Zepler, Bogumil 281 Ziehrer, Carl Michael 267, 280, 282 Zola, Emile 15 Zuckerkandl, Bertha 70, 105, 158,287, 322 Zweig, Stefan 130, 143, 162, 195,201,209,214,224,322