Häuser unter Beobachtung: Texte über Wahrnehmungen 9783110546873, 9783110546675

Raum und Wirklichkeit František Lesák erhielt seine künstlerische Ausbildung in Prag und in Wien. Stipendienaufenthalt

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German Pages 248 Year 2017

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Inhalt
Notizen zu eigenen Arbeiten
Porträtieren als Tätigkeitsbeschreibung
Über Formursachen
Überlegungen zum Raum
Editorische Anmerkungen
Abbildungsverzeichnis
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Häuser unter Beobachtung: Texte über Wahrnehmungen
 9783110546873, 9783110546675

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Häuser unter Beobachtung

František Lesák

Häuser unter Beobachtung Texte zu Wahrnehmung und Beschreibung

DE GRUYTER

Inhalt

Notizen zu eigenen Arbeiten 9

Notizen zum Erlebnis Sand

11

Zu den Großen Stilleben

15

„Ich male was ich sehe.“ − „Ich sehe was ich weiß.“

31

Vom Halbleeren zum Halbvollen

47

Texttreue

63

Struktur als Autorität

73

Farbenlehre

77

Präzision als Tugend, als Notwendigkeit und als Selbstzweck

Porträtieren als Tätigkeitsbeschreibung 97

Mit einem dicken Stift einen feinen Strich ziehen

105

Kartenansichten eines Vielreisenden

111

Ein visueller Rhetoriker

Über Formursachen 119

Wo lassen Sie nähen?

125

Norm, Freiheit und Kompromiß

129

Vorstellen, Darstellen, Herstellen

139

Beobachten und berichten

Überlegungen zum Raum 153

Todeswand − voll Leben!

159

Räume und Räumchen

171

Vermessung der Räume mittels Licht

181

Nahverkehr und Fernverkehr. Zwei Reisevarianten

193

Häuser unter Beobachtung

205

Befehlsräume. Über die Einsamkeit eines Massenturners

233

Raumdeutsch

242

Editorische Anmerkungen

247

Abbildungsverzeichnis

Notizen zu eigenen Arbeiten

Notizen zum Erlebnis Sand

Das ursprüngliche Ziel der Aktion Sand war von rein visuell-ästhetischer Bedeutung. Es war beabsichtigt, die Bewegungssequenzen mit der Kamera festzuhalten. Weitere Reflexionen über das Erlebnis Sand wurden durch die unvorhergesehenen psychischen und physischen Anspannungen verursacht. Ich versuchte, die Erlebnisse (Angst) rational zu verstehen, das Erlebnis Sand als Raumerfahrung zu verstehen. Raum als Funktion meines Körpers verstanden. Raum konstituiert sich durch die physische Erfahrung der Materie, die den Körper umgibt − Raum wird durch den Körper erfahren. Grunderfahrungen wie Druck, Hitze, Wärme, Kälte und Atemnot überraschten mich und evozierten bedrohliche klaustrophobische Kindheitserinnerungen. Die Zeichnungen vervollständigen die Fotoserie. Sie möchten die physischen Erlebnisse präzisieren.

9

Zu den Großen Stilleben

Die Zeichnungen sind Mitteilungen über die Form und Lage der Dinge. Sie beschreiben bestimmte Objekte bestimmte Ereignisse Sie sind Schilderung und Aufzählung (Schilderung der Form, Aufzählung der Menge). Die ganze Zeichnung besteht aus einfachen Tatsachen. Zahlreiche Ereignisse sind in einem Block vereint. Einzelne Details sind kurzgefaßte Informationen über die Erscheinungsform der einzelnen Dinge. Das Gesamte ist eine Subsumierung zahlreicher Einzelereignisse, wenn man unter Ereignis auch ein passives Verharren der Gegenstände zueinander verstehen will (Relation als Ereignis). Es ist eine korrekte Beschreibung eines Sachverhalts. Die Zeichnungen sind visuelle Aussagen über etwas Zeitliches, über etwas, das sich über längere Zeiträume erstreckt hat. Sie sind Aufzeichnung des Vorher, des Inzwischen und des Nachher. (Die Zeit ist ein Maßstab dessen, was war, ist und sein wird. Sie ist eine künstliche Einteilung in das, was vorher war und was nachher wurde.) Der sukzessive Prozeß der Aufzeichnung ist durch den Verlauf der aufgezeichneten Wirklichkeit bedingt, durch den alltäglichen Gebrauch der Gegenstände, die beschrieben werden. Daher ist das Endresultat durch die abgebildete Realität (und ihre mediale Umsetzung) bedingt. Die zu beschreibenden Objekte und Situationen sind in ein geometrisches Modell eingebettet.

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Die Gesetze der deskriptiven Geometrie ermöglichen es, die Form und die Lage des Gegenstands im Raum zu bestimmen. Exaktheit als Ideal? Nur insoweit man über die Grenzen der „genauen“ Aufzeichnung Bescheid weiß. Die Beobachtungsgenauigkeit wird durch Definitionsgenauigkeit ersetzt, wenn man hier unter Definition die Reduktion der optischen Form des Gegenstands und die Möglichkeit ihrer genauen Aufzeichnung versteht. Informationsgenauigkeit ist dadurch garantiert, daß die verwendete geometrische Methode der Beschreibung eine Quantifizierung, eine Mathematisierung ermöglicht. Aus der Gesamtsituation ist eine Rekonstruktion des sukzessiven Entstehungsprozesses unmöglich. Es ist die Geometrie, die den Anschein der Objektivität ergibt. Axiome der Geometrie haben ihre Glaubwürdigkeit durch ihre Evidenz gewonnen. Realität wird durch konventionelle Festsetzungen meßbar gemacht. Die Meßbarkeit hat die Funktion der Glaubhaftigkeit. Eines der Merkmale einer abbildenden Zeichnung ist ihre Anschaulichkeit, eine möglichst genaue Wiedergabe der Realität. Es lag mir sehr daran, die Ambivalenz folgenden Vorgangs in den Zeichnungen deutlich zu machen: einerseits stets die Anschaulichkeit jedes Details anzustreben, andererseits − in der Summe − sie zu verweigern. Die selbstauferlegte Anstrengung, die absichtlich aufgebürdete Aufgabe, die Verläßlichkeit der Beschreibung unter allen Umständen beizubehalten, wird genauso vorsätzlich zunichte gemacht, wenn sie auch nicht ganz aufgehoben ist. Denn einmal investierte Leistung, einmal aufgebrachte Energie ist anwesend, obschon unter der Oberfläche verdeckt.

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„lch male was ich sehe.“ – „Ich sehe was ich weiß.“

In den Sommermonaten der Jahre 1884 bis 1886 malte Claude Monet in Giverny die ersten Heuhaufen-Bilder, die man zu den Vorläufern der großen Serie seiner Getreideschober-Bilder rechnet. Drei davon befinden sich in öffentlichen Sammlungen: im Puschkin-Museum in Moskau, in der Eremitage in Leningrad und im Museum of Fine Arts, Boston. Die anderen sind auf private Sammlungen in Frankreich, USA und Japan verteilt.1 Auf diese Bilder bezog ich mich, als ich 1985 eine Rauminstallation mit dem Titel Morgen–Mittag–Abend konzipierte, die eine Aufstellung von Plastiken in Form von Monet’schen Heuhaufen in den Galerieräumen vorsah. Parallel zu der praktischen Arbeit im Atelier entwickelte ich auch den ohnehin zu bearbeitenden theoretischen Teil. Das Ergebnis mündet in die Skizze, die das Problem der Wahrnehmung und der Darstellung sowie den Unterschied zwischen dem Gesehenen und dem Gewußten zum Inhalt hat. Dem wohl bekanntesten Ausspruch von Monet „Ich male nur was ich sehe“, stelle ich meine viel besser abgesicherte Position gegenüber: „Ich sehe nur was ich weiß“. Des weiteren gehe ich auf das Problem des Herausholens vom Bildmotiv aus der Bildfläche in den Raum ein und zeige, wie die Suche nach der Ergänzung des Nichtabgebildeten durch das Gewußte und durch das Vermutete vor sich ging. Es soll sich dabei herausstellen, wo das kunstgeschichtliche Wissen die primäre Quelle für die Erschließung des Bildes gewesen ist und wo ich bei der Suche nach Auskünften, z. B. von der Wahrnehmungstheorie, besser versorgt wurde. Eines der für die Rekonstruktion verwendeten Bilder ist Meules, effet du soir aus dem Puschkin-Museum in Moskau.2 Das Bild mißt 65 × 81 cm, hat also die Normgröße Nr. 25 der Gruppe „figure“, eine

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Norm, nach der im französischen Fachgeschäft die vorgefertigten Leinwände sortiert werden. (Die anderen Formate sind die sogenannten „paysage“ und „marine“.) Drei horizontale Streifen dritteln das Bild in der Höhe. Das untere Drittel ist mit der Darstellung einer sonnenbeschienenen Wiese ausgefüllt. Ein dunkler Streifen deutet eine die ganze Bildbreite durchziehende Schattenzone an. Die schattenwerfenden Gegenstände sieht man zwar nicht, sie befinden sich außerhalb des Bildausschnitts, aber der Größe des Schattens nach wird es sich um eine Reihe von Bäumen handeln, wahrscheinlich Pappeln, denn eine zweite Reihe von Pappeln ist abgebildet. Diese Baumdraperie hängt von der Mitte des Himmelstreifens bis zum oberen Rand der Wiese herab. Sie ist dem mittleren Bilddrittel, auf dem nicht allzu weit entfernte Hügel abgebildet sind, so vorgehängt, daß man auf diese hindurchschauen kann. Der Bildausschnitt ist so gewählt, daß alle abgebildeten Gegenstände auf einer mit der Bildkante parallelen Waagrechten angeordnet sind, mit Ausnahme des nach links etwas abfallenden Hügelwalls. Die Wiese ist mit drei Heuhaufen besetzt, die drei Spitzen eines Dreiecks markieren. Der dem Betrachter nächste Haufen in der rechten Bildhälfte steht in der Schattenzone, während die zwei entfernteren im sonnenbeleuchteten Teil aufgestellt sind. Sie empfangen ein Licht, das seitlich von links strahlt. Diese Beleuchtungsrichtung wird vom Eigenschatten der angestrahlten Heuhaufen angezeigt. Die Tageszeit der Aufnahme ist als Abend leicht zu bestimmen: nach der genauen Lokalisierung des Ortes3 ist auch die Himmelsrichtung feststellbar. Mit der Richtung des einfallenden Lichts − hier Südwesten − ist die Phase des Tages, nämlich der Vorabend unschwer anzugeben. Ich wende jetzt den Blick von der Leinwand ab, um mir die Vorlage anzuschauen, nach der dieses Bild erstellt worden ist. Mit den Begriffen der ökologischen Wahrnehmungstheorie beschrieben, sehe ich folgendes: Die Bestandteile der Umwelt, die auf Monets Bild

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dargestellt ist, sind ineinander geschachtelte Einheiten;4 die physikalische Wirklichkeit hat ihre Struktur, die in den verschiedenen Größenbereichen wieder strukturiert ist. Im Kilometerbereich ist es hier die Gestalt der Erde, die durch die Hügel von Giverny bestimmt ist, im Meterbereich die Vertiefung, in der die Ru, ein Seitenarm der Epte fließt, sowie die Bäume, und im Millimeterbereich ist die Struktur durch Steinchen und Erdkrümel, aber auch durch Blätter und Grashalme der Weidefläche gegeben. Der Stoff, mit dem der Raum zwischen den festen Körpern gefüllt ist, wird als „Medium“ bezeichnet. Sein wichtiges Charakteristikum ist, daß er Licht nicht nur durchläßt. sondern daß das Licht in ihm auch widerscheint, d. h., mit enormer Geschwindigkeit zwischen Oberflächen hin und hereilt und dabei eine Art von Fließgleichgewicht erreicht.5 Diesem Zustand, den man Beleuchtung nennt, wird im Folgenden noch große Wichtigkeit beigemessen. Diesen sehr abgekürzt beschriebenen visuellen Sachverhalt sieht der malende (und nicht bloß sehende) Monet. Dem Ausspruch von Cézanne6 „Monet ist nur ein Auge, aber bei Gott, was für ein Auge!“, steht man von Anfang an mit Skepsis gegenüber. Denn dieses Auge wünschte sich, blind geboren zu sein, dann auf einmal sehend zu werden und die Dinge wie beim ersten Mal zu sehen.7 Das Monet’sche Auge, zum ersten Mal geöffnet, sieht nun Sachverhalte, die von diesem Moment an beschrieben werden wollen. Das Auge ist nicht nur ein in der Landschaft aufgestelltes Objektiv, das, an nichts Weiteres angeschlossen, nur einsam für sich die visuellen Erscheinungen registriert. Es ist ein Sinnesorgan, das die aufgenommenen Sinnesdaten weiterzugeben hat. Ein „Nur-Auge“ würde ohne Auswahl alles sehen. Auch wäre es ohne Gedächtnis und würde damit das so oft von vielen herbeigewünschte „unschuldige Auge“ sein, das die Welt ständig neu sieht.8 Monet sollte aber nicht nur die Unmöglichkeit bedauern, die Welt zum ersten Mal sehen zu können, sondern auch die Unmöglichkeit,

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alles das malen zu können, was er sieht. Sein Auge, das einem Malenden gehört, trifft von den visuellen Angeboten eine Auswahl. Es ist leicht sich vorzustellen, wie derselbe Landschaftsausschnitt von jemandem betrachtet wird, der malen will, und von jemandem, der dort, sagen wir, jagen will. Jeder von beiden wird es nach den Merkmalen absuchen, die im bestimmten Zusammenhang für ihn wichtig sind. Das Auge, das den Malenden informiert, trifft eine sehr begrenzte Wahl, denn nicht alles, was man sehen kann, kann man auch malen. Monets Ausspruch müßte also verkehrt werden und lauten: „Ich sehe nur was ich malen kann.“ Von alledem, was er malen könnte, muß er aber auf vieles verzichten, denn es wird ihm in der Kunst eine bestimmte Position zugewiesen und sein Interesse wird auf das gerichtet sein, was man um diese Zeit malen muß. Die Charakterisierung seiner Haltung sollte also nochmals umformuliert werden in: „Ich sehe nur was ich malen will!“ Die Erscheinungen, die er malerisch erfassen will, beobachtet er an „Oberflächen von Objekten im Gelände, die vom Licht kenntlich gemacht werden“.9 „Diese Ansammlung verschiedener Substanzen liegt teilweise im Licht, teilweise im Schatten. Die dem Licht zugewandten Flächen sind stärker beleuchtet als ihre Nachbarn. Durch charakteristische Verteilung der Reflexionsgrade an verschiedenen Oberflächen konstituieren sich verschiedene Farben.“10 Auf diese Weise, durch die Strukturierung des umgebenden Lichtes, erhält die natürliche Umwelt die Textur ihres Erscheinungsbildes. Auf der von Monet gewählten Aussicht ist die Landschaft mit Gegenständen vollgestellt, die eine Unzahl von Flächen mit unterschiedlicher Beleuchtung anbieten. So begünstigt er durch die Motivwahl das Eintreffen der erwarteten visuellen Angebote. Daß er gerade an diesen optischen Sensationen interessiert ist, geht aus seinen Aussagen hervor. Da ist die Rede von Erscheinungen, die das Licht überall erzeugt, von demselben Licht, das überall verteilt ist und

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dieselbe Wichtigkeit für das die Gegenstände Umgebende wie für das sie Umhüllende hat. Dem Gegenstand als solchem mißt er keine Bedeutung zu, es sind ausschließlich die Lichtphänomene unter verschiedenen atmosphärischen Bedingungen, die ihm wichtig sind, egal ob er diese an einem Heuhaufen oder an einer Frauenfigur beobachten kann.11 Ich hielt deshalb in Giverny Nachschau, um vor Ort festzustellen, was denn Monet eigentlich von dem sah, was es auch für jeden anderen Betrachter zu sehen gab. In der gleichen Kondition wie er, nämlich sehr wohl mit einem Wissen belastet, dem Wissen über das selektive, intentionale Sehen eines impressionistischen Malers, kann ich, am entsprechenden Beobachtungsort angelangt, mit der Beobachtung beginnen. Und gleichzeitig zu zweifeln beginnen. Soll man vielleicht annehmen, die Wahrnehmung würde unter idealen Bedingungen verlaufen, die für jedermann optimal gegeben sind und unter denen sich der Wahrnehmende wie ein Fisch im Wasser fühlt 12 (aber ist jeder Fisch überhaupt gleich dem anderen sinnlich optimal ausgestattet)? „Monet ist nur ein Auge, aber bei Gott, was für ein Auge“ − man hat hier die Vorstellung eines idealen Wahrnehmungsapparats. Es wird ihm aber „ein, seit Beginn seiner Malerlaufbahn starker Astigmatismus unterstellt, der ihn die Dinge der Wirklichkeit verschwommen habe wahrnehmen lassen“.13 Und ein eigener Beitrag des MonetSymposiums von 1981 war der Augenkrankheit des Künstlers gewidmet. Mit allen Diagnosen, Aufzählungen und Operationen der damit befaßten Ärzte, den nach den Operationen verwendeten Sehhilfen, mit der Beschreibung der nach der Operation erfolgten Sehstörungen und ihrer Auswirkung auf die Malerei.14 Man kann nicht davon ausgehen, daß jede Beobachtung auch bereits eine gelungene Beobachtung sein müßte. Monet war aus physiologischen Gründen kein idealer Rezipient, warum sollte ich

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annehmen, gerade ich würde ein solcher sein? Ich nehme das gar nicht erst an, doch werde ich mich auch nicht der Prozedur der Selbstwahrnehmung beim Beobachten unterziehen, um eventuelle Defizite meines Gesichtssinnes festzustellen. Ich finde mich damit ab, daß die Möglichkeit einer optimalen Beobachtung nicht gegeben ist und verkürze den Vergleichstest zwischen meiner und der Monet’schen Beobachtungsschärfe. Auf die Art der Beschreibung des Beobachteten kommt es schließlich an, darauf, welche Beweise der (relativen) Beobachtungsgenauigkeit gesammelt wurden. Aufgrund welcher Belege kann ich die von Monet angestrebte Wahrheit oder Genauigkeit überprüfen? Nach eigenen Worten ist sein Bestreben gewesen, den atmosphärischen Lichterscheinungen gerecht, wahr, wahrheitsgetreu zu sein. Oft spricht er von Genauigkeit, von seiner Bestrebung, vor dem Motiv äußerst genau sein zu wollen. Von der Vorlage − der Landschaft bei Giverny − kann ein Betrachter nur eines auf bestimmte Phänomene reduzierten Bildes gewahr werden. Dieses Wahrnehmungsschema beinhaltet einige typische Invarianten, für die der Maler einen Beschreibungscode sucht. Ein Darstellungsschema, in das er die Invarianten einbringen wird und anhand derer ein Betrachter die Vorlage wiedererkennen würde. Der Unterschied zwischen der Vorlage und ihrem Abbild wird besser in einer wahrnehmungstheoretischen als in einer kunsttheoretischen Formulierung charakterisiert: „Es ist unmöglich, ein Stück Umwelt zu kopieren. Es gibt keine buchstäbliche Wiedergabe einer früheren optischen Anordnung. Die Wiederdarbietung der ursprünglichen Reizsituation, ein Wiederaufprägen des alten Lichtenergiemusters auf der Retina ist unmöglich. Das Bild ist nicht die Imitation vergangenen Sehens. Was es aufzeichnet, registriert und festhält ist Information, sind nicht Sinnesdaten.“15 Diese elementare Erfahrung des Unterschieds zwischen Wirklichkeit und der abgebildeten Wirklichkeit wird Monet wie jeder andere gemacht haben. Er wird gewußt haben, daß er nur einen Bericht

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über das von ihm Wahrgenommene verfaßt hat. Und ich weiß, wenn ich in Giverny mit seinem Bild unterm Arm Nachschau halte, daß ich nur einen Bericht ablese, der eben „keine Imitation vergangenen Sehens ist, kein Ersatz für Zurückgehen und nochmals Anschauen“.16 So verstehe ich jetzt, daß die Beweise für die von ihm beteuerte Wahrheitstreue zwar vorm Motiv zu suchen sind, daß sie jedoch nur als Beweis für die Übereinstimmung dessen gelten sollten, was wir dort aus dem für uns beide Sichtbaren ausgewählt und für die Abbildung als geeignet befunden hätten. Der Rest der Überprüfung würde die Kunst der medialen Umsetzung betreffen. Die Art, wie aus dem geeigneten visuellen Angebot ein Bild wird, sieht nach der „Auge und Hand-Theorie“ so aus: „Betrachten des Modells, Erhalten des Bildes davon, Schauen auf die Bildfläche, Nachfahren der Umrisse des hinaus projizierten Bildes.“17 Da es aber nicht möglich ist, im selben Moment bewußt zu schauen und über das Beobachtete zu berichten, wird die Aufmerksamkeit bei der Beobachtung geteilt: zunächst zum gleichen Teil dem Vorbild wie dem Abbild zugewandt, wendet sie sich verstärkt der Kontrolle der Darstellung zu. Ein Abbild herzustellen, bedeutet eine neue Wirklichkeit zu konstituieren. Um die am Modell aufgenommenen Daten in einem Code zu erfassen, sind gewisse Techniken erforderlich und die damit verbundenen technischen Schwierigkeiten sind zu überwinden. Das Erlernen der Ausdruckstechniken, ihre Beherrschung und die Vervollkommnung in der Übung erzeugt bestimmte Manierismen und eine formalistische Handhabung der Mittel im Darstellungsschema des Abbildes. Ich ging bisher davon aus, daß der Künstler seine ganze Bemühung daran setzte, das aufzubewahren, was er wahrgenommen hat. Dabei sehe ich immer mehr, in welchem Irrtum ich mich mit dieser Annahme befinde. So hielt ich die Faktur der Bildoberfläche, die durch typische Pinselstriche gekennzeichnet ist, die als „die

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Darstellung regelrecht zerteilende Kommastriche des Pinsels“18, als „energische Schläge des Pinsels, die die Oberfläche der Leinwand peitschen“, beschrieben werden, für die einzig mögliche Umsetzung der Texturierung der natürlichen Umwelt; einer Textur, die sich durch Reflexion und Absorption des umgebenden Lichtes an den Oberflächen von Substanzen ergibt und für die eine optimale Schematisierung gefunden wurde. Aus den Abhandlungen über die „Farbe und Technik, den Bildaufbau und den Malprozeß“19 in der Malerei Monets geht aber hervor, daß der farbige Pinselstrich zwar noch zur „Definition des Gegenstandes eingesetzt“ wird, daß er aber zunehmend mit ganz anderen Absichten „in den Farbraum eingewoben“ wird als mit denen, an deren Verfolgung ich bisher glaubte. Das programmatisch verkündete Ziel der Wahrheitstreue am Werk selbst zu überprüfen, bleibt mir dann versagt, wenn ich mit meiner bisherigen Methode fortfahren möchte. Denn die Tatsache der „subjektiv-expressiven Farbgebung z. B., die von Signac als ein wesentliches Moment der Modernität Monets erkannt wurde“, 20 ist für eine intersubjektive Überprüfung ungeeignet. Und vollends in Unordnung geraten meine Überlegungen, wenn ich erfahre, daß „in der Zeit der finanziellen Krise der impressionistischen Maler, Monet aus verkaufsstrategischen Gründen auf die Forderung zahlreicher Kritiker reagiert hat, die weniger Skizzenhaftigkeit und mehr Vollendung in seinen Bildern verlangt haben“.21 Irrtümlich hielt ich demnach dieses Werk für etwas, was ein Kunstwerk wahrscheinlich nie sein kann, nämlich für eine Konstruktion, die eine zwingende Form hat, die nur so und nicht anders hat werden können, denn der, der sie geschaffen hat, setzte alles auf die zwingende Realisierungsform seiner Formvorstellungen. Deshalb fragte ich erst gar nicht nach der Beschaffenheit dieser seiner Formvorstellungen − in der Annahme, ich habe in der zwingend notwendigen Form die Abbildung davon vor mir.

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Das besprochene Bild, das, wie sich herausstellte, nur ein mangelhafter Versuch und kein exakt erfaßter, korrekt erstatteter Bericht darüber ist, was sich seinerzeit am Beobachtungsort ereignet hat, dieses Bild wird zur Grundlage einer räumlichen Rekonstruktion, und so wie die anderen Heuhaufenbilder als Bauplan zum Herstellen einer Serie von Heuhaufen-Plastiken verwendet werden. Für die Heuhaufen habe ich mich wegen ihrer unregelmäßigen, nicht-architektonischen Form entschieden, die, je älter sie wird, umso mehr verfällt und immer mehr eine desolate Gestalt annimmt. Sie stehen auch nur bis Spätsommer, um dann in die Scheune eingefahren zu werden. Die tektonische Form des Getreideschobers wäre wegen der Konkurrenz zu der Architektur, wo sie aufgestellt worden wäre, ungeeignet gewesen. Gegenüber der unregelmäßigen Gestalt des Heuhaufens ist sie, einer großen Strohhütte ähnlich, bereits selbst Architektur. Dafür hätte ich in ihr aber für meine Rekonstruktion nicht nur zahlreichere, sondern auch gründlicher, systematischer erarbeitete Vorlagen gehabt. Denn dieses Getreideschober-Modell hätte ein nicht nur auf die Tageszeiten beschränktes, sondern ein auf Jahreszeiten ausgedehntes Erscheinungsbild gehabt. Der Getreideschober, der Monet Modell gestanden ist, tat es vom Sommer über den Herbst und Winter hinaus. Daniel Wildenstein vergewisserte sich auch beim Datieren der Bilder anhand der Archivdokumente über die meteorologischen Verhältnisse, über die Schneelage in der Normandie im betreffenden Winter 1890–91, der in der Tat ein außergewöhnliches Datum in der Geschichte der Meteorologie gewesen sein soll. Ein umfangreiches agrarisch-historisches Wissen, etwa bei welcher Getreidesorte das Überwintern möglich und notwendig gewesen ist, haben ebenfalls Kunsthistoriker zusammengetragen. 22 Meine Modelle fand ich nicht in Giverny, wo heute für das Heuen eine andere Technologie verwendet wird, sondern 150 km von dort entfernt, auf einer Wiese, die ihrer kleinen

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Größe wegen noch händisch gemäht wird und wo deshalb auch noch Heuhaufen aufgestellt werden. Sie sind geographisch nicht so weit weg, als daß ihre dortige regionale Form eine andere wäre. Die von der ökologischen Wahrnehmungslehre verkündete selbstverständliche Tatsache, daß „die Einheiten der natürlichen Umwelt gleichförmig sind, einander mehr oder weniger ähnlich, daß alle Grashalme und Grasballen, Kieselsteine und Sandkörner praktisch überall gleich groß sind und daß sie zum Beispiel nicht umso kleiner werden, je weiter man nach Norden kommt“,23 diese Tatsache erhält einen Erkenntniswert, denn sie bestätigt mir, daß es eine Beständigkeit gibt, die es mir möglich macht, das Bild zu dechiffrieren (denn die erwähnte Gleichförmigkeit ist wichtig sowohl für das Darstellen und Ablesen der Perspektive als auch für das Identifizieren der abgebildeten Gegenstände), und sie macht es mir möglich, von hier aus eine Rekonstruktion der Ereignisse in Frankreich vor hundert Jahren zu versuchen. Es waren dies „mehrere Ereignisse, die in der Landschaft nebeneinander abliefen“. Zunächst der „kontinuierlich langsame Veränderungsprozeß, wenn die Sonne am Himmel weiterwanderte und alle jene Oberflächen, die am Morgen im Licht lagen, am Nachmittag im Schatten und umgekehrt lagen“, dann die schnellen, dramatischen Ereignisse, „wenn die Sonne strahlte oder plötzlich bewölkt wurde“24 und die Bewegung der Bäume, Blätter und Grashalme im Wind. Beides, das hier geschah − die Bewegung der Lichtquelle sowie die Bewegung der beschienenen und beschatteten Oberflächen −, hatte die verschiedensten Manifestationen des Lichtes, eine Fluktuation der leuchtenden Flächen und die Veränderung der Farben zur Folge. Hinter diesen Veränderungen war der „ Jäger des Augenblicks“25 Monet her. Er lag auf der Lauer und wollte schnell malen können, um den sich verändernden Lichtverhältnissen gerecht zu werden. Er hat nach immer neuen Leinwänden gerufen, die ihm das Dienstmädchen herbeischaffen mußte und damit oft nicht nachkam.26 Da

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es aber unmöglich ist, schnell, zugleich aber auch genau zu schauen und schnell, aber auch genau aufzuschreiben, wird es ihm weniger auf die Geschwindigkeit angekommen sein, als vielmehr auf das Abwarten der Wiederkehr gleicher Erscheinungen. Monet ist kein zufälliger, sondern ein regelmäßiger Beobachter gewesen, einer, der auf das Eintreffen des sich Wiederholenden gewartet hat. Aus einer Anzahl der von ihm geschilderten Ereignisse wählte ich den Morgen, den Mittag und den Abend aus. Den „Kampf gegen die Zeit“ mußte ich dabei nicht aufnehmen, ich mußte nicht, wie Medardo Rosso es tat, „auf die Ausführung im Atelier verzichten und, wenn notwendig, mit einem Klumpen Ton herausgehen, um das Modell zu verfolgen, genauso wie es die impressionistischen Maler tun, wenn sie en plein air malen gehen.“ (Man kennt aus Rossos Schriften seine Techniken, das Aufeinanderfolgen der Eindrücke in Momentaufnahmen festzuhalten.27) Das nur kurz stattfindende Ereignis, das ich für immer stabilisiere, erfordert „keine, der Schnelligkeit der zeitlichen Abfolge entsprechende Geschwindigkeit bei ihrer Umsetzung“.28 Ich kann mir Zeit lassen, wie es der langsamen Kunst der Bildhauerei auch angemessen ist. Denn meine Heuhaufen, Plastiken aus bemalter Bronze, 2,80 m hoch, sind auf Grund bereits vorhandener Unterlagen konstruiert. Die Daten, die gerade für das Aufzeichnen des Flüchtigen wesentlich sind, die übernehme ich von Monet. Ich brauche nur sein Bild wie eine Farbkarte als Muster an meine Replik anzulegen und die Übereinstimmung von beiden zu erreichen suchen. (Viel bringt allerdings eine Übereinstimmung auf dieser Ebene nicht: zweifle ich doch bereits an der Übereinstimmung dieser Farbtestkarte mit der Wirklichkeit, weiß ich doch, daß sich Monet weder an die Farbe noch an die Form gehalten hat, um die Übereinstimmung mit den Tatsachen zu erreichen.) Für den Heuhaufen als Motiv der Bildhauerei ein Darstellungsschema zu finden, ist kein einfaches Problem, für den von Monet

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gemalten Heuhaufen aber eine plastisch-räumliche Umsetzung zu finden, ist nicht einfacher. Ich arbeite an mehreren Varianten, um diesen Zwischengegenstand zu konstruieren. Das elementarste Problem ist dabei, daß ein Bildhauer Form in viel höherem Maße bekennen muß, als Monet Farbe bekennen hat müssen. Und hier wird auch der wichtigste Unterschied zwischen dem flächigen und dem räumlichen Bild desselben Motivs liegen; für das impressionistische Darstellungsschema der aufgelösten, mehrdeutigen Form kann es keine Entsprechung in der Plastik geben. Die Wirkung des skizzenhaft geführten Pinselstriches kann nicht mit der Wirkung einer spontan improvisierten plastischen Form verglichen werden. Die Plastik läßt mit ihrer faktischen Anwesenheit der Form im realen Baum keine Mehrdeutigkeit der Form zu. Ein weiterer Unterschied der Darstellungsschemata besteht in der Betrachtungsdistanz. Das Schema des Bildes, für nur eine, die optimale, Betrachtungsdistanz angefertigt, ist nicht mit dem dreidimensionalen Darstellungscode zu vergleichen, der sich in allen Entfernungen, von der Berührungsdistanz bis zur weitesten Grenze des Sehfeldes, bewähren muß − also immer die Formwirkung eines Heuhaufens beibehalten soll. Ein eigenes Thema dieser Werkgruppe ist die abgewandte Seite der Dinge. Das elementare Problem der Plastik, nämlich die Mehransichtigkeit stellt sich hier auf eine besondere Weise. Die scharfe, harte Licht-Schattengrenze, wie sie am Bild des Heuhaufens beschrieben wird, fordert es heraus, die abgewandte Seite zu entdekken. Das Lichtspiel sagt eine bestimmte Sachlage auf der dem Betrachter unzugänglichen Seite an. Wird sich die Erwartung erfüllen? Als Bauplan habe ich nur das Bild einer Seite zur Verfügung. Wie rekonstruiert man etwas nur anhand von Vermutungen? Einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Bild und seiner räumlichen Rekonstruktion sehe ich auch darin, daß die Plastik ein herausgeschnittenes Motiv ist und daß nicht alles, was auf dem Bild

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mitgemalt wurde, auch im Raum aufgestellt wird. Nun sind es aber gerade die ergänzenden Objekte im Bild, die die Darstellung der Lichtmanifestationen komplettieren und dies unveränderlich, so z. B. die Bäume oder der Himmel, dem Monet auch eine Textur gab. Vor meinen Plastiken wird es zwar immer jeweils Morgen, Mittag oder Abend sein, das aber, was man auch mitsehen wird, wird sich ständig ändern. In der umgebenden Szenerie wird, anders als im Bild, ein ständiger Wechsel stattfinden, der in keinem Zusammenhang mit den Objekten steht. Noch mit einem anderen Bild ließe sich der Sachverhalt beschreiben: Es wurde am Feld Ordnung gemacht. Alles, was zu einer Klasse von Gegenständen gehörte, ist zu einer Sammelstelle zusammengetragen worden. Und weil von Gegenständen anderer Sorte kaum etwas vorhanden war, stehen die Heuhaufen auf einem leeren, sauber ausgekämmten Feld. Ganz anders geht es in der Aufstellung zu, wie ich sie plane: In dem Innenraum, der mit Versatzstücken aus dem Außenraum eingerichtet wird, entsteht eine verdichtete Zone der Fremdheit − weniger durch die sperrige Dreidimensionalität der Objekte als vielmehr durch ihre Unzugehörigkeit zum Ort −, die sie aber überall erzeugen würden, außer am Feld selbst. Denn die Geschehnisse, die in ihrer Umgebung ablaufen werden, werden nie in einem Zusammenhang mit dem abgebildeten Sachverhalt stehen. Auf den Einwand, dies wäre kaum einer Feststellung wert, denn das geschieht wohl mit jeder beliebigen Plastik, jedem Denkmal, daß das Abgebildete nie etwas mit den in seiner Umgebung ablaufenden Ereignissen zu tun hat, muß man antworten, daß hier das Verhältnis des Objekts zu seiner Umgebung ein anderes ist. Hier wird im Bezugssystem des realen Raumes ein anderes Bezugssystem aufgestellt, das so beschaffen ist, daß die Ereignisse, die in ihm virtuell vorhanden sind, einmal auch tatsächlich stattfinden könnten und somit die Abbildung für einen Augenblick mit der Wirklichkeit übereinstimmen würde. So lange aber dieses

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Jahrhundertereignis nicht eintrifft, muß sich das Bezugssystem der Heuhaufenplastik als ein autonomes Kraftfeld gegenüber seiner Umgebung behaupten. Es muß stark genug sein, damit in den drei Teilen der Serie die jeweilige Tagesphase: der Morgen, der Mittag und der Abend, auch wirklich angehalten wird. Diese Skizze stellt so etwas wie eine Drei-Beobachter-Hierarchie auf: Mit Claude Monet als dem ersten Beobachter, der lange Abschnitte seines Lebens für ein obsessiv-regelmäßiges Beobachten der zu beschreibenden Wirklichkeit verwendet hat, mit mir als dem zweiten Beobachter, der gemeinsam mit dem ersten sowohl denselben Wirklichkeitsausschnitt beobachten als auch seine eigenen Aufzeichnungen darüber mit denen des ersten Beobachters vergleichen möchte. Ein dritter Beobachter zieht seine Schlüsse über den Unterschied zwischen der Wirklichkeit und den voneinander abweichenden Berichten des ersten und des zweiten Beobachters. Diese Position des dritten Beobachters, der über unser beider Haltung und Methode befindet, die weise ich auch dem Maler zu, der einmal Bilder zum Thema „Morgen–Mittag–Abend“ malen wird − und zwar mit meinen Plastiken als Bildmotiv.

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1

Daniel Wildenstein, Claude Monet, Biographie et catalogue raisonné; II, III, Lausanne und Paris 1979, Kat. Nr. 900, 901, 902, 993, 994, 995, 1073 und 1074.

2

Ebd., II, S. 130, Kat. Nr. 900.

3

Ebd.

4

James J. Gibson, Wahrnehmung und Umwelt. Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung, Urban & Schwarzenberg, München–Wien–Baltimore 1982, S. 9.

5

Ebd., S. 16.

6

Ambroise Vollard, Paul Cézanne, Paris 1914, S. 88.

7

Lilla Cabot Perry, „Reminiscences of Claude Monet from 1889 to 1909“, in: The American Magazine of Art, March 1927 (reprinted in Charles F. Stuckey (Hg.), Monet: A Retrospective, Beaux Arts edition, New York 1985).

8

John Ruskin, in: Ernst H. Gombrich, Art and Illusion: A Study in the psychology of pictorial representation, PUP, Princeton 1960, S. 296.

9

Gibson, Wahrnehmung und Umwelt, a. a. O., S. 55.

10 Ebd., S. 25. 11 Vgl. Charles S. Moffett, „Monet’s Haystacks“, in: J. Rewald / F. Weitzenhoffer (Hg.), Aspects of Monet, New York 1984, S. 140–159. 12 Jean-François Lyotard, „Was man nicht erfliegen kann, muß man erhinken“, in: ders., Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens, Merve, Berlin 1986. 13 Karin Sagner-Düchting, Claude Monet: „Nympheas“, Georg Olms, Hildesheim–Zürich– New York 1985, S. 107. 14 George H. Hamilton, „The dying of the light: the late work of Degas, Monet and Cézanne“, in: Rewald/Weitzenhoffer (Hg.), Aspects…, a. a. O., S. 218–241. 15 Gibson, Wahrnehmung und Umwelt, a. a. O., S. 300. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Nina Kalitina, Claude Monet, Bilder aus den Museen der UdSSR, Leningrad 1986, S. 19. 19 Sagner-Düchting, Claude Monet, a. a. O., S. 96. 20 Ebd., S. 102. 21 Ebd., S. 100. 22 Wildenstein, Claude Monet, III, a. a. O., S. 38. − R. Herbert, „Method and Meaning in Monet“, in: Art in America, September 1979. 23 Gibson, Wahrnehmung und Umwelt, a. a. O., S. 10. 24 Ebd., S. 99. 25 Anatolij Vasil’evič Lunačarskij, Sobranie Sočiněnij, Bd. 7, Moskau o. J., S. 351. 26 Duc De Trevise, „Le Pélerinage de Giverny“, in: Stuckey (Hg.), Monet, a. a. O. 27 Adalgisa Lugli, „Rossos Herausforderung“, in: dies., Medardo Rosso 1858–1928, Frankfurt/M. 1984. 28 Ebd.

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Vom Halbleeren zum Halbvollen

Identitätsbestimmung ist eine kontrollierende Tätigkeit Wenn man sich mit Identität beschäftigen will, wird man sich zuerst die Arbeitsbekleidung eines Kontrollors − eine Uniform − anziehen. So bekleidet, muß man sich, sofern man es von der psychischen Veranlagung her sowieso nicht bereits gewesen ist, mental umstellen: auf eine in ihrer Art mißtrauende, kontrollierende, prüfende Tätigkeit. Denn Identität ist ein Problem des Befragens und Feststellens, des Überprüfens und des Ausschließens, des Vergleichens von Phänomenen anhand von Musterkarten und des anschliessenden Bestätigens oder Verwerfens, der negativen Nachweisführung über Nichtübereinstimmung von Eigenschaften des geprüften Gutes mit verglichenem Mustergut. Der Kontrollblick des uniformierten Identitätsfeststellers erfaßt alle Objekte, die ihm zum Zwecke der Prüfung und anschließenden Zuteilung oder Nichtzuteilung des Prädikats „identisch“ gereicht werden, nach dem gleichen Prinzip: Er vergleicht Dinge und ihre Eigenschaften, er nimmt die Maße an einem Objekt und überträgt sie auf ein anderes Objekt, mit dem Ziel, die Kongruenz oder Divergenz der gemessenen Strecken festzustellen. Oder sein kontrollierendes Auge richtet sich auf texturale Phänomene, auf Pigmente oder auf Licht- und Schattentextur. Ein neueres Beispiel für solche Aktivität: Das Stedelijk Museum Amsterdam besitzt ein prominentes Bild von Barnett Newman − Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue, das von einem Attentäter attackiert und schwer beschädigt worden ist. In New York von einem ehemaligen Assistenten des Künstlers und nunmehrigen

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Gemälderestaurator von Weltruf wiederhergestellt, kehrte das Bild auf seinen Stammplatz im Museum zurück. Um das Werk versammelten sich nun zahlreiche selbsternannte Identitätsprüfer, die sich die Aufgabe gestellt hatten, das Bild als dasjenige wiederzuerkennen und als Wiedererkanntes zu bestätigen, welches ihnen bekannt und vertraut gewesen ist. Als Muster hatten sie nur eine Bildvorstellung zur Verfügung, ein Gedächtnisbild. Sie haben versucht, eine virtuelle Modellvorstellung als Maßstab für ein aktuelles, sinnlich wahrnehmbares, vor ihnen befindliches Objekt zu nehmen. Wobei das größte Hindernis bei der Feststellung der Gleichheit oder Verschiedenheit die erinnerte Farbe war, die nun als Musterkarte dienen sollte. Das prüfende Auge konnte sich dabei nicht auf die Autorität eines materiell vorhandenen Farbmusters verlassen. Alle anwesenden Prüfer in ihren Arbeitsuniformen hatten jeweils andere erinnerte Farbmuster in ihren Vorstellungen und meinten, sich farblich besser zu erinnern, als ihre Kollegen und Kontrollkonkurrenten es imstande wären. Sie alle waren ungeladene Zeugen, die den Wunsch hatten, ihre Aussage zu Protokoll geben zu dürfen, dies allerdings ohne im Besitz eines beglaubigten Dokuments zu sein, das ihre vermeintliche Wahrnehmung, den erinnerten Zustand des Bildes unterstützen könnte. Solcher Nachweis von entscheidender Autorität, der ihre Vermutung bestätigen würde, fehlte jedem von ihnen, weshalb jeder eine andere Lizenz vorweisen wollte, um sich als verläßlicher Zeuge ausweisen zu können. Über ein As zu verfügen, das all die anderen sticht, glaubte derjenige der Kontrollore, welcher als Museumsdirektor das betreffende Bild angekauft und mit ihm mehr Zeit im Museum verbracht hatte als all die anderen. Ihm fehlte aber die notwendige fachsprachliche Ausrüstung, mit der er die Bunttondifferenz des restaurierten Bildes im Verhältnis zum Bild im ursprünglichen Zustand hätte beschreiben können. Denn zur Feststellung der Identität ist eine differenzierte sprachliche Beschreibung der

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Phänomene, welche das identifizierte Objekt charakterisieren, unabdingbar. Ein Identitätszertifikat erhielt das restaurierte Bild schließlich nicht, das Konsortium der Kontrollore, welche seine Selbigkeit geprüft hatte, kam überein, daß es sich um ein anderes, ein neues Bild handelt, welches nur eine oberflächliche Ähnlichkeit mit dem ursprünglichen Objekt hatte. Diese Methode des Prüfens eines real wahrnehmbaren Objekts anhand imaginierter Phänomene hat eine Ähnlichkeit mit dem Verfahren, mit dem die Qualitätsprüfung bei der Erzeugung eines Produkts getestet wird. Das Prüfen der Qualität eines Erzeugnisses kann nur unter Verwendung eines Kontrollapparats, z. B. eines Meßgeräts, einer Schablone oder einer Farbkarte vonstatten gehen, es braucht allerdings eine solche Normschablone gar nicht materiell vorhanden zu sein, sie kann auch nur in der Vorstellung existieren und von dort aus, als normativer Qualitätsmaßstab, ihre Autorität behaupten. So benötigen nicht alle Qualitätskontrollore, die in Fabriken am Ende eines Herstellungsverfahren aktiv werden, andauernd irgendwelche Kontrollinstrumente, sie verfügen in ihrer Vorstellung über gedachte Objekte, die sie dauernd mit den angeschauten Objekten vergleichen. Solange sie beide in Deckung bringen können, erfüllt sich ihre Erwartung, das gedachte und das angeschaute Objekt sind identisch. Kommt es in der Relation der beiden Bilder zu einer Störung, zu einer Interferenz, hat das eine etwas, was das andere nicht hat (wobei das Vorstellungsbild eine feste, unberührbare, konstante Identität hat, sonst könnte es nicht als normative Vorlage dienen, also das abweichende Bild kann immer nur das anschaulich Gegebene sein), dann wird die Erwartung der Übereinstimmung „enttäuscht“. Diese Enttäuschung ist aber stets nur partiell, denn eine teilweise Deckung ist möglich, es enttäuscht ja meistens nicht das ganze Objekt, sondern nur ein oder mehrere gewisse Teile von ihm,

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nicht das ganze Erzeugnis in seiner Totalität ist falsch, sondern nur bestimmte Teilelemente sind es. Der Qualitätskontrollor welcher in Personalunion auch Identitätsprüfer ist, erlebt nun einen Widerstreit der ursprünglichen Intention, die er in der ungestörten Herrschaft des imaginären richtigen Muster sieht, in der Autorität des idealen Erzeugnisses, des Idealprodukts und der aktuellen Intention des mit einer Anomalie behafteten realen, anschaulich gegebenen Produkts; hinsichtlich des ganzen Objekts decken sich Intention und Anschauung. Hinsichtlich der festgestellten Abweichungen, der Unterschiede decken sie sich nicht mehr.1 Das Bild der Identität, der totalen Übereinstimmung ist gestört. Der enttäuschte Qualitätsprüfer dessen Erwartung in der Wahrnehmung nicht erfüllt wurde, spricht das Urteil: Mangelhaft! Ausschuß! Die Möglichkeit, daß der Prüfer bei dieser Kollision der sich nicht deckenden Vorstellungs- und Wahrnehmungsbilder zu Gunsten des real anschaulich gegebenen Objekts entscheiden würde und sein Urteil: Mangelhaft! Ausschuß! der bis dahin unberührbaren Idealvorstellung des Objekts gelten würde, welche zu revidieren und umzuändern wäre, diese Variante ist nur schwer vorstellbar. Es ist zwar nichts Außergewöhnliches, „Vorstellungen an Tatsachen anzupassen“ − dies ist eine alltäglich ausgeübte Lebenspraxis −, aber im Falle einer Identitätsbestimmung würde solche Austauschbarkeit zwischen einer Identifizierungsnorm als der unveränderlichen Konstante und dem realen Objekt als der verdächtigen und zu prüfenden Variable zu einer Relativierung der Positionen führen. Eine verbotene, verpönte, auf dem Gebiet der Identitätsbestimmung unzulässige Methode. Ich glaube, den Vergleich der Prüfmethoden der Qualitätskontrolle in einer Textilfabrik und der Identitätsprüfung eines Vorher-nachher-Zustands eines restaurierten Bildes anstellen zu dürfen, auch wenn mir klar ist, daß das Bild von Barnett Newman ein äußerst in-

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dividueller, exzeptioneller Gegenstandstypus ist, bei dem es schwer möglich ist, eine Kartei mit Vergleichsmustern anzulegen, anhand welcher, wie mittels Normblättern, die Übereinstimmung des verglichenen Objekts mit der Normvorlage zu prüfen wäre. (Wohlmeinende und in Fragen der Identität kundige Beobachter der Szene vor dem Barnett Newman-Bild würden sagen, die Identitätsprüfer hätten es sich von vornherein einfach machen können, hätten nicht so streng sein brauchen − eine teilweise Identität festzustellen, hätte ausgereicht. Denn bei dem demolierten und wieder genesenen Bild würde es sich um nichts anderes handeln, als um solche Identität, die der Identität des Argonautenschiffes ähnelt, dem, obwohl immer wieder repariert und erneuert, dennoch seine Identität als Schiff der Argonauten niemals abgesprochen wurde. Eine universelle Identität dagegen, d. h. die beglaubigte Übereinstimmung aller Merkmale eines Gegenstands, das sei eine andere Kategorie.)

Identitätsbestimmung ist Beschreibung ist Benennung Es ist an der Zeit, sich zu vergewissern, was, lexikalisch definiert, Identität bedeutet. Der Begriff kommt vom lateinischen Wort idem, „dasselbe“ und bedeutet Selbigkeit, Einerleiheit, völlige Übereinstimmung. Ein Gegenstand ist dann mit sich selbst identisch, wenn er in den verschiedenen Sachlagen und Umständen immer derselbe bleibt, so daß er als derselbe identifiziert werden kann. Strenggenommen kann ein Ding nur mit sich selbst identisch sein. Ähnlichkeit oder Gleichheit zwischen mehreren Dingen muß unter den Aspekten „ähnlich“ oder „übereinstimmend in wesentlichen Merkmalen“ betrachtet werden und nicht unter „identisch“.2

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In der Literatur zum Thema Identität findet sich eine Betrachtung, die eine Berühmtheit erlangt hat: § 3. PH. (PHILALETHES) Was man in der Schulphilosophie das Prinzip der Individuation nennt, wobei man sich so sehr quält zu wissen, was es eigentlich sei, besteht in der Existenz selbst, die jedes Seiende an einen bestimmten Zeitpunkt und an einen Ort bindet, der von zwei Seienden der gleichen Gattung nicht geteilt werden kann. TH. (THEOPHILUS) Das Prinzip der Individuation geht in den Individuen auf jenes Unterscheidungsprinzip zurück, von dem ich eben gesprochen habe. Wenn zwei Individuen vollkommen ähnlich und gleich und (mit einem Worte) an sich selbst ununterscheidbar wären, so gäbe es für diese kein Prinzip der Individuation. Und ich wage sogar zu sagen, daß es unter dieser Bedingung keine individuelle Unterscheidung oder verschiedene Individuen gibt. Darum ist der Begriff des Atoms chimärisch und entspringt nur den unvollkommenen Begriffen der Menschen. Gäbe es nämlich Atome, das heißt Körper, die vollkommen hart, ganz unveränderlich oder einer inneren Veränderung unfähig wären und sich untereinander nur durch Größe und Gestalt unterscheiden könnten, so ist offenkundig, daß es auch möglich wäre, daß sie von gleicher Gestalt und Größe sein könnten und es an sich ununterscheidbare Dinge gäbe, die nur durch äußere Benennungen, ohne innere Begründung, unterschieden würden, was gegen die größten Prinzipien der Vernunft ist. Die Wahrheit aber ist, daß jeder Körper veränderlich ist und sogar immer tatsächlich verändert wird, sodaß er sich an sich von jedem anderen unterscheidet. Ich erinnere mich, daß eine hohe Fürstin von feiner Geistigkeit eines Tages bei einem Spaziergang in ihrem Garten sagte, sie glaube nicht, daß es zwei vollkommen gleiche Blätter gäbe. Ein geistvoller Edelmann, der an dem Spaziergang teil nahm, glaubte, es werde leicht sein, solche zu finden; obwohl er aber

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angestrengt danach suchte, mußte er sich durch seine Augen davon überzeugen, daß man immer einen Unterschied daran bemerken konnte. Man sieht durch diese bisher vernachlässigten Überlegungen, wie weit man sich in der Philosophie von den natürlichsten Begriffen entfernt hat und wie weit man von den großen Prinzipien der wahren Metaphysik entfernt ist.3 Die Rolle jenes geistvollen Edelmannes, der sich von Madame l’Electrice im Garten von Herrenhausen in Hannover nicht davon hat abbringen lassen, für sie vollkommen gleiche Blätter zu suchen und der sein Scheitern schließlich eingestehen mußte, diese Rolle habe ich dreihundert Jahre später noch einmal nachspielen wollen. Die Gelegenheit dazu bot die Einladung zur Teilnahme an der Dreiländerbiennale Trigon ’75 in Graz, mit dem Thema „Identität − alternative Identität − Gegenidentität“. Ich glaubte damals genau zu wissen, welcher Tätigkeit der Edelmann im Garten nachgegangen ist, zumindest welches umfangreiche Projekt er damit eingeleitet hat: Seine Suche nach gleichen Blättern diente der Materialbeschaffung für eine Sammlung, deren Sinn weniger im Wert oder der Bedeutung einzelner Exponate lag, sondern der darin bestand, sich durch die Sammlung eine Möglichkeit zu verschaffen, ein Klassifikationssystem einführen zu können. So habe ich es gesehen: Durch das Sammeln von Fundstücken erwirbt man sich eine Berechtigung zu ihrer Bestimmung. Die einzelnen Exemplare zu bestimmen, wird mit der Bezeichnung ihrer Eigenschaften verbunden. Der Bezeichnung der charakteristischen Merkmale der Fundstücke wird das Konzipieren einer Erfassungsstruktur vorangehen müssen, eines Rasters, in dem sich die einzelnen Kategorien nach den definierten Merkmalen richten werden. Meine Sicht der Dinge war richtig und für die Mühe des Illustrierens des Leibnizschen Blätterbeispiels hoffte ich belohnt zu

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werden − durch die Möglichkeit, eine umfangreiche synoptische Tafel zu erstellen, deren System ich bestimmt und konzipiert habe und deren durchdringende Logik jeden Betrachter über ihre Sinnfälligkeit überzeugen würde. Das alles sollte mir Freude bereiten, hatte ich doch gerade Carl von Linnés Bericht über seine Reise nach Lappland gelesen und beneidete den achtzehnjährigen Forscher, den die schwedische Königliche Akademie der Wissenschaften im Jahr 1725 auf eine Erkundungsreise geschickt hat, auf der er seine pflanzenkundlichen Forschungen zu betreiben hatte. Beneiden tat ich ihn deshalb, weil er neue Strukturen entwerfen durfte, nach denen die Pflanzen klassifiziert wurden, damit sie nach seinen, Linnéschen, klassifikatorischen Prinzipien bestimmbar = identifizierbar wurden. Da jede Identifizierung = Bestimmung der Identität eines Gegenstands, mit einer Bezeichnung, das heißt mit der sprachlichen Benennung seiner Merkmale verbunden ist und Linné damals als überhaupt erster eine bis heute verwendete Systematik der Pflanzenwelt begründen durfte, genoß er das Privileg, eine Nomenklatur der Pflanzenarten zu konstituieren und sich neue Pflanzenamen ausdenken zu dürfen. Namen, deren Verwendung allen künftigen Botanikern aufgezwungen worden ist − in diese Richtung zielte mein Neid und dort wollte ich, durch eine bescheidene Wiederholung, wenigsten einen Aspekt des klassifikatorischen Könnens für mich nachvollziehen. Das Sammlungsmaterial für mein Werk Leibnizsches Blätterbeispiel holte ich mir in Niederösterreich, von der „Tausendjährigen Eiche“, einem berühmten, unter Naturschutz stehenden Baum. Einige hundert Blätter sind es gewesen die ich in mein Atelier mitgebracht hatte. Von diesen habe ich dreihundert Stück in die engere Wahl gezogen.

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Habe ich vorher noch von der Chance gesprochen, von der sprachlichen Aktivität geschwärmt, während der man durch die richtige Bezeichnung die Identität der Gegenstände bestimmt, so muß ich zugeben, daß sich meine Auswahl der Baumblätter eher schweigend vollzog, ich meine ein Schweigen im übertragenen Sinne. Ich habe zwar Urteile über die Eigenschaften der einzelnen Sammlungsstücke gesprochen, also ich habe nicht geschwiegen, sondern stumm zu mir geredet. Da ich aber in der Botanik kein Fachmann bin und nichts über Pflanzenmorphologie weiß, nicht über botanische Fachsprache verfüge, war ich während des Vorgangs der Klassifikation fachsprachlich stumm. Ich habe nur privatsprachlich argumentieren können. Als Nicht-Botaniker habe ich ein Objekt, für dessen Beschreibung eine angemessene Fachsprache existiert, laienhaft beschrieben, weil laienhaft beobachtet. Da ich fachlich „nichts wußte“, so konnte ich auch „nichts sehen“, und die spezifischen Objekte meiner neuen Sammlung beobachtete ich so, wie ich die meisten anderen Dinge aus meiner Umgebung auch sehe − Dinge, denen ich zwar begegne, über deren Aufbau oder Funktion ich aber keine nähere Kenntnis besitze. So habe ich die Eichenblätter begutachtet und klassifiziert nach dem Beobachtungsraster, nach dem ich die meisten Objekte in meiner Umgebung sortiere: nach ästhetischen Gesichtspunkten, d. h. nach Farben und Formen. Ich habe nicht gesagt: „Dies ist ein Eichenblatt der Sommereiche vulgo Stieleiche, lateinisch Quercus robus, auch pedunculata genannt, am kurzen Blattstiel erkennbar …“ und eine lange Beschreibung hätte zu folgen gehabt. Ich habe damals nur eine Kurzfassung einer Beobachtung und Beschreibung abgeben können, ich habe nach sehr einfachen Regeln, nach dem Kriterium der Ähnlichkeit der Formen entschieden und meine Auswahl getroffen. Ich war mir allerdings dessen bewußt, daß die Identitätsfeststellung alles andere als eine Kurzfassung einer Beschreibung sein durfte. Es ist mir klar gewesen, daß die Identitäts-

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feststellung eine nie endende Stellungnahme ist, eine Befassung mit einem Objekt, die kein Ende hat … Die synoptische Tafel, das Werk selbst, war in Form eines großen Tableaus organisiert, innerhalb dessen, im orthogonalen Reihenraster, jedes Eichenblatt im Holzrahmen einzeln gerahmt, zum Beleg für die vergebliche Bemühung wurde, wenn schon nicht die Gleichheit, dann wenigstens die Ähnlichkeit von verwandten Gegenständen beweisen zu können. Nur in einem Modell, das heißt mit Hilfe der medialen Übersetzung in Fotografie, konnte durch einen Kunstgriff des Nebeneinanderstellens gleicher Exemplare, dem Wunsch des Edelmannes aus Hannover von 1700 − die Gleichheit nummerisch verschiedener Objekte beweisen zu können − nachgeholfen werden.

Identitätsbestimmung ist Festlegung Der Titel meiner Abhandlung Vom Halbleeren zum Halbvollen suggeriert eine Bewegung − von irgendwo nach irgendwo anders hin, von einem zu einem anderen Objekt. Eine irreführende Andeutung, denn in diesem Fall verändert sich gar nichts, die Situation bleibt statisch, es verändert sich weder die Form eines Gegenstands − sein Zustand bleibt gleich –, und es verändert sich auch seine Lage nicht − der Gegenstand bleibt an derselben Stelle. Eine heftige Bewegung findet dennoch statt: Der Betrachter hat eine lange Wegstrecke zurückzulegen, um den ein und denselben Gegenstand als dasselbe Einzelding zu erkennen, welches mit verschiedenen sprachlichen Ausdrücken bezeichnet ist. Halbvoll − halbleer ist der Titel einer zweiten Arbeit, die ich für Trigon ’75 zum Thema Identität konzipiert habe.

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Das in der Lehre von der Identität am häufigsten behandelte Beispiel für ein Objekt, welches Träger verschiedener Bezeichnungen ist, ist „der Morgenstern“ und „der Abendstern“. Der Morgenstern ist ein heller Stern, der bisweilen am Morgenhimmel zu sehen ist; der Abendstern ist ein heller Stern, den man bisweilen am Abendhimmel zu sehen bekommt. Bereits antike Astronomen hatten herausgefunden, daß diese beiden Himmelsobjekte ein und dasselbe Ding sind. Diese astronomische Entdeckung kann auch so beschrieben werden: Es wurde herausgefunden, daß „der Morgenstern“ und „der Abendstern“ zwei verschiedene Namen für einen einzigen Gegenstand bilden. Oder noch anders, daß die beiden Namen denselben Sachbezug oder dasselbe Referenzobjekt haben. Diese Feststellung allein genügt offenbar nicht. Um herauszubekommen, daß die durch diese beiden Namen bezeichneten Objekte identisch sind, mußten empirische Untersuchungen von Astronomen angestellt werden. Es genügte nicht, die beiden Namen allein zu betrachten. Tatsächlich hatten die Menschen in den verschiedensten Sprachen für lange Zeit bereits Bezeichnungen für den Morgenstern sowie für den Abendstern, ohne jedoch die geringste Ahnung zu haben, daß es sich dabei um ein und dasselbe Objekt handelt. Die Verschiedenheit der beiden Namen im Sprachgebrauch wird (durch Frege) so ausgedrückt, daß man sagt: Diese zwei Namen „der Morgenstern“ und „der Abendstern“ haben einen verschiedenen Sinn, ungeachtet dessen, daß sie dasselbe Referenzobjekt besitzen.4 Ein halbleeres und ein halbvolles Glas schienen mir die geeigneten Gegenstände zu sein, mit deren Hilfe ich dieses Identitätsproblem illustrieren konnte. Einige theoretische Probleme waren dabei zu lösen. Meine damaligen Überlegungen beim Konzipieren dieses

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Werkes (und ich weiß auch heute, nach fünfundzwanzig Jahren keine andere Lösung) glichen denen, die jeder andere Beobachter auch anstellt, der einen Gegenstand betrachtet und sich nicht sicher sein kann, im welchen Verhältnis hier der Name und das Objekt stehen. Ich habe mir damals den Begriff „Zustand“ angeeignet, den ich einerseits für einen treffenden Begriff hielt, weil er die Dynamik des Sachverhalts ausdrückt, andererseits habe ich mich auch in anderen Werkgruppen mit der Möglichkeit, „Zustände“ zu visualisieren, beschäftigt. In meinen Notizen von damals fand ich die einleitende Anmerkung, daß das Glasobjekt „auf den ersten Blick die Identität einer Erscheinungsform von zwei verschiedenen Zuständen“ darstellt. So würde ich es heute auf keinen Fall mehr sagen und so habe ich es damals auch nicht meinen können. Denn „auf den ersten Blick“ äußert sich dieser Gegenstand nur sehr flach und eindimensional. Viele weitere Blicke und vor allem zusätzliche Informationen sind nötig, um seine Mehrdimensionalität zu erfassen. Auf den ersten Blick ist der Zustand eines statischen Objekts als Zustand überhaupt schwer feststellbar, da die Beobachtungsmöglichkeit eines Ereignisses nicht gegeben ist; „es tut sich“ de facto „nichts“, man ist nicht Zeuge des Übergangs von einem Zustand des Gegenstands in einen anderen. Ich habe einige Varianten dieses Objekts in Erwägung gezogen, wobei in manchen mit zwei gleichen Gegenständen operiert wurde. Meine Überlegung dabei war, daß zwei gleich aussehende Gegenstände, welche zwei verschiedene Bezeichnungen − einmal „halbvoll“, einmal „halbleer“ − tragen würden, den Verlauf eines Prozesses besser anzeigen könnten. Das raffinierte an diesem Identitätsproblem ist ja, daß die gleich gefüllten Gläser sehr diskrete Indikatoren des jeweiligen Zustands sind, daß sie „auf den ersten Blick“ ununterscheidbar sind und daher als zwei gleiche und im gleichen Zustand befindliche Dinge gelesen werden. Es sind an ihnen keine Spuren

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des prozeßhaften Geschehen zu beobachten, an denen das „Sich Füllen“ des einen oder das „Sich Leeren“ des anderen Glases abzulesen wäre. Ich war bemüht, anläßlich der Vorbereitung dieses Vortrags nochmals nachzurechnen und die Grundregeln der Logik, des Prinzips der wechselseitigen Substituierbarkeit des Identischen zu befolgen, um festzustellen, ob mein „Halbvoll−halbleer“-Objekt in demselben oder in einem anderen Kontext als das „Der Morgenstern und der Abendstern“-Problem steht und kam zu keinem klaren Ergebnis. „Wenn zwei Namen denselben Gegenstand bezeichnen“, lautet die logische Regel, „so können sie in jedem Satz wechselseitig füreinander eingesetzt werden, ohne den Wahrheitswert des Satzes zu berühren.“ Es scheint aber, daß die Namen „der Morgenstern“ und „der Abendstern“ nur die Namen ihrer Referenzobjekte sind, während die Namen „halbvoll“ und „halbleer“ die jeweiligen Namen ihres Sinnes sind.5 Ich habe in diesem Aufsatz versucht, meine Denkweise von 1975 zu rekonstruieren. Solche Rekonstruktion von Grundlagen, anhand derer bestimmte Entscheidungen getroffen wurden, ist ebenfalls ein Thema der Identität. Der eigenen Ichidentität ebenso wie der in der betreffenden zeitlichen Periode vorherrschenden soziokulturellen Identität einer Gesellschaft. Das Objekt „Halbvoll − halbleer“ könnte auch als Instrument zur Identifizierung einer bestimmten künstlerischen Position und zugleich, kontextabhängig, zur Identifizierung einer Zeitsequenz, in der es entstanden ist, verwendet werden. Zuletzt wurde das Werk, welches sich in einer österreichischen Privatsammlung befindet, in der Ausstellung Hundert Jahre künstlerischer Freiheit, die in Wien und Helsinki veranstaltet wurde, gezeigt. Im Katalog dieser Ausstellung wird daran erinnert, daß 1975 ein

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neues Theaterstück von Wolfgang Bauer als „Gipfel der Obszönität“ sowie das „Halbvoll−halbleer“-Objekt als „Gipfel der Einfallslosigkeit“ von der konservativen Presse und einigen wohlhabenden Sponsoren zum Anlaß genommen wurden, um eine mehrere Jahre andauernde Aktion Rettet den ,Steirischen Herbst − Festival‘ zu gründen und zu führen.

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1

Zu diesem Thema s. Wolfgang Stegmüller, „Methodische Phänomenologie: Edmund Husserl“, in: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Kröner, Stuttgart 1969, S. 66–69.

2

Siehe Philosophisches Wörterbuch, Kröner, Stuttgart 1978, S. 294.

3

Gottfried Wilhelm Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Buch I–II, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1985, S. 393 f.

4

Siehe Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Philosophie, Band II, Kröner, Stutt-

5

Ebd.

gart 1975, S. 88–99.

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Texttreue Notizen zum Thema Beobachtung und Beschreibung eines Hauses in einem Roman

Aus meiner Sicht müßte eine knappe Inhaltsangabe des Romans* folgendes wiedergeben: Dem Leser werden nach und nach sieben Personen vorgeführt, nach und nach kann er eine Personenliste aufstellen. Der wichtigsten Figur allerdings, der begegnet er unmittelbar nie, mittelbar dafür andauernd. Es handelt sich dabei um jemanden, der die Aufzeichnungen der Ereignisse führt, aus denen der Roman besteht. Die Bewegung der Handlung scheint der Chronist nicht zu beeinflussen, er folgt ihr nur oder erwartet ihr Stattfinden. Seine Existenzform ist rätselhaft, denn obzwar omnipräsent, wird er durch keinen Strich selbst porträtiert. Ein für ihn im Roman bereitgestellter Wohnraum wird nie betreten und wird schließlich der Beschreibung vollends entzogen werden. Die Existenz dieses Raumes ist nur durch die Berechnung einer Gleichung belegbar, die im Laufe der Arbeit an der Rekonstruktion des Hauses aufgestellt wurde. Daß es sich um eine männliche Person handelt, dafür spricht, daß mit der im Buchtitel angeführten „ Jalousie“ offensichtlich eine männliche Eifersucht gemeint ist. Von ihr getrieben, späht der Unbekannte (der Ehemann, der Liebhaber?) durch die durchlässig-undurchlässigen Lamellen der den Fenstern vorgeblendeten Jalousien und registriert die Beschaffenheit der Räume und die Vorgänge darin. Kein Trick des Autors, keine Eskamotage jedoch läßt diese Person erscheinen und wieder verschwinden, vielmehr läßt der Autor diese Person − wie in einem Wundermantel eingehüllt − von Anfang an bis zum Ende unsichtbar bleiben.

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Der Beobachter und sein Auftrag Durch den Roman übergibt der Autor ein genaues Protokoll vom Ablauf der Ereignisse und ein exaktes Register, in dem die Identität der beobachteten Gegenstände festgehalten ist. Die Vorgaben, an die sich der Leser halten muß, wenn er sich entsprechende Bilder von der beschriebenen Situation machen will, sind sehr genau und lassen nur minimale Variationen von Vorstellungen zu. Der Roman ist ein Bilderbuch, denn er besteht größtenteils aus Schilderungen optischer Erscheinungen. Er ist ein „geschlossenes Werk“ in der Form eines Ausmalbuches, bei dem der Leser nur eine Möglichkeit hat, sich ein Bild von den beschriebenen Objekten und Sachverhalten anzufertigen. Alain Robbe-Grillet hat einen Beobachter losgeschickt und mit einer doppelten Funktion beauftragt: Die erste, über die sich der Leser auch sofort im klaren ist, beinhaltet das Verfassen eines Beobachtungsprotokolls, das einen Großteil des Romans ausmacht. Die zweite Funktion erfüllt der Beobachter als Teil des Handlungspersonals − in der latenten Form seines Vorhandenseins. Während die erste Aufgabe, mit der ihn der Autor beauftragt hat − die des genauen Beobachters und Berichterstatters −, für den Leser evident ist, kann die Erfüllung seiner zweiten Aufgabe − nämlich auch selbst am Geschehen mitbeteiligt zu sein − nur anhand diskreter Indikatoren festgestellt werden. Denn nur einige Corpora delicti, nur bestimmte Requisiten sind es, aufgrund deren sich der Leser die Anwesenheit dieses in die Handlung des Romans miteinbezogenen Beobachters denken kann.

Rekonstruktion durch Illustration Wenn Die Jalousie ein Bilderroman ist, also eine Aneinanderreihung von Bildbeschreibungen, mit denen ich nichts anderes

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zu machen brauche, als all die Bilder zu zeichnen, die ich anhand des Textes imaginiere, dann ist diese Tätigkeit − einen Roman zu illustrieren − eine konventionelle Kunst, die es immer schon gab, also nichts Außergewöhnliches. Das Besondere in diesem Fall ist, daß sich der Text bereits selbst illustriert, daß er, wie gesagt, zum größten Teil aus der Beschreibung visueller Ereignisse besteht, aus der Schilderung von Bildern. Hier könnte allerdings ein Einwand gegen die überschüssige Information, gegen eine geradezu übersteigerte Redundanz an optischer und sprachlicher Bebilderung aufkommen. Die Idee, das Haus, das eine so wichtige Rolle im Roman spielt, zu rekonstruieren und die im ausreichenden Maße vorhandenen Beschreibungen dafür zu verwenden, um das Gegebene und das Vermutete nebeneinander zu stellen − diese Idee kam mir naheliegend vor. Ich würde geradezu darauf wetten, daß es Robbe-Grillets Absicht war, den Leser zu einem Rekonstruktionsvorgang anzuregen, ihn anzuspornen, die einzelnen Textfragmente = Bildfragmente = Hausfragmente als Teilstücke eines Legespiels zu sammeln, eines Puzzles, das ein Haus additiv entstehen läßt.

Beobachtungstechnik und Aufmerksamkeit Alain Robbe-Grillet betreibt Beobachtung mittels eines Zoomobjektivs, das ihm ermöglicht, ständig die Brennweiten zu wechseln: von einem Weitwinkel, der ganze Landschaftsabschnitte erfaßt, bis hin zum Teleobjektiv, das kleinste Details scharf sichtbar macht. Dauernd wechselt der Autor Standorte und Blickwinkel, um es aber dort, wo er gerade anwesend ist, mit der Beobachtung und der Beschreibung sehr genau zu nehmen. Die Ereignisse organisiert Robbe-Grillet wie auf einer Simultanbühne: an vielen Orten ist gleichzeitig etwas los und auch dort, wo

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keine Ereignisse stattfinden, die von Personen verursacht worden sind, findet der mit der Beschreibung beauftragte Beobachter berichtenswerte optische Sachverhalte. Er braucht nur einen Scheinwerfer oder sein Zoomobjektiv auf ein Objekt zu richten, damit sich die Aufmerksamkeit darauf lenkt, er braucht das Objekt nur mit einer Bedeutung auszuzeichnen, es zu einem Ereignis aufzuwerten und es auf diese Weise gleichfalls einer Beschreibung zugänglich zu machen. Der Beobachter macht dem Leser das Angebot, sich ebenfalls für die ausgewählten Objekte und Ereignisse zu interessieren. Der Leser wird dieses Angebot dann nicht annehmen wollen, wenn er die Frage stellt, warum die Aufmerksamkeit ausgerechnet auf diese Situation, auf dieses Objekt gerichtet worden ist und warum dieselbe Zuwendung nicht einem anderen Bereich gilt. Ein solcher Leser meint, hier eine andere Auswahl verlangen zu dürfen, denn die Möglichkeiten dazu sind groß: das Haus, die Personen, die Umgebung − das alles wird zwar mit Aufmerksamkeit bedacht, und doch ist er unzufrieden, weil er meint, daß mit demselben Grad an Aufmerksamkeit gegenüber einer Sache zugleich eine Achtlosigkeit gegenüber anderen Gegenständen einhergeht. Und so fordert er gerade das Ausgelassene, das Nichtbeachtete ein. Diese unbescheidene Forderung hat der Beobachter seiner Beobachtungs- und Beschreibungsmethode zu verdanken, denn er hat sich auf die genaue Beschreibung eingelassen, er hat durch die Richtung seiner Aufmerksamkeit einen Gegenstand herausgehoben und bedeutend gemacht. Der Leser will nicht einsehen, daß dies nur mit einer Auswahl an Objekten geschehen soll, er fordert die Auseinandersetzung mit allen Objekten, er dehnt seine anmaßende Forderung auf alles aus. Wie soll der Leser überzeugt werden, daß er der Beliebigkeit in der Auswahl des Ausschnitts folgen soll, daß er die Hervorhebung der Existenz gerade dieses Gegenstands zu akzeptieren hat und daß

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er die Attraktivität, die der Gegenstand für den Beobachter hatte, einsehen muß? Es ist dem Leser nicht zu helfen, wenn er darauf besteht, auch die unbeleuchteten Stellen, die nicht im Sehbereich des Berichterstatters lagen, für die Beschreibung freizulegen. (Er aber besteht darauf, weil er weiß, daß zur Feststellung der Identität Vollständigkeit in der Aufzählung der charakteristischen Merkmale eines Objekts oder einer Situation gehört. Diese Vollständigkeit fordert er ein.) Er kann nur vermuten, aber nicht bestätigt bekommen, daß wesentliche Teile in dem vom Autor entworfenen Erfassungsraster nicht enthalten sind. Das, womit er sich bescheiden muß, ist nicht gerade wenig, denn der Autor verlagert die Beobachtungsorte oft, immer wieder hat er neue Beobachtungssphären konstituiert und diese dann ausgedehnt. Seine Beschreibungen der Geschehnisse sprechen von der Beanspruchung aller Wahrnehmungssinne. Nur weil er den Leser so gut und präzise bedient, konnte sich dieser zu einem Querulanten entwickeln, der nun auf nicht vorhandene Rechte pocht, maßlos wird und weitere Forderungen stellt.

Ein Haus unter Beobachtung Wenn hier von einem Beobachter die Rede ist, dann ist damit nicht die numerische Einzahl gemeint, es muß also nicht von der Existenz nur eines einzigen Beobachters ausgegangen werden. Denn derjenige, der das Beobachtungsprotokoll verfaßt hat, scheint sich an vielen Orten zu gleicher Zeit aufgehalten zu haben oder zumindest war er potentiell dazu in der Lage. Er hielt viele Orte ständig besetzt, nahm wie ein Theaterzuschauer seinen Platz ein und konnte berechtigterweise annehmen, daß, wenn er hier nur lang genug verharrte, ihm irgendwann vor seinem Blick etwas Ereignis-

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haftes vorgeführt, ein Geschehen vor seinen Augen inszeniert und in sein Gesichtsfeld eingeschoben werden würde. Man kann von der Vorstellung ausgehen, hier geht ein Beobachter mehrere Beobachtungsorte ab, um jeweils von dort aus das Aktuelle zu berichten, oder aber − so kann man es auch sehen − es sind viele, auf Dauer stationierte Beobachter damit beschäftigt, solange abzuwarten, bis ihr Posten aktiviert wird, um ihre Tätigkeit aufzunehmen, und, wenn sich das Geschehen woanders hin verlagert hat, wieder deaktiviert zu werden. Sollten es tatsächlich mehrere Beobachter sein, die, an einzelne Beobachtungsorte verteilt, dann ihre Beobachtungsdaten aufzuschreiben beginnen, wenn vor ihrer Bildebene, in ihrem Gesichtsfeld Ereignisse im Begriff sind, sich aufzubauen und Bilder eingeschoben werden, dann läßt sich dennoch kein Unterschied zu den Beobachtungsdaten feststellen, die nur ein einziger Beobachter an verschiedenen Orten verfaßt hätte. Denn die Protokollsprache ist immer die gleiche, als wäre unter den Beobachtern eine einheitliche Beschreibungssprache vereinbart worden. Das Aufzeichnen von simultanem Geschehen ist allerdings nur mit entsprechenden technischen Einrichtungen möglich. Damit soll die Konstanz der Beobachtungsperspektive gesichert werden. Die Beobachtungsposten sind strategisch richtig und stabil positioniert; von ihnen aus sind die Handlungsräume jederzeit einsehbar und kontrollierbar. Die Lage des Beobachters kann man genau angeben, sie läßt sich geometrisch leicht berechnen, von der Tatsache ausgehend, daß jeder, der optisch und akustisch wahrnimmt, unwillkürlich eine symmetrische Position für seine Wahrnehmungsorgane − Augen und Ohren − und die angemessene Betrachtungsdistanz im Verhältnis zum Wahrnehmungsobjekt sucht. Die entsprechenden Textstellen lassen sich dazu als Rekonstruktionshilfen gut verwenden, und da es sich um einen real arbeitenden Beobachter handelt und nicht um

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Gedankenexperimente mit Wesen, die im Raum schweben und durch Wände sehen, so ist auch die Augenhöhe und die damit verbundene Perspektive leicht konstruierbar. Zur Technik des Beobachtens ist vorläufig die Frage zu stellen: Wie weit ist das Beobachtungsprotokoll gänzlich ein Tatsachenbericht, in dem alles ‚mit eigenen Augen‘ gesehen wurde, oder inwiefern handelt es sich nicht eher um eine Vermischung von Tatsachen und Vermutungen, weil hier jemand hinter einer Wand gestanden hat und die Geschehnisse, die dem Blick entzogen waren, nur vermuten konnte? Die Überlegungen zur Art der Beobachtung, nämlich ob sie eine direkte, offene, bekennende war oder ob sie heimlich, verstohlen, durch Spalten und Schlitze, also voyeuristisch vor sich ging, reichen bis ins Psychologische hinein. Den Text müßte man nach den Belegen für die eine oder die andere Art untersuchen.

Beobachtungsziel Das Beobachtungsziel des Autors ist hier ausschließlich das Haus und seine Umgebung. Sie bilden die primäre und bestimmende Struktur für Handlungen von Personen und zu dieser Tatsache eine Anmerkung im voraus: Die materielle Präsenz der architektonischen Form, das Kausalitätsverhältnis zwischen den Objekten, welche die handelnden Personen umgeben, und deren körperlichen Tätigkeiten, ist so evident, daß die Wirkung der Objekte auch dann noch ablesbar wäre, wenn man ihre Materialität ausblenden würde. Die auf diese Weise unsichtbar gemachte Architektur wäre nur an den (von ihr nicht trennbaren) Tätigkeiten der Menschen bemerkbar. Diese Trennung hebe ich deshalb hervor, um die Hierarchie der Elemente, die den Roman konstituieren, besser bestimmen zu können. Die beherrschende Stellung der architektonischen Form ist hier

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unbestreitbar − nicht nur daß sie Situationen und Handlungen begründet und verursacht, sie wird auch als das beschreibungswürdigste Element privilegiert und läßt die Frage nach ihrer Funktion stellen: Eine Treppe zum Beispiel wird von einem Baumeister, der sie hergestellt hat, anders gesehen als von einem Betrachter, der ihre Wirkungsweise sieht und wiederum anders vom Autor RobbeGrillet, der eine Beschreibung optischer Erscheinungen, die sich als Textur an ihr ereignen, liefert.

Beobachtungsinteresse, Beobachtungs- und Beschreibungstechnik Solange die Bühne leer ist, keine Handlungen stattfinden und „nichts passiert“, solange ist der Beobachter damit beschäftigt, die Kulissen und das Bühnenmobiliar einer genauen Betrachtung zu unterziehen. Aus allem, womit sein Auge affiziert wird, trifft er eine Auswahl, stellt er sich ein Sortiment an Gegenständen zusammen, die er nach und nach genau untersuchen und beschreiben wird. Aus dem architektonischen Objekt − dem Haus und seinen Bestandteilen − wählt er einerseits die Teile aus, die seine Struktur und räumliche Ausdehnung betreffen, andererseits ist er auch an den Oberflächen von Gegenständen interessiert. An den Teilen des Hauses, die die Dreidimensionalität ausmachen, will er die räumlichen Relationen dieser Teile feststellen, Entfernungen und Beziehungsstrukturen aufzeichnen, von der − anscheinend richtigen − Annahme ausgehend, daß, wenn er die relationale Struktur eines Gegenstands oder einer Situation beschreibt, er damit auch eine einprägsame Abbildung dieses Gegenstands anbietet. Der Beschreibung der optischen Ereignisse erschließt er immer neue Tiefenschichten − sowohl für die Großaufnahme als auch für die Detailaufnahme, wobei er für die Schilderung von Oberflächen

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seine Beobachtungsschärfe noch steigern kann. Dieser Beobachter macht in seinen Beschreibungen keinen Unterschied zwischen belebten und unbelebten Gegenständen. Die Beschreibungsmethode bleibt immer die gleiche, Sitzordnungen, Relationen und Oberflächen von Personen werden nicht anders betrachtet und beschrieben als die Struktur und Textur des Hauses und der umgebenden Landschaft. Mit seiner Beschreibungstechnik, ihrer Ausführlichkeit, Detailgenauigkeit und der Kunst des Erzeugens einprägsamer Bilder erreicht der Autor beim Leser das Empfinden der Nachvollziehbarkeit, was die Richtigkeit seiner Beschreibung anlangt, und vermittelt ihm das Gefühl, daß seine Beschreibung die angemessene − und wahrhafte − ist, daß der Leser daher imstande ist, auf die beschriebenen Sachverhalte auch richtig rückzuschließen. Diese hohe Meinung des Lesers über die Gültigkeit gerade dieser Beschreibung könnte, wie bereits ausgeführt, dann gemindert werden, wenn er zu bemängeln beginnt, daß nicht alles, was anwesend war, auch in die Beschreibung miteinbezogen wurde, daß er beim Imaginieren der Bilder anhand der Beschreibung vielleicht gerade das Fehlende vermißt und dieses ihm wichtiger erscheint als das in der Beschreibung Anwesende. Er kann es aber auch als Mangel empfinden, daß die Entscheidung des Beobachters für eine Beobachtungsposition nicht die richtige und schon gar nicht die einzig mögliche gewesen sein muß und gerade diese aber ihm als Leser aufgezwungen wird. Nun wird sie für ihn zu einer festgelegten Position, von der aus er einen Gegenstand immer wieder zu sehen und ihn sich künftig auch nur von dort her vorzustellen hat. Diese Vorstellung wird zu einer Konstanten − geprägt durch die Abbildung eines Gegenstands von einem Standort aus, der dem Leser immer vom Beobachter zugewiesen ist. Der Leser muß mit einem Gegenstand vorliebnehmen, den er anhand einer durch eine Textstelle evozierten Vorstellung nachbauen wird.

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Ich kann aber als Leser den Nachteil der Fixierung eines bestimmten Bildes des Gegenstands ins Positive umkehren, wenn ich die Starrheit als Sicherung der Identität des Gegenstands ausnütze, wobei mir nichts in Bewegung oder aus den Fugen geraten wird, zumindest in der Zeitspanne, die ich zur Anfertigung eines Modells des Gegenstands brauche, um mir dann am Modell all die Einblicke und Perspektiven zu verschaffen, die mir in den Textstellen des Romans verweigert wurden. Es wird mir dann möglich sein, das Objekt in viele Raumlagen zu bringen und es von vielen Positionen aus beobachtbar zu machen. Auf diese Weise wird das Objekt (leider nur in der Form eines Modell-Ersatzes, aber immerhin) losgelöst von der fixierten Vorstellung, es immer nur von ein und derselben Stelle aus sehen zu müssen. Der Leser kann außerdem nur hoffen, daß der Beobachter auch auf bedeutsame Situationen gewartet hat, die er von den unbedeutenden, unwichtigen, der Beschreibung nicht für Wert erachteten zu unterscheiden wußte. Ich als Leser bin guten Willens anzunehmen, daß aus den vielen Erscheinungen, die ein Gegenstand bietet, auch die richtige Wahl getroffen wurde und daß all diese Daten, nachdem sie vom Wahrnehmungssinn des Beobachters registriert wurden, auch zu bedeutsamen Eingabegrößen werden konnten. Auch verlasse ich mich darauf, daß danach vom Berichterstatter richtig entschieden wurde, was für die Beschreibung tauglich und relevant ist.

Genauigkeitsansprüche Der Autor hat einen genauen Beobachter mit der Beschreibung des Hauses, seiner Struktur und seiner Textur beauftragt und mich lehrt er, Fragen an das Haus zu stellen. Dadurch hat er sich allerdings einen kontrollierenden Leser ausgebildet, den er zur Überprüfung der Genauigkeit und der Wahrhaftigkeit der Beschreibung

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konditioniert hat. Wäre er nicht von Anfang an mit solch genauen Beobachtungs- und Beschreibungstechniken gekommen, hätte er nicht solch strenge Normen aufgestellt, dann würde man ihn nicht mit noch genaueren Kontrolltechniken verfolgen, um ihm Ungenauigkeiten nachzuweisen. Wer eine genaue Nachricht überbringen will, der läuft eben Gefahr, selber geprüft zu werden; dagegen ist jemand, der mit einer wolkigen, ungenauen, nur ungefähren Nachricht kommt, in einer besseren Position, da das Niveau seiner Schilderung von vornherein ein niedrigeres ist und er nichts verspricht, was er nicht einhalten könnte. Allerdings auch von demjenigen, der eine nur ungenaue, ungefähre Nachricht überreichen will, kann man eine Steigerung der Genauigkeit verlangen. Eine Steigerung der Genauigkeit der Beobachtung und der Schilderung ist sowohl beim Verfasser als auch beim Leser des Beobachtungsprotokolls möglich. Letzterer mußte zwar erst auf die Idee gebracht werden, daß es solche genauen Beobachtungsaufzeichnungen geben kann, dann aber kann er in der kontrollierenden und besserwisserischen Weise desjenigen, der alles noch genauer wissen möchte, auf einer gesteigerten Genauigkeit der Beobachtung bestehen. Er wird sich das Recht auf Prüfung anmaßen und sich prüfend auf die Abnahme der ihm überbrachten Nachrichten mit den Beobachtungsprotokollen machen. Er wäre dazu technisch sehr wohl in der Lage, denn jeder kann die Präzision seiner Unterscheidungsschärfe steigern. So kann sich der Leser in puncto Genauigkeit noch verbessern. Er wird als Kontrollor anmaßend und erbarmungslos kritisch, streng wird er die angelaufenen, ihm überbrachten Nachrichten abnehmen. Der zur Prüfung der Genauigkeit befähigte Leser wird zu einem Kontrollbeobachter. Was steht ihm als Prüfungsmaterial zur Verfügung? Die Beschreibung! Wie will er, wie kann er ihre Überein-

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stimmung mit der Wirklichkeit prüfen? Er könnte es, wenn er die Beobachtungs- und Beschreibungsprotokolle mit der Wirklichkeit vergleichen könnte. Unter welchen Voraussetzungen wäre dies möglich? Es ginge nur dann, wenn er die gleichen Bedingungen wie der erste Beobachter vorfinden würde. Obwohl der Leser nur ein Beobachter in Vertretung ist, ein bloßer Abnehmer von Nachrichten, stellt er Ansprüche. Er verlangt jetzt nach totaler, absoluter Genauigkeit. Wenn sie ihm schon angeboten wurde, dann verlangt er sie auch in aller Konsequenz. Von nun an fordert er in der Durchführung der Beschreibung höchste Genauigkeit. Gerade dadurch, daß so viele Details aufgezählt werden, fällt auf, was alles nicht aufgezählt und beschrieben wird. Der Leser, anstatt von der Erzähltechnik, die eine Beschreibungstechnik ist, beeindruckt zu sein, hat sich schnell an diese Methode gewöhnt und verlangt noch mehr. Mit Recht besteht er darauf, denn trotz der Detailgenauigkeit und Konzentration auf die optischen Phänomene kann der Autor nicht alles sagen, was das Objekt noch an anderen optischen Eigenschaften hat. Niemand könnte die Totalität dieser Eigenschaften nennen, außer er setzte alles auf die Feststellung der Identität eines Objekts und zwar durch das Aufzählen und Beschreiben aller beobachtbaren Daten. Das Aufzählen hätte aber kein Ende. Also, anstatt daß sich der Leser über den Reichtum an Details beeindruckt zeigt, moniert er die Unvollständigkeit in der Schilderung des Beobachtbaren.

Ein Roman als Bauplan Von Anfang an hielt ich das Buch für den Bauplan eines Hauses, für eine Anleitung zu seiner Rekonstruktion. Der Bauplan ist gegeben durch die Beschreibung der Eigenschaften der Einzelelemente: eines Raumes, einer Dachform oder der

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Lage eines Pfeilers. Solche Eigenschaften sind zugleich die Anschlußstellen und Kontaktflächen zu anderen Elementen (so hat die Küche eine Tür zum Eßzimmer und eine zweite Tür zum Hof, von dem aus wiederum eine Eingangstür in das Eßzimmer führt ...). Sie bilden also die logischen Anschlußmöglichkeiten an die anderen Gebäudeteile. Es handelte sich bei meiner Rekonstruktionsarbeit um ein induktives, spekulatives Vorgehen, in dessen Verlauf die Teilelemente des Hauses solange nach den Angaben im Buch geformt wurden, bis sie der Beschreibung entsprachen. Dann erst wurden sie, kumulativ, wie Bausteine eines Baukastens zum ganzen Haus zusammengestellt. Mit dem Romantext als Bauanleitung ist die Rekonstruktion des Hauses nicht schwer zu bewerkstelligen. Man braucht nur aufmerksam zu lesen, Angaben zur Form, Lage und Oberfläche der Gebäudeteile zu sammeln, aufzuschreiben und die Informationen den einzelnen Räumlichkeiten zuzuordnen. Über das Schlafzimmer gibt es beispielsweise vierunddreißig Informationen, die auf neunzehn Buchseiten fragmentarisch verteilt sind. Mit den Kommentaren zu den anderen Räumen und Objekten kombiniert, unter Befolgung der logischen Modi − ein Raum oder ein Objekt im Raum hat bestimmte Eigenschaften, die andere Eigenschaften ausschließen, seine Existenzform ist z. B. durch die Bedingung: „wenn x und y, dann nicht z“ angegeben − entsteht allmählich die Struktur des Hauses, als erste Phase des Rekonstruktionsprozesses.

Der Baukasten ist vollständig Der Roman ist ein Baukasten, ein Zusammensetzspiel, in dem Einzelteile, Einzelereignisse beschrieben werden, die erst nach ihrer Zusammensetzung ein Bild des Ganzen ergeben. Alain Robbe-Grillet hat nichts weggelassen, was zu einer Rekonstruktion notwendig ist. Im kumulativen Beschreibungsprozeß wird

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das, was zunächst weggelassen wurde, nachgeholt und ergänzt, stückweise, nach und nach werden die maßgeblichen Eigenschaften der Einzelteile beschrieben. Genauso additiv, wie sich der Prozeß des Sammelns der über den ganzen Text verstreuten Beschreibungsdaten, des Zusammentragens des Materials und der Formung der Baukastensteine darstellt, genauso additiv ist auch der Vorgang des Zusammenstellens, des Anpassens der Teile zu einem Ganzen − zur Gesamtform des Hauses.

In der Kopie des Hauses sich einzurichten Ich habe nach den Angaben des Autors des Beobachtungsprotokolls eine Rekonstruktion des Hauses, eine Fortsetzung der Existenz des Hauses aus dem Roman in die Wirklichkeit erstellt. Dieses Haus steht nun, es ist leer, ohne Bewohner, da sie nicht mit der Rekonstruktion mitentstanden sind. Das rekonstruierte Haus ist neu, es ist frisch. Es hat noch keine Aura, keine Patina des Alterns. Die Abwesenheit der Bewohner empfinde ich als problematisch: Sie haben in dem beschriebenen Haus eine starke Anwesenheitsform gehabt, anteilsmäßig sind sie genauso beteiligt wie die Struktur- und Texturteile des Hauses. Einerseits sind sie eine nicht zu vernachlässigende Größe gewesen; andererseits ist ihre Abwesenheit günstig für das unbefangene Erforschen der Räume. Ich sehe mich in dem Haus jetzt alleine so richtig um. In der Kopie des Hauses kann ich mir all die Einblicke, Blickwinkel etc. verschaffen, die im Text nicht erfaßt worden sind, die mir der Verfasser schuldig geblieben ist. Jetzt gibt es das gleiche Haus in zwei Exemplaren. Ich habe ein Haus gebaut, indem ich die Kopie eines fremden Hauses angefertigt habe. Benützen kann ich es entweder auf gleiche Weise, wie es im Roman verwendet wird, oder ich werde mir die Nutzung freihalten und es auf meine Art verwenden, ohne jemandes Verhalten nachzuahmen.

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Alain Robbe-Grillet, Die Jalousie oder die Eifersucht, aus dem Französischen von Elmar Tophoven, Philipp Reclam, Stuttgart 1966.

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Struktur als Autorität Anmerkungen zur eigenen Arbeit

Die Serie großformatiger Handzeichnungen Große Stilleben (1974–1978, Bleistift auf Papier) besteht zum Teil aus Zeichnungen, deren Thema die Bestandsaufnahme von Gegenständen auf einer Tischfläche war. Von den Gegenständen (Teller, Tassen, Löffel etc.), die zuerst vermessen wurden, sind Maßzeichnungen angefertigt worden. Danach wurde die Tischfläche durch eine bestimmte Anzahl von Planquadraten strukturiert. Die zeichnerische Darstellung der Gegenstände, die durch ihren Gebrauch ständig die Lage änderten, war an einen vorgegebenen zeitlichen Rahmen gebunden. In den folgenden Überlegungen versuche ich, einige der Bedingungen solchen Vorgehens und der ihnen immanenten Strukturzwänge zu benennen.

Strukturen der Gegenwartsbilder Ein grundlegendes Merkmal eines jeden Werkes ist die Limitierung der zu seiner Herstellung verwendeten Mittel. Limitierung bedeutet hier Wahl und Dosierung der Mittel in einer angemessenen Menge1, wobei zu diesen Ausdrucksmitteln nicht nur die im Werk sichtbaren gezählt werden müssen, sondern auch diejenigen, welche nicht sichtbar an dessen Konstituierung beteiligt waren. Einer der Faktoren, die für die Zeichnungen der Serie Große Stilleben strukturgebend waren (die relevanten Faktoren werden hier in loser Reihenfolge und ohne hierarchische Ordnung aufgezählt), ist das Zeitlimit, innerhalb dessen die Beobachtung und Beschreibung der Geschehnisse auf der Tischfläche abzulaufen hatten.

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Gleichgültig, ob man den Zeitrahmen mit einem bestimmten Wochentag oder einem markanten Tagesabschnitt wie Morgen, Mittag oder Abend festsetzen will: Die ‚Struktur der Zeit‘ ist immer schon vorhanden, weshalb man zur Kontrolle der Ereignisse auf der Tischfläche den Kalender oder die Uhr in konventioneller Weise oder nach dem Zufallsprinzip verwenden kann. Die Vorgabe des Zeitrahmens „vor dem Essen“ und „nach dem Essen“ ist für die Feststellung der Lage der Gegenstände genauso einsichtig, wie „an jedem Monatsersten“. Die Zeitstruktur der (gezeichneten) „Tagebucheintragungen“, als die man die Werkserie Große Stilleben verstehen könnte, gehört also zu ihren im Resultat nicht sichtbaren, latenten Faktoren. Sie ist auch der Grund, weshalb man von mehreren Möglichkeiten der Interpretation ausgehen muß. Ich selber sah keinen Grund, die Zeichnungen anders als ein Protokoll aufzufassen, das die Chronologie des fortschreitenden Kumulierens von Ereignissen festgehalten hat: „Die Zeichnungen sind visuelle Aussagen über etwas Zeitliches, über etwas, das sich über längere Zeiträume erstreckt hat. Sie sind Aufzeichnungen des Vorher, des Inzwischen und des Nachher.“2 Da aber die tatsächliche Reihenfolge, in der die Aufzeichnungen vorgenommen wurden, auf dem Zeichenblatt selbst nicht nachvollziehbar ist, kann meine Sichtweise − „Die Zeit ist ein Maßstab dessen, was war, ist und sein wird. Sie ist eine künstliche Einteilung in das, was vorher war und was nachher wurde.“3 − unbeachtet bleiben und das Werk nicht als Gedächtnisbild, sondern als Plan künftiger Ausführungen, als „Blaupause aller zukünftigen Bewegungen“4 betrachtet werden. Davon ausgehend werden aus Bildern der Vergangenheit Konstruktionen der Zukunft. Neben der Zeitstruktur ist es die „geometrische Struktur“, die die Serie Große Stilleben beherrscht. Ihr Einfluß gründet in der Bereitschaft des Protokollführers, sich den Konventionen der projektiven Geometrie und dem Diktat eines Erfassungsrasters unterzuordnen.

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An welcher Stelle der Tischfläche sich die in den Zeichnungen beschriebenen Gegenstände jeweils befanden, wurde durch ihren Gebrauch bestimmt. Die Nachbarschaft zu den anderen Gegenständen, der Wechsel der Nachbarschaften im Laufe der Zeit und die Änderungen der Raumlage (stehend oder liegend) − auch sie ergab sich aus dem Gebrauch der Gegenstände − bildete eine eigene, relationale Struktur, die umso komplizierter wurde, je zahlreicher die Begegnungen der am Tisch aufgestellten Gegenstände wurden. Auf diese Weise entstand eine unsichtbare autonome Struktur der Beziehungen zwischen allen Gegenständen, die sich innerhalb eines Territoriums, das von einem rechtwinkeligen Raster beherrscht wurde, entwickelte. Dieser Raster, der die Tischfläche überzog, hat die Anordnung der Gegenstände aber nicht bestimmt, sie haben ihren Platz nicht eingenommen, um ihm gerecht zu werden. Er diente einzig allein der exakten Feststellung der Lage der Gegenstände, d. h. zu deren Kontrolle. Keine geringe Funktion also, die er hier zu vertreten hatte. Die Bedeutung des Rasters bestand aber nicht nur darin, als starre kartographische Struktur zur Orientierung auf der von Gegenständen dicht besetzten Tischfläche beizutragen, als strukturanzeigendes Element gewann er eine große Autorität auch dadurch, daß er Aktionsfelder für lokalisierbare Ereignisse definiert hat. Er stellte eine respekteinflößende strukturelle Autorität dar, denn nicht an einer unbestimmten, beliebigen Stelle lag beispielsweise ein Messer oder stand eine Schale, sondern an einer genau bestimmbaren Stelle des Planquadrats. Die (wertmindernde) Zufälligkeit der Ereignisse wurde durch die Genauigkeit ihrer Lokalisierung wettgemacht, die dadurch den Ort, an dem das Ereignis stattfand, hervorhob. Die Navigation durch das Dickicht der aufgezeichneten Ereignisse verdeutlicht die Unabhängigkeit der beiden Strukturen. Der Raster, der die Orientierung im Raum sichert, einem Raum voller Beziehungen zwischen Gegenständen, ist eine Struktur, die durch Aufzeichnung

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der Ereignisse eines Ortes zugleich dessen symbolische Nobilitierung bewirkt. Die Zeit ist dagegen eine Struktur, die den Gegenständen durch den Betrachter a priori eingeschrieben ist. Es gibt für sie keine Hierarchie der Ereignisse, da jedes Ereignis, auch das kleinste, ein Hauptereignis ist. Diese beiden Strukturen sind existenziell mit der Versuchsanordnung der beobachteten Gegenstände verbunden. Sie strukturieren deren Wirklichkeit. Neben diesen beiden Strukturen hat sich noch eine weitere entwickelt, die „Struktur der Übertragung“. Sie ermöglicht es, Gegenstände des empirischen Raumes (des Modelltisches) in den Raum der Zeichnung zu übertragen. Die Zeichnungen der Großen Stilleben sind also Mittel zur Konservierung von Ereignissen, sie sind auch zur Unterstützung der Erinnerung angefertigt worden. Die Abbildungsmethode berücksichtigte, daß eine Eintragung im Beobachtungsprotokoll (der Zeichnung) nur dann erfolgen kann, wenn gesichert ist, daß sich die beobachteten Gegenstände zum Zeitpunkt der Aufzeichnung nicht verändern, und daß ihre räumliche Lage, auch die gegenüber dem Bezugsrahmen, für die Zeitdauer der Aufzeichnung stabil bleibt. Auf Grund dieser strukturalen Vorgabe zur Führung des Protokolls kann der Betrachter davon ausgehen, daß die Aufzeichnungen dem Regulativ entsprechend fehlerfrei vorgenommen wurden. Das Protokoll setzt sich aus der Summe der aufgezeichneten Daten der Gegenstände zusammen. Seine Struktur ist eine Abstraktion jener Struktur, die der Kumulation der Ereignisse im Versuchsmodell zugrunde liegt. Autoritär ist diese Struktur von Anfang an, schreibt sie doch demjenigen, der sie verwendet, die Abbildungstechnik vor. Sie schreibt ihm die Reduktion des phänomenal vielfältigen Erscheinungsbildes der Gegenstände auf die zweidimensionale, lineare Umrißform der Zeichnung genauso vor, wie sie deren Projektion nach den Regeln der Perspektive fordert. Über den Umweg der Zeichnung

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wird aber auch der Betrachter in die Pflicht genommen, nämlich, ihre Autorität anzuerkennen. Schon deshalb, weil ihm die Struktur, wie sie mit der Zeichnung vorliegt, nur einen einzigen Beobachtungsstandort bietet, nämlich den des Zeichners, der ihm, dem Betrachter, nur eine (seine) reduzierte Auswahl an Informationen über die Gegenstände liefert. Zugleich irritiert diese Struktur den Betrachter. Zwar ist die Anzahl der beschriebenen Gegenstände am Modelltisch nicht sehr groß, doch kann der Betrachter durch die vom Zeichner gewählte Abbildungsmethode nicht mehr entscheiden, ob es sich bei der Anhäufung der Gegenstände, beispielsweise der Löffel, um ein und denselben Gegenstand in unterschiedlichen Lagen handelt oder um verschiedene Gegenstände in einer einzigen Lage.

Strukturen der Vergangenheitsbilder Auf dem Weg von meiner Berliner Wohnung in Charlottenburg zum Atelier in Kreuzberg, wo ich Ende der siebziger Jahre gearbeitet habe, mußte ich auch entlang der Berliner Mauer fahren, und zwar jenes Stück, wo sich diese − kurz vor der Bauruine des Anhalter Bahnhofs − von der Straße absetzte und einen riesigen, leeren, mit Kies bestreuten Platz gebildet hat. Auf diesem Platz standen Touristenbusse, eine Würstelbude und mehrere Aussichtsplattformen, wie sie an vielen Stellen der Mauer aufgestellt waren. Nach einiger Zeit drängte sich mir die Frage auf, warum es gerade für diesen Ort ein touristisches Interesse gibt. Die Antwort lautete: Weil es sich hier um den ehemaligen Potsdamer Platz handelte. Maurice Halbwachs führt in seinen Studien zum kollektiven Gedächtnis das Beispiel der Zerstörung der Abtei von Port Royal an und bezieht sich auf eine Zeit, in der man die „Herren und Nonnen zerstreute, womit noch nichts getan wurde, solange man nicht die Gebäude der Abtei dem Erdboden gleichgemacht hatte und nicht

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diejenigen dahingeschieden waren, die sie in Erinnerung behielten“.5 Er erklärt, warum Bilder von Räumen, womit er den „räumlichen Rahmen“ einer Gesellschaft, ihr materielles Milieu meint, eine so wichtige Rolle im kollektiven Gedächtnis spielen können: weil ein Ort eine Gruppe prägt, so wie sie den Ort prägt. „ Jeder Aspekt, jedes Detail dieses Ortes hat selber einen Sinn, der allein für die Mitglieder der Gruppe wahrnehmbar ist, weil alle räumlichen Bereiche, in denen sie gelebt hat, einer bestimmten Anzahl verschiedener Aspekte der Struktur und des Lebens ihrer Gesellschaft entsprechen − dem zumindest, was in ihr am dauerhaftesten war. Sicherlich fügen sich auch die außergewöhnlichen Ereignisse in einen räumlichen Rahmen ein − jedoch weil anläßlich ihres Geschehens die Gruppe sich intensiver dessen bewußt geworden ist, was sie seit langem und bis zu diesem Augenblick war, und weil die Bande, die sie mit dem Ort verbanden, in dem Augenblick deutlicher für sie hervorgetreten sind, da sie zu zerreißen begannen. Aber ein wirklich schwerwiegendes Ereignis bringt immer eine Wandlung des Verhältnisses der Gruppe zum Ort mit sich […]. Von diesem Augenblick an wird es nicht mehr genau dieselbe Gruppe geben, auch nicht mehr dasselbe kollektive Gedächtnis; aber gleichzeitig wird auch die materielle Umgebung nicht mehr dieselbe sein.“6 Eine solche Wandlung des Verhältnisses einer Gruppe zu einem Ort konnte man auch am Potsdamer Platz feststellen − an der Ehrerbietung, die die Menschen einem in seiner ursprünglichen Form gar nicht mehr vorhandenen „Raum“ erwiesen. Indem sie an diesem Platz festhielten, wollten sie ihn in ihrem Gedächtnis in Erinnerung behalten. Menschen, die einem Ort eine Bedeutung zusprechen, müssen jedoch nicht unbedingt Angehörige jener Gruppe sein, die früher mit diesem nun zerstörten Ort lebensgeschichtlich verbunden war. Auch Ortsfremde sind willkommen, den Glauben an ihn ad infinitum fortzusetzen. Auch nach Jahrzehnten wollen am ursprünglichen Geschehen Unbeteiligte, die eine bloß mittelbare Beziehung

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zur Vergangenheit haben können, wenigstens stellvertretend am vergangenen Geschehen teilhaben. Und sie tun es intensiv, in einer endlosen Anbetung des Ortes. Orte können also auch dann noch bedeutungsvoll sein, wenn von ihrer ursprünglichen Gestalt nichts mehr vorhanden ist. Wesentlich für ihre Bewertung ist aber, daß es die materiellen oder vitalen Elemente, durch die der Ort definiert ist, tatsächlich gegeben hat. Die Auszeichnung eines Ortes durch die Anerkennung der Bedeutung des dort tatsächlich Stattgefundenen erhöht dessen Wertschätzung und macht aus einem vorher profanen einen denkwürdigen Ort. Damit habe ich für mich, zumindest skizzenhaft, den Nachweis erbracht, daß es möglich ist, dort von einer Strukturgründung zu sprechen, wo Punkte im Raum reales Geschehen markieren und als Zeichen der Wahrhaftigkeit zu lesen sind; wo also räumliche Markierungen, die eine neue Struktur konstituieren, die parallel zur Struktur der geometrischen Aufzeichnung deshalb über Autorität verfügt, weil sie imstande ist, gewöhnliche Orte zu besonderen zu machen. Die Betrachter der Großen Stilleben befinden sich in einer ähnlichen Situation wie die Besucher eines historischen Ortes, dessen Wahrnehmung vom Wissen über diesen Ort durchsetzt ist: Sie, die seinerzeit nicht an den Aufzeichnungen beteiligt waren, sind aufgerufen, zu Beteiligten zu werden. Dem Leser eines Buches vergleichbar, haben sie die Möglichkeit, durch das Lesen der Zeichen sich in das Geschehen einzuklinken, und die Pflicht, den hohen Stellenwert der Faktizität der Aufzeichnungen anzuerkennen. Das Ungewöhnliche an den Großen Stilleben ist nun, daß dem Merkmal des Faktischen ein so großer Stellenwert zugeschrieben wird. Ungewöhnlich deshalb, weil in der Kunst üblicherweise der Qualität eines ästhetisch wirksam konstruierten Werkes der Vorrang gegenüber der Mimesis gegeben wird, und zwar einfach deshalb, weil die Informationen über die realen Formeigenschaften der

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abgebildeten Gegenstände die Poetik eines Werkes nicht stützen und stärken, sondern ihr abträglich sind. Aber gerade diese verpönten Fakten sind es, die für das Konzept der Werkserie Große Stilleben konstituierend sind. Ein Ort, der vor dem Ereignis (vor der Veränderung der Lage eines Löffels beispielsweise) ein neutraler gewesen ist, ist durch dieses Ereignis bedeutend geworden und hat gegenüber anderen Orten, an denen sich nichts ereignet hat, an Autorität gewonnen. Der Glaube an eine solche Autorität ist, wie jeder Glaube, eine Sache der Konvention. Diejenigen, die sich dieser Konvention unterwerfen, werden belohnt mit der Möglichkeit, an Erinnerungen teilzunehmen,7 Erinnerungen, die zwar nicht ihre eigenen sind, deren Bedingungen ihnen aber vom Zeichner einsichtig vermittelt werden. Der Zeichner verfügt nämlich über die Möglichkeit, einen Ort mit einer besonderen Bedeutung auszustatten, womit „ein Datum oder ein Ort eine Bedeutsamkeit erlangt, die er für andere nicht haben würde“.8 Der auf diese Weise präparierte Betrachter ist auch bereit, fremde „Erinnerungen von einst aufsteigen zu lassen“.9 Dem Zeichner, der das Protokoll der stattgefundenen Ereignisse angefertigt hat, geht es in einer Hinsicht wie dem Betrachter seiner Zeichnungen: Auch er kann in der nachträglichen Wahrnehmung die (gezeichneten) Gegenstände und deren ursprüngliches Milieu nicht in der Weise rezipieren, wie zur Zeit der Aufzeichnung. Der zeitliche Abstand relativiert die Genauigkeit der Erinnerung, auch die der Datierung der vergangenen Ereignisse, wenn die Erinnerung nicht von all den Techniken unterstützt wird, die zur Feststellung der Situationen von damals und jetzt notwendig sind. Allerdings befinden sich beim Zeichner die Bilder der Vergangenheit und der Gegenwart im Zustand der Durchdringung, und beide zeitliche Ebenen sind die seinen. Der Betrachter der Bilder hat dagegen die erste, „historische“ Erfahrungsebene, die die Grundlage der Aufzeichnungen darstellt, nicht zur Verfügung. Sie fehlt ihm gänzlich, er muß deshalb mit Erinnerungen aus zweiter Hand vorlieb nehmen. Daher ist der Bezug

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des ersten Betrachters, der des Zeichners, und des zweiten Betrachters, der des Publikums, zu den abgebildeten Gegenständen in mancher Hinsicht gleich und in mancher ganz unterschiedlich. Der erste Betrachter weiß und sieht, der zweite sieht zunächst nur und erwartet Aufklärung über die aufgezeichneten Ereignisse. Das vermittelte Wissen läßt ihn später von dominanten oder exponierten Orten sprechen. Und obwohl er bei deren Gründungsereignissen gar nicht anwesend war, eignet er sich die Argumente für die Verleihung der Bedeutsamkeit an und findet sie plausibel. Damit hat er die Autorität der Struktur historischer Orte anerkannt.

1

Es reicht aus, von einer Menge zu sprechen, ohne auch die Weise der Verwendung der Mittel erwähnen zu müssen. Wenn die Auswahl mengenmäßig getroffen wurde, zum Beispiel die Festlegung einer bestimmten Anzahl der zu verteilenden Elemente, so stellt auch die Art ihrer Verteilung, d. h. die Weise, in der sie angeordnet werden, eine Menge dar, die als solche quantifizierbar ist.

2

František Lesák, „Zu den ‚Großen Stilleben‘“, in: František Lesák. Zeichnungen, Ausstellungskatalog, DAAD Galerie, Berlin 1979.

3

Ebd.

4

K. Schippers, „Blauwdruk“, in: ders., Museo sentimental. Verhalen en beschouwingen,

5

Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Enke, Stuttgart 1967, S. 129.

Amsterdam, 1989. 6

Ebd., S. 130.

7

Zum Thema der Lokalisierung von Erinnerungen siehe Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Luchterhand, Berlin–Neuwied 1966, S. 163 ff.

8

Ebd., S. 64.

9

Ebd., S. 130.

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Farbenlehre

Denk, jemand zeigte auf eine Stelle der Iris in einem Rembrandtschen Auge und sagte: „Die Wände in meinem Zimmer sollen in dieser Farbe gemalt werden.“ (Ludwig Wittgenstein, „Bemerkungen über die Farben“) In einigen der mehr als vierhundert zählenden „Bemerkungen über die Farbe“ spricht Wittgenstein von Farben als psychologischen oder physikalischen Phänomenen, deren Gültigkeit erst durch einen Vergleich, durch das Nebeneinanderstellen eines Referenzobjekts bestätigt werden kann. Fragen, die er stellt, beziehen sich auf das Erlangen von Gewißheit, daß wir dasselbe wahrnehmen und daß wir das Wahrgenommene angemessen bezeichnen können. Gedankenexperimente, in denen ein Farbphänomen mit einem Muster verglichen und übereinstimmen würde, zeigen einen möglich Weg, solche Gewißheit zu erreichen. Eine der Grundregeln der Malerei besagt, daß eine Farbe erst durch die Nachbarschaft zu einer anderen Farbe ihre Wirkung und ihren Wert erlangt. Beim Setzen unterschiedlicher Farben nebeneinander bildet sich aber nicht nur eine mehr oder weniger bunte Pigmenttextur, sondern es entsteht zugleich auch eine Flächenanordnungsstruktur. Farbe, die als Unterscheidungsmerkmal − als unterschiedlicher Buntton oder verschieden in ihrer Helligkeit − an der Aufbaustruktur der Farbfleckenformation beteiligt ist, kann als flüchtiges Phänomen jederzeit entfernt und durch eine andere Farbe oder durch ein anderes Oberflächenphänomen ersetzt werden, wobei die Stabilität der Formation weiterhin durch die ihr zugrunde liegende Struktur abgesichert wird. In diesem Sinne ist die Aufbaustruktur wegen ihrer Beständigkeit der wesentlichere Teil eines Bildes, während die Farbe auf Grund ihrer Flüchtigkeit und

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Vergänglichkeit jederzeit in ihrem Stellenwert herabgestuft werden kann. So könnte man sagen, daß „Skizzen zur Farbe“ und „Farbenlehre“ nur sekundär von Farbe handeln, daß hier primär räumliche Anordnungen von Feldern sowie deren Anordnungsstruktur abgebildet werden. Während das distinktive Merkmal Farbe leicht ersetzbar ist, ist es die tragende Struktur nicht. Diese ist dauerhaft und universell, denn sie ließe sich auch mit phänomenal anderen Unterscheidungsmerkmalen besetzen. Andererseits ist hier die Struktur vom Erscheinungsbild eines Aquarellkastens und seiner Bestandteile bestimmt − deshalb wird das Lesen des Bildes auf Dauer vom Wiedererkennen der Vorlage geprägt. So wie die Farben hier eingesetzt sind, sind sie referenzierende Muster: sie melden sich jeweils von einer anderen Stelle, werden in unterschiedlichen Raumlagen ausgemacht und je mehr ihre Form variiert, desto mehr festigt sich in der Wahrnehmung ihr Bild.

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Präzision als Tugend, als Notwendigkeit und als Selbstzweck

Präzision als unpräziser Begriff Ein oft reproduziertes Bild mit dem Titel Watch ist im Jahr 1925 von Gerald Murphy gemalt worden, einem Vertreter jener amerikanischen Stilrichtung, die man als Precisionism1 bezeichnet. Es stellt in einer ausschnitthaften, frontalen Ansicht mehrere hintereinander gereihte Uhrwerke dar. Es handelt sich um eine Darstellung, die man für gewöhnlich als „präzise“ bezeichnen würde. Präzise deshalb − wenn man sich auf die Definition des Begriffs „Präzision“ bezöge −, weil hier in einem vereinfachenden, um Klarheit der Mitteilung bemühten Darstellungsschema, das wesentliche Teile eines Ganzen hervorhebt und unwesentliche wegläßt, eine objektive Information übermittelt werden will. Der im Bild dargestellte Mechanismus steht für eine Gruppe von Apparaten, die man allgemein als „präzise“ bzw. als „Präzisionsgeräte“ bezeichnet. „Präzise“ werden demnach hochkomplizierte Instrumente, unter anderem Uhren genannt, die, wenn sie zusätzlich zu der Standardkomplexität eines Uhrwerks noch viele andere Funktionen aufweisen, in die Klasse der „grand complication chronometer“ aufsteigen dürfen. Einerseits wird also das Prädikat „präzise“ vom Bereich aufwendiger, komplizierter Instrumente und Maschinen beansprucht, mit denen man Eigenschaften wie Genauigkeit und Feinheit verbindet, andererseits bedeutet es, aus dem altlateinischen „prae-cisus“ stammend, „vorne abgeschnitten, abgekürzt, genau umrissen, genau angegeben“. Man kann dem Problem, das sich aus der Mehrdeutigkeit des Begriffs „Präzision“ ergibt, ausweichen, indem man diesen synonym mit dem umgangssprachlich bewährten Begriff „Genauigkeit“ verwendet.

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Meinen Beitrag möchte ich mit eigenen Arbeiten illustrieren, beziehe mich aber nur mittelbar auf diese. Ich möchte nämlich allgemeine Kategorien von „Präzision“ aufstellen, wobei sich das Abbildungsmaterial nur teilweise mit dem Inhalt decken kann. Und nicht alles, was ich im Hinblick auf das Problem Präzision erörtern möchte, läßt sich auch auf meine Arbeit beziehen.

Warum ist man präzise? Ich gehe von der Vorstellung aus, daß Welt, die uns umgibt, auf relativ präzisen Strukturen aufgebaut ist, an deren Stabilität wir uns orientieren können. Die konstanten Faktoren der physikalischen Welt lassen unsere Handlungen vorhersehbar und erfolgreich ablaufen. In diesen vorstrukturierten Umgebungen werden Gegenstände von hohem Präzisionsgrad erzeugt und aufgestellt. Wenn man die Präzision „unbelebter Strukturen“ bewundert, „die von Tieren erzeugt werden, wie Spinnweben, Wespennester oder Biberdämme“,2 so sollte man sich vor Augen führen, daß sie auf der Invarianz ihrer Strukturen gegründet sind, an denen jeweils variable Formenteile befestigt werden. Das trifft auch auf die „Erzeugnisse menschlicher Tätigkeit“ zu. „Wenn man sie im Hinblick auf ihr Herstellverfahren untersucht“3, dann sieht man, wie sich aus den wechselseitigen Beziehungen zwischen Materialeigenschaften, motorischen Fähigkeiten der Hand oder dem Entwicklungsstand der Technologie präzise Aufbaustrukturen entwickelt haben. Diese Strukturen bleiben bis zur Änderung eines der genannten Parameter konstant und bestimmen den Herstellungsakt. Demzufolge verstehe ich Präzision als einen genau eingehaltenen Herstellungsakt, der die dem Objekt unterlegte Struktur berücksichtigt. Wird er nicht eingehalten, wird die Struktur in einer nicht angemessenen

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Weise mit Formteilen besetzt, dann wird die Funktion beziehungsweise die Ästhetik des Objekts als mißlungen erscheinen. Aus dieser Sicht ist Präzision ein Vorgang, eine Aktivität des „Genau-Seins“. Beim Genau-Sein geht man vergleichend vor; man vergleicht das eigene Tun mit einer Vorlage, die zeigt, wie das Ergebnis dieses Tuns ausfallen sollte. In diesem Verfahren werden Ergebnisse der eigenen Tätigkeit an vorhandenen Vorlagen gemessen. Das Messen ist somit von Anfang an ein unabdingbarer Bestandteil des Genau-Seins. War man bestrebt, möglichst nahe an eine Vorlage heranzureichen, und wurde diese Vorlage wegen entsprechender Beschaffenheit zur allgemein gültigen Norm erhoben, so wird das normative Denken ebenfalls von Anfang an zu einem unabdingbaren Bestandteil des Genau-Seins. Zur Ausübung von Berufen, die eine hohe, mit der Zeit sich noch steigernde Genauigkeit verlangen, ist eine bestimmte psychische Disposition mitzubringen, die man Verläßlichkeit und Gründlichkeit nennt. Für den Willen zur Genauigkeit, für die genaue Anfertigung eines Werkes oder für die exakte Durchführung einer Handlung, die der Norm entspricht, erwartet man eine Anerkennung und erhält sie auch meistens. Die Präzision wird als Tugend belobigt.

Wann kann man präzise sein? Meiner Meinung nach kann man unter allen Bedingungen, in jeder Lage präzise sein. Angenommen, ich hätte die Möglichkeit, den beiden Typen, wie sie Claude Lévi-Strauss in Das wilde Denken unterschieden hat,4 dem „Bricoleur“ mit seiner Bastelei auf der einen und dem „Ingenieur“ mit seinen Konstruktionen auf der anderen Seite, bei ihrer Tätigkeit zuzuschauen, dann würde ich, in puncto Präzision, keinen Grund sehen, den einen über den anderen

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zu stellen, nur weil sich beide der Technik in unterschiedlichen Entwicklungsstufen bedienen. Die primäre Voraussetzung für ein genaues Vorgehen wäre in beiden Fällen der Wille zur Präzision. Nicht die Bestausstattung mit den modernsten und exaktesten Arbeitsmitteln, sondern die Präzision der Methode, mit der sie sich die Welt aneignen, würde maßgeblich sein. Für den improvisierenden Bastler würde es entscheidend sein, wie aufmerksam er beim Ausschauhalten nach geeigneten Objektteilen vorgeht, wie genau er sie in Bezug auf ihre Brauchbarkeit für den Einbau in improvisierte Konstruktionen beurteilt. Im Vergleich zu ihm, dem aus dem Stegreif werkenden Bastler, wird der konstruierende Ingenieur immer etwas benachteiligt sein, denn er ist derjenige, der mit dem Konstruieren erst gar nicht beginnt, wenn die benötigten Rohstoffe und die entsprechenden Technologien nicht erreichbar sind. Weiters ist er im Nachteil, wenn er im abgesteckten Rahmen auf ein genormtes Ziel hin denkt und darum Gefahr läuft, sich durch normatives Denken anstecken zu lassen. Diese beiden unterschiedlichen Typen sind auf der Ebene ihres Willens zur Genauigkeit aneinander zu messen und nicht auf der Ebene ihrer nicht vergleichbaren Konstrukte, die jeweils als Produkte gänzlich anderer Materialbedingungen und Technologien entstanden sind. Um für Präzision gut benotet zu werden, haben beide unter den jeweils gegebenen Bedingungen ihr Bestes zu geben. Der Bricoleur muß exakt improvisieren und extemporieren, denn auch seine Konstruktionen sollen sich in ihrer Stabilität und Funktion bewähren. Er darf aber dabei die Welterfahrung eines freilaufenden Hundes machen, im Unterschied zu der Erfahrung eines an die Kette gelegten Hundes, also des im Rahmen der Normen tätigen Ingenieurs, der nur mit zweckgebundenen Elementen arbeiten kann. Dieser, und das ist der Vorzug seiner Vorgangs weise, arbeitet als Planer projektiv, trennt das Notwendige vom Zufälligen. In komplexen planerischen Verfahren, unter Beachtung

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von Konstruktionsregeln, berücksichtigt und fügt er nur solche Bestandteile ein, die zwingend notwendig sind. Das Ergebnis seiner Arbeitsmethode, das finale Präzisionsobjekt, ist auf einer rationalen Struktur, auf objektivierbaren und kodifizierbaren Regeln aufgebaut und kann daher jederzeit wiederholt werden. Der Bricoleur dagegen, der retrospektiv arbeitet, indem er Fundstücke aus zweiter Hand verwendet, erklärt das Zufällige zum Notwendigen. Die Stabilität und Funktionalität seiner Konstrukte sichert er sich, indem er, präzise variierend, die vorgefundenen Bestandteile auf ihre tektonische Eignung testet. Die Ergebnisse seines Tuns sind einmalig und wären nur dann wiederholbar, wenn alle maßgeblichen Parameter wieder eingehalten würden. Für den Aspekt der Präzision aus der Unterscheidung der beiden Tätigkeitsformen, wie sie Lévi-Strauss vornimmt, würde folgendes gelten: Da die Prozesse der Ideenfindung und des kreativen Konstruierens in beiden Fällen unter anderen Bedingungen ablaufen, hat auch die Präzision jeweils einen spezifischen Stellenwert − was den Präzisionsakt während des Konzipierens und des Konstruierens anbelangt als auch das Ergebnis, das Präzisionsobjekt selbst. Aber präzise, so lautet die Antwort auf die oben gestellte Frage, kann man immer sein, unabhängig vom Entwicklungsstand der Technologien, derer man sich bedient.

Messen und Meßpräzision Das Messen und die Meßpräzision sind schon öfters Thema meiner Arbeit gewesen. Einige Male ist der Vorgang des Messens zugleich zum konstituierenden Bauelement des Werkes geworden. In meinem Videofilm Demonstrationsfeld von 1973 konnte man sehen, wie ich in mehreren Etüden, gleichsam vom Inneren des Fernsehbildschirms aus, seine Dimensionen ausmesse,

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mit den Fingern seine rahmenden Kanten abfahre, einen schwarzen Stab − mit Zoomobjektiv aufgenommen − so nahe bringe, bis er die Bildschirmkanten berührt oder wie ich anschließend die Bildfläche schraffiere. Demonstriert wurde hier unter anderem das Interesse an der Visualisierung der Genauigkeit durch einen von mir eingeführten, mehr oder minder tauglichen Meßvorgang. Meine Arbeit Die Begründung eines Meters durch Schätzung aus dem Jahr 1972 ist eine Paraphrase auf die Einführung des metrischen Systems und auf die Norm des Pariser Meters. Sie besteht aus zehn Fotosequenzen. Mit einem Strich an der Wand beginnend, versuchte ich mit Daumen und Ringfinger den Abstand von zehn Zentimetern abzuschätzen und ihn zehnmal nebeneinander abzutragen, so daß das Resultat einen Meter beträgt. Wenn das Messen als ein Zählen definiert wird und man zählt, wie oft sich ein bestimmtes Maß zwischen zwei Punkten abtragen läßt, und wenn als Maßstab jeder starre Körper dienen kann, auf dem zwei Punkte markiert sind, und wenn es heißt, das Begründungsproblem der Geometrie lasse sich auf das Problem reduzieren, die starren Körper physikalisch zu definieren,5 dann bin ich hier mit meiner Variante der Meterbegründung richtig gelegen, denn von nichts anderem als von der Einhaltung der relativen Starre handelt diese Arbeit − von dem Bemühen um äußerste Konzentration auf millimetergenaues Abtragen einer mutmaßlich richtigen Distanz. Mit den vorhandenen Mitteln war ich um größtmögliche Präzision bemüht. 1972 vermaß ich einen Halbkreis mittels Blick. Dieser Halbkreis wurde durch an der Wand markierte Punkte gebildet. Ich stand in einer zentralen Position vor dieser Wand und ließ die Bewegung meiner Augen fotografieren, wie sie jeweils einen der an der Wand markierten Punkte fokussierten. Ich habe sozusagen die Situation in einem Versuchslabor improvisiert, wenn man, bei starrer Position

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des Kopfes dem Blick durch ein Schlitzbrett nur eine beschränkte Aussicht bietet. In der Installation Die Vermessung eines Halbkreises zielen alle Achsen der aufgezeichneten Blickrichtungen zum ursprünglichen Mittelpunkt hin − dorthin, von wo der Blick ausgesendet wurde. In allen diesen Arbeiten hängt das Messen mit einer körperlichen Aktivität zusammen. Wie bereits erwähnt, sind die Grade der Präzision relativ und vom jeweiligen Stand der Meßtechnik abhängig. Ohne an die Geschichte des Messens und seine anthropomorphen Grundlagen erinnern zu wollen, möchte ich doch feststellen, daß die Verwendung des Körpers bei der präzisen Erfassung von Grössen ein spezifisches Empfinden für räumliche Relationen, für die Existenz von relationalen und extensionalen Beziehungen im Raum bedingt bzw. voraussetzt. Und so kann die hier praktizierte Genauigkeit so wie jede Genauigkeit von ihrem eigentlichen Auftrag − der quantitativen Feststellung von Maßverhältnissen zu dienen − eine Wendung hin zu einer qualitativen Erfahrung der nächsten Umgebung, der ganzen Welt nehmen.

Präzision aus Notwendigkeit Wie unscharf, wie ungenau man eine Zeitlang während eines Entwurfsprozesses auch gewesen sein mag − in dem Moment, wo es um die Ausführung des Konzepts geht, hat man sich festzulegen und jede Unschärfe zu beseitigen. Denn je genauer die technische Anleitung zur Erzeugung eines Objekts ist, desto mehr Übereinstimmung wird es zwischen dem Konzept und dem Objekt geben. Der Sinn von Technologien ist es, die Voraussetzungen, unter denen ein bestimmtes Objekt entstehen soll, möglichst vollständig

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und genau zu definieren. Diese Phase der Präzisierung läßt sich − vorausgesetzt, man will das Objekt verwirklichen, will es aus der Sphäre des nur Möglichen in die Sphäre des Realen überführen − nicht umgehen. Nur anhand präziser Beschreibung von Ordnungsstrukturen der Dinge lassen sich solche Ordnungen an anderen Orten und zu einer anderen Zeit wieder begründen. Das Punktieren ist eine bildhauerische Methode, die man zur Übertragung von Maßen vom Modell auf das zu gestaltende Material verwendet. Dabei muß die Punktiernadel immer senkrecht auf den zu übertragenden Punkt zielen. Jeder Punkt sichert einen Teil der Formoberfläche, und ein Ensemble von Punkten repräsentiert die räumliche Qualität des abgetasteten Objekts. Ich habe anstatt der Punktiernadel einen scharfen Lichtstrahl verwendet, der fotografisch in dem Augenblick aufgenommen wird, wenn er auf die Oberfläche einer von der Dunkelheit eingehüllten Skulptur fällt. Die aufgezeichnete Lichtspur ist in zweierlei Hinsicht bedeutend: Einerseits ist sie im Zusammenhang mit der beschriebenen Form relevant, andererseits ist sie eine Lichtaufzeichnung an einem nicht beliebigen, sondern an einem kulturhistorisch bedeutenden Objekt. Abgetastet wird der Hermeskopf von Praxiteles. Die Fotoserie führt vor, wie Punkt für Punkt − hier sieht man erst die Anfangspunkte, bescheidene Fragmente eines großen Ganzen, die aber bereits ausreichend die Plastizität des ganzen Gegenstands repräsentieren − die gesamte Skulptur freigelegt werden könnte.

Präzisionsästhetik Präzisionsobjekte haben eine spezifische Ästhetik. Auf sie treffen Prädikate zu, die auch Synonyma für Sauberkeit und Akkuratesse bis hin zu Pedanterie sind. Es ist ihnen eine gewisse

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Anstrengung und technischer Aufwand anzumerken. Eines der Merkmale der Präzisionsästhetik ist, daß auch handgefertigte Gegenstände eine fehlerlose Bearbeitung aufzuweisen haben, so als wären sie von einer Maschine gefertigt worden. Das ist womöglich aber eine Ansicht aus einer Vorvergangenheit, denn in Zeiten der computergestützten Darstellungs- und Herstellungsmethoden sind viele solcher Kriterien obsolet geworden, und an Artefakte oder Konstruktionsteile, die unter Verwendung von Rechnern entstanden sind, werden andere Erwartungen gestellt. Ein herkömmliches Abbildungsverfahren, im Zuge dessen entweder Ideen oder reale Situationen als Wahrnehmungsschemata in Darstellungsschemata manuell überführt werden, ist zugleich ein erkenntnisbringender Lernprozeß. Dieser wird umso intensiver und nachhaltiger prägend, je anstrengender, mühsamer und mit Fehlern behaftet die persönliche Auseinandersetzung mit der medialen Übersetzung von Ideen oder realen Sachverhalten gewesen ist. Das Maß des Gelingens wird an den Schwierigkeiten gemessen, die zu überwinden waren. Im elektronischen Raum dagegen läßt man einen Rechner arbeiten, in einer niemals enttäuschten Erwartung, daß er das fehlerfrei tun wird. Während solcher Tätigkeit gibt es kein Scheitern, kein Mißlingen. Auf dem enorm verkürzten Weg zum Ergebnis ergibt sich keine Möglichkeit, den Vorgang des Überführens des Wahrgenommenen in das Dargestellte als Erkenntnisprozeß zu absolvieren. Während eines solchen Verfahrens bilden sich keine Relationen zwischen der eigenen Wahrnehmungsschärfe und Fertigkeit im zwei- oder dreidimensionalen Darstellen. Man ist nicht aktiv, sondern ordnet sich passiv den vorgegebenen Strukturen der Computerprogramme auf deren jeweils aktueller Entwicklungsstufe unter. Für die ständig sich steigernde Präzision braucht man nicht aufzukommen, man ist nicht selber präzise, man läßt andere präzise sein − die Herausforderung wird an einen Rechner delegiert.

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Deshalb liegt das Problem der unterschiedlichen Techniken nicht in den Ergebnissen ihrer Anwendung, sondern in ihrer Auswirkung auf eine individuelle, praktische und geistige Erfassung von visuellen Empfindungen.

Präzision als Selbstzweck Um die Arbeiten durchzuführen, die ich jetzt als Beispiel zeigen möchte, stand mir Mitte der siebziger Jahre nur ein Taschenrechner zur Verfügung, mit dem ich die axonometrischen Verkürzungen und diverse Winkel berechnen konnte. Es wäre auch widersinnig gewesen, mich aus Gründen der Arbeitseffizienz der damals verfügbaren technischen Mitteln zu bedienen; denn das Konzept war ein anderes: Für die Dauer von mehr als vier Jahren trat ich dem Orden der Präzisen bei, mit dem Vorhaben, ein aufwendiges Arbeitsprojekt zu realisieren. Das Thema der Serie von zwölf großformatigen Bleistiftzeichnungen Großes Stilleben war die Bestandsaufnahme der Lage von Gegenständen auf einer Tischfläche innerhalb eines bestimmten Zeitabschnitts. Nach der Vermessung und Anfertigung von Maßzeichnungen der aufzuzeichnenden Objekte wurde die Tischfläche in eine Anzahl von Planquadraten gegliedert. Damit begann, von einem vorgegebenen Zeitrahmen eingegrenzt, die Aufzeichnung der sich immer wieder ändernden Lage der Gegenstände. Es waren mehrere Arten von Präzision am Aufbau der Struktur dieses Werks beteiligt. Zunächst ist die Präzision bei der Bestimmung des Zeitrahmens für die Aufzeichnung zu nennen. In diesem Fall war es nicht entscheidend, ob es sich um eine genaue Zeitangabe handelte, die in Minuten oder Sekunden anzugeben war, oder um eine gröbere Angabe wie z. B. „an jedem Monatsersten“ oder etwa um eine, die etwas dazwischen lag wie „vor dem Essen und

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nach dem Essen“. Entscheidend für die Idee der Präzision der Zeitangabe war es, daß sie überhaupt als ein konstituierender Faktor in das Werk eingebracht wurde: daß ich darauf achtete, daß die Zeitangabe eingehalten und sie zum strukturgebenden Element wurde und daß die Zeitstruktur als latentes Netz darübergelegt werden konnte; daß sie nach wie vor als Bestandteil dieses historischen Dokuments die Zeit überdauerte, daß man auf sie hinweisen und sagen konnte: „So hat es sich, zu einem bestimmten Zeitpunkt, tatsächlich zugetragen; genau zum festgelegten Zeitpunkt befand sich der Gegenstand numero fünf an dieser Stelle.“ Die genaue Zeitbestimmung bestätigte auch die Faktizität und Wahrhaftigkeit der Ereignisse, die auf der Tischfläche stattfanden. Es ist deshalb das Verdienst dieser Klasse von Präzision, daß zunächst unbedeutende Orte zu historisch bedeutsamen Orten erhöht wurden, weil an ihnen zu einem genau datierbaren Zeitpunkt tatsächlich etwas der Fall war, im Gegensatz zu den benachbarten Orten. Als zweiter wichtiger Faktor ist die Präzision zu nennen, die sich auf die genaue kartographische Vermessung der Lage der Gegenstände bezieht. Der den Gegenständen unterlegte rechtwinkelige Raster stellte die Aktionsfelder für exakt lokalisierbare Ereignisse bereit. Denn nicht irgendwo, an einer unbestimmten, beliebigen Stelle, fand das „Ereignis des Liegens“ eines Messers oder einer Schale statt, sondern genau hier, an einer exakt bestimmbaren Stelle des Planquadrats. Mit der Genauigkeit ihrer Lokalisierung konnte die wertmindernde Zufälligkeit der Ereignisse wettgemacht werden. Einmal mehr wurde das genaue Messen zum bestätigenden Faktor, wieder sollte der Betrachter mit genauesten Meßangaben überredet werden, einem solchen Präzisionsakt einen höheren Stellenwert beizumessen als beliebigem Tun und Machen. Als dritte essentielle Präzision wurde in die Vermessung und Aufzeichnung der Form der Gegenstände investiert. Chronologisch gesehen stand sie am Anfang der Arbeitsvorbereitung. In Form von

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technischen Zeichnungen wurden all jene quantitativen Daten erhoben, die zur Formbeschreibung der Gegenstände notwendig waren. Da es sich um ein sehr reduziertes, ein lineares Darstellungsschema handelte, war auch die Anzahl der Messungen begrenzt. Die Navigation durch das Dickicht der aufgezeichneten Geschehnisse war und sollte auch für den Betrachter äußerst schwierig sein. Dieser sollte aber die Gewißheit haben, daß ihm vom Urheber dieser Aufzeichnungen die Richtigkeit des Ergebnisses verbrieft, daß eine Garantie für eine fehlerlose Übertragung der Ereignisse am Versuchstisch in den Raum der Zeichnung gegeben werden konnte. Das In-Frage-Stellen einer Form der Präzision, deren man sich nicht vergewissern kann, die herabsetzende Bezeichnung der unter allen Umständen eingehaltenen Richtigkeit als Selbstzweck-Präzision, solche Kritik kann einen orthodoxen Präzisen, dessen Arbeitsethos sich über die Jahre kontinuierlich gesteigert hat, nicht treffen. Ausserdem hat er einen Trumpf in Reserve, der den üblichen Interpretationen entgangen ist: Diese Arbeiten muß man nämlich nicht als Aufzeichnungen des Vergangenen lesen, sondern als Pläne für alle künftigen Bewegungen der Objekte in diesem abgegrenzten Territorium.6 Ab diesem Augenblick würden all die im Werk enthaltenen Präzisionen wieder zur Anwendung kommen, sie könnten auf ihre Richtigkeit geprüft werden, und sie würden die Prüfung triumphal bestehen.

Präzision der Beschreibungssprache Eine weitere Kategorie der Präzision im Zusammenhang mit Beschreibungsmethoden möchte ich in diesem Zusammenhang erwähnen − ein Beispiel aus dem Bereich nicht der visuellen, sondern der verbalen Sprache: Nach einer länger andauernden

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Sammeltätigkeit habe ich unter dem Titel Raumdeutsch eine Kollektion von rund 1300 Redewendungen, Wortgruppen und Begriffen zusammengetragen, deren Gemeinsamkeit darin besteht, daß sie alle das Wort „Raum“ beinhalten. Ich habe immer angenommen, daß ein Begriff, den jemand anbietet, präzise gewählt worden ist und deshalb als der treffendste, der angemessenste zur Beschreibung eines Sachverhalts zu gelten hat. Sprachliche Präzision bedeutet Eindeutigkeit, denn wenn ein Begriff mehrdeutig ist, so ist er nicht präzise. Deshalb darf ich als Leser, als Rezipient erwarten, daß die Beschreibungssprache dem beschriebenen Sachverhalt voll entspricht. Wie allerdings anhand der verbalen Begriffe vom Leser die entsprechenden Bilder zu generieren sind, ohne daß er sie mit der beschriebenen Vorlage vergleichen kann, ist ein anderes Thema, welches der Frage der Präzision die Themen Vermutung und Wirklichkeit gegenüberstellt. Es gibt in der Wissenschaftstheorie die Meinung, daß ein Begriff eingeengt werden muß, wenn dafür Beispiele mühelos trivial konstruierbar sind, er aber verallgemeinert werden muß, wenn es schwierig ist, dafür überhaupt ein Beispiel zu finden. 7 In diese Überlegungen zur Beurteilung des Präzisionsgrades bei der Verwendung von Begriffen möchte ich auch die deutschen Formulierungen „genau genommen“ und „streng genommen“ einbeziehen und dabei auf den Begriff der „Strenge“ besonders hinweisen, der mir dem Begriff „Präzision“ sehr eng verwandt zu sein scheint. Ich habe mir in einer sehr umfangreichen Arbeit, die Texttreue heißt, von der Position eines strengen Prüfers aus angemaßt, das methodische Vorgehen von Alain Robbe-Grillet in seinem Roman Die Jalousie zu analysieren, und habe mir durch Modellrekonstruktion als Kontrollbeobachter Zugang in das vom Autor beschriebene Haus verschafft. In einem dreidimensionalen Modell des Hauses konnte ich die nötigen Kontrollgänge unternehmen und Vermutung mit Wirklichkeit, d. h. mit realer Situation, „streng“ vergleichen.

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Im Roman gibt es einen Beobachter, der das Haus und die Vorgänge darin registriert. Wie es sein Beobachtungsprotokoll beweist, tut er dies mit höchster Aufmerksamkeit und Präzision. Mit seiner Beschreibungstechnik, ihrer Ausführlichkeit und Detailgenauigkeit, mit seiner Kunst, einprägsame Bilder zu erzeugen, erreichte der Autor bei mir als Leser das Gefühl der Nachvollziehbarkeit. Doch, was die Richtigkeit seiner Beschreibung anlangt, bildete er sich auch einen kontrollierenden und zur Überprüfung der Genauigkeit und Wahrhaftigkeit konditionierten Leser aus. Da er von Anfang an mit solch genauen Beobachtungs- und Beschreibungstechniken arbeitet, solch strenge Normen aufstellt, kann dieser ihn mit noch genaueren Kontrolltechniken verfolgen, um ihm Ungenauigkeiten nachzuweisen. Eine Steigerung der Genauigkeit der Beobachtung und der Schilderung ist sowohl beim Verfasser als auch beim Leser des Beobachtungsprotokolls möglich. Letzterer mußte zwar erst auf die Idee gebracht werden, daß es solche genauen Beobachtungsaufzeichnungen gibt, doch dann kann er in der kontrollierenden und besserwisserischen Weise desjenigen, der alles noch genauer wissen möchte, auf einer gesteigerten Genauigkeit der Beobachtung bestehen. Er wird als Kontrollor anmaßend und erbarmungslos kritisch sein, und streng wird er die angelaufenen, ihm überbrachten Nachrichten abnehmen. So wird der zur Prüfung der Genauigkeit befähigte Leser zu einem Kontrollbeobachter.8

Mathematik und Geometrie als Legitimation für Präzision Die letzte Kategorie der Präzision, die ich nur kurz und noch dazu von der letzten Zuschauerreihe aus skizzieren möchte, ist eine Kategorie, die der Genauigkeit ihr stärkstes Argument

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für ihre Überprüfbarkeit liefert − nämlich Mathematik und Geometrie. Mathematik und Geometrie sind als Hilfsinstrumente für das Begründen von Ordnungsstrukturen wichtig und sie ermöglichen, diese Anordnungen jederzeit exakt zu wiederholen. Von den Rechnertechnologien unterstützt, machen sie heute die kompliziertesten Formenverläufe übersichtlich, kontrollierbar und vor allem realisierbar. Eine andere Geometrie, die allen aus der Architektur- und Kunstgeschichte vertraut ist, betrifft harmonische Gesetze und Kompositionsregeln. Es gibt Menschen, die an harmonische Gesetze als Ergebnis der Wirkung prästabilierter Harmonie glauben; aber auch ohne diesen Aberglauben läßt sich jederzeit aus dem Vorrat an harmonischen Teilen eine interessante Kombination zusammenstellen. Und für das Anfertigen eines solchen Konfektionsstücks wird man noch durch die garantierte Schönheit des Ergebnisses belohnt. In meiner Verwendung funktionieren die Regeln des Goldenen Schnitts nur als tragende Grundkonstruktion; sie werden vordergründig vorgeführt; doch weitere ästhetische und semantische Dimensionen werden, naturgemäß unter dem Primat der Präzision, ebenso erschlossen. Zum Schluß ein Zitat aus den Aufzeichnungen Harold Nicolsons, eines jungen britischen Diplomaten, der bei den Verhandlungen des Vertrags von Versailles von 1919 einer der Berater der großen drei, Großbritannien, Frankreich und Amerika, war. Er nimmt an einer Soirée teil, zu der auch der Schriftsteller Marcel Proust geladen ist: „Sonntag, 2. März, […] Abends Diner mit Prinzessin Soutzo im Ritz − üppige Angelegenheit. Painlevé, Klotz, Bratianu sind da. Auch Marcel Proust und Abel Bonnard. Proust ist weißhaarig, unrasiert, schlampig; feuchte Haut. Er zieht hernach seinen Pelz aus und hockt zusammengekrümmt, in weißen Glacéhandschuhen. Er

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trinkt zwei Tassen schwarzen Kaffee, mit dicken Stücken Zucker. Aber in seiner Art zu sprechen ist er nicht affektiert. Er fragt mich allerlei. Ob ich ihm bitte sagen möchte, wie die Ausschüsse arbeiten? Ich beginne: ,Also wir kommen gewöhnlich um 10 Uhr zusammen, Sekretäre sind hinter uns, die …‘ ,Mais non, mais non. Vous allez trop vite. Recommencez. Vous prenez la voiture de la Délégation. Vous descendez au Quai d’Orsay. Vous montez l’escalier. Vous entrez dans la Salle. Et alors? Précisez, mon cher, précisez.‘ Also schildre ich ihm alles. Die falsche Herzlichkeit in allem: das Händeschütteln, die Karte, das Rascheln von Papier, den Tee im Nebenzimmer, die Makronen. Er lauscht bezaubert, dann und wann unterbrechend − ,Mais précisez, mon cher monsieur, n’allez pas trop vite.‘“9

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1

Andreas Gehlert, Zur Ästhetisierung von Fortschritt und Technik im Präzisionismus.

2

Siehe Karl R. Popper, „Erkenntnistheorie ohne ein erkennendes Subjekt“, in: ders.,

3

Ebd.

4

Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1973, S. 29 ff.

Univ.Diss., Freiburg/B. 1996. Objektive Erkenntnis, Hoffmann & Campe, Hamburg 1984, S. 109–157.

5

Paul Lorenzen, Methodisches Denken, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1974, S. 124.

6

Siehe dazu: K. Schippers, „Blauwdruk“, in: ders., Museo Sentimental, Amsterdam 1989,

7

Siehe dazu: Herbert A. Simon, Die Wissenschaft vom Künstlichen, SpringerWienNew

8

František Lesák, Texttreue. Notizen zum Thema Beobachtung und Beschreibung eines

S. 195–198. York 1994, S. 91. Hauses in einem Roman, Hg. Nationalgalerie Prag, Sammlung moderner und zeitgenössischer Kunst, Prag 1997; im vorliegenden Buch S. 47–61. 9

Harold Nicolson, Friedensmacher 1919, Berlin 1933, zit. nach: Geert Mak, In Europa. Eine Reise durch das 20. Jahrhundert, Pantheon, München 2005, S. 137.

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Porträtieren als Tätigkeitsbeschreibung

Mit einem dicken Stift einen feinen Strich ziehen

Eine Erinnerung an Jan Turnovský, in Form eines Porträts, das entsteht, wenn man einige Reflexionsflächen um ein Objekt aufstellt, die aber viel zu klein sind und die deshalb nur ein fragmentarisches Abbild ergeben können. Im Sommer dieses Jahres habe ich in Prag ein Treffen mit einem Bekannten vereinbart. Dieser Mann hatte Anfang der sechziger Jahre in Brünn das Studium der Mathematik beendet und zum Abschluß drei Urkunden erhalten: das Doktorat der Mathematik, die Bescheinigung über die abgelegte Lehramtsprüfung und ein drittes Dokument, das ihm die Ausübung dieser zwei Berufe untersagte. Diese Tatsache hat ihn zu den Staatsbahnen geführt, wo er dreißig Jahre arbeiten sollte. Seit 1990 hat er eine Professur an der mathematischphysikalischen Fakultät der Karlsuniversität inne und beschäftigt sich mit Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte, vornehmlich der Mathematik. Sein problematischer Lebenslauf hinderte ihn nicht, ein enormes Wissen zu kumulieren und eine Privatbibliothek, die diesem Wissen umfangmäßig angemessen ist, aufzubauen. Er publiziert viel und noch mehr übersetzt er, Wittgensteins Tractatus zum Beispiel und zuletzt Karl Poppers Logik der Forschung. Zu dem Treffen sind wir beide pünktlich erschienen, er jedoch um eine halbe Minute früher − einen Vorsprung, den er für das Rauchen einer Zigarette nutzen wollte. Ich begrüßte ihn mit den Worten: „Kennen Sie die Erfindung, die Jan Turnovský für eine solche Situation gemacht hat?“ Er: „Was! Sie wissen, wer Jan Turnovský ist? Ich suche nach einer Information über ihn, seitdem man mir sein Buch Die Poetik eines Mauervorsprungs gebracht hat, weil man von meinem Interesse an Ludwig Wittgenstein wußte und von meinem

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Interesse an Semiologie, auch habe ich ein starkes Interesse für Ästhetik, für die Philosophie der Kunst, die findet sich ebenfalls in meinem Blickfeld, und ich verbinde das alles in meinen Vorlesungen, denn die Mathematikstudenten sollen sich mit mir auf eine Metaebene begeben, um sich von dort aus, von außen anschauen zu können, um zu sehen, wozu ihre Hilfswissenschaft gut sein kann. Ich war sehr angetan von dem Buch und verblüfft über die Art, hundertzwanzig Seiten über ein kleines Baudetail schreiben zu können. Sein Autor mit dem tschechischen Namen, das hat mich neugierig gemacht, den kannte ich noch nicht, aber hier konnte mir niemand sagen, wer Jan Turnovský ist.“ „Da ich aber als Mathematiker auch einiges von den random methods verstehe und von der Rolle des Zufalls, ist mir das sehr recht, daß es gerade Sie sind, der mir berichten kann, wer Jan Turnovský ist.“ „ Jan Turnovský lebt nicht mehr, und das bedauern viele Leute“, habe ich zu ihm gesagt, „aber lassen Sie mich zunächst seine Erfindung erläutern, die, wäre sie realisiert worden, Ihnen in einer solchen Lage wie dieser, in der sich Raucher oft befinden, sehr nützliche Dienste geleistet hätte. Er hat nämlich eine Zigarettenpackung konstruiert, die Zigaretten nicht derselben Länge, sondern verschiedenster Längen beinhaltet. Je nach Länge der dafür bemessenen Zeit: beim Warten auf eine Straßenbahn eine kurze, für das Fußballmatch eine lange Länge, einige Zwischengrößen für zwischengroße Ereignisse; also je nach Zeitdotierung die jeweils entsprechende Größe. Er hat seinen Vorschlag den Austria Tabakwerken unterbreitet und dort war man sich der Bedeutung dieser revolutionären Idee auch sofort bewußt. Deshalb hat man sie dem Erfinder auch finanziell abgegolten, um sie aber in den Firmensafes verschwinden zu lassen.“ „Und ich kann mir vorstellen warum“, rief mein Bekannter, „diese Konstruktion ist nämlich als mathematisch-statistisches Problem sehr interessant und sie hätte mit ihrem wirtschafts-mathematischen Aspekt gewiß gewichtige Folgen für das Verhalten der Raucher

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und hätte damit ohne Zweifel Auswirkungen auf die Menge aller ausgerauchten Zigaretten gehabt. Denn das Rauchen wäre sorgsamer bewirtschaftet worden und damit wäre die Gesamtlänge aller auf diese Art gerauchten Zigaretten viel geringer als die Gesamtlänge, die durch das Rauchen der Zigaretten auf konventionelle Art entsteht, durch ein Rauchen, bei dem der Genuß oft gewaltsam unterbrochen wird, zum Beispiel durch das Nahen einer Straßenbahn. Diese zahlreichen Interrupta steigern den Konsum der Zigaretten gewaltig, wobei das Schicksal der angefangenen Zigarette, also des Stummels, in der statistischen Mathematik keine Rolle spielen dürfte, denn obwohl er eine weitere Verwendung finden und von einem Sandler zu Ende geraucht wird, ist dieser Abnehmer von keiner wirtschaftlich relevanten Größe, denn er ist nur ein auf Reste spezialisierter Konsument, der als Abnehmer neuer, unversehrter Ware nie in Erscheinung tritt. Er ist ein Konsument, der nie verliert, während der Konsument, der die neue Ware erwirbt, immer nur verlieren kann, und weil ihm die Tabakindustrie ein sehr schwer zu verwaltendes Produkt anbietet, könne er nur hoffen, daß die Fahrtintervalle der Straßenbahnen der genormten Zigarettenlänge einigermaßen entsprechen würden, doch die Realität würde ihm diese Hoffnung immer wieder zunichte machen.“ „Die bahnbrechende Erfindung von Jan Turnovský hätte ein verändertes Rauchverhalten bedeutet und ein tektonisches Beben in der Tabakindustrie weltweit verursacht − der Mann interessiert mich natürlich noch mehr als vorher.“ „ Jan Turnovský“, sagte ich zu ihm, „war sehr generös in der Mitteilsamkeit über seine zahlreichen Ideen, die kurz vor der Patentreife gestanden sind. Ich erinnere mich, wie er sich einem Problem der ökonomischen Raumbewirtschaftung zugewendet und die dichteste Verpackungsart von Makkaroni gelöst hat, indem er ihre Hohlräume als Köcher, als Behälter zur Unterbringung von Spaghetti ausgenützt hat.“ „Bitte, nicht weiter erzählen, ich habe erst das vorhin erwähnte

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mathematisch-statistische Problem angedacht und hier wird bereits ein neues, mathematisch-geometrisches Thema eröffnet, das in seiner Bedeutung Zwickys Erfindung der Tetrapackung ganz nahe kommt − bitte lassen Sie mir Zeit, in Ruhe die Reichweite des Problems durchzudenken.“ In der Folge haben wir uns über das Haus Wittgenstein unterhalten und über Turnovskýs Arbeitsmethode der Strukturierung seines Beobachtungsgegenstands, über die Gedankenexperimente, die er vor dem Leser durchführt, und über deren Aufbauordnungen. An dieser Stelle muß ich etwas eingestehen. Nicht ohne Scheu will ich darüber berichten, daß ich mir von Jan Turnovský eine Zeichnung des Mauervorsprungs erbeten habe, als Entlohnung für das Lesen und Diskutieren seiner Dissertation. Ich bin auf Turnovskýs Wunsch zu seinem Doktoronkel berufen worden, zum Zweitbegutachter seiner Dissertation, was um nichts bequemer als die Doktorvaterrolle gewesen ist. Also ich habe ihn zum Zeichnen des Mauervorsprungs genötigt, habe von ihm eine über die Grundrißskizze hinausgehende Zeichnung wollen und fand dies schon damals problematisch und heute finde ich es bedauerlich, wie konnte ich ein Objekt, das auf einer solchen Abstraktionsebene von ihm behandelt worden ist, wie konnte ich es in die Niederungen des Abzubildenden zerren. Wieso konnte ich meinen Hang zum Wörtlichen vor Jan Turnovský nicht zügeln? Ohne jedes Verständnis für das Ausleben meines mimetischen Triebes, aus Höflichkeit und aus Befürchtung, unsere Freundschaft zu gefährden, fügte er sich und fertigte für mich eine Abbildung des Nichtabbildbaren an. Zwei Zeichnungen gibt es und niemand außer uns beiden hat sie je zu Gesicht bekommen und wird es auch nie, diese zwei schönen aquarellierten Blätter im Hochformat A2 − wie gut, daß ich Jan dazu gebracht habe, sie zu schaffen! Signiert sind sie wie üblich mit T U R, in Druckbuchstaben. Dieses T-U-R: wer möchte dabei helfen, eine strukturale Analyse der Signatur

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durchzuführen? Sollen wir uns eine analytische Methode bei Roman Jakobson entleihen, jener Figur, die Jan Turnovský genauso adorierte wie Nikolaj Sergeevič Trubeckoj, beide große Linguisten, wovon der eine ein Mitbegründer des Prager Linguistischen Kreises gewesen ist und der Vereinszeitschrift ihren Namen gab? Von wem lassen wir uns noch helfen, neben diesen Größen der strukturalen Linguistik, um die Signatur T U R zu dekodieren? T U R − das sind die Anfangsbuchstaben des Namens Turnovský, was im Tschechischen soviel wie Bewohner der nordtschechischen Ortschaft Turnov bedeutet, auf Deutsch Turnau und Turnauer. Allerdings darf man die Verkürzung des Namens Turnovský auf Tur nicht als einen Zug zur Bequemlichkeit verstehen, denn Turnovský soweit ich ihn kannte, hat sich beim Schreiben keineswegs geschont und hätte nie aus Faulheit mit Buchstaben gespart. Bei dem Ausstoß an Ideenskizzen, die er zeichnerisch zu Papier brachte, hätte für ihn der größere Aufwand mit der vollständig ausgeschriebenen Unterschrift auch schon keine Rolle gespielt. Ich muß noch einfügen, daß Jan Turnovský und ich, daß wir beide an einem schweren Geburtsfehler gelitten haben, denn wir beide waren an der Schriftkonstruktion interessiert und bedauerten außerordentlich, daß unsere Familiennamen nicht die schönsten Buchstaben enthielten, die die römische Antiqua zu bieten hat − ich sehnte mich nach einem Q in meinem Namen und er nach einem M. Nichtsdestotrotz: seine Signatur baute er als eine kompakte, deutliche Form auf, die allerdings im Tschechischen weniger als Abkürzung des Namens Turnovský verstanden wird, vielmehr kann sie als tur gelesen werden, was soviel wie Auerochse bedeutet. Mag es im Deutschen anders klingen, im Tschechischen hört sich tur jedenfalls nach all den Eigenschaften an, die dieses Tier auszeichnen, wobei die anatomisch bedeutendsten Teile − sein mächtiger Nacken und seine Stirn, die wichtigsten Stellen zu sein scheinen. Mit einem solchen Kopf läßt sich was anstellen, mit so einem Kopf läßt sich die

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schwerste Arbeit verrichten und deshalb muß man, richtigerweise, an diesem Tier seine Vorderseite nutzen, es zum Anschieben, zum Druckmachen, zum Geben starker Impulse, zum Anstoßen, und ihn nicht verkehrt, also zum Ziehen verwenden. Die Kraft, die es in seine Stimme legen kann, die ist ebenfalls beeindruckend, und im Tschechischen heiß es deshalb: „er brüllt wie ein tur“. Ich selbst habe meine Kenntnis dieses Tieres nur aus dem Zoo, aber auch dort machte es auf mich nicht den Eindruck, als daß es sich domestizieren ließe. Das Spiel mit dem Bild des Hartnäckigen, des Starken und Sturen, das man als Signet sozusagen umsonst erhält und sich als Bild in das Familienwappen malen darf, wenn man nur die Lesart manipulierend anleitet, ein Bison zu sein statt der Bewohner einer Kleinstadt − das Spiel wollten wir mitmachen, ich zumindest habe das Wappenbild T U R sofort akzeptiert. Für die tiefenpsychologische Dimension der strukturalen Analyse ( Jakobson würde bestimmt den maskulinen Zug beim Bilden dieses Namenskürzels hervorheben, wie auch den in Kauf genommenen Verlust des Suffixes -novský samt des in Verlust geratenen accent aigú, den man über den Buchstaben Ý schweben lassen und so schön in die Länge ziehen kann), also für diesen tiefenpsychologischen Aspekt und für andere Bedingungen einer sprachlichen Analyse der Signatur bringe ich nicht die nötige Expertise mit und lasse die Auslegung unvollendet und auf der Ebene einer bloßen Vermutung. Eines möchte ich noch hinzufügen: die Signatur von Jan Turnovský ist mit einem besonderen Schreibinstrument gezeichnet worden, das ich nur bei ihm gesehen habe − einem Minenstift, bei dem die obszöne Dicke der Schreibmine in einer verbotenen Proportion zu der extremen Kürze des Stiftes stand. Ich habe ihn nie nach dem Lieferanten dieses monströsen Zeicheninstruments gefragt, obwohl ich an klassischen Techniken genauso interessiert bin wie an den

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ausgefallensten − dieses Instrument hätte ich nur in Zeiten höchster Not zur Hand genommen. Und doch habe ich Jan Turnovský nur beneiden können: um die Kunst, mit der individuellen Ausstattung einer großzügigen Persönlichkeit, mit einem dicken Stift einen sehr feinen Strich ziehen zu können.

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Kartenansichten eines Vielreisenden Gewidmet Wendelin Schmidt-Dengler und denen, die eine gemeinsame Erfahrung verbindet

Seine Meldung kommt immer unerwartet, unvermutet. Der Berichtsteller benachrichtigt mich darin über seine Anwesenheit an einem bestimmten Ort. Aus seiner Nachricht erfahre ich weder den Zeitpunkt seines Ankommens noch seines Fortgehens, dafür ist die Datierung der Meldung genau, vorausgesetzt, sie stimmt. Vorausgesetzt, daß auch die Ortsangabe stimmt, gibt er mir mit seiner Meldung seine Position bekannt. Indirekt gibt er mit ihr zu verstehen, daß er vor Ort bereits mit der Geländebeobachtung begonnen hat und daß die mir übermittelten Beobachtungsdaten als Belege seiner Beobachtungstätigkeit zu werten sind. Das übermittelte Material erreicht mich stets in der Form einer Ansichtskarte. Eine Ansichtskarte ist ein flaches Objekt, von genormter Größe, mit zulässigen kleinen Abweichungen, dessen Flächen für das Anbringen von Ansichten vorgesehen sind. Die dominierende primäre Seite ist für Abbildungen reserviert und meistens bereits besetzt. (Leere Ansichtskarten zum selber Illustrieren, die für begabte Aquarellisten in Fachgeschäften mit Künstlerbedarf angeboten werden, können nur von ganz wenigen Reisenden mitgenommen und vor Ort gestaltet werden.) Die andere Seite ist für das Anbringen einer verbal geäußerten Ansicht vorgesehen, die in Verbindung zu der visuellen Ansicht auf der Rückseite stehen soll bzw. stehen kann. Es gibt nicht viele Objekte, deren zugewandte und abgewandte Seite in solch intensiver, dauerhaft dynamischer Verbindung stehen − gerade hat noch die visuelle Vorderseite dominiert und schon muß

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man das Objekt umdrehen, um den Vergleich mit der verbalen Seite anzustellen. Die Vorderseite und die Rückseite sind miteinander verwachsen, sie durchdringen sich, das Bild der visuellen Seite diffundiert zu den Schriftzeichen der verbalen Seite, die bereits auch auf dem Diffusionsweg zur Bildseite waren. Diese Situation gegenseitiger Bezugnahme ist auch völlig einsichtig − hat doch die ergänzende Textseite eine angemessene Stellungnahme zu der Bildseite zu sein, das oftmalige Drehen der Karte, das Hin und Her, steht für die spezifische Leseart einer Karte, für ein ständiges sich Vergewissern über die Verwobenheit des Bildes mit dem Text. Eigentlich müßte man beide Seiten − die Vorder- und die Rückseite synchron zur Verfügung haben. Es fällt auch schwer, von einer Vorderseite oder einer Rückseite im hierarchischen Sinne zu sprechen: Eine „nur ästhetische Seite“ einer Ansichtskarte gibt es nicht, denn beide Seiten sind informierende Zonen. Die eine informiert mittels Lesens von Bildern, die andere mittels Lesens einer verbalen Botschaft. Eine Ansichtskarte hat demnach zwei gleich intensive Seiten. (Beweis dafür sind die unterschiedlichen Interessen der Sammler von Ansichtskarten: entweder sind es die Bildmotive, die sie aus klassifikatorischen Gründen begehren, oder es ist die Attraktivität des Textes, der aus einer Ansichtskarte ein gesuchtes Autograph macht.) Mit diesem Medium Ansichtskarte hat also der Berichter seine Bewegung angemeldet. Hauptberuflich ein Agent, ist er, wie es sich für einen Agenten höheren Dienstgrades gehört, für mehrere, miteinander zuweilen verfeindete Abnehmer seiner Nachrichten tätig. Deshalb legt er auf jede Karte einen anderen, einen nur für den einen Abnehmer seiner Botschaft abgestimmten Codierungsschlüssel an. Das ist auch die bemerkenswerte Eigenschaft seiner Meldung − sie ist auf den Adressaten persönlich abgestimmt, hat sich aber zugleich auch auf die visuelle Seite zu beziehen. Eine doppelte Kunst, die hier vorgeführt, und eine doppelte Investition, die hier getätigt wird.

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Denn bereits die Wahl einer Ansichtskarte kann äußerst schwierig sein, dann, wenn man einen distinguierten Geschmack beweisen will, es jedoch mangels Angebots nicht kann; oder dann, wenn man wegen der vorderen Ansicht − wegen des Gewichts des gewählten Bildes, befürchten muß, mit der eigenen, schriftlichen Anmerkung nichts Gleichwertiges, Angemessenes, Gescheites entgegenstellen zu können. In Bezug auf mich fällt die Motivwahl des Berichtenden entweder auf ein architektonisches Objekt oder auf ein Kunstwerk. Meine Bedeutung ist für ihn demnach auf ein Artefakt gebunden, nicht an das Bild einer Landschaft oder eines Naturwunders. Ihn selber, den Berichter, so sein Diktat, habe ich mir auch als jemanden vorzustellen, dessen Milieu das Straßenpflaster und das Kathedralenportal, Museumswände und Gemälde aller Epochen sind, nicht aber die wildschöne Landschaft des Grand Canyon oder der Mecklenburgischen Seenplatte. Mit solchen Ansichten hat er mich noch nie angesprochen, sodaß ich annehmen muß, daß er nur in solchen Gegenden aktiv ist, in denen keine Natur vorkommt. Bemerkenswert auch: Von jedem Ort meldet sich der Berichter jeweils nur einmal. Seine kleine, platzsparende Schrift, eine kassiberbegabte Handschrift, zeugt von sensibelster Motorik der Hand, von einer von keinem Tremor beunruhigten Konzentration der Finger, sie zeigt eine absolute Verfeinerung der Kalligraphie, die auch von der Wahl des feinsten Schreibwerkzeugs begünstigt wird. Die raumausnutzende Schriftgröße erweckt in zweifacher Hinsicht eine Bewunderung für die Art der Mitteilung: diese bedeckt, weil so auffallend miniaturisiert, höchstens dreißig Prozent der zur Verfügung stehenden Fläche, d. h. wenn der Schreiber hätte wollen, so hätte er das Mehrfache an Botschaften übermitteln können, aber der Bewunderung für die Feinschrift konkurriert das Bewundern der Kurzform der Mitteilung, die, einem Haiku gleich, das Wesentliche in knappster Form darzulegen weiß.

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Seine Methode, Bericht zu erstatten, macht sich eine spezifische Eigenschaft zunutze, die der Kategorie Ansichtskarte innerhalb anderer Arten von Briefschaften zukommt: von vornherein ein Stück Passivkorrespondenz zu sein. Wenn, wie in diesem Fall, der Berichterstatter nur am Senden, nicht aber am Empfangen interessiert ist, steht ihm mit der Ansichtskarte das ideale Mittel zur Verfügung, um ein asymmetrisches Verhältnis zwischen sich und dem Empfänger zu gründen. Der Berichter hat mich aufgerufen, hat sich meiner Aufmerksamkeit bedient, ohne daß er mir die Gelegenheit gäbe, auch seine Aufmerksamkeit verwenden zu können. Er kann sich auf den Vertrauensgrundsatz verlassen, nach dem die Sendung den Adressaten ganz bestimmt erreichen wird. Seine positive Prognose wurde bisher immer bestätigt, und so kann er als beweglicher Absender in Richtung unbewegter Empfänger senden und kann annehmen, daß seine Nachricht ihr Ziel erreichen wird. Die Eigenschaft einer Ansichtskarte ist, daß sich die Adresse des Absenders nicht feststellen läßt, daß man sich nicht erwartet, daß ein Versuch zu ihrer Eruierung unternommen werden würde. Es handelt sich also um ein anderes Verhältnis, als wenn von zwei stabilen Standorten aus gleichzeitig Nachrichten ausgetauscht würden: Hin und her, in Erwartung der jeweiligen Empfangsbestätigung. (Es gibt saisonal bedingte Abweichungen, wenn es beispielsweise zu gehäuften Bewegungen der Grüße aus dem Süden gegen den Norden kommt, dann werden alle zu Absendern und niemand ist da, der empfängt.) Der Berichter ist sich anscheinend des Gehalts seiner Meldung so sicher, daß er keine Bestätigung ihrer Qualität benötigt. Oder er ist sich der Qualität des Berichts überhaupt nicht sicher und vermeidet jede Möglichkeit einer Kritik. Einer Kritik, die er allerdings haben könnte, denn auch ich, ein bildsensibler Empfänger seiner Kartenansicht hätte eine Meinung zur Richtigkeit seiner Meldung zu äußern. So aber, zum passiven Abnehmer seiner Mitteilungen

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eingeteilt, warte ich auf ein gelegentliches Eintreffen einer neuer Nachricht von ihm. Laßt euch nur Zeit, ihr Melder, denkt sich der Berichter, der womöglich am letzten Tag vor der Abreise seine Nachricht versendet, wissend, daß, wenn seine Botschaft dem Empfänger zugestellt wird, er bereits selbst in nächster geographischer Nähe zu ihm sein wird … Ich habe vor, ihm einen Strich durch seine Rechnung zu machen, eine Änderung in das eingefahrene System einzubringen. Ich überrasche den Berichter mit einer Karte, die er unerwartet am Ort seines Ankommens empfangen wird: bevor er seine Position überhaupt melden kann, melde ich, bisher nur ein passiver Kartenleser, mich bereits bei ihm, gebe ihm mit meiner Karte seine Position bekannt und will darüber hinaus noch mehr: „Verbleibe am bisherigen Ort, Brief folgt“, schreibe ich. Derart überrumpelt, wartet er das Eintreffen von Ereignissen ab, die nie stattfinden werden. In die kontinuierliche Kette der Bestandteile einer Passivkorrespondenz wird eine Anomalie eingeklinkt. Ich habe dann vor, eine derart angereicherte AnsichtskartenSammlung als Kartenansichten-Sammlung dem Österreichischen Literaturarchiv wenn schon nicht zum Verkauf, dann zumindest als Legat anzubieten. Bei der Qualität des Materials wird der Leiter des Literaturarchivs mein Angebot bestimmt nicht ablehnen können.

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Ein visueller Rhetoriker

Man sollte alle Stifte mit der Hand zuspitzen. Angehörige der grafischen Berufe sollten niemals einen Bleistiftspitzer gebrauchen. Das Zuspitzen mit der Hand ist übrigens auch billiger, da die meisten gedrehten Spitzen abbrechen, ehe man sie benutzt hat. Man spitzt den Stift, indem man ihn in die linke Hand und das Messer in die geballte rechte nimmt. Der rechte Daumen bleibt unbewegt, die rechte Hand stellt mit langsamen Schnitten die Spitze her. Alle Stifte müssen stets tadellos gespitzt sein. Mit stumpfen Stiften kann man nicht skizzieren. ( Jan Tschichold, Typografische Entwurfstechnik) Das Absolvieren dieser klassischen Lektion bereitete Stefan Fuhrer eine besondere Freude und in der Folge wiederholte er die scharfmachende Übung mit einer außerordentlichen Befriedigung immer wieder. Dabei merkte er bald, daß sich sein Interesse weniger auf den geschärften Gegenstand als vielmehr auf das Messer in seiner geballten Rechten richtet. Damals hat er seine aichmomanische Veranlagung erkannt, der noch weite Weg zu einer stilbildenden gestalterischen Methode des Zerschneidens, des Fragmentierens von Formen war vorgezeichnet. Erst später, von seiner zwanghaften Vorliebe für scharfe Schneidewerkzeuge getrieben, hat er auf Umwegen von allzu groben Messerschneiden zur hochgradigen Schärfe von Skalpellen gefunden. In seinem Studio mit seinen speziellen Einrichtungen kann er sein kompulsives Verhalten den typographischen Elementen gegenüber ungehemmt ausleben. Aus einem unübersehbaren Vorrat an grafischen Formen wählt er einige aus, legt sie auf eine Art Operationstisch, sucht das entsprechend geformte Skalpell aus und beginnt, ohne Betäubung, mit der

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Operation. Fuhrer zerschneidet Buchstaben bei lebendigem Leibe, denn er möchte, genauso wie es vor ihm bereits Luigi Galvani tat, der durch das Experimentieren mit Froschschenkeln die Kontraktion von Muskeln unter dem Einfluß statischer Elektrizität entdeckte, die dem geviertelten Buchstabenorganismus noch verbleibende Lebensenergie ausnutzen und den Körperfragmenten eine Chance geben, sich aus letzter Kraft auf der Tischfläche neu zu formieren. Bei seinem obsessiven Schneiden wechselt er die Methode, zerteilt einmal bloß quantitativ, ein andermal, weil in den Gelenken des Buchstabenkörpers der Formveranlagung folgend, höchst qualitativ. Weil er bei der Operation wie ein Schönheitschirurg und nicht wie ein Demolierer vorgeht, liegen anschließend die gequälten Buchstabentorsi in ihrer Verteilung auf der Operationsfläche zwar randomisiert da, ihre anklagenden Schnittwunden weisen aber auf die Möglichkeit hin, als potentielle Kontaktflächen, wenn auch untereinander vermischt, wieder zusammenwachsen zu können. Manchmal beendet Fuhrer den Todeskampf abrupt, und obwohl danach nur eine geringfügige Schnittspur, ein kleinstmöglicher Einschnitt zurückbleibt, für eine aufmerksame Wahrnehmung bewirkt dies einen ausreichend wirksamen Abstand zwischen den Buchstabenkörperteilen. Mit seiner Methode regt er ein visuelles Spiel zwischen der inneren Struktur eines graphischen Zeichens und der sich neu bildenden Struktur aller am Schlachtfeld verteilten Formfragmente an. Die Ausgangssituation ist vom aggressiven Verhalten den Buchstaben gegenüber bestimmt, die bizarren Eingriffe und destruktiven Praktiken sind aber einem starken Kontrollzwang unterordnet, einem Charakterzug, der den meisten Typographen eigen ist − finden doch alle gestalterischen Vorgänge auf einer nur scheinbar offenen, freien Fläche statt. In Wirklichkeit handelt es sich um ein Gefängnis des vorgegebenen Satzspiegels, eines Zwangsrasters,

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dessen Konstruktionen von den Besten des Fachs ersonnen und meistens über lange Zeiträume tradiert angewendet werden. Die Kontrolle über die Vorgänge auf der Fläche kann man nur dann behalten, wenn man sich seinen Kontrollposten außerhalb des Bildformats gesichert hat. Fuhrers mehrmalige Versuche, nachdem er sich als Flächenbekenner auch tatsächlich in die Fläche hinein begeben hat, um dort gestalterisch tätig zu sein, scheiterten an der Unmöglichkeit, sich von dort eine das Geschehen überwachende Übersicht zu verschaffen. Was es bedeutet, Teil einer zweidimensionalen Fläche zu sein, wissen wir aus Edwin A. Abbotts Erzählung Flächenland. Auch Fuhrer ist es dort nicht anders als dem Erzähler, einem alten Quadrat, ergangen, auch er hatte mit den elementarsten Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt, um die anwesenden Bewohner als Drei-, Vier- oder Vielecke zu identifizieren, da er immer nur ihre Begrenzungslinien, nicht aber die Flächenformen selbst sehen konnte. Denn in einer Fläche findet nur zweidimensionale Bewegung in den x- und y-Achsen statt, im Flächenland gibt es keine vertikale Achse z, eine Flächengestalt kennt die Möglichkeit gar nicht, sich um neunzig Grad aus der Grundfläche zu erheben und sich in ihrer wahren Erscheinung zu zeigen. Von jeder Flächenreise kam Fuhrer mit mehr Wissen über das Leben der typographischen Zeichen angereichert zurück, verständnisvoller im Umgang mit ihnen, nach jeder Rückkehr bedauerte er, nicht gleichzeitig auf beiden Seiten − innerhalb und außerhalb des Bildformats − sein zu können. Er fand sich mit seiner Position außerhalb der Bildfläche ab, und begann auf ihr mit seinem Vokabular, seiner Syntax und seiner Grammatik der visuellen Sprache seine Ordnungen von Text und Bild zu etablieren. Für einen Typographen gibt es auf einer Gestaltungsfläche keine Zonen, die nicht informieren würden − eine leere Fläche ist hier genau soviel wert wie ein Textblock oder eine Überschrift. Zu Fuhrers typographischen Stilmitteln gehört unter anderem die

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Verwandlung von einigen eingesetzten Elementen, die sich auf diese Weise von den unverwandelten Elementen optisch absetzen können. Manchen Buchstaben stellt er Hilfsmittel wie Striche und Balken zur Seite, die ihnen als Assistenzfiguren an unerwarteten Stellen helfen, eine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, die ihnen ohne diese Unterstützung versagt worden wäre. Visuelle Strukturen versteht er auch dadurch zu generieren, daß er gleiche Formen unterschiedlichen − milden oder drastischen − Situationen aussetzt, womit der Betrachter an ihnen sowohl das Veränderliche als auch das dauerhaft Anhaftende beobachten kann. Fuhrers Handschrift erkennt man, wenn mit statischen Elementen eine visuelle Energie erzeugt wird und all die auf der Fläche vorhandenen, disparaten Mittel ausbalanciert werden, wenn mit unerwarteten Richtungswechseln das Geschehen dramatisiert wird und ein verkehrter Anarchobuchstabe den diszipliniert in der Leserichtung aufgereihten Zeichen den Weg verstellt und ihre Bewegung abrupt verhindert, wenn Buchstaben oder Zahlen ihre normale Raumlage wechseln und es sich in der Horizontale bequem machen − auf diese Art werden Zeichenbewegungen zu einer Konstante. Manchmal befiehlt Fuhrer den Buchstabenkörpern in dichten, sich überlagernden Formationen anzutreten und läßt sie in unterschiedlichen Geschwindigkeiten über die Fläche zu anderen Buchstabendickichten marschieren, spannt ihre Kräfte ein, damit die von ihm zusammengestellten Einheiten zu neuen Energiefeldern werden. Erscheint eine Seite gedämpft harmonisch, kann die andere vor eingebrachter Energie strotzen, werden hier lethargische, müde Zeichen in Aufruhr gebracht, werden dort andere, hyperaktive Zeichen ruhiggestellt. Das Experimentieren mit visuellen Tempi läßt schnelle oder langsame Seiten einer Publikation entstehen. Bei solcher Aufzählung von einigen visuellen Sprachmitteln, deren sich Stefan Fuhrer bedient, wird klar: In persönlicher Begegnung

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zurückhaltend schweigsam, ist er im typographischen Ausdruck mitteilsam und rhetorisch hochbegabt. Ein Sprachtalent, das nur eine visuelle Sprache spricht, diese aber in vielen Dialekten.

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Über Formursachen

Wo lassen Sie nähen? Einige Notizen zum Thema Konfektion und Konvention

Einen Anzug läßt man sich deshalb nähen, weil man, abgesehen von dem funktionalen Aspekt einer Bekleidung, auch die Konvention einer bestimmten Form eines Bekleidungsstückes akzeptiert hat. Man hat ein Reglement anerkannt, man ist damit einer Konvention beigetreten. Die Form des Gehäuses, das einen kleiden wird, ist konventionalisiert, seine Bautechnologie ist es auch und die Art seiner Verwendung und zwar in allen ihren Dimensionen, ist sowieso geregelt. Wenn man einen Anzug selber nähen möchte, dann würde man zunächst am Erwerb der technischen Fertigkeiten und theoretischen Kenntnisse arbeiten, am Erlernen aller Konventionen, die unter zwingender Befolgung von Regeln einen Anzug von normativer Güte entstehen lassen würden. Der Weg zu einem Anzug durch den Erwerb eines Konfektionsexemplars berührt die Problematik der Entstehung von normativer Ästhetik nur wenig: Durch den Kauf eines fertigen Fabrikats umgeht man all die Hindernisse, deren Überwindung ein Verständnis für Beziehung von Techne und Logos und in der Folge ein erkenntnismäßiges Erfassen der Grundlagen einer normativen Ästhetik nach sich zieht. Der Erwerb eines fertigen Anzugs ist allerdings eine Handlung, die äußerst effizient und vernünftig ist, denn die Vorstellung, man würde bei jedem Konsumobjekt den Umweg über die Selbstherstellung machen, mit dem Ziel, ein Erzeugnis zuwege zu bringen, das dem professionell hergestellten gleicht, diese Vorstellung wird man als undurchführbar verwerfen müssen.

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Wo lassen Sie entwerfen? Zunächst läßt man experimentieren: Bei Pythagoras, Vitruv, Palladio, Barbari, Le Corbusier u. a., also bei denen, die an einer Proportionslehre gearbeitet haben, d. h. an einer Theorie der Zahl- und Größenverhältnisse. Sie zogen aus geometrischen Basissätzen Ableitungen und Folgebeziehungen (in unbegrenzter Anzahl) und stellten durch kombinierte Anwendung von Prinzipien Proportionsregeln auf. Und entwerfen läßt man auch gleich bei ihnen, denn sie haben all die abgeleiteten Eigenschaften den räumlichen Formen zukommen lassen, Formen, die nach diesen Regeln, Anleitungen und Rezepten in einer logisch strukturierten Tektonik organisiert werden können. Diese harmonisch proportionierten Teile liegen nun wie Konfektionsware da, sind am Lager vorrätig und warten auf ihre Verwendung. Die Verwendung kanonischer Proportionen ist eine Arbeitsmethode, die der Beratung mit jemandem gleicht, dessen Meinung man respektiert. Man gehört zu dem psychologischen Typus, der sich nicht auf selbständige Entscheidung zu verlassen traut (ein „feldabhängiger Typ“) und deshalb auf ein Dogma zurückgreift, das ein für alle einsichtiges, ‚richtiges‘ Ergebnis sichert. Also im Zweifelsfalle − und Kunst zu machen bedeutet, ständig Entscheidungen zu treffen −, im Zweifelsfalle also sich der allgemein einsichtigen, objektivierten, regelhaften Ordnungen zu bedienen, das Vorschriftsmäßige zu wählen. Ohne selbst das Prinzip der Erzeugung eines ästhetischen Kanons in Betracht gezogen zu haben, bedient man sich einer praktischen Methode, einem „Do it yourself“-Verfahren, welches die Arbeitsweise erleichtert. Das Einzige, das man selber einbringen muß, ist ein Formenwunsch, ein ungefähres Schema des beabsichtigten Resultats. Wie beim Herstellen von Selbstbaumöbeln kombiniert man käuflich erworbene Bestandteile zu einem wohlproportionierten Ganzen

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und spekuliert dabei, mit Recht, wie sich erweist, auf seine verläßliche Wirkung. Die magisch begründeten Anforderungen an Form und Größe, die man aus den überlieferten Lehren von elementargeometrischen Anleitungen und Lehrsätzen der Sakralgeometrie kennt, der Glaube, daß, wenn die Proportionen harmonisch sind, den Zahlen dann eine göttliche Kraft innewohnt − sind das Erwartungen an eine Gestalt, die wir lieber einem Wahrnehmungspsychologen zur Interpretation zuführen möchten? Das Verhältnis zu der möglichen Wirkung der idealen Proportionen auf den Betrachter ließe sich auch mit einer Begebenheit beschreiben, über die der Physiker Niels Bohr berichtet: „In der Nähe unseres Ferienhauses wohnt ein Mann, der hat über der Eingangstür seines Hauses ein Hufeisen angebracht, das nach einem alten Volksglauben Glück bringen soll. Als ein Bekannter ihn fragte: ‚Aber bist du denn so abergläubisch? Glaubst du wirklich, daß das Hufeisen dir Glück bringt?‘ antwortete er: ‚Natürlich nicht; aber man sagt doch, daß es auch dann hilft, wenn man nicht daran glaubt.‘“ Diese Notizen sind Wilfried Skreiner gewidmet, dem österreichischen Kunsthistoriker und Museumsdirektor, einem großen Freund und Kenner moderner Kunst, als Ergänzung zu einer Arbeit, die ich für ihn gemacht habe: seine Grabstele, die er einige Jahre vor seinem Tod bei mir in Auftrag gegeben hat. Anlaß, sie zu verfassen, ist − „nomen est omen“ − Gelegenheit, in der Architekturzeitschrift Goldener Schnitt die „Goldene Schnitt“-Konzeption dieser Skulptur zu erläutern. Die Skulptur sollte sowohl die Autonomie eines freien Kunstwerks haben und dennoch, aus Gründen der Pietät, die Funktion einer Würdeform erfüllen, steht sie doch auf einem Fundament, in dem die Urne des Verstorbenen aufbewahrt ist. Die Größe der Skulptur

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ist so gewählt, daß ein Mensch unter ihr stehen kann wie unter einem Portal. Zwei formidente Teile mit eingezeichneten Sollbruchstellen (Perforierung) wurden so aufeinandergestellt, als habe der eine Teil den anderen geschultert. Das Thema des Teilens und des potentiellen weiteren, noch möglichen Geteilt-Werdens ist durch das Einzeichnen der Bruchlinien gegeben. Die Perforierung kennzeichnet und ist de facto die Grenze des möglichen Bruchs. Das Gewicht des „Major“-Teils ragt über die Grenze der Sollbruchstelle hinaus, die prekäre Lage des Hinausgeschobenseins macht die Dynamik dieser Skulptur aus und weist zugleich auf ihre Statik, auf deren statische Absicherung hin. Eine Reihe von weiteren Ableitungen aus den Proportionen des Goldenen Schnitts ist in den „leeren“ Raumvolumina um die Massevolumina herum wirksam. Eine weitere Ordnungsebene ist das Genordetsein der Skulptur. Sie steht auf einer Anhöhe, von der aus man in südlicher Richtung weit in die Landschaft bis hin zur Landesgrenze nach Slowenien blicken kann. Das Genordetsein ist demnach eine Bedingung des Ortes, und die Skulptur übernimmt die Aufgabe eines latenten Wegweisers. Ihre rechtwinkelig angeordneten Teile weisen in alle Himmelsrichtungen und sind auch als Quadranten eines Kompasses zu lesen.

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Norm, Freiheit und Kompromiß Zum Verhältnis von Architektur und Kunstwerk

Architektur hat, ihrer funktionalen Dimension wegen, keine Autonomie, und sie infiziert mit diesem Manko auch die Kunstwerke, die für sie angefertigt wurden. Denn obwohl diese Werke keinen bestimmten praktischen Zweck erfüllen müssen, sind sie dennoch in ihrer Autonomie entscheidend geschwächt worden. Sonderbare Vorgaben sind es, die in die Konzeptionen des Kunstwerks am Bau einfließen: die Dimensionierung und Proportionierung werden von der Größe und der Proportion des Raumes abgeleitet, in dem es untergebracht ist, oder von den Kommunikationswegen, die an dieser Stelle verlaufen. Die Wahl des Materials und der künstlerischen Technik, aber auch der Inhalt des Werks hängen des öfteren von den Vorschriften und Normen ab, die in den Gebäuden gelten und die eine Zensur aus technischen oder aus inhaltlichen Gründen ausüben. Feuer am Dach ist zu vermeiden und wird es meistens auch, durch vorauseilenden Gehorsam des Gestalters, der Konflikte von vornherein vermeiden will, denn sollte er nicht die Erfahrung bereits gemacht haben, er wird schnell des Besseren belehrt, daß nämlich die normative Kraft der Nutzung eines Gebäudes auch die Nutzungsart seines Werks normativ bestimmt und daß sein Werk deswegen auch nie autonom wird sein können. Es ist deshalb nicht möglich, als Betrachter, im Falle von Skulpturen oder Gemälden, die für eine bestimmte architektonische Situation angefertigt wurden, den gleichen analytischen Raster für die Bestimmung ihrer Formbedingungen anzuwenden wie für die Analyse autonomer Werke. Man darf sich nicht in die Irre führen lassen und bestimmte Entstehungsgründe und Entscheidungen am Werk dort vermuten, wo vielleicht Brandschutznormen oder Möglichkeiten der

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Gebäudereinigung die maßgeblichen Faktoren für ihre Gestaltung gewesen sind. Auch die positiven Bestimmungen, welche die Struktur des Kunstwerks beeinflussen können, wie zur Einheit des architektonischen Rahmens beizutragen oder in der Anlage des Werks auf die unverkennbaren Hauptrichtungen des Raumes zu reagieren etc. − um eine Fremdbestimmung handelt es sich dennoch, ein Faktum, gegen das sich ein Künstler normalerweise zu Wehr setzen würde. Die Kunstgeschichte arbeitet mit dem Begriff der Formgelegenheit1, wenn sie die Aufgaben behandelt, die den Künstlern gestellt wurden. Sie gewinnt, zumindest für bestimmte zeitliche Abschnitte wie die Epoche der Renaissance, dem Faktor des Einflusses − des für das Kunstwerk bereitgestellten Ortes − auch positive Seiten ab: „Wie schon der Name sagt, ist die Formgelegenheit, dem Künstler gegeben, vom Auftraggeber her bestimmt. Nicht ,künstliches‘ Einteilungsprinzip des Wissenschaftlers, sondern ,aus dem Leben gegriffen‘: die dem Künstler von seinen Zeitgenossen jeweils gestellte Aufgabe. Daher bietet die Formgelegenheit auch den besten Zugang, um die Reibung zwischen künstlerischen Intentionen und Realität zu untersuchen. Formgelegenheit und künstlerische Gestaltungsprinzipien stehen zueinander in einem Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit. Einerseits muß die künstlerische Gestaltung die Forderungen der Formgelegenheit berücksichtigen, andererseits wird aber auch die Formgelegenheit durch die jeweiligen Gestaltungsprinzipien modifiziert.“2 Von meinem Standpunkt und meiner Erfahrung aus ist das Machtverhältnis der Architektur zum Kunstwerk bedenklich asymmetrisch, weil die für das Werk vorgesehene Stelle von vornherein weitgehend durch die baulichen Gegebenheiten festgelegt ist, das Werk meistens nicht an einer anderen Stelle denkbar wäre und deshalb von den bereits erwähnten, dort herrschenden örtlichen

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Bedingungen mitgeformt, umgeformt und eingeklemmt, eingeschnürt und eingezwängt wird.

1

Wilhelm Pinder, Die Deutsche Plastik, Erster Teil, Wildpark–Potsdam 1924, S. 107 ff.

2

Arthur Rosenauer, Studien zum frühen Donatello, Holzhausen, Wien 1975, S. 16 ff.

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Vorstellen, Darstellen, Herstellen

Betrachtung eines Würfels1 Von den Blinden lernen Im Nachtrag zu seinem Brief über die Blinden2 von 1749 beschreibt Denis Diderot seine Begegnungen mit einer jungen blinden Frau, Mélanie de Salignac. Er rühmt ihre musikalischen, literarischen und wissenschaftlichen Kenntnisse und manuellen Fertigkeiten und läßt sie sagen, Mathematik sei die rechte Wissenschaft für die Blinden, weil sie große Aufmerksamkeit verlange und weil man dabei keiner Hilfe bedürfe, um sich zu vervollkommnen. „Der Mathematiker verbringt fast sein ganzes Leben mit geschlossenen Augen“, sagt sie. Diderot stellt ihr folgende Aufgabe: „‚Mademoiselle‘, sagte ich einmal zu ihr, ‚stellen Sie sich einen Würfel vor.‘ − ‚Ich sehe ihn.‘ − ‚Denken Sie sich in der Mitte dieses Würfels einen Punkt.‘ –‚Ist geschehen.‘ − ‚Ziehen Sie von diesem Punkt gerade Linien zu den Ecken, so teilen Sie den Würfel …‘ − ‚In sechs gleiche Pyramiden‘, fügte sie von selbst hinzu; ‚Pyramiden, die alle gleiche Seitenflächen, die gleiche Grundfläche wie der Würfel und die halbe Höhe desselben haben.‘ − ‚Richtig; aber wo sehen Sie das?‘ − ‚In meinem Kopf − wie Sie.‘“ 3 „Ich habe, offen gestanden, nie recht begriffen, wie sie sich im Kopf etwas ungefärbt vorstellen konnte. War die Vorstellung dieses Würfels auf Grund des Gedächtnisses für die Empfindungen des Gefühlssinns entstanden? Wurde ihr Gehirn gewissermaßen eine Hand, unter der die Stoffe dann Gestalt annahmen? Kam mit der Zeit eine Art von Verkehr zwischen zwei verschiedenen Sinnen zustande? Warum besteht dieser Verkehr nicht in mir? Warum sehe ich in meinem Kopf nichts ohne Farben? Worin besteht die Einbildungskraft eines Blinden? Dieses Phänomen läßt sich nicht so leicht erklären, wie man glauben könnte.“4

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Diderots Fragen, die er sich in Hinblick auf die Wahrnehmungssituation der blinden Frau stellt, leiten sich von Erfahrungen eines Sehenden in seinem hauptsächlich optisch wahrgenommenen empirischen Raum ab.5 Wenn ich die Wahrnehmungssituation eines Blinden durch einen visuellen Ausfall nachahme, die Wahrnehmungsdaten über einen Raum oder ein Objekt ausschließlich haptisch sammle und damit die gleichen Sinnesempfindungen habe, stelle ich fest, daß ich die haptischen Sinnesdaten andauernd optifiziere, d. h. in Vorstellungsbilder übertrage, die von meiner vorwiegend optisch erfahrenen Welt geprägt sind. Für Sinnesdaten, die ich aktuell haptisch über einen Gegenstand und seine Lage im Raum empfange, suche ich immer ein optisches Äquivalent. Die optifizierte Haptik eines Sehenden ist eine Vermengung zweier Wahrnehmungsformen, die ein Blinder nicht kennt, denn seine Haptik ist rein und autonom.6

Den visuellen Ausfall imitieren Ich mache bei der vorübergehenden Ausschaltung der optischen Wahrnehmung eine wesentliche Erfahrung: Wenn man mir einen Würfel als einen mir noch unbekannten Gegenstand zur rein taktilen Untersuchung mit verbundenen Augen gibt, dann werde ich mir nicht die Frage stellen, „Welcher Würfel ist das?“, sondern „Welcher Gegenstand ist das überhaupt?“ und werde mir die Antwort „Es ist ein Würfel“ tastend, in analytisch strukturierender Weise erarbeiten müssen. Als Sehender bin ich es gewohnt, mir von Objekten oder Räumen, mit denen oder in denen ich operiere, augenblicklich einen Gesamteindruck zu machen. Vorhandene Gliederungen in Einzelteile versuche ich in einem vereinfachten Formganzen aufgehen zu lassen, anstatt sie hervorzuheben. Die einzelnen Paragraphen der Gestalttheorie: Prägnanz, Ähnlichkeit, Kontinuität, verbundene Elemente, Nähe, Geschlossenheit, gemeinsame Areale usw. − sie alle bestätigen die wahrnehmungspsychologische Tatsache, daß visuelle Wahrnehmung tendenziell die Bildung von

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einfachst möglichen, einheitlichen Gestalten bevorzugt. In der Optik ist meine Wahrnehmungsleistung bescheiden, denn alle Informationen erhalte ich mühelos und werde − wie die Wahrnehmungspsychologie diese Einstellung beschreibt − der umgebenden Welt auf Entfernung habhaft. Gering ist auch meine Erkenntnisleistung, denn ich habe mir das Bild des Formganzen, in dessen Besitz ich mich wähne, gar nicht erarbeiten müssen, es ist mir von Anfang an als ein fertiges, passiv erworbenes, synthetisches Bild zugefallen. Zwar folgt die Haptik, deren ich mich nun bedienen werde, ebenfalls der Tendenz, gegliederte Objekte zu einem Gesamtbild zu bündeln, allerdings wird mir bei der bloß haptischen Erfassung des Gegenstands eine hohe Erkenntnisleistung abverlangt. Im Unterschied zu einem Sehenden, der das ihm zur Verfügung stehende optische Material sofort zu Wahrnehmungsinhalten verarbeiten kann, muß ich nämlich methodisch wie der Blinde vorgehen und bestrebt sein, den umgebenden Raum und die Objekte, mit denen ich hantiere, zu gliedern und mir ein Strukturganzes zu konstruieren. Jedenfalls soll für mich das vorsätzliche Ausschließen des Gesichtssinnes zum bedeutenden Vorteil werden, denn der Tastsinn, der ihn substituieren wird, ist für die Erkundung und Erfassung der Aufbaustruktur dreidimensionaler Objekte der Wahrnehmungssinn schlechthin. Das Defizit an optischen Informationen wird das Erfassen der wesentlichen geometrischen Eigenschaften des Würfels begünstigen − die anbefohlenen Handlungen beziehen sich nur auf seine räumlichen Qualitäten, während seine anderen Phänomene wie Farbe, Textur oder Temperatur nicht in der aktuellen Beobachtungszone liegen. Ich hätte mir aber auf jeden Fall eine ähnliche Wahrnehmungssituation verschaffen müssen, da ich komplizierte geometrische Operationen an einem Würfel einzig in der Vorstellung zu machen habe, Handlungen, die mich wegen ihres Schwierigkeitsgrades überfordern. Deshalb hätte ich zu meinem bewährten Mittel der

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Konzentration, des Gesammeltseins, greifen und die Augen schließen müssen, um die störenden, weil zu Operationen am Vorstellungsbild des Würfels nicht gehörenden Phänomene auszublenden. Diese Technik führt mich noch näher an die Struktur des Gegenstands und entfernt mich von den ihm anhaftenden Oberflächenphänomenen.7

Kognitive Leistung des Tastsinnes Es ist ein vertrautes Vorstellungsbild, an dem ich zu hantieren habe, denn beim Würfel handelt es sich um einen Gegenstand, der für mich bereits vorstrukturiert ist. Unter einem Vorstellungsbild verstehe ich das innere Bild eines Gegenstands, das sich anhand von variierenden Wahrnehmungsschemata zu meinem persönlichen Darstellungsschema von einer relativen Zeitdauer verfestigt hat. Sofern sich ein solches Vorstellungsbild des Würfels aber nur anhand optischer Wahrnehmung herausgebildet hat, handelt es sich um ein oberflächliches, mangelhaftes Ausgangsmaterial, das als Modell zur Demonstration mathematisch-geometrischer Vorgänge ungeeignet ist. Dieses innere schematische Bild eines Würfels will ich nicht ohne gründliche Überprüfung übernehmen und werde, was sich als vorteilhaft erweist, für seine Revidierung die Abtastmethode anwenden. Denn genauso wie der Blinde strebe ich die Erkenntnis der architektonischen Gliederung des Gegenstands und der geometrischen Beziehungen seiner Einzelteile an und will, wie er, mich von dem ersten schematischen Eindruck des Objekts frei machen und versuchen, auf analytischem Wege die Strukturschichten des Dinges festzustellen.8 Ich werde, ausschließlich in der Vorstellung, in einem messendvergleichenden Verfahren die Längen und Lagen der Würfelkanten und Würfelflächen, dann ihre Relationen zueinander samt Winkelgrößen feststellen. Der Weg bis zum Gesamtbild wird aus dem Verweilen an einzelnen Meßstellen bestehen, an denen ich, bevor ich eine nächste Messung vornehme, eine Sicherungskopie anfertigen

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werde, ohne die ich mich nicht trauen würde, den nächsten Erkundungsschritt zu machen. In der Haptik kommt keine Gestalt unmittelbar, sondern nur durch aktive Tätigkeit sukzessive zustande, erst nach und nach ergeben die haptisch gesammelten Daten das Gesamtbild des Würfels als ein Strukturganzes. Aus diesem Grund ist die Tastmethode bei der Erkundung der Dreidimensionalität eines Objekts der optischen Erfassung überlegen, denn die Intention der haptischen Wahrnehmung ist eine strukturelle Erkenntnis und der haptische Sinn damit vorwiegend kognitiver Natur.9

Tastend sich informieren Wahrnehmungsphysiologisch beschrieben10 beteiligen sich am Tastvorgang einerseits Gelenke, die geometrische Information liefern, anderseits die Haut, die Berührungsinformation liefert. Beide zusammen kovariieren und liefern Information über die Anlage der Oberflächen. Demnach ein aktiver, motorischer Vorgang, während dessen sich die Gelenkrezeptoren und die Hautrezeptoren zu einem System zusammenschließen, um Reizinformationen über die Anordnung der physikalischen Oberflächen zu registrieren. Der Knochenraum der Gelenke und der Hautraum werden zu einem Stück. Zwei Kinästhesien: Hautkinästhesie und Gelenkkinästhesie, werden orchestriert und in räumlicher Relation zum untersuchten Gegenstand oder Raum empfunden. Das Berührungsmuster beim Greifen oder Tasten ist ein räumliches Muster, bei dem zwei Bezugssysteme in Relation zueinander gesetzt und wahrgenommen werden. In diesem Fall ist das eine Bezugssystem der Fühlraum der Hand, das andere die Raumstruktur des Würfels. Selbstwahrnehmung bei Beobachtung Solche elementaren Informationen über die unterschiedlichen Wahrnehmungstechniken sind wenig hilfreich, wenn man erklären will, welchen Einfluß auf meine Wahrnehmung das

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vorhandene oder fehlende Wissen über den untersuchten Gegenstand hat. Im Prozeß des Wahrnehmens und Erkennens, in dem sich meine finale Vorstellung des geteilten Würfels bildete, habe ich mir immer wieder die Bedenkzeit beim Abgeben des Urteils über den Gegenstand verlängert, denn mein vorhandenes Wissen über den Würfel hat meine Wahrnehmungsdaten ständig korrigiert, in dem es mich mahnte und mich jedes Mal von neuem beschämte: die geometrischen Verhältnisse in dem Würfel sind anders, meine Wahrnehmung war nicht richtig eingestellt, hat mich getäuscht und ich habe meine irrige Vorstellung an die tatsächlichen Verhältnisse anzupassen. Die ausschließlich taktile Erfahrung mit einem Objekt hatte zur Folge, daß ich das Gewußte, das Vermutete und das Wahrgenommene intensiv zu sortieren und auseinander zu halten hatte. Meine Beteiligung als wahrnehmendes Subjekt war dabei anders als beim optischen Wahrnehmungsakt ungleich intensiver − die Selbstwahrnehmung bei analysierender Beobachtung ist impliziter Teil der taktilen Erfahrung.

Gestaltung eines Würfels Das Desinteresse des Mathematikers an den Folgen seiner Handlungen Die morphologischen Folgen der Würfelteilung scheinen den Mathematiker, der sie vorgeschlagen hat, nicht zu interessieren, obwohl das Teilen ein Prozeß ist, in dem über die Zukunft sowohl des Ganzen als auch der aus ihm neu entstandenen Teile entschieden wird. Ich dagegen, als Endabnehmer des Produkts „Geteilter Würfel“ habe an der Würfelmorphologie sehr großes Interesse. Teilen ist ein Vorgang der Formvermehrung. Aus einer ganzheitlichen Gestalt, beispielsweise eines Würfels, die ihre eigene Struktur hatte, wird, beispielsweise, eine sechsteilige Gruppe von unregelmäßigen

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Tetraedern. Durch die Vermehrung der Elemente werden neue relationale Beziehungen gegründet, die ursprünglich statische Ordnungsstruktur eines Würfels wird in eine tektonische Bewegungsstruktur umgewandelt. In dieser Struktur werden ähnliche, aber auf Grund ihrer unterschiedlichen, weil spiegelsymmetrischen Formeigenschaften ungleiche, also hierarchische Elemente gelagert. Die neue Struktur ist in diesem Fall eine geschlossene Struktur, die so bindend ist, daß sie keine Variationsmöglichkeit − Verwendung anders proportionierter oder anders gelagerter Elemente − zuläßt.

Formzwillinge ungleicher Herkunft Die Würfelteilung hat eine schwerwiegende Folge. Angenommen, ich soll mit zwei nebeneinander liegenden, auf den ersten Blick formgleichen Objekten − zwei unregelmäßigen Tetraedern − hantieren, die aber unter unterschiedlichen Formbedingungen entstanden sind: der eine aus einem Würfel ausgeschnitten, der andere ist im konstruierenden Verfahren aufgebaut worden. Deshalb ist ihre Ähnlichkeit auch nur eine oberflächliche, über diese zwei Tetraeder läßt sich nicht sagen, sie seien von gleicher Gestalt. Wenn manche ihrer Flächen Eigenschaften haben, welche die gleichen Flächen des anderen Objekts nicht haben, dann kann man nicht von einer Isomorphie sprechen. Der Tetraeder, der dem Würfel entstammt, ist mit diesem für immer schicksalhaft verbunden. Seine Begrenzungsflächen sind ausschließlich angrenzende Kontaktflächen zu den restlichen Tetraedern im Würfel, bis auf die eigentümlichste Fläche, die zugleich ein Teil der Würfeloberfläche ist − eine Eigenschaft, die seiner Autonomie am meisten schadet und die ihn am schwersten kontaminiert. Während sich der zweite, der konstruierte Tetraeder seine künftigen Formkombinationen und Raumlagen aussuchen kann, kann der dem Würfel entstammende Tetraeder immer nur als Würfelteil gedacht werden. Es ist eine bemerkenswerte Eigenschaft eines

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Gegenstands, wenn seine Existenz von der Assistenz eines anderen Gegenstands abhängig ist. Es ist dann seine Bestimmung, daß man beim Operieren mit ihm immer noch ein anders Ding mitsehen und mitberücksichtigen wird müssen. Der Rivale des Tetraeders ist der Kubus, mit ihm wird er andauernd um die Aufmerksamkeit des Betrachters ringen. Das Wahrnehmungsinteresse des Betrachters wird zerrissen und wird zwischen den beiden andauernd oszillieren.

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1

Der Aufsatz bezieht sich auf die von Oswald Wiener gestellte Aufgabe, allein durch Vorstellungen zum Ergebnis zu gelangen, daß es sich bei den Formenteilen, die entstehen, wenn durch einen Würfel vorgegebene Schnittebenen gelegt werden, um drei schiefe Pyramiden oder um sechs irreguläre Tetraeder handelt. 2 Denis Diderot, „Der Brief über die Blinden. Zum Gebrauch für die Sehenden“. Mit einem Nachtrag, (1749), in: ders., Philosophische Schriften, dt. Übers. Theodor Lücke, AufbauVerlag, Berlin 1961, Bd. 1, S. 49–110. 3 Das Beispiel einer Würfelteilung in sechs Pyramiden entnahm Diderot dem Lehrbuch der Algebra, verfaßt 1739 von Nicholas Saunderson, einem blinden Mathematikprofessor aus Cambridge, der diese Aufgabe nutzte, um einen Lehrsatz zur Berechnung von Inhalten gleichseitiger Pyramiden in Bezug auf ihre Höhe und in Bezug zu einem Würfel zu formulieren. Auch für Saunderson kamen, nach eigenen Worten, nur mathematische Operationen ohne Behelfe in Frage. Von anschaulichen Hilfsfiguren meinte er, sie würden sehr oft den Verstand verwirren, sie wären nur für Anfänger, ein geübter Mathematiker müsse ohne Hilfe auskommen, seine Einbildungskraft mache ihm die Figuren auf so allgemeine Art gegenwärtig, daß es für ihn nicht notwendig sei, sie auf Papier zu zeichnen. Siehe: Saundersons Algebra aus dem Englischen übersetzt und mit vielen Zusätzen und Verbesserungen bereichert von Johann Philipp Grüson, königlichen Professor der Mathematik am adelichen Cadettencorps in Berlin, Johann Christian Hendel, Halle, Erster Theil 1798, Zweyter Theil 1805. 4 Diderot, „Der Brief über die Blinden“, a. a. O. 5 Überlegungen und Spekulationen darüber, auf welche Art die Blinden mit den Ergebnissen der haptischen Sinnesdaten umgehen und sie in der Sprache der Sehenden beschreiben können, sowie die Vergleichbarkeit der unterschiedlichen Wahrnehmungssituationen von Sehenden und Blinden gehören zu den komplexen wahrnehmungstheoretischen und philosophischen Problemen, in denen Namen wie William Molyneaux, Nicolas Saunderson, Laura Bridgman oder Helen Keller aufscheinen. 6 Geza Révész, Die Formenwelt des Tastsinnes, Erster Band „Grundlegung der Haptik und der Blindenpsychologie“, Martinus Nijhoff, Haag 1938. 7 Für das Beherrschen des schnellen Kopfrechnens bei Blinden im Vergleich zu Sehenden hat man die Erklärung, daß man als Sehender die Form der Zahlzeichen bereits kennt, bevor man das Rechnen lernt und daß der Unterricht im Rechnen durch Anschreiben von Ziffern betrieben wird. So gewöhnt man sich an die Zeichen, und die Sache selbst, nämlich der reine Begriff der Zahl als Größe ist davon nicht mehr zu trennen. Der Sehende betrachtet und vergleicht die Veränderungen der Zahlen der Form der Zahlzeichen nach. Der Blinde dagegen behandelt das Rechnen als reine Verstandesübung, hält sich an das Wesen der Sache und nicht an Zeichen und Formen und spart beim Rechnen Zeit. Siehe: Volker F. Hahn, Mathematische Bildung in der Blindenpädagogik: Probleme und Veranschaulichungsmedien beim Mathematiklernen Blinder mit einem Lösungskonzept im Bereich geometrischer Grundbildung, Books on Demand GmbH, 2006. 8 Révész, Die Formenwelt…, a. a. O. 9 Ebd. 10 James J. Gibson, Die Sinne und der Prozeß der Wahrnehmung, Hans Huber, Bern–Stuttgart–Wien 1973, Kapitel VI: „Das haptische System und seine Komponenten“.

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Beobachten und berichten En plein air mit Grünem Heinrich

An einigen Textstellen des autobiografischen Bildungsromans Der grüne Heinrich von Gottfried Keller werden Situationen geschildert, die sich auf den Werdegang des Protagonisten als bildender Künstler beziehen. Bei der Lektüre jenes Abschnitts, den ich zu Beginn zitieren möchte, dachte ich, sein Inhalt muß in seiner Dramatik jeden erreichen, der schon einmal in dieselbe Lage geraten ist: Wahrnehmungen zu Beobachtungen zu filtrieren, diese zu ordnen und in einem angemessenen Bericht zu erfassen. Mit einer Mappe und Zubehör versehen, lief ich bereits unter den grünen Hallen des Bergwaldes hin, jeden Baum betrachtend, aber nirgends eigentlich einen Gegenstand sehend, weil der stolze Wald eng verschlungen, Arm in Arm stand und mir keinen seiner Söhne einzeln preisgab; die Sträucher und Steine, die Kräuter und Blumen, die Formen des Bodens schmiegten und duckten sich unter den Schutz der Bäume und verbanden sich überall mit dem großen Ganzen, welches mir lächelnd nachsah und meiner Ratlosigkeit zu spotten schien. Endlich trat ein gewaltiger Buchbaum mit reichem Stamme und prächtigem Mantel und Krone herausfordernd vor die verschränkten Reihen, wie ein König aus alter Zeit, der den Feind zum Einzelkampfe aufruft. Dieser Recke war in jedem Aste und in jeder Laubmasse so fest und klar, so lebens- und gottesfreudig, daß seine Sicherheit mich blendete und ich mit leichter Mühe seine Gestalt bezwingen zu können wähnte. Schon saß ich vor ihm und meine Hand lag mit dem Stifte auf dem weißen Papiere, indessen eine geraume Weile verging, eh’ ich mich zu dem ersten Strich entschließen konnte; denn je mehr ich den Riesen an einer bestimmten Stelle genauer ansah, desto unnahbarer schien mir derselbe und

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mit jeder Minute verlor ich mehr meine Unbefangenheit. Endlich wagte ich, von unten anfangend, einige Striche und suchte den schön gegliederten Fuß des mächtigen Stammes festzuhalten; aber was ich machte, war lebens- und bedeutungslos; die Sonnenstrahlen spielten durch das Laub auf dem Stamme, beleuchteten die markigen Züge und ließen sie wieder verschwinden, bald lächelte ein grauer Silberfleck, bald eine saftige Moosstelle aus dem Helldunkel, bald schwankte ein aus den Wurzeln sprossendes Zweiglein im Lichte, ein Reflex ließ auf der dunkelsten Schattenseite eine neue mit Flechten bezogene Linie entdecken, bis alles wieder verschwand und neuen Erscheinungen Raum gab, während der Baum in seiner Größe immer gleich ruhig dastand und in seinem Innern ein geisterhaftes Flüstern vernehmen ließ. Aber hastig und blindlings zeichnete ich weiter, mich selbst betrügend, baute Lage auf Lage, mich ängstlich nur an die Partie haltend, welche ich gerade zeichnete, und gänzlich unfähig, sie in ein Verhältnis zum Ganzen zu bringen, abgesehen von der Formlosigkeit der einzelnen Striche. […] Wie ich aufsah und endlich das Ganze überflog, grinste ein lächerliches Zerrbild mich an, wie ein Zwerg aus einem Hohlspiegel; die lebendige Buche aber strahlte noch einen Augenblick in noch größerer Majestät als vorher, wie um meine Ohnmacht zu verspotten; dann trat die Abendsonne hinter den Berg und mit ihr verschwand der Baum im Schatten seiner Brüder. Ich sah nichts mehr, als eine grüne Wirrnis und das Spottbild auf meinen Knien. Ich zerriß dasselbe, und so hochmütig und anspruchsvoll ich in den Wald gekommen, so kleinlaut und gedemütigt war ich nun. […] Ich brach verzagt und weinerlich auf, mit gebrochenem Mute nach einem andern Gegenstande suchend, welcher sich barmherziger gegen mich erwiese. Allein die Natur, mehr und mehr sich verdunkelnd und verschmelzend, ließ mir kein Almosen ab; […]1

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Der Grüne Heinrich ist mit Recht verzagt, denn er hat ein Problem, das er weder aktuell noch auf längere Sicht wird lösen können. Er ist in diesem Augenblick im höchsten Maße desorientiert, weil ihm das Niveau der Aufgabe, die er sich gestellt hat, zu hoch ist. Es ist deshalb zu hoch, weil er sich, obwohl er offensichtlich noch keine Grundlektionen absolviert hat, untrainiert, gleich auf einem Spezialgebiet, in einer schweren Zeichendisziplin erproben will, ohne über die dazu notwendigen Beobachtungs- und Darstellungstechniken zu verfügen. Die Art, wie er seine mißliche Lage beschreibt, zeigt auch einen wesentlichen Irrtum: Er glaubt versagt zu haben, als hätte er auf der Stelle, in einer einzigen, unwiderruflichen Aufzeichnung von dauerhafter Gültigkeit seiner Beobachtung gerecht werden müssen. Dabei braucht es für die Beobachtung und Beschreibung immer eine, je nach Begabung für diese Tätigkeit, entsprechende Vorlaufzeit und eine ausreichende Nachbearbeitungsfrist. Wenn man dem Grünen Heinrich in dieser Problemsituation Beistand leisten möchte, so könnte man ihm zwei mögliche Auswege aufzeigen, wobei ich mir sicher bin, er wird den ersten, den pragmatischen Weg beschreiten wollen. In diesem Fall soll er seine Orientierung in der Gruppe der Spezialisten für bildende Kunst wiederfinden. Einige von ihnen haben bereits ihren Arbeitsplatz im Wald eingenommen und haben deklariert, welche Tätigkeit sie ausüben wollen: Sie sind hier, um künstlerische Zeichnungen anzufertigen. Das ist eine wesentliche Differenzierung gegenüber anderen, unter Umständen dort ebenfalls tätigen Zeichnern, die aber mit anderen Aufgaben betraut wären. Expeditionszeichner beispielsweise, die solche wissenschaftlichen Bildstudien anfertigen, die Lücken im Verzeichnis bestimmter Baumarten schließen sollen. Möglicherweise haben sie sich dasselbe Naturobjekt als Modell ausgesucht, weil sie es für ein prototypisches Exemplar halten, an dem sie die allgemeinen Merkmale dieser Baumart aufzeigen können.

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Der Künstler ist in seiner Motivwahl alles andere als frei. Sollte er sich seiner Lage nicht bewußt sein und wie Claude Monet proklamieren, er würde nur das malen, was er sieht, und das womöglich mit dem berühmten „unschuldigen Auge“, das jeden Tag die Welt neu sehen würde, dann muß ihm erklärt werden, daß er nicht alles, was er sieht, auch malen kann. Daß er aus dem visuellen Angebot solche Auswahl treffen muß, die sich auch medial umsetzen läßt, und er daher nur das zu sehen hat, was er malen kann und nicht umgekehrt. Und um ihn die volle, enttäuschende Wahrheit nachzureichen: Er soll wissen, daß nicht alles, was er malen könnte, er auch malen darf, denn in der Zeitsequenz, in der er tätig ist, wird unabhängig von ihm entschieden, welche Bildmotive zulässig und der kulturellen Entwicklung, hier um das Jahr 1840, angemessen sind. Die Buche, die sich ihm einladend aufgedrängt hat, sie hat zu dieser Zeit ihre Wertigkeit als Zeichenmotiv erlangt und ihre Wahl war daher zwingend. Letztlich wäre dann die ursprüngliche Parole so umzuformulieren: „Ich sehe nur das, was ich in dieser Zeit zu malen habe.“2 In Wahrheit ist aber seine Freiheit noch beschränkter, denn das Diktat der Zeit gibt ihm nicht nur vor was, sondern auch wie er zu malen hat. Die Intentionen seiner Beobachtungen, die er für seine eigenen hält, sind in Wahrheit fremdbestimmt und sein visuelles Protokoll wird vom vorherrschenden Kunststil vorgeformt. Den universellen Beobachter gibt es nicht. Es gibt nur spezialisierte Beobachter, deren Beobachtungen, wie man es nennt, individuell „theoriegetränkt“3 sind, oder wie man auch sagt, man würde Objekte beobachten, belastet mit Ideen, die man bereits mitgebracht hat.4 Die Ideen, die sich die Kunstzeichner mitgebracht haben, sind um 1840 weit verbreitete Ideen der Landschaftsabbildung, wobei ihnen die Methoden der Aufzeichnung wichtiger sind als die Methoden der vorauszugehenden Landschaftsbeobachtung. Man arbeitet zwar en plein air, aber man appliziert vorgefertigte Bildschemata auf Objekte, die man vor Ort gefunden hat. Dem Grünen Heinrich wird

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es reichen, wenn er durch das Zuschauen lernt, wie man die unsteten Erscheinungen schematisch erfassen kann, wie man aus den zahlreichen visuellen Angeboten eine Auswahl treffen kann, die sich im finalen Bild gut macht. Er wird begreifen, daß die Qualität der Beobachtung hinter die Ästhetik der Protokollführung zurückzustufen ist, daß die Wahrnehmung unter das Primat der Herstellung eines gelungenen Bildes gestellt gehört. Auf diese Weise, auf einem abkürzenden Pfad, wird er sich über die Schwierigkeiten der Umsetzung von komplexen Wahrnehmungsschemata in entsprechende Darstellungsschemata nur oberflächlich unterrichten und wird sich beeilen, Fertigkeit in der Herstellung gut distribuierbarer Artefakte zu erwerben. Wenigstens kann er sich im Zuge der Lektionen dieses Sich-Aneignens überkommener Darstellungstechniken der Schwierigkeiten einer medialen Überführung von Wahrnehmungsbildern bewußt werden. Denn der Grüne Heinrich wird im Verlauf seiner Karriere als bildender Künstler noch eine andere Erfahrung mit der medialen Übertragung der Wirklichkeit in die Fläche einer Zeichnung machen. Er wird die Aufgabe bekommen, Kopien nach Zeichnungen anzufertigen. Es wird für ihn von Vorteil sein, daß die Herstellung von Kopien nicht am Anfang seiner Lehre steht, sondern als vorübergehende Phase in seine künstlerische Entwicklung eingeschoben wird. Das gibt ihm die Gelegenheit, zwei unterschiedliche Wahrnehmungssituationen besser zu vergleichen: hier das unruhige, räumliche Bild eines realen Landschaftsausschnitts, für das er, wenn auch bloß vermittelt übernommen, eine angemessene flächige Abbildungsform vorzuschlagen hatte, und da ein ruhendes Bild, das ein anderer als Übersetzung seiner Beobachtungen angefertigt hat und als Extraktion seines Wahrnehmungsbildes anbietet. Es ist dies ein billig zu habendes Angebot, denn man kann, ohne anstrengendes reflexives Abstrahieren des Ursprungsobjekts, ohne weiteres das fremde Fertigabbild übernehmen. Es wird Kopisten geben, die in ihrem Berufsleben den Umrissen von Zeichnungen

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nachgefahren sind, ohne sich bewußt geworden zu sein, daß diese Vorlagen die finale Form aufwendiger Wahrnehmungsaktivitäten und Reduktionsprozesse sind. Der zweite Ausweg aus der problematischen Situation des Grünen Heinrich wäre anstrengend und langwierig, er wäre aber erkenntnisbringend. Seine Verzweiflung angesichts der Fluktuation von Licht und Schatten5 und den damit verbundenen, schwer festzumachenden Veränderungen des beobachteten Landschaftsausschnitts, ist nachvollziehbar. Die Szenerie, die er sich zur Beschreibung ausgewählt hat, hätte an sich eine statische, invariante Struktur, wenn nicht innerhalb dieser Struktur Bewegungen von manchen Objektteilen stattfinden würden. So ändern zum Beispiel die im Wind bewegten Baumblätter und Grashalme ständig ihre Raumlage, wodurch ihre Anordnungsstruktur in der Fläche ebenfalls unbeständig wird. Die Elemente, die die Gruppe Baum bilden und die vorübergehend im Zustand der Unruhe sind, ändern zwar aktuell ihre Form nicht, aber der Wechsel der Ansichten, die sie dem Betrachter bieten, ändert für ihn ständig ihre Erscheinung. Ein Baumblatt kann in einer Seitenansicht nur als Linie erscheinen und sich in einer großen Anzahl von Zwischenansichten in einer Draufsicht zur vollen Flächenform wandeln. Dank seiner kognitiven Leistung wird der Betrachter aus den sich ständig ändernden Ansichten eines Objekts das Immerwährende herausarbeiten und sich damit seine wahre Gestalt konstruieren müssen. Das wird er aber nicht von einem unbewegten Standort erreichen können, denn um die Vielansichtigkeit des Objekts zu erfassen, darf er nicht an ein und derselben Beobachtungsstelle verharren. Er muß zum bewegten Beobachter werden und bereit sein, die bestehenden Versuchsanordnungen stets umzubauen. Die Informationen über die Dreidimensionalität eines Objekts betreffen dessen räumliche Struktur und man sammelt sie, um etwas über die sogenannte Tiefenwirklichkeit6 des

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Objekts zu erfahren. Mit Oberflächenwirklichkeit7 sind dagegen die Erscheinungen an den Begrenzungsflächen von Objekten gemeint. Oberflächen strukturieren das anfallende Licht. Aus der Sicht einer ökologischen Wahrnehmungstheorie tun sie es auf unterschiedliche Weise: einerseits durch ihre Konkavität oder Konvexität und durch ihre räumliche Anordnung, andererseits durch ihre uneinheitliche Zusammensetzung, wenn sie aus verschiedenen Substanzen bestehen, mit unterschiedlichem Reflexions- und Absorptionsvermögen oder unterschiedlicher Pigmentation. In solcher Ausformung werden sie im umgebenden Licht beleuchtet und beschattet und die Licht- und Schattentextur wird sich immerfort ändern.8 Das Abbilden der realen Welt wird als ein Operieren auf unterschiedlichen Abstraktionsstufen gesehen, wobei auf der niedrigsten Stufe jeweils die abzubildenden Bezugsobjekte stehen, während ihre Abbilder immer nur ein höheres Abstraktionsniveau haben können. Es ist die Aufgabe des Abbildens, die wesentlichen Wahrnehmungsqualitäten des Objekts aufzugreifen und sie in einem Darstellungsschema wiederzugeben.9 Dem Grünen Heinrich muß man zunächst raten, das unruhige Bild der flüchtigen Oberflächenphänomene zu stabilisieren. Er hat als Beobachter die Zustandsänderungen wahrzunehmen, er hat einen vorhergehenden Formzustand mit einem anderen Zustand, dem des folgenden Zeitpunkts zu vergleichen. In dem Augenblick, in dem eine bloß umherschweifende Wahrnehmung zur bewußten Beobachtung aufsteigt, muß aus praktischen Gründen der Beobachtbarkeit der Blick aus einem vielfältigen phänomenalen Ganzen abgegrenzte, voneinander getrennte Einheiten separieren. Der Beobachter muß entscheiden, ob er sich analysierend dem einen oder dem anderen Formzustand zuwenden und ihn in seiner Beschreibung festhalten soll. Auch das, was man üblicherweise einen Formübergang nennt, ist keine kontinuierliche Überbrückung zweier getrennter Formteile, sondern besteht wiederum aus mehreren, diskreten, unterscheidbaren, vereinzelten

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Elementen, die auszumachen und zu kennzeichnen sind. Ein stetiges Zustandskontinuum ist vielleicht in einer ausdehnenden sprachlichen Beschreibung, nicht aber in einem zeichnerischen Protokoll darstellbar. Der Zeichner wird erkennen, daß seine Zeichnung keine Momentaufnahme ist, wie sie ein Fotoapparat aufzeichnen kann und daß sie gleichzeitig solche Elemente wird darbieten müssen, die in Wirklichkeit zeitlich nicht zusammengefallen wären. Eine abbildende Zeichnung ist deshalb als eine Zusammensetzung von unterbrochenen, angehaltenen Ereignissen zu betrachten, als eine Montage von unterschiedlichen, zeitlich getrennten Zwischenzuständen eines Objekts. In diesen Beobachtungen und Beschreibungen von Objekteigenschaften kamen bislang keine Kunstideen vor und sie können durchaus auch ausbleiben, denn formal-ästhetische Entscheidungen würden die Aufzeichnungen nur umlenken, verfärben und das Ergebnis beeinträchtigen. Das Arbeitsvorhaben des Grünen Heinrich wird darauf ausgerichtet sein, nicht nur die Aufmerksamkeit für die äußeren Erscheinungen von Dingen zu steigern, sondern möglichst viel über deren konstitutive Formbedingungen zu erfahren. Dazu muß er sich, wenn er die Wirklichkeit nicht nur zu beschreiben, sondern soweit wie möglich zu erklären versucht, 10 in einer permanenten Lernphase einrichten. Sein Beobachtungsinteresse wird sich zweiteilen: einerseits richtet es sich auf die zu beschreibenden Phänomene, die jedoch, trotz gesteigerter Beobachtungsgenauigkeit, immer nur fehlerhaft wahrgenommen werden können. Anderseits gilt das Interesse den jeweils spezifischen Formursachen eines Objekts. Das Wissen über die Formbedingungen, über die Zusammensetzung von Dingen wird aber meistens nur unvollständig bleiben. So wird zur Überprüfung der Eigenschaften, die man an einem Gegenstand in einer stets unzureichenden Weise beobachtet hat, ein vorwiegend mangelhaftes Wissen über deren

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Ursachen herangezogen. Der Grüne Heinrich wird immer wieder aufs Neue auf eine erfolgreiche Aufzeichnung der Beobachtungsdaten hinarbeiten, im Bewußtsein, daß er nur selten zu einem positiven Ergebnis gelangen wird. Ein Prozeß des unentwegten Scheiterns, währenddessen aber das Urteilsvermögen über die abzuhandelnden Sachverhalte geschärft werden würde. Dies als Ansporn zum Weitermachen − das wäre das Angebot, das man dem Grünen Heinrich machen würde, das er aber nicht wird annehmen wollen. Als Alter ego des Gottfried Keller kann er sich wie dieser aus existentiellen Gründen eine solche experimentierende Haltung gar nicht leisten, hat er doch das nach einer kunstgewerblichen Lehre begonnene akademische Studium aus finanzieller Not abbrechen müssen. Seine Werke − Bilder und Zeichnungen − folgen dem konventionellen Geschmack der Zeit und würden, wenn er sich nicht der Literatur zugewandt hätte, vor allem zur Sicherung des Lebensunterhalts dienen. Die am Anfang zitierte Naturschilderung vermag die Leser zum Imaginieren von unterschiedlichen Vorstellungsbildern anregen. Sie könnte allerdings auch anders verfaßt sein, als Beobachtungsprotokoll, das die Szenerie präzise darstellt, in einer Art phänomenologischer Bildbeschreibung, ohne Unschärfen, ohne Unbestimmtheiten. Für eine solche eindeutige Beschreibung hätte ich eine Verwendung, denn nach ihr könnte ich eine Zeichnung anfertigen, mit der ich mich auf die Suche nach dem realen Referenzobjekt machen könnte. Damit habe ich Erfahrung, habe ich doch vor vielen Jahren innerhalb meiner Werkgruppe Vermutung und Wirklichkeit eine Nachzeichnung nach einer Baumstudie von Caspar David Friedrich, die ich nie gesehen habe, bloß anhand ihrer Beschreibung angefertigt.11 Die Ähnlichkeit der beiden Zeichnungen war groß, dank der Einhaltung von uns dreien angewandter Verfahren: Caspar David Friedrichs Abbildung einer Baumgruppe in seinem

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unverkennbaren Stil, der Kunsthistoriker mit der werkgerechten, übergenauen Bildbeschreibung und ich, der seine Kenntnisse sowohl der Werke von Friedrich als auch des Lesens von Bildbeschreibungen und der Umsetzung von Vorstellungsbildern in physische Objekte einbringen konnte. Meine Bemühung, mich in der Stunde der schweren Prüfung dem Grünen Heinrich zur Seite zu stellen, ist unter anderem durch derartige Überlegungen zu erklären.

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1

Gottfried Keller, Der grüne Heinrich, I/II, Diogenes, Zürich 1978, S. 179 ff.

2

Überlegungen zu diesem Aspekt des künstlerischen Schaffens siehe František Lesák, „Ich male was ich sehe.“ − „Ich sehe was ich weiß.“, in: Kunsthistoriker, Mitteilungen des österreichischen Kunsthistorikerverbandes, Jg. IV, 1987, Nr. 3/4, Wien 1987, S. 13– 16.

3 4

Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis, Hoffmann und Campe, Hamburg 1984, S. 40. James. J. Gibson, Wahrnehmung und Umwelt, Urban & Schwarzenberg, München– Baltimore 1982, S. 327.

5

Ebd., S. 98.

6

Popper, Objektive Erkenntnis, a.a. O., S. 37.

7

Ebd.

8

Gibson, Wahrnehmung und Umwelt, a.a. O., S. 98.

9

Rudolf Arnheim, Anschauliches Denken, M. DuMont Schauberg, Köln 1972, S. 134 ff.

10 Popper, Objektive Erkenntnis, a.a. O., S. 40. 11 František Lesák, „Vermutung und Wirklichkeit: eine Nachzeichnung“, in: Kontinuität und Identität, Festschrift für Wilfried Skreiner, Böhlau, Wien–Köln–Weimar 1992, S. 125–127.

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Überlegungen zum Raum

Todeswand — voll Leben! (figura serpentinata)

Brett für Brett, Kante auf Kante gesetzt, ergab eine Art glatt verhobelten Riemenboden, mit dem die Wandung ausgelegt war. Ihre Paraboloidform hatte unten einen abgeflachten Boden, nach oben hin schloß sie mit einer kreisförmigen Zuschauergalerie ab. Durch eine dichtschließende Öffnung in der sphärischen Wand betraten zwei in Lederkombinationen gekleidete Motorradfahrer die grell beleuchtete Arena, in deren Mitte zwei Motorräder bereitstanden. Einer der beiden Fahrer bestieg die Maschine, vollführte in einer langsam anlaufenden Bewegung einige Umrundungen des Kreisrunds und näherte sich nach einer weiteren Umkreisung bereits der Bodenkante. Bei der nächsten Runde hatte er die Fahrtgeschwindigkeit schon so gesteigert, daß die Maschine nun oberhalb der Bodenkante − auf der gefährlich schrägen Fläche − fuhr. In ein paar weiteren Runden vergewisserte er sich der Laufverläßlichkeit des Motors, dann aber gab er Gas, viel Gas, jagte den Motor auf ein neues akustisches Niveau hinauf, was vom Motorrad mit der Erhöhung der Geschwindigkeit quittiert wurde. Das war der entscheidende Augenblick für den Anstieg in die Todeswand. Die waghalsige Fahrt begann. Stetig steigerte der Fahrer sein Tempo, und er gewann nach jeder Umrundung an Höhe. Die Fahrfläche schleuderte ihn immer schneller auf die Zuschauer zu, ihn, der in bald senkrechter Lage zur Wand aus der Raumtiefe immer höher, immer näher auf sie zukam. Es wurde immer schwieriger, seine Position zu bestimmen, kaum war er an den Zuschauern vorbeigerast, kam er bereits von der anderen Seite wieder zurück, wie ein schnellendes Schwirrholz sauste er vorbei, jetzt bereits beinahe an der Kante der Brüstung angekommen.

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Das Geschehen erfuhr eine Steigerung. Der zweite Fahrer, bis dahin am Boden neben seiner Maschine stehend, startete ebenfalls, setzte sich in Bewegung, und auch er begann mit dem Aufstieg in die Todeswand, allerdings in umgekehrter Richtung. In seiner stürmischen Eroberung des Raumes stand er dem ersten Fahrer in nichts nach, auch er erreichte bald die maximale Höhe knapp vor dem Hinausgeschleudertwerden über den Gefäßrand. Beide fuhren jetzt ähnliche Bahnen, ihre Loxodrome-Bewegung erfaßte den ganzen Raum, immer intensiver nutzten die Maschinen das Angebot des Raumes, auch ihn in Bewegung zu versetzen. Die Raumform, die durch das schnellende Motorrad entstand, war voll von kinetischer Bewegungskraft. Vor den Augen der Zuschauer entstand eine figura serpentinata. Die Maschinen wurden auf eine Spiralbahn gesetzt, und ihre Bewegung ließ Spiralformen entstehen. Sie haben in den Raum eingegriffen und haben sich in ihm in einer vorgegebenen Raumbahn eingegliedert. (Eine Spirale ist keine akzidentielle Form, ihre Struktur ist ausschließlich mathematisch-geometrisch oder physikalischgeometrisch begründet. Eine Spiralform zu erzeugen bedeutet, sich genau entlang vorgegebener Richtungsvektoren zu bewegen.) Die Geometrie der sphärischen Fläche wurde von den Fahrern genützt, um aus den unzähligen Richtungskonstellationen die spannendsten auszuwählen. Die Bahn zu verlassen, war nun unmöglich geworden, sie war vorgezeichnet, denn die zentrifugale Kraft trieb die Materie zum Rand hinauf, und bei bestimmter Geschwindigkeit konnte sich das Objekt auf einer sphärischen Fläche nur in einer Loxodrome-Bahn bewegen − das allerdings in allen möglichen Variationen. In den Ablauf des Geschehens konnte niemand mehr eingreifen, die Regie lag ausschließlich in den Händen der beiden Fahrer. Sie jagten einander nicht wie bei einem Verfolgungsrennen auf der Bahn,

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sondern sie fuhren auf höchst komplizierte Weise gegeneinander. Sie vermaßen mit ihren Maschinen den konkaven Raum, ihr fahrtechnisches Können ließ mannigfaltige Konstellationen entstehen, kühne, komplizierte Muster wurden gefahren, untermalt von rhythmischen Geräuschen der sich nähernden und sich entfernenden Maschinen, die eine Art Maschinenkonzert innerhalb des Kessels entfachten. Jeder der Fahrer erhielt durch die Form der Bahn und durch die Regelung der Geschwindigkeit seinen Richtungswert im Raum, jeder war zugleich unabhängig und doch ständig auf den anderen bezogen − frei und gebunden zugleich. Die beiden waren in diesem dynamischen Ereignis die Handlungsträger, die durch die Beherrschung ihrer Instrumente und durch die genaue Wiedergabe der Choreographiepartitur dem Geschehen − der sich in Bewegung befindlichen Raumstruktur − die Kohärenz sicherten. Die Spannung wurde vom Spielerpaar genau dosiert, ihnen oblag der Aufbau des Spannungssystems während des gesamten Ablaufs, in dem keiner auch nur für eine Sekunde beim Anziehen der Kräftelinien auslassen durfte. In inniger Beziehung zum jeweils anderen Bewegungsvorgang entstand eine Aufführung mit ansteigender und abfallender Handlung, eine szenische Darbietung, genauestens durchkomponiert, in der alles aufeinander abgestimmt war. Das Finale, das aus der Zurücknahme der Geschwindigkeit und dem Auflösen des komplizierten räumlichen Knotens der doppelten Spirale bestand, verlief nicht minder spannend. Über den glücklichen Ausgang des dramatischen Geschehens, als die Fahrer ihre Maschinen hatten ausrollen lassen und sie schließlich aufgestellt hatten, war man erleichtert. Auf das Abstreifen der Lederhauben folgte ein tosender Applaus. Die beiden Fahrer unten in der Arena verbeugten sich nur leicht. Wie zu Beginn wurde die Türöffnung sichtbar, die

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Helden der Spirallinie verließen die Lichtzone, die Tür schloß sich hinter ihnen. Wir verließen die Zuschauergalerie der Todeswand, die im Jahre 1950 im Prager Stromovka-Park aufgebaut war.

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Räume und Räumchen

Vojta & Vojta1 Ich hatte in der Volksschule in Prag/Holešovice einen Mitschüler namens Vojta, der im Haus meines besten Freundes Vladimír wohnte. Und Vladimír hat mir erzählt, die Vojtas hätten im Keller einen großen, mit zwei Tragriemen versehenen Käfig aus Holz stehen. In dem Käfig stünden ein kleiner Tisch und ein kleiner Stuhl. Herr Vojta, der Besitzer von Keller und Käfig, sei ein Maurer, ein kleiner, stämmiger Mann, hungrig nach Bewegung in der grünen Natur. Wie viele andere Prager auch strebte er am Samstag nach der Arbeit, die bis Mittag dauerte, hinaus ins Freie; zum Bahnhof, um mit Bahn oder Bus die nähere oder weitere Umgebung Prags zu erreichen oder auch nur mit einer Tramway bis zur Endhaltestelle zu fahren. Von dort aus konnte man das Šárka-Tal oder ein anderes der zahlreichen Ziele in den Prager Vororten erwandern. Herr Vojta, der Vater meines Mitschülers, hatte einen starken Wanderdrang, einen seinen körperlichen Parametern, seinen starken Waden und Oberschenkeln, seinem mächtigen Brustkorb, seinem leistungsstarken Herzen und seiner großdimensionierten Lunge gemäßen Bewegungstrieb. Er wollte ausschreiten, und wenn er ausschreiten wollte, dann richtig, dann schnell. Sein Sohn konnte ihm auch beim besten Willen nicht folgen, seine kurzen Kinderbeine und die nicht so geschickten Füße waren zu langsam für das Tempo, das sein Vater vorgab. Die zwei Tempi − das des Vaters und jenes des Sohnes − waren inkompatibel, waren nicht aufeinander abstimmbar. Doch verzichten auf die Wochenendwanderung wollte keiner der beiden − das stand nicht zur Debatte. So kam Vojta-Vater der Einfall, Vojta-Sohn auf passive Weise an den Wanderungen teilhaben zu lassen. Er baute einen Käfig, einen Traggestellkäfig, und richtete ihn sparsam mit Möbeln ein. Am Rande

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einer Natur angelangt, schulterte er sich den Apparat, nachdem er vorher den Sohn einsteigen und sich in der Garçonnière häuslich hatte einrichten lassen. In der Behausung befand sich mehr als nur das Nötigste: Neben ausreichendem Proviant gab es dort auch Zeichenutensilien und Leselektüre. Beides war notwendig, denn, wie man weiß, das kindliche Interesse an der umgebenden Natur erlahmt rasch, und launischem Verhalten ist nur mit fesselndem Spiel und Behelfen zur Selbstbeschäftigung zu begegnen. So schritt Vojta-Vater unbeschwert aus, mit der Kraft des Herkules ausgestattet, der noch zwei Stücke solchen Ballastes hätte tragen können, ohne es zu merken, während sich Vojta-Sohn seiner Lieblingsbeschäftigung − dem Anfertigen von Panzerzeichnungen − widmete, wobei er hin und wieder etwas von seinem Jausenvorrat verzehren konnte.

Zwei Bezugssysteme Solch eine Reise durch das Šárka-Tal fand demnach in zwei voneinander getrennten Bezugssystemen statt. Das eine Bezugssystem war bestimmt durch die Körpergröße und durch die körperlichen Parameter des Vaters Vojta sowie durch die Ausdehnung des Exterieurs, das es zu durchschreiten galt. Das andere Bezugssystem wurde durch das Format des Käfig-Behälters definiert. Vorherrschend war hierbei das Interieur, das auch das Verhalten der darin handelnden Person strukturierte, bestimmte und diktierte. Diese beiden Bezugssysteme sind auch für die Fundierung der Bewegungssysteme beispielhaft: Ist die erste Art der Bewegung, die des Vaters Vojta, eine Eroberung des Raumes durch die Bewegung, wobei es sich um eine immer neue Besetzung des Vorn-Raumes handelt2, um die Besetzung immer neuer, weiterer Raumgebiete, wobei sich immer ein weiteres neues „Dort“ entfaltet, so ist der Wohnbehälter des Sohnes Vojta das Beispiel eines Raumes für eine Bewegung schlechthin.

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Der Behälter macht eine durch ihn vorstrukturierte Bewegung und keine andere sonst möglich.

Durchdringung zweier Epochen Das Vojta & Vojta-Problem ist vor allem ein Paradigma für die Parallelexistenz zweier Bezugssysteme, wobei diese beiden Systeme, jedes für sich, eine voneinander unabhängige Existenz führen. Darin nun vermeinte ich eine Ähnlichkeit der Sachlage mit dem Lesák & Lesák-Thema zu erblicken, wo auch die beiden Teile zweier voneinander unabhängiger Wirklichkeiten in eine Beziehung zu bringen sind. Der eine Wirklichkeitsteil ist durch die Situation an einem Ort gegeben, nämlich im Prager Messepalast während der Mustermesse von 1947. An dieser Messe hatte mein Vater mit seiner Firma teilgenommen und sich dort einen Messestand eingerichtet. Es ging darum, in einem Abschnitt der kleinen Halle eine Ausstellungskoje funktionell einzurichten, d. h. die bauliche Struktur so auszunützen, daß auf der minimalen, weil sehr teuer angemieteten Fläche, möglichst viel Ware und viel an Information über die Ware angeboten werden konnte. Zu viel sollte aber auch nicht im Angebot sein, damit man zugleich den Vorgaben der normativen Ästhetik gerecht wurde, die bestimmte, wie zu dieser Zeit ein großzügig gestalteter Messestand auszusehen hatte. Der zweite Wirklichkeitsteil ist durch die Situation gegeben, wie sie genau fünfzig Jahre später, 1997, entstand − im Zuge der Installation meiner Ausstellung am gleichen Ort. Der gleiche Ort, die gleiche räumliche Struktur, als Schauplatz zweier unterschiedlicher Handlungen. Es ergab sich die Aufgabe, einerseits die gegenwärtige Situation zu konstruieren, andererseits den Zustand von 1947 zu rekonstruieren und einen Weg zu finden, wie man beide Zustände, beide Sachverhalte verbinden konnte.

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Modelle der Wirklichkeit Eine Ähnlichkeit mit dem Vojta & Vojta-Problem fällt als erste auf: Dort haben die beiden Bezugssysteme eine unterschiedliche Größe; ihre zeitliche Parallelexistenz führen sie nicht im gleichen Maßstab, nicht 1:1, sondern in einem Maßstab von ca. 1:2, also im Verhältnis der Dimensionen, die den unterschiedlichen Körpermaßen des Vojta-Sohnes bzw. des Vojta-Vaters entsprechen − sind von ihnen abgeleitet, ihnen angepaßt. Wie bei allen Objekten für Kinder ist auch hier der verkleinerte Maßstab zu beobachten. Die Größe der Differenz im Maßstab spielt dabei keine wesentliche Rolle. Wichtiger ist die Feststellung, daß es diesen Unterschied überhaupt gibt, die Tatsache, daß in den beiden Bezugssystemen unterschiedliche Verhältnisse herrschen. Nicht anders verhält es sich im Falle des Lesák & Lesák-Problems: Zwei zeitlich unterschiedliche Sachlagen lassen zwei unterschiedliche Milieus entstehen, die eine Zeitlang nebeneinander existieren sollten. Das Projekt sah demnach vor, zwischen zwei unterschiedlichen Zeiten und ein und demselben Ort eine Beziehung herzustellen.

Konstruieren und Rekonstruieren Das Lesák & Lesák-Projekt ist eine Arbeit, die in zwei Richtungen geht: nach vorne und nach rückwärts. Ein Gedankenexperiment: Lesák I. plant 1947 Ereignisse, die erst stattfinden werden. Er stellt Prognosen auf, er vermutet, was sein wird (nämlich die Ausstellung seines Sohnes am selben Ort, fünfzig Jahre später). Lesák II. rekonstruiert 1997 Ereignisse, die bereits stattgefunden haben (nämlich die Ausstellung seines Vaters am selben Ort, fünfzig Jahre vorher). Er vermutet, was gewesen, wie es gewesen sein mag.

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Mit welchen Mitteln kann aber die gleiche Situation herbeigeführt werden, so wie sie vor fünfzig Jahren gewesen ist? Was ist phänomenologisch überhaupt darstellbar, was ist aus einer Zeit in eine andere übertragbar? Inwiefern kann es sich dabei um eine Rekonstruktion handeln, wenn an Materiellem fast nichts vorhanden ist (im Falle des Messepalastes existiert nur die Struktur der Skelettkonstruktion, in renoviertem und verändertem Zustand)? Eine Wiederholung herbeizuführen, bedeutet in jedem Fall, daß es nur zu einer „annähernden Wiederholung“ kommen kann, daß die Ähnlichkeit der Merkmale der Situation von damals und jener von heute nur eine relative sein wird, daß sich ähnliche Dinge in gewisser Hinsicht ähnlich sein werden und in gewisser Hinsicht wiederum nicht.3 Zwischenbemerkung: Rekonstruieren bedeutet, etwas in einen ursprünglichen Stand zu setzen. Für das Erreichen der Authentizität der Sachlage ist der Ort, an dem die Rekonstruktion stattfindet, nicht immer wichtig. Es muß sich nicht immer um denselben, um den geographisch identischen Ort handeln − im Gegenteil, man kann die Wiederherstellung eines Zustandes an einem weit entfernten Ort anstreben und dies vielleicht mit einem überzeugenderen Erfolg, als es am ursprünglichen Ort selbst möglich wäre (aus rein praktischen Gründen vielleicht, weil der ursprüngliche Ort inzwischen nicht mehr über die phänomenalen Eigenschaften, die Qualitäten verfügt, die er damals hatte. Wenn sich die Zustände am ursprünglichen Ort derart geändert haben, kann es sogar sein, daß dort die Rekonstruktion deplaziert wäre. An einer ganz anderen Stelle hingegen, aufgrund ihrer Neutralität oder ähnlichem, wäre sie aber am Platz: An diesem Platz ist die Sache am Platz. Die Aura der Authentizität des ursprünglichen Ortes kann verlorengegangen sein, und es könnten dort nun Zustände herrschen, die einer Rekonstruktion des Objekts nur abträglich wären.

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Im Messepalast ist es aber gerade der Ort und seine räumliche Struktur, welche die Rekonstruktion positiv bestimmt. In seiner Form des Vorhandenseins erzeugt der Messepalast das Gefühl der Authentizität; in seiner physischen Präsenz ist die Aura des Baus von 1928 für den Betrachter auch ohne große Vorstellungskraft spürbar. Die Methode des Rekonstruierens einer früheren Sachlage ist notgedrungen eine Arbeit mit einem Modell, das heißt: die Arbeit mit einem Surrogat. Der Aspekt des Ersatzes, wenn etwas für etwas anderes steht, ist immer vorhanden, unabhängig von der Größe des Modells, unabhängig vom Maßstab, in dem etwas abgebildet wird. Von einem Modell kann man dann sprechen, wenn etwas durch etwas anderes vertreten wird, wenn anstelle des Originals dessen Stellvertreter erscheint. Je mehr übereinstimmende Merkmale bei Kopie und Original vorhanden sind, desto besser erfüllt die Kopie ihre Ersatzfunktion. An dieser Stelle könnte man das Thema der Darstellungsschemata eröffnen, der medialen Umsetzung der Wirklichkeit in die Wirklichkeit ihres Abbildes − ein Thema mit vielen Kapiteln. Dabei würde man dann auch mit Erfolg den Beweis führen, daß ein Modell zum derart überzeugenden Surrogat für die Wirklichkeit werden kann, daß man an ihm, obwohl nur eine Theaterkulisse, stärker als es der wirkliche Schauplatz vermöchte, die beiden Situationen (die gestrige und die heutige) vorspielen könnte. Dieses Spiel könnte helfen, ein Gefühl sowohl für die gestrige als auch für die heutige Situation zu entwickeln. Als Instrument zur Herstellung der ähnlichen Lage werden drei Modelle in drei Größen eingesetzt: das 1:1-Modell, die wirkliche Koje in der kleinen Halle des Messepalastes, sowie ein 1:20- und ein 1:10Modell dieser Koje. Diese drei Modelle werden mit jenen Versatzstücken, mit jenen Requisiten eingerichtet, welche genau die Merkmale besitzen, die als

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diejenigen wiedererkannt werden sollen, die auch die Objekte von 1947 bestimmten. Dies zu bewerkstelligen, dürfte nicht so schwerfallen: Man bräuchte nur den Raum mit Requisiten aus jener Zeit einzurichten. Bei solch wörtlich gleichem Abbilden, durch das authentische Gegenstände in einer größenmäßig unveränderten räumlichen Struktur erscheinen, stellt man, methodisch gesehen, eine Art Faksimilemodell her. Bei abstrahierendem Vorgehen, beim Herstellen von Modellobjekten in anderen Größen und anderen Materialien, sind zunächst die entsprechenden, für das Ausgangsobjekt typischen Wahrnehmungsschemata zu bestimmen und zu analysieren; sie müssen dann zu den am Modell wirksamen Darstellungsschemata umgewandelt werden.

Identität und Ähnlichkeit Der Versuch, die Situation von 1947 im Messepalast von 1997 wiederherzustellen, wird mit jenen Mitteln unternommen, mit denen man gemeinhin die Beweise für die Identität eines Objekts erbringt.4 Obwohl man weiß, daß der gleiche Ort im zeitlichen Abstand nicht mehr derselbe, nicht mehr mit sich selbst identisch ist, kann man trotzdem beginnen, ihn mit Versatzstücken zu füllen, welche die Originale von damals nachahmen − in der berechtigten Hoffnung, die rekonstruierten Requisiten würden die Sinne des Betrachters auf eine Weise affizieren, die der sinnlichen Wahrnehmung von damals sehr ähnlich ist. Da der Betrachter mit dieser Situation vorlieb nehmen muß, weil er auch gar keine Alternative angeboten bekommt, und auch wenn er das Modell nicht für die authentische Situation von damals halten wird, entwickelt er dennoch die Zufriedenheit eines Theaterbesuchers, der sich von den Kulissen, von den

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Akteuren und von den Ereignissen, die diese auf der Bühne simulieren, in die Illusion des Wirklichen, des Stattfindens des Wirklichen einspinnen läßt. Die Rede ist allerdings von einer ziemlich idealisierten Situation eines Betrachters von heute, der in seinem Gedächtnis keine Vergleichsanordnung mit der Lage von damals herstellen kann. Der Betrachter von gestern würde womöglich pedantisch nach all den Merkmalen suchen, die in seinem Gedächtnis die Vollständigkeit der Sachlage ausgemacht haben. Einen solchen Betrachter, der tatsächlich einmal am Ort gewesen ist und sich von dort Erinnerungen für alle Sinne mitgebracht hat (und der in der Lage ist, sich all diese Erinnerungen deutlich präsent zu halten), dem werden die sinnlichen Reize, die das Modell auszustrahlen imstande ist, als zu schwach erscheinen. Dieser erfahrene Betrachter wird noch genau wissen, wie etwas ausgesehen, sich angehört, angefühlt und wie etwas gerochen hat. Solche Wahrnehmungsansprüche wird aber ein Modell nie erfüllen können, auch wenn es mit den am meisten überzeugenden Simulacra ausgestattet sein mag. Einen solchen Erinnernden, einen solchen Zeitzeugen würde womöglich nicht einmal das Wiedervorfinden des ursprünglichen, authentischen Zustands zufriedenstellen; es ist ja anzunehmen, daß das Wahrnehmungsschema, das zur Grundlage seines erinnerten Bildes wurde und das nur ein reduziertes Abbild einer komplexen Situation sein kann, daß also das erinnerte Bild bei ihm inzwischen zu einer im Gedächtnis fixierten „Gestalt“ geworden ist. Diese Gestalt wird auch in der Konfrontation mit der Wirklichkeit nicht zu korrigieren sein. Das Gedächtnis hat eine gewisse Anzahl an gewissen Phänomenen gespeichert, sie zum Vorstellungsbild des damals erlebten Objekts geformt. Es ist nicht bereit, in der Wiederbegegnung mit ihm eine aktuelle Korrektur des nicht richtig Erinnerten vorzunehmen.

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Nachtrag: Mutter als maßstabgebendes Zubehör Kürzlich konnte ich eine Filmszene5 beobachten, die mir folgende Einsicht brachte: Eine Mutter, eine neunzigjährige Frau, stellt dem Zuschauer ihren vielleicht sechzigjährigen Sohn vor. Hinter ihm stehend, stützt sie sich mit der Hand auf seine Schulter. Währenddessen sitzt er am Tisch, spricht und blickt dabei − so wie sie − frontal in die Kamera. Bemerkenswertes geschieht: Durch die Anwesenheit der Mutter kommt es zu einer Größenveränderung des älteren Mannes: Er wird plötzlich kleiner und jünger. Er, ein erwachsener Mann, der inmitten seiner Altersgenossen − an einem Wirtshaustisch zum Beispiel − seine normale Größe gehabt hätte, verändert sich. Er wird, durch die Nachbarschaft der Mutter, durch das Nebeneinanderstellen, zum Kind. Und verkleinert wird er durch die Verjüngung, vielleicht im Maßstab 1:2 oder in einem ähnlichen Verhältnis. Wie dankbar bin ich dafür, daß meine bereits erwähnte Auffassung − daß in unterschiedlichen Bezugssystemen unterschiedliche Maßsysteme gelten − in dieser Form bestätigt wird. Ich kann daraus schließen, daß im Bezugssystem der Mütter alle, die Mütter sind, dieselbe Größe haben, so wie im Bezugssystem der Söhne alle Söhne ihrerseits gleich groß sind. Sobald sie aus ihrem Geltungsbereich heraustreten und in einen anderen eintreten, werden ihre Abmessungen relativiert. Die Tatsache, daß die Größe eines Objekts von einem anderen Objekt bestimmt wird, daß es für ihn zum Maßstab wird, hat auch zur Folge, daß ein isoliertes Objekt eine andere Identität hat, solange es alleine, als ein bloß selbstbezügliches Ding betrachtet wird. Sobald ihm ein zweites Ding zur Seite gestellt wird, beginnt für den Betrachter die Prozedur des Vergleichens, des Maßanlegens und für das Objekt ein Verwandlungsprozeß − es wandelt sich in seiner Größe und wandelt sich in seiner Identität. Mag es für sich selbst noch das

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Kriterium der Selbigkeit erfüllen − für den vergleichenden Beobachter hat es diese Selbigkeit in dem Moment eingebüßt, in dem man ihm ein anderes Objekt zur Seite gestellt hat. Das andere Objekt wird für ihn zum maßstabgebenden Zubehör. Beim Nebeneinanderstellen der Dinge, bei dem zugleich das Vergleichen der Größenunterschiede in Gang gesetzt wird, wird immer klar werden, welches von beiden als das größere und welches als das kleinere Ding erscheint. Die Probe gehe ich ein: Ich werde mich in Anwesenheit meiner Mutter zu ihrem Vater erklären. In diesem Augenblick, in dem ich dieses Verwandtschafts- und Abhängigkeitsverhältnis glaubhaft vorführe, erreiche ich die Verwandlung meiner Mutter zu einer kleineren, jüngeren Person. Sie hat in ihrer Geltungssphäre gerade noch die Größe eins gehabt hat, nun wurde sie aber auf die Hälfte verkleinert. Sobald ich meine Behauptung ändere und mich als Bruder meiner Mutter oder gar als ihre Schwester zu erkennen geben werde, wird der Größenunterschied neutralisiert: Wir werden zu zwei gleich großen Exemplaren werden. Als Finale dieses gelungenen Experiments werden die Tatsachen richtiggestellt − ich werde als Sohn der Mutter identifiziert und diminuierend auf meine wahre Größe reduziert. Für das gegebene Beispiel − Mutter und Sohn werden verglichen − wird nämlich gelten: es wird immer das Bezugssystem des Älteren sein, welches die Größe des Jüngeren diktiert. Das Ältere wird das Urmaß sein, nach welchem die Größe der von ihm abstammenden Personen reduziert bzw. miniaturisiert werden. Mein Interesse am Experimentieren mit dem relativierenden Maßstab6 wird mir da nicht viel nützen: Das Ältere besitzt die überzeugendere Autorität und wird sich als geeichte Meßlatte, als maßanzeigendes Instrument durchsetzen.

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1

Der Titel dieses Abschnitts lautete zunächst „Vávra & Vávra“, weil ich mich zu erinnern glaube, daß mein Mitschüler so hieß. Weil aber Vávra ein Name ist, der in meinem Gedächtnis auch für Kaskadeure aus Holešovice reserviert ist, die einen Löwen daheim gehabt haben und deren Tochter ebenfalls mit mir in die Schule gegangen ist, mußte ich die Vávras in Vojtas umbenennen. Dies geschah nur mit großen psychischen Hemmungen meinerseits, die ähnlich denen sind, die ein Linkshänder bei der Umschulung zu einem Rechtshänder zu durchleiden hat.

2

Elisabeth Ströker, Philosophische Untersuchungen zum Raum, Klostermann, Frankfurt/M. 1965, o. S.

3

Zum Problem der Ähnlichkeit und Wiederholung s. Karl Popper, Logik der Forschung, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1994 (10. Aufl.), S. 374 ff.

4

Zum Thema Identität und zu den möglichen Techniken, Identität nachweisen zu können, s. Gottfried Wilhelm Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Buch I–II, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1985, S. 391–435.

5

Herr Zwilling und Frau Zuckermann, Regie: Volker Koepp, Deutschland 1999.

6

„Relativierender Maßstab“ ist der Titel meiner Arbeit aus dem Jahr 1973: Mit fotografischen Mitteln habe ich hier die Anpassung eines, an das Objekt angelegten Maßes versucht. Das Maß wurde der jeweiligen Größe eines Babyschuhs, eines Damenschuhs und eines Herrenschuhs von beachtlicher Größe angepaßt. Die Relativierung der Größe des Maßstabs relativierte die Größe der drei verschiedenen Objekte: Sie wurden durch die Manipulation des „Urmaßes“ alle gleich groß.

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Vermessung der Räume mittels Licht Ein Vorhaben Räume, die man mittels einer großen Leuchte vermißt: Bei diesen Raumerkundungen würde nicht ich das Licht führen, sondern das Licht würde mechanisch geführt werden. Ich hätte weder Einfluß auf die Lichtführung oder die Auswahl der Ziele noch auf die Dauer der Beleuchtung einer Stelle. Ich könnte auch nicht beeinflussen, ob das Licht kontinuierlich strahlen oder ob es immer wieder phasenweise und womöglich unregelmäßig ein- und ausgeschaltet werden würde, während sich die Leuchte im nicht-leuchtenden Zustand weiterbewegen, um dann im Stillstand, sich ein- und ausschalten würde. Den Besitz eines militärischen Suchscheinwerfers für Fliegerabwehr, eines Suchscheinwerfers für Großwildjagd, den würde ich mir als Instrument meines Absuchens nur widerwillig gestatten. Nicht aus pazifistischen Gründen, sondern einfach nur deshalb, weil ich an so großen Räumen, die man mittels dieser Instrumente konstituieren könnte, nicht interessiert bin. Räume, die man mittels einer kleinen Leuchte vermißt − Vorbemerkung und (mein) Problem: Zur Beschreibung der Vorkommnisse in den Räumen, die ich im folgenden Text entwerfe, wäre es − angesichts der Größe dieser Räume − notwendig, mit Diminutiva zu arbeiten. Der Widerwille, diese einzusetzen, der mit starken Ekelgefühlen verbunden ist, hat mit der erworbenen Abneigung gegen sprachliche Verkleinerungen zu tun. Im Unterschied zu meiner Muttersprache halten andere Sprachen die Verkleinerungsformen nur auf Vorrat; sie wirtschaften mit ihnen sparsam und fordern niemanden dazu auf, sie im übertriebenen Maße zu verwenden, wie es − mißbräuchlich − meine Landsleute tun. Ich werde dadurch in einen Zwiespalt gebracht: Für die Richtigkeit der Beschreibung bestimmter

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Erscheinungen sind Diminutiva unverzichtbar, ich würde mich für ihren angemessenen Einsatz loben. Aber rechtfertigt die Wahrhaftigkeit der Beschreibungssprache auch das Risiko, auf den Abwegen der Anomalien, in Wortverkleinerungen zu Bildern zu gelangen, die dann in ihrer emotionalen Dimension verzerrt sind? Die Entscheidung fällt gegen die Methode, das Kleine mit Kleinem zu bezeichnen und die Diminutiva bleiben, mit wenigen Ausnahmen, Worte in Reserve. Problem (dasselbe, anders betrachtet): Es würde sich derjenige, der die Kunst der Miniaturisierung dafür verwendet hat, um Kleines groß aussehen zu lassen, dagegen verwahren, daß man seine Modellwelt als eine solche anspricht. Er will, daß man anerkennt, daß alles so wie am realen Großen ist. Er wünscht nicht, daß man das vorgefundene Kleine klein nennt, denn es stellt Großes dar. Die Bezeichnung der beobachteten wirklichen Modellgröße mit einem wahrheitsgemäßen Prädikat würde das Faktische zwar richtig, das mittels des Modells imaginierte Bild des Großen aber würde es falsch bezeichnen. Das Kleine, welches Großes darstellt, hat man nicht das Kleine zu nennen. Und − im Umkehrschluß − müßte daraus folgen, daß das, was in Wirklichkeit klein ist, mit Verkleinerungswörtern auch als Kleines zu beschreiben wäre. Ich werde, das sehe ich schon, meinen Verzicht auf Diminutiva noch bereuen. Der eine Weg führt mich in solche Räume, für deren Erkundung die kleinste Leuchte ausreichend ist. Mit der kleinsten Taschenlampe in der Hand kann ich dort nur kleine Schritte machen, ich kann nur minimale Entfernungen erkunden, ich kann nur jene Dinge sehen, welche das Licht der Leuchte erreicht, erreichen kann. Ich habe mir deshalb nur kleine Räume ausgewählt, weil das mitgebrachte Licht so klein leuchtet. Deshalb werde ich mich auch mit einem kleinen Raum zufrieden geben. Aus dem Müssen könnte ein Wollen werden − ich möchte nur in Kleinsträumen unterwegs sein wollen. Es ist dies die Methode des Sich-Begebens in vorbereitete Strukturen, auf die

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man sich einzustellen hat, des Vorliebnehmens mit Vorhandenem, des Sich-Einrichtens in einer vorgegebenen Umgebung, an deren Konstruktion man selbst nicht mitgewirkt hat. Es ist der übliche Fall einer Lebensform, die sich den gegebenen Umständen unterordnet. Der andere Weg: Auf ihm werde ich selbst mit der kleinsten Leuchte Räume konstituieren; ich erschaffe sie mit ihrer Hilfe. So kann ich in einem beliebig großen Raum zunächst viele kleinere Räume abstecken, um sie absuchen zu können. Bestimmend ist dabei die Größe der Lichtspur, denn der Strahl der kleinen Leuchte ist nicht bloß kurz, er ist auch schmal und dünn. So schmal und dünn erreicht er ein Ziel, das er besetzt, und die Stelle, auf der er sich entfaltet, ist ein Feldchen, seine Größe mit der einer Kleinmünze vergleichbar. Auf der Fläche, auf der sich der Lichtstrahl niederläßt, entwickelt sich das kleine, je nach Einfallswinkel kreisförmige, elliptische oder unregelmäßige Lichtfeld zu einem beobachtbaren Ausschnitt, je nach Beschaffenheit der Oberfläche langsam oder schneller. Es gibt zwei Vermessungsabsichten: die Feststellung von Streckenlängen, Abständen, Distanzen zur Gewinnung der räumlichen Struktur und die Feststellung der Eigenschaften von Oberflächen, der Existenz von Merkmalen, das heißt von markanten Punkten zum besseren Merken der Stellen, die man bereits einmal beobachtet hat. Beide Vermessungsziele dienen der Anfertigung des vollständigen Plans der untersuchten Räume. Durch die Vermessungsart, durch die Feststellung von Detaildaten, durch deren Kombination und Addition gelangt man zum Bild des gesamten Objekts. Das Vermessen ist das Hinarbeiten auf die Lösung eines Rätsels. Die „Wahrheit“ lag im Dunkeln. Das Licht legte sie nach und nach frei. Wie in einem kleinen Raum werde ich auch in einem großen nur kleine Schritte nach vorne und seitlich machen können. Der Umkreis

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meiner Aktivität wird durch die Reichweite des Lichts meiner Kleinstleuchte bestimmt. Die Reichweite meiner Erkundungen wird zur Reichweite des Lichtstrahls relativ sein. Wohin der Lichtstrahl reicht, dorthin reicht mein Blick, was er erreicht, das erreicht mich, das trifft meinen Blick, darüber werde ich informiert, das wird mir mitgeteilt, darüber bekomme ich Nachricht, das wird für mich existent. Ich werde diese abgesteckten, von mir erkundeten Kleinräume als solche Einheiten betrachten, die in dem Großraum zwar untergebracht, aber inselartig isoliert sind. Dies werden Räume im Raum sein, deren Verbindung zu den anderen, auch im Raum anwesenden Kleinräumen nicht feststellbar ist. Die Verbindung kann deswegen nicht feststellbar sein, weil die Raumuntersuchung nur partiell vor sich gehen kann, wobei man beim Absuchen des Raumes den Faden, den Zusammenhang, leicht verliert. Denn das Bild des kleinen Raumes, welches ich mir von ihm mache, sowie meine Vorstellung von seiner Beziehung zu den anderen, auf ihre Freilegung wartenden Kleinräumen, hängt davon ab, wie weit das absuchende Licht reicht und wie weit mein Gedächtnis reicht, welches sich gewisse Verbindungslinien zwischen den einzelnen Dingen merken kann oder merken will, weil ich gerade diese Beziehung oder Beziehungsmöglichkeit sehe oder sehen will. Hinter mir jedoch, dem Lichtbereich der kleinen Lampe entglitten, hinter der Lampe, hinter dem Lichtstrahl, schließt sich wieder die Dunkelheit, schließt sich der Raum, schließt sich das Gedächtnis. (Wie das Gedächtnis eines Blinden, der sich zu seiner Orientierung im Raum strukturale Beziehungen schaffen muß, sich ein Bild der Raumstruktur durch die Strukturbeziehungen einprägt.) Aus Not, den Umständen angepaßt, bin ich an isolierten Kleinräumen interessiert, die − dies nur zum Zeitpunkt ihres vorübergehenden Beleuchtetseins − wie autonome Inseln ihre eigene Existenz führen. Ich bin mir aber dessen bewußt, daß das Bild, welches ich mir

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von allen von mir bereits erkundeten Inseln gemacht habe, keineswegs die autonom konstruierten Räume in ihrer endgültigen Gestalt erfaßt hat, sondern nur die Vorstellung der zufällig von der Lampe entdeckten, von ihr gerade angeleuchteten Bereiche bildet − eine zufällig gebildete Kleingruppe von beleuchteten Flächen. Ich kann nicht einmal umfassende Entfernungsrelationen angeben (ich kann immer nur Mikroentfernungen erkunden, mich nur der Mikrobeziehungen vergewissern, nur Kleinstdistanzen feststellen; in einem beschränktem Sehfeld glaube ich nur den Feststellungen im Kleinstraum, es sind dies Kleinwahrheiten, Detailwahrheiten, die aber, weil aus der Nähe gesehen und daher genau betrachtet, gut abgesichert sind. Beruhigend ist auch die Gewissheit, daß sich die beobachteten Räumchen nicht innerhalb des Großraumes frei bewegen, daß sie nicht einmal dort und dann wieder woanders sich befinden, sondern daß jedes Einzelelement dieser Gruppe an und für sich starr und unbeweglich innerhalb der Ordnung des Großraumes war. Die einfachste Technik der Raumvermessung ist die mit nur einer Leuchte. Eine solche Leuchte hält man wie einen Bleistift. Man kann sie kaum anders halten. Deshalb ähnelt das Leuchten mit diesem Leuchtstift dem Schreiben oder dem Skizzieren. Oder anders gesehen: Das Leuchten ist ein Zeigen, ein Hinweisen. Mein Zeigefinger ist der Anfang eines Zeigestrahls, von der Fingerspitze meines Zeigefingers geht der Zeigestrahl aus, sein Ende ist mit der von ihm angeleuchteten Fläche verbunden. Der Aufforderung, „nicht den auf ein Ziel hinweisenden Finger zu beobachten, sondern das Ziel selbst“, kann man beim Zielen mit einem Lichtstrahl schwer nachkommen, denn der richtungsweisende Lichtstrahl ist, zumindest in meiner Wahrnehmung, von starker materieller Präsenz, und man sieht ihn immer in seiner ganzen Länge mit. (Ich sehe ihn als Ganzes und nicht nur sein Ende, das er in Form einer Kontaktfläche mit dem Material,

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auf das er trifft, bildet. Ich sehe ihn zwanghaft als einen materiellen Balken, als ein zur Substanz, zur leuchtenden skulpturalen Form gewordenes Medium.) Ich kann die Suche erweitern und neue Dimensionen gewinnen, wenn ich mit zwei Leuchten (für jede Hand eine) mit dem Absuchen und Vermessen beginne. Man kann auch in jeder Hand zwei Leuchten, das heißt: in beiden Händen insgesamt vier Leuchten halten. Die in jeder Hand gefaßten Leuchten könnten zueinander im rechten Winkel stehen (der Öffnungswinkel wäre stets ein rechter Winkel. Eine starre, gefestigte Ordnung des rechten Winkels. Jede Hand hält eine aus drei Leuchten bestehende kartesianische Ecke. Die Hand manipuliert das ganze räumliche Gebilde: Sie bewegt das starre Achsensystem und wohin sie ausgestreckt wird, dort bildet sich sogleich das Strahlenbündel einer orthogonalen Ecke. Vollständig wäre eine solche Achsenecke allerdings erst mit der Hinzunahme der jeweils negativen Richtungen. Die mit drei weiteren Leuchten besetzten Achsen würden dann in die jeweils entgegengesetzten Richtungen zielen. Jede Hand hielte dann eine aus sechs Leuchten bestehende kartesianische Ecke − die Hauptrichtungen mit ihren Opposita − und der Mund hielte einen siebenten unabhängigen, frei beweglichen Lichtstrahl… Ich stehe im Dunkeln, die Leuchte ist noch ausgeschaltet, dann ein spannendes Moment vor dem Einschalten der Leuchte − Wechsel in den Zustand der Erwartung, d. h. in den Zustand der Reaktionsbereitschaft (mit Worten von K. R. Popper, wenn dieser seine Theorie des Scheinwerfermodells erklärt, beschrieben), bin bereit zu reagieren, bin reaktionsbereit, ich erwarte mir etwas, ich spekuliere mit dem Eintreffen bestimmter Ereignisse, auch von diesen einzutreffenden Ereignissen habe ich eine bestimmte Vorstellung, ich halte das Stattfinden von bestimmten Ereignissen für möglich, viele Ereignisse

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anderer Art dagegen erwarte ich nicht; sie würden mich naturgemäß überraschen, das Eintreffen solcher unerwarteter Ereignisse würde meine Erwartung enttäuschen. (Man kann allerdings nicht von nur „einer“ Erwartung sprechen. Tatsächlich ist vorstellbar eine Reihe der verschiedensten Ereignisse.) Dieses Abwarten vor dem Anlassen des Lichtstrahls, diese Reaktionsbereitschaft, kann als Vorbereitung einer Reaktion beschrieben werden, die einem noch nicht eingetroffenen Umgebungszustand angepaßt ist oder ihn vorwegnimmt. Ich werde mich einer daran folgenden, enttäuschten Erwartung nicht aussetzen, die mich zwingen würde, sie zu korrigieren − ich nehme jedes Ereignis, das sich nach dem Einschalten der Leuchte bieten wird, an. Beim Abwarten des Stattfindens der Ereignisse vergewissere ich mich des Standes meines Horizontes von Erwartungen, das heißt des Inbegriffs aller Erwartungen, ob sie nun unbewußt oder bewußt oder vielleicht sogar sprachlich formuliert vorliegen. Ich entwickle meine Raumerkundungen so: Die Lichtspur, der Lichtfleck, die Stelle, auf der das Licht auf eine Fläche fällt, ist das Lichtziel, Ziel des Lichts, Endpunkt des Lichtstrahls, sein Abschluß. Dieser Abschluß − ein Puffer, auf den das Licht anstößt − ist zugleich ein Anfangspunkt, eine Basis für ein erweiterndes, fortschreitendes, „landgewinnendes“ Vorwärtsschieben des Lichts. Beim Verschieben des Lichts von diesem Stützpunkt aus, beim darauffolgenden Nachstellen dieser Lichtbasis, handelt es sich um eine strategische Vorwärtsbewegung, um ein Manöver zum Zwecke des Absuchens der Umgebung, um einen Vorgang, der genauso in Mikroschritten wie auch als plötzliche sprunghafte Bewegung ablaufen kann. In dem Augenblick, in dem das Licht eine Fläche berührt, wird diese Fläche zu einer Basis, die selbst erforscht werden kann, deren Bedeutung aber darin besteht, ein fester Punkt zu sein, von dem aus weitere Entwicklungen im Raum mit dem Ziel des Anleuchtens (das heißt: des Entdeckens neuer Gebiete) erfolgen können. Das kumulativ anwachsende

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Wissen über den erkundeten Raum ist sehr sorgfältig zu schützen, denn der Raum, eine seiner gerade beleuchteten und deshalb informierenden Flächen, verschwindet, sobald ich das Licht abdrehe. Es könnte geschehen, daß ich nicht bemerkte, daß die Räume (die verschachtelten Raumteile) verschiedene Maßstäbe haben. Ich hätte übersehen, daß es sich um vermischte Größen handelt, daß hier in die normalgroße Welt andere Welten in verschiedenen Verkleinerungs- und Vergrößerungsmaßstäben eingeschoben wurden. Es verwirrt mich: Ich habe mich in einem „gebietsverschachtelten“ Raum bewegt (im Dunkeln) und habe bestimmte Tatsachen festgestellt. Da ich an die auf Distanz beobachteten Objekte keine vergleichenden Maßstäbe anlegen, sondern ihre Größe nur schätzen konnte, habe ich mich in den Maßen geirrt. Ich habe nicht bemerkt, daß es sich um eine verkleinerte Modellwelt handelte. Ich war nicht aufmerksam genug, um festzustellen, daß die untersuchte Umgebung keine einheitlichen Größenverhältnisse aufweist. Ich habe mich irrtümlich in vermischten, miniaturisierten, normalgroßen und monumentalisierten Umgebungen orientieren wollen. Und es könnte auch geschehen, daß, wenn man vorne die Ordnungsstruktur begriffen hat, diese gleich hinter einem neu umgebaut wird …

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Nahverkehr und Fernverkehr Zwei Reisevarianten Mein Großvater hatte zusammen mit Henri Bergson eine Reise auf dem Genfer See gemacht. „Ich war schrecklich begeistert“, sagte er‚ „ich hatte nicht Augen genug, um die funkelnden Berggipfel zu betrachten und die Bewegungen des Wassers zu verfolgen. Aber Bergson saß auf einem Koffer und schaute unablässig vor sich hin.“ Aus diesem Erlebnis schloß er, die poetische Meditation stehe höher als die Philosophie.1 In der autobiographischen Schrift Die Wörter verfertigt Jean-Paul Sartre aus solchen Fragmenten ein Psychogramm seines Großvaters Charles Schweitzer, wobei er selbst aus dieser Begebenheit keine weiteren Schlüsse auf den Charakter von Henri Bergson zieht. Mag der Großvater in seiner oberflächlichen Einschätzung der Person Bergson, Begründer des Vitalismus, der Philosophie des „élan vital“, Autor des bekannten Werkes Über das Lachen und Nobelpreisträger für Literatur von 1927 offensichtlich fehlgehen, für mich wird diese Textstelle das bleiben, was sie seit der ersten Lektüre immer gewesen ist: Verweis auf zwei prototypische Haltungen − sich einmal großräumlich, das andermal kleinräumlich in der umgebenden Welt zu bewegen, sie wahrzunehmen und zu reflektieren. Zur Charakterisierung der Raumformen, in denen Bewegungen stattfinden, sind zwei Begriffe gebräuchlich geworden: „Raum durch eine Bewegung“, der für alle Bewegungen offen ist und vom bewegten Körper, durch die Art seiner Aktionen, strukturiert wird. Seine offene Struktur ist eine Domäne für den großräumlichen Fernverkehr. „Raum für eine Bewegung“ ist dagegen vorstrukturiert und diktiert damit das Verhalten und die Bewegungsmöglichkeiten darin. Seine quantitativen Einschränkungen lassen nur einen kleinräumlichen Nahverkehr zu.

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In der Romanliteratur sind zwei Gestalten zu finden, deren Verhalten im Raum der Einteilung in solche fundamentalen Kategorien entspricht. Watt, der Protagonist aus Samuel Becketts gleichnamigem Roman hat eine anstrengende Strecke zu bewältigen: Watts Gewohnheit, geradenwegs, zum Beispiel, nach Osten zu gehen, bestand darin, daß er seinen Oberkörper so weit wie möglich nach Norden drehte und gleichzeitig sein rechtes Bein so weit wie möglich nach Süden schleuderte, dann seinen Oberkörper so weit wie möglich nach Süden drehte und gleichzeitig sein linkes Bein so weit wie möglich nach Norden schleuderte, dann wieder seinen Oberkörper so weit wie möglich nach Norden drehte und sein rechtes Bein so weit wie möglich nach Süden schleuderte, dann wieder seinen Oberkörper so weit wie möglich nach Süden drehte und sein linkes Bein so weit wie möglich nach Norden schleuderte, und so weiter, immer und immer wieder, viele, viele Male, bis er sein Ziel erreichte und sich hinsetzen konnte.2 Eine außergewöhnliche Gangart, gewiß. Eine Ataxie vielleicht, eine Störung im geordneten Ablauf von Bewegungen, eine Abweichung von der Norm, die sich gleichwohl in denselben Bewegungsformen vollzieht. 3 Eine abnorme Bewegungsart, nicht aber aus Mangel an Koordination der Glieder, denn die sind zueinander durchaus solidarisch und willens, sich an der vorgegebenen Raumorientierung − sich stets als genordetes Bezugssystem zu bewegen − zu beteiligen. Die Motorik muß zudem einer zunehmend vertrackter werdenden Fortbewegungsstruktur gerecht werden, denn in die Romanmitte wird eine Spiegelungsachse eingebaut, an der Watt kehrt macht und ab da rückwärts geht, wobei auch seine Sprache gespiegelt wird − die Reihenfolge der Buchstaben im Wort und der Wörter im Satz kehrt er ebenfalls um.

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Weil Bewegung und Wahrnehmung einander eng bedingen,4 wird man annehmen, daß solche Regelwidrigkeit und Normabweichung eine Beeinträchtigung der Bewegungsqualität und in der Folge auch der Wahrnehmungsqualität nach sich ziehen muß. Ein begabter Geher mit einem Normkörper, welcher ihm einen unbeschwerten, automatisierten Gang ermöglicht, kann sich voll auf seine Tätigkeit konzentrieren: während der Bewegung neue Erfahrungen aufgrund seiner Wahrnehmungen zu machen. Für gewöhnlich verläuft sein Weg so, daß er entlang einer Strecke von optischen, akustischen etc. Ereignissen angesprochen wird. Bereits von der ersten Veränderung in der Wahrnehmung kann er in Beschlag genommen werden, eine Kette von assoziativen Überlegungen wird sich in seiner Vorstellung bilden, bis ein nachfolgendes Phänomen, das stärker als das erste war, diese überdeckt, eine neue Assoziationskette auslöst und so fort. Auf diese Weise begleiten sensomotorische Erfahrungen seinen Weg, dessen Attraktivität durch die Neuheit der Situationen, in die er gerät, gesteigert wird; dagegen wird man das Begehen gewohnter Strecken in anderen Wahrnehmungsgraden messen müssen, denn auf Monotonie und Gewöhnung des Blicks wird er unberührt und anteillos reagieren. Zur Reiseabrechnung legt er mitgebrachte Erfahrungsinhalte vor, an deren Qualität er gemessen werden will. Im Falle von Watt aus Becketts Roman, wird man bei der Beurteilung seiner Wahrnehmungskapazitäten darüber spekulieren wollen, ob die zu erwartende, gesteigerte Achtsamkeit gegenüber dem eigenen Körper, der immerhin schwierige Gleichgewichtsleistungen zu erbringen und jeden Bewegungsablauf erfolgreich abzuschließen hat, nicht dazu führt, daß seine Erfahrungen nur aus Beobachtung eigener Gliederbewegungen bestehen. Wenn jeder Schritt zum zu feiernden Erfolg und die kinästhetische Selbstwahrnehmung des Körpers zum eigenen Vorgang wird, dann wird das Aufnahmevermögen für weitere Sinneseindrücke nur reduziert vorhanden sein. Soll man deshalb annehmen, daß er wegen einer Behinderung keine

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zusätzliche Wahrnehmungsarbeit übernehmen kann, daß er unfähig ist, während seiner Reise etwas von äußeren Vorgängen wahrzunehmen? Dann nicht, wenn jede Empfindung zählt, auch eine solche, die keine Reflexion auslöst und nicht zur protokollierbaren Erkenntnis führt. Gottfried Wilhelm Leibniz nennt solche Wahrnehmungen die „kleinen Perzeptionen“ und bewertet sie hoch: es gibt in jedem Augenblick in uns eine Menge von Perzeptionen ohne bewußte Wahrnehmung und Reflexion, […] weil diese Eindrücke entweder zu gering und zu zahlreich oder zu gleichförmig sind, sodaß sie im einzelnen keine hinreichenden Unterscheidungsmerkmale aufweisen. Nichtsdestoweniger können sie zusammen mit anderen ihre Wirkung tun und sich insgesamt wenigstens in verworrener Weise zur Wahrnehmung bringen. […] „Diese kleinen Perzeptionen sind also in der Folge von größerer Wirksamkeit, als man denkt. Sie bilden das „Ich-weiß-nicht-was“, diesen Geschmack nach etwas, diese Vorstellungsbilder von sinnlichen Qualitäten, welche alle in ihrem Zusammensein klar, jedoch in ihren einzelnen Teilen verworren sind; und sie bilden auch jene Eindrücke, die die umgebenden Körper auf uns machen und die das Unendliche in sich einschließen, jene Verbindung, die jedes Seiende mit dem ganzen Universum besitzt.5 Deshalb sollte man das Reiseverhalten von jemandem, der Als-obGleichgültiger, als Als-ob-nichts-Bemerkender 6 auf minimaler Wahrnehmungsstufe unterwegs war, nicht allzu streng benoten und ihm nicht, weil er sich vorwiegend in introspektiver Selbstbeobachtung erging, Mißbrauch einer Fernreise vorwerfen. Die Romanfigur Watt könnte man in vielen anderen Versuchsanordnungen im Themenbereich Bewegung und Wahrnehmung einsetzen. Man sollte ihn aber am Ziel seiner beschwerlichen Reise ankommen lassen und sehen, in welcher Mission er unterwegs war. Und wird feststellen, daß er sich dort nicht anders verhält, als jeder

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Teilnehmer einer Expedition auch, der, mit einer Fachexpertise ausgewiesen, am Ort angekommen, sich der Beobachtung und Beschreibung von Ereignissen in einem abgegrenzten Beobachtungsausschnitt widmet. Im Falle von Watt ist es die Beobachtung von Lichtphänomenen: … er setzte sich […] und nahm, da er sein Ziel erreicht hatte, seinen Hut ab, […] sah auf dem Herdrost die Asche ergrauen. Aber sie wurde blaßrot, als er die Lampe mit seinem Hut bedeckte. Das Herdfeuer war beinahe aus, aber nicht ganz […]. So beschäftigte Watt sich ein Weilchen, indem er die Lampe immer weniger und immer mehr mit seinem Hut bedeckte und die Asche auf dem Herdrost ergrauen, erröten, ergrauen, erröten sah.7 Man sieht, er forscht nicht anders als beispielsweise Carl von Linné auf seiner Reise durch Lappland,8 der sich nach anstrengenden Fußmärschen an ausgewählten Fundstellen niederlassen und mit detailgenauen Pflanzenstudien beginnen konnte. Allerdings waren Linnés Beobachtungen „theoriegetränkt“, er hat ein Beobachtungsprotokoll angefertigt und konnte daher seine Reise mit belegbarem Erkenntnisgewinn positiv bilanzieren. In dieser Hinsicht wird der Extremgeher Watt sein Soll nicht erfüllt haben. Solche Reisen sind Ortswechsel, die man deshalb vornimmt, weil man seine Beobachtungsmotive und Forschungsthemata auch in neuen Umgebungen finden und mit den bisherigen Ergebnissen vergleichen will. Man möchte zeitweilig Angebote der gewohnten Umgebung gegen neue tauschen. Wird man an einem Wechsel gehindert und gezwungen, sich am selben Ort aufzuhalten, dann wird das einmal Neugewesene zum Gewohnten und das Beobachtungsinteresse an der Umgebung erlahmt: … so führt die Gewohnheit dazu, auf die Bewegung einer Mühle oder eines Wasserfalles nicht mehr zu achten, wenn wir eine Zeitlang ganz nahe dabei gewohnt haben. Nicht als ob jene Bewegung nicht immer

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noch unsere Sinneswerkzeuge träfe und als ob nicht, gemäß der Harmonie von Leib und Seele, auch in der Seele sich eine entsprechende Änderung vollzöge; vielmehr sind die Eindrücke in der Seele und im Körper, wenn sie den Reiz der Neuheit verloren haben, nicht mehr stark genug, um unsere Aufmerksamkeit und unser Gedächtnis, die von fesselnderen Gegenständen in Anspruch genommen werden, auf sich zu ziehen. Denn jedwede Aufmerksamkeit verlangt Gedächtnis; und wenn wir sozusagen nicht darauf gemahnt und darauf hingewiesen werden, auf bestimmte gegenwärtige Perzeptionen in uns zu achten, so lassen wir sie ohne Reflexion, ja ohne sie zu bemerken, vorübergehen; wenn uns jemand jedoch sofort darauf hinweist und uns z.B. auf irgendeinen Lärm aufmerksam macht, der sich gerade hören ließ, so erinnern wir uns daran und werden uns bewußt, davon soeben eine Empfindung gehabt zu haben […]. Um diese kleinen Perzeptionen, die wir in der Menge nicht unterscheiden können, noch besser zu fassen, bediene ich mich gewöhnlich des Beispiels vom Getöse oder Geräusch des Meeres, welches man vom Ufer vernimmt. Um dieses Geräusch, wie es tatsächlich geschieht, zu hören, muß man sicherlich die Teile, aus denen sich das Ganze zusammensetzt, d. h. das Geräusch einer jeden Welle hören, obgleich jedes dieser geringen Geräusche nur in der verworrenen Gemeinschaft mit allen übrigen zusammen, d. h. eben im Meeresbrausen, faßbar ist und man es nicht bemerken würde, wenn die Welle, von der es herrührt, die einzige wäre. Denn die Bewegung dieser Welle muß doch auf uns irgendeinen Eindruck machen, und von jedem Einzelgeräusch, so gering es auch sein mag, müssen wir doch irgendeine Perzeption haben, sonst hätte man auch von hunderttausend Wellen keine, da hunderttausend Nichtse zusammen kein Etwas ausmachen.9 Einer, der daran gehindert wird, Erfahrungen in wechselnden Umgebungen zu machen, der jedoch nicht resigniert, sondern eine Methode entwickelt, sich weiterhin ein Beobachtungsinteresse an der

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gewohnten Umgebung zu bewahren, ist derjenige, den ich als zweite literarische Figur für ihren Auftritt bereithalte: Xavier de Maistre, französischer Adeliger, der 1794 in Turin wegen der Teilnahme an einem Duell mit sechs Wochen Hausarrest bestraft wurde. Diese Zeit des Eingeschlossenseins hat er in dem kleinen Werk Die Reise durch mein Zimmer 10 literarisch verarbeitet. Der Buchtitel ist ebenso vielversprechend wie die Ankündigung im ersten Kapitel: Nein, ich werde mein Vorhaben nicht länger „in petto“ halten, hier ist es, meine Herren, lest es. Ich habe eine zweiundvierzigtägige Reise durch mein Zimmer geplant und durchgeführt. Die aufschlußreichen Beobachtungen, die ich gemacht, die beständige Freude, die mir die ganze Strecke über zuteil geworden ist, ließen mir eine Veröffentlichung als wünschenswert erscheinen, und das Wissen um seine Nützlichkeit hat mich schließlich bewogen, es auch zu tun. Ich bin sicher, daß jeder vernünftiger Mensch mein System übernehmen wird, gleich welcher Sorte sein Charakter, welcher Art sein Temperament auch sei, […] er kann reisen wie ich. […] es befindet sich nicht ein einziger (wohlbemerkt: ich spreche von denjenigen, die Zimmer bewohnen) − der, nachdem er dies Buch gelesen hat, dieser neuen Art des Reisens, wie ich sie hier in die Welt einführe, seinen Beifall verweigern könnte. Das Ergebnis ist allerdings, gemessen an dieser einleitenden Proklamation, bescheiden und im Verhältnis zu den gegebenen Versuchsbedingungen für denjenigen enttäuschend, der sich eine analysierende und reflektierende Auseinandersetzung mit dem Problem des Bewegens und Handelns in determinierten Räumen erwartet. Die Beschreibung des Raumes die de Maistre gibt, ist dürftig: ein Rechteck mit einem Umfang von sechsunddreißig Schritten, das sind, grob umgerechnet, die Maße eines fünf mal sechs Meter großen Zimmers. Eines, das sich in einem Palais befindet, mit Aussicht auf den Corso Beccaria, eingerichtet mit einem Bett, einem Tisch, einem Schreibtisch, mit Stühlen und einem, wie es sich für einen Reisenden gehört,

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chaise de voyage. Zur Beheizung ein Kamin, vor dem er Abends in einem habit de voyage sitzt, einem Winterreiseanzug aus warmen Stoff, der ihn von Kopf bis zu den Füßen einhüllt. An den Wänden hängen Drucke und Gemälde. Weder beschreibt er die ihn umgebenden Gegenstände noch ihre relationalen Beziehungen untereinander. Versucht er das, so schweift er bald ab, weil er mit einem Gegenstand eine Erinnerung assoziiert und zu einer anderen Geschichte, zu einer Parabel findet: Sein Leib und seine Wahrnehmung fordern ihn beständig auf, die Umgebung, die ihm geboten wird, als Mittelpunkt der Welt zu nehmen. Doch diese Umgebung ist nicht notwendigerweise die seines Lebens selbst. Er kann, wiewohl dort verbleibend, „ganz woanders sein“.11 Man kann die Gelegenheit, die de Maistre vertan hat − sich mit der Wahrnehmung und Bewertung der Phänomene eines vorgegebenen Raumes auseinanderzusetzen − selbst aufgreifen. Man übernimmt von ihm die Vorlage − das Modell schlechthin eines Raumes, der Bewegungen und Wahrnehmungen determiniert − und kann versuchen, der petrifizierten Umgebung, die mit Dingen angefüllt ist, die keinen Reiz des Neuen mehr haben, in der die Sinneswerkzeuge zwar nach wie vor affiziert werden, ohne − außer von minimalen latenten Perzeptionen − nennenswerte Empfindungen zu verursachen, mit einem Erkenntnisinteresse zu begegnen und sie damit immer neu zu machen. Das kann auf zweifache Weise vor sich gehen: einmal faßt der Reisende seine Beobachtungen als Operationen12 auf, ohne in die bestehenden Ordnungen einzugreifen; das andermal ist er ein Beobachter, der auch Veränderungen der Anordnungsstrukturen herbeiführt. De Maistres Fahrplan kann übernommen werden, und man wird an zweiundvierzig Tagen zur Erforschung eines anderen Teilgebiets des gesamten Zimmerterritoriums aufbrechen. Die lange Reisedauer wird sich im Verhältnis zur Detailgenauigkeit der Untersuchungsmethode und zur Größe des Beobachtungsfeldes als angemessen erweisen.

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Der Reise, die mit einer Erneuerung der Umgebung verbunden ist, wird eine Raumerkundung vorangehen, der Reisende wird den Raum und die Gegenstände nach ihren Strukturbeziehungen absuchen. Sein Interesse für die Strukturierung der Umgebung deutet auf sein Bedürfnis hin, etwas über die abgewandten Seiten der Dinge zu erfahren oder den Aktionsradius zum Erforschen der bisher unerreichbaren Gebiete zu erweitern. Der Monotonie gleichbleibender Anordnungen wird er mit der Schaffung neuer Zonen möglichen Handelns begegnen. Die Reisevariante, die er gewählt hat − die ihn in bestehende Ordnungen einzugreifen erlaubt −, läßt ihn eine wichtige Erfahrung machen, die Jean Piaget als Bedingung für eine Erkenntnis voraussetzt: … Ich glaube, daß menschliches Erkennen wesentlich aktiv ist. Erkennen heißt, Realität zu transformieren, um zu verstehen, wie ein bestimmter Zustand zustande kommt. […] Nach meiner Ansicht bedeutet ein Objekt zu erkennen nicht, es abzubilden, sondern, auf es einzuwirken. Es bedeutet, Transformationssysteme zu konstruieren, die sich an und mit diesem Objekt ausführen lassen.13 In seinem Reisebericht werden all die vollendeten und unvollendeten Änderungen vermerkt und begründet. Dagegen befindet sich derjenige, der die andere Art des Reisens durch das Zimmer gebucht hat, in einer komplizierten und anspruchsvolleren Situation. In dem geschrumpften Lebensraum wurde ihm ein fester, unveränderlicher Beobachtungspunkt zugewiesen, sein Aktionsradius zog sich zusammen. Trotzdem wird er sich als Durchreisender, dessen Aufenthalt ungebührlich verlängert wurde, von der Öde der erstarrten Umgebung, des beständig Vertrauten nicht infizieren lassen und wird sein Forschungsvorhaben − das Bekannte immer neu sehen zu wollen − in zweiundvierzig Tagesetappen durchführen. Er wird sich auf das Geschehen innerhalb seines Gesichtsfeldes konzentrieren − auf die dem Blick leicht oder

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schwer zugänglichen Gebiete. Beginnen könnte er beispielsweise mit einem radikalen Experiment: Er könnte die Zwischenräume zwischen den Dingen als Dinge sehen, womit sich das Aussehen der Welt ebensosehr wie ein Vexierbild verändern würde.14 Nach solcher Anfangsübung im Oszillieren zwischen Figur und Grund, werden ihn weitere operative Beobachtungen zur Erneuerung seiner Sicht der Umgebung und ihrer Teile führen. Die Energie zur Steigerung seiner Beobachtungsschärfe, die dazu notwendig ist, bringt er, angetrieben von seinem Beobachtungsinteresse an neuen Sachverhalten, leicht auf. Der Erfolg wird ihm recht geben: dort, wo er zunächst nur Objekte als unlösliche Einheiten sah, ist er nun imstande, Differenzierungen von Farben oder Formverläufen zu erkennen. Das ursprünglich Verbundene ohne Teilungsgelegenheit wird er, nach einer überzeugenden Analyse, als ein mannigfaltig gegliedertes Objekt präsentieren. So wird er, dank seiner Beobachtungsschärfe, auf Differenzierungen in bisher ununterscheidbaren Ganzheiten hinweisen und Teilungsmöglichkeiten am bisher Ungeteilten aufzeigen können. Oder (wie von Leibniz gefordert) am Gewöhnlichen das Bemerkenswerte oder Beachtliche finden, wenn das Bemerkenswerte aus Teilen bestehen sollte, die selbst nicht bemerkenswert sind. Über die verborgenen Seiten all der anwesenden Gegenstände, von denen ihm immer nur eine Ansicht geboten wird, kann er nur spekulative Theorien aufstellen. Das ist ihm ebenso bewußt wie die Tatsache, daß das distanzierte Beobachten der Dinge nur deren trügerisch verläßliches Habhaftwerden auf Entfernung ist. Auch ihm kann für sein Absuchen des Raumes von einem einzigen Beobachtungsposten aus, bestätigt werden, daß es sich ebenfalls um ein Wahrnehmen in Bewegung gehandelt hat: Wir können nichts tun, ohne auch irgend etwas zu empfinden, wir können nichts empfinden, ohne uns auch irgendwie motorisch zu verhalten: jede Trennung ist selbst schon eine „Abstraktion“. Das Leben ist darin also nie ein Entweder-Oder.15

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In Bewegung eine Empfindung haben, die eine Beobachtung notwendig macht, welche zu einer Beschreibung verpflichtet, ohne die eine bewußte Wahrnehmung nicht zur Erkenntnis werden könnte: in dieser Abfolge bildet sich die Struktur jeder denkwürdigen Nahoder Fernreise.

1

Jean-Paul Sartre, Die Wörter, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1968, S. 18.

2

Samuel Beckett, Watt, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1972, S. 30 ff.

3

Viktor von Weizsäcker, „Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen“ (1940), in: ders., Gesammelte Schriften, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1997, Bd. 4, S. 181.

4

Bewegen und Wahrnehmen bedingen einander und bilden einen Kreis: „Es scheint so, als ob das, was sich in der Zeit aneinanderreiht, sich doch in irgendeiner Weise zum ‚Kreise‘ schließe: Dingwahrnehmung, Regung, Bewegung, Greifen des Dinges, Dingwahrnehmung.“ Vgl. ebd., S. 25.

5

Gottfried Wilhelm Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1959, Bd. I, S. XXV.

6

Zum Thema des den eigenen Körper in einem isolierten Raum Einschließens vgl. František Lesák, „Befehlsräume. Über die Einsamkeit eines Massenturners“, in: Hermann J. Hendrich (Hg.), raum, anschaulich. Zur Phänomenologie des architektonischen Raumes, [-de’A-], Gumpoldskirchen–Wien 2007, S. 107–127; s. auch im vorliegenden Buch S. 205–231.

7

Beckett, Watt, a. a.O., S. 37.

8

Carl von Linné, Lappländische Reise, Insel, Frankfurt/M. 1974.

9

Leibniz, Neue Abhandlungen…, a. a.O., Bd. I, S. XXIII.

10 Xavier de Maistre, Voyage autour de ma Chambre (1794), dt. Übers. von Thorsten Becker, in: Thorsten Becker, Mitte, Volk & Welt, Berlin 1994. 11 Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Walter de Gruyter & Co, Berlin 1966, S. 332. 12 Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1995, S. 65 ff. 13 Jean Piaget, Einführung in die genetische Erkenntnistheorie, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1973, S. 22 ff. 14 Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie…, a. a.O., S. 35. 15 von Weizsäcker, „Der Gestaltkreis“, a.a. O., S. 23.

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Häuser unter Beobachtung Alain Robbe-Grillets Observationsberichte

Laura blickt hinter dem Fenster, das zum Korridor des zweiten Stockwerks am oberen Ende der Eisentreppe führt, die lange Straße hinunter, die um diese Zeit von Fußgängern verlassen ist, was die drei beunruhigenden Erscheinungen noch deutlicher herausstreicht. Der Mann in Schwarz, den sie bereits seit mehreren Tagen bemerkt hat (seit wann?), ist auf seinem Posten, wie sie erwartete, wohl geborgen in seinem geräumigen Wachstuchregenmantel. Doch zwei Gendarmen mit flachen Mützen, gewaltigen Stiefeln und Maschinenpistolen kommen Seite an Seite auf der Fahrbahn heran, sind jetzt überdies ein paar Schritte vor dem ersten Beobachter stehengeblieben − der ihnen mit der Hand ein Zeichen macht −, und drehen sich nun wie ein Mann um und blicken auf das, was er ihnen bezeichnet: das Fenster, hinter dem Laura steht. Letztere tut einen jähen Sprung zurück, so schnell, daß weder die Polizisten noch der Spitzel Zeit haben können, ihre Kopfdrehung nach oben zu Ende zu führen, ehe sie selber von der durch die schwarzbehandschuhte Hand bezeichnete Stelle verschwunden ist.1 Die Szene beschreibt eine elementare Situation: Ein Gebäude legt zwei Raumzonen fest − eine innere und eine äußere − und läßt damit auch zwei eigenständige Raumsysteme entstehen. Das eine ist der Innenraum, der von geraden oder gekrümmten Flächen konkav umschlossen ist, das andere ist der Außenraum, von dem aus gesehen dieselben Flächen eine konvexe Einschließung derselben Räume bilden. Es ist ein Modell des vielschichtigen Verhältnisses zwischen der Innenform und der Außenform eines Bauwerks schlechthin. Weil eine Abgrenzung zwischen der Innen- und Außensphäre eines Gebäudes teils unüberwindbar, teils, mit welchen Mitteln auch immer,

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wiederum überwindbar ist, wird sowohl die Parallelität der Abläufe in den beiden, voneinander getrennten Sphären als auch der Verursacher dieser Trennung, das architektonische Gehäuse, als Problem andauernd vorhanden sein. Das Gebäude als Grenze zwischen Innen und Außen zerreißt und unterbricht bestehende Verbindungen zwischen den auf beiden Seiten ablaufenden Ereignissen. Dabei teilt sich ein Handlungsstrom, in den mehrere Personen einbezogen sind, durch die baulichen Gegebenheiten in mehrere, parallel verlaufende Handlungsströme. Ein Ablauf ähnlich dem auf einer Simultanbühne, bei der man an mehreren, nebeneinander aufgebauten Schauplätzen dem Spielablauf beiwohnen kann − allerdings hier mit dem wesentlichen Unterschied, daß eine massive Gebäudemauer als materielle Grenzziehung zwischen Innen und Außen die Wahrnehmung der auf beiden Seiten ablaufenden Ereignisse erschwert oder unmöglich macht. Es hängt von der materiellen Beschaffenheit der Grenze ab, ob die handelnden Personen an getrennten Orten überhaupt und wenn ja, in welchem Ausmaß, das Verhalten der jeweils anderen jenseits der Grenze wahrnehmen und darauf reagieren können. Eine bauliche Abgrenzung wird Ereignisabläufe beeinflussen und modifizieren, sie kann jeden Kontakt verhindern, sie kann aber auch, je nach dem Grad ihrer Durchlässigkeit, an manchen Stellen zulassen, daß dort die unterbrochenen relationalen Bande möglicherweise neu geknüpft und aktiviert werden. Dank solcher Perforationen der Grenze können die in der Innensphäre und die in der Außensphäre eines Gebäudes agierenden Personen dem Geschehen abwechselnd einmal als Beobachter, das andere Mal als Beobachtete beiwohnen. Durch Fensteröffnungen, Türspalte, Sehschlitze oder Jalousielamellen spähend, widersetzen sie sich der Versperrung der Sicht; auf beiden Seiten besteht ein Interesse am Geschehen jenseits der Wand, beide möchten ihre Wahrnehmungen vervollständigen, möchten weiterhin Einsicht nehmen und die der Wahrnehmung entzogenen und deshalb unzugänglichen Stellen erreichen. Nur weil sich das Geschehen

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ihrem Blick entzieht, hört es für sie nicht auf zu existieren.2 Sie glauben, sie bräuchten nur das Wiedereintreffen von Ereignissen, die ihnen außer Sicht geraten sind, abzuwarten. Das Ergebnis ihrer erschwerten Wahrnehmung, das Beobachtungsmaterial, das ihnen schließlich zur Verfügung steht, kann nur aus Wahrnehmungsfragmenten mit Auslassungen bestehen, aus unvollständigen Beobachtungen, die mit Vermutungen vermischt und angereichert sind. Die hier beschriebenen Wahrnehmungsbedingungen gelten allgemein, sie beziehen sich auf die alltägliche Erfahrung eines jeden, für den es einen Anlaß gibt, sich seiner Lage − drinnen oder draußen zu sein respektive sein zu müssen − bewußt zu werden. Es scheint, daß sich die Romanprotagonistin im Inneren des Hauses aufhalten muß, um es als Zufluchtsort, Schutzraum oder Schlupfwinkel zu nutzen. In einem Reduktionsmodell, in dem es ausschließlich um die Kommunikation zwischen Innen und Außen ginge, würde die Protagonistin zu einem hypothetischen Beobachter werden, der sich eine Übersicht über die Vorkommnisse draußen verschaffen und sich anhand der Beobachtungsdaten ein Urteil über sie bilden soll3 − und dies in einer verschärften Form der Wahrnehmung −, der Ausblick wäre nur durch eine einzige Wandöffnung möglich. Aus wahrnehmungstheoretischer Sicht werden, wenn dem Auge des Beobachters nur ein bestimmter Ausschnitt eines Ganzen zur Verfügung steht − egal ob in Form eines engen Sehschlitzes oder einer größeren Fensteröffnung −, der Wahrnehmung immer nur gerahmte Bildauszüge zugänglich, Bilder in Bewegung, die an einem Rand erscheinen und an einem anderen Rand wieder erlöschen.4 Aus diesem Bildausschnitt kann der Beobachter immer wieder momentane visuelle Stichproben zu entnehmen versuchen, die, je nach seiner optischen Begabung, größer oder kleiner sein werden und die sich für eine weitere Verarbeitung mehr oder weniger eignen.5 Eine Wandöffnung hat gegenüber der Wandfläche, in die sie eingeschnitten ist, einen viel höheren Grad an optischer Dichte. Sie zieht die Aufmerksamkeit auf

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sich, weil aus ihrer Richtung Veränderungen in der Welt draußen zu erwarten sind und das Auge von neuen optischen Signalen attrahiert werden will. Die Erwartung, etwas Neues zu entdecken, haftet sich notgedrungen auf diesen Bildausschnitt, der aber von der Umwelt, die es draußen als Panorama gibt, nur einen minimalen Splitter anbieten kann. Das derart beschränkte und deshalb unbefriedigende optische Angebot muß, damit es zu einer brauchbaren Auskunft über die Gesamtlage außen verarbeitet werden kann, aus anderen Quellen, wie Erfahrung und Vermutung, also mit Hilfe des Gedächtnisses ergänzt werden. Eine lückenhafte Beobachtung wird zur Folge haben, daß bestimmte Handlungen fehlgedeutet und die beobachteten Ereignisse unrichtig interpretiert werden. Es wird, neben seinen optischen Fähigkeiten, auch auf die Erfahrung des Innenbeobachters ankommen, ob er, trotz der bloß fragmentarischen Wahrnehmung, die Zusammenhänge der Handlungsabläufe wird ablesen und erkennen können. Wenn es um die notwendige Anpassung der Beobachtungstechniken an die Sichtverstellung geht, könnte man, vereinfachend, auch sagen, daß es sich um eine alltägliche Wahrnehmungssituation handelt, denn jedes Haus kann danach besehen werden, auf welche Weise, nach welchem Konzept in den Innenräumen die Sichtverbindung nach außen bewerkstelligt und damit die Kommunikation zwischen Innen und Außen geregelt wird.6 Während sich die Protagonistin der Beobachtung entziehen konnte, sich in der Schutzzone im Inneren des Hauses aufhält und sich von dort aus mit beschränkten Mitteln über die Lage draußen zu informieren versucht, ist derweil vor dem Haus der Außenbeobachter am Werk. Seine Beobachtungsperspektive ist insofern eine andere, als er sich im freiem Außenterritorium bewegt, viele Beobachtungsorte zur Verfügung hat; seine Umgebung ist offen, panoramatisch, ist nicht an einen Rahmenausschnitt gebunden, besser gesagt, sie wäre nicht gebunden, wenn er nicht durch einen Visierrahmen das bestimmte Gebäude, in dem relevante Handlungen ablaufen, im Fokus

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zu haben hätte. Deshalb muß er ökonomisch vorgehen und sich mit selektiver Aufmerksamkeit einem ausgewählten Beobachtungsausschnitt zuwenden. Was die Wahrnehmungsbedingungen für das Erfassen von Vorgängen im Gebäudeinneren anlangt, ist er in einer ähnlich schwierigen Lage wie der Innenbeobachter, der sich auch nur mangelhaft über die Vorgänge draußen informieren kann. Der Fensterausschnitt, durch den die Blickachse zwischen den beiden verläuft, ist, so wie ich es in meinem Modell vorgeschlagen habe, sehr eng und gewährt von außen noch viel weniger Einblick als der an sich beengte Ausblickrahmen aus dem Inneren des Hauses in die umgekehrte Richtung bietet. Der Außenbeobachter möchte die informierenden Zonen, die ihm zur Verfügung stehen, sukzessive erkunden, womit er allerdings wenig Erfolg haben wird, denn die undurchdringliche Hauswand wird seinen Blick zurückweisen und wird sein Erkundungsinteresse ins Leere laufen lassen. Seine Beobachtungsabsicht wird umgelenkt und wird sich an die baulichen Gegebenheiten anpassen müssen, er wird das nehmen müssen, was angeboten wird. Er kann nur abwarten und hoffen, daß sich doch irgendwann irgendwo eine Lücke, ein das Auge stimulierender Mauereinschnitt für einen Moment auftut und ihm einen Einblick ins Hausinnere gewährt. Inzwischen wird er sich anhand der äußeren Gebäudemerkmale eine Vorstellung über die Innenstruktur des Hauses zu machen versuchen, da jedoch, wie man weiß, „das Innere und das Äußere eines Gebäudes nicht immer so parallel, wie die Innen- und die Außenseite eines keramischen Gefäßes verlaufen“,7 wird er über die Bedingungen der möglichen Handlungsabläufe im Gebäudeinneren nur spekulieren können, wird er sich auf sein Gedächtnis und auf die bisher gemachten Erfahrungen mit ähnlichen baulichen Strukturen stützen müssen. Von seiner Funktion her ist dieser Beobachter ein Observant, der entweder eine Zielperson, ein Zielobjekt oder beides systematisch und lückenlos zu beobachten hat. Er ist ein Mann, der vor dem Haus

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Wache hält, der an seinem bisherigen Ort verbleibt und diesen nicht verlassen wird, er hat seine Aufgaben hier zu erfüllen. Es ist das Zugeständnis eines Observanten an die Welt der Innenräume, daß man nicht gewaltsam in sie eindringt und sofort für Aufklärung sorgt. Deshalb bleiben seine Beobachtungsmöglichkeiten und auch seine abrufbaren Gedächtnisbilder limitiert. Da er das von ihm beobachtete Haus nicht betreten darf und sein Auftrag vor der Haus- oder Wohnungstür zu enden hat, wird er, üblicherweise verdeckt und im Geheimen, das Haus nur zu beobachten und das Eintreffen protokollierwerter Ereignisse abzuwarten haben. Im Augenblick betreibt er aber eine Sonderform der Überwachung − die sogenannte offene Observation, die zur Verunsicherung oder zur gezielten Provokation der observierten Person führen soll. An sich ist ein Beobachter von seiner Einstellung her jemand, der in den Stand der Dinge eingreifen möchte. Es gibt die Auffassung, daß Wahrnehmen ein motorischer Akt ist, daß Beobachten bedeutet, sich auf die Dinge zuzubewegen, in der Folge sich ihnen zuzuwenden, um den bestehenden Sachverhalt, wenn auch nur potentiell, zu verändern.8 Ein Observant dagegen gehört einer anderen Kategorie von Beobachtern an. Er muß sich eine persönliche Anteilnahme versagen, er hat nichts zu empfinden, hat distanziert zu sein, hat nicht in den Stand der Dinge einzugreifen. Die Ergebnisse einer Observation werden, so die Fachliteratur, in einem Observationsbericht protokolliert. Demnach sei ein solcher Bericht „praktisch eine Zeugenaussage, nur was zweifelsfrei und lückenlos beobachtet wurde, ist als Tatsache verwertbar, nur eine objektiv beweisbare, plausibel darstellbare Tatsache zählt; objektive Beobachtungen dürfen nicht mit Interpretationen vermengt werden, denn beim logischen, aber unbewiesenen Schließen einer Beobachtungslücke, beim reinen Kombinieren, würde der Bericht an Glaubwürdigkeit verlieren“.9 An solche Regeln hält sich auch der Autor Alain Robbe-Grillet, denn er ist ein Observant, er ist ein Beobachter, der, zeitweise die Perspektiven wechselnd,

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Innen- und Außenräume beaufsichtigt, überprüft und darüber neutral und sachlich informiert. Zudem berichtet er, seiner Auffassung von der Poetik des nouveau roman gemäß, in seinen Rapporten ausschließlich Tatsachen, ohne diese zu bewerten. Die Beschreibungen des Observanten Robbe-Grillet sind höchst präzise, positivistische Daten über die Gestalt und Ausdehnung von Innen- und Außenräumen, von räumlichen Relationen zwischen Dingen oder Personen, es sind Angaben, die sich bestens für ein Nachmessen und Nachprüfen ihrer Richtigkeit eignen. All die fehlerfreien, übergenauen Informationen über den vorhandenen Bestand sind aber, so mein Eindruck als Leser, von Robbe-Grillet als Indiziensammlungen, als Vorratswissen, als Ansammlungen von belastendem Material zusammengetragen worden, auf das beim Verfassen einer Anklage jederzeit zurückgegriffen werden könnte. Dies verdankt sich weniger dem drastischen Inhalt mancher Romanhandlungen samt ermittelnden Agenten und Kommissaren, vielmehr ist es die verstohlene, konspirative Vorgehensweise eines Beobachters, der zum Überwacher von privaten Aufenthaltsorten wurde, die er wie belastete Beobachtungszonen behandelt und dem ich deshalb den Rang eines Observanten zugesprochen habe. Die unter Beobachtung stehenden Objekte und die oft gewaltsamen Ereignisse, setzt Robbe-Grillet in abgegrenzte Szenenausschnitte ein, in vorbereitete Raumszenerien, die manchmal benachbart sind, manchmal aber räumlich weit voneinander entfernt liegen. Die Morphologie, die Alain Robbe-Grillet einführt, stellt alles unter das Primat der optischen Wahrnehmung, wobei er einzelne Fragmente des Beobachteten auf einzelne Bildfragmente aufzeichnet, auf Bruchstücke, die man, vorausgesetzt es gäbe eine Betrachtungsdistanz, simultan wahrnehmen könnte; so sieht man aber das Fragment eines Vorgangs, das man im Bewußtsein behält, neben einem anderen, in seiner Paßform nicht dazugehörenden Fragment einer anderen Gedächtnisspur. In ein und derselben Textfolge wird in Form von

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cloisonnés eine Handlung auf mehrere abgegrenzte Flächen verteilt. Das Ergebnis ist eine Zersplitterung des Handlungsablaufs, eine vollständige Beschreibung von Details zwar, die nichts ausläßt, die aber an der Bruchlinie eines Handlungsfragments endet und an das benachbarte Fragment nicht anpaßbar ist. In manchen Texten werden Bestandteile von Häusern und deren Umgebungen mathematisierend aufgezählt, klassifiziert und inventarisiert und ihre räumlichen Relationen werden auf eine Weise geometrisch erfaßt, die ich als eine besondere Form der Architekturbetrachtung sehe: Im Roman Die Jalousie oder die Eifersucht10 gibt es beispielsweise mehrere Textabschnitte, in denen die sich verändernden Positionen und die Form des Schattens, den ein Stützpfeiler wirft, beschrieben werden. Die Beschreibung des Schattens, seiner augenblicklichen Lage, verstehe ich als eine Aufforderung, über die Geometrie des Schattenwurfs zur Gestalt des Formteils, der ihn verursacht, zu gelangen. Architekturbeschreibungen zählen üblicherweise die Merkmale auf, die zu den primären Eigenschaften der Architektur gehören, sei es die Form der Einzelteile, die Art, wie sie zusammengefügt sind, oder die für einen Bau typischen Flächenanordnungen etc., während das drauffallende Licht, das sich als Licht- und Schattentextur an den tektonisch bewegten Oberflächen entfaltet, nur als sekundärer Faktor angesehen wird. Eine Beschreibung, welche die gewohnte Betrachtung umkehrt und aufzeigt, daß anhand eines unstabilen, flüchtigen Phänomens auf die stabile, konstante Form, die es hervorbringt, rückgeschlossen werden kann, weist auf eine wesentliche Möglichkeit der Architekturbetrachtung hin: nicht die Architekturform selbst, sondern die Ereignisse, die sie bedingt, sind wahrzunehmen, seien es Handlungen, die in ihr stattfinden, seien es optische Sensationen, für die sie Formen und Oberflächen bereitstellt. Indem man die Abläufe der Ereignisse betrachtet, kann man etwas über die Strukturen erfahren, die diese Ereignisse verursachen, und erkennen, in welchem Kausalitätsverhältnis sie zueinander stehen.

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Vor vielen Jahren habe ich mir für die Lektüre der Jalousie zwei Buchexemplare besorgt: in einem habe ich alle Textpassagen unterstrichen, in denen vorübergehende Ereignisse, Vorfälle im Haus oder ein Wandel von Texturen an seinen Wänden stattfinden; im zweiten Buch vermerkte ich die Bestandteile des Hauses, welche diese momentanen Phänomene verursachen oder die Handlungsweisen von Personen bestimmen. Diese gefilterten Informationen sind damals zum Ausgangsmaterial für eine größere Werkgruppe mit dem Titel Texttreue 11 geworden, die aus axonometrischen Reliefs und einer Reihe von Zeichnungen besteht, mit deren Hilfe ich ein Modell des im Roman beschriebenen Hauses aufgebaut habe. Es blieb mir nichts anderes übrig, denn als kontrollierender Beobachter wollte ich mir all die unterbrochenen, unvollendeten und trotz aller Beschreibungspräzision im Detail unzureichend dargebotenen Informationen zu einer für mich verständlichen Synopsis ordnen, mir dadurch mehr Übersicht über das Haus und über die Bedingungen, unter denen darin die Ereignisse stattfinden, verschaffen. Der Autor, der nur einige ausgewählte Szenerien beobachtet hat, hat diese von anderen Bereichen getrennt, in denen ebenfalls Ereignisse stattfanden. Das hatte zur Folge, daß ich als Leser beanstanden konnte, der Autor hätte zwar präzise, aber unvollständig berichtet, ich konnte nicht die Einsicht aufbringen, daß gerade diese und nicht andere, zweifellos vorhandene, aber unerwähnte Objekte durch Aufmerksamkeit ausgezeichnet wurden. Deshalb wollte ich die fehlenden Einsichten in das Haus ergänzen und zugleich das fragmentarisch Erzählte entwirren, die auf zersplitterte Szenenfragmente verteilte Handlung wollte ich zusammenfügen und die der Erzählung unterlegte Struktur freilegen − all das waren damals Gründe, mir ein Modell des im Roman beschriebenen Hauses anzufertigen. Ich brauchte nur systematisch, induktiv vorzugehen, die Teilelemente des Hauses solange zu formen, bis sie den im Buch protokollierten Angaben zu ihrer Form und zu ihrer Lage entsprachen. Dann konnte ich sie, kumulativ, wie die Steine eines Baukastens, zum

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ganzen Haus zusammenstellen. Allein über einen der im Roman erwähnten Räume gibt es vierunddreißig, auf neunzehn Buchseiten fragmentarisch verteilte Informationen, die man mit den Kommentaren zu den anderen Räumen und Objekten kombinieren kann, damit allmählich die Struktur des gesamten Gebäudes entsteht. Das Modell sollte mir all die Einblicke und Perspektiven gewähren, die mir im Roman verweigert wurden; ich sollte alle Objektteile in unterschiedliche Raumlagen bringen können und sie von vielen weiteren Positionen aus, nicht nur von denen, die im Buch vorgegeben waren, beobachtbar machen. Heute würde ich es anders sehen: Durch die Übertragung der Textvorlage in ein dreidimensionales Übersichtsmodell wurden Situationen, die im literarischen Medium mehrdeutig waren, in einer eindeutigen Form zum Erstarren gebracht. Die in hohem Grad offene Struktur der Romanhandlung, deren Bruchstücke ich mir kaleidoskopisch verändern und zu immer neuen Vorstellungsbildern habe imaginieren können, diese Struktur habe ich in einem einzigen, nicht variierbaren Modellbild geschlossen. Als Kinder haben wir uns für den Austausch geheimer Botschaften einen Chiffrierungs-Code angefertigt: eine Schablone aus kariertem Papier, in dem in unregelmäßigen Abständen kleine Quadrate ausgeschnitten waren, in die einzelne Buchstaben eines Satzes eingetragen werden konnten. Für die Schreibung eines Fließtextes wurde die Schablone nach vorher vereinbarten Regeln wiederholte Male um eine Zeile verschoben oder um neunzig Grad gedreht. Von der Schablone gab es ein Exemplar für den Absender und eines für den Empfänger der Nachricht. Ohne sie war es unserer Überzeugung nach unmöglich, den Inhalt der Nachricht zu entziffern. Ein uneingeweihter Leser, der bloß eine Ansammlung von Buchstaben in einem wirren Aggregatzustand sah, war außerstande, deren Gliederung und sinnvolle Reihung vorzunehmen. Die Verfertigungsmethode der Texte von Robbe-Grillet erinnert mich an das Prinzip dieses Chiffrierungsbehelfs. Dem System einer solchen Schablone, die sich zwischen den

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Betrachter und das Objekt stellt, die aufdeckt und zudeckt, diesem Gewähren oder Nichtgewähren von Auskunft, dieser Beschränkung von Wahrnehmungsmöglichkeiten bei versperrter Sicht, der vorsätzlichen Behinderung der Beobachtung auch von Architektur und den unzureichenden Observationen von Ereignissen, die in ihr stattfinden, den bloß fragmentarischen Beschreibungen, welche die Kluft zwischen dem Vermuteten und dem Wirklichen hervorheben − dem allem entspricht auch Alain Robbe-Grillets Poetik, der ich mich, im Moment und aus Anlaß des Verfassens dieses Beitrags, wieder gerne unterwerfen will.

1

Alain Robbe-Grillet, Projekt für eine Revolution in New York, Hanser, München 1971, S. 23.

2

Wesentliche Informationen zum Problem der Wahrnehmung von verborgenen Flächen und versperrter Sicht siehe James J. Gibson, Wahrnehmung und Umwelt, Urban & Schwarzenberg, München–Wien–Baltimore 1982.

3

Diese außerordentliche Situation der optischen Wahrnehmung würde der Versuchsanordnung in einem wahrnehmungspsychologischen Labor gleichen, in dem mittels eines Tachistoskops die Wahrnehmungs- und Merkfähigkeiten von Versuchspersonen gemessen werden. Mit diesem optischen Instrument wird ein neugieriges oder gleichgültiges Auge stimuliert, indem man ihm Wahrnehmungsmaterial systematisch variierend und zeitlich begrenzt, darbietet. Gemessen wird unter anderem, wie es von einem flüchtigen Eindruck einer optischen Information bis zum genauen Verständnis des fragmentarisch angebotenen Gegenstands oder Ereignisses kommt.

4

Gibson, Wahrnehmung und Umwelt, a.a. O.

5

Ebd.

6

Rudolf Arnheim, „Inside and Outside of Architecture“ (1965), in: ders., The Split and the

7

Ebd.

8

Viktor von Weizsäcker, Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Be-

Structure, University of California Press, Berkeley 1996.

wegen, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1997 9

Hans-Hennig Glitza, Observation. Praxisleitfaden für private und behördliche Ermittlungen, Richard Boorberg, Stuttgart 2005.

10 Alain Robbe-Grillet, Die Jalousie oder die Eifersucht, Philipp Reclam, Stuttgart 1966. 11 František Lesák, Texttreue. Notizen zum Thema Beobachtung und Beschreibung eines Hauses in einem Roman (1997), s. auch in diesem Buch S. 47–61.

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Befehlsräume Über die Einsamkeit eines Massenturners Es ist richtig, daß man sich in die Einsamkeit zurückziehen muß, wenn man eine große Leistung vollbringen will. Dabei handelt es sich aber nicht um einen für alle Zeiten entscheidenden Schritt, sondern um eine Durchgangsstufe, die zur Sammlung notwendig ist und die nicht von der Gemeinschaft wegführt, sondern der Gemeinschaft als neuer Impuls zugute kommt …

Raum des Antretens Hier verharrt er nun, sein Körper, der kleinste Teil einer aus tausenden solcher Körper zusammengesetzten Manövriermasse. Er ist wie alle anderen, welche die unübersehbare Körpermenge bilden, mit der gleichen Nahrung gefüllt, die ihm vorhin als Verpflegung verabreicht wurde. Mit einer Nahrung, die unter Anweisung des Gesundheitsministeriums nach solchen Kriterien zusammengestellt wurde, daß alle Anforderungen, die an eine ausgiebige und gesunde Ernährung gestellt werden, erfüllt wurden. Nach dem Erreichen seines Markierungspunktes auf dem Turnplatz hatte jeder ruhig auf seinem Platz zu bleiben … Seit einem Jahr, seitdem die Vorbereitungen für diesen Auftritt begonnen haben, ist er nur ein „ Jeder“, seit einem Jahr bewegt er sich in irgendeinem Befehlsraum unterschiedlicher Rangord nung. Der erste in dieser Hierarchie von Räumen war der Turnsaal seiner Schule in einem weit entfernten Ort. Dort wurde, von politischen Gesprächen auf der Turnmatte ergänzt, mit dem Einüben

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der Komposition Sei bereit zur Arbeit und zur Verteidigung der Heimat begonnen. Die Turnlehrer und Turnlehrerinnen übernahmen die vom Staat verteilten Instruktionen und Schallplatten mit Begleitmusik. Tausendfach begannen sich in den dafür vorgesehenen Stunden im ganzen Land die Plattenspieler zu drehen, es ertönte Musik, es erklangen die vertonten Verse. Dort hatte seine Karriere eines substituierbaren Elements, für das in der tausendköpfigen Gesamtformation ein bestimmter Platz vorgesehen war, angefangen. Geographisch lagen die Vorbereitungsräume weit voneinander entfernt und vom künftigen Zentrum der Ereignisse disloziert, waren aber zum Zwecke ihrer nahenden Zusammenführung strukturell auf Unterordnung und Addition zu einem großen Ganzen angelegt und mit enormer zentripetaler Kraft, also zum finalen Zentrum hin, ausgestattet. An Größe nahmen die vorbereitenden Befehlsräume nach und nach zu, strukturell hatten sie sich jedoch nicht verändert. Sie wurden nach dem Prinzip einer einfachen Rasterung strukturiert, wobei die Größe einer Rasterzelle dem minimalen Aktionsraum eines Turnkörpers mit allen Reserven für die Lageveränderungen des Rumpfes und der Extremitäten entsprach. Die maximale Ausnutzung des Aktionsraumes in der vertikalen Richtung wurde bei Hochgleichhalte mit Schlußsprung erreicht, die horizontale Richtung mit Seitenhalte oder Standwaage vorlings ausgeschöpft. Die unterschiedlichen Körpergrößen der Turner in den einzelnen Kategorien − ob Kinder, Nachwuchs oder Erwachsene − wurde bei der Bemessung des jeweiligen Aktionsraumes berücksichtigt. Eine zweite, das räumliche Geschehen komplizierende Strukturstufe wurde dann aktiviert, wenn der Turnkörper eine lokomotorische Bewegung auszuführen hatte, wenn das Suffix „-wärts“ ins Spiel kam und der Körper sich an die Tätigkeit des sich Vorwärts- und Rückwärts, des Links- oder des Rechts-seitwärts-Bewegens machte. Hier kam die ganze Rasterstruktur, das gewaltige Strukturnetz, aus ihren

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(in ihrer finalen Form: siebzehntausend) Einzelpartikeln gebildet, in Bewegung − unter Beibehaltung der Stabilität in ihren Knotenpunkten zog sie bei jeder der „-wärts“-Bewegungen mit, nach rechts-vorwärts oder rückwärts, nach rechts-seitwärts sowieso, gab dem Turnkörper fortwährend „Raum für Bewegung“ frei, indem sie ihn in seiner Bestrebung, „Raum durch Bewegung“ zu gewinnen, unterstützte und nachgab. Es formierte sich ein komplexes Raumgebilde, dessen Struktur von den Aktivitäten der einzelnen leiberzogenen Körper bestimmt war, voll komplizierter strukturaler Beziehungen, potentiell für jede Verschachtelung der einzelnen Raumpartikel geeignet. Die Komplexität dieser Raumstruktur war unabhängig von ihrer Größe, sie war bereits durch die zahlenmäßig kleinste Gruppe von Turnern vorgegeben; bereits im kleinen Turnsaal wirkte sie als Beziehungsnetz, als minimaler Detailausschnitt war sie in die künftige Megastruktur nahtlos implantierbar. Die materiellen Zeichen dieser latenten Struktur waren, neben den konstituierenden bewegten Körpergliedern, die am Boden aufgetragenen Markierungen − feste Punkte, Basen, auf die sich der turnende Körper zurückziehen konnte respektive zurückzuziehen hatte oder von denen aus seine Ausfälle in den Raum ihren Ausgang nahmen. Der Markierungspunkt war ein wichtiger Bestandteil eines Befehls, ein essentielles, zur Gründung einer Befehlsstruktur notwendiges Element. Eine Markierung ist ein visuelles Gebot, das − wie in diesem Fall − mit einem akustischen Befehl gekoppelt sein kann. Sobald der Turner die „richtige“ Markierung, „seinen“ Punkt, erkannte, achtete er darauf, sie so rasch wie möglich zu erreichen und beidbeinig stehend zu besetzen. Von der Markierung aus, in Schritten, die ihm eingehämmert worden waren und deren Reihenfolge und Anzahl er memorierte: zwei Ausfallschritte vorwärts, rechts beginnt; Wechselschritt links-seitwärts; zwei Schritte rückwärts, rechts beginnt …, wurde er innerhalb seines Territoriums aktiv, dessen Mitte durch die

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Bodenmarkierung gekennzeichnet war und das ihm niemand streitig machen konnte. Und auch nicht wollte, denn innerhalb der Ordnungsstruktur hatten alle ihren eigenen Bezugspunkt zugewiesen bekommen, von dem aus jeder, in der Zwangslage eines Befehlsempfängers, sein eigenes Gebiet körperlich-sportlich zu verwalten hatte. Mehrmals ist der Turner während des Vorbereitungsjahres auf die nächste Stufe der Raumhierarchie aufgestiegen, unter Mitnahme des schützenden privaten Einzelraums, der ihn isolierte und gegen die Kontaminierung durch Vermassung abschirmte: von der Einübung im Turnsaal im Rahmen einer Schulklasse, über die Auswahl innerhalb aller Klassen der ganzen Schule, zum weitergehenden Wettbewerb aller Schulen des Ortes − jedesmal fand eine Auswahl statt, ein Wettbewerb unter den körperlich besser ausgestatteten Exemplaren seiner Gattung und den minder gelungenen und motorisch weniger begabten. Auf diese Weise hatte er unterwegs so manchen vertrauten Nebenmann und Vordermann verloren, bis zum Massenturnen in den Bezirks- und Kreisstadien, wo ihm weitere abhanden kamen, Elementen der Mengenlehre gleich, durch andere Einheitselemente ersetzt. Daran hatte er sich bereits gewöhnen müssen, daß der benachbarte Körper schon lange nicht mehr seinem Schulfreund gehörte, daß der befreundete Körper den Aufstieg zur Bezirksspartakiade nicht geschafft hatte, und er war froh, sich innerhalb der unsichtbaren Wände seines Körperraums separieren zu können. Neben ihm stand nun ein völlig fremdes Bein, dem, obwohl dessen Einstudierung der vorgeschriebenen Bewegungen am anderem Ende des Landes stattgefunden hatte, die Synchronisierung der Bewegungen zur Musik, jeder Ansatz genauso gelingen würde wie seinem eigenen Bein. Für die Vorstrukturierung der Ereignisse am Feld der Massen hatte man weitere, vorgelagerte Befehlsräume geschaffen, wovon der erstgereihte der Umkleideplatz war.

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Der Weg zum Stadion begann am Eingang in das Garderobenareal. Beim Tor zu den Umkleidebaracken mußte man sich mit einem Garderobenschein ausweisen, den man gut aufzubewahren hatte, denn ohne ihn würde man weder in das Garderobenareal noch in die Umkleidebaracken eingelassen werden. Die Umkleidebaracken waren dreistöckige hölzerne Gebäude, jeweils mit eigenem Eingang für jedes Stockwerk, wobei der ganze Weg − Stockwerke, Abteile und schließlich der an einem Balken befestigte Kleiderhaken − mit arabischen und römischen Zahlen durchnumeriert war. Wieder Markierungspunkte, wieder eine genaue Platzzuweisung innerhalb der immens großen Räume, wieder wurde an ihn gedacht, wieder war etwas bereits vor ihm, für ihn da, eine latente, omnipräsente Blockwart-Struktur hatte sich schon lange ausgebreitet, bevor er davon überhaupt etwas ahnen konnte. Für diesen Augenblick war vorgesehen, daß gerade er und dieser mit einer arabischen Zahl versehene Kleiderhaken, daß sie beide zusammengehörten. Es kam der Zeitpunkt, an dem der vorhandene Vorrat an dressierten Körpern in unifizierende Sportkleidung zu stecken war. Der Turnanzug mußte genau den Vorschriften des jeweiligen Abschnitts entsprechen. Zum Turnanzug gehörten nicht: Armbanduhr, Armband. Halskettchen usw. Jeder Turner trug an der Turnbekleidung ein Schild mit der Angabe seiner Herkunft. Daß er ab jetzt keine Klunker tragen durfte, störte ihn wenig, Knaben in den fünfziger Jahren hielten nichts davon, auch eine Uhr besaß er nicht, wie er überhaupt seinen Mangel an äußeren distinktiven Merkmalen in der Kleidung nicht als solchen empfand, während das einzig Individuelle, das ihm wichtig war: sein Haarschnitt, das sollte nicht einer Norm entsprechend angeglichen werden. Das zeitweise Aufgeben der persönlichen Identität in der Schule, während der Chorskandierungen von Gedichten, mit voraussehbarem

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psychischen Druck auf den Einzelnen, die ständig geforderte Unterordnung unter die Befehlsstruktur eines Kollektivs, einer Menge − gegen den äußeren Uniformismus, den der Staat verordnet und mit Sanktionen durchgesetzt hatte −, konnte er, der seine Individualität nicht in einer Gruppe aufgeben wollte, wenig ausrichten, und nach den Dressurerfahrungen der vergangenen Monate nahm er die einheitliche Einkleidung in einen sommerlichen Sportanzug, bestehend aus roter Turnhose und weißem Leibchen, auch schon leidend hin. Der angestrebten Nivellierung und Gruppenuniformität kam dabei die ähnliche Körpergröße aller handelnden Personen, das gleiche Alter und Geschlecht entgegen, dennoch war die Wirkung der Uniformierung, der Gleichmachung der Körper durch die gleiche Bekleidung, sehr deutlich im Moment des Ablegens derselben sichtbar, wenn keine idealen Normkörper zum Vorschein kamen, sondern durchaus individuell verschiedene, wenig gelungene Körperexemplare. In eine Sportdreß gesteckt, wurde er dem Typus seiner Gruppe angeglichen und unterschied sich ab nun nicht nur von zivilen Personen, sondern auch von den Angehörigen anderer Turnergruppen. Äußerlich gekennzeichnet, aus einem Unterscheidbaren zu einem ununterscheidbaren Glied einer siebzehntausendköpfigen Formation geworden, hatte er sich jetzt, den Befehlen aus den Lautsprechern gehorchend, zum nächsten Befehlsraum zu begeben. Das Anreihen zu den Übungen begann bereits in den Umkleideräumen. Aus diesem Grund hatte man sich am zugewiesenem Platz vor seinem Kleiderhaken aufzuhalten, auf die Durchsage wartend, die das Anreihen an der Garderobenrampe einleitete. In der vorgeschriebenen Grundformation wurde man vom Leiter dieser Einheit auf die vorgesehene Stelle am Sammelplatz geführt. Das war das letzte Mal, daß er den vertrauten Anführer sah. Mit der Höherstufung in der Raumhierarchie wurde auch die Rangordnung der Befehlshaber neu festgelegt. Die Leitfunktion des

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Anführers aus seinem Heimatbezirk endete hier, die Schwelle des Befehlsraums Sammelplatz konnte der nicht mehr betreten. Am Sammelplatz wurden aus den einzelnen Formationen Reihenkörper gebildet, hier wurde die Leitung von einem, durch eine Armbinde gekennzeichneten Zugsführer übernommen, von hier aus wurden die Züge auf den „Hauptaufmarschplatz“ geführt. So wurde ein betonierter Platz genannt, der auf das Eingangstor, das „Tor der Turner“, gerichtet war. In diesen Raum wurden nach und nach die einzelnen Züge von den Sammelplätzen hingeleitet, um sich zu den finalen Formationen von großen Zügen zusammenzuschließen. Es war der Ort der endgültigen Reihung vor dem Einmarsch in das Stadion. Die Befehlsarbeit hier besorgte mittels Lautsprechern der oberste Einmarschführer und er besorgte sie von einem Befehlsstand aus unter Assistenz untergeordneter Abschnittsführer. Mit dem Verschwinden seines Anführers verschwand auch die gewohnte Leitfigur, an der er sich bisher hatte orientieren können, er, das austauschbare Element, das bis zuletzt ersetzt werden konnte, er hatte es geschafft, den Sammelplatz zu erreichen, sein Anführer nicht. Er merkte jedoch bald, daß er auch ohne ihn funktionieren würde, denn er erkannte, daß auch der neue Befehlsraum ähnlich jenen aufgebaut war, in denen er sich bisher betätigt hatte. Primäre Eigenschaften, die ihm stets abverlangt worden waren, hatten auch hier Geltung: Aufmerksamkeit und rasche Entschlußfähigkeit (immer den Leiter beobachten und nicht mit den Gedanken woanders sein). […] Rasche, geschmeidige Ausführung aller Befehle, kein Drängeln, keine unschönen Körperbewegungen wie wackelnder Gang … Das waren Erwartungen, die er seit einem Jahr erfolgreich erfüllt hatte, in einer Atmosphäre, wo die Selbstdisziplin der Übenden unabdingbare Voraussetzung gewesen war aktiv zu sein, daran hatte er sich gewöhnt. In der Vorbereitungszeit hatte er gelernt, auf einen

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Befehl, der ein Zuruf ist, auf den hin alle Ordnungsübungen ausgeführt wurden, scharf zu achten, und war jetzt froh gelernt zu haben, daß ein Befehl in der Regel aus zwei Teilen bestand: dem ersten, die Übung ankündigenden oder erklärenden − langsam und deutlich zu sprechenden −, und dem zweiten, der Ausführung; er war es gewohnt, daß die Befehle anfeuernd und lebendig erteilt wurden, denn ein müder Befehl würde eine ebensolche Übungsausführung erzeugen. Dennoch war ihm bange, handelte sich doch um eine neue Situation in der Raumorientierung, auf die er nicht vorbereitet war; theoretisch hatte man sie zwar durchgenommen, doch praktisch hatte sie nur in kleinem Modell eingeübt werden können. Am Sammelplatz gab es keine Markierungen, hier waren die eigenen Körper zu Ordnungspunkten geworden, es ging um das Anschließen an die richtigen Nachbarskörper, die man bisher nicht gekannt hatte, um das Andocken an einen Körper aus Praha zur linken, und an einen anderen aus der achthundert Kilometer entfernten Stadt Košice zur rechten Seite. Die richtigen Körper als Anschlußstellen waren rechtzeitig zu erkennen, und das unter einem psychischen Druck, weil der mitgeführte schützende Raumkasten des eigenen Körpers in dieser Phase vorübergehend umgebaut werden mußte − die Bedingungen hatten sich schlagartig geändert und er sollte Mann eng neben Mann und hintereinander gereiht stehen. Es war der bisher kleinste Raum, eine neue, verdichtete Raumform, die ihm nun zur Verfügung stand. Der oberste Einmarschführer am Befehlsstand konnte sich auf die Vorarbeit der nun außer Dienst gestellten Vorturner und Übungsleiter der niederen Dienstränge verlassen. Sie waren es, die wußten, daß es unmöglich war, mit disziplinlosen Massen Gemeinschaftsübungen oder größere Demonstrationen durchzuführen, und sie hatten in den vergangenen Monaten die nötigen Ordnungsbewegungen eingeübt, sie wußten, daß der Wert der Ordnungsübungen in der Tatsache zu suchen war, daß nur durch sie größere und auch kleinere Scharen

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Übender zum Zwecke der rationellen Ausführung von Leibesübungen geordnet bewegt werden konnten. Das erste Mal wurde die Grundstruktur der Körpermassen hier, auf dem Appellplatz, aufgebaut, wurde hier aus Einzelelementen eine wandelbare, topologisch variable Kollektivform zusammengestellt. Diese hatte bewegliche Gelenke, der innere Aufbau sicherte ihr ein hohes Maß an Elastizität, als temporäres, kinetisches Objekt konnte sie sich im Raum entwickeln. Der Turner, innerhalb der engen Grenzen des eigenen Körperraums frei beweglich, von allen Seiten den anderen, verdichtet gelagerten Körpern zugeordnet, war bereit, jeden zu annektierenden Raum in kollektiver Handlungsweise zu besetzen. Die Bewegungsgruppe − eine aus Tausenden einzelnen Körperräumen zusammengesetzte Raumform − war zum Sonderraum Marschformation geworden. Noch standen sie unbewegt da, bereit, sich nach einem Einmarschplan in Bewegung zu setzen. Sein Körper war dafür vorgesehen, dieselben Raumaufgaben zu erfüllen wie Tausende andere auch − die Verantwortung für einen minimalen Raumabschnitt zu übernehmen und innerhalb der Marschformation zu helfen, neu entstandene Räume ständig zu verschieben, aufzulösen, um sie in einer intensiven Dichte anderswo zu konstituieren. Auf Befehl hin schritten die Turner nach vorn, durchschritten das Tor der Turner und begannen die Turnfläche zu füllen. Sie hatten mit erhobenem Kopf zu marschieren, energisch und elastisch, mit Stolz, daß jeder von ihnen Teil des großen Kollektivs war, das die Kraft des arbeitenden Volkes darstellte und das für den dauerhaften Weltfrieden und für das Glück der ganzen Menschheit kämpfte. Die Einmärsche ins Stadion gehörten zu den am meisten bewunderten Übungen der Spartakiade und ihre Komposition war das Ergebnis einer langen und aufopferungsvollen Arbeit. Sie konnten nur dann gelingen, wenn die Turner die erteilten Anweisungen befolgten. Vom Eintritt durch das Tor der

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Turner an hatte man in Habtachtstellung zu marschieren. Man mußte sich voll auf seine Aufgabe konzentrieren. Man durfte sich nicht unterhalten, hatte sich nicht das Haar zu ordnen. Der Zuschauer würde jede zusätzliche Bewegung sehen und sie würde den ganzen Auftritt verderben. Man hatte sich nicht auf den Tribünen umzuschauen, hatte nicht nach Bekannten Ausschau zu halten − man würde sie in der Menge gar nicht erkennen. Auf dem Turnplatz hatte man mit hundertzwanzig Schritten pro Minute zu marschieren. Man hatte in gerader Richtung zu gehen bis zu der Stelle, die als Richtungsänderung gekennzeichnet war. Man hatte sich, um die gerade Richtung einzuhalten, an einem festen Punkt zu orientieren, einem Mast beispielsweise, den man mit dem Blick fixieren sollte, während man hoch über die Köpfe der Turner schaute. Sollten die vorangehenden Turner von der Richtung abgewichen sein, so durfte man ihnen nicht folgen, sondern hatte den Fehler zu korrigieren. Beim Durchführen einer Schwenkung während des Marsches bildete jeder Flügelmann, der sich an der Innenseite der Reihe befand, die Drehachse und sollte knapp neben der Markierungsfahne mit dem Schwenk beginnen. Beim Schwenken sollte der innere Flügelmann im gekürzten Schritt marschieren, nie jedoch zurückschreiten, das hätte das Entstehen einer „Beule“ zur Folge gehabt. Der schwenkende Flügelmann sollte so schreiten, daß sich seine Stirnfront immer mit der Stirnfront der ganzen Reihe der Turner deckte, die sich um ihn drehte − auf diese Weise sollten sich die einzelnen Reihen fächerförmig um die Drehachse der Flügelmänner bewegen. Und damit bereits das erste visuelle Symbol bilden. In der Marschformation wurden die einzelnen Körper einem Flügelmann eindeutig zugeordnet, jeder einzelne als Symbol lesbar, eine Reihe von ihnen als ein anderes Symbol, viele Reihen wieder ein neues Symbol, die gesamte Menge nochmals als ein eigenes Symbol lesbar. Alles in einer für den Zuschauer komponierten Sprache der Symbole.

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Raum des Auftretens Nun steht er vorschriftsmäßig, in der anbefohlenen Körperhaltung da. Die Grundstellung ist aufrechte Haltung, die auf den Befehl „Achtung“ eingenommen wird. Die Füße stehen dabei ganz so, wie es ihr anatomischer Bau erheischt. Fersen und gestreckte Beine sollen geschlossen sein. Der Oberköper ruht senkrecht auf den Beinen, der Kopf sitzt frei und senkrecht auf den Schultern. Nicht Nase hoch! Die Arme hängen leicht gebeugt an den Seiten des Körpers. Die Finger sind geschlossen, die Daumenseite der Hände berührt den Oberschenkel, die Kleinfingerseite zeigt nach hinten. So steht sein Körper auf der markierten Parzelle, aus der Marschformation ist eine neue, über die volle Stadionfläche gleichmäßig verteilte Kollektivform geworden. Mitten drin er, der Singular, der in die plurale Form der Gemeinschaft eingefügt, in eine Großform eingebaut ist, die von den planenden Führern nach einer kompositorischen Methode der Gruppenbildung erdacht war. Jeder der Turner ist in seinem eigenen Skelettraum eingeschlossen, die Geometrie seiner Knochen und Gelenke hat sich aus den vorgegebenen Bewegungen entwickelt, jede Körperhaltung ist nicht irgendeine Haltung, sondern eine von vielen vorgeschriebenen Posen, die er einzunehmen hat. Jeder hat die Lage seiner Gliedmaßen zu kontrollieren, die Winkel seiner Gelenke in Beziehung zu den Winkeln aller Gelenke einzustellen, um wechselnde geometrische Muster aus sich ändernden Körperstellungen und Übergangsbewegungen zu bilden. So wird er als Bauteil in ein System eingegliedert, das durch die Gruppierung der Elemente ein abwechselnd statisches oder dynamisches Gesamtbild entstehen läßt. Alle siebzehntausend turnenden Körper haben sich im Raum untereinander koordiniert, haben ihre Ansprüche auf

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den ihnen zustehenden Raumbedarf angemeldet, haben ihre individuellen, ihnen gehörenden Aktionsräume fixiert. Daß es bei einer Absteckung eines Minimalterritoriums bleibt und daß es zu keinen aggressiven Exzessen von raumhungrigen Turnkörpern kommt, dafür sorgen die disziplinierenden Maßnahmen. Das Vorhaben muß gelingen, denn die Voraussetzungen dafür waren leicht zu erfüllen. Wenn das Stück ausschließlich vom genauen Befolgen und vom ausgebliebenen Nichtbefolgen von Regieanweisungen handelt, wenn die Bereitschaft der handelnden Personen sich zu fügen, mit welchen Mitteln sie auch erreicht wurde, uneingeschränkt ins Kalkül gezogen werden konnte, und wenn der einzige Inhalt der Aufführung ein Bild einer vollständigen Unterordnung, einer „all over structure“ der ausgeführten Bewegungsbefehle war, dann hat es gereicht, günstige Bedingungen für das Gehorchen, für das sich Unterordnen zu schaffen, und ein fehlerfreies Abwickeln der Vorstellung konnte vonstatten gehen. Disziplin war der Inhalt des Stücks und das Handlungspersonal war im allerhöchsten Maße diszipliniert − es verkörperte Zucht und Ordnung. Die Menschenansammlung von Als-ob-Sportlern ist zur Erfüllung eines speziellen Zwecks entworfen worden. Das ideologische Programm − in kurzer Zeit eine Menschenmasse mobilisieren und jederzeit eine imposante Demonstration des Gehorsams veranstalten zu können −, dieser massenhafte Auftritt von zählbaren Individuen, bekommt in dem abgegrenzten Raum der Stadionfläche seine formale Entsprechung: Einzelteile werden zu Tausenden auf einem Grundplan zusammengesetzt und in Bewegung gebracht. Dieser Raum hat nicht nur die − wenn auch nur potentiell gegebene − Zählbarkeit der Elemente begünstigt, sondern wird, als begrenztes Aktionsfeld, ein optimaler Zwangsrahmen für die übersichtliche Vorführung von Zuchtmaßnahmen an Massen. Der Einzelne hat eine Auswirkung auf die zugrunde liegende Ordnung nur insoweit, als daß er numerisch unterscheidbar und als unterscheidbares Element unter das pathetisch beeindruckende Ganze

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subsumierbar ist. Das Ordnungssystem ist geschlossen, nicht auf Wachstum angelegt und in seiner räumlichen Struktur durch die einzelnen individuellen Körper, die in ihren Einzelräumen abgeschlossen sind, bedingt. Im Massenturnen der Spartakiade kommen abgezählte, zahlenmäßig begrenzte Einheiten zum Einsatz, deren Anzahl nicht kleiner oder größer wird. Die Raumzelle, der Raumblock eines Einzelturners ergibt ein Volumen, das für die Gesamtformation bestimmend ist. Seine minimalen Abmessungen bilden unangreifbare, nicht mehr zu verkleinernde Grenzen. Die verschachtelten Einzelräume schieben sich während jeder Positionsänderung reibungslos nebeneinander her. Der Turner hat sich seit einem Jahr im Koexistieren in der Masse geübt, hat versucht, den ihm bemessenen Körperraum so zu verwalten, daß er im Kollektiv, diesem dynamischen Feld, einerseits keinen größeren seelischen Schaden erlitt, anderseits seiner Aufgabe, sich als abhängige Variable in eine vorgegebene Ordnung zu fügen, gerecht wurde. Die dabei zu verrichtende körperliche Arbeit war physisch anspruchsvoll, aber sobald sie zur eingeübten Routine geworden war, war sie einfach zu erledigen. So kann er nun den ihm zugewiesenen Auftrag − auf seinem Planquadrat des monumentalen Grundrißplans die vorgeschriebenen Bewegungen auszuführen − genauestens und vorschriftsmäßig erfüllen und damit seinen Beitrag zur dynamischen Ausgewogenheit der Formation leisten. Wie einem Blinden, fehlt ihm der Blick in die Ferne, die Weite existiert für ihn nicht, die sichere Welt endet in der unmittelbaren räumlichen Sphäre vor ihm. Seit einem Jahr hatte man ihm den Ausblick entzogen, hatte ihn in einen Souterrainraum der Befehle beordert, von dem aus man keine freie Sicht hatte. Jetzt ist er in seinem Isolationsraum eingeschlossen, seine Finger fahren, wie es die Übung vorschrieb, nach innen abgewinkelt, entlang seines Meßraums. Er hat

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eine für ihn günstige Lage in der Mitte der Kollektivform beziehen können, der Zufall hatte sie ihm verschafft, ohne daß er es sich hätte ausrechnen können, als Mitglied der dreiundzwanzigsten Gruppe, durch die Einreihung dem zweiundachtzigsten Zug zugeordnet zu werden, so daß er im Stadion an der Bodenmarkierung zu stehen gekommen war, die zugleich die Stadionmitte bezeichnet. Die Bodenmarkierungen hatten als Kontrollpunkte verhindert, daß sich die Strukturglieder zu weit voneinander entfernten oder zu nahe gerieten. Mit ihrer Hilfe wurden tausendmal vervielfachte Räume für spezialisierte Bewegungen konstituiert. Damit gab es im Raum jedes einzelnen Turners fest verankerte Punkte, die zu Drehpunkten einer Körperstelle, zum Beispiel der Ferse, werden konnten, so daß die Bestandteile der ganzen Formation ähnlich den Zahnrädern einer Maschine um ihre eigene Achse rotierten, aber an derselben Stelle bleiben konnten. Die Erdoberfläche wurde zur künstlich geschaffenen Bodenfläche, zu einer grafisch gegliederten Strukturierungshilfe veredelt, damit die einzelnen Turner von einer in eine andere Parzelle gleiten und sich samt den sie umschließenden Isolationsräumen räumlich neu verteilen konnten. Die Schallplattenmusik, deren Klänge schon während der Zeit des monatelangen Einübens die Koordinierungsfunktion hatten, empfängt der Turner jetzt aus Lautsprechern, die im Boden des Stadions eingelassen sind − der führende, der befehlende Musikklang kommt von unten, spricht zu ihm vor seinen Füßen. Seinem sich ausschließlich kinästhetisch selbstwahrnehmenden Turnkörper hätte sich, einem Blinden gleich, der Raum mittels Geräuschen weit erschließen können, wenn ihn nicht zugleich die Bodenlautsprecher an einem Punkt festhalten würden und wenn sich seine geometrischen Vorstöße in den Raum nicht auf solch eng begrenztes Territorium zu beschränken hätten. So fängt er, durch die akustischen Berührungsstellen mit dem Boden verbunden, an, zu den

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Klängen der vertrauten Musik die eingeübten Bewegungen auszuführen. In jedem Gruppenrhythmus wirkte eine rhythmische Ansteckung, die die Unsicheren mitnahm und mitzog, bis sich der rhythmische Ablauf automatisiert hatte. Die Ansteckung durch den Gruppenrhythmus half vor allem in den Störungszeiten des individuellen Rhythmus; wenn bei erhöhtem Anspruchsniveau und verminderter Bewegungsbeherrschung das Üben, bei dem man sich allen Blicken ausgesetzt fühlte, zur Qual wurde, half das Miteinander in der Gruppe und ihr gemeinsamer Rhythmus, die entwicklungsbedingten Hemmungen zu überspielen. Man hatte die Musik zu verfolgen und sich auf den eigentlichen Beginn der Übung zu konzentrieren, man hatte sich nicht die Kleidung zu richten oder sich die verschmutzten Knie zu putzen. Sollte jemandem nebenan schlecht werden oder sollte jemand ohnmächtig werden, so sollte man das nicht beachten und weiter turnen. Von ihm brauchte man erst gar nicht verlangen, daß er so tun sollte, als hätte er nichts bemerkt, weil er überhaupt nicht imstande war, ein ungewöhnliches Ereignis zu bemerken, war doch in seiner Wahrnehmungssphäre, in die er nichts Zusätzliches eindringen ließ, nur für das Wesentlichste Platz. Sein Wahrnehmungsfeld bildete eine komplizierte Umgebung aus unzähligen Extremitäten, ein Dickicht aus Oberschenkeln und Unterschenkeln, aus Armen und Händen, aus Rümpfen und aus Nacken. Zu den benachbarten Isolationsräumen unterhielt er keinen Kontakt, ähnlich einer Beziehung zu einem Raumnachbarn der üblichen Art. Er war an einem Kontakt nicht interessiert, er vermied ihn, unterband ihn von Anfang an. Obgleich das Geschehen in den anliegenden Räumen für sein Verhalten maßgeblich war, gab es ihm doch die erforderlichen Impulse zum nachahmenden Handeln und zum Ausführen von zu imitierenden Bewegungen, so wurde das Geschehen in diesen Räumen von ihm

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nicht „persönlich“ betrachtet, sondern distanziert, wie im Zustand schwersten Autismus, als wären die Abgrenzungen zu den Nachbarräumen zwar aus durchsichtigem, aber undurchdringlichem Material. Umgeben von Bestandteilen eines komplizierten Mechanismus, dessen Teil er selbst war, von Körperteilen in ständig sich ändernden Stellungen, nach denen er sich automatisch richtete. Da aber das ganze Geschehen automatisiert und strukturell mehrfach abgesichert war, so hätte er den Ausfall eines benachbarten Körpers gar nicht bemerkt, denn für ihn wäre die Anwesenheit der restlichen angrenzenden Apparate als strukturierende Hilfe ausreichend, und wenn auch diese ausgefallen wären, aus Gründen des Indisponiertseins, einer Schwäche, eines Ohnmachtsanfalls oder eines plötzlichen Todes, so hätte er keine Irritation gespürt, denn hinter den zu Boden gefallenen Nachbarskörpern hätte sich ihm die Sicht geöffnet, hätte sich das Sehfeld zu den nächsten Körperräumen geweitet, an denen er seine Bewegungen synchronisiert hätte. Nur das − und das war nicht wenig − gehörte in seine Wahrnehmungssphäre, und andere Informationen konnte er nicht mit einbeziehen, denn über eine periphere Wahrnehmung in Reserve verfügte er nicht. Unpassende Ereignisse bewußt zu übersehen, das hätte ihm eine zusätzliche Anstrengung abverlangt, da hätte er eine Mehrarbeit verrichten müssen − die Rolle des Als-ob-Gleichgültigen, des Als-ob-nichts-Bemerkenden zu spielen. Er mußte also nicht ermahnt werden, denn für etwas Außergewöhnliches hätte er gar nicht die Wahrnehmungskapazität gehabt. In der Gesamtplanung der Massenerziehung war vorgesehen, für die gewaltigen Ansammlungen einen großen Raum zu schaffen, welcher der Anforderung gerecht werden sollte: nach dem Prinzip der maximalen visuellen Dichte gefüllt zu werden, bei gleichzeitiger Gewährleistung einer noch möglichen Bewegung einzelner Körper. Gebaut wurde auf dem Strahov-Berg das seinerzeit größte Turn- und

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Sportübungsfeld der Welt, ein Einzweckgerät nur für das Massenturnen anwendbar, sechs Hektar groß, mit Tribünen für zweihunderttausend Zuschauer. Die Größe des Stadions war durch den Wunsch bestimmt, alles zeigen zu können, was man hatte, über welche rekrutierbaren Menschenmengen man verfügte. Zugleich sollte auf der großen Stadionfläche die Menschenmasse in einer Dichte vorgeführt werden, die sie als unter Spannung stehendes Kraftfeld erscheinen ließ und die nicht zu einem schütteren, von zunehmender Entropie bedrohten, geschwächten Gebilde werden durfte. Das Strukturnetz sollte aus diesem Grund nicht zu locker geknüpft, die Zwischenräume nicht überdehnt, aber auch nicht zu engmaschig sein, denn eine zu dichte Packung, eine zu enge Körperlagerung hätte die Bewegungsfunktionen beeinträchtigt. So hatte sich die Menschenansammlung in ihrer Dichte dem ihr zur Verfügung stehenden Raum anzupassen und zu einer zweckorientierten Agglomeration bewegter Elemente zu werden. Die spezialisierte Form des Stadions bestand aus zwei Bereichen − einem größeren und einem kleineren Raum. Man betrat entweder den äußeren Mantel des Zuschauerraums und wurde zum Glied einer Masse von zweihunderttausend Menschen oder man fiel gemeinsam mit siebzehntausend anderen Aktivisten in den inneren Kern ein. Im Zwischenbereich befand sich niemand, der eine relevante Funktion im ganzen Geschehen gehabt hätte. Die Bewegungsempfindungen des Turners aus seiner Innenperspektive, die verblieben während der Aufführung bei ihm, während die Bewegungsbeschreibungen von der Außenperspektive aus an den Zuschauer delegiert wurden. Einer der zweihunderttausend im Stadion versammelten Menschen wurde dem einzelnen Turner zugeteilt, ein sitzender Betrachter, der alsbald vom absichtslosen Zuschauen zum genauen Beobachten wechselte. Der Turner wußte, daß er jetzt seinen Zuschauer hatte, wenn ihm auch, genau dividiert,

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zwölf von den zweihunderttausend Zuschauern zufielen, die sich den gesamten Stadionraum beobachtend eingeteilt hatten. Daß er einen eigenen Zuschauer erhalten würde, damit hatte er gerechnet, es wäre auch außergewöhnlich gewesen, wenn er hier nicht unter Beobachtung gestanden wäre, während sich sein ganzes ziviles Leben ausschließlich in beobachteten Gebieten vollzog. Was er nicht einschätzen konnte war, daß es sich um eine andere Art der Beobachtung handeln würde. Sie galt zwar ihm, dem Zielobjekt, das im Beobachtungsraum auszumachen war, nur vollzog sie sich nicht wie üblich distanziert protokollierend, sondern intensiv selbstteilnehmend. Der Zuschauer kann nicht anders, er kann nicht gegen seine Zuschauerveranlagung handeln; von Anfang an, seit der Invasion der Turner in das Stadion, will er mitschwingen, will infolge des „Carpenter-Effekts“, des unbewußten Nachahmens, alle wahrgenommenen Bewegungen mitvollziehen. Als sitzender Zuschauer kann er es nur bei wenigen Bewegungsabläufen tun, in die meisten kann er sich nur durch Bewegungsvorstellungen hineinversetzen und sie bloß ideomotorisch mitmachen. Doch mittun will und muß er, in voller Intensität spätestens nun, da die Musik erklingt und die Herrschaft des Gruppenrhythmus angebrochen ist. Zunächst will er sich zurückhalten, sein Fachwechsel vom Zuschauer zum spezialisierten, auf einen Turner abgestellten Beobachter hat ihn, so ist er instruiert worden ist, zum emotionsfreien Protokollieren der Ereignisse verpflichtet. Eine Zurückhaltung ist aber unmöglich, wenn vor ihm auf der Stadionfläche derart dynamisch gehandelt und bewegt wird − da muß er antworten, mit Antwortbewegungen reagieren, muß das Begegnungsangebot der Aktivistensektion annehmen wollen. Der Rhythmus, mit dem die Turner ihre Bewegungsanweisung erhalten, hat sich als Rhythmusdoktrin infektiös auf den Zuschauer übertragen. Aus den Lautsprechern tönend, kann er sich ihm nicht wider-

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setzen, weshalb die Wirkung des Musikeinsatzes auf ihn und für seine Funktion fatal ist: im Augenblick des Ergriffen-Werdens hat er seine singuläre Position des Einzelbeobachters eingebüßt und wird ein Teil der unübersehbaren Masse von Kollektivbeobachtern, die sich gemeinsam mit den Bewegungsaktivisten dem programmierten Bewegungsrhythmus hingeben. Die Hingabe war ein Teil des Kalküls, mit dem die anfeuernde Musik zur Steigerung der Leistungsbereitschaft der Turner und zur Integration der Zuschauer eingesetzt wurde − auf der Ebene des gemeinsamen Verständnisses für das pathetische Geschehen sollte es zu einer Durchdringung des Wahrnehmungsraums und des Aktionsraums kommen. Es wurde berechnet, welche Reizstärken, Reizkombinationen und Reizdauer zu optimaler Mitziehbarkeit, zum besten Erfolg der Beeinflussung führten. Optische Reize mit akustischen Verstärkungen erhöhten die Veränderungen im Sinne des Mitziehens, die gewählte Ordnungsform förderte die rhythmische Ansteckung. Noch aus anderen Gründen war das Zuschauerkollektiv für Gruppenrhythmen empfänglich und temperiert, war es doch in dieser Zeit der arbeitsnormbrechenden Kampagnen geübt, im rhythmischen Nebeneinander mehrerer Individuen einen gemeinsamen Rhythmus des Bewegens herauszubilden, wobei das Gesamttempo der Gruppe von der Gruppenzusammensetzung, das hieß, von dem persönlichen Tempo der führenden Gruppenglieder abhängig war; das hatte ihnen der Held der Arbeit, Aleksej Stachanov, vorgemacht, es war dem Einzelnen gezeigt worden, wie man Monotonie der gleichmäßigen Bewegungen, diesen geschlossenen Vorgang, mitreißend bezwingt. Die Arbeiter empfanden den automatischen Einsatz, der mit Entlastung des Willens und einer gewissen Freistellung der Aufmerksamkeit verbunden war, als angenehm. Man sprach von einem psychischen Trägheitsmoment. Mit zunehmender Konstanz wuchs beim Arbeiter im Bewegungsablauf der Eindruck des Leichten und Angenehmen.

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Die Wirkung der Einzelleistung eines isolierten Turners auf einen einzelnen Zuschauer unterschied sich von der Wirkung der Darbietung einer Kollektivform, die an ein Zuschauerkollektiv adressiert war. Und so wie sich im Aktionsraum der Stadionfläche die Isolationsräume der Einzelkörper zu einem riesigen Raumkörper addierten, so agglomerierten auch die Wahrnehmungsräume der isolierten Zuschauer zu einer übergroßen Form. Der Zuschauer leistete hier eine verantwortungsvolle öffentliche Arbeit, sein Arbeitsauftrag sollte sich allerdings während der Vorführung wandeln: beginnend mit der Beobachtung eines kleinen, ihm zugeteilten Raumabschnitts, wurde seine Tätigkeit mit der Nobilitierung zum mittätigen Überblicker des gesamten Areals gekrönt. Er sollte alles andere als ausgeschlossen werden; vorgesehen war, daß er, ideologisch imprägniert, in das Dargestellte so verwickelt wurde, daß er als verständiger Abnehmer der räumlich-visuellen Strategien im Bildraum des Stadions und als Miterzeuger der kraftgebenden Atmosphäre an der Vollendung der vor ihm hergestellten Panneaux vivants mitwirken würde. Im Zuschauerraum hatte man die symbolischen Bilder, die sich auf der Stadionfläche im ständigen Entstehen und im Umformen zu neuen Gestalten bildeten, richtig zu lesen verstanden, man wußte, welchen Stellenwert die Körperdressur bei der Bilderherstellung hatte. Man berief sich dabei auf die von Marx genial vorausgesehene Menschenbildung in der von Ausbeutung befreiten Gesellschaft, wo außer der geistigen Erziehung und der polytechnischen Ausbildung als drittes die körperliche Erziehung, wie sie in den gymnastischen Schulen und durch militärische Übungen erfolgte, verstanden wurde. Viele der Zuschauer hatten selbst an Fabriks- und Gesundheitsspartakiaden teilgenommen und wußten, was man von den auf der Stadionfläche übenden Jungkörpern im Ernstfall unter anderem verlangen konnte: eine 700 Gramm schwere Handgranate 35 Meter weit zu schleudern …; deshalb sahen sie den Turnplatz als Symbol

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mannschaftlicher Erziehung, als Leistung der Turnlehrer, die ihre Mannschaften hinter sich wußten, keine papierene Turnerei, sondern Bewährung als echte Mannschaften, die ihren Ausgangspunkt vom Politischen nahm. Ihren politischen Sinn erfüllten die Übungen erst unter dem Gesetz der Gemeinschaft. Sie wandten sich nicht mehr an den Leib des Einzelnen, sondern an den Leib als Teil des Volksleibes und Träger der Kraft des Volkes. Allerdings übten nebeneinander, in der Menge der Turner, ein politisch Überzeugter neben einem Nicht-Überzeugten, es bildete sich ein unechtes Gemenge von ununterscheidbaren Elementen, wobei alle dieselben Bewegungen ausführten − die einen politisch positiv motiviert, die anderen ohne diese Motivation. Die Massenszenen waren unter anderem Verfahren zum Vermessen von Räumen, und der Zuschauer, der bei der Verwandlung der leeren Raumvolumina in angefüllte Massevolumina von Anfang an zugegen war und die Invasion des Stadions durch die anmarschierenden Turner, die mit ihren Körpern die gesamte Grundfläche dicht belegten, erlebte, konnte es für Operationen zur Feststellung von extensionalen und relationalen Eigenschaften des Stadionraums halten. Die Laufrichtungen der einzelnen aufgereihten Körper bestimmten die Orientierung der ganzen Formation. Das Verhältnis von freien Zwischenräumen und Turnkörpern war überall ausgeglichen, kein Bereich war hervorgehoben. Es gab keinen Gegensatz von Zentrum und Peripherie. Die Körperformationen wurden aus bewährten symbolisch-pathetischen Formen gebildet zugunsten eines einheitlichen, leicht porösen Massevolumens. Dessen strukturelle Durchlässigkeit ließ ausreichend Raumvolumina, funktional bedingte Leerräume eindringen und an der Bildung der Formation Anteil haben. Diese war bis zu ihren Begrenzungskanten hin homogen, überall herrschte eine gleichmäßige Dichte. Auf die zugrunde liegende Struktur wurde man durch die Bewegungen aufmerksam, durch die sichtbar gewordenen Beziehungen von Glied zu Glied

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einer formbaren Verbindung, deren Zusammenziehen oder Dehnen, Drehen oder Wölben. Der Zuschauer machte die Erfahrung, daß die Struktur regenerativ war, daß sie sich immer wieder verändern, aber durch die Wiederherstellung ursprünglicher Konfigurationen, durch die Wiederkehr bereits gesehener Bilder, aufs neue regenerieren konnte. Die Übung mußte wie ein Kunstwerk, eine Synthese sein. Reichhaltig sollte sie sein, zusammenhängend und ausdrucksstark, sollte das Bewußtsein und die Freude an der ausgeführten Bewegung erhöhen […] Um das zu erreichen, mußte Kontrast und Überraschung innerhalb eines Schemas von Kontinuität, Progression und Erfüllung entwickelt werden, und zwar auf verschiedenen Ebenen strukturiert in Hinblick auf Unterbrechung, auf Umkehrung und Wiederholung des Erlebens …

Raum des Abtretens Eine besondere Zuschauerklasse bildeten Funktionäre der höchsten Führung, die den Titel „Die Mitglieder“ trugen. Ihre Herrschaft über die von ihnen errichteten Befehlsräume hatten sie im ganzen Staat bislang aus der Entfernung ausgeübt, im Stadion walteten sie unmittelbar, von einem prominenten Platz auf der Tribüne der Mitglieder aus. In der nach ihren Direktiven zusammengestellten Gesamtdarbietung sollte die Vitalität und Wehrtüchtigkeit der neuen Gesellschaft zum Ausdruck gebracht werden. Das Massenturnen bot die Möglichkeit, wenigstens temporär das zustande zu bringen, was allgemein politisch angestrebt wurde − kleinformatige Elemente einer Gesellschaft in einer monumentalen Kollektivform zusammenzufassen. Die politischen Aspekte hatten nicht durch Parolen betont zu werden, sondern durch den Massenumfang und durch die Qualität der Veranstaltung.

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Dem Einzelnen hatte man seine individuelle Ausprägung abgewöhnt, man hatte ihn in seiner Funktion des austauschbaren Elements einer einheitlichen Sozialstruktur vorgeführt. In der Vorbereitungszeit wurde an der Figur des Turners deshalb so intensiv montiert, daß er, wenn er gemeinsam mit den anderen zur unübersehbaren Menge auf der Stadionfläche aufgeforstet wurde, ferngelenkt und fehlerfrei dem Ordnungssystem als Veranschaulichung des perfekten Unterordnungssystems verhalf. Die besondere Raumform des Stadions wurde durch besondere Handlungen strukturiert; in einem begrenzten Raum, in dem es keine Fluktuation der Elemente gab, wo nichts Neues hinzukommen oder etwas entfernt werden konnte, konnte man jetzt, da unter Beobachtung gestellt, die Ergebnisse des vorbereitenden Hantierens an den Turnkörpern in idealer Form kontrollieren. Es war sichtbar geworden, in welcher Weise die vorgegebene Raumstruktur die Proportionen der Massenstruktur bestimmen konnte und welche Möglichkeiten des Wechsels, der Umstellung, der Permutation insgesamt gegeben waren. Ein Raum zum Herbeiführen von verschiedenen Zuständen der Massenstruktur war aufgestellt und ein Raum zum Überblicken der unterschiedlichen Zustände war bereitgestellt worden. Den Mitgliedern wurde bestätigt, daß eine autoritäre Struktur dermaßen bindend und für das Verhalten der Einzelelemente bestimmend war, daß diese keine Variationsmöglichkeiten − die Verwendung anders geformter oder anders gelagerter Elemente − zulassen würde. Gemeinsam mit ihnen konnte sich jeder Zuschauer davon überzeugen, daß eine Anomalie in der Lagerung oder im Verhalten eines Elements eine Störung im Strukturbild verursachen und bei einer Häufung der Abweichungen eine Zersetzung des strukturalen Charakters eingeleitet würde. Abgerichtet waren sie, jedoch nicht alle waren auch sportliche Turnkörper, für manche bedeutete die Durchführung der Übung eine starke physische Belastung.

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Für den Turner ist jetzt höchste Zeit für ein Finale: Es verläßt ihn allmählich die Wurfkraft und die Stützkraft, es schwindet auch die Sprung- und Stoßkraft, nur Reste der Beugekraft sind noch vorhanden. Es turnt nur mehr ein Torso. Der Rumpf ist noch willig, die Extremitäten nicht mehr. Zu diesem Zeitpunkt hätte sich das ganze Massevolumen mangels zugeführter Energie aufzulösen begonnen. Die Ordnung als vorübergehender Zustand der Materie wäre dem Entropie-Gesetz folgend, ins Chaos geraten. Der kompakte, geschlossene Körper aus Körpern, der während der Übung als ein gesammeltes, konzentriert bewegtes Ganzes in den Raum ausgegriffen hatte, mußte, nachdem er seine Aufgabe am Übungsfeld erfüllt hatte, noch bevor sich Anzeichen vom Nachlassen der Energie zeigten, planmäßig evakuiert werden. Die Turner beendeten die Übung eingereiht in drei Blöcke, die in der Breite je dreiundfünfzig und in der Tiefe je hundertsechs Personen zählten. Man hatte seine Aufmerksamkeit auf die Kommandobrücke zu richten, von wo Befehle zum Abtreten erteilt wurden. Auf ein Zeichen führten alle Züge zunächst eine ganze Drehung in Richtung Haupttribüne aus, dann folgte eine Drehung in Richtung Tribüne der Mitglieder. Auf ein Zeichen zum Abgang marschierte ein Teil der Züge gerade auf die Abmarschtore zu, ein Teil drehte sich im erforderlichen Winkel in Richtung Abmarschtor neben der Haupttribüne und vom mit Fahnen markierten Durchlaß schritt er, in schräger Richtung den Übungsplatz querend, auf die Abmarschtore in den Stadionecken zu. Beim Abtreten galten dieselben Grundsätze wie bei Antreten. Man hatte auf Zuschauergrüße nicht zu antworten und man hatte in Habtachtstellung zu marschieren. Erst beim Eintritt in das Abmarschtor konnte man den Zuschauern durch Zuwinken antworten. Während die Übung Sei bereit zur Arbeit und zur Verteidigung der Heimat zu Ende war und der Zuschauer sich bereits auf den nächsten

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Auftritt vorbereitete, auf die Darbietung Schulter an Schulter mit arbeitendem Volk, bewachen wir den Weg nach vorwärts, die ihn in den nächsten Minuten ins Staunen versetzen sollte, war der Turner, gerade noch bei der disziplinierten Leerung des Raumvolumens des Stadions mittätig, noch lange nicht frei beweglich. Noch immer nicht aus dem kontrollierten Territorium entkommen, hatte er weitere Befehlsräume zu durchlaufen. Hinter dem Turnplatz marschierte man weiter in geordneter Formation, bis zur Rückkehr in die Umkleideräume. Man ließ sich nicht zum unorganisierten Abgang hinreißen. Man hatte zu beachten, daß sich auf den Sammel- und Aufmarschplätzen Turner für den nächsten Auftritt reihten und daß man durch undiszipliniertes Verhalten deren Vorbereitung gestört hätte. Deshalb ging man auf zugewiesenen Wegen ab und kreuzte nicht unnötigerweise Aufmarschplätze, die mit vorbereiteten Turnern gefüllt waren. In die Umkleideräume zurückgekehrt, kam der Zeitpunkt, an dem man die Uniform wieder gegen zivile Kleidung einzutauschen hatte. Jetzt wäre man frei gewesen und hätte sich in unbeaufsichtigten Räumen bewegen können, wenn man sich nicht auf dem Sammelplatz zur gemeinsamen Abfahrt einzufinden gehabt hätte. Das zahlenmäßig riesengroße Propagandainstrument wurde in transportable Einheiten zerlegt und an die Ursprungsorte versendet. Jeder Landkreis hatte aus den Turnleitern einen Reiseleiter zu bestimmen, dem der Anführer einer zweiunddreißig Personen zählenden Rotte eine Anwesenheitsmeldung zu machen hatte. Eine Gepäckskontrolle war sorgfältig durchzuführen, niemandem wurde gestattet, anstelle des befohlenen Rucksacks einen − als unpassend empfundenen − Koffer mitzunehmen. Die Reiseleiter hatten die strategisch günstige Position am Waggoneinstieg und -ausstieg einzunehmen, um eine wirksame Beaufsichtigung zu sichern und ein undiszipliniertes Verhalten sowie das Verlassen des Waggons zu unterbinden. Während der Fahrt hatte man Volks- und Aufbaulieder zu singen und es hatte Fröhlichkeit

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zu herrschen. Die Reise war lang und sollte nicht langweilig sein. Deshalb war dem Einüben geeigneter Lieder Aufmerksamkeit zu widmen und es war ein Vorsingen ausgewählter Einzelner vorzusehen. Überall sollte die Bevölkerung erkennen, daß die Jugend, die unterwegs war, eine lustige, temperamentvolle, aber anständige Jugend war. Den Turnern bot sich die Gelegenheit, die Anerkennung und Bewunderung einer breiten Öffentlichkeit zu gewinnen. In fünf Jahren würde der Turner wieder in den überwachten Transporträumen unterwegs sein, erneut würde ihm über lange Zeit, in der er in Dienst gestellt war, seine Freiheit entzogen werden. Sein Körper würde als Material für neue geometrisierte Bewegungsallegorien eingesetzt werden, zum gemeinsamen Erledigen einer körperlich politischen Arbeit abgestellt, zur genauen Durchführung mechanischer Akte, zu deutlich vorgetragenen Gesten, die als politisch begründete Haltungen ablesbar gemacht wären. Der Raum des Stadions, der nie neutral gewesen, sondern als Raum politischer Absichten konzipiert worden war, würde dann, gleichzeitig mit der Aktivierung der abrufbaren Reserven an Körpern, für die Massenauftritte wieder bereitgestellt sein. Inmitten der Stadionfläche würde er, der tausendfach vervielfältigte Einzelne, die diktierten Bewegungen chorisch ausführen, mit all den anderen, die, ob sie wollten oder nicht, mit ihm gemeinsam würden spielen müssen. Er würde in den Raum des Stadions hingestellt werden, um dort alle empfangenen Befehle auszuführen, er würde wieder ein „ Jeder“ sein, würde nicht die Hand heben können, um jemandes Willkommensgruß zu erwidern, und später würde er, ohne jemandem Lebewohl zu sagen, den Raum wieder verlassen …

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Verwendete Literatur Christoph Becker, Die Entwicklung der Sportmethodik im Sportunterricht unter besonderer Berücksichtigung des Musikeinsatzes, Peter Lang, Frankfurt/M.–Wien u. a., 2002. Georg Benedix, Der Ratgeber für angehende Vorturner und Vorturnerinnen, Arbeiter-Turnverlag, Leipzig 1927. Clemens Czwalina, Der Beitrag der Leibesübungen und des Sports zur politischen Erziehung, Czwalina, Ahrensburg bei Hamburg 1970. Johannes Dannheuser / Arno Kreher, Zur Methodik einer politischen Leibeserziehung, Limpert, Berlin 1937. Erhard Drenkow / Paul Marschner, Körperliche Grundausbildung in der sozialistischen Schule, Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR, Volk und Wissen, Berlin 1975. Friedrich Fetz, Grundbegriffe der Bewegungslehre der Leibesübungen, Wilhelm Limpert, Frankfurt/M. 1969. Friedrich Fetz, „Biomechanische Aspekte des Bewegungsrhythmus“, in: Gymnastik Rhythmus Musik. Wissenschaftliche Beiträge und Programm des Salzburger Gymnastik-Kongresses 1970, Salzburg 1970. James J. Gibson, Die Sinne und der Prozeß der Wahrnehmung, Hans Huber, Bern–Stuttgart– Wien 1973. Ruth Heß, Terminologie Rhythmische Sportgymnastik, Sportverlag, Berlin 1983. Sabine Meck, Das Verhältnis von Arbeit und Körperkultur in der Sowjetunion, Peter Lang, Frankfurt/M.–Wien u. a. 1986. Vlastimil Michalička, Pokyny pro muže a ženy cvičící na I. celostátní spartakiádě, Praha 1955. Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter-Partei/Reichsjugendführung, Pimpf im Dienst, Voggenreiter, Potsdam 1938. Václav Seliger, Výzkum fyziologické náročnosti skladeb hromadných vystoupení na československé spartakiádě 1975, ÚV ČSTV, Praha 1978. Annemarie Seybold, „Der Rhythmus als Prinzip der Leibeserziehung“, in: Gymnastik Rhythmus Musik. Wissenschaftliche Beiträge und Programm des Salzburger Gymnastik-Kongresses 1970, Salzburg 1970. Technické pokyny I. Komise I. celostátní spartakiády 1955 při ministerstvu školství, Praha 1955.

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raumdeutsch

äußerer raum • raumkultur • unterirdischer raum • raumvorstellung • poetik des raumes • raumsinn • ofenraum • raum des hasses • von der einbildungskraft erfaßter raum • raum des glücks • mit hilfe des raumes • raum speichert verdichtete zeit • polarisierter raum • raum der einsamkeit • gepriesene räume • raum geben • bilder des glücklichen raumes • raum der intimität • indifferenter raum • raum des kampfes • topoanalyse der räume • raumstudie • strahlenraum • raumboutique • anschauungsraum • raumverteidigung • gegenraum • raumkonzertartig • musealer raum • raum als niederschlag • markierung des raumes • raumbewegung • heller raum • raumwiege • atmender raum • raum in bewegung • problem des raumes • raum verlebendigen • musik im raum • raum als aktuelle spannung • klang im raum • raumszenerie • tonraum • raumstadt • aufteilung der räume • raummodul • hörraum • raum in dem sich objekte profilieren • spürraum • raum als zeitgestalt • gekneteter raum • raum mannigfaltiger entzweigungen • durchdrungener raum • raum des krankenhauses • wogender raum • raumangebot • bewegter raum • raumwunder • zuckender raum • raumbildung • langsamer raum • raum der projektion • flackerraum • raumhoch • beharrlicher raum • raum in seiner reinheit • klangraum • raumbetrachter • rhythmusraum • raumüberlegung • gesetzfreier raum • raumverkleinerung • totaler raum • raumpunkt • besitzergreifung des raumes • raumbuchplan • konvexer raum • raumansprüche • aristotelischer raum • raumvergrößerung • stadtraum • raum kann sich weiten • erlebensraum • raumwelt • harter raum • raumerzeugungsspray • denkraum • raumort • zuendegehender raum • raumhaft • zuendegedachter raum • raum umfaßt alles • kainzraum • raumverlauf • anwesenheit von raum • raum ist nicht helligkeit • stellung im

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raum • raum breitet sich aus • sichtbarer raum • raum der unbegrenzten möglichkeiten • materialität des raumes • raumzahm • gegliederter raum • raum ist nicht farbe • vorgegebener raum • raum der feindseligkeit • negativraum • raumfachwerk • volk ohne raum • raum der transparenz • vielheiten im raum • raumkunst • flächiger raum • raum ist inbegriff der ausdehnung • die tiefe blokkiert den raum • raumkommission • bestimmtheit im raum • raum läßt alles ohne beschränkung sich anordnen • verhältnis zum raum • raumnot • waldraum • raum kann befreien • letztlich ist alles im raum • raumneurotisch • abstandsreihen im raum • raum läßt alles sich frei bewegen • übungen im raum • raum ist nicht materie • allgemeiner raum • raumtendenz • anordnung im raum • raum des betrachters • räumlicher raum • raum kann beschwingen • publizierter raum • raumhandlungen • übermacht des raumes • raum ist nebeneinander • sehraum • raumsystem • gewünschter raum • raumordnend • krieg ohne raum • raumdiagonale • aktivitätsraum • raum steht im äußersten gegensatz zum punkt • durchlaufener raum • raumzersplitterung • in rufweite befindlicher raum • raum wahrnehmen • unmedialisierter raum • raum läßt sich nicht definieren • handlungsräume • raumschiff • magischer raum • raum ist untereinander • funktionsraum • raumland • illusionsraum • raum teilen • bühnenraum • raum für frustrationen • luftraum • raum begrenzter möglichkeiten • dynamisierung des raumes • raumfangend • bauraum • raumverträglichkeitsprüfung • kolonalisierung des raumes • raum tastend erobern • lebensraum • raum für permanente kreativität • weltraum • raumlosigkeit • bewegungsraum • raummißbrauch • erzeuger von raum • raum ist hintereinander • surrealistischer raum • raumentwurf • n-dimensionaler raum • raum und zeit sind in der welt • wirklicher raum • raumverklammerung • packraum • raumkeile • angemessener raum • raum von der plastik aufgezehrt • adäquater raum • raumschwaden • schutzraum • raumwert • polyvalenter

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raum • raum als eine quantita continua, physica triplici dimensione constans • funktionaler raum • raummessung • inszenierter raum • raumfordernd • großzügiger raum • raumzone • geistiger raum • raummodell • depotraum • raum als ergebnis der bildform • kulturraum • raumdehnung • ausstellungsraum • raum ist übereinander • asiatischer raum • raum läßt sich nicht konkret demonstrieren • vortragsraum • raumerscheinung • freiwerden von räumen • raum ist symbol für das unbekannte • nebenraum • raumstimmung • neuer raum • raum in dem sich objekte transformieren • umbauter raum • raumdunkel • unbebauter raum • raumstruktur • seminarraum • raumfahrt • schauraum • raum interpretieren • distanz im raum • raumdeutung • körperschrift im raum • raummangel • physischer raum • raum bekommen • irrationaler raum • raum der welt • kubischer raum • raumprinzip • bewegung im raum • raumornament • imaginärer raum • räumliche strahlung • konkreter raum • raumplastisch • begrenzter raum • raumgruppe • begrenzender raum • raumbegrenzung • spezialraum • raumdefinierend • billardraum • raumprogramm • schlafraum • raummitte • stille im raum • raumecke • schwenk des raumes • raum der innenecke • straßenraum • raumgrenze • systemraum • raumachse • doppeltbesetzter raum • raum des kunstwerks • ausrichtung des raumes • raum mit bewußtsein durchtränkt • codierung des raumes • raum öffnen • abstrakter raum • raum freilegen • weniger raum • raumkünstler • rand des raumes • raumidee • ausformung des raumes • raumzeichen • körperraum • raumweite • ich und raum • raumkurve • bewußtwerden des raumes • raumarbeit • eingeschlossener raum • raumzeichnung • künstlicher raum • raumrichtung • nicht näher bestimmter raum • raumplastik • realer raum • raumkonstruktion • außenraum • raumkörper • linien im raum • raumdeutsch • umgebender raum • raumgefühl • umschlossener raum • raum darstellen • prounenraum • raum schaffen • ausdruck des raumes • raumerzeugung • kahl gehaltener

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raum • raumkontraste • schaffen im raum • raumgleichung • existenz im raum • raumphantasie • nachmeßbarer raum • raumnegation • weben des plastischen raumes • raumbegriff • anonymität des raumes • raumkontinuum • wohlproportionierter raum • raumbehandlung • bildraum • raumillusion • buchstäblicher raum • raumausschnitt • meßbarer raum • raumorganisation • freiraum • raumbemalungsidee • funktionsfreier raum • raumproblematik • körper im raum • raumbezug • konstruieren im raum • raumquantum • gestalt im raum • raum als statisches prinzip • elemente im raum • raum als gestaltbares medium • idealer raum • raumoffenheit • kleiner raum • raumschale • vorhandener raum • raumpotenz • eigener raum • raumbezogenheit • diskontinuität des raumes • raumbedeutung • üblicher raum • raum als medium • abstraktion des raumes • raumschacht • nahraum • raumquantität • konstituierung des raumes • raumteile • affektraum • raumbeschaffenheit • erfahrung des raumes • raum in schichten zugelassen • verhalten zum raum • raumrechnung • tiefraum • raumabschließend • gestaltung des raumes • raumstück • enfaltung des raumes • raumtiefe • bewegung des raumes • raum allseitig geöffnet • bestimmung des raumes • raum erobern • dinge im raum • raumbrocken • unendlicher raum • raumgebilde • freier raum • raumhöhle • architektur des raumes • raumschicht • ungenutzter raum • raum und sprache • kunstraum • raum der repräsentation • flächen im raum • raum der analyse • eindringen des raumes • raumbesessenheit • relevanter raum • raum der dinge • erstellter raum • raum der worte • umrißraum • raum haben • empfindlichkeit gegen den raum • raum der lebenwesen • abgeschlossenheit gegen den raum • raum des denkens • tiefenräumlich • raum der filitationen • kategorie des raumes • raumlos • wirkung des raumes • räume anhäufen • kern des raumes • raumwiedergabe • in die dunkelzone eindringender raum • raumfigur • bezugspunkte für den raum • raumbruch • saalraum • raum

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auslöschen • nischenraum • raum der vergangenheit • ausgreifen in den raum • raumzeit • quergelegter raum • raumangelegenheit • spielraum • raum wird zur metapher • ausgefüllter raum • raumchip • manchem fehlt es an raum • raumsignifikante • vorstellung des raumes • raum als chip • druck des raumes • raumerfahrung • variationsraum • raumauffassung • topologischer raum • raum als zeiterfahrung • eindeutiger raum • raum als entfernung • ort des raumes • raumstrecke • selber raum • raum als zeitdauer • transkribieren im raum • raumkrieg • irreduzibler raum • raumerlebnis • kohärenter raum • raum und kraft • menschlicher raum • raumwirkung • fundamentaler raum • raumlinie • triumphieren über den raum • raum wird zur realen größe • eröffneter raum • raum als bezugssystem • monotonie des raumes • raumwunsch • rhetorischer raum • raumbeherrschung • simultaner raum • raumerfassung • durch den raum • raumeinnahme • einziger raum • raumbesetzung • heiliger raum • raumwissenschaft • irrealer raum • raumindividuum • entfaltung im raum • raum gewähren • sein raum • raum freimachen • zweidimensionaler raum • raumwahr • rätselhafter raum • raumgrund • kontinuität des raumes • raumintervall • gemeinsamer raum • raumwahrheit • geschlossener raum • raumbewußtsein • historischer raum • raumproblem • jener raum • raumferne • offener raum • raum als prius • schmaler raum • raumschatten • unser raum • raummasse • zwischenraum • raumandeutung • filmraum • raumrepertoire • mehr raum • raumzentrum • punkt im raum • raumkomposition • diversifizierung des raumes • raumeindruck • unzureichender raum • raumverwaltung • kontrollraum • raumzuweisung • außerhalb des raumes • raumzahl • wände des raumes • raumbedarfsmodell • tatsachenraum • raumdatei • faserraum • raumzuwachs • grassmannraum • raumforderung • andere räume • raumbestand • riemannraum • raumwahrnehmung • semiotisierung des raumes • raumausstattung • realsystem des raumes • raum für entwerfen

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• versprachlichung des raumes • raumkapsel • makroraum • raumbeziehung • einbruch in den raum • raum für das planen • zeitgemäßer raum • raumparasit • natürlicher raum • raumladung • elektronischer raum • raummaß • beschleunigung des raumes • raumwelle • kunst des raumes • raumgitter • großraum • raumkubikmeter • zeichenraum • raumschmarotzer • mikroraum • raummeter • transformation des raumes • raumgleiter • entkörperlichter raum • raumordnung • entmaterialisierter raum • rauminhalt • moderner raum • raumsonde • unermeßlicher raum • raumfressend • beherrscher des raumes • raumplakat • verfügbarkeit von raum • raum zum riechen • verschwinden des raumes • raum der skulptur • sprache des raumes • raum mit einer vision ausloten • miniaturraum • raum des außerehelichen beisammenseins • linguifizierung des raumes • raum der kulinarischen freuden • realien des raumes • raumregie • ereignis im raum • raum als mythos • schonraum • raum als gespenst • ausdehnung des raumes • raum als fiktion • aufregender raum • raum gut für geometer • gesamtraum • raum als abstraktion • präsenz im raum • raum ohne ort • erfahrung im raum • raumprojektion • freiheitsraum • raumluft • seitenraum • raumgerangel • interpretation des raumes • raumansprüchlich • ebene des raumes • raumzentriert • optischer raum • raumkrümmung • abbild des raumes • raumzerlegung • das sichwiedererzeugen des raumes • raum auf rädern • regionaler raum • raumtraum • bedrücktheit des raumes • raumumkehrer • zweitraum • raumfüllung • spaltung des raumes • raumschönheit • politik des raumes • raumdekoration • wirkung im raum • räumig • isoliert im raum • raumenge • benachbarter raum • raumunklarheit • hochraum • raumtext • reiner raum • raum assimiliert die zeit • abstufung im raum • raumgleichnis • lokalisierung im raum • raumchiffre • körperloser raum • raumperspektive • versinnlichung des raumes • raumanlage • binnenraum • raum der malerei • figuren im raum • raumschichtung •

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unbegrenzter raum • raum der geometrie • aggregatraum • raumeroberung • laborraum • raum der präsenz • büroraum • raum dreidimensionaler kurven • zeichen im raum • raumbestimmung • symbol im raum • raum der verflechtung • form im raum • raum energetischer strahlen • freisichtiger raum • raumverständnis • wahrnehmungsraum • raum muß aufnehmer jedweder gegenstände sein • geruchsraum • raum als vorbedingung • figuren des raumes • raum als geometrie • mit bewußtsein angefüllte räume • raumerfüllung • leuchtraum • raum in dem erfahrung kollektiv strukturiert wird • zwickelraum • raum als funktion der skulptur • das kapital raum • raumunendlichkeit • geometrischer raum • raumenergien • projizierter raum • raumtaubheit • beine im raum • raumkaleidoskop • reinraum • raumoptimum • gefolgschaftsraum • raumentriegelung • ergänzungsraum • raumsubstanz • verfügungsraum • raum der durch formen begrenzt wird • dunstraum • raumreserve • lagerung im raum • raumagentur • überdeckung des raumes • raumästhetik • hyperbolischer raum • raumbeule • mittelwertformel im raum • raumforschung • problem im raum • raum verschlingen • belebung des raumes • raum in seiner ganzen fülle • vordergrundsraum • raumlehre • schwächender raum • raumlage • überflüssiger raum • raumzeitalter • zeit assimiliert den raum • raumbühne • museumsraum • raumteiler • zentrum des raumes • raum sparen • zeichen des raumes • raumvolumen • gesperrter raum • raumverhältnis • sphärisch geformter raum • raumgestaltung • realraum • raumfahrzeug • spiritualisierter raum • raumdisposition • vermessener raum • raumbedarf • geschichteter raum • raumklima • immaterieller raum • raumplanung • illusionistischer raum • raumplan • wirkungsraum • raumvorgabe • konstruierter raum • raumunabhängigkeit • verständnis von raum • raumkonzeption • mathematischer raum • raumbildend • emotionaler raum • raumkriterium • affektiver raum • raum als gradient • piktoraler raum • raummarke • präsenzraum

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• raummerkmal • energetischer raum • raumaddition • unentscheidbarer raum • raumdivision • irreführender raum • raumabbild • tonnenraum • raumverschachtelung • gedachter raum • raumverschlingung • absoluter raum • raumverschneidung • absolutheitsidee vom raum • raummarkierer • relativer raum • raumgeschehen • selbständiger raum • raum und größe • unterschiede im raum • raum gruppiert sich um den anderen herum • weitung des raumes • raum ist nicht die welt • vierungsraum • raum kann nicht ein sein sein • gewaltiger raum • raum ist das entschwinden des kontinuierlichen in diskontinuierlichem • kirchenraum • raum ist weder hintergrund noch gestalt • überirdischer raum • raum verräumlichen • angabe des raumes • raum kann keine gestalt sein, denn er ist nichts • logischer raum • raumverlust • erfüllung des raumes • raumhöhe • verteilung im raum • raum vermessen • erdraum • raum ist begrenzte örtlichkeit • erlebnisraum • raum ist räumlichkeit • erfahrungsspielraum • raumaufteilung • manipulation des raumes • raumverteilung • resonanzraum • raum geräuschlos verschlingen • spontanraum • raum der wissenschaftler • eigenraum • raumveredelung • zustandsraum • raummotiv • fliehender raum • raumschöpfung • behandlung des raumes • raumabschnitt • blutraum • raumfolge • honigraum • raumeinheit • klebriger raum • raumbild • barraum • raumverwandelt • verkehrsraum • raumbestimmung • flußraum • raumintensivierung • gruppenraum • raum bricht ab • auditiver raum • raumqualität • klingender raum • raumansicht • wenden im raum • raumding • drehen im raum • raum abschreiten • ungeheurer raum • raumassoziation • ätherischer raum • raum der tiefe • offenbares geheimnis des raumes • raum ist ein kubisches wesen • schöpferische polaritäten im raum • raum ist nicht an ein geformtes gebunden • naßraum • raumsatellit • trockenraum • raumabwicklung • licht und raum • raumbogen • sozialraum • raumzeitlich • hohlraum • raum und körper • farbe und raum • raumerleben • konkaver raum

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• raummanagment • umraum • raumnutzung • sprachraum • raumtheorie • vorführraum • raumüberwindung • vorraum • raum ausschließen • verlauf im raum • raumthema • bearbeitung des raumes • raumschema • ehrlicher raum • raumschüttungen • anthropologischer raum • raumsynthese • geographischer raum • rauminstallation • einbrechender dunkler raum • raumformulierung • mythischer raum • raum und zeit • schizophrener raum • raum ma, hd • architektonischer raum • raumflugkörper • taburaum • raum nr. 235 • verfügbarkeit des raumes • raumebenen • verkaufsraum • raumzelle • die natur des raumes • raum der stille • ausfüllen des raumes • raum beherbergt • umkehrung des raumes • raumfahrend • abraum • raum kartographieren • weichraum • raumausnutzung • darraum • raum definieren • unnützer raum • raumdimension • laderaum • raum der kunst • subarachnoidealraum • raum für kämpfe • destillierungsraum • raumlösung • zukkerlagerraum • raumempfindung • aufmarschraum • raumflucht • saatraum • raumkante • tennenraum • raumschlucht • schulraum • raumextrem • kohlenraum • raum ist abständig • steigraum • raum hat einen wert an sich • brennraum • räumeweise • belegraum • raum zum schwingen bringen • geschmückter raum • raum als dritter pädagoge • zeitraum • raum in geschwindigkeit verwandeln • mangel an raum • raum erhellen • umfang des raumes • raumerfahrung • bloßer raum • raum der in fläche verwandelt wird • kleinbürgerlicher raum • raum prägen • ungezwungenheit des raumes • raumschöpferin • demokratische kultur des raumes • raum schlechthin • klimatisierte frische der räume • raum einräumen • abgegrenzte konzentrische räume • raumgenuß • bevorzugter raum • raumdisziplin • erinnerungsloser raum • raumkrise • immoralität des raumes • raumtalent • elend des raumes • raumversprechen • alltagsraum • raumlandschaft • gegossener raum • raumerklärung • schicksalsraum • raum überborden • mit kunst bereicherter raum • raumaspekt • erfahrungsraum • raumanzug

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Editorische Anmerkungen Notizen zu eigenen Arbeiten Erlebnis Sand In der 1972 in Holland entstandenen Serie von Farbfotos und Zeichnungen mit dem Titel Erlebnis Sand wird das Eingraben unter einer Sandschicht dokumentiert. Die Arbeit wurde im Zusammenhang mit Tendenzen der sogenannten „radikalen Architektur“ mehrfach ausgestellt und publiziert. Heute befindet sie sich in der Sammlung des FRAC Centre-Val de Loire. Die englische Textfassung „Notes to ,Experience of Sand‘“ erschien im Ausstellungskatalog František Lesák, Galleria del Cavallino, Venedig 1973. Zu den Großen Stilleben 1974–1978 entstand eine Serie großformatiger Zeichnungen mit dem Titel Große Stilleben. Sie wurde in Einzelausstellungen (Stedelijk Museum, Amsterdam; Walker Art Center, Minneapolis; Galerie nächst St. Stephan, Wien; Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, Graz, und DAAD Galerie, Berlin) sowie in Gruppenausstellungen (u. a. Hirshhorn Museum and Sculpture Garden, Washington) präsentiert. Eine niederländische sowie englische Textversion „Aantekeningen bij de grote stilevens“ und „Notes on the large still-lifes“ wurde im Ausstellungskatalog František Lesák. Tekeningen, Stedelijk Museum, Amsterdam 1977 abgedruckt; die deutsche Version „Zu den Großen Stilleben“ erschien in den Ausstellungskatalogen František Lesák. Zeichnungen“, Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, Graz 1977, sowie František Lesák. Zeichnungen, DAAD Galerie, Berlin 1979. „Ich male was ich sehe.“ – „Ich sehe was ich weiß.“ Im Rahmen der Rekonstruktion der Ereignisse in Giverny in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts (die „Heuhaufen“-Motive von Claude Monet) entstand eine umfangreiche Serie von Skulpturen, Zeichnungen und Studien, die unter dem Titel Morgen − Mittag − Abend in mehreren Einzelausstellungen präsentiert wurde (Museum des 20. Jahrhunderts, Wien; Van Gogh Museum, Amsterdam; Kunstverein Mannheim sowie Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, Graz). Das aus Anlaß des Österreichischen Kunsthistorikertages in Wien 1987 gehaltene Referat „Ich male, was ich sehe.“ − „Ich sehe, was ich weiß.“

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erschien in Der Kunsthistoriker. Mitteilungen des österreichischen Kunsthistorikerverbandes, Jg. IV, 1987, Nr. 3/4, S. 13–16. Vom Halbleeren zum Halbvollen Dem Text liegt ein Referat zugrunde, das anläßlich eines für Studierende der Architekturfakultät der Technischen Hochschule Brünn (Brno) im Kloster Brück (Louka) in Znaim (Znojmo) 2000 veranstalteten Symposiums auf tschechisch gehalten wurde. Texttreue Die Werkgruppe Texttreue setzt sich aus Wandreliefs und einer Serie digitaler Zeichnungen zusammen. Die Abhandlung „Texttreue“ bzw. „Věrnost textu“ (in der tschechischen Übersetzung von Dana Pfeiferová) wurde in zwei begleitenden Publikationen zum Ausstellungskatalog František Lesák. Konstruktion / Rekonstruktion, konstrukce / rekonstrukce, Nationalgalerie, Sammlung moderner und zeitgenössischer Kunst, Prag 1997, publiziert. Eine englische Übersetzung „Adhering of the text“ erschien in Joseph Masheck (Hg.), Mostly modern. Essays in Art and Architecture, Hard Press Editions, Stockbridge, Mass., and Hudson Hills Press, Easthampton, Mass., 2015, S. 80–88. Struktur als Autorität Der Aufsatz erschien in Institut für Künstlerische Gestaltung, Abteilung für Plastisches Gestalten und Modellbau der Technische Universität Wien (Hg.), Ausschnitt. Hefte zu Themen des plastischen Gestaltens, Heft 07: Structura. Strukturgeber und Strukturnehmer, Wien 2002, S. 22–28. Farbenlehre Der Text entwickelte sich aus einem Bildkommentar zur Zeichnung Skizze zur Farbe, der in der Ausstellung „Spektrum Farbe“ im Niederösterreichischen Landesmuseum in St. Pölten 2006 Verwendung fand. Präzision als Tugend, als Notwendigkeit und als Selbstzweck Referat anläßlich des Symposiums „Precisions. Architektur zwischen Wissenschaft und Kunst“, veranstaltet vom Institut für Geschichte und Theorie der Architektur (gta) an der ETH Zürich, 2006. Abgedruckt in Ákos Morávanszky; Ole W. Fischer (Hg.), Precisions. Architektur zwischen Wissenschaft und Kunst − Architecture between Sciences and Arts, TheorieBau. Bd. 1, dt. u. engl., Jovis, Berlin 2008, S. 138–165.

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Porträtieren als Tätigkeitbeschreibung Mit einem dicken Stift einen feinen Strich ziehen Vortrag in memoriam Jan Turnovský (1942–1995) im Architekturzentrum Wien, 1997. Bei der Figur, die im Text im Dialog mit dem Autor auftritt, handelt es sich um den Hochschulpädagogen, Mathematiker und Philosophen Jiří Fiala (1939–2012). Der Autor war 1987 Begutachter der Dissertation von Jan Turnovský an der Technischen Universität Wien und wurde 2002 mit der Aufgabe betraut, die Auswahl und Installation seines theoretischen Materials für die posthume Präsentation auf der Architektur-Biennale in Venedig 2002 vorzunehmen und für den Ausstellungskatalog des österreichischen Beitrags zur 8. Internationalen Architektur-Biennale: Dietmar Steiner (Hg.), Integrazione. Denn Wahnsinn braucht Methode − Madness Needs Method, dt. u. engl., Anton Pustet, Salzburg– München 2002, zwei Beiträge zu verfassen (vgl. ebd., „Das Futteral und der Knopf. Jan Turnovskýs Beiträge zur Semantik und zum Strukturalismus“, S. 50– 55, sowie „ Jan Turnovský alias Turn ov Sky alias Tur. Die kleinen Unbestimmtheiten“, S. 22–23). Kartenansichten eines Vielreisenden Tischrede, vorgetragen anläßlich eines Symposiums zum 60. Geburtstag des österreichischen Germanisten Wendelin Schmidt-Dengler (1942–2008) im steirischen Neuberg an der Mürz, 2002. Ein visueller Rhetoriker Der Text „Ein visueller Rhetoriker. Stefan Fuhrer als Typograph“ erschien in Ingrid Karl; Bernhard Kraller (Hg.), Atypical Jazz − 25 Jahre Wiener Musikgalerie, Wien 2007, S. 241–243. Stefan Fuhrer (geb. 1965), in Wien lebender Schweizer Typograph, ist seit vielen Jahren für das grafische Erscheinungsbild der Musikgalerie-Publikationen verantwortlich.

Über Formursachen Wo lassen Sie nähen? Beitrag für die Zeitschrift Zlatý řez („Goldener Schnitt“) Nr. 15/1997, Prag 1997, S. 42–43 (zweisprachig; engl. Übersetzung von Jana Tichá).

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Norm, Freiheit und Kompromiß Aufsatz in tschechischer Übersetzung des Autors („Norma, svoboda a kompromis“) in der Zeitschrift Architekt, Nr. 15–16, Prag 1998, S. 63. Vorstellen, Darstellen, Herstellen. Überarbeitetes Referat, vorgetragen im Rahmen des Seminars „Oswald Wiener. Innenschau“, im Kunsthaus Muerz, in Mürzzuschlag, 2010. Beobachten und berichten. En plein air mit Grünem Heinrich Vortrag anläßlich des Symposiums „Oswald Wiener. Selbstbeobachtung − Denkpsychologie“ im Kunsthaus Muerz, Mürzzuschlag 2015.

Überlegungen zum Raum Todeswand – voll Leben! (figura serpentinata) Aufsatz, publiziert in Institut für Künstlerische Gestaltung, Abteilung für Plastisches Gestalten und Modellbau, Technische Universität Wien (Hg.), Ausschnitt. Hefte zu Themen des plastischen Gestaltens, Heft 02: Spirale, Wien 1997, S. 1–2. Räume und Räumchen Überarbeitete und erweiterte Version eines Referats auf Tschechisch unter dem Titel „Lesák & Lesák je vlastně problémem Vojta & Vojta“, vorgetragen am Symposium „Projekt Muzeum“ in Znaim (Znojmo) 1998. Unter dem Titel „Prostory a prostůrky“ in der Zeitschrift Ateliér, Nr. 11, Prag 2001, S. 2, sowie unter dem Titel „Räume und Räumchen“ in: Wespennest. Zeitschrift für brauchbare Texte und Bilder, Nr. 119, Wien 2000, S. 105–110, publiziert. Vermessung der Räume mittels Licht Publiziert auf Tschechisch unter dem Titel „František Lesák. Nouzové východy“, in: Michal Ajvaz; Ivan M. Havel; Monika Mitášová (Hg.), Prostor a jeho člověk, Vesmír, Prag 2004, S. 285–291. Nahverkehr und Fernverkehr. Zwei Reisevarianten Überarbeitetes Referat, vorgetragen am Symposium „Verkehrswesen − von der Zunft zur Wissenschaft“, gewidmet Hermann Knoflacher, Professor für Verkehrsplanung an der Technischen Universität Wien 2008. Abgedruckt in Institut für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik der Technischen Universität

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Wien (Hg.), Verkehrswesen − von der Zunft zur Wissenschaft. Festschrift für Hermann Knoflacher. Beiträge zu einer ökologisch und sozial verträglichen Verkehrsplanung, 2/2008, Wien 2008, S. 83–90. Häuser unter Beobachtung. Alain Robbe-Grillets Observationsberichte Überarbeiteter und erweiterter Vortrag anläßlich des Symposiums „Ein Dialog der Künste: Das Verhältnis von außen und innen“, veranstaltet vom Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich, 2014. Abgedruckt in Barbara von Orelli-Messerli; Brigitte Kurzmann-Schwarz (Hg.), Ein Dialog der Künste: Das Verhältnis von außen und innen. Beschreibungen von Architektur und Raumgestaltung in der Literatur der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Petersberg 2016, S. 119–127. Befehlsräume. Über die Einsamkeit eines Massenturners Publiziert in Hermann Hendrich (Hg.), raum, anschaulich. Zur Phänomenologie des architektonischen Raumes, [-de’A-], Gumpoldskirchen–Wien 2007, S. 107–127. (Auch in tschechischer Übersetzung von Dana Pfeiferová, „Prostory povelů. O osamělosti masového cvičence“, Revue Labyrint 23–24, Praha 2009, S. 145–151.) Raumdeutsch Das Ergebnis einer mehrjährigen Sammlungstätigkeit, bei der alle Wortkomposita und Satzfragmente, in denen das Wort Raum vorkommt, in eine Kartei aufgenommen und für die Präsentation in unterschiedlichen typografischen Versionen bereitgehalten wurden. Publiziert in František Lesák, Raumdeutsch. Eine Sammlung. Mit einem Text von Franz Schuh, „Der Raum im All. Ein topophiles Feuilleton“, Künstlerhaus, Wien 2001.

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Abbildungsverzeichnis

Studien zum „Bonjour Monsieur Courbet“–Projekt, 1984, aus einer 108-teiligen Serie, S/W Fotografie Seiten 8, 10, 14, 30, 46, 62, 72, 76 Vermessung eines Halbkreises, 1972, 7-teilige Serie, S/W Fotografie Seiten 96, 104 Begründung eines Meters, 1972, 10-teilige Serie, S/W Fotografie Seite 110 Aufhalten des Falles, 1984, 4-teilige Serie, S/W Fotografie Seiten 118, 124, 128, 138 Hermes-Kopf des Praxiteles, 2014, aus einer 22-teiligen Serie, S/W Fotografie Seiten 152, 158, 170, 180, 192, 204, 232 Fotos: © Privatsammlung

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František Lesák Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Kulturabteilung der Stadt Wien, der Kunstsektion des Bundeskanzleramtes der Republik Österreich und des Amtes der niederösterreichischen Landesregierung Abteilung Wissenschaft und Forschung

Library of Congress Cataloging-in-Publication data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Acquisitions Editor: David Marold, Birkhäuser Verlag, A–Wien Projekt- und Produktionsmanagement: Angelika Heller, Birkhäuser Verlag, A–Wien Herausgeber: Thomas Eder Lektorat: Claudia Mazanek Layout und Satz: Fuhrer visuelle Gestaltung OG Covergestaltung: František Lesák Gesetzt aus der: Publico Headline, Publico Banner und Px Grotesk Druck: Holzhausen Druck GmbH, A-Wolkersdorf Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF ∞ Printed in Austria ISBN 978-3-11-054667-5 www.degruyter.com