Beobachtung aufzeichnen [1 ed.] 9783737005272, 9783847105275


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Beobachtung aufzeichnen [1 ed.]
 9783737005272, 9783847105275

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Schriften der Wiener Germanistik

Band 3

Herausgegeben von Konstanze Fliedl, Eva Horn, Roland Innerhofer, Matthias Meyer, Stephan Müller, Annegret Pelz und Michael Rohrwasser

Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.

Helmut Lethen / Annegret Pelz (Hg.)

Beobachtung aufzeichnen

In Zusammenarbeit mit Thomas Assinger

V& R unipress Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2365-7766 ISBN 978-3-7370-0527-2 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Verçffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH.  2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Gerhard Roth: »Postkarten zum Werk«. Vorlass Gerhard Roth, Franz-Nabl-Institut, UniversitÐt Graz. Abdruck mit freundlicher Genehmigung. Die Postkarte »Beobachtungsbuch« steht fþr ein zentrales Dingsymbol im Roman »Der Stille Ozean. Die Archive des Schweigens II« (1980).

Inhalt

Vorwort. Brennpunkte der Beobachtung und Weite der Wahrnehmung

.

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Marcel Beyer Ich beobachte mit dem Stift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

Essay

Beiträge Birgit R. Erdle Nachlese(n). Beobachtung nach Kracauer . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Natalie Binczek Taktiles Kino, taktiles Fernsehen: Walter Benjamins und Marshall McLuhans medientheoretische Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . .

51

Elisabeth Grabenweger Literatur – Politik – Universität. Jura Soyfer als Beobachter des Wiener Hochschulbetriebes in den 1930er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

Marcus Hahn Urgesicht im Eckfenster der Moderne. Gottfried Benn und die antidarwinistische Paläontologie Edgar Dacqu8s . . . . . . . . . . . . . .

81

Lukas Mairhofer »mit der feuerzange« – Brechts Kaukasischer Kreidekreis und das Messproblem der Quantenphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Werner Michler Beobachtung, Rekonstruktion und Schau: Goethes Nausikaa von Wilhelm Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

6

Inhalt

Franz M. Eybl Beobachtete Blicke. Barocke Josephserzählungen, Kleists Findling und Bernhards Alte Meister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Thomas Weitin Den Auftritt des Zeugen beobachten

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

Cornelia Zumbusch Hypnotisiert. Pathologien der Beobachtung in der Literatur des 19. Jahrhunderts (Kleist, Schnitzler, Fontane) . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Nathalie Patricia Soursos Eidola evozieren, um mit den Toten zu sprechen. Antike und moderne Versuchsanordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Christoph Leitgeb Der Stalker im Spiegel: Beobachtender und verfolgender Blick in Texten von Stefan Zweig und Daniel Glattauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger

. . . . . . . . . . . . . . . 223

Vorwort. Brennpunkte der Beobachtung und Weite der Wahrnehmung

In seiner Soziologie der Symbolischen Formen formulierte Pierre Bourdieu 1970 einen Satz, der später zu einem Grundsatz der Kulturwissenschaften werden sollte: »Es gibt keine Wahrnehmung, die nicht einen unbewußten Code einschlösse; dem Mythos vom ›reinen Auge‹ als einer Begnadung, wie sie allein der Einfalt und der Unschuld zuteil wird, kann nicht nachdrücklich genug widersprochen werden.«1 Seit den 1980er Jahren konzentrieren sich die Kulturwissenschaften in Bourdieus Sinn auf die Entdeckung und Untersuchung der Konstruktionselemente, die den Akt des Wahrnehmens und die Gestalt des Wahrgenommenen präfigurieren. Es waren wichtige Jahrzehnte einer Umbruchperiode, in denen die Vorliebe für Bewusstseinsphänomene der Präferenz für Sprach- und Medienphänomene weichen musste.2 Die Aufmerksamkeit gilt jetzt dem Ausmaß, in dem die Grammatik der Sprache das Wahrnehmen determiniert, sie gilt der Frage, inwiefern alte Topoi der Rhetorik Evidenz suggerieren, wie das Regelwerk der Diskurse die Ansicht der Umwelt gliedert und Verfahren der Aufzeichnung von Wirklichkeit konstituiert. Bald wurde der Punkt erreicht, an dem der Akt des Wahrnehmens hinter den Geräten der Evidenzbeschaffung (vom Mikroskop bis zur Kamera) und den Strukturen, mit denen die Medien von der Schrift bis zum Foto die Oberflächen der Phänomene versehen, verschwand oder, um sicher zu gehen, als Untersuchungsgegenstand an die Neurophysiologie weitergereicht wurde. Kein Gegenstand der Welt leuchtete ein, nur weil er da war, Widerstand leistete oder einfach ausstrahlte. Folglich konnte von Beobachtung der Dinge außerhalb der Medien keine Rede mehr sein. Die Literatur beobachtete die Sprache und die Literaturwissenschaftler beobachteten, wie die Literatur die Sprache beobachtet.3 Ein letztes Reservat fand die Beobachtung in der Ethnologie, nachdem diese sich von dem 1 Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/Main 1974, 162. 2 Vgl. Sybille Krämer : »Form als Vollzug oder: Was gewinnen wir mit Niklas Luhmanns Unterscheidung von Medium und Form?«, in: Rechtshistorisches Journal, Jg. 17 (1998), 558–573. 3 Vgl. Gerhard Plumpe, Niels Werber (Hg.): Beobachtungen der Literatur. Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft, Wiesbaden 1995.

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Vorwort. Brennpunkte der Beobachtung und Weite der Wahrnehmung

Schock erholt hatte, dass auch ihre Beobachtungen Gesetzen der Erzählung unterworfen sind. Immerhin gaben jetzt thick descriptions (Clifford Geertz) und die kulturwissenschaftliche Semiologie die Richtung vor.4 Man verkündete: »No scholar should find humiliating the task of sticking to description.«5

I. Während die Wahrnehmung der Wirklichkeit für unser »spontanes Weltverhalten«6 in der Regel unproblematisch blieb, hatte man es in der Kulturwissenschaft schwer, von Wirklichkeit zu reden. Man behalf sich damit, sie in Anführungszeichen zu setzen, um den Verdacht auszuräumen, man sei so naiv, Aussagen über die Wirklichkeit zu riskieren. Denn es war zum kulturwissenschaftlichen Gemeinplatz geworden, dass das, was sich in sprachlichen Repräsentationen oder wissenschaftlichen Experimentalanordnungen zeigt, […] schon nicht mehr als das Reale ›als solches‹, sondern gefiltert durch den Eigensinn menschlicher Erfahrung, kultureller Zeichensysteme und technischer Apparate [aufzufassen ist]. Zwar ist gegen solche Filter nichts auszurichten, und niemand kann sich dauerhaft ins Abseits sozialer oder apparativer Wirklichkeitsregulierungen stellen. Dennoch bleibt damit ein Ungenügen verbunden, das in Situationen der Krise zum Bewusstsein gelangt.7

Wie in einer Situation, in der die unmittelbare Wahrnehmung von Welt durch Medien verstellt scheint, es aber Unbehagen bereitet, in allem Gegebenen nur ›kulturelle Konstruktionen‹8 erkennen zu wollen, von Wahrnehmen sprechen? Der Begriff der Wahrnehmung ist diffus und von Beobachtung war bisher nicht die Rede. Jeder Eintrag in einer Enzyklopädie, der ›Beobachtung‹ definieren will, räumt mit dem zerstreuten Feld der Wahrnehmung auf und versucht mit klaren Schnitten und Abgrenzungen die Weite des Wahrnehmungsfeldes 4 Gerhard Neumanns Aufsätze der Jahre 1979–2012 dokumentieren diese methodische Wende zur Wahrnehmung und zu einem semiologisch erweiterten Textbegriff: Kulturwissenschaftliche Hermeneutik. Interpretieren nach dem Poststrukturalismus, Freiburg i. Br., Berlin, Wien 2014. 5 Bruno Latour : Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford 2005, 136–137. Vgl. dazu Marcus Twellmann: »Ethnografische Evidenz – ›No scholar should find humiliating the task of description.‹«, in: Helmut Lethen, Ludwig Jäger, Albrecht Koschorke (Hg.): Auf die Wirklichkeit zeigen. Zum Problem der Evidenz in den Kulturwissenschaften. Ein Reader, Frankfurt/Main 2015, 63–81. 6 Albrecht Koschorke: »Das Mysterium des Realen in der Moderne«, in: Helmut Lethen, Ludwig Jäger, Albrecht Koschorke (Hg.): Auf die Wirklichkeit zeigen. Zum Problem der Evidenz in den Kulturwissenschaften. Ein Reader, Frankfurt/Main 2015, 13–38, 16. 7 Ebd. 8 Zur Welt als Konstruktion ihres Beobachters vgl. Paul Watzlawick, Peter Krieg (Hg.): Das Auge des Betrachters. Beiträge zum Konstruktivismus. Festschrift für Heinz von Foerster, München, Zürich 1991.

Vorwort. Brennpunkte der Beobachtung und Weite der Wahrnehmung

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vom Blickpunkt der Beobachtung zu strukturieren. Der Klarheit halber sieht man von diffus zerstreuten oder habituellen Alltagswahrnehmungen ab. Die Beobachtung soll augenscheinlich einen klaren Brennpunkt haben, von Interesse gesteuert sein und infolgedessen auf Optionen von Haltungen und Handlungen zielen. Es überrascht, bei Wikipedia zu lesen, dass es auch in den Naturwissenschaften umstritten ist, ob es nicht doch eine theoriefreie Beobachtung geben könne. Auch hier spukt die Idee der ›reinen Wahrnehmung‹, auch hier muss der ›Mythos des Gegebenen‹ mit Bannflüchen belegt werden. Auch hier beunruhigt die Frage, ob das Beobachtbare ein ohne die Hilfsmittel von Mikroskop, Röntgenaufnahme, Kamera oder Teleskop Wahrnehmbares, ohne medienspezifische Filterung Gegebenes ist oder ein ohne die bewährten Aufzeichnungsgeräte gar nicht Fassbares.9 Auf jeden Fall scheint Beobachtung leichter abzugrenzen und auf einen Kernbereich des Wahrgenommenen zu fixieren, als das Wahrnehmen an sich.

II. 1995 veröffentlichte Niklas Luhmann Die Kunst der Gesellschaft; im zweiten Kapitel finden wir seine Überlegungen zur Beobachtung erster und zweiter Ordnung.10 Der Satz, mit dem dieses Kapitel anhebt, ist denkbar luzide und undenkbar dunkel: »Alles Beobachten ist das Einsetzen einer Unterscheidung in einen unmarkiert bleibenden Raum, aus dem heraus der Beobachter das Unterscheiden vollzieht.«11 Das gibt zu denken, sagt aber nichts über Sachverhalte, die beobachtet werden, liegt also auf den ersten Blick im Trend der Kulturwissenschaften, für die Gegenstände der Wahrnehmung nur als adressierte, vom Akt des Beobachtens konditionierte interessant sind. Dieser Eindruck wird jedoch bald von Luhmann widerlegt, wenn wir auf der nächsten Seite lesen: Jede Beobachtung ist unmittelbare Beobachtung von etwas, was man unterscheiden kann – von Dingen oder von Ereignissen, von Bewegungen oder von Zeichen. Die unmittelbar gegebene Welt läßt sich nicht eliminieren, auch wenn der Philosoph Zweifel haben mag, ob sie existiert oder so existiert, wie sie erscheint, und diese Zweifel durch Urteilsenthaltung (Husserls Epoch8) zum Ausdruck bringt. Auch in der Imagination kann man sich von der anschaulichen Welt nicht wirklich lösen, man kann nur simulieren, was man unter geeigneten Umständen wahrnehmen würde. Liest man Romane, so muß man zunächst einmal den Text vor Augen haben. Man kann ihn vor dem »inneren Auge« dann mit Anschaulichkeit ausstatten und gegebenenfalls, wenn der Text nicht mehr zur Hand ist, die imaginierte Welt des Textes erinnern. Man kann 9 https://de.wikipedia.org/wiki/Beobachtung (Zugriff 17. 05. 2016). 10 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1997, 92–164. 11 Ebd., 92.

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Vorwort. Brennpunkte der Beobachtung und Weite der Wahrnehmung

schließlich sehr wohl wissen, daß der eigenen Imagination keine wirkliche Welt entspricht, so wie man bei optischen Täuschungen die Täuschung sozusagen wegwissen kann, aber sie trotzdem sieht. Aber selbst dann folgt man noch einem Erleben, das die Welt, wie sie sein könnte, annimmt. Keine Modifikation kann an diesem Grundsachverhalt etwas ändern.12

Allerdings konstruieren wir, so Luhmann, die Realität erst als Realität, wenn wir sie von einem »unmarked space« unterscheiden. Die menschliche Weltorientierung verwendet Zeichen und diese »dienen dazu, etwas erkennbar zu machen, was an sich unbeobachtbar ist«.13 Wenn wir diese Konstruktion von Welt wiederum beobachten, befinden wir uns auf dem Niveau der Beobachtung zweiter Ordnung: »Das Beobachten zweiter Ordnung geht auf Distanz zur Welt«.14 Es beobachtet nur, wie beobachtet wird.15 Es vermag nicht, die Welt, zu der der Beobachter gehört, von außen zu beobachten. Luhmann ging davon aus, dass Wissenschaftler so wenig wie andre Leute den blinden Fleck ihrer Beobachtungen umgehen können, auch wenn sie den Kunstwerken Leitfäden weiterer Beobachtungen entnehmen.16 Sein vorläufiges Fazit scheint denen, die mit Beobachtung von Kunstwerken die Wirklichkeit berühren wollen, nicht günstig. Denn letzten Endes macht sich das Kunstwerk nur beobachtbar »als eine Serie von Verschiebungen […], die zugleich dazu dient, die ständig verschobene Differenz zum unmarked space der Welt zu ›objektivieren‹«.17 Dennoch ist sein Fazit überraschend: »Und mit all dem zeigt sich (zeigt sich? für wen?), daß ein Kunstwerk nur zustande kommt, wenn respektiert wird, daß die Welt unsichtbar bleibt.«18

III. Könnten Überlegungen der Phänomenologie für eine andere Klarheit in der Einschätzung von Wahrnehmung und Beobachtung sorgen?19 Sie schärfen in jedem Fall unser Bewusstsein von deren Differenz. Die Phänomenologen sagen: 12 Ebd., 93. 13 Niklas Luhmann: »Zeichen als Form«, in: Dirk Baecker (Hg.): Probleme der Form, Frankfurt/ Main 1993, 45–69, 45. 14 N. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, 97. 15 Vgl. ebd., 103. 16 Vgl. ebd., 119. 17 Ebd., 123. 18 Ebd. 19 Vgl. Helmut Lethen: »Eckfenster der Moderne. Wahrnehmungsexperimente bei Musil und E.T.A. Hoffmann«, in: ders.: Unheimliche Nachbarschaften. Essays zum Kälte-Kult und der Schlaflosigkeit der Philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert, Freiburg i.Br., Berlin, Wien 2009, 9–41.

Vorwort. Brennpunkte der Beobachtung und Weite der Wahrnehmung

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»Ungeachtet ihrer Sonderstellung fügt sich jede Wahrnehmung in den Zyklus des Cogito ein«20. Ich nehme etwas wahr – darin liegt eine spezifische Intentionalität mit einem spezifischen gegenständlichen Sinn. Das aktuell Gegebene bildet einen Kernbereich, der von Horizonten des Mitgegebenen umhüllt ist und zeitliche und räumliche Außenhorizonte einbezieht. »Der Gegenstand stellt sich in kontinuierlicher Abschattung dar, das Bewusstsein hat unscharfe Ränder«.21 Dieses Grundproblem der Phänomenologie, wonach die »radikale Unvollständigkeit […] zum Wesen der Wahrnehmung überhaupt« gehört,22 erläutert Husserl an einem einfachen Tisch, dem Lieblingsexempel der Philosophen in Wahrnehmungs- und Beobachtungsfragen.23 Der merkwürdige Zwiespalt einer unvollständigen Wahrnehmung wird dadurch überbrückt, dass bei der originalen Wahrnehmung eines Dinges dessen andere, mitgegenwärtige und abgeschattete Seiten appräsentiert werden. Die Dinge haben einen versteckten Sinn (einen potentiellen Unsinn), der in der wahrnehmenden »Gegenwärtigung« automatisch ergänzt wird.24 Die Horizonte sind es, die zwischen Wahrgenommenem und Nichtwahrgenommenem vermitteln. »So konstituiert sich ein Wahrnehmungsfeld, in dem alles da ist, doch so, dass eines hervortritt, anderes fernrückt, je nach dem Blickpunkt, der teils durch unser Interesse, teils durch unser Hier- und Jetztsein bestimmt ist.«25 Vergleichen wir diese weiche Bestimmung von der Unschärfe der Wahrnehmung mit Definitionen von Beobachtung in Natur- und Erfahrungswissenschaften, so wird die Verengung des Blickwinkels überdeutlich. Verengung, neudeutsch würde man sie »Fokussierung« nennen. In ihnen ist Beobachtung eine zielgerichtete Wahrnehmung von objektiven Vorgängen, im Normalfall unter Verwendung technischer Hilfsmittel.26 Ernst Gombrich hat diese Ansicht einmal die Scheinwerfertheorie innerhalb der Wahrnehmungslehren genannt, die er auf Karl Popper zurückführt.27 Sie ist unvergleichlich härter als die der Phänomenologen. Sie ist geprägt durch einen Habitus, für den jede Wahrnehmung die Keimform einer zielgerichteten Handlung ist, von bestimmten Er20 Bernhard Waldenfels: »Wahrnehmung«, in: Hermann Krings, Hans Michael Baumgartner, Christoph Wild (Hg.): Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 6, München 1974, 1669–1678. 21 Ebd., 1673. 22 Edmung Husserl: Ding und Raum. Vorlesungen 1907, hg. v. Karl-Heinz Hahnengress u. Smail Rapic, Hamburg 1991, 51. 23 Annegret Pelz: »The Power of Tables«, in: Jacqueline Hassink: The Table of Power 2. Ostfildern 2012, 8–11. 24 Vgl. Georg Christoph Tholen: »Der blinde Fleck des Sehens. Über das raumzeitliche Geflecht des Imaginären«, in: Jörg Huber, Martin Heller (Hg.): Konstruktionen Sichtbarkeiten, Wien, New York 1999 (=Interventionen 8), 191–214, 195. 25 Ebd. 26 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Beobachtung (Zugriff 17. 05. 2016). 27 Ernst Gombrich: Kunst und Illusion, Stuttgart, Zürich 1978, 44ff.

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Vorwort. Brennpunkte der Beobachtung und Weite der Wahrnehmung

wartungen gesteuert. Diese Art der Beobachtung gehört zu Lebewesen, die genötigt sind, ihre Umgebung abzutasten, Fluchtwege zu erforschen, Verstecke zu finden.

IV. Obwohl wissenschaftlich weitgehend diskreditiert, taucht der Ruf nach Restitution der reinen Wahrnehmung in regelmäßigem Taktschlag in Strömungen der Künste und Literaturen auf. Er antwortet gegenwärtig auf die Reduktion der Welt auf eine mathematische Natur, auf die Reduktion des leiblichen Subjekts auf ein selbstgewisses Bewusstsein und auf die Auflösung der Härte der Gegenstände in digitale Oberflächen. Der rationalistischen Entwertung folgt die empiristische Überforderung auf dem Fuß. Auch die Phänomenologie schlingert. Sie wird immer wieder von der Fremdheit jenseits intentionaler Akte angezogen. Sie, die im Rahmen strenger Wissenschaft ›zu den Sachen selbst‹ gelangen wollte, kann für den Ausgang ihres Unternehmens nicht bürgen. Auch der Phänomenologe Bernhard Waldenfels scheint erschöpft: Läßt man sich auf das ein, was sich an sich selbst zeigt, so gerät die Sache selbst und mit ihr der Betrachter in eine unaufhörliche Bewegung, die – man schlage Husserls Werke auf – in gewisser Weise an die Proustschen Mäander und die Joyceschen Labyrinthe erinnert. Der Blick, der sich aus seinen Befangenheiten löst, hat zwangsläufig etwas Anarchistisches, in harmloserer Form etwas Bilderbuchhaftes, wenn die Vielfalt der Dinge sich nicht auf die Dauer zu einem geordneten Ganzen zusammenfindet.28

V. Damit ist zwar große Literatur ins Spiel gebracht, es müsste jedoch (zumal in einem Band, der vorwiegend literaturwissenschaftliche Beiträge enthält) geklärt werden, wie wir mit Sprache beobachten. Die Frage, ob Erzählungen ein Fenster der Beobachtung öffnen können, hätte man vor Jahrzehnten negativ beantwortet, als Erzählung noch einen Gegenpol zu wissenschaftlichem Beobachten bildete. Inzwischen ist die Erzählung als ein wesentliches Element in der Organisation von Wissensordnungen entdeckt worden.29 Wissenschaftliches Beobachten ist auf Formen und Formate angewiesen, Erzählungen, Notiz-, Tagebücher, Reiseberichte leiten Beobachtungen an, legen Querverbindungen nahe, 28 Bernhard Waldenfels: »Seitliche Überschreitung von Sinnprovinzen. Florian Rötzer sprach mit Bernhard Waldenfels«, in: Frankfurter Rundschau (17. 1. 1987), ZB 2. 29 Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt/Main 2012, 329–340.

Vorwort. Brennpunkte der Beobachtung und Weite der Wahrnehmung

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vernetzen Zufälle. Die Sprache kann in der Erzählung die Bindung zur wirklichen Welt herstellen, aber erst ihre Distanz ermöglicht es, Dinge zu beobachten und mit ihrer Macht umzugehen. Selbst strenge Wissenssysteme vergewissern sich ihres Bezugs zur Wirklichkeit mit Hilfe von Erzählstrategien.30

Die Beiträge Wenn diese Skizze geeignet ist, den problematischen Status des Beobachtens in verschiedenen Disziplinen zu zeichnen, so bergen die folgenden Beiträge eine Überraschung: Fast alle Beiträge versuchen unter der Perspektive der Beobachtung das Feld der eigenen Disziplin für andere zu öffnen. Bei diesem Grenzgang streifen manche auch ein von Ludwik Fleck entwickeltes Konzept der drei Etappen wissenschaftlicher Experimentalforschung. Hiernach durchläuft die beobachtende Arbeitsweise von Forschern drei voneinander unterschiedene Phasen, in denen die Phase der diffusen Wahrnehmung nicht außer Acht gelassen, sondern durchschritten wird: Ludwik Fleck geht davon aus, dass das anfängliche »unklare Sehen und die inadäquate erste Beobachtung« mit Staunen, Suchen nach Ähnlichkeiten, probieren, zurückziehen und mit einem durch Hoffnung und Enttäuschung hervorgerufenen »Gefühlschaos« einhergeht.31 Wissenschaftliche Beobachtung durchläuft sodann eine Etappe der »Aktivierung des unklaren ›instinktiven‹ Wissensbestandes eines Forschers«.32 Hier suchen die tastenden Forscher Halt im Anschluss an einen »Denkzwang«, dem gegenüber sie sich passiv fühlen könnten. Die Erkenntnisarbeit gewinnt schließlich und drittens festen Boden in einem »entwickelte[n], […] stilgemäße[n] Gestaltsehen«, das an den Denkstil der jeweiligen Denkgemeinschaft gebunden ist. Beobachten und Denken ist bei Fleck Kollektivarbeit, die im Minimieren von Denkwillkürlichkeiten und der Ausbildung von Denkroutinen spezielle – fachspezifische – Gebilde entstehen lässt.33 Das Denkkollektiv des vorliegenden Bandes versammelt dies in vielfältiger Verschränkung. Kennzeichnend für die hier zusammengestellten fachspezifischen Beiträge ist, dass sie mittels Reflexion von Beobachtung ausgebildete disziplinäre Denkstile und –zwänge in Bewegung versetzen. Da alles Beobachten wiederum als ein seinerseits beobachtbarer Vorgang stattfindet, lassen sich die kommunikativen Verfahren in diesem Band im Bild einer Tischgemeinschaft mit 30 Ebd., 339. 31 Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, hg. v. Lothar Schäfer und Thomas Schnelle. 10. Aufl., Frankfurt/Main 2015, 124. 32 Ebd., 126. 33 Vgl. ebd., 129.

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Vorwort. Brennpunkte der Beobachtung und Weite der Wahrnehmung

Anschaulichkeit ausstatten. Wie die Teilnehmer durch den Raum des Tisches gleichzeitig verbunden und getrennt sind, gehört zu den beobachtbaren Operationen, mit denen die Beiträge die eigenen Beobachtungen beschreiben und reflektieren, wesentlich, dass das, womit sie sich fachlich positionieren, jeweils durch eine Unterscheidung von anderen Disziplinen geführt wird. Der einleitende Essay von Marcel Beyer zeigt darüber hinaus, dass die literarische Beobachtung von dem Vorteil profitiert, nicht nachträglich auf eine vorgeordnete Beobachtungsebene folgen zu müssen.

Marcel Beyer: Ich beobachte mit dem Stift Marcel Beyer interessiert in seinem Beitrag die schwankende Nähe zwischen szientifischer Beobachtung und der Beobachtung von aus der Willkür entlassenen Schreibbewegungen. Ausgehend von einer kleinen Erzählung Heinrich Dathes über Beobachtungsrelation bei malenden und fotografierenden Primaten, unterscheidet Marcel Beyer das Beobachten mit dem Stift grundsätzlich von zwei anderen Beobachtungsformen – von der Beobachtung von Geschehnissen und von einer im Text dargestellten Beobachtung. Entscheidend für die schriftlich mitgeteilte Beobachtung ist, dass diese keiner tatsächlichen Beobachtung entsprechen muss: Die Unterscheidung von Beobachten und schreibendem Beobachten kann darin undeutlich werden. Beobachten mit dem Stift ist demnach »kein Verfahren, in dessen Verlauf Beobachtungen ›festgehalten‹ werden, sondern ein Prozeß, der das Beobachten in Gang setzt. ›Aufschreiben‹ […] ist bestenfalls eine Illusion.« Beyer interessiert die Verkehrung der Beobachtungsrelation, in der der mit dem Stift instrumentell beobachtende Schriftsteller die Perspektive des fotografierenden und malenden Affen einnehmen kann. So wie Affen beobachten, fotografieren und Blicken ausgesetzt sind, sind auch die Strichzeichnungen der Schriftsteller Gegenstand beobachtender Imaginationen, die sich jedoch der Evidenz des Betrachters entziehen. Die zwischengeschalteten Apparate befreien zudem von der Notwendigkeit, Kunstsinn unter Beweis zu stellen, sie produzieren Bilder aus Versehen.

Birgit R. Erdle: Nachlese(n). Beobachtung nach Kracauer Siegfried Kracauers im Oktober 1930 in der Frankfurter Zeitung erschienene Beobachtungsszene »Zertrümmerte Fensterscheiben« handeln von einem Zuspätkommen und Verfehlen der Ereignisse, was die Zeugenschaft des Beobachters von Anfang an verunmöglicht. Statt Ereignisse ungebrochen zu berichten, verweist der Text auf die temporale Nachträglichkeit einer jeden Berichterstattung.

Vorwort. Brennpunkte der Beobachtung und Weite der Wahrnehmung

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Die »Nachlese« – eine Rechtsfigur aus der hebräischen Bibel – wird zu einem textorganisierenden Begriff, in dem sich die Komponenten der Kracauer’schen Beobachtungspraxis (das Entziffern von Oberflächenäußerungen, das Sammeln von Überbleibseln und die zeitliche Nachträglichkeit) komprimiert finden. Im Text sieht Birgit Erdle einen Berichterstatter den Nachraum eines nationalsozialistischen Anschlags auf ein Schaufenster in der Berliner Leipziger Straße durchqueren. Gesucht wird eine Beobachtungsform, die die Einteilung von Ereignis und nachträglicher Narration, von Gewaltausbruch und darauf folgender »Friedensruhe« zu unterlaufen imstande ist. Beobachtung heißt hier nicht Bestandsaufnahme, sondern die Konstruktion eines fragmentierten, durchlöcherten Bildes, dessen rissige Oberfläche aus aufgelesenen Einzelheiten besteht. Kracauers epistemologisches Verfahren kommt nicht zu einem Abbild des Wirklichen, gleichwohl fließen fotografietheoretische Überlegungen zu einem apparativen technischen Sehen sowie die Idee des »reinen Aufnehmens« in »intensiver passiver Beobachtung« ein.

Nathalie Binczek: Taktiles Kino, taktiles Fernsehen: Walter Benjamins und Marshall McLuhans medientheoretische Beobachtungen Mit Benjamins und McLuhans medientheoretischen Film- und Fernsehbeobachtungen erweitert Nathalie Binczek den Begriff der Beobachtung um die sinnesphysiologische Dimension der Taktilität. Bei Benjamin findet sie die taktile Dimension der Wahrnehmung als ein doppelsinniges Phänomen behandelt. Auf der Rezeptionsseite des Films versetzt das »stoßweise Eindringen« die Zuschauer mit seiner »physische[n] Chockwirkung« in eine für die Moderne charakteristische Position des passiven Reizempfängers. Die Betrachtung von Architektur hat hingegen eine pragmatische Dimension, Architektur wird durch Gebrauch und durch Wahrnehmung, taktil und optisch rezipiert und hat gegenüber dem Film eine aktive Dimension. Auch die Fernsehzuschauer glauben sich in eine Als-ob-Situation versetzt, in der sie die Operationen selber ausführen. McLuhan qualifiziert das Fernsehen als taktile Operation, die Lichtimpulse auf den als ›Bildschirm‹ verstandenen Rezipienten abwirft. Fernsehen wirkt »in Analogie zu elektrischen Strömen in die Haut des Rezipienten ein« und lässt sich optisch-taktil, im Sinne einer elektrischen Abtastung, bestimmen – mit Bezug auf die menschliche Haut als ein alle Sinne umfassendes Sensorium. »Fernsehbilder ›tasten Konturen von denjenigen Dingen ab‹, die sie sichtbar machen«, sie beobachten – so Binczeks Fazit –, indem sie das Beobachtete abtasten.

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Vorwort. Brennpunkte der Beobachtung und Weite der Wahrnehmung

Elisabeth Grabenweger: Literatur – Politik – Universität. Jura Soyfer als Beobachter des Wiener Hochschulbetriebes in den 1930er Jahren Elisabeth Grabenweger konzentriert ihren Beitrag auf die schriftstellerische Auseinandersetzung des jüdischen und sozialistisch organisierten Studierenden und Literaten Jura Soyfer mit einer Situation zunehmenden Antisemitismus und Nationalismus an der Wiener Universität der 1930er Jahre. Durch eine konsequente Einbettung von Literatur in politische Zusammenhänge und durch politische Reflexion im Modus von Literatur hatte Soyfer neben Karl Kraus eine Sonderstellung in der literarischen Öffentlichkeit inne. Die Atmosphäre und die Besetzungspolitik der Universität, die Anfang der 1930er Jahre schwere rassistische und nationalistische Ausschreitungen zu verzeichnen hatte, bilden den Hintergrund seiner Texte. Kurz bevor Soyfer in der zunehmend angespannten Lage die Universität Wien verlassen hat, macht dieser die Rituale der Corpsstudenten zum Gegenstand eines Gedichts, einer Wort-Bild-Satire auf die Alma Mater Rudolphina und karikiert in einem fingierten Brief die Bewusstseinslage und das Studentenleben unter den Bedingungen des faschistischen Ständestaates von 1936. Der mit literarischen Mitteln beobachtende Autor arbeitete in der Illegalität politisch weiter, wurde verhaftet, sein Versuch zu emigrieren scheiterte, er starb 1939 in Buchenwald.

Marcus Hahn: Urgesicht im Eckfenster der Moderne. Gottfried Benn und die antidarwinistische Paläontologie Edgar Dacqués Marcus Hahn setzt ein mit Benns literarischen Wetterbeobachtungen im Prosastück »Urgesicht« von 1929. Dieses markiert eine imaginäre Beobachterposition aus dem »Eckfenster der Moderne« – eine Perspektive, die die Dinge in das Interieur als Standort einer über den Zeitläuften schwebenden Beobachterposition hineinzieht. Hahn nennt dieses »Ewigkeitsauge«, vor dem die wirklichkeitserfüllten Dinge klar, leicht und durchsichtig werden, einen literarischen Diskurs-Hochsitz. Von diesem aus verteilt Benn seine Aufmerksamkeit auf die Kritik des Darwinismus, auf die jüngere, positives Wissen produzierende Physiologie und auf die »Gott und Goethe gefällige Morphologie«. Hahn entdeckt im Text die Spuren des Paläontologen Dacqu8, dessen Form der Naturerkenntnis als die eines »Esoteriker[s] oder ›Romantiker[s]‹ unter den Paläontologen des 20. Jahrhunderts« galt und der in einer Situation, in der sich die Paläontologie als Fach in Deutschland etabliert, aus dem Feld der strengen Wissenschaft ausgeschlossen wurde. Hahn weist in Benns Urgesicht konkrete Lektürespuren und poetische Paraphrasen von Dacqu8s Theorien und Modellen – insbesondere die Theorie der Zeitsignatur – nach, die an die paläontologische Ewigkeitsperspektive anschließen.

Vorwort. Brennpunkte der Beobachtung und Weite der Wahrnehmung

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Lukas Mairhofer: »mit der feuerzange« – Brechts Kaukasischer Kreidekreis und das Messproblem der Quantenphysik In einer Situation der Krise im amerikanischen Exil in Los Angeles führte Bertolt Brecht 1942 im privaten, außerakademischen Nachbarschaftskontext eine intensive Diskussion über Beobachtung und Kausalität mit dem Physiker und Philosophen Hans Reichenbach. Der 1933 von der Berliner Universität vertriebene Reichenbach war Hörer im exklusiven Kreis Albert Einsteins und spielte im intellektuellen Leben der Weimarer Republik eine zentrale Rolle als Verfechter des logischen Empirismus und der neuen Raumzeit-Lehre. Angestoßen wurden die Diskussionen durch einen heute verlorenen Vortrag Reichenbachs, den Mayrhofer aus den Notizen in Brechts Arbeitsbuch als einziger Quelle rekonstruiert. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen steht die für Reichenbach zentrale philosophische Frage des Induktionsproblems, d. h. wie sich »aus Beobachtungen von Einzelfällen sichere und allgemeine Gesetzmäßigkeiten ableiten« lassen. Mayrhofer liest Der Kaukasische Kreidekreis von Brecht als soziologisches Experiment, bei dem Brechts andernorts bekundete naturwissenschaftliche Haltung der emotionslosen Betrachtung nicht mehr greift. In der Versuchsanordnung des Kreidekreises kann der Einfluss der Beobachtung auf den Gegenstand nicht mehr ignoriert werden.

Werner Michler: Beobachtung, Rekonstruktion und Schau: Goethes Nausikaa von Wilhelm Scherer Werner Michler zufolge tritt die methodische Beziehung zwischen Philologie und Naturwissenschaft 1860 mit Scherer in eine neue Phase. Scherer, Positivist, wissenschaftlicher Begründer der Neugermanistik als Literaturwissenschaft und neue Disziplin, will die Germanistik zu einer exakten Kulturwissenschaft machen. Michler lokalisiert Scherers Gründungsaktivitäten im der Phase des naturwissenschaftlichen Positivismus und widerlegt die traditionelle Periodisierung, die davon ausgeht, dass sich Scherer Anfang der 1870er Jahre vom naturwissenschaftlichen Positivismus abwendet habe. Die genetische Konstruktions- und die hypothetische Rekonstruktionsarbeit, die Scherer seit 1879 an Goethes Dramenfragment Nausikaa vorgenommen hatte, vergleicht Michler mit einem paläontologischen Verfahren. In Scherers rekonstruktiver Goethe-Philologie lassen sich Analogien von Philologie und Anatomie belegen, die beide die empirische Beobachtung methodisch mit der visionären »Schau« des Ganzen verbinden. Beobachtung erweist sich hier als ein Modus der Weltaneignung mit einer wissenschaftlichen und einer ästhetischen Dimension.

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Vorwort. Brennpunkte der Beobachtung und Weite der Wahrnehmung

Franz M. Eybl: Beobachtete Blicke. Barocke Josephserzählungen, Kleists Findling und Bernhards Alte Meister Mit Hans Belting, dem zufolge der Blick als »weder physiologisch [..] noch allein von den Techniken der Wahrnehmung abhängig« ist, versteht Franz Eybl den Blick als eine kulturelle Praxis, die ihrerseits historischem Wandel unterliegt. Der Beitrag diskutiert drei historisch unterschiedliche wahrnehmungs- und darstellungstheoretische Modelle von Kunstbetrachtung und Blickinszenierungen – die barocken Josephserzählungen, Kleists Findling und Thomas Bernhards Alte Meister. In den barocken Romanen von Grimmelshausen und von Zesen verstummt und erstarrt das namenlose »Weib des Potiphar« beim schönen Anblick des biblischen Joseph, die barocke Macht des Eros über Blick und Beobachtung unterliegt einem biophysikalischen Wirkungsmodell. Im Kleist’schen Blicksystem wechselseitiger Beobachtung nehmen Kunstwerke die Stelle der unmittelbaren Beobachtung ein, im Motiv der Bildwahrnehmung wird eine spezifische epistemologisch-darstellungstheoretische Problematik verhandelt. Thomas Bernhards Alte Meister schließlich überführen die Kleist’sche Konstellation von Bedeutungsaufladung und Bedeutungsentzug ins 20. Jahrhundert. Nur in dieser Doppelung werden bei Bernhard die Textbewegungen strukturell beschreibbar, die Beobachtung gibt Gelegenheit, »die performativen komischen Momente von Inszenierung und Annulierung wirkungsvoll zu entfalten.«

Thomas Weitin: Den Auftritt des Zeugen beobachten Thomas Weitin betrachtet den Zeugenstand in einer mündlichen Gerichtsverhandlung als Gegenstand eines besonderen literaturwissenschaftlichen Interesses, das auf den medialen Wandel in der Urteilsfindung von Strafverfahren – auf den Übergang von schriftlichem zum mündlichen Prozess – gerichtet ist. Dieser Übergang zum öffentlich-mündlichen Gerichtsverfahren verbindet sich – so Weitins These – mit einer ästhetischen Dramatisierung des Rechts, insbesondere mit der Beobachtung des Zeugenauftritts als Schlüsselszene. Thomas Weitins Lektüre der Beobachtungsprobleme, die im Drama des 18. Jahrhunderts – in Schillers Vorstellung vom Theater als Gerichtshof und in den Gerichtsszenen bei Goethe und Kleist – verhandelt werden, demonstriert, wie buchstäblich dramatisch die rechtsaufklärerische Vorstellung der unmittelbaren Beobachtung ist. An der Schwelle zur Moderne zeigt sich der Transfer zwischen Literatur und Recht auch in der Diskussion um die Deutung der Körperzeichen in den Gebärdenprotokollen, die die Steuerungsvorteile des Speichermediums Schrift zur Kontrolle des eigendynamischen Auftritts des Zeugen in den Gerichtsprozess integrieren.

Vorwort. Brennpunkte der Beobachtung und Weite der Wahrnehmung

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Cornelia Zumbusch: Hypnotisiert. Pathologien der Beobachtung in der Literatur des 19. Jahrhunderts (Kleist, Schnitzler, Fontane) In zwei ähnlich angelegten Szenen aus Kleists Ritterspiel Käthchen von Heilbronn und Schnitzlers Einakter Anatol versuchen sich männliche Beobachter durch diverse Techniken, planvoll angelegte Beobachtungen und systematische Befragungen über Vergangenheit und Zukunft Einblick in die verborgenen Seelenbewegungen somnambuler oder hypnotischer Frauen zu verschaffen. Cornelia Zumbusch liest Kleists geträumte, perfekte Beobachtungssituation, in der die Liebenden einen Doppeltraum idealer Transparenz träumen, und Schnitzlers Einakter als ironisch gebrochenes spätes Echo auf Käthchens Traumbefragungen. Anstelle des Mesmerismus bringen im 19. Jahrhundert die Aussprechsysteme der Psychologie das Unbewusste im Schlaf zum Sprechen. Dabei ist wesentlich, dass die Einzelbeobachtungen nur wissenschaftlich verwertbar und theoretisierbar sind, wenn sie erzählt und symbolisch verstanden werden. In diesem Konflikt zwischen dem Regelwerk empirischer Beobachtung und dem Psychischen, das dem Subjekt per definitionem ein der direkten Beobachtung entzogenes, unzugängliches Unbewusstes zuschreibt, scheinen beide Texte im Somnambulismus und in der Hypnose einen Ausweg zu finden. Doch biegen sich die Beobachtungen rekursiv auf die Beobachter zurück. Der Wunsch, beim Blick in die Psyche so etwas wie Wahrheit zu gewinnen, erfüllt sich nicht. Zumbusch zufolge zeichnet sich in den frühen mesmerisch inspirierten Experimenten und in den im 19. Jahrhundert verfeinerten Hynoseexperimenten der epistemische Grenzverlauf zwischen empirischen Wissenschaften und idealistischer Spekulation ab, der bei Freud um die hermeneutische »Deutung der Empirie« erweitert wird.

Nathalie Soursos: Eidola evozieren, um mit den Toten zu sprechen. Antike und moderne Versuchsanordnungen Im Rückgriff auf die griechische Etymologie des Wortes eidolon, das sehen, erblicken und wahrnehmen bis hin zu erkennen und erfahren bedeutet, untersucht der Beitrag von Nathalie Soursos antike und moderne Versuchsanordnungen zur Evokation und Beobachtung der unheimlichen Wiederkehr der Toten in der Literatur. Die antike philosophische Begriffsverwendung als wahrnehmungserzeugendes Atomgefüge erfuhr durch die Theorien der Fotografie im 19. Jahrhunderts eine Übertragung in einen technischen Kontext. Das Gespenstische geht auch in Roland Barthes’ Überlegungen zur Nähe von Fotografie und Tod von dem eidolon aus, dem Abbild mit einer Zwischenstellung zwischen tot und untot.

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Vorwort. Brennpunkte der Beobachtung und Weite der Wahrnehmung

Wenn in Henry Parlands Fotografie-Roman Zerbrochen. (Über das Entwickeln von Veloxpapier) und in Elfriede Jelineks Roman Die Kinder der Toten die Toten im chemischen Entwicklerbad oder in eine ruhelose Nekromantie der Untoten übergehen, rekurriert die literarische eidola-Beobachtung auf die rituelle Heraufbeschwörung der Toten in der Nekyia und in Homers Odyssee. Nach wie vor verbindet sich die Evokation des luft- und hauchartigen, Leben vortäuschenden, vom Körper abgelösten Trug- und Schattenbildes mit der Hoffnung, mit den Toten in Verbindung treten zu können. Christoph Leitgeb: Der Stalker im Spiegel: Beobachtender und verfolgender Blick in den Texten von Stefan Zweig und Daniel Glattauer Anders als der Voyeur beobachtet ein Stalker nicht zum Selbstzweck, sondern um Einfluss auf sein Opfer zu gewinnen. Die Figur interessiert Leitgeb vor dem Hintergrund der psychoanalytischen Subjektkonstitution, die ein unheimliches Verhältnis zum Begehren des Anderen unterhält. Die Psychopathologie geht von einer narzisstischen Angst-Störung der imaginären Selbst-Konstitution aus, deren Angst in der Furcht vor der Zerstörung der imaginären Inszenierung durch den vernünftigen Blick besteht. An Texten von Stefan Zweig und Daniel Glattauer, die beide im zeitlichen Abstand von 100 Jahren die ins Unheimliche pervertierte Beobachtungs-Relation des Stalking an einer weiblichen Protagonistin thematisieren, zeigt Leitgeb, wie auch die fiktionale Darstellung verunsichernd wirkt. Die ästhetische Strategie einer Poetik des Blicks und des Beobachtens besteht darin, dass etwas im Lacanschen Sinne Reales die symbolische Darstellung durchkreuzt.

Dank Hervorgegangen ist der Band aus einer mit Michael Rohrwasser am Institut für Germanistik der Universität Wien konzipierten Vorlesung zum Thema »Beobachtung«. Die ursprüngliche Reihe erscheint jetzt in erweiterter Form und mit einem erweiterten Beobachtungsfeld, was den Beiträgerinnen und Beiträgern, die ihre Artikel dankenswert schnell zu Papier gebracht haben, Geduld abverlangte, neu hinzugekommenen Beiträgerinnen und Beiträgern aber auch die Teilnahme ermöglichte. Wir danken Justus Fetscher, Hannah Körner, Bernhard Oberreither, Stephan Kurz und Christine Ivanovic für ihre Hilfe und dem Dekanat der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien für die finanzielle Unterstützung der Reihe »Schriften der Wiener Germanistik«. Helmut Lethen und Annegret Pelz

Essay

Marcel Beyer

Ich beobachte mit dem Stift

I Wie Heinrich Dathe in seiner 1965 veröffentlichten Sammlung von Zoo-Anekdoten Im Tierpark belauscht erzählt, sollen sich im Eckpavillon des alten, heute von keinem Affen mehr bewohnten sogenannten Tieraffenhauses im Leipziger Zoo »vor Jahren« (als existierten Tiere in Gefangenschaft und Dinge gleichermaßen jenseits unserer Zeitrechnung) insbesondere nach Tagen mit großem Publikumsandrang verdachterregend viele Gebrauchs- und Schmuckgegenstände angehäuft haben. »Verstohlene und sorgfältige Beobachtungen«, so Dathe, seien notwendig gewesen, um zu ergründen, auf welchem Weg »Spiegel, Damenschleier, Herrenstrohhüte, Kindermützen, Handschuhe, Brillen, Lorgnetten, Damenschirme – sogenannte Knirpse, Bleistifte und Stoffblumen«, außerdem »Schlüsselbunde, Geldtaschen, Handtaschen und -täschchen« in den mit zwei Mohrenmangaben (heute: Rauchgraue oder Rußmangabe, Cercocebus atys) besetzten Käfig gelangten. So allerdings, wie ich diese Meerkatzen-Anekdote, dem Autor folgend, nachzuerzählen begonnen habe, deutet sich bereits an, daß ›Beobachten‹ und ›Beobachten‹ zwei grundlegend verschiedene Tätigkeiten sind, je nachdem, ob wir es mit einem Text zu tun haben oder nicht. Denn keinesfalls können, wie der Autor suggeriert, die Zoomitarbeiter am Ende von Besuchstagen auf derartige Materialmengen im Mangabenkäfig aufmerksam geworden sein, berichtet Dathe doch im Anschluß, der Affenwärter sei bereits während der Öffnungszeiten regelmäßig von Besuchern herbeigerufen worden, die einen Verlust zu beklagen hatten. Natürlich bedient sich Heinrich Dathe hier als Erzähler eines simplen dramaturgischen Tricks, um Aufmerksamkeit zu wecken: Zum Auftakt läßt er den Leser an einer rätselhaften Beobachtung teilhaben – und kündigt damit implizit eine im weiteren Verlauf erfolgende Lösung des Rätsels an. Anders als in der klassischen Detektivgeschichte aber spielt es, während Beobachtung auf Beobachtung folgt (»schneller, als ich es hier sagen kann«, heißt es an einer Stelle), in

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Dathes Erzählgefüge weder eine Rolle, daß die Beschreibung eines mit Strohhüten, Brillen und Handtaschen übersäten Käfigbodens keiner tatsächlichen Beobachtung entsprechen kann, noch, daß sie in offenem Widerspruch zu anderen mitgeteilten Beobachtungen steht. Auch müßte der Leser, hinter dem sich vermutlich selbst ein eifriger Zoobesucher verbirgt, bei der bloßen Erwähnung von im Affenkäfig zurückgebliebenen Schlüsselbunden und Brieftaschen stutzig werden: Denn wer würde tatsächlich den Zoo verlassen, ohne wieder in Besitz solch unverzichtbarer Gegenstände gelangt zu sein? Anstatt ein eingangs aufgestelltes Rätsel Schritt für Schritt zu lösen, häuft Dathes Anekdote Rätsel um Rätsel an, in einer Parallelbewegung zu den zwei Mangaben, deren Käfig sich, wenn auch nicht in der Wirklichkeit, so doch im Text nach und nach mit Gegenständen füllt. Gleichwohl kann der Leser darauf vertrauen, daß der Erzähler ihm eine Lösung präsentieren wird, und der Rest wäre rasch erzählt, entwickelte Heinrich Dathe nicht – gewissermaßen unter der Hand – eine höchst aufschlußreiche, höchst irritierende Beobachtungskonstellation im Dreieck zwischen Zootier, Besuchern und Zoomitarbeitern. Zieht man nämlich die biedere Munterkeit des Erzähltons ab, den aus einer ›klassischen‹ Vertauschung der Rollen von Mensch und Menschenaffe geschlagenen, ermüdend wirkenden Humor sowie die auf eine generelle Abneigung Dathes gegenüber Primaten hindeutende Häufung von Formulierungen wie »unberechenbar«, »mit Vorsicht zu genießen«, »ausgesprochen geriebene Diebesgemeinschaft« und »böse«, versucht man also, von allem rhetorischen Zierrat abzusehen (aber Stil ist Charakter), zeigt sich: Zwei Rußmangaben werden von Tierpflegern dabei beobachtet, wie sie, verschiedene Rollen einnehmend, Zoobesucher beim Stillen ihrer Neugier beobachten. Der eine Affe streckt, auf dem Käfigboden hockend, einen Arm durch das Gitter nach draußen. Ein Besucher deutet die offene Pfote, so Dathe, »gerührt« als »bettelnd entgegengestreckte Hand« und beugt sich weit über die Absperrung, um dem Mangaben etwas Freßbares zu geben, ihm mit einem Brillenfutteral oder einem Füllfederhalter »auf die Hand« zu klopfen. Währenddessen hockt der andere weiter oben im Käfig auf einer Laufstange und blickt »scheinbar teilnahmslos auf die Menschen vor seiner Unterkunft« herab. Hat sich der neugierige Zoobesucher weit genug genähert, reißt ihm der unbeachtete Beobachter – und eben nicht, wie man vermuten würde, der »ganz unschuldsvoll seine Augen« verdrehende, am Gitter hockende Artgenosse – das Brillenfutteral aus der Hand oder den Hut vom Kopf, woraufhin sich die beiden Rußmangaben zurückziehen, um »die Beute zu zerfasern«, also den Gegenstand zu untersuchen. Damit zerfällt die labile Beobachtungskonstellation. Von einem rechtzeitigen Eingreifen des Affenwärters oder womöglich des Autors selbst, der hier als praktizierender Tierpsychologe auftritt, ist bei Dathe keine Rede, der im Ge-

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genteil herausstreicht, »diese Arbeitsmethode« sei von den zwei Rußmangaben »immer wieder und stets mit dem gleichen Erfolg angewandt« worden. Die Aufmerksamkeit der Affen richtet sich daraufhin vom neugierigen Zoobesucher auf einen Gegenstand, doch an ihrer statt gerät eine weitere Beobachterposition in den Blick, und zwar die jener übrigen Besucher, die das Geschehen am Käfig verfolgt haben. Die Beobachtungskonstellation zerfällt – und mündet in Scham. Der ›Bestohlene‹ schämt sich, gewiß vor den anderen Zoobesuchern, gewiß auch, weil er sich den Schlüsselbund oder gar die Brille hat entreißen lassen und somit in gewissem Sinne nackt dasteht, schämt sich zudem, weil er sich gezwungen sieht, den Affenwärter herbeizurufen und sein Mißgeschick einzugestehen, schämt sich in erster Linie aber doch wohl, weil er sich im Vergleich zu zwei Menschenaffen als der schlechtere Beobachter erwiesen hat. Es wäre nun völlig verfehlt, Heinrich Dathes kleiner Erzählung mangelnde Logik vorzuhalten oder dem Autor vorzuwerfen, seine Darstellung bilde den Prozeß des Beobachtens nicht ›naturgetreu‹ ab. Nach der Lektüre seines Gelegenheitstextes mit dem Titel »Zwei Spießgesellen« meint man vielmehr, etwas erfahren zu haben über die Tücken des ›Mitteilens‹ von Beobachtungen selbst. Diese Tücken liegen nicht lediglich in der Textform begründet, in den Erzählanforderungen des Genres ›Anekdote‹, sondern werden, davon bin ich überzeugt, überall dort offenbar, wo wir uns, als Leser, in unserer Sehnsucht angesprochen fühlen, den Unterschied zwischen Beobachten und schreibendem Beobachten zu ignorieren. Schreiben ist kein Verfahren, in dessen Verlauf Beobachtungen ›festgehalten‹ werden, sondern ein Prozeß, der das Beobachten in Gang setzen kann. ›Aufschreiben‹, das lehren die beiden Rußmangaben aus der Feder Heinrich Dathes, ist bestenfalls eine Illusion. Und so verwundert es am Ende nicht, wenn Dathe die Aufmerksamkeit des Lesers an einer Stelle noch einmal eigens auf ein Schreibwerkzeug lenkt: »Besonders erhebend sah es aus, wenn ein Füllhalter mit einem Biß fertiggemacht wurde«, berichtet er, als wolle er es dem Tier überlassen, die unüberwindliche Linie zwischen schreibenden und nicht-schreibenden Säugetieren wenigstens symbolisch zu durchbrechen: »Dann floß dem Affen die Tinte wie Heidelbeersuppe aus den Mundwinkeln. Der Beifall der Zuschauer war grandios.«

II Während einer Tagung in Würzburg im September 2012 wurde in den Sitzungspausen – der diskrete Charme der Cultural and Literary Animal Studies – eine Photographie von Derridas Katze herumgereicht. Dies war sie also, jene nach Auskunft des Philosophen reale, singuläre, lebendige, sterbliche, ent-

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schieden nicht mit Katzensymbolik beladene, nicht-allegorische und nichtkonzeptualisierbare, nicht geschriebene und nicht schreibende Katze, zu deren Alltag es gehörte, jeden Morgen im Schlafzimmer oder im Badezimmer Jacques Derrida nackt zu sehen. Und wir betrachteten sie, ohne Scham.

III Bei meinen seit bald fünfzehn Jahren regelmäßig wiederholten Versuchen, Lolita von Vladimir Nabokov zu lesen, bin ich bislang nicht weit über Dieter E. Zimmers erstaunlichen Anmerkungsapparat zur deutschsprachigen Ausgabe sowie das vom Autor selbst stammende Nachwort »Über ein Buch mit dem Titel Lolita« hinausgekommen, das ich dafür mittlerweile um so häufiger gelesen habe. Keine der zahlreichen – vermeintlichen – Selbstauskünfte Vladimir Nabokovs wirkt auf die Gemeinde seiner Leser bis heute ähnlich verstörend wie der in diesem Nachwort gegebene Hinweis, der früheste Impuls zum Schreiben seines Romans Lolita sei, lange bevor der Autor überhaupt mit der Arbeit begonnen habe, von einem 1939 oder Anfang 1940 veröffentlichten Zeitungsartikel ausgegangen, auf den er während seiner Zeit in Paris zufällig gestoßen sei. Darin wurde, so Nabokov, beschrieben, wie ein im Jardin des Plantes in einem engen Käfig gehaltener Menschenaffe – ein Schimpanse? ein Orang-Utan? – als erster seiner Spezies unter Anleitung eines Wissenschaftlers – eines Zoologen? eines Kunsthistorikers? – eine Kohlezeichnung angefertigt habe, auf der die Stäbe seines Käfigs zu erkennen gewesen seien. Läßt man die triviale Parallele außer acht, daß Humbert Humbert seinen Bericht in einer Gefängniszelle verfaßt, findet sich im Roman kaum ein motivisches Echo jenes »initialen Inspirationsschauers«, auch wenn der Erzähler seine Augen als »Gorillaaugen«, sein Ohr als »Gorillaohr«, Lolitas Füße als »Äffchenfüße«, einmal Lolitas Hand als »Pfote«, dann wieder seine eigene als »Gorillapfote« bezeichnet und sogar einen gemeinsamen Zoobesuch in Indiana erwähnt, wo – Robert Musil winkt aus der Villa Borghese herüber – »eine große Horde Affen das in Beton nachgebildete Flaggschiff des Christopher Columbus bewohnte«. Als realen Gegenpart des Roman-Zoos hat man schon lange den Mesker Park Zoo in Evanston, Indiana ausgemacht, dessen Homepage heute auch eine Rubrik »Kinderfun« verzeichnet, doch was die hinter Nabokovs poetologischem Verweis steckenden Realien angeht, tappt die Forschung trotz jahrzehntelanger Recherchen im Dunkeln: Kein Zeitungsartikel und kein zu Beginn des Zweiten Weltkriegs im Jardin des Plantes zeichnender Affe. Im Zuge der fieberhaften Suche hat man neben einer ganzen Reihe zeichnender und malender Affen einen Schimpansen ›gefunden‹, der 1938 im Zoo-

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logischen Garten in Berlin mit einer Leica aus dem Käfig heraus photographierte: Eines seiner Bilder zeigt die Gitterstäbe, dahinter eine lächelnde Zoobesuchergruppe und, ganz links am Rand, eine Kamera, die auf den Schimpansen gerichtet wird. Man ist auf einen zweiten Schimpansen namens Cookie gestoßen, der 1942 unter Anleitung seines Besitzers H. Huber Clark in New York aus dem mit Maschendraht zusätzlich verstärkten Käfig heraus seine Betrachter ablichtete, ebenso wie auf einen weiteren Schimpansen namens Cookie, der 1949 unter Anleitung des »Life«-Photographen Bernhard Hoffman im Zoo von St. Louis ein Gruppenbild von Zoobesuchern anfertigte – nachdem er den Besuchern neun Jahre lang selbst als geduldiges Photoobjekt gedient hatte. Die damit einhergehende, zudem photographisch ›dokumentierte‹, Umkehrung des Beobachterverhältnisses erinnert an Heinrich Dathes Mangabengeschichte, zumal – hier ein Photoapparat, dort ein Füllfederhalter – in beiden Fällen Werkzeuge ins Spiel kommen, mit deren Hilfe der Mensch sich seiner Wahrnehmung und damit seiner Identität vergewissert. Hinter den Gitterstäben des Affenkäfigs ein Mensch. – Mehr als der oberflächliche Scherz wird daraus, wenn man in Betracht zieht, Nabokovs Bild vom Affen, der die Stäbe seines Käfigs zeichnet, könnte auf ein ganz anderes Bild zurückgehen, auf ein Schreckensbild im imaginären Photoalbum vom Schriftstellerdasein, das vermutlich kaum einem Literaturwissenschafter, sehr wohl aber bis in die Gegenwart hinein Schriftstellern lebendig vor Augen steht. Im Jahr 1951, als er mit der Arbeit an Lolita begann, wird es Vladimir Nabokov ebenso präsent gewesen sein wie 1957, als er sein Nachwort mit der AffenAnmerkung verfaßte, wurde mit diesem Bild doch in einer bis dahin kaum vorstellbaren Intensität die Frage aufgeworfen, was ein Schriftsteller im besten, oder, hier : im schlimmsten Fall sein könne. Diese Photographie würde, so sie denn existierte, einen nördlich von Pisa unter freiem Himmel errichteten Zellentrakt zeigen, Stahlkäfige, zum Teil mit Maschendraht verstärkt und mit einem Stück Teerpappe als zusätzlichem Dach gegen die Witterung geschützt. In einer dieser Zellen sähe man, aufgenommen Ende Mai oder Anfang Juni 1945, den Dichter Ezra Pound. Sei es, daß er den Blick gesenkt hielte, sei es, daß er aus dem von ihm so genannten »Gorillakäfig« heraus den Photographen ins Visier nähme, um ihn für das Drücken des Auslösers zu strafen – ob sich in Ezra Pounds von antisemitischem Wahn zerfurchtem Gesicht, in seinen erloschenen Augen so etwas wie Scham zu erkennen gibt, ließe sich trotz intensiver Betrachtung des Photos nicht mit Sicherheit sagen.

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IV »Affenkunst« gibt es seit einhundert Jahren. Die erste Wissenschaftlerin, von der überliefert ist, daß sie einem Schimpansen – einem Männchen namens Joni – Papier und Bleistift gab, war 1913 Nadeshda Nikolaevna Ladygina-Kohts im Psychologischen Labor des Museum Darwinianum in Moskau. Schon Joni zog, wie später Nabokovs imaginärer Affe, Striche auf dem Papier, obwohl es sich bei ihm, soweit man weiß, um keine in einem engen Käfig gehaltene, tagtäglich den Blicken neugieriger Besucher ausgesetzte »arme Kreatur« handelte. In der breiteren Öffentlichkeit allerdings, so mein Eindruck (meine ungesicherte These), löst sich der zeichnende, malende oder photographierende Menschenaffe erst nach 1945 vom Bild des Variet8-Äffchens, das Kunststücke vorführt oder in bunter Verkleidung dem Leierkastenmann Gesellschaft leistet, also vom Menschen darauf dressiert wird, den Menschen zu imitieren. Sei es, daß dieser Wandel einhergeht mit der Abwendung vom Nationalsozialismus, in dessen Ära sämtliche menschlichen Lebensbereiche und Ausdrucksregungen unter rassistischer Perspektive betrachtet wurden, sei es, daß die im Nationalsozialismus betriebene, konsequente Biologisierung der Kunst sich lediglich auf ein anderes Feld verlagert: Fortan entzündet sich an den greifbaren Zeugnissen zoologischer Beschäftigungstherapie stets von neuem die Diskussion, ob die von Primaten erstellten Bilder Nachweise einer ›noch engeren‹ als der ohnehin offenkundigen engen Verwandtschaft zwischen Mensch und Menschenaffe darstellen. Denn schließlich, so die in kuriosem Widerspruch zu dieser ›ontologischen Ahnung‹ stehende Einschätzung, seien sie »wunderschön«. – Lächerliches, abstoßendes, bedrohliches »Wunderschön«, in dem eine ›evolutionsbedingte Säugetierästhetik‹ und die ›Naturschönheit‹ / la Riefenstahl zusammenfinden. Die Zeichnung eines Schimpansen, das Gemälde eines Orang-Utans: »Auf den ersten Blick hielt ich es für Entartete Kunst, aber als ich erfuhr, von wem das Bild stammt, erkannte ich seinen wahren Wert.« Wenden wir uns von den zahllosen Affenbildern auf Papier oder Leinwand (gegebenenfalls mit »Cheeta« ›signiert‹ und von Kunsthändlern mit »ohne Titel« betitelt) ab und der Affenphotographie nach 1945 zu, eröffnet sich eine andere, schwindelerregende Dimension. Denn ›wie von allein‹ entfällt mit dem simplen Zwischenschalten des optischen Apparats eine ganze Reihe von Störfaktoren. So sieht sich etwa der Betrachter von der Last befreit, seinen Kunstsinn unter Beweis zu stellen, indem er überlegt, ob ihn die von Primaten erzeugten Bilder nun eher an abgebrochene Studien von Käthe Kollwitz, an den späten Jackson Pollock oder nicht doch an das Frühstadium einer Arbeit von Bob Ross erinnern, wenn man seine Sendung bei schlechtem Zimmerantennen-Empfang auf einem alten Röhrenfernseher schaut. Auch rückt die Frage in den Hintergrund, ob

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Menschenaffen eine Verbindung ziehen zwischen Beobachtung und bildlicher Repräsentation. Drückt ein Schimpanse oder ein Gorilla den Auslöser, ist es ohne Belang, ob er über die Fähigkeit verfügt oder gar das Bedürfnis verspürt, seine Eindrücke ›festzuhalten‹. Längst haben wir uns an die Vorstellung gewöhnt, daß es sich bei einer Photographie um eine absichtslose Darstellung handeln kann. Gestehen wir aber dem Menschen zu, daß er, wie Peter Geimer sie nennt, ›Bilder aus Versehen‹ hervorbringt, dann werden wir dasselbe auch einem Tier zugestehen. Der Menschenaffe photographiert nicht, was er beobachtet, er beobachtet und photographiert. An diesem Punkt wird es interessant. Ein Tier bedient sich der Kamera, bedient den Inbegriff eines Dokumentationsapparats und dokumentiert damit – was? Im Fall des Gorillas Koko, dessen photographisches Selbstporträt im Oktober 1978 auf dem Umschlag des »National Geographic«-Magazins abgebildet war, fällt das Spekulieren noch leicht: Vor dem Spiegel dokumentiert der im Umgang mit der Kamera unterwiesene Primat das klassische Spiegelexperiment – als sei er der Ethologe selbst, dem daran gelegen ist, einen Nachweis für die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis seines Versuchstiers zu erbringen. Entgegen der beim Betrachten unwillkürlich ›empfundenen‹ Evidenz bleibt jedoch offen, in welchem Verhältnis hier Beobachten und Photographieren stehen, hat doch Koko im Sucher gerade nicht sein eigenes Gesicht, sondern die sein Gesicht nahezu vollständig verdeckende Kamera vor Augen. Möglich, sein Blick ist auf den spiegelverkehrt erscheinenden »Olympus«-Schriftzug über dem Objektiv gerichtet, möglich, er fixiert seine den Photoapparat haltenden Hände. In einer weithin wahrgenommenen PR-Aktion stattete der Tierpark Schönbrunn Anfang Dezember 2009 das Orang-Utan-Weibchen Nonja mit einer Digitalkamera aus, deren Bilder automatisch ins Internet übertragen wurden und auf einem unter Nonjas Namen eingerichteten Facebook-Account erschienen. Innerhalb weniger Tage betätigten Nonja und ihre Artgenossen mehr als hundertmal den Auslösemechanismus, der jedesmal zugleich auch eine Rosine freigab. Spektakulärer noch als der PR-Erfolg sind die so entstandenen Bilder, von deren Existenz kein Orang-Utan in Schönbrunn je erfahren hat. Leicht erschließt sich dem Betrachter, daß er Zeuge der Untersuchung eines Gegenstandes wird, den die Affen als Rosinenspender wahrnehmen – und dennoch ertappt er sich unablässig dabei, wie er sich wünscht, sie würden eine Kamera untersuchen. Wir sehen: Holzwollewolken. Eine Achselhöhle. Ein angeschnittenes Gehegefenster. Ein Augenpaar. Ein unscharfes Stück heller Fußboden. Dunkle Haut. Aus dem Hintergrund betrachtet ein Orang-Utan einen Orang-Utan, der eine Kamera betrachtet. Dann wieder Holzwolle auf dem Boden, ein Fuß. Ein zerknittertes weißes Tuch. Ein Auge, eine Nase. Ein Schopf. In der Luft schwingende Seile. Oberlippe, Zahnreihe, Zunge – an die Linse der Kamera gedrückt. Ein blanker, gänzlich von seiner Rinde befreiter Baumstamm. Licht.

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Der Tierpark Schönbrunn wird nicht müde, darauf hinzuweisen, es habe sich bei jener Digitalkamera, die zwischendurch auch als Wurfgeschoß Verwendung fand, für die Orang-Utans um ein Spielzeug wie jedes andere gehandelt. Ein Spielzeug, das wie viele Spielzeuge vor und nach ihm offenbar schon nach wenigen Wochen seinen Reiz verlor – genauere Angaben hierzu bleiben im Dunkeln, als existierten Tiere in Gefangenschaft und Dinge gleichermaßen jenseits unserer Zeitrechnung. Auf nun nicht mehr von den Menschenaffen selbst angefertigten, Ende April 2011 entstandenen Photographien sieht man die Orang-Utan-Weibchen Nonja und Sol aus großen, bunten, Lego-artigen Plastikbausteinen Türme bauen. Kein erkenntnistheoretisch fundiertes Experiment, nur Beschäftigungstherapie. Wir aber, die wir die von Nonja gemachten Photographien anschauen, können nicht anders, als uns zu fragen, was wir beobachten, wenn wir beobachten, woraus bemerkenswerterweise nichts hervorgeht.

V Im Nabokov-Museum in Sankt Petersburg habe ich, unter Beobachtung der Museumsaufsicht stehend, am 13. Oktober 2012 im abgedunkelten, zur Straße gelegenen Raum gleich rechterhand vom Eingang vergeblich versucht, trotz dem geltenden Photographierverbot eine gestochen scharfe Aufnahme zu machen, auf der zwar nicht ein von einem Affen zerbissener Füllfederhalter, wohl aber drei von Vladimir Nabokov persönlich mit Bißspuren versehene Bleistiftstummel zu sehen sein sollten. Wie der Vitrinentext verrät, sind sie ein Geschenk, das der Sohn des Schriftstellers dem Museum 1999 übergeben hat, eine besondere Gabe, da der Besucher mit diesen stumpf geschriebenen, je mit einer Radiergummikappe in der Farbe Braun, Türkis oder Gold versehenen Stummeln nicht nur beispielhaft »Nabokov’s favourite writing tool« vor Augen hat, sondern sich, sofern seine Sehkraft es im schummrigen Zimmerlicht erlaubt, davon überzeugen kann, daß es sich bei den kleinen, unregelmäßig verteilten Markierungen im Lack um »traces of the writer’s teeth« handelt.

VI Beobachten – hier liegt das ›magische‹ Kippmoment – ist sowohl natürliches Verhalten als auch Kulturtechnik. Und wir, als Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller, richten unseren Blick um so neugieriger auf einen imaginären Punkt, an dem wir dieses Umkippen zu erkennen hoffen.

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Tinte in den Mundwinkeln eines Affen. Das Photo einer Katze, die keine Symbolkatze ist. Stäbe im Jardin des Plantes. Abstrakte Kunst über dem Wohnzimmersofa, »ohne Titel«, unsigniert. Eine mit Draht zusätzlich verstärkte Zelle im U. S. Army Disciplinary Training Center zwischen Pisa und Viareggio. Eine Photoserie aus dem sonnendurchleuchteten Orang-Utan-Haus in Schönbrunn. Drei angenagte Bleistiftstummel. Ich beobachte mit dem Stift.

Beiträge

Birgit R. Erdle

Nachlese(n). Beobachtung nach Kracauer

1. Von Anfang an ist die Szene der Beobachtung, die Siegfried Kracauer in einem Text aus dem Jahr 1930 entwirft, einer Unmöglichkeit ausgesetzt. »Es ist mir wieder einmal so geschehen wie bei vielen früheren Krawallen: ich bin zu spät gekommen, ich war nicht dabei.«1 Das so benannte Verfehlen, im ersten Satz zu Tage getreten, ist die Voraussetzung, die Kracauers Text mitschleppt und mit der er operiert: Sie desavouiert von vorne herein den Beobachter als Zeugen der vor seinen Augen stattfindenden Ereignisse. »Immer wenn ein Tumult ist, ist er woanders.«2 Mit diesem Eingeständnis des Beobachters eröffnet Kracauer seinen unter dem Titel Zertrümmerte Fensterscheiben in der Frankfurter Zeitung vom 16. Oktober 1930 erschienenen Text, der dadurch zu erkennen gibt, wie Beobachterstandort und beobachtetes Ereignis sich gegeneinander verschoben haben. Ein Ereignis kann als »ein zu beobachtendes, zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort stattfindendes Geschehen«3 gefasst werden. In der zitierten Eröffnungssequenz des Textes ist der Moment des Sich-Ereignens als einer gesetzt, der aus dem Beobachterblick – immer schon – wieder einmal – herausgefallen ist. Doch dies Herausfallen zeugt nicht von einer prinzipiellen Nichtbeobachtbarkeit des Gegenstands oder von einem blinden Fleck des Beobachterblicks, es hat keine ontologische Tiefe, sondern ist der bloßen Tatsache des Zuspätkommens geschuldet, also strikt temporal. Kracauer konzipiert hier den Berichterstatter als eine Abweichungsfigur von Egon Erwin Kischs rasendem Reporter, oder vielleicht genauer : als eine Unterbietungsfigur, insofern 1 Siegfried Kracauer : »Zertrümmerte Fensterscheiben« (1930), in: ders.: Essays, Feuilletons, Rezensionen. Werke Bd. 5.3. 1928–1931, hg. v. Inka Mülder-Bach, unter Mitarbeit von Sabine Biebl, Andrea Erwig, Vera Bachmann und Stephanie Manske, Berlin 2011, 348–350, 348. 2 Ebd. 3 Elisabeth Weber : »Fragment über die Wissenschaft reiner Ereignisse«, in: Friedrich Balke, Joseph Vogl (Hg.): Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie, München 1996, 198–210, 199.

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beide, auf je verschiedene Weise, immer der Zeit hinterher sind. Bekanntlich hat Kisch 1925 den Reporter als Zeugen ohne Standpunkt und seine Reportagen als unretuschierte »Zeitaufnahmen«4 bezeichnet. Durch die Art und Weise, wie er Temporalität in seinem Text von 1930 entwirft, reformuliert Kracauer den Begriff der Zeitaufnahme. Der Gegenstand der Beobachtung ist aufgrund der fehlgegangenen Synchronisierung zwischen Beobachterblick und Ereignis ein anderer : »Ich sehe nicht die Steine, sondern die Scherben. Und mir bleibt nur übrig, als ein Friedensberichterstatter die Nachlese zu erhalten.«5 Es sind die Hinterlassenschaften dessen, was eigentlich beobachtet werden sollte, die nun in den Blick rücken. Referiert der Terminus Nachlese ursprünglich auf eine Rechtsfigur aus der hebräischen Bibel,6 so erscheint er hier als organisierender Begriff des Textes. In ihm verdichten sich drei Komponenten jener Praxis, die Kracauers Beobachten ausmacht: das Lesen im Sinne eines Entzifferns absichtsloser, flüchtiger »Oberflächenäußerungen«7; das Auflesen, das Sammeln der Überbleibsel, der Reste, der Details; und das Präfix nach-, das eine zeitliche (oder auch räumliche) Verschiebung indiziert, eine Verzögerung und Verspätung. Darin, dass Kracauer das Sammeln als eine Praxis der Beobachtung sieht und ausübt, trifft er sich mit Walter Benjamin: Und wie bei ihm, so wird auch bei Kracauer darin ein kulturwissenschaftliches Verfahren kenntlich. Als Nachlese unterscheidet sich Kracauers Beobachtung zugleich signifikant von einem Konzept des Lesens, wie es im 18. Jahrhundert als Teil einer wissenschaftlichen Praxis beschrieben wird, in der Lesen und Beobachten beständig ineinandergreifen: »The Observer is a man who regards Nature like a book; whose characters he must seek to read rigorously, without concern to imagine the meaning they must have.«8 Kracauers nachlesender Beobachter dagegen sammelt und sichtet zersprengte Beweisstücke. Insofern diese als Spuren oder Indizien lesbar sind, vermögen sie Tatsachen zu erschließen, die der direkten (mittelbaren oder unmittelbaren) Beobachtung 4 Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter, Berlin 1925, VIIf. 5 S. Kracauer: »Zertrümmerte Fensterscheiben«, 348. 6 Vgl. Deuteronomium 24, 19–21. Mischna, Peah 4,10. Die Passage regelt den Anteil der Armen und der Fremdlinge an der Ernte. 7 Siegfried Kracauer: »Das Ornament der Masse« (1927), in: ders.: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt/Main 1977, 50–63, 50. In einer methodologischen Reflexion zu Beginn des Essay stellt Kracauer fest, ein »bündiges Zeugnis für die Gesamtverfassung der Zeit« böten nur die »unscheinbaren Oberflächenäußerungen«, da diese »ihrer Unbewußtheit wegen einen unmittelbaren Zugang zu dem Grundgehalt des Bestehenden« gewährten (Ebd.). Zu dem diesem Essay zugrundeliegenden, an der Allegorie orientierten Konzept der Entzifferung vgl. Rudolf Helmstetter : »Unanschaulichkeit mit Zuschauer. Siegfried Kracauer und die Lesbarkeit der modernen Welt«, in: Almut Todorow, Ulrike Landfester, Christian Sinn (Hg.): Unbegrifflichkeit. Ein Paradigma der Moderne, Tübingen 2004, 125–144. 8 Jean Senebier : L’art d’observer, Bd. 1, Genf 1775, 5. Zitiert nach Lorraine Daston: »Taking Note(s)«, in: Isis, Jg. 95/3 (2004), 443–448, 445.

Nachlese(n). Beobachtung nach Kracauer

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entzogen sind.9 Doch welche Faktizität erschließt Kracauers Berichterstatter aus den von ihm aufgelesenen Bruchstücken? Und wie ist die Struktur der Nachlese in Kracauers Text vom Oktober 1930 selbst auffindbar?

2. Der Text Zertrümmerte Fensterscheiben präsentiert eine räumliche Konfiguration, den Nachraum eines Ereignisses. »Ich sehe nicht die Steine, sondern die Scherben. Und mir bleibt nur übrig, als ein Friedensberichterstatter die Nachlese zu erhalten«10, so stellt uns Kracauer den spezifischen Standpunkt seines Beobachters zu Beginn des Textes vor. Scherben: Das sind die Überbleibsel, die Indizien, Äußerungen an der Oberfläche des Sichtbaren – die einzigen Anhaltspunkte im Sichtbaren, die der Beobachtung zugänglich sind. Schon im folgenden Satz wird die Zeitfigur des Zuspätkommens in die temporale Kontinuität von »gestern« und »heute« überführt: »Die Leipziger Straße, auf der es gestern nationalsozialistisch zugegangen ist, sonnt sich heute um die Mittagsstunde im tiefsten Pazifismus.«11 Dass der Berichterstatter einen Nachraum durchquert, zeigt sich auch an dem Übergänglichen und an den Tätigkeiten des Aufräumens, die beobachtet werden: Wenigstens hat sich der Krach ausgezahlt – für die Glaser. Sie sind schon eifrig bei der Arbeit und verpassen neue Spiegelscheiben, die dann wieder zerschlagen werden können. Ihr Anblick erschüttert mich, beweist er doch, daß das Leben sich immer gleich lautlos einrenkt. […] Viele Risse sind mit Papierstreifen zugeklebt, zersprungene Glaswelten mit Brettern vernagelt worden. Es gibt keinen Aufenthalt, die Bedürftigkeit richtet sich sofort wieder häuslich ein. Und sind auch Kriege und Revolutionen gewesen; hinterher kommen dann doch die Glasermeister, und es ist, als sei gar nichts passiert. So sieht es freilich vorerst noch nicht aus. Die Straße ist mit Schupo9 Zum epistemologischen Modell des Spurenlesens vgl. grundlegend: Carlo Ginzburg: »Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst« (1979), in: Carlo Ginzburg: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 1995, 7–44. Zur Wissenschaftsgeschichte der Beobachtung und ihrer Verfahrensregulierung in der Moderne vgl. Christoph Hoffmann: Unter Beobachtung: Naturforschung in der Zeit der Sinnesapparate, Göttingen 2006. 10 S. Kracauer : »Zertrümmerte Fensterscheiben«, 348. 11 Ebd. (Hervorhebung im Original). »Gestern« meint den 13. Oktober 1930, den Tag der Eröffnung des Reichstags. An diesem Tag, einem Montag, ereignete sich in Berlin eine Welle antijüdischer Gewaltakte: »Trupps junger Männer zogen durch die Innenstadt, randalierten, zertrümmerten die Schaufenster des Kaufhauses Wertheim am Kurfürstendamm und weiterer Geschäfte mit angeblich jüdischen Inhabern in der Berliner Innenstadt.« Michael Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007, 90–91.

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truppen besetzt. Sie patrouillieren zu zweit, sie rasseln in Wagen vorbei und reiten auf hohen Gäulen. Wenn ein Passant sich ansammeln will, um in die Sprünge und Splitter zu starren, jagen sie ihn unverzüglich auseinander und ermahnen ihn, weiterzugehen wie das Leben.12

Dass es weiterzugehen hat, das Leben: In dieser polizeilichen Anweisung, die einen (auch damals) geläufigen Gemeinplatz aufruft, steckt Geschichtstheorie, wie Walter Benjamins berühmte Formulierung Jahre später aufdeckt: »Dass es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe.«13 Kontinuitätsherstellung geschieht über den Körper des Passanten. Was passiert ist, soll nur ein flüchtiges Intervall sein, daran arbeitet die Übergänglichkeit, die Kracauer beschreibt. Wenn er notiert, dass es »vorerst« noch nicht so aussieht, als sei gar nichts passiert, so zeigt dieses Adverb an, dass die Zeit (des Ereignisses) hier nicht rekonstruiert wird, sondern dass sie »sofort, auf der Stelle«14 gefunden wird: noch vor ihrer Verfestigung zum vergangenen Geschehnis. Von diesem Befund aus lässt sich die oben gestellte Frage variieren: Welche Beobachtungsform ist geeignet, die Einteilung in ›Gewaltausbruch‹ und ›Friedensruhe‹ zu unterlaufen, die Illusion, die dieser Kategorisierung unterlegt ist, ins Wanken zu bringen? Kracauers Verfahren zielt darauf, einen Spalt aufzumachen, in dem Reflexion beginnen kann. Sein Beobachter sucht Aufenthalt genau im Zwischenraum der Einteilung in Kriegs- und Friedenszeit, er öffnet einen Raum, ein Intervall der Verzögerung und des Verweilens, in dem gerade die Gesten des ›lautlosen Einrenkens‹ in den Blick gerückt werden.

3. Nachlese, nicht Bestandsaufnahme ist die Organisationsform des Textes. Deren Modus, das Aufsammeln der Splitter des Geschehnisses, trägt sich der Textstruktur ein. Die folgende Passage führt vor, wie der Blick den Bruchrändern folgt und auf diese Weise auf die Fragmentierung zurückkommt, sie wieder einzeichnet: Inmitten zahlloser Passanten, die wie ich von der Neugierde hergetrieben werden, schlendere ich an den Läden vorbei, den Blick auf die Spiegelscheiben gerichtet. Sie spiegeln jetzt nur noch zum Teil. Das große Warenhaus am Leipziger Platz zum Beispiel hat von seinem Glanz viel verloren. Manche seiner Scheiben sind zu negativen Spin12 S. Kracauer : »Zertrümmerte Fensterscheiben«, 349. 13 Walter Benjamin: »Zentralpark« (1938–1939), in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. I. 2, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/Main 1991, 655–690, 683 (Hervorhebung im Original). 14 Roland Barthes: Die Vorbereitung des Romans [La Pr8paration du roman I et II: Cours et s8minaires au CollHge de France 1978–1979 et 1979–1980, 2003], Frankfurt/Main 2008, 98.

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netzen geworden: dort, wo die Spinne zu sitzen pflegt, gähnt ein kleines Loch, und die Fäden sind Sprünge. Andere Scheiben sind überhaupt nicht mehr vorhanden, und die künstlichen Pelikane, die hinter der einen unter einem schönen Blütenbaum stolz die Auslagen bewachten, vertrauern nun ihr Dasein im Freien. Ich gehe weiter und bemerke, daß die meisten Geschäfte immer noch aus Glas bestehen. Die Steinwürfe scheinen sich nach der Religion gerichtet zu haben, denn in der Hauptsache sind die jüdischen Namen getroffen.15

Die Textpassage zeichnet ein fragmentiertes, durchlöchertes Bild, in dem anonyme Passanten, nicht zerstörte Geschäfte und jüdische Namen einander zugeordnet sind. Der Beobachterblick ist hier einer, der sich in die Struktur der materiellen Oberfläche vertieft, der »Linienwelten«16 erkundet, mikroskopisch wird. Die aufgelesenen Einzelheiten bilden im Text ein rissiges Muster – die künstlichen Pelikane, die Glaser, die »schon eifrig bei der Arbeit«17 sind, ein Schild, auf dem »Vorsicht« geschrieben steht, mit Papierstreifen zugeklebte Risse in den Schaufensterscheiben, mit Brettern vernagelte »zersprungene Glaswelten«18, die zu zweit patrouillierenden »Schupotruppen«19, die immer von neuem herbeigelockte Menge. Die Ensembles solcher Einzelheiten sind so zueinander in Beziehung gesetzt, dass die Bruchlinien zwischen ihnen hervortreten. Zerstreuung und ›lautloses Einrenken‹ – Oberflächenzeichen des »tiefsten Pazifismus«20 – gehen ineinander über : »Die Schupo hat es wirklich schwer : sie muß nicht nur die Straßenbevölkerung zerstreuen, sondern dient auch zu ihrer Zerstreuung. Sogar aus den höchsten Stockwerken blicken kleine Ladenmädchen auf sie herab.«21 Inka Mülder-Bach hat darauf aufmerksam gemacht, wie sich »[N]ach und nach […] aus dem Aufgelesenen die Szene einer anonymen Öffentlichkeit zusammen[setzt], die von sich selbst kein Bild und Bewußtsein hat. Sie gleicht darin den zertrümmerten Fensterscheiben, deren Bruchflächen nicht mehr ›spiegeln‹ und in deren Mitte ›ein kleines Loch [gähnt]‹«.22 Kracauers 15 S. Kracauer : »Zertrümmerte Fensterscheiben«, 348–349. Bei dem beschriebenen »Warenhaus am Leipziger Platz« handelt es sich um das Warenhaus Wertheim: »Eingetragen 1909, Liq.: 1939; Leipziger Strasse 126/130 und 132/137 (Mitte)«. Beleg: Datenbank jüdischer Gewerbebetriebe in Berlin 1930–1945, Humboldt Universität Berlin, http://www2.hu-berlin.de/djgb/www/find (Zugriff 21. 5. 2016). 16 Siegfried Kracauer: Ginster. Von ihm selbst geschrieben (1928), in: ders.: Werke, Bd.7: Romane und Erzählungen, hg. v. Inka Mülder-Bach, Frankfurt/Main 2004, 9–256, 25. 17 S. Kracauer : »Zertrümmerte Fensterscheiben«, 349. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Ebd., 348. 21 Ebd., 349. 22 Inka Mülder-Bach: »Nachbemerkung und editorische Notiz«, in: Siegfried Kracauer, Essays, Feuilletons, Rezensionen. Werke Bd. 5.4. 1932–1965, hg. v. Inka Mülder-Bach, unter Mitarbeit von Sabine Biebl, Andrea Erwig, Vera Bachmann und Stephanie Manske, Berlin 2011, 697–716, 697.

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Bild von den »negativen Spinnetzen« lässt sich aber auch als Reflexion über Beobachtung als Verfahren lesen.

4. Beobachtung und Konstruktion gehen bei Kracauer ein sehr bestimmtes Verhältnis ein. Beobachtung (des Lebens) ist der Konstruktion vorgängig. »Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion. Gewiß muß das Leben beobachtet werden, damit sie erstehe.«23 Doch für Kracauer ist Beobachtung nicht indifferent zum Medium der Konstruktion. Deshalb unterscheidet er zwei Medien solcher Konstruktion, in denen Beobachtung auf je unterschiedliche Weise Form gewinnt. Keineswegs, so bemerkt er, sei die Wirklichkeit »in der mehr oder minder zufälligen [photographischen, mit der Photographie identifizierten] Beobachtungsfolge der Reportage enthalten, vielmehr steckt sie einzig und allein in dem Mosaik, das aus den einzelnen Beobachtungen aufgrund der Erkenntnis ihres Gehalts zusammengestiftet wird.«24 Das epistemologische Verfahren, das Kracauer hier entwirft, mündet also in der ›Zusammenstiftung‹ (eine Wortfindung, die an das Bauen, Einrichten und Heften erinnert) der einzelnen Beobachtungen zu einem Bild, das ein Mosaik ist: nicht-linear, nicht-mimetisch, ähnlich eher einem Tableau, einer Collage, in der Schnittflächen und Bruchränder sichtbar bleiben. Eine materiale Konstruktion, kein Abbild des Wirklichen ist, was Kracauer vorschwebt.25 Es gibt für ihn keine unmittelbare Sprache des Materials, und das berührt auch die Frage nach der Gegebenheitsweise des Beobachtungsfeldes. Zwar verwirft Kracauer die Beobachtungsform der Reportagephotographie, doch das Beobachten ist bei ihm dennoch in der theoretischen Bahn der Photographie-Metapher gedacht, und diese Denkspur zieht sich von seinem letzten

23 Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland (1929), Frankfurt/Main 1971, 16. 24 Ebd., 16. 25 So äußert er sich auch in seiner Besprechung des Trauerspielbuches und der Einbahnstrasse von Walter Benjamin, die 1928 in der Frankfurter Zeitung publiziert wird: Die »diskontinuierliche Struktur der Welt« nötigt zu einer »Methode der Dissoziierung unmittelbar erfahrener Einheiten«, stellt er dort fest. (Siegfried Kracauer: »Zu den Schriften Walter Benjamins«, in: ders.: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt/Main 1977, 249–255, 253). Worum es ihm methodologisch geht, ist eine materiale Dialektik, die aber die »Rückversicherung […] der Totalitätsphilosophie« gerade aufgegeben hat: Kracauer vergleicht sie stattdessen einem »Maschinengewehrfeuer von kleinsten Intuitionen«. Dies formuliert er in Bezug auf seine Studie zu den Angestellten in einem Brief an Adorno vom 25. Mai 1930 (Theodor W. Adorno, Siegfried Kracauer : Briefwechsel 1923–1966, hg. v. Wolfgang Schopf, Frankfurt/Main 2008, 215).

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Buch History – Last Things Before the Last (1966)26 zurück bis zu seinem Photographie-Aufsatz von 192727. Die Reflexion über das Verfahren der Beobachtung ist bei ihm mit den photographietheoretischen Überlegungen engst verknüpft. Die Urszene hierfür findet sich in Kracauers Lektüre der berühmten Proust-Szene in History – Last Things Before the Last: Es ist die Szene mit Marcel, der nach einer langen Zeit der Abwesenheit als ›Beobachter‹, als ›Fremder‹ im Salon der Großmutter erscheint. Einen Moment lang aus den gewohnten Bahnen der Wahrnehmung geworfen, de-kontextualisiert – sieht er sich konfrontiert mit dem Anblick »›eine[r] von der Last der Jahre gebeugte[n] Frau‹, auf dem Kanapee sitzend, die keinerlei Ähnlichkeit mit dem Bild aufweist, das er sich von ihr in seiner Seele mit Liebe gebildet hatte«.28 Dieses seelische Bild wandelt sich augenblicklich zu einer Photographie: Im Augenblick, in dem er unangemeldet in ihr Zimmer tritt, verspürt er unvermittelt, daß es nicht er selbst ist, der sie ansieht: »Von meiner Person war … nur der Zeuge, der Beobachter in Hut und Reisemantel, der Fremde da, der nicht zum Hause gehört, der Photograph, der eine Aufnahme von Stätten machen soll, die man nicht wiedersehen wird.29

Die Haltung des Beobachters als Photograph, des Photographen als Beobachter beschreibt Kracauer hier als »emotionale Unpersönlichkeit«30 : Der Modus der Wahrnehmung passt sich für einen Moment mimetisch der Apparatur an, die das Organ des Sehens in »ein rein aufnehmendes Instrument«31 verwandelt, auf eine bloße registrierende Funktion beschränkt – und das Sehen zu einem rein technischen Vorgang macht: »Was auf ganz mechanische Weise«, so zitiert Kracauer weiter aus der betreffenden Passage bei Proust, »in diesem Moment in meinen Augen zustande kam, als ich meine Großmutter bemerkte, war wirklich eine Photographie.«32 Kracauer deutet diese Photographie als »eine Projektion von Marcels leerem Geist« und notiert, sie bringe »erbarmungslos zu Tage, was er als vollständiger Marcel zuvor nicht wahrgenommen hatte«.33 »Zum ersten Mal sieht Marcel nun seine Großmutter, wie sie wirklich ist […]. Sein inneres Bild unterliegt der Photographie genau in dem Moment, in dem er als liebende 26 Siegfried Kracauer: History. The Last Things Before the Last. Completed after the Author’s Death by Paul Oskar Kristeller, New York 1969. Siegfried Kracauer : Geschichte – Vor den letzten Dingen, übersetzt von Karsten Witte. Schriften 4, Frankfurt/Main 1971. 27 Siegfried Kracauer : »Die Photographie« (1927), in: ders.: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt/Main 1977, 21–39. 28 S. Kracauer : Geschichte – Vor den letzten Dingen, 84. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Ebd., 86. 32 Ebd., 84. 33 Ebd.

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Person zu einem unpersönlichen Fremden schrumpft; als Fremder vermag er tatsächlich alles wahrzunehmen, denn nichts, was er sieht, ist trächtig mit Erinnerungen, die sein Blickfeld einengten.«34 Aus der Lektüre der Proust-Szene gewinnt Kracauer eine Konzeptualisierung, in der sich der Traum vom reinen Aufnehmen artikuliert: eine Haltung »intensiver passiver Beobachtung«.35 Wenn Kracauer die Haltung des Beobachtersubjekts mit der der »emotionale[n] Unpersönlichkeit«36 oder »einer Art aktiver Passivität«37 zu bestimmen versucht, so deuten diese Begriffe auf die Spannung, das Ungelöste oder eine Schwankung in der theoretischen Konzeptionalisierung. Kracauer greift zum Zitat eines bekannten Rates von Schopenhauer an seine Kunststudenten: »Vor ein Bild hat jeder sich hinzustellen wie vor einen Fürsten, abwartend, ob und was es zu ihm sprechen werde; und, wie jenen, auch dieses nicht selbst anzureden: denn da würde er nur sich selber vernehmen.«38 Das ideale Subjekt der Beobachtung gleicht in Kracauers Beschreibung einer Membran, es soll erinnerungslos sein, ichlos,39 es soll die Kunst des Wartens üben, es soll hören, fähig sein, »die verschiedenen Botschaften, die zu ihm dringen, mit allen angespannten Sinnen aufzunehmen«40 – und es soll doch ein Subjekt sein, das erkennt, urteilt, denkt, schreibt, konstelliert.41

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Ebd. Ebd., 123. Ebd., 84. Ebd., 85. Ebd. Kracauers Postulat von der ›Auslöschung des Ich‹ knüpft an Leopold Ranke an, seine Vorstellung vom ›reinen Aufnehmen‹ zeigt aber auch Spuren der Auseinandersetzung mit Kant, mit der Phänomenologie, mit Zola – wobei Kracauer von der Medialität der Sprache gerade nicht absieht. 40 Ebd., 86. 41 Beobachter und Zuschauer werden von Kracauer scharf unterschieden: In seinem 1931 entstandenen Stück »Über den Schriftsteller« verwirft Kracauer eine Haltung, zu der er den zeitgenössischen Journalismus gezwungen sieht, nämlich »die Ereignisse als Zuschauer zu betrachten und zu umschmeicheln, statt sie zu benutzen und mit ihrer Hilfe Exempel zu statuieren.« (Siegfried Kracauer : »Über den Schriftsteller«, in: ders.: Essays, Feuilletons, Rezensionen. Bd. 5.3. 1928–1931, 578–581, 579). Ebenso positioniert er sich aber gegen einen Typus des Schriftstellers, der sich »dazu berufen fühlt, dem ›Absoluten‹ zu dienen« (Ebd.). Kracauer profiliert vielmehr eine Schreibweise, die »die ›transzendente Schicht des Daseins‹ grundsätzlich verleugnet« (Ebd., 580) und verlangt, dass der Schriftsteller »seine Aufgabe darin erblickt, sich (und dem großen Publikum) Rechenschaft abzulegen über unsere aktuelle Situation.« (Ebd., 579). Es geht ihm »um den summarischen Ausweis einer Einstellung«, wenn er den Schriftstellern programmatisch zuschreibt: »statt das Allgemeine über dem Besonderen zu suchen, finden sie es im Gang des Besonderen; statt Entwicklungen zu verfolgen, erstreben sie Abbrüche.« (Ebd., 580).

Nachlese(n). Beobachtung nach Kracauer

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5. Doch hat die Beobachterfigur bei Kracauer subjektgeschichtliche Erfahrung in sich aufgenommen, wie ihre Überblendung mit der Figur des Exilierten zeigt. Auch hier taucht die Lektürespur der zitierten Proust-Passage wieder auf. Über den Exilierten bemerkt Kracauer : »Tatsächlich hat er aufgehört, ›anzugehören‹. Wo lebt er dann? Im fast vollkommenen Vakuum der Exterritorialität, dem wahren Niemandsland, das Marcel beim ersten Anblick seiner Großmutter betrat. Die wahre Existenzweise des Exilierten ist die eines Fremden.«42 Der Gedanke der Exterritorialität kehrt zersprengt, in unterschiedlichster Gestalt, in Kracauers Schriften wieder : als »Straßenstaub«, der »durch Poren und Ritzen dringen und sich festsetzen [kann], wo er nur mag.«43 Oder im Roman Ginster, in einer Szene am Schiffssteg: Hier, vor dem Ablegen des Schiffes, entsteht plötzlich eine Ferne, zu der kein Schiff hinträgt. Ein Mann verabschiedete sich von einer Frau, die nicht einmal weinte – er war nicht mehr zu Hause, er war noch nicht unterwegs, er war unerreichbar weit fort. Für einen Augenblick wenigstens aus jedem Zusammenhang gerissen; wie neu. Ich habe ihn nicht eigentlich beobachtet, ich habe überhaupt nichts beobachtet, sondern bin selbst entglitten, als führe ich ab. Es handelt sich immer nur um den Augenblick, in dem sich ein winziges Loch öffnet, ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen.44

Ist in dieser Textpassage die Position der Beobachtung selbst durchgestrichen, so veranschaulicht sie doch sehr genau den Stand des ex terra (›außerhalb des Landes‹) und führt vor, wie das wahrnehmende Subjekt »sich selbst aus dem Zentrum von Setzung und Deutung«45 verbannt: Es »stellt sich auf die Schwelle oder anders ausgedrückt: an die Peripherie der Szene.«46 Exemplarisch wird in »Zertrümmerte Fensterscheiben« – im Feuilleton der Frankfurter Zeitung, »einem Exterritorium ›unter dem Strich‹«47 veröffentlicht – die Verschiebung des Beobachterblicks sichtbar, die Kracauers Studien zum neuesten Deutschland auszeichnet: »Nicht auf das, was im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit steht, richtet sich das Augenmerk, sondern auf vermeintlich Peripheres, nicht von den Ausschreitungen selbst wird berichtet, sondern von dem, was sich an 42 S. Kracauer : Geschichte – Vor den letzten Dingen, 85. 43 Siegfried Kracauer : »Chaplins Triumph«, in: ders.: Kino. Essays, Studien, Glossen zum Film, hg. v. Karsten Witte, Frankfurt/Main 1979, 176–179, 177. 44 S. Kracauer : Ginster. Von ihm selbst geschrieben, 247. 45 Dorothee Kimmich: »Überleben im Niemandsland oder die Entdeckung raumzeitlicher interzones. Siegfried Kracauers Abschied von der Lindenpassage«, in: Nicolas Berg, Dieter Burdorf (Hg.): Textgelehrte. Literaturwissenschaft und literarisches Wissen im Umkreis der Kritischen Theorie, Göttingen 2013, 109–122, 113. 46 Ebd. 47 Ethel Matala de Mazza: »Kleines Theater. Zur Farce der Normalita¨ t in Jacques Offenbachs Operette«, in: MLN. Modern Language Notes, Jg. 120 (2005), 562–589, 589.

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den Rändern abspielt und deshalb häufig übersehen wird.«48 Das Verhältnis von Peripherie und Zentrum ist hier aber umgeschrieben in eine temporale Figur, das Zuspätkommen. Darin öffnet sich nicht einfach eine zeitliche Distanz, sondern ein Verpassen, das als Voraussetzung des Textes dessen Anfang ebenso wie seinen Schluss bestimmt: »Ich bin noch zum Alexanderplatz gefahren, aber es hat sich nirgends etwas ereignet. Das Unglück ist nur, daß sich, sobald ich abwesend bin, jederzeit wieder ein Unglück einstellen kann. Und ich kann doch nicht überall zugleich sein.«49 Wie ein weitläufiger Abkömmling von Ginster, der »neusachlich-ich–lose[n] Erscheinung«50, erscheint der zu spät gekommene Beobachter hier, in dieser Schlusssequenz des Textes, die wie zu Anfang im Randgebiet des Ereignisses, in seinen Ausfallzonen, ankommt. In seiner Rezension der Angestellten hatte Walter Benjamin Kracauers Erkenntnis- und Schreibverfahren in das Bild des Lumpensammlers, der paradigmatischen Figur des historischen Materialisten gefasst: Ein[en] Lumpensammler frühe im Morgengrauen, der mit seinem Stock die Redelumpen und Sprachfetzen aufsticht, um sie murrend und störrisch, ein wenig versoffen, in seinen Karren zu werfen, nicht ohne ab und zu einen oder den anderen dieser ausgeblichenen Kattune ›Menschentum‹, ›Innerlichkeit‹, ›Vertiefung‹ spöttisch im Morgenwinde flattern zu lassen.51

Pazifismus – in dem sich die Leipziger Straße »sonnt«, »heute um die Mittagsstunde«, während es »gestern« auf ihr »nationalsozialistisch zugegangen ist«52 – mag als einer dieser ausgeblichenen Redelumpen im Sinne Benjamins gelten, den Kracauer im Winde flattern lässt, um zu zeigen, wie gedankenlos die Vorstellung vom Nationalsozialismus als Unfall, als kurzfristige Störung ist, wie trügerisch die Vorstellung eines andauernden, nur von ›Unglücken‹ unterbrochenen republikanischen Friedens.53 Kracauers Erkenntnisweise, die an der 48 I. Mülder-Bach: »Nachbemerkung und editorische Notiz«, 698. 49 S. Kracauer : »Zertrümmerte Fensterscheiben«, 350. 50 Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/Main 1994, 185. 51 Walter Benjamin: »Ein Außenseiter macht sich bemerkbar. Zu S. Kracauer, ›Die Angestellten‹«, in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. III. Kritiken und Rezensionen, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/Main 1980, 219–225, 225. – Kracauer äußert sich in einem Brief an Theodor W. Adorno vom 25. Mai 1930 nicht gerade freundlich über die Besprechung: »Aber gleichviel: Benjamin hat sich angestrengt, und mir ist ganz egal, was er bei sich denkt. Den eigentlichen Impetus meiner Arbeit hat er verpaßt, wie es gar nicht anders sein kann. Er kennt nicht den Elan zur Realität. Da gähnt bei ihm ein Loch.« Th. W. Adorno, S. Kracauer : Briefwechsel 1923–1966, 215. 52 S. Kracauer : »Zertrümmerte Fensterscheiben«, 348. 53 Auf der Titelseite der C.V.-Zeitung vom 17. Oktober 1930 wird unter dem Titel »Zertrümmerte Fensterscheiben. Zu den Ausschreitungen in der Berliner Innenstadt« über die Ereignisse des 13. Oktober 1930 berichtet: »Am 13. Oktober, dem Tage der Reichstagseröffnung haben nationalsozialistische Rowdys die Fenster des Warenhauses Wertheim, des Caf8s

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Aufmerksamkeit für das Unscheinbare, das Übersehene orientiert ist, lässt durchaus eine Ähnlichkeit zur Epistemologie Sigmund Freuds erkennen: Sein Beobachtungsstoff, so erklärt Freud in seinen Vorlesungen, bestehe aus »jene[n] unscheinbaren Vorkommnisse[n], die von den anderen Wissenschaften als allzu geringfügig beiseite geworfen« würden – »die kleinen Anzeichen«, »sozusagen der Abhub der Erscheinungswelt«.54 Ist demnach der Modus der Beobachtung, wie Kracauers Texte sie praktizieren, mit dem Sammeln und Entziffern intensiv verknüpft, so ist es erst die Konstruktion, die die Einzelheiten zu einem Bild des Wirklichen – einem Mosaik – zusammenfügt.55 Epistemologische und poetische Praxis laufen hier zusammen.56

6. Kracauers Beobachter interessiert sich für die Anordnung der Dinge in der Fläche oder im Raum, aber er favorisiert nicht die souveräne oder erhabene Position der Übersicht. Dies trifft sich mit einer Epistemologie, die auf den »namenlosen Möglichkeiten« insistiert, von welchen »anzunehmen ist, daß sie Dobrin und verschiedener größerer, fast nur jüdischer Geschäfte in der Leipziger Straße zertrümmert.« So beginnt der Bericht, der einen Tag nach Kracauers Artikel erschien. Er endet mit der Bemerkung: »Wir haben das Vertrauen zu Regierung und Polizei, daß sie derartiger aufflackernder Unruhen Herr wird und daß sie Eigentum und Leben der jüdischen Staatsbürger genau so erfolgreich schützen wird wie das der anderen.« (C.V.-Zeitung (Blätter für Deutschtum und Judentum. Organ des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens e.V., Allgemeine Zeitung des Judentums), Berlin, 17. Oktober 1930, IX. Jahrgang, Nr. 42 (Titelseite)). 54 Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Die Fehlleistungen. Zweite Vorlesung (1916/1917), Gesammelte Werke Bd.11, Frankfurt/Main 1969, 20. 55 Im Photographieaufsatz ist vom »Sammelkatalog« die Rede: Für Kracauer dient er hier als das Medium oder Format, in dem die Darstellung aller »im Raum sich darbietenden Erscheinungen« gedacht ist. Auch dies in der Bahn der Photographie-Metapher : Die »Totalität der Photographien« sei »als der Sammelkatalog sämtlicher im Raum sich darbietenden Erscheinungen« aufzufassen. S. Kracauer : »Die Photographie«, 37. 56 Dies jedoch in signifikanter Unterscheidung zur Theorie der Beobachtung wie sie die Frühromantiker in Walter Benjamins Deutung entwickelten: Benjamin nennt sie »magische Beobachtung« (Walter Benjamin: »Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I.1, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main 1991, 7–122, 60). »Eine Sache beobachten, heißt nur, sie zur Selbsterkenntnis bewegen« (Ebd., 60), fasst Benjamin zusammen, und rechnet die »›Beobachtung‹ und die mit ihr sehr häufig synonyme Bezeichnung des Experiments« den »Vokabeln der mystischen Terminologie« (Ebd., 59) zu. Dennoch ist es interessant, wie Benjamin den frühromantischen Begriff der Beobachtung im Blick auf Medialität wendet: »Das Medium der Reflexion, des Erkennens und des Wahrnehmens fällt bei den Romantikern zusammen. Der Terminus der Beobachtung spielt auf diese Identität der Medien an; was im gewöhnlichen Experiment als Wahrnehmung und planmäßige Einrichtung des Versuchsverlaufs getrennt ist, ist in der magischen Beobachtung vereinigt« (Ebd., 60).

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in den Zwischenräumen der vorhandenen Lehren hoher Allgemeinheit existieren und auf Anerkennung warten.«57 Kracauer betont, diese verborgenen Möglichkeiten, die noch namenlos sind, seien nicht aus der »Deduktion aus einer anerkannten Konzeption oder einem anerkannten Prinzip«58 zu gewinnen. Aber sie »vermöchten […] wohl«, so formuliert er, »sich aus der Versenkung in Konfiguration der Einzelheiten zu erheben.«59 Das Sich-Erheben über die Gegenstände weist Kracauer zurück.60 Wie seine Beobachtung dennoch auch aus großer Höhe ihr Verfahren des Vertiefens in Strukturen und Linienwelten beibehält, lässt sich an dem Stück Aus dem Fenster gesehen (1931)61 beobachten. Zunächst knüpft der Text an das tradierte literarische Fenster-Motiv an: »Vor meinem Fenster verdichtet sich die Stadt zu einem Bild, das herrlich wie ein Naturschauspiel ist.«62 Doch umgehend faltet sich die Szene zu einer topologischen Beschreibung auf. Ein Beobachtungsraum entsteht. Der Standort der Beobachtung wird darin genau verzeichnet: [E]he ich mich ihm [dem Bild, B.E.] zuwende, muß ich des Standortes gedenken, von dem aus es sich erschließt. Er befindet sich hoch über einer unregelmäßigen Platzanlage, der eine wunderbare Fähigkeit eignet. Sie kann sich unsichtbar machen, sie hat eine Tarnkappe auf. Mitten in einem großstädtischen Wohnviertel gelegen und Treffpunkt mehrerer breiter Straßen, entzieht sich der kleine Platz so sehr der öffentlichen Aufmerksamkeit, daß kaum jemand auch nur seinen Namen kennt.63

Die Sicht auf die Fläche von oben sortiert Ausschnitte und Teilstücke der materialen Realität und fügt sie zu »fremden Gebilden«64 zusammen: »bündelweise nebeneinander« laufende Eisenbahngleise als ein »Schwarm von glänzenden Parallelen«65 angeordnet. »Mit ihren vielen Signalmasten und Schuppen macht die Fläche beinahe den Eindruck eines mechanischen Modells, das ein Knabe, der irgendwo unsichtbar kniet, zum Experimentieren benutzt.«66 Für Kracauer bildet diese Fläche den exemplarischen Fall eines ungeplanten, absichtslos zu57 58 59 60

61 62 63 64 65 66

S. Kracauer : Geschichte – Vor den letzten Dingen, 198. Ebd. Ebd., 198–199. Vgl. ebd., 86. Kracauer zitiert an dieser Stelle eine Zeile aus einem Gedicht von William Wordsworth: »Wisdom is oft[-times] nearer when we stoop /Than when we soar.« (aus The Excursion, 1814), und fügt folgende Übersetzung hinzu: »Oft liegt Weisheit näher, wenn wir uns herablassen, als wenn wir uns erheben.« (Ebd., 86). Zuerst unter dem Titel »Berliner Landschaft« in der Frankfurter Zeitung vom 8. November 1931 abgedruckt. Siegfried Kracauer : »Aus dem Fenster gesehen« (1931), in: ders.: Straßen in Berlin und anderswo, Frankfurt/Main 1964, 51–53, 51. Ebd. S. Kracauer : »Die Photographie«, 39. S. Kracauer : »Aus dem Fenster gesehen«, 52. Ebd.

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stande gekommenen Stadtbildes – »Geschöpf[e] des Zufalls«, keine Komposition.67 Nichts was die Würdigung eines Sternchens im Baedeker erhielte. Kracauer nennt es ein traumhaft hingesagtes Bild68, dessen Erkenntnis seine Entzifferung voraussetzt. Freuds Traumdeutung gibt hier den Zusammenhang vor, der Beobachtung, Entzifferung und Erkenntnis aufeinander bezieht.

7. Im Text Zerstrümmerte Fensterscheiben ist es dagegen die Figur der Nachlese, die den Beobachterstandort festlegt. Das Verfahren des Textes wird dadurch kenntlich als Modus des Auflesens und Sichtens von Hinterlassenschaften – eine Sammlung, die reflexive Belichtungen ermöglicht. Das Bild von den Glasermeistern, die »neue Spiegelscheiben« einsetzen, »die dann wieder zerschlagen werden können«69, ist eine Metapher für das Vergessen oder die Verleugnung des Geschehenen: »und es ist, als sei gar nichts passiert.«70 Hier drängt sich ein anderer Bezug zur Photographie auf, nämlich zu einer Geschichte, die Hans Blumenberg erzählt, über seinen Vater als Photographen und die ihn, das Kind, faszinierende Entwicklung der Bilder in der Dunkelkammer des Vaters. Er beschreibt, wie er mithelfen durfte: »hauptsächlich durch emsiges Hin- und Herschwenken der gläsernen Platten in flachen, rechteckigen Schalen«71, die mit Flüssigkeiten gefüllt waren. »Nicht selten passierte es«, so Blumenberg, »dass die Platte sich in einheitliches Schwarz verfärbte; wohl ebenso häufig, dass sie klar und durchsichtig blieb, als sei nichts gewesen.«72 Als »Grenzfälle verfehlter Belichtungen«73 beschreibt Blumenberg, was sich auf der gläsernen Fotoplatte zeigt. ›Als sei nichts gewesen‹ – dies korrespondiert mit Kracauers »als sei gar nichts passiert« auf einer technischen Ebene, unterhalb der theoretischen Differenz zwischen Photographie und Gedächtnisbild. Die Beobachterposition, die 67 68 69 70

Ebd., 51. Vgl. ebd., 53. S. Kracauer : »Zertrümmerte Fensterscheiben«, 349. Ebd. In einem Brief vom 21. Dezember 1930 an Theodor W. Adorno resümiert Kracauer : »Tatsache ist jedenfalls, dass ich hier sehr angespannt und im Grund ohne Ereignisse gelebt habe, die zur Mitteilung verlockten. Zeitungsarbeit, die Stadt und der Roman, von Menschen Bloch und Benjamin in der Hauptsache – das ist so ziemlich alles.« (Th. W. Adorno, S. Kracauer : Briefwechsel 1923–1966, 253). Und er erwähnt Unterhaltungen mit Bertolt Brecht: An ihm nimmt er eine »invertierte Romantik« wahr, »deren Brutalität nur in einem nationalsozialistischen Lande möglich ist« (Ebd., 254). Diese Bemerkung zeigt nebenbei, wie sehr Kracauer schon zu diesem Zeitpunkt bewusst war, »in einem nationalsozialistischen Lande« zu leben. 71 Hans Blumenberg: Begriffe in Geschichten, Frankfurt/Main 1998, 7. 72 Ebd. 73 Ebd.

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Kracauers Text herstellt, ermöglicht es, solche verfehlten Belichtungen ins Bewusstsein zu holen und reflektierbar zu machen, oder auch ihnen punktuell zuvorzukommen. Sie bildet Denkflächen.74 Wenige Jahre später, im Herbst 1933, als Kracauer schon von Berlin nach Paris geflüchtet war, veröffentlicht er in der französischen Zeitschrift Cahiers Juifs einen Aufsatz unter dem Titel Inventaire. Die deutschsprachige Originalfassung ist Conclusions [Bestandsaufnahme] überschrieben.75 Angesichts der Verfolgung der Juden, »die an Umfang und Organisationskunst ihresgleichen sucht«76, wie Kracauer schreibt, bemüht sich der Beitrag um Orientierung, er versucht, der Lähmung durch den »gewaltsame[n] Bruch«77 in der deutsch-jüdischen Geschichte Herr zu werden.78 Kracauer publiziert diesen Text unter dem Pseudonym »Observer«.79 Autorname und Beobachter sind in diesem Pseudonym verschmolzen, wobei die Beobachterhaltung im unmittelbaren, politischen Sinn Schutz bieten soll. Ein schützendes Versteck. Die sprachliche Anspielung des Pseudonyms misst dagegen die ganze Bedeutungsgeschichte des Worts »beobachten« aus, wie sie in Grimms Wörterbuch ausgewiesen ist: »Der sprachgebrauch hat sich zumal nach dem lat. observare und franz. observer gerichtet. es heiszt den lauf der sterne, den aufgang 74 Unter dem Titel »Die Denkfläche. Eine neue Wissenschaftslehre« erschien am 7. Juli 1926 in der Frankfurter Zeitung eine Besprechung von Kracauer zu dem Buch von Paul Oppenheim: Die Denkfläche. Statische und dynamische Grundgesetze der wissenschaftlichen Begriffsbildung, Berlin 1928. Seine Rezension ist wiederabgedruckt in: Siegfried Kracauer: Schriften 5.1. Aufsätze 1915–1926, hg. v. Inka Mülder-Bach, Frankfurt/Main 1990, 368–370. 75 Siegfried Kracauer : »Inventaire«, in: Cahiers Juifs, Nr. 5/6 (Septembre/Novembre 1933), 372–377. Deutschsprachige Originalfassung: Siegfried Kracauer: »Conclusions [Bestandsaufnahme]«, in: ders.: Essays, Feuilletons, Rezensionen, Bd. 5.4. 1932–1965, hg. v. Inka Mülder-Bach, Berlin 2011, 467–473. Die Herausgeberin Inka Mülder-Bach annotiert, dass die betreffende Ausgabe der Cahiers Juifs dem Thema »L’Apport des Juifs d’Allemagne / la civilisation allemande« gewidmet war und sich in folgende Abschnitte unterteilte: »Politique et vie sociale«, »Droit«, »Litt8rature«, »Philosophie«, »Sciences«, »Arts«, »Finance«, »Opinion publique«, »Industrie et commerce«, »Sport« und »Nazisme et civilisation«. In dieser letzten Sektion war Kracauers Aufsatz abgedruckt. Dazu genauer Birgit R. Erdle: »Closures, Conclusions. Einprägungen des Wissens um die Shoah in Schriften von Siegfried Kracauer«, in: Bettina Bannasch u. a. (Hg.): Exil und Shoah. Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Nr. 34, München 2016, 171–186. 76 S. Kracauer : »Conclusions [Bestandsaufnahme]«, 467. 77 Ebd., 469. 78 Kracauer formuliert hier, 1933, schon sehr klar, dass alle Erklärungsversuche für den Hass gegen die Juden in Deutschland, psychologische, ökonomische, soziale, »der Gewalt des Vernichtungswillens nicht gewachsen« seien, »der das heutige Deutschland – und möglicherweise nicht erst das heutige – den Juden gegenüber beseelt.« (Ebd., 470). Und er schließt seinen Aufsatz mit der folgenden Bemerkung: »Nun trennen sich die Wege. Werden sie einmal wieder zusammenkommen? Jedenfalls hängt fortan die Erlösung der Juden und damit der Menschheit im entscheidenden Sinne von einer durchgreifenden Selbstbesinnung Deutschlands ab.« (Ebd., 472). 79 Ebd., 473, Anmerkung 1 der Herausgeberin.

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eines gestirns, die vera¨ nderungen der witterung beobachten; den gang der zeitereignisse beobachten«.80 Es scheint, als ob diese allgemeine Bedeutung, die das Pseudonym konnotiert, sich vor die Schockerfahrung geschoben hat, die Kracauers Text zu verarbeiten sucht, indem er Schlüsse, Schließungen, Schlussfolgerungen zieht.

80 Deutsches Wo¨ rterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilba¨ nden. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. Bd. 1, Sp. 1478. http://www.woerterbuchnetz. de/DWB?lemma=beobachten (Zugriff 14. 09. 2014.)

Natalie Binczek

Taktiles Kino, taktiles Fernsehen: Walter Benjamins und Marshall McLuhans medientheoretische Beobachtungen

Benjamins taktile Medientheorie des Films Im Kunstwerk-Aufsatz führte Walter Benjamin das Taktile in die medientheoretische Reflexion ein und erklärte es zu den konstitutiven, da mit der Zerstreuung auf das Engste zusammenhängenden, Attributen des Films. So hält eine wichtige Beobachtungskategorie Einzug in die Medienwissenschaft1 und sorgt für eine Modifikation des traditionellen Beobachtungskonzepts, insofern dieses historisiert und von der Festlegung auf das Verständnis als unbeteiligte, distanzwahrende Operation entfernt wird. Obgleich das Taktile somit einerseits zur Kennzeichnung einer spezifisch modernen, also auf eine bestimmte Epoche festgelegten Wahrnehmung dient, gilt es andererseits jedoch auch als eine historisch übergreifende, weil alle ›großen‹ Umbruchphasen charakterisierende ästhetische Qualität, wie Benjamins Beschreibung des dadaistischen Kunstwerks verdeutlicht: »Dieses Kunstwerk […] wurde zu einem Geschoß. Es stieß dem Betrachter zu. Und es stand damit im Begriff, die taktile Qualität, die der Kunst in den großen Umbauepochen der Geschichte die unentbehrlichste ist, für die Gegenwart zurückzugewinnen.«2 Dies bedeutet, dass im Bereich der Kunst die taktile Rezeptionsform als ›Gewinn‹ unabhängig von der Zäsur der Modernität und mithin des Paradigmas der technischen Reproduzierbarkeit rekonstruiert werden kann. Das Zitat spricht ausdrücklich von ›historischen Umbauepochen‹, die der im KunstwerkAufsatz in den Blick genommenen vorangegangen sein müssen. Überdies und 1 Siehe dazu zuletzt Florian Sprenger : Medien des Immediaten. Elektrizität – Telegraphie – McLuhan, Berlin 2012, der nicht nur die Philosophie- und Mediengeschichte der taktilen Wahrnehmung rekonstruiert, sondern Taktilität zudem auch als zentrale medienanalytische Kategorie behandelt. Siehe dazu auch Tobias Wilke: Medien der Unmittelbarkeit. Dingkonzepte und Wahrnehmungstechniken 1918–1939, München 2010. 2 Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, dritte Fassung, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I.2: Abhandlungen, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main 1991, 463f.

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vor allem findet im obigen Zitat auch eine wichtige Spezifikation des Taktilen statt, insofern es mit dem ›Geschoss‹ bzw. ›Beschossenwerden‹ assoziiert wird, das im weiteren Textverlauf in »ein uns Zustoßendes«3 übergeht und auf diese Weise auch die dem Taktilen eigene Kontingenz – ›contingere‹ – markiert. Die taktile Qualität eines Kunstwerks kommt zum Tragen, wo sich ein unerwartetes »stoßweise[s]« Eindringen4 in den Betrachter als »physische Chockwirkung«5 ereignet. Taktil ist ein Kunstwerk demnach, wenn es den Rezipienten aisthetisch ergreift. Entscheidend ist an dieser Beschreibung, dass sie eine gewaltsam konnotierte, geradezu schmerzhafte Form der Berührung6 entwirft, die den Rezipienten – »in der betonten Lebensgefahr, in der die Heutigen leben«7 – vor allem als Reizempfänger und damit tendenziell passiv zeichnet. Dabei ist es diese ›betonte Lebensgefahr‹, die eine enge Beziehung zwischen der Moderne – ›den Heutigen‹ – und der taktilen Wahrnehmung stiftet, letztere somit über den Bereich der Kunst hinausgehend denkt.8 Sie wird als eine für die Moderne überhaupt charakteristische Form der Rezeption bestimmt, die sich daher nicht auf den ästhetischen Funktionszusammenhang begrenzen lässt, gleichwohl aber von Benjamin auf diesen weitgehend fokussiert wird. Benjamin entfaltet die Kategorie des Taktilen überdies im Kontext der Architektur, gilt diese doch aufgrund ihrer funktionalen Verankerung als eine ›Kunstart‹, die sich nicht allein kontemplativ-betrachtend erschließen lässt, sondern auch eine pragmatische Dimension bedienen muss. Ihre taktile Qualität wird dabei über den »Gebrauch« bestimmt – womit sie von der Haptik her gedacht erscheint – und dezidiert von der nur optischen Wahrnehmung unterschieden, mehr noch: dieser gegenübergestellt. Nachdem Benjamin die taktile Wirkung dadaistischer Kunstwerke beschrieb, wendet er sich nun der Baukunst zu, die er als gleichermaßen funktionale wie ästhetische Kunstart sowohl dem »Gebrauch« als auch der Anschauung zuweist. »Bauten werden auf doppelte Art rezipiert: durch Gebrauch und durch Wahrnehmung. Oder besser gesagt: taktil und optisch.«9 3 4 5 6

Ebd. 464. Ebd. Ebd. und passim. Damit setzt sie der ästhetischen Tradition der Rührung (siehe dazu Caroline Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert, München 2002) gegenüber, auf die sie konnotativ verwiesen bleibt, einen anderen Akzent. 7 W. Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, 464. 8 Benjamin bezieht sich mit der Kategorie der ›taktilen Wahrnehmung‹ auf Alois Riegls Konzept des Kunstwollens, das insofern eine soziologische Dimension enthält, als es ein kollektives Unbewusstes impliziert, das auch für Benjamin entscheidend ist. Siehe dazu Kryssoula Kambas: Walter Benjamin im Exil. Zum Verhältnis von Literaturpolitik und Ästhetik, Tübingen 1983, 137f. Siehe dazu auch T. Wilke: Medien der Unmittelbarkeit, 189ff. 9 W. Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, 465.

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Insofern sein instrumenteller Status eine aktive Dimension aufweist, zeigt der ›Gebrauch‹ nicht nur eine neue, sondern vor allem auch eine der zuvor vorgenommenen Typologie gegenläufige Bedeutungsfacette der taktilen Qualität auf: die Aktivität. Muss diese der Konzeption des ›stoßweisen Eindringens‹ auf den Betrachter, der ›schockhaften‹ Reizaufnahme implementiert werden? Oder ist vielmehr umgekehrt dem Gebrauch auch ein passiv-zustoßendes Wahrnehmungsmoment eigen? Als Eigenschaft der Kunst wirkt Taktilität auf den Rezipienten wie ein Geschoss ein. Als Eigenschaft der Baukunst liegt sie hingegen in dem Gebrauch, den der Rezipient von ihr macht. In der von Benjamin vorgenommenen Bestimmung des Taktilen treffen somit die widerstrebenden Tendenzen einer passiven und aktiven Dimension aufeinander. Taktilität ist mit anderen Worten eine den Betrachter wie Nutzer zugleich aktiv und passiv involvierende Qualität. In dem Maße aber, wie sie zugleich passiv und aktiv beschrieben wird, in dem Maße also, in dem der Eindruck entsteht, dass jeder Betrachtung ein Gebrauch innewohnt und jedem Gebrauch eine Form der Betrachtung, weshalb diese Unterscheidung unter dem Gesichtspunkt der Taktilität aufgehoben erscheint, fallen auch die Funktionsbestimmungen des Betrachters und Nutzers gleichsam in eins. Entscheidend ist hierbei, dass die im Zusammenhang mit Architektur angesprochene Analogie zwischen ›Gebrauch‹ und ›Taktilität‹ auf das in den Schlussfolgerungen zentrale Argument des Kunstwerk-Aufsatzes verweist, wonach der Film als taktile Kunstform ein »Übungsinstrument«10 sei. Dieser Gebrauchsbezug deutet unmittelbar auf die ›instrumentelle‹ Dimension der taktilen Ästhetik, wie der Film sie umsetzt, hin. Demnach dient die taktile Kunstform einer rezeptiven Einübung in die Wahrnehmungsstruktur der Moderne, sie verfolgt somit eine Taktik, indem sie lehrt, wie Beobachtung unter dem Vorzeichen der Moderne zu funktionieren habe.11 Wenn Benjamin für die Architektur konstatiert, sie werde ›auf doppelte Art rezipiert: taktil und optisch‹, verleiht er zunächst einmal der Unterscheidung, die zwischen diesen beiden Wahrnehmungsformen besteht, Nachdruck. Festgestellt wird eine Gleichzeitigkeit differenter Perzeptionsmodi. Ausschlaggebend für die Argumentation des Textes ist dabei die Verknüpfung dieser mit der Unterscheidung zwischen Zerstreuung und Kontemplation: »Es besteht nämlich auf der taktilen Seite keinerlei Gegenstück zu dem, was auf der optischen die Kontemplation ist.«12 Das bedeutet nicht, dass die optische Wahrnehmung in die Modi ›zerstreut‹ und ›kontemplativ‹ unterteilbar ist. Vielmehr macht die an10 Ebd., 505. 11 Siehe zum komplexen, auch auf die Editionsgeschichte des Kunstwerkaufsatzes verweisenden Zusammenhang von ›Taktischem‹ und ›Taktilen‹ T. Wilke: Medien der Unmittelbarkeit, 200ff. 12 W. Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, 505.

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schließende Formulierung deutlich, dass von der »bloßen Optik,« zu sprechen, »also […] Kontemplation«13 bedeute. Das Moment der Zerstreuung ist demgegenüber nur für die taktile Wahrnehmung reserviert. Gebrauch, Zerstreuung und taktile Wahrnehmung bilden so eine Einheit, die der Kontemplation als einem Verfahren der ›nur‹ optischen Rezeption entgegengesetzt ist. Dieser Unterscheidung entsprechen zudem unterschiedliche ästhetische Konzepte, die sich nicht zuletzt auf die Gegenüberstellung Gebrauchskunst versus zweckfreie Kunst zurückführen lassen. Zwar hat Benjamin für die Baukunst in Anschlag gebracht, sie werde auf doppelte Art rezipiert. Jedoch bröckelt der zunächst erweckte Eindruck einer Gleichwertigkeit beider Wahrnehmungsformen, wenn es heißt: »Die Architektur bot von jeher den Prototyp eines Kunstwerks, dessen Rezeption in der Zerstreuung […] erfolgt.«14 Als habe sich der Text im Verlauf seiner Argumentation von der These der ›doppelartigen‹ Rezeption der Baukunst zugunsten ihrer primär taktilen entfernt. Unter der Hand geht aus dieser argumentativen Umorientierung zudem hervor, dass die optische Rezeption der Architektur nicht angemessen sei. Wird sie nicht ›gebraucht‹, sondern nur betrachtet, mithin auf den optischen Sinn eingeschränkt, liegt, wie man schlussfolgern könnte, eine Art ›Miss-Brauch‹ vor. Denn die prototypische Wahrnehmungsform der Baukunst liegt in der Zerstreuung, die dem Gebrauch als taktiles Erfassen entspricht. Wie aber beschreibt Benjamin die taktile Beschaffenheit des Films vor dem Hintergrund, dass er ein entschieden optisch operierendes Medium ist? Als ›Einübungsinstrument‹, womit die Kategorie des Gebrauchs angesprochen wäre – aber ist jeder Gebrauch zwangsläufig taktil? –, wird der Film weniger hinsichtlich seiner technischen Disposition als Bildmedium bestimmt, als vielmehr von seinem gleichsam didaktischen Einsatz her gedacht. Den Filmbildern selbst wird die taktile Beschaffenheit hingegen attestiert, wo Benjamin deren »ablenkendes Element« betont, das »in erster Linie ein taktiles ist,« insofern es »auf dem Wechsel der Schauplätze und Einstellungen beruht, welche stoßweise auf den Beschauer eindringen.«15 Diese Konzeption ist auf den Blick – den visuellen Wahrnehmungssinn also – ausgerichtet und sie wird durch die perspektivische Zerstreuung der Kamera- und der Montagetechnik erklärt. Diese ermöglichen nämlich eine Bildkonstitution sowie, damit einhergehend, eine Blickführung, die der taktilen Rezeption der Architektur zu entsprechen scheint, wenn sich das Auge durch unterschiedliche Räume bewegt, das Sehen also zugleich verräumlicht und dynamisiert wird. So nimmt sich der Filmzuschauer als Bestandteil der

13 Ebd. 14 Ebd., 504. 15 Ebd., 464.

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Räume wahr, die er visuell ›durchdringt‹. Darin vor allem kommt die taktile Eigenschaft der Filmrezeption zum Vorschein. Entscheidend ist an dieser Beschreibung, dass sie den Sehsinn durch die medientechnische Disposition des Films taktil werden lässt. Dieser hebt also die zuvor zitierte Gleichung zwischen der ›nur optischen‹ Wahrnehmung und Kontemplation auf. Auf Distanz, d. h. ohne unmittelbare Berührung des Zuschauerauges mit der Leinwand, erzeugt der Film gleichwohl eine visuelle Zeichenstruktur, die optische Taktilität hervorruft und so die im Zusammenhang mit Architektur als Differenz reflektierten Kategorien zu einer Einheit verbindet.

McLuhan: Taktilität und Beobachtung Die von der Filmkamera evozierte ›Eindringlichkeit‹ vergleicht Benjamin bekanntlich mit einem chirurgischen Eingriff: »Der Chirurg vermindert die Distanz zu dem Behandelten sehr – indem er in dessen Inneres dringt […]. Mit einem Wort: zum Unterschied vom Magier […] verzichtet der Chirurg im entscheidenden Augenblick darauf, seinem Kranken von Mensch zu Mensch sich gegenüberzustellen; er dringt vielmehr operativ in ihn ein.«16 Mit dem, insbesondere in Abgrenzung zum ›Magier‹ genannten, ›Chirurgen‹ ruft Benjamin eine Figur moderner Medizinhistorie auf, welche Bezug nimmt auf ein qua ›Beobachtung‹ bzw. ›Observation‹ beruhendes Wissen und eine dieses ermöglichende rezeptive Praxis.17 Indes wird hier die Chirurgie im Hinblick auf den Gesichtspunkt taktiler Eingriffe in Anschlag gebracht. Nicht die in der ›Observation‹ implizierte Distanz der optisch gewonnenen Erkenntnis,18 sondern der Umstand, dass der Operateur in den ›Kranken eindringt‹, wie in einem Experiment, stellt Benjamin als für seine Argumentation entscheidenden 16 Ebd., 458f. 17 Zur Entstehung der neuzeitlichen Medizin auf der Grundlage der »eigene[n] Naturbeobachtung« siehe u. a. Wolfgang Uwe Eckart, Robert Jütte: Medizingeschichte. Eine Einführung, Köln, Weimar, Wien 2007, 59. 18 Das 18. Jahrhundert versteht unter Beobachtung bzw. »Observation« eine »durch Hülffe der Sinne erkannte Wahrheit von dem, was sich in einzelnen Dingen befindet und zuträget« (Art. »Observation«, in: Heinrich Johann Zedlers Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste, [1732], Bd. 25, 278–279, 278) und grenzt sie von dem »Experiment« bzw. »Versuch« als einem Vorgehen ab, das auf das Beobachtete auf eine spezifische Weise einwirkt, es dabei verändert und von unserer Technik, »der Kunst oder unserem Fleisse« (Ebd. 279) abhängt. In Anbetracht der taktilen Wahrnehmung kollabiert diese auf Francis Bacon zurückgehende Unterscheidung, wie der Rückgriff auf den chirurgischen Eingriff verdeutlicht. Das Sehen, das die Filmkamera ermöglicht, etabliert einen Beobachtungsmodus, der keine Distanz zu den Beobachtungen lässt, sondern in diese gerade wie in einem Experiment einwirkt, um sie somit in einer spezifisch filmischen Form hervorzubringen.

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Aspekt heraus. Bedeutsam ist zudem die anschließende Gleichsetzung mit dem »Kameramann«, womit Chirurgie explizit in Analogie zum Film gebracht und die medienapparative Anordnung19 hervorgehoben wird: Der »Kameramann dringt tief ins Gewebe der Gegebenheit ein.«20 Etwa dreißig Jahre später findet sich eine Wiederaufnahme des Motivs in Marshall McLuhans Understanding Media, wo der chirurgische Eingriff als Verweis auf die taktile Dimension des Fernsehens figuriert. Innerhalb dieses Argumentationszusammenhangs wird jedoch nicht nur die Filmkamera gegen den Fernsehschirm getauscht, auch lassen sich Unterschiede hinsichtlich des Status des Motivs sowie hinsichtlich der Bestimmung der Rezeption festmachen. Gleichwohl drängt sich der McLuhan’sche Rekurs auf den chirurgischen Eingriff in Verbindung mit der Kategorie des Taktilen als ein Intertext auf, anhand dessen aufschlussreiche Verschiebungen und Neudeutungen, aber auch Kontinuitäten nachvollzogen werden können. Eines der deutlichsten Beispiele der taktilen Eigenschaft des Fernsehbildes stammt aus dem Erfahrungsbereich der Medizin. Bei den über eine Fernsehanlage in die Hörsäle übertragenen chirurgischen Eingriffen haben Medizinstudenten von Anfang an eine merkwürdige Wirkung festgestellt – sie glaubten nicht, bei einer Operation zuzusehen, sondern selber zu operieren.21

Im Kunstwerk-Aufsatz steht der Aspekt des ›Eingriffs‹ im Vordergrund. Aufgrund dieser Fokussierung wird zum einen die Verletzung der Körperoberfläche assoziiert und mit ihr die Metaphorik des ›Geschoßes‹ und ›Beschusses‹, wie sie den Kino-Rezipienten kennzeichnet, in einer anderen Variante wieder aufgegriffen. Zum anderen referiert die Gleichsetzung von Chirurgie und Kino auf die unter die Haut gehende taktile Wirkung des Films: eine tiefgreifende, als Intensität beschreibbare »Innervation«.22 Demgegenüber interessiert McLuhan der televisuell erzeugte Simulationseffekt. Die Fernsehübertragung des operativen Eingriffs wird hier nicht in Form einer Analogie oder eines Vergleichs gedacht, vielmehr dient sie dem exemplarischen Nachweis der taktilen Wirkung des Fernsehens: als sei man dabei. Der Fernsehzuschauer werde demnach in die Situation versetzt zu glauben, er operiere selbst, obgleich ihm die Operation nur vorgeführt werde. Während Benjamin den Rezipienten mittels der chirurgisch verfahrenden Kamera Körperoberflächen 19 Siehe zu der historischen Dimension dieser konzeptuellen Anordnung, speziell zu den »taktilen« durch Medienapparate hervorgebrachten Observationen des 18. Jahrhunderts Natalie Binczek: Kontakt: Der Tastsinn in Texten der Aufklärung, Tübingen 2007, 76ff. 20 W. Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, 459. 21 Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media, Dresden, Basel 1994, 495f. 22 W. Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, erste Fassung, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2: Abhandlungen, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt 1991, 445.

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gewissermaßen durchdringen lässt, verläuft die von McLuhan beschriebene Rezeption eher entlang der Oberflächen; nicht als Intensität, sondern vielmehr als Extension. Von »gewaltigen Erweiterungen« – »massive extensions«23 – »unseres Zentralnervensystems«24 ist im Zusammenhang mit dem Fernsehen in Understanding Media daher immer wieder die Rede. Das Konzept einer auf der Hautoberfläche verbleibenden Ausbreitung der Nervenimpulse steht hier der ›Innervation‹ im Kunstwerkaufsatz als einem Prozess gegenüber, der die äußeren Reize nach innen, in das »Optisch-Unbewußte[]«25 leitet und damit eine Tiefendimension sowohl voraussetzt als auch hervorruft. Der Unterschied zum Benjamin’schen Modell wird dort besonders greifbar, wo auch McLuhan die ballistische Metaphorik des Geschosses bzw. Beschossen-Werdens gebraucht, um mit ihr das abrupte Moment des Tastsinns zu unterstreichen. Als »Geschoß«, das »dem Betrachter zu[stößt]«,26 wird es im Kunstwerkaufsatz bezeichnet. McLuhan aber beschreibt den Fernsehrezipienten als einen Bildschirm, auf welchen Lichtimpulse abgeworfen werden. »Beim Fernsehen ist der Zuschauer Bildschirm. Er wird mit Lichtimpulsen beschossen«.27 »He is bombarded with light impulses«,28 so die Formulierung im Original. Als Bildschirm konnotiert er jedoch ›Flächigkeit‹. Der Zuschauer ist ›flach‹, genauso wie der Bildschirm, von dem aus diese Impulse ausgesandt werden. Fernsehrezeption ereignet sich nach dieser Beschreibung als Interaktion zwischen dem Fernsehbildschirm sowie dem ›Bildschirm‹, den der Zuschauer repräsentiert. Entscheidend ist dabei, dass McLuhan die taktilen Impulse nicht als schockierend bzw. erschütternd denkt. Sie dringen nicht in die Tiefe des Zuschauerkörpers oder -bewusstseins ein, wie sie Benjamins Analogie zwischen der Filmkamera und dem chirurgischen Eingriff suggeriert. Vielmehr verwandeln sie den gesamten Zuschauerkörper in einen Monitor, der von Lichtimpulsen beschossen bzw., wie andere Textstellen weniger gewaltsam konnotiert zum Ausdruck bringen, ›abgetastet‹29 wird und somit audiovisuelle Bilder generiert. Der Tastsinn spielt in Understanding Media eine zentrale Rolle. Seine Einbeziehung zur Kennzeichnung des modernen Medienstandards durchzieht das gesamte Buch, erreicht allerdings im Zusammenhang mit der Fernsehreflexion ihren 23 Marshall McLuhan: Understanding Media. The Extensions of Man (1964), London, New York 2010, 344. 24 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, 477. 25 W. Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, 500. 26 Ebd., 463f. 27 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, 473. 28 M. McLuhan: Understanding Media, 341. 29 Das Fernsehen wird von McLuhan sogar als ein »Abtastsystem« (M. McLuhan: Die magischen Kanäle, 473) bezeichnet.

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Höhepunkt. Das Fernsehen wird von McLuhan als eine taktile Operation bestimmt. Was aber heißt das eigentlich? – Bereits in der Gutenberg-Galaxis wird auf dem Horizont einer breitgespannten kulturgeschichtlichen Darstellung die taktilhaptische Wahrnehmungsweise von einer ihr historisch vorangehenden, mit dem Buchdruck verknüpften unterschieden: »Die Trennung der Sinne und die Störung ihres taktil-synästhetischen Wechselspiels dürfte wohl eine der Auswirkungen der Gutenberg-Technik gewesen sein.«30 Bemerkenswert ist dabei die methodologische Grundlegung dieser Sinnestypologie unter Rückgriff auf die »Darlegungen Claude Bernards«, für den die bereits aus dem 18. Jahrhundert stammende Differenz zwischen »Beobachtung« und »Experiment«31 maßgeblich war. So proklamiert McLuhan die »Methode, die wir bei unserer Untersuchung durchgehend anwenden,« als »Beobachtung«, insofern sie »darin [besteht], daß man Phänomene feststellt, ohne sie dabei zu stören«.32 Demgegenüber bescheinigt er dem Experiment mit den Worten Bernards, dass dieses »die Idee einer Veränderung oder Störung ein[schließt], die ein Forscher in die Bedingungen der Naturphänomene hineinbringt… Um dies zu bewirken, unterdrücken wir ein Organ im lebenden Versuchsobjekt durch eine Sektion oder Amputation«.33 Exakt eine solche experimentell begründete ›Sektion‹ und ›Amputation‹ setzt McLuhan mit der buchdrucktechnisch hervorgerufenen ›Trennung der Sinne‹ in Beziehung, konstatiert er doch, dass der »Mensch als werkzeugschaffendes Lebewesen […] schon lange damit beschäftigt [ist], das eine oder andere seiner Sinnesorgane so zu erweitern, dass dadurch alle seine anderen Sinne […] gestört werden.«34 Folgt aus der dem experimentellen Vorgehen entsprechenden ›Trennung der Sinne‹ ein sensorisches Ungleichgewicht, so korrespondiert die ›Beobachtung‹ gemäß der hier vorgenommenen Gleichung der Erfassung, vielleicht aber auch der Etablierung des »Wechselspiel[s] aller Sinne in haptischer Harmonie.«35

Vernetzung der Sinne »Die Tastsinnempfindung ist abrupt, aber nicht spezialisiert. Sie ist total, synästhetisch und bezieht alle Sinne ein«,36 schreibt Marshall McLuhan in Understanding Media und führt damit zumindest implizit die zwei Jahre zuvor ent30 Marshall McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Düsseldorf, Wien 1968, 26. 31 Ebd., 8. (Siehe dazu auch die Anm. 17 in diesem Text.) 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Ebd., 9. 35 Ebd., 27. 36 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, 504.

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wickelte Vorstellung mit, wonach die taktile ›Totalität‹ dem ›Beobachten‹ entspricht bzw. dieses nur unter der Voraussetzung eines sensorischen Gleichgewichtes, das die Haptik repräsentiert, möglich ist. Immer wieder verweist er auf »the tactual mode«37, indem er ihn zwar nicht systematisch erörtert – die Abhandlung will ja unsystematisch, mosaikartig sein,38 und indem sie so verfährt, liefert sie selbst ein Beispiel taktiler ›Beobachtung‹ –, gleichwohl aber unter wechselnden Gesichtspunkten, gewissermaßen tentativ, seine Vielschichtigkeit in den Blick zu nehmen erlaubt. So lässt sich die hier entfaltete Medientheorie als eine Theorie der Sinneswahrnehmungen, insbesondere aber der optischen in Konkurrenz zur taktilen, deuten, die ihrerseits jedoch dadurch gekennzeichnet ist, dass sie diese Konkurrenz transgrediert. McLuhan setzt die Elektrizität in eine enge Beziehung zum Tastsinn, dabei denkt er das Fernsehen – im Sinne eines Prototyps elektrischer Medientechnologie – als ein Medium, das vor allem Taktilität adressiert und mittels derselben rezipiert wird. Mit dieser Festlegung soll die audio-visuelle Struktur nicht um die Komponente des Tastsinns ergänzt werden. Der Ansatz ist basaler angelegt. Durch den Bezug auf den Tastsinn wird die televisuelle Rezeptionsform vielmehr auf eine neue, die Audio-Vision überschreitende Qualität hin perspektiviert, in welcher sich keine sensorische Differenzierung und in Folge dessen auch keine Gleichgewichtstörung innerhalb des Wahrnehmungsverbundes, mehr ausmachen lassen. Unter dem Vorzeichen der Taktilität, wie McLuhan sie entwirft, ist die ›Trennung‹ der Sinne nämlich aufgehoben. ›Sie ist total, synästhetisch und bezieht alle Sinne ein‹. Im Unterschied zu Benjamins Gegenüberstellung von Optik als Kontemplation einerseits und Taktilität als Zerstreuung andererseits beruht McLuhans Abgrenzung der beiden Wahrnehmungsformen auf einem anderen Modell. Danach ist die optische Wahrnehmung in eine Struktur gegeneinander differenzierter Sinne integriert, während der Tastsinn diese Struktur synästhetisch ebenso übergreift wie auflöst. In beiden Fällen jedoch kann eine enge Verbindung zwischen Wahrnehmungsformen und Medientechnologien festgemacht werden. Insofern McLuhan Sinneswahrnehmungen grundsätzlich in Interdependenz zu Medien bzw. Medientechnologien denkt, ist auch der Tastsinn medienanthropologisch grundiert. Dieser Auffassung zufolge ermöglichen Medientechnologien entweder eine Steigerung der natürlichen Wahrnehmungsleistung, oder aber sie verursachen deren Verkümmerung. Ein a-medialer Zustand des menschlichen Sinnesapparates kann vor diesem Hintergrund nicht gedacht werden. Keine Sinneswahrnehmung lässt 37 M. McLuhan: Understanding Media, 365. 38 »Die Grundidee besteht darin, die Form der Linearität durch die Figur eines Mosaiks zu ersetzen.« (Daniela Kloock, Angela Spahr: Medientheorien. Eine Einführung, München 1997, 41).

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sich ohne ein mit ihr verschaltetes Medium beobachten, wie sich auch umgekehrt kein Medium ohne eine mit ihm verschaltete Sinneswahrnehmung beobachten lässt.39 Mehr noch: Die sensorische Trennung und ihre spezifische Anordnung sind selbst bereits Effekte besonderer Medien und damit keine anthropologische Grundkonstellation: »Die meisten technischen Formen bewirken eine Verstärkung, die in ihrer Trennung der Sinne deutlich wird. Das Radio ist eine Erweiterung des Gehörs, die sehr naturgetreue Fotografie erweitert den Gesichtssinn. Aber das Fernsehen ist vor allem eine Erweiterung des Tastsinns, der ein optimales Wechselspiel der Sinne mit sich bringt.«40 Bedeutsam ist an dieser Charakteristik, wonach Medien nach McLuhans bekannter Definition als Extensionen von Sinneswahrnehmungen ausgezeichnet werden, dass im Fall der televisuellen ›Erweiterung‹ des Tastsinns eine gleichsam interne Interaktion verschiedener Sinne entsteht. Unter Taktilität ist folglich nicht nur die Leistung eines Einzelsinns zu verstehen, sie bezeichnet vielmehr ein multisensorisches Beziehungsgeflecht, eine Art sensus communis.41 – Auf der einen Seite also der Hör- und der Sehsinn, die auf jeweils spezifische Wirkungsbereiche begrenzt und als spezialisierte Einzelsinne bestimmt werden, und auf der anderen Seite der Tastsinn, der aufgrund seiner synästhetischen Disposition noch die audio-visuelle Wahrnehmung einschließt, diese im Zuge dessen jedoch einer veränderten Gesamtarchitektur unterzieht.42 Spiegelt das erste Modell eine taxonomische Ordnung wider, die unterschiedliche Wahrnehmungen in Analogie zu unterschiedlichen Wahrnehmungsorganen klassifiziert, so verweist McLuhan im Zusammenhang mit dem zweiten Modell auf die Metapher des ›Netzes‹. Die Elektrizität teilt sich, wie es scheint, netzförmig mit. Bereits auf der ersten Seite von Understanding Media findet sich daher die programmatische Aussage: »Heute, nach mehr als einem Jahrhundert Elektrizität, haben wir sogar das Zentralnervensystem zu einem weltumspannenden Netz ausgeweitet«.43 Taktilität als Phänomen elektrischer Impulsvermittlung vernetzt somit nicht nur unterschiedliche Sinne, sie vernetzt überdies auch verschiedene Zentralnervensysteme miteinander. 39 Zum Problem der Beobachtbarkeit von Medien auf der Basis der Figur/Hintergrund-Unterscheidung bei McLuhan siehe F. Sprenger : Medien des Immediaten, 381ff: »Medien sind demnach nur in Medien sichtbar, nur in Differenz und Relation zu dem, worin sie erscheinen – und nicht als das, was sie sind.« (Ebd., 383). 40 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, 502. 41 Damit schließt McLuhan an Wilhelm Max Wundts in seinem Grundriß der Psychologie, Leipzig 1896 vorgenommene Definition des sensus communis als einer alle Sinnes- und Empfindungswahrnehmungen übergreifenden Wahrnehmung an. 42 Siehe zur kulturhistorischen Konstruktion der Fünfsinnigkeit Waltraut Naumann-Beyer : Anatomie der Sinne. Im Spiegel von Philosophie, Ästhetik, Literatur, Wien, Köln, Weimar 2003. 43 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, 15.

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Eingebunden ist McLuhans ›Medientheorie des Tastsinns‹ zum einen in den Kontext einer übergreifenden kulturhistorischen Entwicklung, die unterschiedliche Epochen benennt und insofern von Belang ist, als sie den prominenten Stellenwert der Taktilität in der ›electric era‹ begründet. Zum zweiten bewegt sie sich im Rahmen des ›kalte‹ gegenüber ›heißen‹ Medien abgrenzenden Analyseschemas. Diesem zufolge ist das Filmbild etwa ein ›heißes‹ Medium, wohingegen »[d]as Fernsehbild […], visuell gesehen, datenarm«44 ist und deshalb als ein kaltes Medium typologisiert wird. Aufgrund dieser Datenarmut setzt es nämlich, anders als der Kinofilm, eine erweiterte Partizipation des Zuschauers voraus bzw. in Gang: »Das Fernsehen will nicht Kulisse sein. Es nimmt uns ganz in Anspruch.«45 Diese Beschreibung mag in Anbetracht dominanter Konzepte televisueller Rezeption durchaus befremden. Nicht nur liefert sie einen Ansatz, der Adornos Bestimmung des Fernsehens als bloßes »Wohnungszubehör«46 und seiner sich daraus bis heute fortschreibenden Festlegung als Nebenbei-Medium47 entschieden widerspricht. Sondern sie tendiert auch in eine gegenüber der Benjamin’schen Zerstreuungsthese gegenläufige Richtung. Darin nämlich, dass das Fernsehen uns ›ganz in Anspruch nimmt‹, also ›total‹ ist, weist es seine taktile Konstitution auf. Mit anderen Worten: Die als ›synästhetisch-total‹ apostrophierte Struktur der Taktilität korrespondiert der völligen Inanspruchnahme des Rezipienten, wie sie kulturhistorisch erstmalig – so McLuhan – mit dem Fernsehen ermöglicht bzw. sogar erforderlich wird: Das Fernsehbild verlangt in jedem Augenblick, daß wir die Lücken im Maschennetz durch angestrengte Beteiligung der Sinne ›schließen‹, die zutiefst kinetisch und taktil ist, weil Taktilität viel eher Wechselspiel der Sinne bedeutet, als den isolierten Kontakt der Haut mit einem Gegenstand.48 Deutlich wird an diesem Zitat, dass die Fernsehrezeption – die allein auf der Grundlage der medientechnischen Modalisierung, nicht jedoch hinsichtlich von Programminhalten konturiert wird – in sensorischer Hinsicht eine besondere Anstrengung bedeutet. Taktilität, so die Gleichung, ist anstrengend, sie verlangt dem Rezipienten ein Engagement ab.49 Dabei stellt sie weniger das Ergebnis eines 44 Ebd., 473. 45 Ebd., 471. 46 Theodor W. Adorno: »Prolog zum Fernsehen« (1950), in: ders.: Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt/Main 1963,69–80, 73. 47 Für die kommunikationswissenschaftlich ausgerichtete Medienwissenschaft gilt das Fernsehen heute hauptsächlich als Nebenbeimedium, was auch empirisch grundiert wird. Siehe dazu exemplarisch Jens Wolling, Christoph Kuhlmann: »Zerstreute Aufmerksamkeit. Empirischer Test eines Erklärungsmodells für die Nebenbeinutzung des Fernsehens«, in: Medien- & Kommunikationswissenschaft, Jg. 54 (2006), 386–411. 48 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, 475. 49 Indem sie verschiedene Sinne – synästhetisch – verbindet, wird ihre Wirkung in gewisser

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›isolierten Hautkontakts‹ dar denn eine Interaktivität der Sinne. Sie besteht im Fall des Fernsehens nicht zuletzt darin, dass alle Sinne seine visuelle Datenarmut kompensieren müssen: ›Die Lücken im Maschennetz müssen geschlossen‹ werden. Auch hier wird die Netzmetaphorik wieder genutzt, um sie nun ausdrücklich an die Operation des Tastsinns zu binden, dessen Funktion darin besteht, das gleichsam locker geknüpfte visuelle in ein dichtes taktiles Netz zu verwandeln. Wo die optischen Sinnesdaten fehlen – wie beim Fernsehbild –, dort werden sie taktil vervollständigt. Nicht unerheblich ist hierbei, dass McLuhan an der zitierten Textstelle, in gewisser Weise beiläufig, zwei Konzepte von Taktilität zugrunde legt. Wenn er formuliert, dass diese ›viel eher ein Wechselspiel der Sinne bedeutet, als den isolierten ›Hautkontakt mit einem Gegenstand‹, dann hat er zwei Bedeutungen des Tastsinns in ein graduelles Unterscheidungsverhältnis zueinander gebracht. Selbst wenn das zweitgenannte Konzept – ›der isolierte Hautkontakt mit einem Gegenstand‹ – als das schwächere, ja, ›uneigentlichere‹ gekennzeichnet wird, so wird ihm dennoch nicht prinzipiell abgesprochen, eine Spielform der Taktilität abzudecken. Damit steht die Bezeichnung ›Tastsinn‹ erstens für eine spezifische und spezialisierte Sinneswahrnehmung, wie sie etwa auch der Seh- und der Hörsinn repräsentieren. Vor allem aber wird sie zweitens im Sinne des sensus communis – eines sensorischen Wechselspiels – gebraucht und zumal in dieser Variante für das Fernsehen als grundlegend veranschlagt.50

Taktile Bilder, Tastbilder Die Fernsehrezeption unterscheidet sich, wie McLuhan wiederholt hervorhebt, durch ihre taktil-haptische Dimension vom Film. In gewisser Weise überakzentuiert er die Differenz zwischen den beiden Medien, um aus dieser Opposition heraus das Spezifische des Fernsehens zu profilieren. Bedeutsam ist, dass er die Differenz auch semiotisch fasst, wenn es heißt: »Die Aussageweise des Fernsehbildes hat mit dem Film […] nichts gemeinsam«.51 Das Fernsehen und der Film bedienen sich folglich unterschiedlicher Zeichensysteme. Es handelt Weise konträr zur taktilen Zerstreuung beschrieben, wie Benjamin sie dem Film attestiert. Gleichwohl sind beide Ansätze jeweils daran interessiert, die Aktualität der taktilen Wahrnehmungsform hervorzuheben. Mehr noch: Sie wollen unter Bezugnahme auf die je zentralen Massenmedien auch die sozialhistorische Relevanz der Taktilität erfassen. 50 Hierbei handelt es sich um eine Taktilität, die den Takt gleichsam aushebelt. Bezug nehmend auf Derrida spricht Sprenger von der »Aufhebung des Taktes der Taktilität« und hält in diesem Sinn für McLuhan fest: »Taktilität bedeutet ihm über die Oszillation einer verbundenen Trennung hinaus die Aufhebung der Trennung. Was sich berührt, kann ineinander aufgehen […].« (F. Sprenger : Medien des Immediaten, 373). 51 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, 473.

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sich bei ihnen also nicht um zwei Medien, die gleichermaßen audio-visuelle Zeichen prozessieren, sondern trotz dieser vermeintlichen Kongruenz hinsichtlich der jeweiligen semiotischen Struktur vielmehr ›nichts gemeinsam haben.‹ Begründet wird diese scharfe Abgrenzung mit der Zugehörigkeit des Films zum ›optischen‹ und der des Fernsehens zum ›taktilen‹ Wirkungsraum. Wenn sich dabei das Fernsehen in hohem Maße gerade über dessen Beziehung zu dem, was es nicht ist, nämlich zum Film, erschließt, dann hängt es mit den methodischen Konsequenzen eben dieser Unterscheidung selbst zusammen. Von den beiden Wahrnehmungsmodi leitet McLuhan nämlich auch zwei Erkenntnisformen ab: Der Augenmensch kann […] keinen Unterschied zwischen Kinofilm und Fernsehen […] erkennen, denn dieser Unterschied besteht nicht zwischen zwei visuellen Räumen, sondern zwischen Tastraum und Sehraum.«52 Um zum Tastraum zu gelangen, um ihn beobachten zu können, muss auch McLuhan immer wieder durch den Sehraum hindurchgehen. Er muss unterscheiden und abgrenzen, um schließlich zu verbinden. Während er einerseits – nicht zuletzt mit Blick auf die semiotische Konstitution – eine unüberbrückbare Differenz zwischen ihnen behauptet, rückt er den Film und das Fernsehen andererseits rhetorisch näher, obgleich eher implizit, wie zuvor deutlich geworden, das Motiv des ›Chirurgen‹ verwendet und damit einen Verweis auf Benjamins Kategorisierung des Films als taktile Medientechnik herstellt. Beiden, McLuhan und Benjamin, dient der ›chirurgische Eingriff‹ als wichtige Vergleichsfigur zur Exemplifikation der taktilen Beschaffenheit ihres jeweiligen Referenzmediums. Benjamin jedoch referiert gemäß einem anderen Verständnis auf die Taktilität als McLuhan, wenn er deren Wirkung im Zusammenhang mit dem Fernsehen als eine die gesamte Körperoberfläche umfassende, synästhetische Erfahrung beschreibt.53 Das Fernsehbild wird dabei als ein in zweifacher Hinsicht tastendes Medium bestimmt. Zum einen dringt es mittels bzw. in Analogie zu elektrischen Strömen in die Haut des Rezipienten ein. Zumindest für das Fernsehen, wie McLuhan es beschreibt, lässt sich daher festhalten, dass seine Zeichen, insofern sie auf den Rezipienten taktil einwirken, in seine Haut gleichsam ›einmassiert‹ werden54 und dass exakt darin die semiotische Bedeutung dieser Neuromassage55 besteht. Für das Fern-Sehen folgt daraus, dass es aufgrund seiner taktilen 52 Ebd., 193. 53 Zu einer medienwissenschaftlichen Beschreibung taktiler Bildästhetik siehe Nicola Glaubitz, Jens Schröter : »Zur Diskursgeschichte des Flächen- und Raumbildes«, in: Gundolf Winter u. a. (Hg.): Das Raumbild. Bilder jenseits der Flächen, Paderborn 2009, 283–314. 54 Marshall McLuhan, Fiore Quentin: The Medium is the Massage. An Inventory of Effects, London 1967. 55 Wolfgang Ernst: »Takt und Taktilität. Akustik als privilegierter Kanal zeitkritischer Medienprozesse«, in: Derrick de Kerckhove, Martina Leeker, Kerstin Schmidt (Hg.): McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert, Bielefeld 2008, 170–180, 176.

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Wirkung als ein Medium sensorischer Unmittelbarkeit, als ein Präsenzmedium, umzudeuten ist. Zum zweiten wird nach McLuhan das Fernsehbild auch operativ taktil bestimmt, nämlich als Abfolge von elektrischen Abtastungen. »Im Zeitalter der Elektrizität wird die ganze Menschheit zu unserer eigenen Haut.«56 Die elektrische Impuls- und Datenübertragung erfasst den gesamten Körper. Um diese Einwirkung zu beschreiben, bedient sich McLuhan der Metaphorik des Hautkontaktes, womit er in gewisser Weise einen Umweg über ein Sinnesorgan nimmt. Wo sie als metaphorisches Supplement der sensorischen Situation im Zeitalter der Elektrizität dient, wo sie also zum Inbegriff gesteigerter Taktilität wird, muss die ›Haut‹ als eine den gesamten menschlichen Körper umspannende, mithin alle Sinne stimulierende und vernetzende Nervenreizung gedacht werden. Zu unterscheiden ist diese Auffassung von den ›isolierten‹, d. h. punktuellen Hautkontakten, insofern diese in einem weitaus geringerem Ausmaß als taktil zu bezeichnen und nicht erst unter dem Primat der Elektrizität möglich sind. Vor dem Hintergrund dieser Beschreibung jedenfalls lässt sich die zuvor als graduell bestimmte Differenz zwischen den zwei von McLuhan reflektieren Konzepten wie folgt reformulieren: Sie bezieht sich erstens auf eine punktuelle, als ›isolierter Hautkontakt‹ bestimmte und mit dem Hör- und Sehsinn etwa vergleichbare, weil distinkte und spezialisierte Sinneswahrnehmung sowie zweitens im gleichsam metaphorischen Bezug auf die Haut als ein alle Sinne umfassendes Sensorium, das auch als Äquivalent des Zentralnervensystems lesbar ist: Taktilität als spezialisierte Sinneswahrnehmung und Taktilität als sensus communis. Nur in dieser letztgenannten Funktion jedoch kann sie als unmittelbare Begleiterscheinung dessen, was McLuhan in der Gutenberg-Galaxis als ›Beobachtung‹ dem ›Experiment‹ entgegensetzt, bestimmt werden. In der Aussage: »Im Zeitalter der Elektrizität wird die ganze Menschheit zu unserer eigenen Haut« weist der Hautbezug eine metaphorische Funktion auf. Demgegenüber geht aus dem Kapitel Kleidung. Unsere erweiterte Haut im Modus einer buchstäblichen Aussage hervor, dass selbst andere Sinneswahrnehmungen, das Hören etwa, physiologisch als Leistung der Haut beschrieben werden können: »Die Psychologen lehren uns schon lange, daß ein Teil dessen, was wir hören, seinen Weg über die Haut nimmt.«57 Das taktile Wahrnehmungsorgan ist also die Haut, und dies vor allem, weil sie unterschiedliche sensorische Kombinationen ermöglicht. Sie spürt und hört. Im Hinblick auf das Fernsehen wäre allerdings von hier aus zu fragen, ob und inwiefern man mit der Haut auch (fern)sehen kann? Explizit nennt McLuhan die Kleidung als das der Haut entsprechende Me56 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, 83. 57 Ebd., 190.

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dium, d. h. als ihre Erweiterung. Dennoch vermag sie das taktile Wahrnehmungsvermögen nicht zu steigern, wie die Terminologie der ›Erweiterung‹ nahe zu legen scheint: Ganz im Gegenteil: »Nachdem wir jahrhundertelang ganz bekleidet und im optischen Raum eingeschlossen waren, geleitet uns das Zeitalter der Elektrizität in eine Welt, in der wir mit der ganzen Oberhaut leben und atmen.«58 Erst die Elektrizität – insbesondere auch in Form ihres wichtigsten medientechnischen Agenten ›Fernsehen‹ – ermöglicht also eine optimale Entfaltung des Tastvermögens, indem sie unmittelbar auf die Haut einwirkt. Angesprochen ist in dem Zitat erneut die Opposition zwischen dem optischen und dem taktilen Wirkungsraum. So scheint es, als erfasse die Taktilität einerseits alle Sinne, andererseits aber kollidiert sie offenbar stets mit dem Prinzip der Visualität. Wie also beschreibt McLuhan die optische Dimension des Fernsehens unter dem Primat der Taktilität? Oder anders und noch einmal gefragt: Kann man mit der Haut auch sehen? Die spezifische Visualität des Fernsehbildes macht McLuhan in der ›mosaikartigen Struktur‹ fest, welche wiederum als Manifestation der erwähnten Datenarmut lesbar ist. Damit legt er zwar einen technischen Standard zugrunde, der auf das heutige Fernsehen nur bedingt übertragbar ist, für seine Konzeption hingegen ist er unerlässlich. Der Beschauer des Fernsehmosaiks […] gestaltet mit der technischen Bildkontrolle unbewußt die Punkte zu einem abstrakten Kunstwerk nach dem Muster von Seurat […] um. […] Das Fernsehbild ist jetzt ein mosaikartiges Maschennetz von hellen und dunklen Punkten, was ein Filmbild nie ist, auch wenn die Qualität des Filmbildes sehr schlecht sein sollte.59

Bemerkenswert ist an dieser Darstellung, dass sie das Fernsehen, indem sie es in eine nachdrückliche Differenz zum Kinofilm setzt, zugleich in eine Genealogie zum Pointilismus rückt sowie, unter Rekurs auf andere Textstellen, von den Mosaiken der orientalischen Antike her denkt. Auf diese Weise stellt sie eine Beziehung zur gleichsam ›digitalen‹ Fernsehbild-Aisthetik her. Digitalität wird nämlich als »Auflösung eines Kontinuums in (möglichst) kleine Schritte bzw. eines Bildes in Bildpunkte«60 definiert. Als Mosaike, als Anordnungen diskontinuierlicher, diskreter Punkte verweisen Fernsehbilder darauf, dass sie kein analoges Abbild dessen sind, was sie sichtbar machen, sondern Konfigurationen aus digitalen, also mit dem ›digitus‹/Finger, erstellten Einheiten. »Das Fern58 Ebd. 59 Ebd., 474. 60 Art. »Digitalisierung«, in: Metzler Lexikon Medienwissenschaft. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, hg. v. Helmut Schanze, Stuttgart, Weimar 2002, 64–65, 65. Siehe zu der Fülle der Aspekte des Begriffs: Jens Schröter, Alexander Böhnke (Hg.): Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielfeld 2004.

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sehbild […] tastet pausenlos Konturen von Dingen mit einem Abtastsystem ab«61 – »limned by the scanning-finger«62–, schreibt McLuhan. Dieser Aussage zufolge lassen sich auch die mosaikartigen Punkte des Fernsehbildes als besondere Tastimpulse bzw. -daten deuten. Als ein ›scanning-finger‹-Verfahren wird das Zustandekommen von Fernsehbildern beschrieben.63 Taktilität fungiert im Zusammenhang mit Fernsehbildern somit nicht allein als Leistung ihrer Rezeption. Vielmehr wird sie auch den televisuellen Bildern auf der operativtechnischen Ebene ihrer Genese, als ein technischer Tastprozess also, bescheinigt: Fernsehbilder ›tasten Konturen von denjenigen Dingen ab‹, die sie sichtbar machen. Auf diese Weise aber prozessieren Fernsehbilder gemäß dem Schema punktueller Kontakte.64 Mittels eines solchen Abtastens liefern sie jedoch auch eine spezifische Beobachtung. Sie beobachten nämlich, indem sie das Beobachtete abtasten. Und indem sie dies tun, generieren sie eine taktile Sichtbarkeit, die ihrerseits als Grundlage eines taktilen Beobachtungsbegriffs dienen kann.

61 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, 473. 62 M. McLuhan: Understanding Media, 341. 63 Zur Frage nach der Beziehung von Taktilität und Digitalität bei McLuhan sowie dessen Anschlussfähig an die Computertheorie siehe Till A. Heilmann: »Digitalität als Taktilität. McLuhan, der Computer und die Taste«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 03 (2010), 125–134, 128ff. 64 Einerseits beschreibt der Tastsinn, und zwar in seiner Fassung als synästhetische Hautrezeption, eine passive Einwirkung von Stimuli, andererseits als Prozess des Abtastens ist er auch aktiv möglich. Im Zusammenhang mit dem Fernsehen stellt McLuhan die Rezeption als einen sensorisch zwar anspruchsvollen, dennoch passiven Beschuss von Impulsreizen und Informationen dar, die sich über die gesamte Hautoberfläche ausbreiten und im Zuge dessen mit anderen Sinnen vernetzen, wohingegen er auf der technisch-apparativen Seite des Fernsehbildes eine eher ›haptische‹ Operation, also das Verfahren eines Abtastsystems feststellt. Diese Unterscheidung spiegelt die in der Psychologie gelegentlich vorgenommene Differenz zwischen taktiler und haptischer Wahrnehmung. Erstere steht demnach für »Wahrnehmungsbedingungen, bei denen die Stimulusapplikation auf die Haut passiv, d. h. ohne aktive Bewegung der wahrnehmenden Person, erfolgt.« (Martin Grunwald, Lothar Beyer (Hg.): Der bewegte Sinn. Grundlagen und Anwendungen zur haptischen Wahrnehmung, Berlin 2001, 9) »Im Gegensatz dazu bezeichnet die »[h]aptische Wahrnehmung […] diejenigen Wahrnehmungsinhalte, die durch aktives Berühren und Ertasten von Objekt- und Raumeigenschaften ermöglicht werden.« (Ebd., 10).

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Literatur – Politik – Universität. Jura Soyfer als Beobachter des Wiener Hochschulbetriebes in den 1930er Jahren

Jura Soyfer (1912–1939) gehört zu den »großen Außenseiter[n] der österreichischen Literatur«1 und gleichzeitig zu den bedeutendsten politischen Autoren der 1930er Jahre. Sein Œuvre umfasst weit über hundert politische Gedichte, Reportagen und satirische Essays, die er bis zu deren Verbot 1934 in der Arbeiterzeitung sowie der illustrierten sozialdemokratischen Wochenzeitung Der Kuckuck und ab Herbst 1935 im Wiener Tag publizierte. Darüber hinaus verfasste er zumindest fünfzehn2 politische Theaterstücke und kabarettistische Szenen, die auf den Wiener Untergrundbühnen gespielt wurden, und als Hauptwerk seinen Roman So starb eine Partei, der – als Fragment erhalten – die Vorgeschichte des Februar 1934 und damit den Niedergang der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs erzählt. Soyfers Auffassung von Literatur verbindet nicht nur ästhetische und politische Ansprüche, sondern behauptet darüber hinaus eine untrennbare Einheit von Literatur und Politik. In einer seiner äußerst seltenen Reflexionen auf den Status von Literatur3 heißt es dazu: »Wir dienen nicht der Kunst, sondern der 1 Wendelin Schmidt-Dengler : »Jura Soyfer« (2007), http://oe1.orf.at/artikel/203651 (Zugriff 03. 08. 2016). 2 Die genaue Anzahl lässt sich aufgrund der schwierigen Überlieferungslage nicht mehr ermitteln. In Horst Jarkas Gesamtausgabe von Soyfers Werken finden sich fünf Einzelszenen, fünf abendfüllende Stücke und ebenso viele Gemeinschaftsarbeiten mit anderen Autoren. – Jura Soyfer : Werkausgabe. Bd. 2: Auf uns kommt’s an. Szenen und Stücke, hg. v. Horst Jarka. 2. Aufl., Wien, Frankfurt/Main 2003. 3 Im Gegensatz zu Bertolt Brecht und der linken Literaturszene in Deutschland waren für Soyfer Äußerungen, die seine literarische und politische Position explizit darlegen, eher nebensächlich. Sucht man nach literaturtheoretischen und –ästhetischen Stellungnahmen von Soyfer, so findet man diese, wenn überhaupt, vor allem verstreut und oftmals fragmentarisch in von ihm verfassten Rezensionen und Nachrufen. Den Grund für dieses »Theoriedefizit« sieht Peter Langmann in der »Spezifik der österreichischen literarischen Öffentlichkeit« in den 1930er Jahren begründet, d. h. zum einen im »Rückzug namhafter bürgerlicher Literaten aus der Politik« und zum anderen in der »Existenz einer alternativen proletarischen Gegenöffentlichkeit«, deren Kommunikationsstrukturen durch die klare Einbettung in die Partei normiert waren. – Vgl. Peter Langmann: Sozialismus und Literatur. Jura Soyfer. Studien zu

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Propaganda. Mag sein, daß unsere Gesinnung, unsere ethische Kraft uns manches Mal künstlerischem Schaffen nahe bringt.«4 Wenn Literatur also überhaupt einen Kunstanspruch stellen kann, dann nur im Rahmen politischer Auseinandersetzung. Mit seiner konsequenten Einbettung von Literatur in politische Zusammenhänge und gleichzeitig der konsequenten Umwandlung politischer Reflexionen in Literatur nimmt Soyfer innerhalb der zeitgenössischen literarischen Öffentlichkeit in Österreich eine Sonderstellung ein. Neben Karl Kraus, der in der Fackel vor allem in den 1910er Jahren die Zustände an den österreichischen Hochschulen kontinuierlich satirischen Darstellungen unterzog5, ist er darüber hinaus der einzige Schriftsteller, der sich mit der zunehmend angespannten Situation an der Wiener Universität in den 1930er Jahren literarisch auseinandersetzte. Innerhalb seines Œuvres nehmen diese wenigen Texte freilich einen Nischenplatz ein; da die Universität in der Literatur der 1930er Jahre aber sonst kaum thematisiert wird, kommt ihnen dennoch eine besondere Bedeutung zu. Zudem ermöglichen sie es, auf exemplarische Weise deutlich zu machen, inwiefern für Soyfer Literatur und Politik intrinsisch miteinander verschränkt waren. Geschrieben wurden diese Texte aus dem Blickwinkel des jungen Studenten Jura Soyfer, mit dem sich – bevor auf die einzelnen Universitätssatiren näher eingegangen wird – der erste Abschnitt der folgenden Ausführungen beschäftigt. Als Jura Soyfer im Wintersemester 1931/32 achtzehnjährig an der Universität Wien inskribierte, hatte er sich bereits sechs Mal gedruckt gesehen.6 Er war langjähriges aktives Mitglied des Verbandes Sozialistischer Mittelschüler, hatte für dessen Veranstaltungen Gedichte und Protestparolen geschrieben und bereits im Sommer 1929 ein ganzes Kabarettprogramm verfasst.7 Die Wiener Germanistin und spätere sozialdemokratische Nationalratsabgeordnete Stella

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einem österreichischen Schriftsteller der Zwischenkriegszeit, Frankfurt/Main 1986 (= Literatur in der Geschichte – Geschichte in der Literatur 12), 174–184, 174. Jura Soyfer : »Politisches Theater« (1932), in: ders.: Werkausgabe. Bd. 3: So starb eine Partei. Prosa, hg. v. Horst Jarka, Wien, Frankfurt/Main 2002, 295f., 296. Vgl. Christian Wagenknecht: »›Razzia auf Literarhistoriker‹. Karl Kraus und die Germanistik seiner Zeit« (1999), http://wwwuser.gwdg.de/~cwagenk/razzia.htm (Zugriff 03. 08. 2016). Bis Oktober 1931 waren erschienen: das Gedicht »An alte Professoren« (Der Schulkampf, April/Mai 1930), die journalistische Prosa »Menschen der Landstraße« (Arbeiterzeitung 7. 11. 1930), »Verzweiflung der Jugend« (Arbeiterzeitung 24. 5.1931) sowie »Und nach der Olympiade?« (Das Kleine Blatt 26. 7. 1931), die Kurzgeschichte »Ausblick in die Zukunft« (Der Schulkampf, Juni/Juli 1930) und die Filmkritik »Ein Film, der uns angehen sollte: Der blaue Engel« (Der Schulkampf, Juni/Juli 1930). Dabei handelt es sich um die politische Revue »Die Zeitmaschine«, die in der Ferienkolonie der Sozialistischen Mittelschüler in St. Michael aufgeführt wurde. – Vgl. Joseph T. Simon: Augenzeuge. Erinnerungen eines österreichischen Sozialisten. Eine sehr persönliche Zeitgeschichte. Mit Vorworten von Charles Gulick und Wolfgang Neugebauer, hg. v. Maria Dorothea Simon. 2. Aufl., Wien, Münster 2008 (= Zeitdokumente 1), 60.

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Klein-Löw erinnerte sich 1979, dass Soyfer unter den sozialistischen Mittelschülern »ein Symbol der Jugend und Begeisterung« gewesen sei und dass sie, als sie von Soyfers Plänen, Deutsch und Geschichte zu studieren, hörte, befürchtete, dass ihn das Studium »enttäuschen« und seine schriftstellerische Laufbahn eher »verunsichern« als befördern würde.8 Von der oft beschworenen Enttäuschung von Schriftstellern über die Germanistik – darunter Joseph Roth, der über sein Studium an der Universität Wien meinte, dass er die »Dichtung erwartet und die Germanistik vorgefunden«9 habe – von dieser Enttäuschung kann bei Soyfer keine Rede sein. Aber nicht, weil er als Schriftsteller in seinem Studium Bestätigung oder besondere Anreize für seine Texte gefunden hätte; vielmehr hatte sich die soziale und politische Lage an der Wiener Universität Anfang der 1930er Jahre derart verschärft, dass die Probleme eines jungen schriftstellerisch tätigen Studenten der Germanistik nicht vordergründig in den Reibungen von wissenschaftlichem und literarischem Feld zu finden waren. Die wesentlichen Reibungspunkte ergaben sich aus einem anderen Spannungsverhältnis, nämlich dem des Aufeinandertreffens eines als Jude und Sozialist zu einer geschmähten Minderheit gehörenden Studenten und einer zunehmend reaktionär, antisemitisch und nationalsozialistisch ausgerichteten Wiener Universität.10 Einen ersten Einblick in diese Problematik gibt Ernst Epler, der spätere Redakteur der Volksstimme, der sich Anfang der 1930er Jahre gemeinsam mit Jura Soyfer an der Universität Wien einschrieb. An den Inskriptionsvorgang erinnerte sich Epler 1972 folgendermaßen: Wir standen nebeneinander in dem von Studenten überquellenden Vorzimmer des philosophischen Dekanats und füllten unsere Inskriptionsformulare aus. Ich sah ihm über die Schulter, er lächelte […] und hielt mir sein Nationale hin: Name: Jura Soyfer Geb. am 8. Dezember 1912 Geburtsort: Charkow Muttersprache: französisch Staatsbürgerschaft: österreichisch Religion: mosaisch Volkszugehörigkeit: deutsch

8 Stella Klein-Löw: »Jura Soyfer«, in: dies.: Menschen um mich. Mit einem Vorwort von Bundeskanzler Dr. Bruno Kreisky, Wien, München 1982, 33–44, 33f. 9 Joseph Roth, zit. n. David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie, München 1981, 130. 10 Der Historiker Friedrich Heer, Absolvent des Akademischen Gymnasiums in Wien, bemerkte, dass er, als er 1934 Geschichte und Germanistik zu studieren begann, die Wiener Universität als »unheimliche Stätte« erlebte, in der »Armut und Haß« und »geistige Enge« herrschten; dabei fielen, laut Heer, sowohl die »braunen Kommilitonen« als auch »ihre bürgerlichen Gegner« durch »ein hohes Maß von Provinzialität« auf. – Zit. n. Evelyn Adunka: Friedrich Heer (1916–1983). Eine intellektuelle Biographie, Innsbruck, Wien 1995, 24 u. 28.

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Ja, wir schrieben damals »deutsch«, denn auf den Bänken der Hörsäle und drin im Dekanat und in den Professorenzimmern saßen längst die Nazi, und wir beantworteten die Nazi-Rubrik »Volkszugehörigkeit« justament mit »deutsch«, denn so deutsch wie Srbik waren wir noch lange.11

Dass sich Epler und Soyfer als Österreicher zum deutschen Volk rechneten, entsprach durchaus der politischen Linie der Sozialdemokratie in der Ersten Republik. Die Rubrik »Volkszugehörigkeit« war 1931 freilich eine relativ neue Erfindung. Erst 1928 wurde sie im Nationale, wie das Einschreibformular der Universität Wien genannt wurde12, zu den beiden ›alten‹ Kategorien »Muttersprache« und »Staatsbürgerschaft« hinzugefügt.13 Sie entsprach einer politischen Tendenz, der zufolge der Begriff »Volk« zunehmend mythisiert wurde und war die unmittelbare Folge einer Auseinandersetzung zwischen Staatsamt und Universität, in der »Volkszugehörigkeit« zunächst als aus »Sprache, Bildung und Bekenntnis«14 bestehende Zuordnung definiert wurde. Die Kriterien, die die akademischen Behörden heranzogen, beruhten hingegen zunehmend auf völkisch-nationalen Vorstellungen von »›Abstammung‹ und letzten Endes [von] ›Rasse‹«.15 In diesem Sinne wurde – gemeinsam mit dem Vorhaben, einen Numerus Clausus für ›Nicht-deutsch-Volkszugehörige‹ einzuführen – auch diskutiert, den jüdischen Studierenden das »›Recht auf Bekenntnis‹ zur jüdischen Nationalität«16 einzuräumen. Dass es in den 1930er Jahren Spielraum bei der Beantwortung der Kategorie 11 Fritz Fabian [d. i. Ernst Epler]: »Ein armer Vorklang nur zum großen Lied. Am 8. Dezember wäre Jura Soyfer 60 Jahre alt geworden«, in: Volksstimme (10. 12. 1972, Beilage). 12 Der Begriff »Nationale« stammt aus der alten österreichischen Amtssprache; »das Nationale einer Person aufnehmen« bedeutete, den Namen, das Geburtsdatum, den Wohnort u. Ä. zu bestimmen, also jene Daten, mit denen eine Person eindeutig identifiziert werden konnte. An den österreichischen Universitäten wurde diese Form der Studierendenevidenz mit der Allgemeinen Studienordnung von 1850 anhand eines Ministerialerlasses vom 1. Oktober eingeführt. Dort heißt es unter § 7: »Jeder zur Immatriculation nach § 5 verpflichtete Studierende hat sich zu diesem Behufe […] persönlich an den Decan des betreffenden Professorencollegiums zu wenden und ihm die Belege seiner Universitätsreife und sein vollständiges Nationale in duplo vorzulegen«. – Erlaß des Ministeriums für Kultus und Unterricht Z. 8214/265, Reichsgesetzblatt Nr. 370; vgl. auch Johannes Seidl: »Von der Immatrikulation zur Promotion«, in: Walter Schuster, Maximilian Schimböck, Anneliese Schweiger (Hg.): Stadtarchiv und Stadtgeschichte. Festschrift für Fritz Mayrhofer, Linz 2004, 289–302. 13 Vgl. Waltraud Heindl, Marina Tichy : »Einleitung. Fragen, Methoden und Quellen«, in: dies. (Hg.): »Durch Erkenntnis zu Freiheit und Glück …«. Frauen an der Universität Wien (ab 1897), Wien 1990, 9–15, 12. – Vgl. auch die erneute Diskussionen über diese Rubrik 1933 im Senat der Universität Wien: Universitätsarchiv Wien [im Folgenden: UAW]: RA GZ 266 ex 1933/34 und SSP 02 ex 1933/34 v. 21. 11. 1933, 12. 14 Brigitte Lichtenberger-Fenz: »… deutscher Abstammung und Muttersprache«. Österreichische Hochschulpolitik in der Ersten Republik, Wien, Salzburg 1990, 30. 15 Ebd. 16 Ebd., 31.

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»Volkszugehörigkeit« gab und diese nicht selten mit Spott bedacht wurde, zeigt nicht nur das Zitat Eplers, sondern auch der Umgang Soyfers mit dieser Rubrik: Gab er in seinem ersten Semester im Winter 1931 noch »russisch« an, so änderte er seinen Eintrag ab dem zweiten Semester auf »deutsch« und im Wintersemester 1936, seinem letzten an der Universität Wien, gab er die im Nationale nur sehr selten vorkommende Antwort »österreichisch«17 – als Reaktion auf das drei Monate zuvor geschlossene Juliabkommen zwischen Schuschnigg und Hitler.18 Eplers Kommentar »so deutsch wie Srbik waren wir noch lange« spielt auf einen Professor der Wiener Geschichte an: Unter den Wiener Historikern, die in den 1930er Jahren zur »vollen Unterstützung der nationalsozialistischen (Mittel-)Europapolitik«19 antraten, war Ritter Heinrich von Srbik der prominenteste. Bei Srbik, dem – wie Franz Marek, politischer Freund und Studienkollege Soyfers, meinte – »blendenden Reaktionär«20, besuchte Soyfer die Lehrveranstaltungen Geschichte Europas und Deutsche Wirtschaftsgeschichte.21 Srbik war keine Ausnahme unter den Historikern der Wiener Universität: Die Einführung in das Studium der Geschichte hörte Soyfer bei Reinhard Lorenz, einem späteren Parteigänger der Nationalsozialisten; die Geschichte des Weltkrieges lehrte Edmund Glaise-Horstenau, der nach dem Juliabkommen 1936 zum deutschnationalen Minister in der Regierung ernannt wurde, und die Übungen in mittelalterlicher Geschichte belegte Soyfer bei Hans Hirsch, der – persönlich anti-

17 Nationale der Philosophischen Fakultät der Universität Wien 1931–1937 [Datenblätter von Jura Soyfer], UAW, Phil. Fak. – Die Antworten unter der Rubrik »Volkszugehörigkeit« waren nicht festgeschrieben; am häufigsten kommt »deutsch« vor, »deutsch-arisch« findet sich ebenfalls, selten auch »jüdisch« (vor allem bei Zionisten). 18 Vgl. dazu Horst Jarka: Jura Soyfer. Leben Werk, Zeit, Wien 1987, 303f.: »Erst das Juliabkommen zwang sie [d.i. Kommunisten und Sozialisten], sich mit dem Begriff der österreichischen Eigenständigkeit theoretisch auseinanderzusetzen. Die Revolutionären Sozialisten hielten auch jetzt am deutschen Volkstum der Österreicher fest, während die Kommunisten begannen, den Begriff einer österreichischen Nation zu diskutieren. Allerdings erschien der erste wichtige Diskussionsbeitrag, Alfred Klahrs (Rudolfs) Artikel Zur nationalen Frage in Österreich in Weg und Ziel erst in der März/April-Nummer des Jahres 1937. Wenn Soyfers Eintragung vom Oktober 1936 nicht bloß Geste des Protests gegen den deutschen Kurs zu werten ist, so deutet sie darauf hin, daß er mit der Diskussion schon früh vertraut war.« 19 Gernot Heiss: »Die ›Wiener Schule der Geschichtswissenschaft‹ im Nationalsozialismus: ›Harmonie kämpfender und Rankescher erkennender Wissenschaft‹?«, in: Mitchell G. Ash, Wolfram Nieß, Ramon Pils (Hg.): Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien, Göttingen: 2010 (= Veröffentlichung der Vienna University Press), 397–426, 397. 20 Franz Marek: »Aus den ›Aufzeichnungen eines alten Kommunisten‹ (2). Von der Universität zur KPÖ«, in: Wiener Tagebuch, Jg. 11 (1979), 22–25, 22. 21 Die Lehrveranstaltungen, die Soyfer während seines Studiums belegte, sind ebenfalls im Nationale verzeichnet; UAW, Phil. Fak.

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semitisch eingestellt – ebenfalls eine völkisch orientierte, gesamtdeutsche Geschichtsauffassung vertrat.22 An der Wiener Germanistik zeigte sich ein ähnliches Bild. Josef Nadler, der als Vortragender Studierende aller politischen Richtungen beeindruckte23, wurde 1931 nach Wien berufen und war der Verfasser der groß angelegten Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. Die vierte Auflage veröffentlichte Nadler, ab 1938 Mitglied der NSDAP, unter dem Titel Literaturgeschichte des deutschen Volkes (1938–41), wobei vor allem deren vierter und letzter Band den ideologischen Vorstellungen des Regimes explizit Rechnung trägt.24 Bei Nadler belegte Soyfer drei Seminare für das Lehramt sowie die Vorlesungen Literatur der Gegenwart, Goethes Faust und Vom Barock zum Klassizismus. Am Seminar für Deutsche Philologie hörte Soyfer außerdem zwei Vorlesungen bei Franz Koch, einem der unverhohlensten Nationalsozialisten unter den Wiener Germanisten, der 1935 an den ersten Lehrstuhl im ›Deutschen Reich‹, nach Berlin berufen wurde.25 Nur zwei Lehrende Soyfers an der Wiener 22 Zu Hirsch vgl. Andreas Zajic: »Hans Hirsch« und Michael Fahlbusch: »Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft«, in: Ingo Haar, Michael Fahlbusch (Hg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen, München 2008, 244–246 u. 688–697. – Zur Tätigkeit der genannten Historiker in den 1930er Jahren und während der Zeit des Nationalsozialismus vgl. insg. Günter Fellner : »Die österreichische Geschichtswissenschaft vom »Anschluß« zum Wiederaufbau«, in: Friedrich Stadler (Hg.): Kontinuität und Bruch 1938–1945–1955. Beiträge zur österreichischen Kulturund Wissenschaftsgeschichte, Wien, München 1988, 135–155 und G. Heiss: Wiener Schule. 23 So bezeichnet z. B. der sozialdemokratische Lehrer, Landesschulinspektor und Verfasser bildungspolitischer Schriften Ernst Nowotny, der in den 1930er Jahren in Wien studierte, Josef Nadler noch 2006 als seinen »bedeutendste[n] und wichtigste[n] Lehrer«. Ernst Nowotny : Ein alter »Schulmeister« erinnert sich, hg. v. Oskar Achs. Graz 2006, 54–57, 54. – Ernst Glaser wiederum bekräftigt die Bedeutung von Nadlers Forschungen für die Entstehung einer materialistisch geprägten Literatursoziologie im Austromarxismus (eine Rezeptionslinie, die sicherlich nicht im Sinne Nadlers war). Ernst Glaser : Im Umfeld des Austromarxismus. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des österreichischen Sozialismus, Wien 1981, 421f. – Für diese Hinweise danke ich Sebastian Meissl (Wien). – Würdigungen ehemaliger, teilweise durchaus rechtsorientierter Studierender finden sich auch in der im Selbstverlag erschienenen Broschüre: Gedenkschrift für Josef Nadler aus Anlass seines 100. Geburtstages, Siegen 1984. 24 Zu Nadler vgl. Sebastian Meissl: »Zur Wiener Neugermanistik der dreißiger Jahre: Stamm, Volk, Rasse, Reich. Über Joseph Nadlers literaturwissenschaftliche Position«, in: Klaus Amann, Albert Berger (Hg.): Österreichische Literatur der dreißiger Jahre. Ideologische Verhältnisse, institutionelle Voraussetzungen, Fallstudien, Wien, Graz 1985, 130–146; ders., Friedrich Nemec: »Josef Nadler«, in: Neue deutsche Biographie 18 (1997), 690–692 und Irene Ranzmaier : Stamm und Landschaft. Josef Nadlers Konzeption der deutschen Literaturgeschichte, Berlin, New York 2008 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 48). 25 Zu Koch vgl. Wolfgang Höppner : »Der Berliner Germanist Franz Koch als ›Literaturvermittler‹, Hochschullehrer und Erzieher«, in: Gesine Bey (Hg.): Berliner Universität und deutsche Literaturgeschichte, Frankfurt/Main 1998, 105–128 und ders.: »Ein ›verantwortungsbewußter Mittler‹. Der Germanist Franz Koch und die Literatur in Österreich«, in: Uwe

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Germanistik lassen sich nicht in diese Reihe der Vertreter einer »Deutschen Wissenschaft« einordnen: Robert Franz Arnold, der als Jude zunehmend antisemitischen Schmähungen und Drohungen ausgesetzt war, und Eduard Castle, der 1938 zwangspensioniert wurde.26 Auch wenn Soyfers politische Freunde sich erinnern, dass »die Uni[versität] bei uns kein Gesprächsthema«27 gewesen sei, und die Hochschulen in den 1930er Jahren nicht das vordergründige Interessensfeld der politischen Linken darstellten, hat Soyfer die Zustände an der Wiener Universität doch, wenn auch in wenigen Texten, literarisch verarbeitet.28 Von seinen weit über hundert politischen Publikationen aus seiner Studienzeit beschäftigen sich drei explizit mit den Zuständen an der Wiener Universität. Soyfer selbst war Mitglied der Akademischen Legion29, die 1923 zum 75-jährigen Jubiläum der Revolutionstage von 1848 gegründet worden war. Sie bildete einen Teil des Verbandes sozialistischer Studenten und war gleichzeitig als eine Abteilung des Republikanischen Schutzbundes ausgebildet worden. Demgemäß sah die Akademische Legion ihre Aufgabe darin – so Wolfgang Speiser –, »den Abwehrkampf für die Demokratie zu führen und faschistischer Gewalt notfalls mit Gewalt zu begegnen«.30 An den Hochschulen hieß das vor allem, sich gegen Ausschreitungen der Hakenkreuz-

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Baur, Karin Gradwohl-Schlacher, Sabine Fuchs (Hg.): Macht Literatur Krieg. Österreichische Literatur im Nationalsozialismus, Wien, Köln 1998, 163–181. Zur Situation an der Wiener Germanistik in den 1930er Jahren vgl. Sebastian Meissl: »Germanistik in Österreich«, in: Franz Kadrnoska (Hg.): Aufbruch und Untergang. Österreichische Kultur zwischen 1918 und 1938. Wien, München, Zürich 1981, 475–496 und Werner Michler, Wendelin Schmidt Dengler: »Neuere deutsche und österreichische Literaturwissenschaft«, in: Karl Acham (Hg.): Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Bd. 5: Sprache, Literatur und Kunst, Wien 2003, 193–228. So Marika Szecsi, zit. n. Jarka: Jura Soyfer, 524. Daneben ist auch ein einzelner Privatbrief Soyfers über sein Universitätsstudium erhalten. Darin kommentiert er nicht nur eine persönlich-politische Animosität unter zwei Lehrenden der Germanistik, sondern erklärt seiner Freundin vom Verband Sozialistischer Mittelschüler und Studienkollegin Marika Szecsi auch, wie 1934 eine Seminararbeit bei Nadler auszusehen hat. Nach einer detaillierten Erläuterung, wie Szecsi ihre Arbeit über Ferdinand Raimund aufbauen soll, inklusive der Thematisierung von synthetischer und analytischer Literaturbetrachtung, gibt er ihr noch folgenden, pragmatisch gehaltenen Rat: »Füge zu diesem einige Gedanken hinzu, reihe sie vielleicht historisch (vom Affen bis zu Raimund und zurück). Hüte Dich vor Schmus. Nadler durchschaut ihn. Es kommt bei der Arbeit darauf an, nicht eigene Neuentdeckungen zu machen, sondern sauber zusammenzustellen. Die wichtigsten Anhaltspunkte […] findest Du in der Literatur: R.F. Arnold »Deutsche Bücherkunde«, Robert Franz Arnold »Das deutsche Drama«, Zeidel, Castle, Nagel (oder so ähnlich) »Österreichische Literaturgeschichte«. Ein paar Raimundbiographien. Dort wirst Du überall ein Schippel anderer Bücher angegeben finden. Zitiere nicht den Arnold. Nadler haßt ihn.« – Jura Soyfer : Werkausgabe. Bd. 4: Sturmzeit. Briefe 1931–1939, hg. v. Horst Jarka, Wien 2002, 76–79 (Brief vom 22. 9. 1934), 77f. Jarka: Jura Soyfer, 242. Wolfgang Speiser: Die sozialistischen Studenten Wiens 1927–1938. Mit einem Vorwort von Bundesminister Dr. Heinz Fischer, Wien 1986 (= Materialien zur Arbeiterbewegung 49), 77.

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und Heimwehrstudenten zu wehren und bei Veranstaltungen den immer wichtiger gewordenen Saalschutz zu stellen. Bis zu ihrem Verbot im Ständestaat zählte die Akademische Legion durchschnittlich 200 Mitglieder.31 Gleich zu Beginn von Soyfers Studienzeit kam es an der Universität zu einem Höhepunkt nationalsozialistischer Studentenkrawalle. 1930, ein Jahr vor Soyfers Immatrikulation, erließ der damalige Rektor der Universität Wien Wenzel Gleispach, ein entschiedener Sympathisant der Heimwehrstudenten und der »Deutschen Studentenschaft«, eine neue Studentenordnung. Darin wurden auf Grundlage der bereits erwähnten »Volkszugehörigkeit« die Studierenden nach ihrer, wie es wörtlich heißt, »Abstammung« in die »Deutsche Studentennation« und die »Gemischte Studentennation« unterteilt.32 Bei dieser Studentenordnung von 1930 handelte es sich tatsächlich bereits um die Herstellung von »Zwangsgemeinschaften«33 nach völkisch-rassischen Gesichtspunkten, d. h. um die Einteilung der Studierenden in ›arische‹ und ›nicht-arische‹. Klagen brachten die Gleispach’sche Studentenordnung jedoch bis vor den Verfassungsgerichtshof, wo sie über ein Jahr nach Inkrafttreten, am 23. Juni 1931 für ungesetzlich erklärt und aufgehoben wurde. Demonstrationen und Ausschreitungen waren die Folge, in denen Hakenkreuzstudenten – ausgerüstet mit Gummiknüppeln und Totschlägern und unter »Deutschland erwache-Rufen« – jüdische und sozialistische Studenten verprügelten. Die Aula und die Rampe der Wiener Universität wurden dabei zum Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen.34 Als Soyfer im Wintersemester 1931, also drei Monate nach Aufhebung der Gleispach’schen Studentenordnung, zu studieren begann, hatte sich die Lage keineswegs beruhigt. Vielmehr standen Übergriffe auf jüdische Studierende und Prügelszenen ab Soyfers erstem Semester auf der Tagesordnung der Wiener Universität. Den Ausgang einer dieser Krawalle hat Soyfer literarisch verarbeitet. Am 30. Oktober 1932 erschien in der Arbeiterzeitung sein Gedicht Lied der Justiz. Darin heißt es: Die Hochschulnazi mißbrauchten mich Drei Tag’ lang von neune bis achte, Für fesche Studenten schwärme ich, Drum schloß ich die Augen und lachte. 31 Zur Akademischen Legion vgl. ebd., 77–85 und Helge Zoitl: »Student kommt von Studieren!«. Zur Geschichte der sozialdemokratischen Studentenbewegung in Wien. Wien, Zürich 1992 (= Materialien zur Arbeiterbewegung 62), 341–369, bes. 364f. 32 Die Studentenordnung ist abgedruckt in: Reichspost (10. 4. 1930); vgl. auch LichtenbergerFenz: Österreichische Hochschulpolitik, 84–92. 33 So der Verfassungsrechtler Josef Hupka in der Neuen Freien Presse (23. 4. 1930). 34 Zum Rektoratsjahr Wenzel Gleispachs und den Auseinandersetzungen um dessen Studentenrecht vgl. Speiser : Die sozialistischen Studenten, 43–76; Lichtenberger-Fenz: Österreichische Hochschulpolitik, 84–136.

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Schön war’s, solang sie die Sozibrut Geprügelt und geschunden, Dann aber schlug über der nordische Mut Auf reiche Dollarkunden. Gleich bat um Verzeihung der Rektor da Im Namen der – academia.35

Neben der Anklage von zweierlei Justiz, die ein Hauptthema Soyfers war, verbindet er in diesem Gedicht seine Kapitalismuskritik mit einem konkreten Anlassfall an der Wiener Universität: Im Zuge von Ausschreitungen nationalsozialistischer Studenten gegen sozialistische und jüdische Kommilitonen und Lehrende wurden neben vielen anderen im Oktober 1932 auch vier amerikanische Studenten verletzt.36 Daraufhin intervenierte der amerikanische Gesandte in Österreich und forderte eine Entschuldigung vom Rektor der Wiener Universität Othenio Abel. Abel hatte sich bislang, trotz zahlreicher Vorsprachen jüdischer und sozialistischer Studierender, nie von den Krawallen distanziert. Erst die Intervention des amerikanischen Gesandten brachte ihn dazu, eine Kundmachung zu veröffentlichen. Eine Kundmachung freilich, die bemerkenswert trocken gehalten ist, gänzlich ohne die Wörter »Übergriffe«, »Krawalle« »Gewalt« und »Ausschreitungen« auskommt und in der Abel kein Wort darüber verlor, dass es sich bei den Verantwortlichen um nationalsozialistische Studierende handelte. In Abels Kundmachung heißt es: Ein genauerer Überblick über die Ereignisse der letzten Tage, bei denen sogar das Gastrecht Ausländern gegenüber verletzt wurde, veranlaßt mich nunmehr, dem schuldtragenden Teile der Studentenschaft meine Mißbilligung […] und dem Vertreter des auswärtigen Staates mein Bedauern auszusprechen.37

Nur einen Tag nach der Kundmachung hielt Abel eine Rede vor der »Deutschen Studentenschaft«, in der er klarstellte, was in seinen Augen das eigentliche Problem war : Die Ausschreitungen waren es nicht, vielmehr störte ihn, dass er »als Rektor der Universität nun einen Gang nach Kanossa antreten muß« und dass es ihn »Mühe gekostet habe, die Privilegien der Universität unangetastet 35 Jura Soyfer: Werkausgabe. Hg. v. Horst Jarka. Bd. 1: Zwischenrufe links. Lyrik, Wien, Frankfurt/Main 2002, 69. 36 Zum Folgenden vgl. Anonym: »Die Hakenkreuzler haben die Hochschulen zu Verbrecherasylen gemacht«, in: Arbeiterzeitung (27. 10. 1932); Anonym: »Die Schließung der Universität«, in: Die Presse (27. 10. 1932); Anonym: »Neuerliche Schließung der Universität«, in: Die Presse (27. 10. 1932); Anonym: »Wenn das Ausland befiehlt«, in: Arbeiterzeitung (28. 10. 1932); Anonym: »Die Schließung der Wiener Universität«, in: Die Presse (28. 10. 1932); Anonym: »Der »Amerikanismus« an der Wiener Universität«, in: Deutschösterreichische Tageszeitung (29. 10. 1932). – Für die Einsichtserlaubnis in ihre Zeitungsartikelsammlung zur Universität Wien danke ich Linda Erker und Herbert Posch (Wien). 37 Zit. n. Anonym: »Die Hakenkreuzler haben die Hochschulen zu Verbrecherasylen gemacht«, in: Arbeiterzeitung (27. 10. 1932).

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[zu] erhalten«.38 Mit »Privilegien der Universität« meinte Abel den auch unter der Bezeichnung »akademische Freiheit« bekannten Sachverhalt, dass universitärer Boden einen Bereich eigenen Rechts darstellte und demnach die Polizei das Universitätsgebäude auch bei Übergriffen und Ausschreitungen nicht betreten durfte. Die sozialistischen Studenten bemühten sich 1932 vergeblich darum, dass diese »Freiheit« aufgehoben werde.39 Insofern ist Soyfers Lied der Justiz nicht nur ein Gedicht über zweierlei staatliche Justiz, sondern auch eine Auseinandersetzung mit der Problematik zwischen staatlichem und akademischem Recht. Eine Bild-Wort-Satire hat Soyfer, ein halbes Jahr nach dem Lied der Justiz, am 26. März 1933 in der illustrierten Wochenzeitschrift Der Kuckuck veröffentlicht. Neben einem Foto von Bier trinkenden Couleurstudenten findet sich Soyfers Neues Deutsches Burschenlied. Dabei handelt es sich um eine Neuvertextung des berühmtesten lateinischen bzw. deutschen Studentenliedes Gaudeamus igitur – Lasst uns also fröhlich sein, das seit 1848 als akademische Hymne zum festen Bestandteil offizieller universitärer Feiern gehörte. Soyfer übernimmt den Refrain »Gaudeamus igitur« und versieht die einzelnen Strophen mit Sprechweisen der nationalsozialistischen Studentenschaft, mit den Ritualen der Burschenschafter, ihren Trinkgelagen und dem Fechtkampf; all dies erscheint jedoch beschädigt und angekratzt oder – wie in der ersten Strophe das Identifikationsmerkmal der Couleurstudenten, die Uniform – angekotzt: Neues deutsches Burschenlied Gaudeamus igitur! Stoßen wir an! Stoßen wir an! Wer nie stand auf der Mensur, Im Rausch nie bekotzt die Montur, Der ist kein rechter Mann. Gaudeamus igitur! Lang ist’s her, lang ist’s her, Da schworen wir den Freiheitsschwur, Waren trotz Polizei und Zensur Revolutionär. […] Gaudeamus igitur! Längst vorbei, längst vorbei – Die Bourgeoisie, die alte Hur’ Schwärmt jetzt nur von Diktatur Und von Hitlerei – 38 Ebd. 39 Ebd.

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[…] Gaudeamus igitur! »Und Kollega, was wirst denn du?« »Richter. Wird frech der Prolet an der Ruhr, Seif ’ ich ein die Galgenschnur –« »Stoß an, Kollega, stoß zu!« O alte Burschenherrlichkeit! Stoßen wir zu, gehen wir’s an! Wer da will, daß zur rechten Zeit Hitler ihm halte das Pöstchen bereit, Der sei ein rechter Mann! Prost!40

In diesem Gedicht behandelt Soyfer anlässlich des 85. Jahrestags der Märzrevolution von 1848 die 1933 vollständig vollzogene Umdeutung des studentischen Selbstverständnisses und die von der nationalsozialistischen Studentenschaft beanspruchte Definitionshoheit über die Werte des studentischen Verbindungsdaseins. Aus symbolischen Versatzstücken von 1848, aus den revolutionären und demokratischen Ideen der Revolutionstage ist dabei eine zynische und brutale, symbolisch sinnentleerte und barbarische Postenschachermentalität geworden. Deutlich wird dies auch an dem letzten Text Soyfers, der die Universität Wien zum Thema hat. Es handelt sich um seine Bild-Wort-Satire Alma Mater Rudolphina. Studentenleben 1936, die Soyfer – unter den Bedingungen von Zensur und faschistischem Ständestaat – am 18. Oktober 1936 in der Wochenendbeilage der einzig verbliebenen einigermaßen liberalen österreichischen Tageszeitung Der Wiener Tag veröffentlichte. In einem fiktiven Brief eines ehrgeizigen Erstsemesters aus der Provinz an seine Mutter demaskiert Soyfer die Bewusstseinslage des typischen österreichischen Studenten im Jahre 1936. Die Frage, die dabei im Vordergrund steht, ist folgende: Wie wird der Kleinbürger aus der Provinz reaktionäres Mitglied der nationalsozialistischen Studentenschaft? Als langjähriger Karl-Kraus-Leser lässt Soyfer in diesem Text einen politisch unbedarften, in seiner Naivität nicht zu irritierenden Studenten, der nicht besonders gebildet ist, aber hoch hinaus will und sogleich zu einer der elitär ausgerichteten schlagenden Verbindungen stößt, alles das aussprechen, was als direkte Kritik 1936 öffentlich nicht aussprechbar war :

40 Soyfer, Werkausgabe, Bd. 1, 156f.

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Alma Mater Rudolphina Studentenleben 1936 Liebe Mutter! Ich habe also inskribiert. Der Vorgang war sehr kompliziert und ehrfurchtgebietend; nichts als lateinische Namen auf dem ganzen Amtsweg: Quästur, Dekanat, Immatrikulation, Juxte usw. […] Ja, richtig, bei einer Verbindung bin ich auch schon. Der Kollege, der mich gekeilt hat, hat mir versichert, daß unter den alten Herren des Corps sich viele gutsituierte und einflußreiche Persönlichkeiten befinden, die mir später einmal kameradschaftlich weiterhelfen können. Jeden Mittwoch und Samstag werde ich beim Farbenbummel mittun. Du kriegst ein Photo. Außerdem werde ich mich an ein streng geregeltes System von Frühkneipen, Abendkneipen, obligaten Ausflügen mit Corpsdamen usw. gewöhnen müssen. Gar nicht zu reden vom dicken Ehrenkodex, den ich werde auswendig lernen müssen, um nicht ewig ein krasser Fuchs zu bleiben. […] Ich habe auch schon die ersten Vorlesungen besucht. Es war natürlich sehr interessant, und ich habe fleißig mitgeschrieben. Und doch war es irgendwie anders als ich’s erwartet habe. […] Allerdings habe ich jetzt, nach einer Woche, meine falschen Vorstellungen schon korrigiert. […] Kollegen aus höheren Semestern […] habe [ich] zum Beispiel eine Stunde lang bei einem Kollegium fließend über Goethes Humanitätsgedanken Auskunft geben gehört, worauf sie dann auf dem Heimweg ganz entgegengesetzte Themen anschlugen. […] Warum wir jungen Akademiker so schlecht dran sind und so miserable Aussichten haben – darüber habe ich in der Verbindung schon sehr viel gehört. Wie ich ja überhaupt in Gesprächen mit den Kollegen […] meine Weltanschauung immer mehr vertiefe und ausbaue. Als Historiker hoffe ich die politischen Ansichten, die ich schon in der Mittelschule gewonnen habe, durch eine wohlfundierte biologische Geschichtsauffassung solid untermauern zu können. […] Ich habe auch den Hans Edlinger getroffen. […] [V]ormittags agentiert er mit Staubsaugern, nachmittags gibt er Nachhilfestunden um S 1,50. Er und seinesgleichen sind massenweise in den Hörsälen und Laboratorien zu finden. Mit ihren schäbigen Knickerbockern und durchwetzten Hemden schauen sie sehr unakademisch aus. […] Nur wenn Farbenbummel ist, erstrahlt die Aula, der Hof von unzähligen bunten Kappen, die ununterbrochen zum Gruß gelüftet werden. Auch wenn ein Doktorand von seiner Verbindung in voller Wichs, mit Stulpenstiefeln, Pluderhosen, weißem Wams, Federhut und Rapier aus dem Promotionssaal abgeholt wird, hat man wieder voll und ganz das Gefühl: Alma mater Rudolphina!41

Die Wahl des fiktiven Briefes als Gattung, dessen unbedingt subjektive Sichtweise macht die Stärke dieses Textes aus. Eines Textes, der vollständig ohne Kommentar auskommt und der anhand der Rede einer einzigen Person, die von nichts weiter entfernt ist als von einem politisch-kritischen Bewusstsein, all jene Missstände aufgreift, die Soyfer für den Aufstieg des Nationalsozialismus an den Hochschulen verantwortlich machte: übertriebene Anpassung, unreflektierter 41 [Jura Soyfer]: »Alma Mater Rudolphina«, in: Der Wiener Tag (18. Oktober 1936, Beilage).

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Ehrgeiz, falsch verstandener Dünkel, die soziale Notlage der Studierenden, Entleerung des akademischen Selbstbewusstseins zu einer Frage der richtigen Garderobe, das Auseinanderklaffen von Humanitätsidealen der Aufklärung als Lehrveranstaltungsinhalten und tatsächlichen Verhaltensweisen der Studierenden, die Verlogenheit des gelehrten Studenten, der Farbenbummel an der Universität als einzig verbliebenes Sinnbild der echten »Alma Mater Rudolphina«. Soyfers Brief eines Erstsemesters war einer der letzten Texte, die er als Student der Wiener Universität veröffentlichte. Nach dem Wintersemester 1936/37 hat er sich nicht mehr inskribiert. Die politische Anspannung an den Hochschulen mag eine der Ursachen dafür gewesen sein, gleichzeitig trat das Universitätsstudium auch aus anderen Gründen in den Hintergrund: Nach dem Februar 1934 und dem Niedergang der Sozialdemokratie wandte sich Soyfer, der innerparteilich ohnehin immer dem linken Flügel angehört hatte, zunehmend den illegalen Kommunisten zu.42 Er beschaffte seinem Bekanntenkreis Deckadressen, illegale Quartiere und Wohnungen für Sitzungen, nahm an Schulungen teil und ließ ausländischen Journalisten illegales Nachrichtenmaterial zukommen. Außerdem schrieb er an seinem großen Roman So starb eine Partei.43 Das Studium war unwichtig geworden und Berufspläne welcher Art auch immer entbehrten in diesen Jahren jeglicher Realität. Soyfers Freund und Studienkollege Franz Marek, mittlerweile Leiter des illegalen kommunistischen Pressedienstes, erinnerte sich: Eines stand für mich fest: Das Studium, ohnehin ohne konkrete Aussichten – hatte für mich jeden Sinn verloren. Ich hatte sechs Semester hinter mir, hätte mich aufs Lehramt vorbereiten, eine Dissertation schreiben müssen […], ohne auch nur im Entferntesten damit rechnen zu können, eine Anstellung zu erhalten.44

Soyfer hätte 1937 ohnehin nicht weiter studieren können. Am 17. November wurde er von der Wiener Polizei verhaftet – aufgrund einer Verwechslung: Man hielt ihn für Franz Marek, den Leiter des Pressedienstes der Roten Fahne, und beschlagnahmte sämtliche seiner Manuskripte und Unterlagen.45 Entlassen wurde Soyfer erst wieder vier Monate später, am 17. März 1938, aufgrund einer von Hitler diktierten Amnestie für nationalsozialistische Häftlinge, die Schuschnigg, um den Schein der Selbstbestimmung zu wahren, in eine Generalamnestie für alle »Politischen« umwandelte. 25 Tage nach seiner Entlassung 42 Zur politisch-literarischen Bedeutung Soyfers als einen »Sprecher des linken Flügels« im Austromarxismus vgl. Glaser : Austromarxismus, 398–411. 43 Zu Soyfers literarischer und politischer Tätigkeit nach dem Februar 1934 vgl. Jarka: Jura Soyfer, 177–425. 44 Marek: Aufzeichnungen, 23. 45 Eine vollständige Kopie des Strafaktes inklusive einer Liste der beschlagnahmten (und verloren gegangenen bzw. vernichteten) Manuskripte Soyfers befindet sich im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, Wien.

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und einen Tag nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich entschied sich Soyfer am 13. März 1938 zur Flucht: Beim Versuch, die Schweizer Grenze zu passieren, wurde er jedoch gemeinsam mit seinem Freund Hugo Ebner von der österreichischen Grenzpatrouille aufgegriffen und verhaftet. Am 23. Juni wurde Soyfer ins Konzentrationslager Dachau deportiert und anschließend nach Buchenwald, wo er am 16. Februar 1939 starb.46 Hinterlassen hat Soyfer mehr als 1000 Druckseiten, die ihn als Lyriker, Satiriker, Theater- und Romanschriftsteller ausweisen, für den Literatur und Politik ganz selbstverständlich eine Einheit bildeten. Seine literarischen Reflexionen auf die politischen Zustände an der Wiener Universität zeugen in diesem Sinne von dem Anspruch, sowohl Literatur zum Ort politischer Auseinandersetzung zu machen als auch Politik als Thema und Einsatzpunkt von Literatur zu begreifen.

46 Zu Soyfers letztem Lebensjahr s. Jarka: Jura Soyfer, 426–496. – In Dachau schrieb Soyfer das Dachau-Lied, dessen Berühmtheit den Namen seines Verfassers lange Zeit in den Hintergrund rückte. Das Dachau-Lied wurde von Lager zu Lager mündlich weitergegeben und fand seine erste, bereits posthume Veröffentlichung im November 1939 auf dem Titelblatt von Young Austria, der Zeitschrift der österreichischen Exilorganisation in Großbritannien.

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Urgesicht im Eckfenster der Moderne. Gottfried Benn und die antidarwinistische Paläontologie Edgar Dacqués1

I. Ein namenloses »Ich« blickt in einen »Tag«, der angeblich »ohne Besonderheiten einer der Tage in der Wiederkehr der Zeiten« ist.2 Immerhin, am Wetter kommt auch dieser Beobachter nicht vorbei: »Novemberanfang, leicht kühl, Insignien des Herbstes auf der Straße, lau und wahllos spielte die Erde ihn hin.«3 Einige Zeilen später lässt er sich sogar zu einer vagen Lokalisierung in Zeit und Raum hinreißen. Es sind »vierzig Jahre seit Nietzsche« vergangen und »hundert Jahre, seit in der Stadt die erste Gaslaterne brannte, jenem berühmten Jahr, in dem Europa erhielt: ein festländisches Eisenbahnnetz, überseeische Dampferfahrten, den Telegraphen, die Photographie, verbesserte Mikroskope und die Mittel zur Erzeugung des künstlichen Schlafs.«4 Doch weder die Jahreszahlen noch die Fortschritte in der Verkehrs-, Medien- und Medizintechnologie können den IchErzähler in Gottfried Benns 1929 publiziertem Prosastück Urgesicht wirklich irritieren, denn er betrachtet das Weltgeschehen aus einem der – so hat Helmut Lethen diese imaginäre Beobachterposition genannt – »Eckfenster der Moderne«.5 Seine »Wohnung« schwebt »über allem«; von den »Räumen« gehen »drei auf die Straße, einer in den Hof«, und während in den Straßenräumen »die Röte 1 Eine erste Version dieses Beitrages wurde im April 2011 auf der vom Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien veranstalteten Konferenz Zwischen Panik und Herzenskälte. Transformationen des Stoischen vorgetragen und diskutiert; inhaltlich greife ich u. a. auf Forschungsergebnisse zurück, die sich in meinem Buch Gottfried Benn und das Wissen der Moderne 1905–1932 (Göttingen 2011) ausführlicher dargestellt finden. 2 Gottfried Benn: »Urgesicht«, in: ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe: Bd. 3, hg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 1987, 202–212, 202. 3 Ebd. 4 Ebd., 202f. 5 Vgl. Helmut Lethen: »Eckfenster der Moderne. Wahrnehmungsexperimente bei Musil und E.T.A. Hoffmann«, in: Josef Strutz (Hg.): Robert Musils »Kakanien«. Subjekt und Geschichte, München 1987, 195–229.

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der Stadt« Berlin sichtbar wird, die »mittels Step und Injektion« die Nachfolge von »Babylon«, »Ninive« und »Rom« angetreten hat, ist das rückwärtige Fenster zarteren Emotionen vorbehalten: »In den Hof ergoß sich ein Musikcaf8, das belauschte ich oft, entführende Weisen.«6 Die Fenster in der Wohnung des Benn’schen Ich-Erzählers sind jedoch keine Fenster zur Welt – im Gegenteil: alle diese »erwähnenswerte[n] und wirklichkeitserfüllte[n] Dinge« da draußen werden ins Innere der Wohnung hineingesogen und schockgefroren: »in meinen Räumen wurden sie lautlos und gestillt.«7 Das Resultat dieser Operation: »Eine Klarheit ohnegleichen kam über mich«, »[e]ine Leichtigkeit«, denn »[s]o waren wohl die Dinge, ich unter ihnen, wir alle durchsichtig im Gefälle der Welt.«8

II. Bei Urgesicht handelt es sich nicht um den ersten Versuch Benns, sich einen über dem Getümmel der Zeiten schwebenden Beobachterposten zu erträumen, vor dessen Ewigkeitsauge die wirklichkeitserfüllten Dinge so klar, leicht und durchsichtig werden, das sie einen nicht mehr betreffen können. Werkgeschichtlich geht der Berliner Wohnung jener Universitätshörsaal im Essay Das moderne Ich (1919) voran, in dem ein durch den Ersten Weltkrieg geistig verwilderter Privatdozent eine Gruppe gerade immatrikulierter Kriegskrüppel vom Medizinstudium abzubringen versucht. Der Universitätshörsaal taucht hier nicht von ungefähr auf und er weist darauf hin, dass Benn seinen literarischen Diskurs-Hochsitz in der Regel mit, aber auch gegen das Wissen der Moderne zu legitimieren versucht hat. Im Fall von Das moderne Ich richtet sich diese doppelte Bewegung auf eine zentrale lebenswissenschaftliche Theorie des 19. Jahrhunderts: auf den Darwinismus und insbesondere auf die Kritik des Darwinismus, die sich Benn u. a. durch die Lektüre von Schriften des Embryologen Oscar Hertwig erarbeitet hat. Da der Antidarwinismus auch für das Verständnis von Urgesicht grundlegend ist, möchte ich an dieser Stelle etwas ausführlicher auf den um die Jahrhundertwende einsetzenden Paradigmenwechsel eingehen, den Julian Huxley im Jahr 1942 rückblickend »›eclipse of Darwinism‹« getauft hat und der lange Zeit einer historischen Amnesie unterlegen ist.9 Als Ursachen dafür anführen lassen sich erstens die Tendenz, die Wahrheiten von gestern aus dem kulturellen Gedächtnis zu löschen, sowie zweitens die vor allem in Deutschland nach 1945 gängige Verengung des Evolutionismus auf einen ras6 7 8 9

G. Benn: »Urgesicht«, 202ff. Ebd., 203. Ebd., 202. Zit. n. Peter J. Bowler: The Eclipse of Darwinism. Anti-Darwinian Evolution Theories in the Decades around 1900, Baltimore, London 1983, 5.

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sistischen Sozialdarwinismus. Um die historische Amnesie zu kurieren, hat der Wissenschaftshistoriker Peter J. Bowler sogar vorgeschlagen, den Begriff der ›Darwin’schen Revolution‹ aus dem Vokabular der Wissenschaftsgeschichte zu streichen, weil es sich dabei um eine Heroisierung aus heutiger Sicht handele, mit der die historisch zu beobachtende Polyphonie miteinander konkurrierender evolutionistischer Theorien verschleiert werde. Statt dessen habe es eine »›Non-Darwinian Revolution‹« gegeben: »it was a revolution because it required the rejection of certain key aspects of creationism, but it was non-Darwinian because it succeeded in preserving and modernizing the old teleological view of things.«10 Das Feld um 1900 ist also erheblich diversifizierter als gemeinhin angenommen. Wird nicht – wie vom Erlanger Anatomieprofessor Albert Fleischmann – Darwins »Kriegserklärung« an die »durch Linn8s Autorität geschützt[e] […] mosaische Lehre von der Unveränderlichkeit der Tier- und Pflanzenarten« grundsätzlich zurückgewiesen,11 so lautet die von Eberhard Dennert in einer Broschüre mit dem bemerkenswerten Titel Vom Sterbelager des Darwinismus (1903) zugespitzte Mehrheitsmeinung der Darwin-Kritiker : »Befestigung der Descendenztheorie im allgemeinen, fortdauernder Rückgang des Darwinismus im speziellen«.12 Resultat ist die ›Entwicklungslehre‹, in der sich die jüngere, ›positives‹ Wissen produzierende Physiologie mit der betagteren, Gott und Goethe gefälligen Morphologie kreuzt, d. h. die Lehre von den Funktionen des Lebens mit der Lehre von seinen Formen. Ein prominenter Ort dieser Kreuzung ist die Embyrologie, denn sie ermöglicht sowohl die experimentelle Prüfung der Zellfunktionen, als auch die Fortsetzung der morphologischen Operation des Formenvergleichs in Gestalt der Abfolge von Larvenstadien – das ist das große Versprechen des von Ernst Haeckel formulierten biogenetischen Grundgesetzes, d. h. der abgekürzten Rekapitulation der Phylogenie in der Ontogenie. Die Rezeption der Entstehung der Arten führt also zunächst zu einer – im Sinne Bowlers – ›nicht-darwinistischen‹ Erneuerung der Morphologie, indem das Nebeneinander der verschiedenen biologischen Idealtypen aus dem Raum der Systematik in das Zeitschema von Stammbäumen übersetzt wird. Die Voraussetzung dafür ist die Interpretation anatomischer und embryonaler Strukturähnlichkeiten als Verwandtschaftsnachweis. Die Morphologie und die vergleichende Anatomie avancieren so zum »first center of evolutionary biology«, was in dem Augenblick

10 Peter J. Bowler : The Non-Darwinian Revolution. Reinterpreting a Historical Myth, 2. Aufl., Baltimore, London 1992 [zuerst 1988], 5. 11 Albert Fleischmann: Die Descendenztheorie. Gemeinverständliche Vorlesungen über den Auf- und Niedergang einer naturwissenschaftlichen Hypothese, Leipzig 1901, 4, 3 und 6. 12 E[berhard] Dennert: Vom Sterbelager des Darwinismus. Ein Bericht, Stuttgart 1903, 16.

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zum Problem wird, in welchem das physiologische Standbein – die Embryologie – wegbricht.13 Genau das passiert Anfang des 20. Jahrhunderts und läßt Haeckels Traum, durch das Bündnis zwischen Morphologie und Embryologie zu einer materialistischen Naturphilosophie mit dem Namen ›Darwinismus‹ zu kommen, scheitern. Während Haeckel die Ontogenie als Fenster zur evolutionären Vergangenheit betrachtet, wird für Wilhelm Roux’ Entwicklungsmechanik das naturwissenschaftliche »Causalitätsbedürfniß […] durch die vergleichende Anatomie nur zum Theil befriedigt«, weil sie schlecht in Versuchsanordnungen zu bringen ist.14 Garland E. Allen terminiert dementsprechend den Beginn der ›modernen‹ Biologie auf diese experimentelle »revolt from morphology« am Ende des 19. Jahrhunderts, welche die Liaison der Embryologie mit der »morphological speculation« beendet habe: »Roux was among the first in the postDarwinian period to see the embryo as something more than an evolutionary kaleidoscope.«15 Aber auch Allen muss zugeben, dass nach den Roux’ mechanistische Hoffnungen widerlegenden Experimenten von Hans Driesch und Hans Spemann »[i]n the 1920s a less mechanistic trend became discernible in biology, rejecting the simplistic tendency to reduce all biological phenomena to molecular interactions.«16 Resümiert man die Situation um 1900, so ergibt sich demnach ein überraschend unübersichtliches oder besser : offenes Bild der modernen Biologie, das mit der gängigen ideengeschichtlichen Dichotomie Mechanismus/Vitalismus mehr schlecht als recht beschrieben ist. Es wäre verfehlt, für diese Unübersichtlichkeit oder Offenheit ausschließlich ideologische Faktoren verantwortlich zu machen: Von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gibt es über jeden Seriositätszweifel erhabene wissenschaftliche Gründe, zwar nicht die Evolution, aber ihre Erklärung durch Darwin zu bestreiten. In diesem Sinne ist die Krise des Darwinismus »an inevitable consequence of the fact that Darwinism was powerful enough to convert most scientists to evolution, while at the same time it contained inherent weaknesses

13 Peter J. Bowler : Life’s Splendid Drama. Evolutionary Biology and the Reconstruction of Life’s Ancestry 1860–1940, Chicago, London 1996, 41. 14 Wilhelm Roux: Die Entwicklungsmechanik der Organismen, eine anatomische Wissenschaft der Zukunft. Festrede, in Anwesenheit Seiner Excellenz des Herrn Unterrichtsministers Dr. Gautsch von Frankenthurn zur Feier der Eröffnung des neuen k. k. anatomischen Institutes zu Innsbruck am 12. November 1889, Wien 1890, 5. 15 Garland E. Allen: Life Science in the Twentieth Century, 2. Aufl., Cambridge u. a. 1978, 21 und 25. Paul Julian Weindling: Darwinism and Social Darwinism in Imperial Germany : The Contribution of the Cell Biologist Oscar Hertwig (1849–1922), Stuttgart, New York 1991, 85 hat dagegen eingewandt, dass gerade die »[m]orphological concepts« für den ersten physiologischen ›Durchbruch‹ der Embryologie verantwortlich seien. 16 G. E. Allen: Life Science in the Twentieth Century, XIX.

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that could not be solved within the existing methods of natural history.«17 Der Antidarwinist Dennert jedenfalls sieht überall in der Biologie »Zeichen, welche auf eine völlige Umwälzung schließen lassen« und sorgt sich nur noch darum, dem Darwinismus »wenigstens noch ein anständiges Begräbnis zu sichern.«18 Infolge dieser Krise formieren sich zwischen 1860 und 1940 fünf Schulen, die drei biologische Probleme bearbeiten. Die fünf Schulen sind der Theismus, der Neodarwinismus, der Neolamarckismus, die Orthogenesis und der Saltationismus. Bei den drei Problemen handelt es sich erstens um die Frage, ob in der Entwicklung Providenz oder Kontingenz zu erkennen ist; zweitens, ob dieser Prozeß durch innere Kräfte oder durch die Einwirkungen der Umwelt gesteuert wird; sowie drittens, ob die Evolution stetig oder sprunghaft verläuft.19 Der Theismus beharrt auf der Typentheorie und versucht, die Abstammungshypothese mit der christlichen Schöpfungslehre zu versöhnen, indem er Darwins sehr irdischen Selektionsmechanismus gegen eine experimentell einstweilen ungeklärte, vitalistische »Lebenskraft« oder ein »planmäßig wirkende[s], innere[s] Lebensgesetz« austauscht.20 Für die Theisten offenbart die Evolution göttliche Providenz und sie folgt inneren, in der Regel stetig sich entfaltenden Kräften. Der Neodarwinismus wird mit dem Freiburger Zoologen August Weismann verbunden, weil er die Theorie der natürlichen Zuchtwahl von ihren larmarckistischen Elementen – in der Hauptsache von der Vererbung erworbener Eigenschaften – zu reinigen versucht. Für Neodarwinisten ist das organische Entwicklungsgeschehen kontigent, d. h. die Natur wählt in einem gleichförmigen Akkumulationsprozeß die am besten ihrer Umwelt angepaßten Varianten nach dem Vorbild menschlicher Pflanzen- und Tierzucht durch vermehrte Reproduktion aus. Entscheidend an der von Weismann verkündeten Allmacht der Naturzüchtung (1893) ist ihr polarisierender Effekt im biologischen Feld – sie ruft die dritte Schule ins Leben, den Neolamarckismus: neben Haeckel ist der Schweizer Botaniker Carl Wilhelm von Nägeli der bekannteste Vertreter. Der Neolamarckismus nimmt eine kontinuierliche Höherentwicklung der Arten an, die mit der Vererbung erworbener Eigenschaften über das Mittel verfügen, die Bildungserfolge der Elterngeneration an die Nachkommen zu tradieren. In der Evolution gibt es daher wenn nicht Providenz, so doch eine sinnvolle Teleologie zu entdecken, d. h. ein Prozeß allmählicher Vervollkommnung der Arten in der Interaktion mit ihrer Umwelt. Die Orthogenesis-Theorie (wörtlich: ›geradlinige 17 P. J. Bowler: The Eclipse of Darwinism, 13. 18 E. Dennert: Vom Sterbelager des Darwinismus, 11 und 4. 19 Vgl. G. E. Allen: Life Science in The Twentieth Century, 10; Ernst Mayr : »Prologue: Some Thoughts on the History of the Evolutionary Synthesis«, in: ders., William B. Provine (Hg.): The Evolutionary Synthesis. Perspectives on the Unification of Biology, Cambridge/Mass., London 1980, 1–48, 5f. und P. J. Bowler : The Eclipse of Darwinism, 7ff. 20 E. Dennert: Vom Sterbelager des Darwinismus, 21 und 25.

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Entwicklung‹) ist die pessimistische Schwester des Neolamarckismus. Während die Lamarckianer wie selbstverständlich davon ausgehen, dass Adaptationen für die betreffenden Lebewesen nützlich sind, halten die Orthogenetizisten wie der Tübinger Zoologe Theodor Eimer auch das Gegenteil für möglich und betrachten die Organismen als vorprogrammierte Maschinen, die einen einmal eingeschlagenen Entwicklungsweg unter Umständen bis zum bitteren Ende fortsetzen, d. h. bis zum Aussterben der Art durch Überspezialisierung eines oder mehrerer Organe – ein Argument, das vor allem die mit bizarren Merkmalsbildungen und Typenschwund (etwa im Falle der Dinosaurier) konfrontierten Paläontologen überzeugt.21 Für Orthogenetizisten verläuft die Evolution gemäß einer zwar kontinuierlichen und – nach einem Anfangsimpuls von außen – innengesteuerten, aber auch heillosen Logik. Von den vier bisher vorgestellten biologischen Schulen unterscheiden sich die Saltationisten, d. h. die frühen Mendelianer, durch die Auffassung, dass sich die Evolution in Sprüngen vollzieht. Die Wiederentdeckung der Mendel’schen Vererbungsregeln im Jahr 1900 u. a. durch den holländischen Botaniker Hugo de Vries wird zunächst nicht als Beitrag zum Darwinismus verstanden, ganz im Gegenteil: »Darwinism was rejected by three of the founders of Mendelism« (neben de Vries sind der Brite William Bateson und der Däne Wilhelm Johannsen gemeint).22 Dass die Genetik als antidarwinistisches Konkurrenzunternehmen gegründet wird, hat drei Ursachen. Erstens glaubt man, dass Darwins Minimalvarianten vom Durchschnittstyp einer Population genetisch ›aufgesogen‹ werden; zweitens ist der materielle Träger der von Mendel angenommenen Erbfaktoren unklar ; und drittens legen die 1903 im zweiten Band seiner Mutationstheorie veröffentlichten Versuche de Vries’ an Nachtkerzen nahe, dass neue Arten durch spontane Sprungmutationen entstehen. Wenn sich also Benn 1919 oder in späteren Jahren auf biologisches Wissen bezieht, sollte man dieses historische Tableau einander widersprechender Evolutionstheorien im Hinterkopf haben, statt vorschnell und undifferenziert auf ›Irrationalismus‹ zu erkennen, denn der größte Teil der Argumente, die er gegen ›die‹ Biologie ins Feld führen wird, stammt aus der Biologie selbst. Ein kurzer Blick auf das, was die Wissenschaftshistoriker als ›moderne Synthese‹ bezeichnen, bestätigt den Befund, dass sich Benn bis weit in die 30er Jahre hinein mit seiner Darwin-Kritik lebenswissenschaftlich autorisiert fühlen durfte. Gemeint ist damit die Zusammenschau der Teilergebnisse der Embryologie, Zoologie, Biometrie, Genetik und schließlich auch der Paläontologie unter dem Dach einer reformierten darwinistischen Selektionstheorie um 1940. Länger dauert die Integration der Embyrologie – vor 21 Vgl. P. J. Bowler : The Eclipse of Darwinism, 142ff. 22 E. Mayr : »Prologue: Some Thoughts on the History of the Evolutionary Synthesis«, 4.

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allem in Deutschland hat ihr Erfolg aussichtsreichere Forschung, d. h. die Entstehung einer Transmissionsgenetik blockiert.

III. Kehrt man nach diesem wissenschaftsgeschichtlichen Exkurs zu Urgesicht zurück, so wird man feststellen, dass sich Benn auch in diesem Text auf Positionen des Antidarwinismus beruft, wie ich im Folgenden zeigen möchte. Der letzte Grund für die oben zitierte Klarheit ohnegleichen und die Leichtigkeit, mit welcher der Ich-Erzähler »die Nacht« beobachtet, »die nichts mehr für mich barg, nichts mehr als den Dämmer meines Herzens, eines Herzens, das altert«, ist das »tödliche Gesetz« des Lebens: »Das Leben will sich erhalten, aber das Leben will auch untergehen«.23 Auf die Explikation und Beschwörung dieses Gesetzes läuft der gesamte Text zu und Benn wird das aus dem tödlichen Gesetz des Lebens erwachsende »Kommen und Gehn«, den »unausdenkbar[en]« »Anfang« und das »Ende« als »Sage«,24 mit dem Wissen der Paläontologie begründen, d. h. der auf Fossilienkunde beruhenden Wissenschaft von den Lebewesen vergangener Erdzeitalter. Zunächst aber exemplifiziert Urgesicht das Gesetz des Lebens gewissermaßen literaturimmanent anhand der Gegenüberstellung eines »Ohrenarzt[es]« und Klinikinhabers einerseits und eines kürzlich »im Delirium zugrunde gegangen[en]« »Trunkenbolde[s]« andererseits.25 Der Ich-Erzähler erörtert die Frage, ob der Trinker »völlig unvollendet gestorben« sei, d. h. »ohne Symbol, nutzlos, ohne daß das Ungeheuerliche des Lebens durch seinen Lauf hindurch[ge]schien[en]« habe und ob demgegenüber der bürgerlich erfolgreiche Arzt von einem »geheimnisvollere[n] Erleben« »durch die Ohrenklinik« getragen werde.26 Die Antwort auf diese Frage ist die »chthonische Macht« des Lebens, das sich erhalten, aber eben auch untergehen will.27 Diese sentenzhafte Formel geht selbstverständlich nicht auf chthonische, d. h. unterirdische und/oder dionysische Mächte, sondern auf Benns aufmerksame Lektüre des Münchener Paläontologen und Naturphilosophen Edgar Dacqu8 zurück, wie der Gebrauch der Wörter »Symbol« und »Leben« im Zusammenhang mit dem verewigten Trunkenbold zeigt:28 Es sind die beiden Titelbegriffe von Dacqu8s Buch Leben als Symbol. Metaphysik einer Entwicklungslehre (1928), das gemeinsam mit Dacqu8s spekulativem Erstling Urwelt, Sage und Menschheit. Eine 23 24 25 26 27 28

G. Benn: »Urgesicht«, 204, 212 und 205f. Ebd., 202. Ebd., 205. Ebd. Ebd., 206. Ebd., 205.

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naturhistorisch-metaphysische Studie (1924) in Urgesicht gründlich ausgebeutet wird und welches die wissenschaftliche Grundlage jenes »tödliche[n] Gesetz[es]« des Lebens darstellt,29 auf das der Intellektuelle der Zwischenkriegszeit mit ›Verhaltenslehren der Kälte‹ – um noch einmal Lethen zu bemühen – reagieren muss.30 Die Berufung auf die Paläontologie mag auf den ersten Blick überraschend oder idiosynkratisch wirken – den Hintergrund dafür bildet Benns kulturkritische Überzeugung, dass sich sämtliche Gebrechen der Moderne, insbesondere aber ihre Fortschrittsideologie auf den Darwinismus zurückführen lassen. Daher rührt seine Affinität zu Naturwissenschaftlern, die – wie Dacqu8 – antidarwinistische Positionen vertreten. In keinem Feld des Wissens haben Antidarwinisten jedoch eine derartige Dominanz besessen wie in der Paläontologie, die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ein für die Selektionstheorie uneinnehmbares Bollwerk ist. Die Gründe dafür sind in den Gegenständen wie in der Geschichte des Faches zu suchen – die Unverzichtbarkeit der morphologischen Analyse von Fossilien etwa und die disziplinäre Zuordnung zur Geologie statt zur Biologie –; sie führen dazu, dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die große Mehrheit der mitteleuropäischen Paläontologen zwei Überzeugungen teilt, ohne die weder die Autorität, die sie selbst beansprucht haben, noch die Autorität, die Benn ihnen zuerkannt hat, zu verstehen ist. Zum einen glauben viele Paläontologen, »that the fossil record did not document any increasing perfection of design through time[, which] […], according to their view, was the criterion […] to evaluate Darwin’s selection theory«; zum anderen halten sie dafür, »that the patterns of evolution as shown by the fossil record could only be explained by models derived from the fossil record itself« – zugleich die Hauptquelle ihres eben erwähnten und im Einzelfall durchaus ostentativen Selbstbewusstseins.31

29 Ebd., 212. 30 Vgl. Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/Main 1994. 31 Wolf-Ernst Reif: »The Search for a Macroevolutionary Theory in German Paleontology«, in: Journal of the History of Biology, Jg. 19 (1986), 79–130, 84 u. 93.

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IV. Der für Benn mit Abstand wichtigste Autor auf diesem Feld ist Edgar Dacqu8.32 Alfred Döblin hat ihn 1927 in einem Feuilletonartikel für die Vossische Zeitung einen jener »eigenwillige[n] Männer« genannt, die »eine der heutigen Universitätslehre« angeblich »fremde Naturerkenntnis und Philosophie« pflegten und die »symptomatisch für […] die Epoche einer neuen, wachsenden Esoterik« seien.33 Dacqu8 gilt mit einigem Recht als der Esoteriker oder »Romantiker unter den Paläontologen des 20. Jahrhunderts«,34 trotzdem ist die von ihm praktizierte Form der Naturerkenntnis der Universitätslehre seiner Zeit keineswegs so vollständig inkommensurabel gewesen, wie es von Döblin suggeriert wird. Das zeigt bereits der Blick auf die durchaus auch wissenschaftliche Karriere Dacqu8s, die mit einem Studium in München bei Karl Alfred von Zittel beginnt – ab 1866 Inhaber des damals einzigen Lehrstuhls für Paläontologie in Deutschland und maßgeblich daran beteiligt, das Fach als eigenständige Disziplin zu etablieren. Dacqu8 wird 1902 mit einer Arbeit über den Kreidekomplex von Abu Roash bei Cairo promoviert und erhält zwei Jahre später eine Assistentenstelle an der Paläontologisch-Geologischen Staatssammlung in München; 1912 habilitiert er sich mit einer Untersuchung über Die fossilen Schildkröten Ägyptens für Paläontologie und stratigraphische Geologie und wird 1920 zum außerordentlichen Professor ernannt. Mit dem Buch Grundlagen und Methoden der Paläogeographie (1915) erwirbt Dacqu8 »einen über die früheren Spezialarbeiten hinausgehenden Ruf«, nach dem Ersten Weltkrieg (Dacqu8 wird Mitte 1915 zum Militär eingezogen und arbeitet bis 1918 als ›Kriegsgeologe‹) lässt er »[s]einer Paläo32 Aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive vgl. zu Dacqu8 u. a. die Studien von W.-E. Reif: »The Search for a Macroevolutionary Theory in German Paleontology« und Florian Mildenberger : »Drachen und Dämonen. Der Paläontologe Edgar Dacqu8 (1878–1945) zwischen Wissenschaft und Mythologie«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 57 (2009), 869–890. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht vgl. zur Wirkung Dacqu8s auf Benn die Arbeiten von Dieter Wellershoff: Gottfried Benn. Phänotyp dieser Stunde. Eine Studie über den Problemgehalt seines Werkes, 2. Aufl., Köln 1986 (zuerst 1958), 125ff.; Gerlinde F. Miller : Die Bedeutung des Entwicklungsbegriffs für Menschenbild und Dichtungstheorie bei Gottfried Benn, New York u. a. 1990, 153ff. und 175ff.; Ursula Kirchdörfer-Boßmann: »Eine Pranke in den Nacken der Erkenntnis«. Zur Beziehung von Dichtung und Naturwissenschaft im Frühwerk Gottfried Benns, St. Ingbert 2003, 269ff. sowie Nicola Gess: »Sie sind, was wir waren. Literarische Reflexionen einer biologischen Träumerei von Schiller bis Benn«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, Jg. 56 (2012), 107–125. Zur durch Benn vermittelten Wirkung Dacqu8s auf Arno Schmidt vgl. Wolfgang Proß: »Von Dacqu8 zu Freud. Zum Verhältnis von Kulturtheorie und Psychoanalyse im Werk Arno Schmidts«, in: Jörg Drews (Hg.): Gebirgslandschaft mit Arno Schmidt. Grazer Symposion 1980, München 1982, 66–97. 33 Alfred Döblin: »Außenseiter der Naturwissenschaft«, in: Vossische Zeitung Nr. 306 (31. 12. 1927), Unterhaltungsblatt. 34 Helmut Hölder : Geologie und Paläontologie in Texten und ihrer Geschichte, Freiburg, München 1960, 404.

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geographie als Gegenstück eine Paläobiologie« folgen, »und man war allgemein überzeugt, daß ich bald zu einer ansehnlichen Berufung käme.«35 Dass es sich dabei um eine realistische Selbsteinschätzung gehandelt hat, beweist das Urteil des Wissenschaftshistorikers Wolf-Ernst Reif, der Dacqu8s Vergleichende biologische Formenkunde der fossilen, niederen Tiere (1921) den »most important treatise of its time on functional morphology, morphogenesis, and paleoecology« genannt und ausdrücklich festgehalten hat, dass »[h]is scientific books […] are largely free of mysticism and vague speculation.«36 Diesen fachwissenschaftlichen Erfolgsweg unterbricht Dacqu8 drei Jahre später mit der Publikation von Urwelt, Sage und Menschheit. Eine naturhistorisch-metaphysische Studie (1924), das sein einflussreichstes (und bis 1931 sechsmal aufgelegtes) Werk werden wird. Im autobiographischen Rückblick hat Dacqu8 die Niederschrift des Textes als ein ekstatisches Erleuchtungserlebnis beschrieben. Die Erfahrung, zum personalen Medium der Naturgeschichte geworden zu sein, führt in den 20er Jahren zu einer »metaphysischen Serie« von Dacqu8’schen Schriften.37 Dazu gehören u. a. Natur und Seele. Ein Beitrag zur magischen Weltlehre (1926) und das bereits erwähnte, in Benns Nachlass-Bibliothek erhaltene Werk Leben als Symbol (1928), aber auch Aufsätze in okkultistischen Zeitschriften wie den Psychischen Studien oder der Zeitschrift für Parapsychologie. Dacqu8 und seine Schüler haben den Eindruck erweckt, dass ihn diese Art von Publikationstätigkeit, in erster Linie jedoch das ›Skandalbuch‹ Urwelt, Sage und Menschheit »die schon angebotene Berliner Professur gekostet« habe, »da er die Veröffentlichung dieser Schrift nicht vorsichtig verzögern wollte, sondern absichtlich und offen als Bekenntnis vor die Fachwissenschaft stellte«.38 Die Überprüfung dieser Behauptung anhand der wenigen in den Archiven verfügbaren Dokumente ergibt ein differenzierteres Bild: In dem im Technischen Museum Wien erhaltenen Nachlass des Begründers der Welteislehre, Hanns Hörbiger, mit dem Dacqu8 im Briefwechsel stand, hat sich zum einen ein Hinweis darauf erhalten, dass zumindest bei der 1924 in Frage stehenden Professur in Berlin ganz andere, nämlich pragmatische – Dacqu8 vielleicht unbekannt gebliebene – Gründe die Berufung verhindert haben.39 Zum anderen lesen sich 35 Edgar Dacqu8: Werk und Wirkung. Eine Rechenschaft, aus dem Nachlaß hg. v. Manfred Schröter. Mit einem bibliographischen Anhang v. Horst Kliemann, München 1948. 36 W.-E. Reif: »The Search for a Macroevolutionary Theory in German Paleontology«, 113. 37 E. Dacqu8: Werk und Wirkung, 61. 38 Manfred Schröter : »In Memoriam Edgar Dacqu8«, in: E. Dacqu8: Werk und Wirkung, 9–29, 21. 39 Der an der Technischen Hochschule Berlin tätige Geologe Richard Bärtling widerspricht in einem privaten Brief vom 9. Januar 1925 diesem Verdacht: »Dacqu8 war in Vorschlag gebracht für den Lehrstuhl für Geologie an der Bergbauabteilung der Technischen Hochschule und hatte anfangs wohl auch ziemliche Aussichten, bis das Ministerium die durchaus be-

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seine Personalakten im Archiv der Ludwig-Maximilians-Universität München wie die Geschichte einer Hochschulflucht: Bittet Dacqu8 1921 noch wegen einer Terminkollision um die Befreiung von der Anwesenheitspflicht bei Fakultätssitzungen, so beruft er sich in der gleichen Angelegenheit ein Jahr später bereits auf eine ihm ärztlich attestierte und ihn für die Gremienarbeit untauglich machende »Schwerhörigkeit«.40 1924 ersucht er unter Verweis auf »[g]roße Umräumungs- und Sichtungsarbeiten in der geologisch-historischen Staatssammlung« die Fakultät um »einsemestrigen Urlaub mit der gänzlichen Befreiung von meiner Lehrtätigkeit«,41 ein weiteres Jahr später rückt er endlich – formgerecht von sich selbst in der dritten Person sprechend – mit dem »Hauptgrund« für die gewünschte Verlängerung der »Enthebung von seiner Vorlesungsverpflichtung« heraus: Die »Entwicklung seiner wissenschaftlichen Anschauungen« habe ihn »von den äusseren und inneren Voraussetzungen bei Erwerbung der venia legendi soweit wegführt, dass er für die nächste Zeit einen gewissen Abstand von seiner Lehrtätigkeit gewinnen möchte, um diesen inneren Zwiespalt in irgend einer Weise zu einer Entscheidung reifen zu lassen«.42 Die Entscheidung fällt Dacqu8 1926 mit beachtlicher Konsequenz und gibt die Lehrerlaubnis und den Professorentitel zurück. Es ist schwer zu entscheiden, ob der von Dacqu8 den Universitätsbehörden gegenüber angegebene Zwiespalt zwischen der naturwissenschaftlichen Orthodoxie und seinen subjektiv gewonnenen Erkenntnissen wirklich der ausschlaggebende Grund für den institutionellen, wenn auch ohne ökonomische Folgen bleibenden Selbstmord gewesen ist. Angesichts der öffentlichen Auseinandersetzungen um Urwelt, Sage und Menschheit ist es durchaus auch denkbar, dass Dacqu8 die Aussichtslosigkeit seiner Bewerbung um eine ordentliche Professur informell, aber so eindeutig mitgeteilt worden ist, dass er von sich aus – und um sich von der Belastung durch die Lehre zu befreien – den Rückzug auf die Museumsstelle angetreten hat. Das zutreffende oder unzutreffende Gerücht von dem heroisch auf dem Altar einer esoterischen Naturphilosophie geopferten Lehrstuhl bringt Dacqu8 immerhin – und das ist für seine Position im öffentlichen Raum der Weimarer Republik bezeichnend – die Unterstützung von Thomas Mann ein, der in dem von Benn nachweislich gelesenen und in Zur Problematik des Dichterischen rechtigte Forderung stellte, daß auf diesen Lehrstuhl nur jemand berufen werden könnte, der nicht nur rein wissenschaftlich, theoretische Kenntnisse, sondern auch praktische, geologische Erfahrungen besitzt. Das ist bei Dacqu8 nun durchaus nicht der Fall«. (Technisches Museum Wien, Nachlass Hanns Hörbiger, S/377/10, Bl. 1). 40 Edgar Dacqu8, Briefe an den Dekan der Philosophischen Fakultät, 7. November 1921 und 10. Oktober 1922, Archiv der Ludwig-Maximilians-Universität München, OC-IX-32. 41 Edgar Dacqu8, Brief an den Dekan der Philosophischen Fakultät, 19. Januar 1924, Archiv der Ludwig-Maximilians-Universität München, E-II-1092. 42 Edgar Dacqu8, Brief an den Dekan der Philosophischen Fakultät, 25. Mai 1925, Archiv der Ludwig-Maximilians-Universität München, OC-IX-32.

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zitierten Essay Reaktion und Fortschritt (1929) am Beispiel des Münchener Paläontologen die lebensphilosophisch-intuitionistische »Genialisierung der Wissenschaft« gegen den im Vorhof der Expressionismus-Debatte von linksintellektueller Seite erhobenen Vorwurf verteidigt, der »Reaktion« anzugehören: Wenn ein Buch wie ›Urwelt, Sage und Menschheit‹ von Dacqu8 heute von der ›strengen‹, der ›korrekten‹ Wissenschaft in vollkommen falscher Vornehmheit abgelehnt wird und seinem Verfasser die akademische Laufbahn verdirbt, so gibt es keinen Zweifel, auf welcher Seite wir zu finden sind – auf der des Buches, das echte Revolution ist, oder auf Seite jener akademischen ›Ablehnung‹, mit der wahrhaftig so gar nichts geschehen ist.43

Manns Hoffnung, man könne Anhänger einer »antirationalen ›zurückzwingenden‹ Betrachtungsart der Welt« und Gegner der politischen Rechten zugleich sein, hat sich im Falle Dacqu8s ebenso wenig erfüllt wie im Falle Benns.44 Die Anbiederung Dacqu8s bei den Nationalsozialisten ist in mancher Hinsicht sogar überraschender als diejenige Benns, denn während es in Urwelt, Sage und Menschheit noch polygenische Anklänge gibt und ein Erreichen des »heutigen Menschenstadium[s] […] auf vielen Stammlinien« angenommen wird,45 warnt Dacqu8 in Leben als Symbol explizit vor der »dämonischen Selbstübersteigerung [d]er Rasse« in den »Gestüt[en]« der Rassenhygiene.46 Eine »Rassenheilung« verspricht er sich »nicht […] von der körperlichen, sondern von der innerlich ideenhaften Seite her«, nämlich von der »übervölkische[n], überrassenhafte[n] Entscheidung des Einzelmenschen zu wahrem, reinem Menschentum«.47 Weil Dacqu8 außerdem Martin Buber sein Buch Vom Sinn der Erkenntnis. Eine Bergwanderung (1931) widmet, da er diesem den »Zugang zur Religiosität des Chassidismus« verdanke,48 ist es zumindest erstaunlich – oder aber : der opportunistische deutsche Normalfall –, dass er nach 1933 eilends mit dem bis dato 43 Thomas Mann: »Reaktion und Fortschritt«, in: Die Neue Rundschau, Jg. 40 (1929), 199–219, 209f. 44 Ebd., 210. Thomas Mann hat Edgar Dacqu8 in einigen seiner Romane auftreten lassen – am erkennbarsten im Doktor Faustus (1947) in Gestalt von Dr. Egon Unruhe, »eine[m] philosophischen Paläozoologen, der in seinen Schriften die Tiefschichten- und Versteinerungskunde auf sehr geistvolle Weise mit der Rechtfertigung und wissenschaftlichen Verifizierung uralten Sagengutes verband, so daß in seiner Lehre, einem sublimierten Darwinismus, wenn man will, alles wahr und wirklich wurde, woran im Ernst zu glauben eine entwickelte Menschheit längst aufgehört hatte« (Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde, 2. Aufl., Frankfurt/Main 1974 [zuerst 1947], 482). 45 Edgar Dacqu8: Urwelt, Sage und Menschheit. Eine naturhistorisch-metaphysische Studie, 2. Aufl., München 1924 [zuerst 1924], 72. 46 Edgar Dacqu8: Leben als Symbol. Metaphysik einer Entwicklungslehre, München, Berlin 1928, 218 und 221. 47 Ebd., 220f. 48 E. Dacqu8: Werk und Wirkung, 53.

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vertretenen Konzept »einer überzeitlichen und übervölkischen Wissenschaft« bricht.49 Besonders erfolgreich ist die Anbiederung nicht gewesen – Dacqu8 klagt in seiner Autobiographie darüber, dass man ihm in der »letzten Zeit des ›Dritten Reiches‹« mit dem Vorwurf, ein »Neuromantiker« zu sein, »[s]chwer […] zugesetzt« habe.50 Was und wer damit genau gemeint ist, ist nicht zu ermitteln. Der Blick in die vorhandenen Akten ergibt allerdings auch hier ein differenzierteres Bild: 1937 unternimmt Ernst Schulte-Strathaus, ein im Stab von Rudolf Heß für Kulturfragen zuständiger Literaturhistoriker, einen Vorstoß beim Rektor der Münchener Universität zugunsten »eine[s] Lehrauftrag[s] an Professor Dacqu8 für Naturphilosophie« und legt auch gleich eine Abschrift eines von Dacqu8 verfassten zweiseitigen »Programmentwurf[s] für eine Vorlesung über ›Biologische Naturphilosophie‹« bei.51 Dieser Vorschlag wird jedoch vom Leiter der Dozentenschaft, dem Botaniker und ›Alten Kämpfer‹ Ernst Bergdolt, rundheraus abgelehnt: Dacqu8 sei überhaupt kein »Philosoph, sondern lediglich ein phantasiebegabter Geologe und Paläontologe, der es allzu oft liebt sich in rein spekulativen Gedankengängen zu ergehen und den Boden der gesicherten Tatsachen zu verlassen«.52 Im Übrigen stehe er »zwar jetzt dem Nationalsozialismus äusserlich loyal gegenüber«, seine »politische Gesinnung« könne »aber durchaus nicht nationalsozialistisch genannt werden«.53 Wird Dacqu8 einerseits die offenbar beabsichtigte Rückkehr an die Universität verweigert, so hindert ihn andererseits niemand in Hitlers Staat an der Fortsetzung seiner umfangreichen Publikationstätigkeit, d. h. weder an der Veröffentlichung fach- und populärwissenschaftlicher Bücher wie Organische Morphologie und Paläontologie (1935) oder Aus der Urgeschichte der Erde und des Lebens (1936), noch an der Veröffentlichung naturphilosophischer Traktate wie Das verlorene Paradies. Zur Seelengeschichte des Menschen (1940) oder Die Urgestalt. Der Schöpfungsmythus neu erzählt (1940). Da außerdem wenigstens drei vordergründig ›unpolitische‹ Artikel Dacqu8s im Völkischen Beobachter nachweisbar sind, scheint sich die nationalsozialistische Kritik am ›Neuromantiker‹ in vergleichsweise engen Grenzen gehalten zu haben.54 49 Edgar Dacqu8: »Völkergeist, Zeitgeist und Wissenschaft«, in: Hans Andr8, Armin Müller, ders. (Hg.): Deutsche Naturanschauung als Deutung des Lebendigen, München, Berlin 1935, 169–192, 170. Selbstredend war Dacqu8 »nach 1933« leider »gezwungen, das Widmungsblatt« für Buber aus Vom Sinn der Erkenntnis »zu entfernen« (E. Dacqu8: Werk und Wirkung, 53f.). 50 E. Dacqu8: Werk und Wirkung, 63. 51 Ernst Schulte-Strathaus, Brief an den Rektor der Universität München, 19. April 1937, Archiv der Ludwig-Maximilians-Universität München, E-II-1092. 52 Ernst Bergdolt, Brief an den Rektor der Universität München, 21. Juni 1937, Archiv der Ludwig-Maximilians-Universität München, E-II-1092. 53 Ebd. 54 Vgl. Edgar Dacqu8: »Wie alt ist das Menschengeschlecht?«, in: Völkischer Beobachter (21./

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V. Was Dacqu8s Evolutionstheorie betrifft, so gebe ich im Folgenden einen kurzen, in sechs Stichpunkte gegliederten Überblick: 1. Antidarwinismus und anthropogenetischer Primitivismus, 2. Platonismus, 3. Theorie der Zeitsignatur, 4. Anthropomorphismus, 5. erdgeschichtliche Mythendeutung sowie 6. zyklische Geschichtsauffassung. Zunächst zum Antidarwinismus (Punkt 1): Dacqu8 ist ein Vertreter der Typentheorie, d. h. für ihn beginnt jeder »Typus […] immer wieder mit Primitivformen seiner eigenen Grundorganisation«, weshalb beim Menschen »von einer Abstammung […] aus etwaigen tertiären Säugetieren keine Rede sein« könne.55 Die Menschenaffen seien nicht »als seine Ahnen« anzusprechen, »sondern lediglich als überspezialisierte, in mancher Hinsicht sogar zurückgebildete Abkömmlinge.«56 Dafür bringt er durchaus auch empirische Belege – so den versteinerten Extremitätenabdruck eines angeblichen ›Handtieres‹57 –, in letzter Instanz aber vertraut Dacqu8 auf den Platonismus (Punkt 2) und setzt allen »entleerte[n] Formelbild[ern] in unserem Intellekt« seine »Idee platonischer Fassung« entgegen, derzufolge »[d]ie naturwissenschaftlich empirische Welt« als eine rein »symbolische Welt von Bildern der unmittelbar wirksamen Ideen« zu betrachten sei.58 Damit bin ich beim Kernstück seines Unternehmens, der paläontologisch, aber auch mythologisch begründeten Theorie der ›Zeitsignatur‹ (Punkt 3). Darunter ist eine Stillehre naturhistorischer ›Moden‹ zu verstehen: Durch eine von ihm praktizierte »neuartige Vergleichung der Formen« glaubt Dacqu8 eine »biologische Zeitsignatur für die einzelnen geologischen Epochen« feststellen zu können, die jeweils »sichere Schlüsse auf das Entstehungszeitalter eines Typus, eines Urformenstammes, ja eines einzelnen

55 56 57 58

22. 2. 1942) (Münchener Ausgabe), 5; Edgar Dacqu8: »Leben und Tod«, in: Völkischer Beobachter, Weihnachtsbeilage (24.–26. 12. 1942) (Münchener Ausgabe), o.S.; Edgar Dacqu8: »Wärmezeiten und Eiszeiten in der Erdgeschichte«, in: Völkischer Beobachter (5. 5. 1943) (Münchener Ausgabe), 2. In Horst Kliemanns Bibliographie der Schriften Dacqu8s werden die Artikel unterschlagen (vgl. E. Dacqu8: Werk und Wirkung, 95). Edgar Dacqu8: »Grundsätzliches zur menschlichen Stammesgeschichte«, in: Die Literarische Welt, Jg. 7 (1931), Nr. 20, 3–4, 3f. E. Dacqu8: Urwelt, Sage und Menschheit, 4. Zur heutigen Einschätzung dieser Fossilie vgl. Nicole U. Bender-Oser : Die Aquatile Hypothese zum Ursprung des Menschen. Max Westenhöfer’s Theorie und ihre Bedeutung für die Anthropologie, Med. Diss. Bern 2004, 67, Anm. 46. E. Dacqu8: Urwelt, Sage und Menschheit, 4.

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Organes erlaubt«.59 Konsequenterweise ist die eben erwähnte Cheirotheriumspur der de facto einzige fossile Beleg für Dacqu8s Theorie, die viel eher von der Kunst- und Architekturgeschichte inspiriert erscheint: Die Zeitsignatur repräsentiere als »organische[r] Baustil« den wechselnden »Zeitgeist« des Biologischen.60 Die von Darwin und seinen Anhängern angeführten Argumente für die Abstammungstheorie sind nach Dacqu8 hingegen bloße Konvergenzen, d. h. Ausdruck der Tatsache, »daß unter bestimmten Zeit- und Lebensumständen die nebeneinander bestehenden Typenkreise in konvergenter Weise ein gleichartiges Aussehen ihrer Gattungen, gleichartige Körpergestalt und oft gleichartige Einzelorgane« gewinnen können.61 Die Typenkreise sind gleichartig, weil die Natur einem biologischen Stil folgt. Das ist möglich, weil die »Urform« der Arche- oder Grundtypen keineswegs ein den biologischen Umwelten exponierter, »stammesgeschichtlich neutrale[r] körperliche[r] Anfangspunkt« ist, der zum passiven Objekt einer zufallsgetriebenen Evolution wird.62 Die Urform enthält vielmehr von Anfang an sämtliche »zu einem Typus gehörigen Arten und Gattungen«, stellt also eine »Entelechie« dar, die hinter und »bei allem äußeren evolutionistischen Formenwechsel als das Lebendig-Beständige« vorhanden ist – eine zu Beginn der Schöpfung gegebene und seither stabile innere »Potenz«, aus der die äußeren Gestalten hervorgehen.63 Diese Entelechie ist anthropomorphistisch (Punkt 4), denn der Mensch ist für Dacqu8 »das Maß und das Wesen der Dinge« und er versucht dessen ideale naturphilosophische Substanz hinter den wechselnden organischen Verkleidungen in Form einer Läuterungserzählung zu bestimmen.64 Der Theorie der Zeitsignatur zufolge besitzt der ›Mensch‹ im Paläozoikum (oder Primär) zunächst »amphibische und reptilhaft scheinende Merkmale«, bevor sich »seine Säugetiernatur« im Mesozoikum (oder Sekundär) »deutlicher« enthüllt – als Beuteltier mit beginnender Großhirnentwicklung –; die dritte Phase (Tertiär) zeigt dann einen »affenschaffende[n] Zeitcharakter«, aus dem schließlich »unter Ausstoßung aller nicht zum Quartärtypus gehörenden tierischen Charaktere« der rezente Homo sapiens entsteht.65 Dieses biologische Kostümstück – vom Reptil zum Beuteltier zum Affen zum Menschen oder, mit Dacqu8s Worten: »vom Faun zum Apoll« – ist ziemlich offensichtlich der christlichen Erlösungsvorstellung nachgebildet.66 Dacqu8 beantwortet also die aus seiner Sicht 59 60 61 62 63 64 65 66

Ebd., 53. Ebd., 49 u. I. Ebd., 45. Ebd., 55. Ebd., 56. Ebd., 13. Ebd., 70f. u. 72. Ebd.

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den Menschen bestialisierende darwinistische Evolutionstheorie mit einem symmetrischen Gegenentwurf: der Theorie der Zeitsignatur, die gerade umgekehrt eine im Verlauf der Naturgeschichte stattgehabte Reinigung des Menschen von allem Tierischen behauptet. Die paläontologische – oder zumindest seine Reputation als Paläontologe ausspielende – Begründung der ZeitsignaturTheorie kombiniert Dacqu8 mit einer Deutung der Mythen als Archiv des vorgeschichtlichen Gestaltwandels (Punkt 5). Wie seine Zeitgenossen Sigmund Freud und Carl Gustav Jung glaubt auch Dacqu8, »die Sprache des überindividuellen Gattungswesens« ›Mensch‹ entziffert zu haben und schält einen naturhistorischen ›Wesenskern‹ u. a. aus dem Gilgamesch-Epos, der Ilias, der Edda, dem Nibelungenlied, Maya-Handschriften, Indianersagen und chinesischen Vasenbildern heraus, der die Theorie der Zeitsignatur erwartungsgemäß bestätigt. Zum einen werden den biologischen Baustilen des Menschen Namen verliehen, die sich demonstrativ an die biblische Genesis-Erzählung anlehnen, zum anderen werden ihnen Mytheme zugeordnet, die zuvor aus den narrativen, lokalen und historischen Zusammenhängen der Herkunftstexte herausgerissen worden sind. So wird ein vor- oder »›uradamitische[r]‹ Menschentypus«, den man sich als »Fischmensch« vorzustellen habe, vom Typus des eigentlichen, mythologisch in der Figur des in Drachenblut badenden Siegfrieds dargestellten »Adamit[en]« unterschieden, d. h. eines Amphibien-Menschen, dessen »Körperhaut geschuppt, teils gepanzert« gewesen sein müsse.67 Diese Gestalt habe tatsächlich »unter […] Schrecksauriern« gelebt und daher rede aus der »Überlieferung gefiederter Drachentiere keine Phantasie, sondern unmittelbare Naturwahrheit zu uns«.68 Auf den Adamiten folgt nach Dacqu8 zunächst der reptilartige »›vornoachitische‹« »Menschentypus«, den vor allem ein zu übersinnlichen Wahrnehmungen befähigendes, in einer Öffnung in der Schädeldecke befindliches »Scheitel- oder Stirnauge« auszeichnet, bevor schließlich – je nach Zeitsignatur als Beuteltier oder Affe – der sich aufrichtende Typus des »noachitischen Gehirnmenschen mit spreizbaren Fingern und gewölbtem, völlig geschlossenen Schädel« auftritt, der – wie die Existenz des Alten Testaments und weiterer Flutsagen angeblich unanfechtbar beweisen – »die große Sintflut erlebt« hat und von dem der moderne Mensch in direkter Linie abstammt.69 Dacqu8s Theorie gehört schließlich zu den zyklischen Geschichtsvorstellungen (Punkt 6). Er improvisiert im Anschluss an die Kulturkreislehre Oswald Spenglers und das Paideuma-Modell Leo Frobenius’ eine eigene, die Lehre von den biologischen Zeitsignaturen flankierende Zyklentheorie, derzufolge auf das vollmagische, d. h. telepathisch kommunizierende und psychoki67 Ebd., 93 u. 91. 68 Ebd., 104f. 69 Ebd., 85 u. 88.

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netisch tätige »Urmenschentum« erst eine »titanenhafte Seele« und dann die Verfallsformen der »intellektualistische[n]« »Quartärkultur« folgen,70 bevor der Mensch – wie jeder andere organische Typus auch – »wieder mit Primitivformen seiner eigenen Grundorganisation« von neuem beginnt.71 Dieses Wellen-Modell verlängert Dacqu8 in die Zukunft und verknüpft es mit seiner Theorie der Läuterung des Menschen vom Tier. Dem »mutativ[en]« »Abwerfen der dämonischen Reptilnatur« durch den Adamiten vergleichbar, werde der moderne Noachit einst »den großhirnhaften Intellektualzustand abstreifen« und dadurch vielleicht auch das verlorene Paradies natursichtiger Zustände wiedererlangen: »Vor der ganzen Menschheit liegt […] eine weitere große Weltepoche mit neuen seelischen und körperlichen Möglichkeiten«.72

VI. Es ist angesichts solch atemberaubender Prospekte nur zu verständlich, dass man Dacqu8 nach dem Zweiten Weltkrieg als Phantasten abgetan hat. Historisch gesehen führt dieser Impuls allerdings in die Irre. Nicht, weil sich bei Dacqu8 keine unzweideutig phantastischen Elemente finden ließen, sondern weil es den Blick darauf verstellt, dass auf einen interessierten Beobachter wie Benn auch vieles von dem phantastisch gewirkt haben muss, was in der Zwischenkriegszeit erstmals formuliert oder durchgesetzt worden ist und noch heute zum wahren Wissen zählt – man denke an die Relativitäts-, die Quanten- und die Kontinentalverschiebungstheorie. Damit ist nicht nur gesagt, dass der PhantastikVorwurf ubiquitär verwendet worden ist; dass die Wissenschaftsgeschichte die Unterscheidung wahr/unwahr mit guten Gründen als alleiniges Qualifizierungskriterium aufgegeben hat; oder dass es sich bei allen anthropologischen und kosmologischen Theorien der Moderne um Welterklärungserzählungen handelt, die Mythen und Märchen funktional äquivalent sind. Vor allem wird damit die märchenhaft metamorphotische, die Gestalt der organischen wie der anorganischen Körper verwandelnde Kraft des Evolutionismus um 1900 betont. Beispiele dafür findet man in den biologischen Diskussionen der Zeit auch jenseits der neuralgischen Frage nach der Abstammung des Menschen: Mundund Darmöffnung können in der Entwicklung vertauscht, Organe zwischen Arten ›zitiert‹ oder umgebaut werden; Wassertiere gehen an Land, Flossen verwandeln sich in Füße, Kiemen in Lungen, Säugetiere kehren ins Meer zurück. Entscheidend dürfte also weniger die – von Benn oder jedem anderen Laien 70 Ebd., 247 u. 249. 71 E. Dacqu8: »Grundsätzliches zur menschlichen Stammesgeschichte«, 3. 72 E. Dacqu8: Urwelt, Sage und Menschheit, 275f. u. 250.

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kaum zu beurteilende – Richtigkeit dieser Theorien sein als das für das Wissen der Moderne symptomatische ›Ins-Fließen-Geraten‹ des festen Landes, die der vom Evolutionismus in allen seinen anderen Gestalten nahe gelegten permanenten Verwandlung von Pflanzen, Tieren und Kulturen korrespondiert – eine Flucht der Erscheinungen, die Benn mit Hilfe Dacqu8s als tödliches Gesetz des Lebens auf den Nenner bringt. Der Ich-Erzähler in Urgesicht richtet »[s]eine Gedankengänge« deshalb auch »auf das Tierreich«, nachdem Ohrenarzt und Säufer abgehandelt sind.73 Das Leben will sich erhalten, aber das Leben will auch untergehen, immer klarer begriff ich diese chthonische Macht. Richtete ich meine Gedankengänge auf das Tierreich, die Gattung, das Kommen und Sterben der Typen, so hatten natürlich hereinbrechende Meere in geologisch kurzer Zeit ganze Rassenteile abgeschwemmt und die ungeheuren Aschenregen vulkanischer Ausbrüche große Tiergemeinschaften erstickt; aber gerade das Aussterben von Typen, das Vergehen von Einheiten hatten diese geologischen Ereignisse nie bewirkt.74

Profane Überschwemmungen und Vulkanausbrüche sind für Dacqu8 den von Darwin zur Erklärung der Evolution der Arten ins Spiel gebrachten ›äußeren‹, d. h. umweltbedingten Faktoren viel zu nahe. Benn, dem um 1930 alle Milieutheorien ebenso verdächtig sind, kann sich deshalb darauf beschränken, das Mundstück des paläontologischen Platonikers zu spielen, dessen Kapitel über »Das Sterben und Kommen der Typen« aus Leben als Symbol an dieser und den folgenden Stellen ausgeschrieben wird.75 »Das Aussterben von Typen und nicht weniger das gleichzeitige spontane Erscheinen von neuen«, heißt es in Urgesicht weiter, »stellte sich immer mehr als ein erdgeschichtliches Faktum dar, das den Eindruck einer einheitlichen inneren Ursache machte.«76 Hereinbrechende Meere und ungeheure Aschenregen können also genauso wenig für den Tod von Arten verantwortlich sein wie Anpassung und Selektion für das »gleichzeitig[e]«, d. h. symbiotische Erscheinen und Verschwinden von »Blütenpflanzen«, »Schmetterlinge[n] und honigsaugende[n] Formen« oder von »bestimmten 73 74 75 76

G. Benn: »Urgesicht«, 206. Ebd., 205f. E. Dacqu8: Leben als Symbol, 137. G. Benn: »Urgesicht«, 206. Vgl. die – von Benn nicht angestrichene – Stelle bei E. Dacqu8: Leben als Symbol, 138: »Alle jene Erklärungen beseitigen also nicht die Tatsache, daß auch ohnedies das Aussterben von Typen und das gleichzeitige Erscheinen von neuen ein erdgeschichtliches Faktum ist, das den Eindruck einer einheitlichen inneren Ursache macht.« Auf den Folgeseiten unterstreicht Benn in seinem Handexemplar, dass »[m]an […] vergeblich versucht« habe, »die großen Veränderungen der Erdoberfläche und des Klimas auf rein innerirdische Ursachen zurückzuführen« (Ebd., 143, Deutsches Literaturarchiv Marbach); zudem streicht er an, dass sich Leben und Erdoberfläche »gleichzeitig und gleichsinnig« wandelten und eben »nicht das eine die äußerliche ›Ursache‹ des anderen« sei (Ebd., 144, Deutsches Literaturarchiv Marbach).

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riffbauenden Korallen« und der »an ihren Riffen hausenden und mit ihnen in Lebensgemeinschaft wohnenden Stachelhäuter und Krebse«.77 Das Gesetz des Lebens, so Benn mit Dacqu8, hat keinen »Bezug auf elementare Ereignisse« oder »Milieuveränderungen«, es ist »keiner Erklärung zugängig, nur als Phänomen von innen her zu deuten.«.78 Fähig zur Innendeutung des Auf- und Abtretens all der Schmetterlinge, Korallen, Stachelhäuter und Krebse ist allein der Paläontologe – und ein sich auf diesen berufender Schriftsteller : »Eine erlöschende Formspannung, ein Altern, eine Abnahme an Zahl und Lebensraum auf der einen, ein Quellen und Dasein auf der anderen Seite schien sich auszusprechen: eine Polarität des Gestaltungsdrangs, eine innere Spannung zwischen den Formenzügen vorzuliegen«.79 Das ist das letzte in Urgesicht nachweisbare Zitat aus Leben als Symbol, allerdings nicht das letzte Dacqu8-Zitat insgesamt in diesem Text, denn nach einer halben Seite reiner Exzerpt-Prosa schwingt sich Benn zu einer poetischen Paraphrase der Zeitsignatur-Theorie von bemerkenswerter Schönheit auf: [I]n Schalen, von Göttern gehalten, schien das Dasein zu ruhn, einmal war dort mehr Wasser und einmal dort mehr Land, hier eine Koralle und dort ein Muscheltier, ruhend am Fuß, steigend und fallend um die Gestalt des Menschen, der Tiere ausströmte und Pflanzen abspaltete, er, unentrinnbar in Gewalten eines weiteren Geschehens, der Schalenträger und ihrer Ferne –:80

Dieser kosmologische Entwurf erweitert und übersetzt nicht nur die Zeitsignatur-Theorie – anders als bei Dacqu8 entlässt der Mensch neben den Tieren auch noch die Pflanzen aus seiner Entelechie – in der Absicht, mit dem Darwinismus die ideologische Grundlage des in Urgesicht beklagten (und vom oben 77 Ebd. Vgl. die – nicht angestrichene – Stelle bei E. Dacqu8: Leben als Symbol, 140f.: »So treten in der Erdgeschichte gleichzeitig mit den Blütenpflanzen die Schmetterlinge und honigsaugenden Formen auf; mit bestimmten riffbauenden älteren Korallen verschwinden die an ihren Riffen hausenden und mit ihnen in Lebensgemeinschaft wohnenden Stachelhäuter und Krebse, wie sie auch mit ihnen gekommen waren und wie mit den neuen Korallenformen des Erdmittelalters auch neue Typen der genannten Mitlebenden zusammen erscheinen.« 78 Ebd. Vgl. die – unterstrichene – Stelle bei E. Dacqu8: Leben als Symbol, 139, Deutsches Literaturarchiv Marbach: »Dieses Aussterben von Formen und Formenreihen – und auch jenes ohne ersichtliche äußere Gründe – macht nun ganz den Eindruck eines Vorganges von innen her.« 79 Ebd. Diese Passage baut Benn aus zwei Stellen zusammen: Erstens aus Dacqu8s – unterstrichener – Behauptung, dass wahrscheinlich »die erlöschende Formspannung, in lebendiger Analogie zum Gesetz des Alterns der Individuen, selbst das Aussterben mit sich« bringe (E. Dacqu8: Leben als Symbol, 139, Deutsches Literaturarchiv Marbach; am Seitenrand zusätzlich mit »!« glossiert); zweitens Dacqu8s bei Goethe ausgeliehenes – und von Benn angestrichenes – Konzept der »›polare[n] Verwandtschaft‹«, das einen »inneren Spannungszustand zwischen Wesen verschiedener Gestaltung bezeichne[n]« soll (Ebd., 142, Deutsches Literaturarchiv Marbach). 80 Ebd.

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erwähnten Ohrenarzt und anderen »Keimblattmarxist[en]« allegorisch vertretenen) »sogenannten Siegeszug[es] der modernen Biologie« zu treffen.81 Er schreibt im Anschluss an den Dacqu8’schen Anthropozentrismus der »Gestalt des Menschen« auch ausdrücklich eine Mittler- und Sonderstellung zwischen den Göttern und allen anderen, zu seinen Füßen entweder »ruhend[en]« oder »steigend[en] und fallend[en]« Geschöpfen zu, d. h. nimmt ihn von der großen Relativierungsgeste aus, die im Verweis auf die unter den kalten Ewigkeitsaugen ferner »Schalenträger« vollkommen kontingent erfolgende Verteilung von »Wasser und […] Land«, »Koralle[n] und […] Muscheltier[en]« steckt.82 Auf die Zeitsignatur-Theorie – bzw. ihre mythologische Begründung – bezogen sind auch die »grauenvolle[n] Erinnerungen des Geschlechts«, von denen der IchErzähler in Urgesicht zu berichten weiß.83 Sie gelten »Katastrophen, die latent waren, Katastrophen, die vor dem Worte lagen« und die im »nach rückwärts verschleierten Gedächtnis« des Menschen als das »Zwitterhafte, Tiergestaltige, Sphinxgebeutelte84 des Urgesichts« gespeichert sind.85 Die Funktion der Auflistung der Zeitsignaturen liegt auf der Hand: Benn verfremdet den Homo sapiens, in der Hauptsache aber die deutsche Gesellschaft der Zwischenkriegszeit zu einer – so heißt es im Folge-Essay Der Aufbau der Persönlichkeit (1930) mit dem ebenfalls auf Dacqu8 verweisenden Untertitel Grundriss einer Geologie des Ich – »erdgeschichtliche[n] Tiersignatur«.86 Wie alle vorangegangenen »geologischen Epoche[n]« auch stehe »unsere jetzige-organische Äone« im Bann eines »Leitorgan[s]«, nämlich des »Großhirn[s]«, das »[b]eim Aufgang des Quartär […] bei allen Säugern […] zu wachsen« begonnen und die »Großhirnstunde« heraufgeführt habe, »die an den Menschen ging«, d. h. an die rezente Erscheinungsform seiner Entelechie.87 Das Gehirn löst vermeintlich frühere Zeit- oder Tiersignaturen respektive Leitorgane des ›Menschen‹ wie Schwimmhaut, Schuppenpanzer, Beutel oder Scheitelauge ab, stellt aber keine kontinuierliche Entwicklung im darwinistischen Sinne dar, sondern bloß das jeweilige »Wogen eines großen organischen Motivs, das jedesmal durch alle tierischen Formen der gleichen geologischen Periode ging, im Wirken einer Spannung, die alle gleichzeitig lebenden zoologischen Gestalten aus ihrem Artenkern heraus zu

81 82 83 84

Ebd., 208. Ebd., 206. Ebd., 211. Das Wort verknüpft wohl die mythologische Inkarnation des Rätsels mit der Zeitsignatur des Beuteltiers. 85 Ebd., 210f. 86 Gottfried Benn: »Der Aufbau der Persönlichkeit. Grundriss einer Geologie des Ich«, in: ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe: Bd. 3, hg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 1987, 263–277, 277. 87 Ebd.

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neuen körperlichen Lagen und Funktionen trieb.«88 Während die Auflösung der ›Fortschritts‹-Konzeption im »Wogen eines großen organischen Motivs« das bei Paläontologen beliebte Wellen-Modell des Lebens aufgreift,89 führt von der phantasmagorischen Schilderung der Zeitsignaturen-Abfolge ein direkter Weg zum Theorem der Unaufhörlichkeit, das in Benns Einführenden Worten (1932) anlässlich der Ausstrahlung seines gleichnamigen Oratoriums für Paul Hindemith – Benns Anti-Dreigroschenoper – im Radio ausdrücklich mit »d[em] Unaufhörliche[n] des Gestaltwandels« begründet wird.90 Darin liegt auch eine – 1933 ins Fatale ausschlagende – Zukunftsperspektive, nämlich die Hoffnung auf eine Mutation, d. h. auf eine »unausdenkbare Verwandlung« des Menschen und seine Unterstellung unter »neue Leitorgane«,91 die Benn ebenfalls von Dacqu8 übernimmt – nicht zuletzt deshalb, um die 1930 von der politischen Linken und Rechten, aber auch von vielen Ingenieuren, Architekten, Biologen und Künstlern ventilierten Programme zur Schaffung eines ›Neuen Menschen‹ durch die Konstruktion einer paläontologischen Ewigkeitsperspektive zu überbieten und die Forderung nach engagierter Literatur ins Leere laufen zu lassen. Stattdessen wird umgekehrt die Theorie der Zeitsignatur zu einer Literaturtheorie zweckentfremdet, denn – so heißt es in Zur Problematik des Dichterischen – anders als die verbreiteten »soziologische[n] Theorie[n] des Dichterischen« annehmen, taugt für die schriftstellerische Darstellung des »moderne[n] Menschen« nach Benn allenfalls das »archaisch[ste]« »Ausdrucksmittel«92 überhaupt: die »Sage«.93

88 Ebd. 89 Ebd. Vgl. P. J. Bowler : Life’s Splendid Drama, 318f. 90 Gottfried Benn: »Einführende Worte anlässlich einer Rundfunksendung, ausgestrahlt am 13. Mai 1932«, in: ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe: Bd. 7/1, hg.v. Holger Hof, Stuttgart 2003, 211–213, 212. 91 G. Benn: »Der Aufbau der Persönlichkeit«, 277. 92 Gottfried Benn: »Zur Problematik des Dichterischen«, in: ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe: Bd. 3, hg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 1987, 232–247, 232f. 93 G. Benn: »Der Aufbau der Persönlichkeit«, 277. Es ist eine Ironie der Literaturgeschichte, dass ausgerechnet Benns Versuch, sich durch das Einverständnis mit dem paläontologisch vermeintlich erwiesenen Gesetz des Lebens gegen »Chaos« und »Paradoxie« (G. Benn: »Urgesicht«, 203) der mitteleuropäischen Zwischenkriegszeit zu immunisieren, zum Ausgangspunkt aller literaturpolitischen Kämpfe geworden ist, in die sich Benn zwischen 1929 und 1934 verstrickt hat, auch wenn man Urgesicht natürlich nicht auf diese weitgehend rezeptionsgeschichtlich zustande gekommene politische Dimension reduzieren kann. Eine hymnische Besprechung des Textes durch Max Herrmann-Neiße führt 1929/30 zu einem öffentlichen Konflikt mit den Kommunisten Egon Erwin Kisch und Johannes Becher ; von wo aus es dann nicht mehr weit ist bis zu den Querelen um Benns Geburtstagsrede für Heinrich Mann 1932, bis zu den Auseinandersetzungen in der Preußischen Akademie der Künste und schließlich bis zu Benns öffentlichem Eintreten im Frühjahr 1933 für das nationalsozialistische Regime.

Lukas Mairhofer

»mit der feuerzange« – Brechts Kaukasischer Kreidekreis und das Messproblem der Quantenphysik

Brecht und Reichenbach 1942 ist kein gutes Jahr für Bertolt Brecht. Soeben an der letzten Station seiner Flucht vor dem Nationalsozialismus angekommen, findet er sich in Kalifornien isoliert und ohne Aussicht auf die Realisierung neuer Theaterpläne.1 Hollywood wird vom verzweifelt erfolglosen Autor als »huge gambling casino« bezeichnet und seine eigene Arbeit als Roulettespiel.2 In dieser Situation beginnt Brecht eine intensive Diskussion über Beobachtung und Kausalität mit einem seiner Nachbarn in Hollywood. Diese Gespräche wurden in der Brecht-Forschung kaum beachtet. Das liegt daran, dass der logische Empirismus des Nachbarn unvereinbar scheint mit einem leninistischen Marxismus, dem Brecht im Kalten Krieg zugerechnet wurde. Erst nach 1990 sind einige Artikel zu diesem Thema erschienen.3 Der Nachbar war der Physiker und Philosoph Hans Reichenbach. Neben dem Komponisten Hanns Eisler und dem Schriftsteller Lion Feuchtwanger dürfte Reichenbach einer der – nicht allzu zahlreichen – Bekannten gewesen sein, mit denen Brecht sich in L.A. gut verstand.4 Hanns Eisler berichtet, dass er Reichenbach »sehr oft« bei Brecht traf.5 Dennoch ist auch Reichenbach Brechts spöttische Kritik nicht erspart geblieben: Im Tui-Roman, Brechts böser Satire auf die Intellektuellen der Weimarer Republik, tritt er als Bo-en-reich auf. 1 Vgl. James K. Lyon: Bertolt Brecht in America, Princeton 1980, 35ff. 2 Vgl. ebd. 3 Vgl. Ulrich Sautter : »›Ich selber nehme kaum noch an einer Diskussion teil, die ich nicht sogleich in eine Diskussion über Logik verwandeln möchte.‹ Der Logische Empirismus Bertolt Brechts«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 43,4 (1995), 687–709. Elisabeth Emter : Literatur und Quantentheorie. Die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren (1925–1970), Berlin, New York 1994, 163–179. Lutz Danneberg, Hans-Harald Müller : »Brecht and Logical Positivism«, in: Essays on Brecht. The Brecht Yearbook, Jg. 15 (1990), 151–163. 4 U. Sautter : »›Ich selber nehme kaum noch an einer Diskussion teil«, 692f. 5 Vgl. Hans Bunge: Fragen Sie mehr über Brecht. Hanns Eisler im Gespräch, München 1970, 190.

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Tatsächlich hat Reichenbach eine zentrale Rolle im intellektuellen Leben der Weimarer Republik gespielt. Einer von nur fünf Studenten, die 1919 Albert Einsteins erste Vorlesung über die allgemeine Relativitätstheorie hörten, wurde er rasch einer der wichtigsten Verfechter der neuen Lehre der Raumzeit und ihrer Krümmung durch Massen.6 Die Theorie Einsteins war noch keineswegs allgemein anerkannt, sondern Gegenstand erbitterter Auseinandersetzungen. Nach dem Studium der Physik und Philosophie wurde Reichenbach zu einem wichtigen Denker des logischen Empirismus und übernahm die Leitung der Berliner »Gesellschaft für wissenschaftliche Philosophie«, dem Pendant zum Wiener Kreis.7 Die Relativitätstheorie hatte aufsehenerregend demonstriert, dass Naturgesetzen keineswegs jene unumstößliche Gültigkeit a priori zukommt, die Kant postuliert hatte. Im Gegenteil können sie durch Erfahrung widerlegt werden. Das Induktionsproblem spielt deshalb eine zentrale Rolle in Reichenbachs Philosophie: Wie lassen sich aus den Beobachtungen von Einzelfällen sichere und allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten ableiten, wenn doch nie ausgeschlossen werden kann, dass in der Zukunft ein Gegenbeispiel auftritt. Anders als seine KollegInnen vom Wiener Kreis gibt Reichenbach aber die Möglichkeit nicht auf, Gesetzmäßigkeiten durch Induktion festzustellen. Allerdings gelten diese Gesetze nur mehr mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit – die Vorhersagen über den Ausgang eines Experiments sind nur »the best bet the scientist can make«8. 1933 wurde Reichenbach aufgrund des »Gesetzes zur Wiederherstellung des deutschen Berufsbeamtentums« von der Universität vertrieben und ging zunächst in die Türkei, einige Jahre später in die USA ins Exil.

Der verlorene Vortrag Hier, in Los Angeles, beginnt zwischen dem Dramatiker und dem PhysikerPhilosophen nun eine Diskussion über das Induktionsproblem und die Frage der Kausalität. Auslöser ist ein »vortrag reichenbachs an der universität kaliforniens über determinismus«9, den Brecht am 17. März 1942 im Arbeitsjournal vermerkt. Unter den ZuhörerInnen befinden sich neben Brecht auch Adorno

6 Vgl. Karin Gerner : Hans Reichenbach. Sein Leben und Wirken. Eine wissenschaftliche Biographie, Osnabrück 1997, 35. 7 Vgl. K. Gerner : Hans Reichenbach. Sein Leben und Wirken. 8 Vgl. Hans Reichenbach: Philosophy and Physics. Faculty Research Lecture, University of California, Los Angeles. Delivered March 25, 1946, Berkeley, Los Angeles 1948, 12. 9 Bertolt Brecht: Arbeitsjournal, Frankfurt/Main 1973, 387.

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und Horkheimer.10 Der Vortrag selbst ist nicht erhalten. Brechts Notiz fasst den Inhalt zusammen: unser system von gründen ist begrenzt durch eine art von reproduzierbarkeit, die einstein einmal so ausdrückte: er machte mit seinem finger einige sehr unregelmäßige und rythmisch unstabile bewegungen und sagte: wenn die gestirne sich zb so bewegten, gäbe es keine astronomie (obwohl sie zweifellos ihre guten gründe hätten.)11

Das »system von gründen« bezeichnet einen Satz von Axiomen oder Elementarsätzen und verweist auf Wittgensteins sprachlogische Fassung der Wahrscheinlichkeit: Die Wahrscheinlichkeit eines Satzes kann nur im Kontext anderer Sätze bestimmt werden. Die Wahrheitsgründe eines Satzes sind dann durch jenes System von Elementarsätzen gegeben, in welchem der Satz wahr ist.12 Reichenbach weist nun darauf hin, dass diese Elementarsätze in der Erkenntnis auf ein Reales bezogen werden müssen. Diese Beziehung kann nur hergestellt werden, wenn das Objekt der Beobachtung durch ein »system von gründen« reproduziert werden kann. Einsteins zuckender Finger verweist wohl auf dessen Erklärung der Brownschen Bewegung: In einer Flüssigkeit zittern Staubpartikel scheinbar völlig zufällig hin und her. Diese Bewegung konnte Einstein durch Stöße mit den Molekülen der Flüssigkeit erklären und gesetzmäßige Zusammenhänge zwischen der Zähigkeit und Temperatur der Flüssigkeit und dem Verhalten der Partikel nachweisen.13 Damit war ein System von Elementarsätzen gefunden, welches erlaubt, die Zitterbewegung zu reproduzieren. Die Teilchen folgen einer Bahn, die streng kausal, durch einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Ursache und ihrer Wirkung, bestimmt ist. Von dieser Überlegung, die explizit Einstein zugeordnet wird, geht Reichenbachs Vortrag nun zur Quantenmechanik über. die philosophen werden irritiert durch den heisenbergsatz, nach dem raumpunkt und zeitpunkt nicht koordiniert werden können.14

Mit der Heisenbergschen Unschärferelation wird beschrieben, dass kinetische und dynamische Größen eines Teilchens nicht gleichzeitig exakt bestimmt werden können. So schließt zum Beispiel die Messung des momentanen Ortes 10 Vgl. Robert Cohen: »Brechts ästhetische Theorie in den ersten Jahren des Exils«, in: Helga Schreckenberger (Hg.): Ästhetiken des Exils, Amsterdam 2003, 55–70, 70. 11 B. Brecht: Arbeitsjournal, 387. 12 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt/Main 1963, 54ff. 13 Albert Einstein: »Über die von der molekularkinetischen Theorie der Wärme geforderte Bewegung von in ruhenden Flüssigkeiten suspendierten Teilchen«, in: Annalen der Physik, Jg. 17 (1905), 549–560. 14 B. Brecht: Arbeitsjournal, 387.

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eines Teilchens aus, dass sein Impuls und daher sein zukünftiges Verhalten genau bekannt ist. Daher ist in der Quantenmechanik der klassische Begriff der Bahn eines Teilchens nicht mehr »praktikabel«: Wie wir im Folgenden sehen werden, ist es nicht mehr möglich, ihn auf die Wirklichkeit zu beziehen, ein experimentelles Verfahren zu seiner Bestimmung anzugeben.

Die beiden ausgesprochen miserablen Photographien habe ich während des Grundpraktikums für PhysikerInnen aufgenommen. Es sind die besten aus einer ganzen Serie von Versuchen. Die mangelnde Qualität macht im Übrigen deutlich, dass das Ergebnis eines wissenschaftlichen Experiments nicht einfach abgelesen werden kann, sondern dass es zu seiner Herstellung ebenso wie zu seiner Abbildung einiger Erfahrung bedarf, damit es überhaupt einigermaßen lesbar ist. Der/die angehende PhysikerIn sieht auf der linken Aufnahme eine Nebelkammer, in die wir von oben durch eine Glasscheibe blicken. Die vertikal verlaufenden dünnen Linien bilden Drähte ab, die Abstände markieren. Der horizontale helle Balken rechts ist eine a-Strahlungsquelle, nämlich ein Radiumpräparat, aus welchem als Spaltprodukte des radioaktiven Zerfalls zweifach positiv geladene Heliumkerne austreten, also zwei Neutronen verbunden mit zwei Protonen, denen die Elektronenhülle fehlt.15 Diese nackten Heliumkerne geraten in eine sorgfältig präparierte Umgebung: Der Boden des Tanks wird mit flüssigem Stickstoff gekühlt, während die Deckplatte Zimmertemperatur hat. In der Nähe der Deckplatte befindet sich ein Reservoir mit Methanol, welches verdunstet und in dem Temperaturgefälle nach unten sinkt. Durch die starke Abkühlung bildet sich ein übersättigter Methanoldampf. Ein übersättigtes System hat den Punkt, an dem ein Phasensprung stattfinden kann, bereits überschritten und ist höchst instabil – der Dampf kann beim geringsten Anstoß wieder kondensieren. Außerdem liegt an der Nebelkammer ein elektrisches Feld 15 Vgl. Gerhard Musiol: Kern- und Elementarteilchenphysik, Thun 1995, 103ff. und Friedrich Kohlrausch: Praktische Physik, Bd. 2, Stuttgart 1968, Kapitel 7.

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an, durch welches die Teilchen nach dem Austritt aus der Strahlungsquelle mit einer Saugspannung von 750 Volt beschleunigt werden. Keine Angst, wir rechnen diese Spannung später aus unserem Ergebnis wieder heraus – aber ohne sie würden wir kaum etwas von dem sehen, was auch jetzt unter den Schlieren und Fusseln des ersten Bildes wie zufällige Kratzer auf der Glasscheibe wirkt. Auf der unscharfen Nahaufnahme rechts ist es deutlicher zu erkennen: Der feine Sprühregen, der aus dem Radiumpräparat austritt – das sind die »Bahnen« der Protonen-Neutronen-Paare. Diese Spuren der Teilchen werden in der Nebelkammer sichtbar, weil sie die Methanolmoleküle ionisieren, ihnen Elektronen entziehen. Dies läßt den übersättigten Dampf kondensieren und es bilden sich kleine Tröpfchen. The essential point of these methods is that the position of the particle is indicated by the ionization of an atom;16

Die ionisierten Moleküle bilden aber weder eine kontinuierliche noch eine exakte Trajektorie, wie sie die klassische Physik annimmt. Die Tropfen hängen nämlich nicht zusammen, sie bilden nur eine diskrete Abfolge von Orten; sie sind auch viel größer als das Teilchen selbst und zeigen daher den Aufenhaltsort der Heliumkerne nur ungenau an. Es fällt weiter auf, dass die Bahnen nach einigen Zentimetern enden. Dies liegt daran, dass die Stöße mit dem Methanoldampf die Teilchen abbremsen. Ohne Stöße würden die Teilchen sich anders verhalten – aber ihre Bewegung wäre nicht mehr beobachtbar. Jede Messung besteht aus einer Wechselwirkung zwischen dem Objekt und dem beobachtenden System und beeinflußt daher den untersuchten Vorgang, wie Brecht an anderer Stelle notiert: So beobachten wir nicht das normale Leben der mikrokosmischen Welt, sondern ein durch unsere Beobachtung verstörtes Leben. In der sozialen Welt scheinen nun ähnliche Phänomene zu existieren.17

Das Ergebnis der Messung hängt daher nicht nur vom untersuchten Gegenstand ab, sondern auch von seiner Untersuchung. In der Quantenmechanik zeigt sich, dass bestimmte Größen nicht gleichzeitig exakt bestimmt werden können. Dies wird in der Heisenbergschen Unschärferelation formuliert und gilt zum Beispiel für Ort und Impuls. Die gleichzeitige Bestimmtheit von Ort und Impuls ist aber die Voraussetzung des klassischen Bahnbegriffs, in welchem »raumpunkt und zeitpunkt« koordiniert werden. In Reichenbachs Vortrag wird nun die Unschärferelation auf ihre erkenntnistheoretischen Konsequenzen abgeklopft. Brecht notiert: 16 Werner Heisenberg: The physical Principles of the Quantum Theory, Chicago 1930, 24. 17 Bertolt Brecht: »Flüchtlingsgespräche«, in: ders.: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Bd. 14, Frankfurt/Main 1967, 1381–1515, 1420.

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selbst wenn man damit eine grenze aufgezeigt hätte, über die hinaus die beschreibungsmethoden prinzipiell nicht mehr ›verbessert‹ werden können, bliebe es für die philosophen immer noch eine frage der beschreibungsmöglichkeit, so daß ihr satz, daß nichts ohne grund geschieht, eben erhalten bleibt.18

Aufgrund von Heisenbergs Relation weist das Ereignis selbst eine gewisse Unschärfe auf. Das hat selbstverständlich Konsequenzen für die Kausalität. Statt der eindeutigen Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung, wie sie in der klassischen Physik angenommen wird, arbeitet die quantenmechanische Beschreibung mit einer statistischen Kausalität: Eine Ursache hat viele, allerdings keineswegs beliebige mögliche Ergebnisse. In der Quantenmechanik finden wir sehr wohl eine gewisse Regelmäßigkeit, wenn wir viele Teilchen betrachten. Allerdings lässt sich das Resultat der Messung an einem einzelnen Teilchen nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit voraussagen. Die Wellenfunktion, welche es beschreibt, enthält mehrere mögliche Zustände – für das einzelne Teilchen ist eine Voraussage, welchen dieser Eigenzustände es annimmt, völlig aussichtslos. Es kann keine Ursache für die Wahl eines bestimmten Zustandes festgestellt werden – in der quantenmechanischen Beschreibung muß daher der »satz, daß nichts ohne grund geschieht« aufgegeben werden, wie Brecht abschließend festhält: von den physikern wird er umgestoßen durch den nachweis seiner leere; sie lassen ihn sozusagen, indem sie ihn verlassen. prinzipiell unerkennbare gründe sind für sie keine gründe.19

Diese Konsequenz ist zu dieser Zeit aber heftig umstritten. Nicht nur »die philosophen« gehen von einer Situation aus, wie sie Einsteins zuckender Finger beschreibt: Das Streben nach möglichst einfachen Begründungszusammenhängen könnte der Realität nicht angemessen sein – für Phänomene, deren Regelmäßigkeiten wir nicht erkennen, können wir keine Regeln aufstellen. Das bedeutet aber nicht, dass nicht streng kausale Ursachen hinter den beobachteten Ereignissen stecken. Einstein, Podolsky und Rosen postulieren daher 1935 in ihrem berühmten Artikel,20 dass die Quantenmechanik unvollständig ist und in der Wirklichkeit weitere Faktoren existieren, welche das Verhalten des Teilchens beeinflußen und das Ergebnis der Messung festlegen und damit die strenge Kausalität retten. Diese Faktoren werden als »versteckte Variable« (hidden variables) bezeichnet. Die Debatte, ob solche »prinzipiell unerkennbare gründe« in der Physik existieren, treibt die Entwicklung der Quantenmechanik bis heute an. 18 B. Brecht: Arbeitsjournal, 387. 19 Ebd. 20 Albert Einstein, Boris Podolsky, Nathan Rosen: »Can quantum-mechanical description of physical reality be considered complete?«, in: Physical Review, Jg. 47/10 (1935), 777–780.

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0.1 diskussion mit adorno etc. Zwischen Brecht, Reichenbach sowie Horkheimer und Adorno hat sich nach diesem Vortrag eine längere und polemische Diskussion entwickelt. Reichenbach wurde auf diese Art zu einem Bindeglied zwischen zwei Gruppen von EmigrantInnen, die ansonsten inhaltlich und persönlich weniger Berührungsals Konfliktpunkte hatten: Dem Kreis um Brecht und den Mitgliedern des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Diese seltsame Konstellation nahm das Gespräch nach dem Ende der Ausgangssperre, die Ende März 1942 für ImmigrantInnen aus Feindländern verhängt worden war, wieder auf. Allerdings hatten sich die Fragestellungen nun verschoben. Im Sommer 1942 wurden mehrere Diskussionsrunden zu kulturellen und politischen Fragestellungen veranstaltet, etwa über Aldous Huxleys Brave New World.21 Anders als die späteren Gespräche ist leider die erste Auseinandersetzung um die Kausalität der Mikrophysik nicht protokolliert worden. Das Arbeitsjournal bildet daher die einzige Quelle zu dieser Diskusson. Brecht nahm die Debatte mit dem Frankfurter Institut jedenfalls nicht schwer – er notiert lapidar : »horkheimer und adorno grübeln noch über reichenbachs vortrag.«22 Die Einwände der beiden Sozialforscher richten sich allerdings auch primär gegen Reichenbach: diese verkündigung der physiker, daß sie im mikrokosmos vorgänge entdeckt haben, in welche die uns bekannten kausalen verknüpfungen nicht mehr installiert werden können, reizt sie sichtlich, weil die physiker gleichzeitig zum angriff übergehen und das postulat nach einer anerkennung des kausalgesetzes auch da, wo es prinzipiell nicht aufgestellt werden kann, verächtlich der metaphysik überreichen – mit der feuerzange. die philosophen beharren darauf, daß man sich gründe vorstellen kann, die man sich nicht vorstellen kann. die physiker fühlen sich anscheinend irritiert durch die zumutungen der strikten kausaliker und sind dazu übergegangen, mit dem wahrscheinlichkeitskalkül weiterzuarbeiten.23

Das Wahrscheinlichkeitskalkül hatte Reichenbach bereits in der Zwischenkriegszeit verwendet, um zu beschreiben, wie Induktionsschlüsse möglich sind, die zu statistischen Gesetzmäßigkeiten führen. Weil Gesetze stets eine Abstraktion darstellen, können im Experiment jene Faktoren, die im Gesetz ver21 Vgl. B. Brecht: Arbeitsjournal, 510, 517 u. Max Horkheimer : »[Diskussionen aus einem Seminar über die Theorie der Bedürfnisse] (1942)«, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 12: Nachgelassene Schriften 1931–1949, hg. v. Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt/Main 1985, 559–586. 22 B. Brecht: Arbeitsjournal, 388. 23 Ebd.

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nachlässigt wurden, das Ergebnis maßgeblich verändern. Die ganze Kunst des Experiments besteht darin, diese störenden Einflüsse auszuschalten. Während aber in der klassischen statistischen Mechanik Ereignisse auch ganz sicher beziehungsweise unmöglich sein können, ist in der Quantenmechanik eine sichere Vorhersage prinzipiell unmöglich. Denn nun resultiert die statistische Verteilung der Ergebnisse der Experimente nicht aus der Abstraktion, sondern daraus, dass die Wirkung einer Ursache kontingent geworden ist. Um mehrere mögliche Wirkungen einer Ursache gleichzeitig denken zu können, ist eine ganz neue Logik notwendig. Die aristotelische Form des Schließens erlaubt nämlich nur eine Verknüpfung, bei der eine Ursache eine bestimmte Konsequenz entweder hat oder eben nicht. Diese Logik kennt nur ein Ja oder ein Nein, nicht jedoch ein Ja und Nein. Reichenbach entwickelt deshalb eine dreiwertige Logik, indem er den Wahrheitswert »unbestimmt« einführt und entsprechende logische Operationen definiert. Damit hofft er, die logischen Probleme der Quantenmechanik in den Griff zu bekommen.24 In der folgenden Woche »grübelt« auch Brecht offenbar »noch über reichenbachs vortrag«. Brecht beginnt, andere Physiker zu studieren.25

»einteilung in wirkungsquanten« Denn auch für Brecht stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Einzelfall und Gesetz. Anders als Reichenbach geht es ihm um die Beziehung zwischen den Einzelnen und der Gesellschaft. In der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Individuum und Masse hatte er bereits in den 1930ern auf die statistische Kausalität der Physik verwiesen: Etwas vereinfachend: wir können bei unseren Zuschauern eine Haltung nicht brauchen […], die dem Individuum gegenüber […] ständig auf eine absolute Kausalität ausgeht, statt, wie die Physiker sagen, auf statistische. Wir müssen in gewissen Lagen mehr als eine Antwort, Reaktion, Handlungsweise erwarten, ein Ja und ein Nein; […]26

24 Vgl. Hans Reichenbach: Philosophic Foundations of Quantum Mechanics, Berkeley, Los Angeles 1965. 25 B. Brecht: Arbeitsjournal, 397. 26 Bertolt Brecht: »Über eine nichtaristotelische Dramatik«, in: ders.: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Bd. 15, Frankfurt/Main 1967, 272–336, 279f.

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Die »marxistische Lehre«27 beschreibe zwar, so kritisiert Brecht, die Gesetzmäßigkeiten der »Bewegung sehr großer Einheiten von Menschen«, sagt aber wenig über das »Verhalten der einzelnen untereinander«.28 Die Unschärfe, welche der konkrete Fall gegenüber dem allgemeinen Gesetz aufweist, ermöglicht es Brecht, »den Fuß in die Tür des Objektivismus zu kriegen«29 und öffnet den Raum für das Eingreifen der Subjekte in die historischen Vorgänge. Auch Brecht verlangt eine Logik des Ja und Nein, um die möglichen Reaktionen auf eine Situation gleichzeitig denkbar zu machen. In seiner Ästhetik erzeugt Brecht die Möglichkeit für eine Intervention des Publikums durch den Verfremdungseffekt. Der kontingente Schnitt zwischen BeobachterIn und Objekt wird dabei thematisiert durch einen »Chock«30 (Benjamin), einen »Ruck«31 (Barthes), also durch die Einteilung der Handlung in »Wirkungsquanten«32 (Brecht). Mehrmals vergleicht Brecht den Einfluss der BeobachterInnen auf soziale Prozesse mit jenem der ExperimentatorInnen in der Quantenphysik.33

Der Kaukasische Kreidekreis Ende 1943 fährt Brecht nach New York, um seine Geliebte Ruth Berlau zu besuchen. Er bleibt beinahe ein halbes Jahr.34 Berlau und Brecht zeugen ein Kind und beginnen mit der Arbeit an einem neuen Stück – dem Kaukasischen Kreidekreis. In der Fachliteratur wird dieses Drama eingeschätzt als Höhe- und Schlußpunkt der Entwicklung von Brechts »Weltanschauung, der Konzeption des Epischen Theaters und der Typologie der wichtigsten Figuren, die in seinen Stücken agieren.«35 Der Kaukasische Kreidekreis besteht aus einer Rahmenhandlung, innerhalb derer zwei Geschichten erzählt werden. Den Rahmen bildet der Streit zweier Kolchosen um die Nutzung eines Tales; die eine Seite leitet ihren Anspruch aus der Tradition ab: Sie hat schon immer hier ihre Schafe gehütet. Die andere Seite

27 Bertolt Brecht: »Der Messingkauf«, in: ders.: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Bd. 16, Frankfurt /Main 1967, 449–657, 530. 28 Ebd. 29 Wolfgang F. Haug: Philosophieren mit Brecht und Gramsci, Berlin, Hamburg 1996, 52. 30 Walter Benjamin: Versuche über Brecht, Frankfurt/Main 1971, 37. 31 Roland Barthes: Das Rauschen der Sprache, Frankfurt/Main 2006, 242. 32 B. Brecht: Arbeitsjournal, 206. 33 B. Brecht: »Flüchtlingsgespräche«, 1420 und B. Brecht: »Der Messingkauf«, 577. 34 Jan Knopf: Brecht Handbuch. Eine Ästhetik der Widersprüche. Band 1: Theater, Stuttgart 1996, 254. 35 Frank Thomsen, Hans-Harald Müller, Tom Kindt: Ungeheuer Brecht. Ein Biographie seines Werkes, Göttingen 2006, 321.

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will das Land mit modernen Mitteln bewirtschaften und fordert eine »Neubestimmung des besitzanzeigenden Fürworts«.36 Nach der Diskussion der Kolchosen trägt eine SchauspielerInnengruppe ein Spiel im Spiel vor : die Geschichten der Magd Grusche und des Richters Azdak. Beide Handlungsstränge beginnen mit einer Palastrevolution, die das historische Grusinien erschüttert. Die Magd Grusche verlobt sich gerade noch mit einem Soldaten, dann wird das Paar von den Ereignissen auseinandergerissen. Der Soldat zieht in den Krieg, die Magd nimmt aus »Güte« das zurückgelassene Kind des mittlerweile geköpften Fürsten auf und flüchtet aus der Stadt, verfolgt von den Panzerreitern, den Schergen der jeweiligen Machthaber. Ihre Versuche, das Kind in andere Obhut zu geben, scheitern. Unter Lebensgefahr entkommen beide schließlich zum Bruder Grusches. Sie heiratet einen fremden Mann, damit sie einen Vater für das Kind vorweisen kann, das bei ihr aufwächst, bis eines Tages Panzerreiter auftauchen und es festnehmen. Es kommt zu einem Prozess mit der leiblichen Mutter des Kindes, die nach einer Konterrevolution zurückgekehrt ist und ihren Sohn als neuen Machthaber installieren will. Die erste Fassung des Kaukasischen Kreidekreises ist ganz von der Auseinandersetzung Brechts mit dem zweiten Handlungsstrang geprägt. Azdak, der aus dem einfachen Volk stammt, wird in den Wirren des ersten Umsturzes zum Richter ernannt. In der folgenden Zeit wird er durch seine willkürlichen Gerichtsverfahren berühmt und verscherzt es sich mit den Mächtigen, die ihn absetzen; er wird in den Wirren der Konterrevolution jedoch erneut zum Richter ernannt und leitet das Verfahren um die Mutterschaft des Kindes. Anhand dieser Figur verhandelt Brecht das Verhältnis von Gesetzmäßigkeit und Einzelfall.

Ein Experimentator Der Kreidekreis lässt sich wie Brechts frühere Stücke als soziologisches Experiment lesen. Darin spielt der experimentierende Richter Azdak selbst oft nur die Rolle eines Versuchskaninchens. Es ist der Sänger, der im Kreidekreis die Fäden zieht. Walter Hinck sieht die Figur des Sängers durch eine eigenartige Doppelfunktion bestimmt, die sich durch das ganze Stück zieht: Bereits im »Vorspiel wird der Sänger als Mitwirkender und als Spielleiter des Stückes eingeführt […].«37 Beide Rollen erfüllt er aber nur unvollkommen – er ist ein Regisseur, der nicht im Hintergrund bleibt, sondern dessen Spielanweisungen noch auf der 36 J. Knopf: Brecht Handbuch. Bd. 1, 262. 37 Walter Hinck: »Der Erzähler im Drama«, in: Werner Hecht (Hg.): Brechts Kaukasischer Kreidekreis, Frankfurt/Main 1985, 133–146, 133.

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Bühne vorgetragen werden; so werden die Spuren der Regiearbeit im Vorgang selbst sichtbar. Als Figur, die am Spiel beteiligt ist, übernimmt er hingegen eine kommentierende Rolle und ist weitgehend passiv gegenüber dem Verlauf der Handlung,38 sucht also eine wissenschaftliche Distanz zum Geschehen. Es ist aufschlußreich, den Verlauf seines Vortrags und den entsprechenden Wechsel seiner Funktion nachzuvollziehen; exemplarisch werde ich das am Ersten Akt durchführen. Der Sänger beginnt mit einer Vorstellung des Fürsten Abaschwili, im Imperfekt erzählend39 ; er beschreibt dann im gleichen neutralen Ton den Auftritt des Kindes, des »Erben«40. Der Vortrag wechselt ins Präsens, als die Herrschenden in der Kirche sind, es »stille« wird und Grusche und Simon auftreten. Wir nähern uns dem Geschehen. Die Beschreibung der Situation hingegen wird abstrakter und distanzierter, »ein Soldat« trifft »ein Küchenmädchen«.41 Kühl kommentiert der Sänger den Verlauf der Handlung, als würde er ihn nur protokollieren. Die Distanz der bloßen Betrachtung wird schon beim nächsten Einsatz des Sängers durchbrochen; er beginnt, Fragen zu stellen: »Die Stadt liegt stille, aber warum gibt es Bewaffnete?«42 Brecht hat diese »naturwissenschaftliche« Haltung in der Kalendergeschichte Das Experiment ausgeführt. Kurz vor seinem Tod lehrt der Begründer der modernen experimentellen Methode, Francis Bacon, einen Stallburschen die Grundsätze seines Verfahrens: Prüfung der Begriffe, Beobachtung, Zweifel und Herstellung strenger Kausalzusammenhänge. Es ist eine Verhaltenslehre der Kälte, der ganz emotionslosen Betrachtung der Natur. Statt auf das Begräbnis seines Lehrers zu gehen, experimentiert der Junge mit einem toten Huhn: Es wird mit Schnee ausgestopft, um es zu konservieren.43 In der unterkühlten Befragung der Wirklichkeit werden erste allgemeine Gesetzmäßigkeiten festgestellt. Bei der Verhaftung des Fürsten Abaschwili und seiner Hinrichtung wechselt die Rolle des Sängers abrupt; er deklamiert nun einen Spruch: O Blindheit der Großen! Sie wandeln wie Ewige Groß auf gebeugten Nacken, sicher Der gemieteten Fäuste, vertrauend

38 Ebd., 133. 39 Vgl. Bertolt Brecht: »Der kaukasische Kreidekreis (1954)«, in: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. v. Werner Hecht u. a., Bd. 8. Stücke 8, Berlin, Weimar, Frankfurt/Main 1992, 93–185, 101. 40 Ebd., 102. 41 Ebd., 103. 42 Ebd., 105. 43 Bertolt Brecht: »Das Experiment«, in: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. v. Werner Hecht u. a., Bd. 18. Prosa 3, Berlin, Weimar, Frankfurt/ Main 1995, 362–372.

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Der Gewalt, die so lang schon gedauert hat. Aber lang ist nicht ewig. […] Wenn das Haus eines Großen zusammenbricht Werden viele Kleine erschlagen. Die das Glück der Mächtigen nicht teilten Teilen oft ihr Unglück. Der stürzende Wagen Reißt die schwitzenden Zugtiere Mit in den Abgrund.44

Fredric Jameson stellt fest, dass im Kreidekreis der Inhalt der Sprüche im Gegensatz steht zu ihrer konkreten Form: Die Subjekte der Sprüche bleiben ganz allgemein und sind insofern gar keine Subjekte. Über den Spruch, den der Sänger hier vorträgt, schreibt Jameson: These particular oxen have no previous history, no farm to describe, no family ownership or paths to market, precisely because they are not ›particular‹ oxen at all, and are perhaps not even oxen […].45

Tatsächlich sind die »oxen« in der deutschen Ausgabe nicht einmal Ochsen. Ich würde aber noch weiter gehen: Nicht nur die Subjekte, auch ihre Beziehungen sind in den Sprüchen ganz allgemein dargestellt. Azdak trägt in den Sprüchen die abstrakten Gesetze historischer Abläufe vor. Doch diese kühle Distanz eines Francis Bacon ist für den Experimentalaufbau des Kreidekreises nicht mehr haltbar – längst kann der Einfluß der Beobachtung auf ihren Gegenstand nicht mehr ignoriert werden. Francis Bacons Ideal, eine objektive Wirklichkeit unabhängig von ihrer Beobachtung zu beschreiben, hat Schiffbruch erlitten. Die Versuchsanordnungen des Sängers beginnen sich mit der Handlung zu überlagern: Zwischen die beiden Strophen des Spruchs ist eine direkte Rede an den Fürsten eingeschoben. Die Rolle des Sängers springt vom Vortrag einer allgemeinen Regel zu einer konkreten »Regieanweisung«46. Als der Fürst Abaschwili »mit grauem Gesicht«47 zur Hinrichtung geführt wird, spricht ihn der Sänger persönlich an: »Auf immer, großer Herr! Geruhe aufrecht zu gehen!«48 Wenig später folgt noch eine Aufforderung: »Sieh dich noch einmal um, Blinder!«49 ; im Text folgt die Anweisung »Der Verhaftete blickt sich um.«50 – Brecht verlangt, dass der Darsteller des Fürsten Abaschwili den Sänger als Regisseur behandelt, 44 45 46 47 48 49 50

B. Brecht: »Der kaukasische Kreidekreis«, 107. Fredric Jameson: Brecht and Method, London, New York 1998, 136. Hinck: »Der Erzähler im Drama«, 136. B. Brecht: »Der kaukasische Kreidekreis«, 107. Ebd. Ebd. Ebd.

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der mitten im Spiel seine Anordnungen gibt. Dies wiederholt sich im Zweiten Akt.51 Die Feststellung allgemeiner Gesetze wird mit konkreten Handlungsanweisungen verbunden, aus der Theorie folgt das Setting des Experiments. Nach der Verhaftung des Fürsten schweigt der Sänger für lange Zeit, während sich die Wirren des Umsturzes entfalten. Die Anfangsbedingungen des Experiments wurden gesetzt, nun läuft es ab. Erst am Ende des Aktes tritt er wieder auf, um zu beschreiben, wie die Magd das »Hohe Kind« an sich nimmt. Er beginnt den ersten inneren Monolog des Stückes52 – und wenn ich mich nicht täusche in Brechts Werk überhaupt. Die folgenden inneren Monologe sind im Stück durchgehend im Präsens gehalten, wodurch die Beschreibung sich unmittelbar mit der Situation verbindet. Der erste Monolog wird als Ansprache des kleinen Kindes an Grusche vorgetragen, wobei der Sprachduktus explizit nicht der eines Kindes ist.53 Als der Erzähler die Reaktion Grusches berichtet – immer noch im Imperfekt – beginnt sich die Beschreibung mit ihrem Verhalten zu überdecken. In diesen Bericht eingeschoben ist ein Spruch, der kürzeste im ganzen Stück – eine einzige Zeile: »Schrecklich ist die Verführung zur Güte«. Den Abschluss des Aktes bildet eine »Pantomime-Szene«54 : Als Grusche das zurückgelassene Kind aufnimmt, wird aus der bloßen Beschreibung durch den Sänger, wie »sie aufstand, sich bückte und seufzend das Kind nahm // Und es wegtrug«55 im Text eine Regieanweisung: »Sie tut, was der Sänger sagt so, wie er es beschreibt.«56 In den Handlungsanweisungen des Sängers wird die Wirkung des Regisseurs im Stück sichtbar, das Arrangement des Experiments thematisiert. Der Beobachter wird zum Bestandteil des Experiments und sein Eingreifen in das Geschehen auf der Bühne offensichtlich. Die eindeutige Trennung von Subjekt und Objekt, Beobachter und Fakt, Publikum und Bühne ist in dieser Figur aufgehoben. Das Oszillieren des Sängers zwischen Publikum und Bühne kommt in Brechts Inszenierung durch die Positionierung des Sängers und der MusikerInnen zum Ausdruck. Im Text ist vorgesehen, dass sich die Gruppe auf der Bühne befindet. Bei der Umsetzung des Stückes 1954/55 in Berlin setzt Brecht das Sängerkollektiv aber »zwischen Bühne und Parkett, genauer : neben die in den Zuschauerraum vorspringende Rampe«,57 also in den »Schnittpunkt von Bühne und Zuschau-

51 52 53 54

Ebd., 126. Ebd., 115. Ebd. Paul Dessau: »Zur ›Kreidekreis‹-Musik«, in: Werner Hecht (Hg.): Brechts Kaukasischer Kreidekreis, Frankfurt/Main 1985, 103–109, 104. 55 B. Brecht: »Der kaukasische Kreidekreis«, 116. 56 Ebd. 57 W. Hinck: »Der Erzähler im Drama«, 134.

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erraum«.58 Das Orchester des »alten« Theaters nimmt diese Position statisch ein: Es sitzt in einem tiefen Graben, der Bühne und Publikum trennt. Die Musiker in Brechts Stück hingegen nehmen diesen Platz nur in einem ständigen Wechsel des Standpunktes, in einer Oszillation zwischen den ZuschauerInnen und den DarstellerInnen ein. Die Position im Saal weist ihnen eine doppelte Funktion zu: »Auf diese Weise könnte die Gruppe ebensosehr dem Publikum wie der Bühne gehören.«59 Die Oszillation besteht in einer Wechselwirkung zwischen diesen beiden Momenten; der Sänger tritt nicht nur als Regisseur auf, die Distanz des Experimentators geht noch in einem zweiten Sinn verloren: An zahlreichen Stellen übernimmt der Sänger den Sprech-Part einer Figur und wird so selbst »zum Dialog- und Handlungsträger«,60 zum Teilnehmer am Experiment. Karen Barad betont, dass auch die Rolle der Apparate in den physikalischen Experimenten wechselt: Sie können rasch vom Instrument zum Gegenstand der Untersuchung werden.61 Ein einfaches Beispiel ist ein Stock, den man mit allen Sinnen untersuchen, aber mit dem man sich auch im Dunklen orientieren kann. Dabei wird er selbst zum Instrument, mit dem die Umwelt untersucht wird. In diesen Vorträgen bringt das Sänger-Kollektiv die unausgesprochenen Gedanken der Figur in Form von inneren Monologen zum Ausdruck. Die Monologe werden oft, der Widersprüchlichkeit der Figuren entsprechend, zu inneren Zwiegesprächen. Der Sänger tritt so als Personifikation des unausgesprochenen Teils der Figur auf. Der Sänger ermöglicht also der handelnden Figur eine Teilung ihrer Persönlichkeit: während sie mit der einen Hälfte – etwa am Holzstück schnitzend oder in den Schoß blickend – Partner im szenischen Gefüge bleibt, wird sie mit der anderen Hälfte und durch den Mund des Sängers Partner des Publikums.62

Als Regisseur ist der Sänger ein Experimentator, der mit seinen Anordnungen in das Geschehen hineinwirkt, mehr hineinlegt, als drin ist. Nun bekommen die BeobachterInnen etwas zurück: »Der Zuschauer entnimmt den Figuren mehr, als sie in die Handlung hineingeben.«63 Dabei verdoppeln sich die Figuren aber in eine Überlagerung widersprüchlicher Motive. Die ausführliche Darstellung der Gedanken und der psychologischen Vorgänge in der Grusche-Figur ist, soweit ich sehe, einzigartig in Brechts Werk. 58 59 60 61

Ebd. Ebd. Ebd., 143. Karen Barad: Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham, London 2007. 62 W. Hinck: »Der Erzähler im Drama«, 142. 63 Ebd.

»mit der feuerzange«

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In der Inszenierung kommt es im Gegensatz zum Text stark darauf an, was die DarstellerInnen der Figuren tun, wenn der Sänger ihre Gedanken vorträgt. Dabei zeigt Brecht, dass das non-verbale Zeichen (zu Boden blicken, Holz schnitzen) nicht eindeutig ist – es verweist auf ein ganzes Feld möglicher Zustände, die im Text zum Ausdruck kommen. Die Geste wird uns von Brecht als eine Überlagerung zahlreicher möglicher Bedeutungen vorgestellt. Daher kann sie einen Verfremdungseffekt erzeugen: Der/die ZuschauerIn muss die Geste aktiv in einen Zusammenhang bringen und dadurch eine der vielen möglichen Bedeutungen auswählen. Brecht gibt hier eine praktische Unterweisung in der Technik des epischen Theaters.64 Die Widersprüche des Individuums werden in eine Einheit zusammengefasst und treten nun gleichzeitig auf – nachdem Grusche das Kind weggelegt hat, ist sie fröhlich, »lacht und eilt weg«65. Doch im inneren Monolog, der sich als Zwiegespräch zwischen dem Sänger und den MusikerInnen entspinnt, erweist sich der Zustand der Figur als komplizierter : Sie ist sowohl »heiter« als auch »traurig«66. Die theoretische Reflexion beschreibt also keine eindeutige Situation, obwohl ihr Mittel, die Sprache, das erlauben sollte. Das sprachliche Modell der Geste muß ihre Mehrdeutigkeit erfassen, die Überlagerung der vielen Möglichkeiten, die sie enthält. Um die traurige Fröhlichkeit der Grusche zu denken, benötigen wir bereits eine Logik des Ja und Nein. Im Kreidekreis erlaubt uns der Sänger eine Verbindung zwischen dem (widersprüchlichen) Gefühlszustand und seinen Zeichen, seiner theatralen Repräsentation. Dieser Zustand bleibt aber in einer seltsamen Schwebe, er wird im Bezug auf die anderen Figuren nicht realisiert, sondern kommt nur für das Publikum zum Ausdruck. So kann der innere Zustand Grusches nicht direkt auf den Verlauf der Handlung zurückwirken und keine streng kausale Verknüpfung hergestellt werden. Er ist wie der Zustand eines nicht gemessenen Teilchens in der Quantenmechanik eine Überlagerung einander ausschließender Möglichkeiten. Wie ein Modell der theoretischen Physik entfaltet sich auf der verbalen Ebene die Interpretation eines Vorganges, der durch nonverbale Zeichen ebenso unmittelbar wie vieldeutig repräsentiert wird. Ganz ähnlich beschreibt Heisenberg den Bezug der Theorie der Quantenmechanik zu den Experimenten (mit ihren vielen möglichen Ergebnissen): Die mathematischen Symbole, mit denen wir eine solche Beobachtungssituation beschreiben, stellen eher das Mögliche als das Faktische dar.67 64 65 66 67

J. Knopf: Brecht Handbuch. Bd. 1, 266. B. Brecht: »Der kaukasische Kreidekreis«, 125. Ebd. Werner Heisenberg: Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik, München 1969, 170.

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Die Bedeutung der Geste läßt sich im Stück nur durch ein aufwendiges experimentelles Verfahren fixieren. Nachdem der Sänger die Gedanken der Magd vorgetragen hat, reagiert Azdak. Doch auf seiner Ebene der Repräsentation findet er nur das gestische Zeichen des stummen Zu-Boden-Blickens. Zu dieser schweigenden Grusche (nicht zum Sängerkollektiv) sagt Azdak: »Ich glaube, ich verstehe dich, Frau.«68 Er hat eine theoretische Reflexion ihres vieldeutigen Verhaltens vollzogen. Doch der Richter ist sich seines Verstehens noch nicht sicher – seine Hypothese muß erst in der Kreidekreis-Probe getestet werden. Diese Probe wird als Spiel präsentiert, bei dem angeblich gewinnt, wer es schafft, das Kind aus der Mitte zu sich zu ziehen.69 Der Beobachter Azdak ist sich seines Einflusses auf den Vorgang bewußt und versucht, ihn unter Kontrolle zu bekommen, indem er die tatsächliche Fragestellung vertuscht. Als schließlich der Richtspruch über die Mutterschaft gefallen ist, das entscheidende Experiment durchgeführt wurde, dessen außergewöhnliche Randbedingungen der Richter Azdak gebildet hat, nachdem eine der vielen möglichen Folgen des Geschehens fest-gestellt wurde, verschwimmt das Bild wieder : Azdak macht sich daran, seine Spuren zu verwischen, langsam geht er in der Menschenmenge unter. Die Regieanweisung lautet: »Der Azdak steht in Gedanken. Die Tanzenden verdecken ihn bald. Mitunter sieht man ihn wieder, immer seltener…«70 und der Sänger berichtet: »Und nach diesem Abend verschwand der Azdak und ward nicht mehr gesehen.«71 Auch Grusche, Simon und Michel flüchten. Die Randbedingungen des Experiments zerfallen, die Zukunft bleibt unbestimmt.

68 69 70 71

B. Brecht: »Der kaukasische Kreidekreis«, 182. Ebd., 183f. Ebd., 184. Ebd., 185.

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Beobachtung, Rekonstruktion und Schau: Goethes Nausikaa von Wilhelm Scherer

Im späteren 19. Jahrhundert versteht sich die Philologie als strenge Faktenwissenschaft, die ihre Hypothesen aufgrund der lückenlosen Sammlung, »Beobachtung« und Analyse von Material gewinnt. Mit der Germanistik Wilhelm Scherers (1841–1886) tritt Mitte der 1860er Jahre die bislang eher latente methodische Beziehung zwischen Philologie und Naturwissenschaft in eine neue Phase. Scherer, der Schulgründer, das Haupt des sog. literaturwissenschaftlichen Positivismus, hat versucht, die Germanistik durch interdisziplinäre Zusammenarbeit mit historischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen zu einer exakten Kulturwissenschaft zu machen; und er hat versucht, der entstehenden Neugermanistik auf philologischer Basis eine wissenschaftliche Methodologie zu geben. Nach einem ersten Blick auf diese Zusammenhänge steht hier die philologische Rekonstruktionsarbeit im Zentrum, die Scherer an einem Dramenfragment Goethes unternommen hat, der Nausikaa, entstanden auf der Italienischen Reise; geschlossen wird mit einigen Beobachtungen zur Entwicklung naturwissenschaftlicher Denkweisen bei Scherer. Gemeinhin veranschlagt man für den Scherer der Goetheforschung, also für die zweite Werkperiode ab Anfang der 1870er Jahre, eine Abwendung vom naturwissenschaftlich fundierten Positivismus.1 Hier soll, gerade an einem einigermaßen spektakulären Fall, auf Kontinuität plädiert werden; obwohl oder gerade weil dieser Fall die kühnste aller Rekonstruktionen ist, die der Philologe Scherer geliefert hat. Es wird ein 1 Zu Scherer vgl. Wolfgang Höppner : Das »Ererbte, Erlebte, Erlernte« im Werk Wilhelm Scherers. Ein Beitrag zur Geschichte der Germanistik, Köln, Weimar, Wien 1993; Verf.: »An den Siegeswagen gefesselt: Wissenschaft und Nation bei Wilhelm Scherer«, in: Klaus Amann, Karl Wagner (Hg.): Literatur und Nation. Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 in der deutschsprachigen Literatur, Wien, Köln, Weimar 1996 (= Literatur in der Geschichte, Geschichte in der Literatur 36), 233–266; Tom Kindt, Hans-Harald Müller : »Dilthey gegen Scherer – Geistesgeschichte contra Positivismus. Zur Revision eines wissenschaftshistorischen Stereotyps«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 74,4 (2000), 685–709.

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Philologe zu beobachten sein, der nicht mehr nur beobachtet, sondern selbst dichtet.2

I Wilhelm Scherer ist nicht nur eine der Begründungsgestalten der Neugermanistik, sondern auch die vielleicht wichtigste Figur in der Germanistik des 19. Jahrhunderts nach der Generation der Brüder Grimm, Karl Lachmanns und Karl Müllenhoffs. Der Niederösterreicher Scherer studierte in den 1860er Jahren in Wien und Berlin deutsche Philologie, wurde 1868 Professor für das ältere Fach (in Wien beginnt damit sehr früh die Fächertrennung zwischen Alt- und Neugermanistik), 1872 in Straßburg, schließlich 1877 in Berlin erster Vertreter der Neugermanistik dort.3 Scherer hat eine Geschichte der deutschen Sprache (1868) verfasst, eine Geschichte der deutschen Litteratur (1883), eine Poetik (post. 1888) auf empiristischer Grundlage, viele Beiträge zur älteren und neueren Literaturgeschichte. In seinen letzten Lebensjahren wurde Scherer noch die Disposition der sog. Weimarer Ausgabe von Goethes Gesamtwerk übertragen, eine Aufgabe, die dann sein Schüler Erich Schmidt, auch er Ordinarius in Wien (1880–1885) und Berlin (1887–1913), weiterführte. In drei Aspekten lässt sich Scherers Neueinsatz in der Philologie thesenhaft zusammenfassen. Scherer geht es, erstens, in den siebziger und achtziger Jahren um die wissenschaftliche Begründung der Neugermanistik als Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft; »wissenschaftlich« heißt hier, dass sich jetzt erstmals ein in den strengen disziplinären Standards der Philologie beheimateter Forscher der neueren Literatur annimmt, die sich bislang vor allem in den Händen von Journalismus, Pädagogik, Philosophie und Ästhetik befunden hat.4 Ein neues Fach oder Teilfach, zweitens, letztlich eine neue Disziplin, eine Literaturwissenschaft, die sich dann um die Jahrhundertwende vollends konstituieren wird, bedarf eines starken Objekts; aufgrund verschiedener, nicht zuletzt zeitgeschichtlicher Gründe hatte sich Goethe als ein solches zentrales Objekt herauskristallisiert; und Scherer begründet eine universitär gestützte Goethephilologie, die alle Teildisziplinen des neuen Faches zusammenführt: die Edition 2 Wilhelm Scherer : Aufsätze über Goethe, Berlin 1886, darin 177–234: »Nausikaa«. 3 Zu Scherer im Kontext der österreichischen Germanistik vgl. Verf., Wendelin SchmidtDengler : »Neuere deutsche und österreichische Literaturwissenschaft«, in: Karl Acham (Hg.): Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Bd. 5: Sprache, Literatur und Kunst, Wien 2003, 193–228. 4 Zur Geschichte der Befassung mit neuerer Literatur vgl. nach wie vor Klaus Weimar : Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München 1989.

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zur Herstellung einer sicheren Textbasis; um Goethe zentrierte literaturgeschichtliche Konstruktionen; die Etablierung Goethes als des zentralen Gegenstands germanistischer universitärer Lehre sowie gezielte Öffentlichkeitsarbeit.5 Scherer hat immer den Kontakt zu Presse und Rundschauzeitschriften gesucht, legitimiert, auch geschützt durch die Autorität der Philologie. Scherers methodische Optionen sind, drittens, nicht leicht auf den Begriff zu bringen, aber das Fach erinnert ihn als den Hauptvertreter der sog. positivistischen Methode, die sich an Naturwissenschaft, an Empirismus und Biologie, Psychologie und Völkerpsychologie orientiert hat und insgesamt ein stark kausalistisches Wissenschaftsideal vertreten hat, das unablässig Bedingungen und Folgen, Ursachen und Wirkungen, Gesetze in der Human- und Kulturgeschichte aufzusuchen sich bemühte. Scherer, 1841 geboren, stellt sich damit als typischer Vertreter der philosophieskeptischen Bewegung um die Jahrhundertmitte dar, in steter Gegnerschaft zu einer spekulativen idealistischen Ästhetik einerseits, zur romantischen Naturphilosophie andererseits. Referenzautoren Scherers sind Charles Darwin und Herbert Spencer, John Stuart Mill und Hermann v. Helmholtz, die Vertreter der frühen Nationalökonomie und Soziologie, der Völkerkunde; es ist dies übrigens auch die Welt des jungen Wilhelm Dilthey und des jungen Sigmund Freud.6 Beobachtung, Fakten, Tatsachen, Exaktheit – das waren schon wichtige Faktoren der Selbstbeschreibung der Philologie, als es noch um ausschließlich alte und altdeutsche Texte ging. Das Ethos der Exaktheit und der Fakten hat die deutsche Philologie von der Klassischen Philologie übernommen, die im 18. Jahrhundert dieses Ethos parallel zu dem der Naturwissenschaften gepflegt hatte. Sogar dauerhafter als diese: »Aber während sich die meisten deutschen Naturforscher«, sagt Scherer noch 1885 in seiner großen Erinnerungsrede an Jacob Grimm,

5 Zur Geschichte der Goethe-Philologie vgl. Hans-Martin Kruckis: »Goethe-Philologie als Paradigma neuphilologischer Wissenschaft im 19. Jahrhundert«, in: Jürgen Fohrmann, Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Mit Beiträgen von Uwe Meves u. a., Stuttgart, Weimar 1994; Steffen Martus: Werkpolitik: Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert, Berlin 2007, 496–513 (zu Scherer). Zu den Methoden der Klassikerlektüre im 19. Jahrhundert vgl. den großen grundlegenden Beitrag von Nikolaus Wegmann: »Was heißt einen ›klassischen Text‹ lesen? Philologische Selbstreflexion zwischen Wissenschaft und Bildung«, in: J. Fohrmann, W. Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik, 334–450. 6 Eine fundierte neuere Darstellung des »Positivismus« in den Kulturwissenschaften steht aus. Zu nennen sind Dirk Hoeges: Studien zur französischen Literaturkritik im 19. Jahrhundert. Taine – BrunetiHre – Hennequin – Guyau, Heidelberg 1980; Bernhard Pl8: Die »Welt« aus den Wissenschaften. Der Positivismus in Frankreich, England und Italien von 1848 bis ins zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Eine wissenssoziologische Studie, Stuttgart 1996.

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von den Dichtern und Metaphysikern verführen ließen, vorschnell Systeme bauten, an Worte glaubten, der Schule Newtons entliefen […]: legten die deutschen Philologen, Sprachforscher und Historiker den Grund zu einer neuen geschichtlichen und vergleichenden Methode, zu einer neuen Schärfe, Genauigkeit und Vollständigkeit der Beobachtung, zu einer neuen vorsichtigeren und gerechteren Kritik […].7

Empirie und Beobachtung sind Schlüsselwörter bei Scherer. Schon ein früher Text von 1866, eine Rezension, postuliert: Die Völker […] sind das nächste uns gegebene Object der Beobachtung. Und mit Beobachtungen müssen wir beginnen, um zu Gesetzen zu gelangen. Das ganze Leben der Völker müssen wir zerlegen in die einzelnen Lebensgebiete und innerhalb derselben die Erscheinungen beobachten. Classificationen der Erscheinungen und besondere Beschreibung jeder einzelnen Classe, Gattung und Art werden den Anfang der Forschung bilden und die Frage nach ihren Gründen und Folgen wird von selbst wieder auf die Vereinigung der verschiedenen Lebensgebiete und auf die gegenseitige Wirksamkeit ihrer Erscheinungen führen, die Erklärung dieser Wirkungen schließlich auf den Boden der Psychologie hindrängen, um dort den letzten Aufschluß zu suchen.8

Die Völker sind das »nächste uns gegebene Object der Beobachtung«, weil Scherer den Gegenstand der deutschen Philologie als die deutsche Nation bestimmt. Ganz ähnlich sagt er, wenn er sich schließlich der Poetik zuwendet, nicht die spekulativen Ästhetiker, sondern »[n]ur Empiriker […] fördern«9 (P 44) in der Wissenschaft. Eine wissenschaftliche Poetik muss eine »empirische Poetik« (P 35) sein. Scherers Schüler Erich Schmidt spricht von dem Projekt einer »empirischen historisch-psychologischen Ästhetik inductiver Art, die den deductiven Constructionen der älteren Schulphilosophie gründlichst den Abschied giebt«.10 Schon Aristoteles, so Scherer, kommt […] zu dauernden Beobachtungen, weil er so treu beobachtet und classificirt. Ja, Aristoteles ist mir – abgesehen von der Erweiterung des Gesichtskreises, die uns von selbst reicher macht, als er war – nicht Naturforscher genug. Er behandelt mir nicht hinlänglich die vorhandene Dichtung mit der kühlen Beobachtung, Analyse und Classification des Naturforschers. Er ist mir zu sehr Gesetzgeber. Er sucht die wahre Tragödie und das wahre Epos […]. (P 35)

Nicht Systeme, nur synthetisierte Einzelbeobachtungen fördern die Literaturwissenschaft; deshalb hätten der Anatom Wilhelm Henke und der Physiker 7 Wilhelm Scherer : »Rede auf Jacob Grimm« [1885], in: ders.: Kleine Schriften, hg. v. Konrad Burdach u. Erich Schmidt. Bd. 1, Berlin 1893, 3–14, 8. 8 Wilhelm Scherer : [Rez. zu] »Ernst Petsche: Geschichte und Geschichtschreibung [sic] unserer Zeit. Leipzig 1865« [1866], in: ders.: Kleine Schriften 1, 169–175, 170–171. 9 Wilhelm Scherer : Poetik. [1888] Mit einer Einleitung und Materialien zur Rezeptionsanalyse, hg. v. Gunter Reiss, Tübingen 1977, 44 (i. f. zit. als P und Seite). 10 Erich Schmidt: »Wilhelm Scherer«, in: Goethe-Jahrbuch, Jg. 9 (1888), 249–262, 261.

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Hermann v. Helmholtz (P 46) mehr als der Idealismus für die Laut- und Reizphysiologie geleistet. In seinem Nachruf auf Scherer rühmt sein Wiener Kollege und Schüler Richard Heinzel an dessen Aufsätzen zu Goethes Faust, sie zeigten wie weit es durch philologische Observation möglich ist, auch bei modernen Autoren hinter die Überlieferung zurückzukommen, nicht nur wie bei alten Texten von jüngeren und schlechteren den Gedankenweg zu erschließen zu älteren und besseren, vielleicht zum Archetypus einer Familie, oder gar zum Autographon des Schriftstellers, nein, noch viel weiter zurück in die Seele des Dichters, dessen wechselnde, unterbrochene, wieder aufgenommene Intentionen dem philologisch bewaffneten Auge auch in dem äußerlich zu einer Einheit zusammengefügten Kunstwerk erkenntlich sind.11

Ganz ähnlich sieht das der Scherer-Schüler Richard Maria Werner. Es gehe in der Philologie darum, die naturwissenschaftliche Methode, so weit dies überhaupt möglich ist, auf das Gebiet der Poesie anzuwenden. Der Zug nach genauester Beobachtung des Vorhandenen geht durch alle Wissenschaften, von den Naturwissenschaften nahm er seinen Ausgang. Wir können uns nicht mehr mit der Konstruktion von Idealgestalten zufrieden geben, nicht mehr fordern, dies oder jenes sollte so oder so sein, wir müssen die Thatsachen darstellen, die wirklichen Verhältnisse zu erfassen suchen, freilich ohne dabei das Typische zu vernachlässigen.12

Für einen anderen Scherer-Schüler, Anton Schönbach, gestattet die Gegenwartsliteratur »lebend und wirksam zu beobachten, was uns sonst nur durch verschiedene störende Medien und Zwischenglieder überliefert wird; ist doch das Studium der Gegenwart für den Philologen der einzige Ersatz des Experimentes, über das die Naturforschung gebietet.«13 Bei Scherer soll die Sprachwissenschaft »das Nahe, Erreichbare möglichst genau […] beobachten und daran den ursächlichen Zusammenhang […] studiren, um ihn in die Vergangenheit zu projiciren und so deren Ereignisse zu begreifen«.14 »Beobachten« ist also einerseits ein Schlüsselbegriff von Scherers induktiver Philologie, andererseits zugleich ein Schlüsselbegriff seiner spezifischen Überschreitung des klassischen textualistischen Philologiemodells in Richtung auf eine integrale empirische Kulturwissenschaft. Beobachten ist damit einerseits ein Modus des Umgangs mit Texten; andererseits ein Modus zur Gewinnung 11 Richard Heinzel: »Rede auf Wilhelm Scherer gehalten am 30. Oktober 1886 im kleinen Festsaale der Universität Wien«, in: ders.: Kleine Schriften, hg. v. Max Hermann Jellinek u. Carl v. Kraus, Heidelberg 1907, 145–163, 157. 12 Richard M. Werner : Lyrik und Lyriker. Eine Untersuchung, Hamburg, Leipzig 1890 (= Beiträge zur Ästhetik, 1), 21. 13 Anton E. Schönbach: »Eduard v. Bauernfeld« [1890], in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur neueren Litteratur in Deutschland, Österreich, Amerika, Graz 1900, 163–173, 164. 14 Wilhelm Scherer : Zur Geschichte der deutschen Sprache, 2. Ausg., Berlin 1878, 19.

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jener textexternen Faktoren, die systemisch vor und nach dem Text liegen: also jener Reihe von Bedingungen, die die textuelle Praxis – »dichterische Hervorbringung« (P 49) heißt das bei Scherer – kausal determinieren, sowie jener Reihe von Wirkungen, die Texte auf die Welt haben. Allerdings darf die Beobachtungsbetonung in der Deutschen Philologie nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Philologie als strenge Tatsachenwissenschaft bei neueren Texten vor ganz neuen Problemen steht. Da ist zunächst die schiere Masse an überlieferten Tatsachen – im Fall Goethes mühsam und nur teilweise eingefangen in den 143 Bänden der Goethe-Texte in der Weimarer Ausgabe. Dann sind die Methoden des Kernbereichs der strengen altdeutschen Philologie, der Textkritik – das Reinigen eines hypothetischen Urtextes von den Schlacken der Überlieferung, das Wiederherstellen einer ursprünglichen oder nahursprünglichen Textfassung – bei neuerer Literatur nicht unbrauchbar, Textkritik hat aber veränderte Funktionen, insbesondere gegenüber den Bedürfnissen der Öffentlichkeit. Es bedarf zum Verständnis eines neueren Textes keiner Verfasserhypothesen und keiner Wort- und Sacherklärungen; stattdessen wird die Individualität der Einzelwerke und der Verfasser – auch deren Zahl steigt ja stark an – zum Problem. Das sind aber Fragen, die man gewöhnlich als interpretatorische Fragen anspricht. Gewiss war auch die alte Philologie keineswegs frei von Interpretation, zum methodischen Problem war sie nicht geworden. Lachmann hat bekanntermaßen in der Einleitung zu seiner Ausgabe des Neuen Testaments erklärt, die Beurteilung der Textzeugen und die Rekonstruktion des Archetypus könne und müsse ohne Interpretation erfolgen, »id quod recensere dicitur, sine interpretatione et possumus et debemus«.15 Daher differenziert Scherer in seinen Goethe-Aufsätzen die herkömmlichen Aufgaben der Philologie: das »Herausgeben« (ggf. Rekonstruktion: Einordnung der Paralipomena, hypothetische Rekonstruktion des Handlungsverlaufs) und das »Erklären«.16 »Erklären« bedeutet, nach einer anderen berühmt gewordenen Formulierung Scherers, das »Ererbte, Erlebte, Erlernte«17, die »äußere« und »innere« »Entstehungsgeschichte«, den »Stoff« und »Form« (Komposition), die »Quellen« und »Umgestaltungen« der Quellen sowie die Einbettung in »Leben und Werk«. Dann nennt er noch eine dritte Aufgabe, »Philosophie der Geschichte« als »exakte Wissenschaft« und »Sociologie«, als deren wichtigsten Teil er in kühner Formulierung

15 Karl Lachmann (Hg.): Novum Testamentum graece et latine, Bd. 1, Berlin 1842, V. 16 Wilhelm Scherer : »Goethe-Philologie«, in: ders.: Aufsätze über Goethe, Berlin 1886, 1–27, 10–12. 17 Vgl. W. Höppner : Das »Ererbte, Erlebte, Erlernte« im Werk Wilhelm Scherers.

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die »Theorie der Genialität« postuliert, zu der Goethes Autobiographie als »Causalerklärung der Genialität«18 das Vorbild liefert. Das bedeutet nun: (1) Strukturanalyse und Interpretation des Textes werden in das philologische Modell der Erklärung integriert und differenziert. (2) Der ganze moderne hermeneutische Problemzusammenhang des Deutens von Texten findet sich im Bereich der Textgenese, die auf den Prozess literarischer Kreativität zurückbezogen wird. Denn dieser ist mit den Mitteln von Scherers Wissenschaft erforschbar: Wenn literarische Produktion, wie Scherer mehrfach erklärt (P 108–114), eigentlich Reproduktion ist, eine Neuzusammenstellung von Gedächtnisfakten, dann lässt sich ihnen durch biographische Zeugnisse, dokumentierte Bildungserlebnisse des Autors und anderes mehr nahekommen. Das ist auch die Basis der sog. »Modelltheorie«: Welche reale Gestalt steht »hinter« literarischen Figuren, hinter Gretchen, Faust, Iphigenie, Wagner? Die spezifisch philologische Variante der Interpretation in der jungen Neuphilologie, die noch keine Literaturwissenschaft ist, ist daher die Rekonstruktion der Genese des Kunstwerks. Bei keinem Autor ist aber so viel »da« wie bei Goethe, ein eigenes Archivgebäude wird in Weimar für seinen Nachlass (und den Schillers) gebaut. Der Schatz des Goethe-Nachlasses wird von den Philologen der Scherer-Schule bewacht. Was aber, wenn selbst bei Goethe einmal ›nicht viel da‹ ist? Was ist dann noch zu ›beobachten‹, welche Schlüsse aus der Beobachtung zu ziehen? Läuft dann das Verfahren gleichsam ohne Material weiter, und erzeugt sich selbst seine Gegenstände? Jedenfalls legt es den Blick frei auf tieferliegende Motivationen.

II An einer Stelle der Poetik, im Rahmen von Erörterungen zum Verhältnis von Wirklichkeit und Dichtung, denkt Scherer darüber nach, warum Reisende – es ist dabei an Bildungs- wie gegebenenfalls gebildete Hochzeitsreisende des 19. Jahrhunderts zu denken – eigentlich Literatur mit sich führen und welche Art von Vergnügen sich aus solcher Praxis beziehen lässt. Wer an ein südliches Meer reist, nach Griechenland oder nach Italien, insbesondere Sizilien, Magna Graecia, hat selbstverständlich den Homer dabei, wohl neben dem Baedeker. Scherer : Wer eine Reise übers Meer, ans Meeresufer, auf eine Insel unternimmt, führt wohl die Odyssee mit sich – nicht als ein Object des Lernens, um die homerischen Darstellungen

18 Wilhelm Scherer : Geschichte der deutschen Sprache, Berlin 1868, VIII (Widmung an Karl Müllenhoff).

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mit der Wirklichkeit zu vergleichen, sondern um eine leere Stunde damit auszufüllen, die Elemente des Vergnügens in seiner Reiseexistenz zu verstärken […]. (P 56)

Nicht also aus geographischem Interesse. Warum aber dann? Scherer nennt drei Gründe für dieses ›Vergnügen‹ am Text. Da ist die »Freude an der Richtigkeit der Darstellung« (P 56) – grosso modo, nicht en detail, »Freude« am gestalthaften Gesamteindruck. Dann ist da die »Schärfung des Blicks für die Wirklichkeit: sein Laienauge bewaffnet sich gleichsam mit dem Mikroskop eines Künstlerauges« (P 56). Der Künstler hat ein besseres Auge als der Durchschnittsleser, seinen optischen Apparat kann man sich durch Literatur borgen. Drittens aber, und hier beginnt ein neues Geschäft zwischen Kunst und Wirklichkeit, kommt es zu einer »Belebung der Wirklichkeit mit Gestalten der Dichtung, die sich nun stärker und lebendiger anknüpfen – also Steigerung des Vergnügens an der Wirklichkeit« (P 56). Die Wirklichkeit, die bereiste Meerlandschaft, belebt sich mit den Gestalten der Dichtung, die wieder durch die Landschaft Leben gewinnen; sie profitieren also für ihr papierenes Leben durch den erneuerten Kontakt mit jenem Milieu, dem sie selber entstammen. Somit ist allen geholfen; der Leser sieht; die Orte der klassischen Bildungsreise beleben sich, man kennt ja die vielbeschriebene und -erlebte Enttäuschung Bildungsreisender in Delphi, Olympia, anderen klassischen Stätten; und auch die Gespenster der Literatur, zurückgeführt an ihren Ort, saugen neues Leben aus diesem Kontakt. Systematisch werden hier zwei Operationen enggeführt, Beobachtung und ›Belebung‹; Beobachtung und rechtes Sehen mit den Augen der Literatur ist kein mortifizierender, bannender, fixierender Blick, sondern einer, der mehr sieht als da ist, oder, vorsichtiger gesagt, der zwei Sphären von unterschiedlichem ontologischen Status überblenden kann, Realität und Fiktion; hier besteht keine Opposition, sondern ein Verhältnis wechselseitiger Steigerung. Das ist, auch wenn es sich um eine Art Psychologie des Lesens handelt, in einem empiristischen Kontext doch überraschend. Hier ist eine andere, zweite Stimme bei Scherer zu hören, auf deren Ton zu achten sein wird; gewissermaßen eine Goethe-Stimme, die auch in Scherers Goethe-Philologie vernehmbar wird. Denn es ist gewiss klar geworden, an welchen reisenden Leser bei der Meerfahrt in Scherers Poetik vor allem gedacht ist. Es geht um den Goethe der Italienischen Reise, dessen Sehen und Sichtweise Scherer nun ins Philologische, hier in die Poetik, oder, wenn man will, in eine frühe Form von Rezeptionsästhetik überträgt. In Sizilien gibt Goethe »einem nach und nach auflebenden Drange nach: die gegenwärtige herrliche Umgebung, das Meer, die Inseln, die Häfen, durch poetische würdige Gestalten zu beleben und mir auf und aus diesem Lokal eine Composition zu bilden, in einem Sinne und in einem Ton, wie ich

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sie noch nicht hervorgebracht«.19 Goethe setzt Anfang April 1787 von Neapel nach Palermo über – befährt also erstmals das Meer –, betritt in der Nähe der Marina von Palermo den öffentlichen Garten bei der Villa Giulia, »de[n] wunderbarste[n] Ort von der Welt«, fühlt sich an die »Insel der seligen Phäaken« im Siebenten Gesang der Odyssee erinnert, kauft einen Homer, um die Stelle nachzulesen.20 An die Phäaken, weil er sich seit einiger Zeit mit dem Plan einer Nausikaa-Tragödie trägt; den Garten besucht er, weil er sich seit einiger Zeit mit den Fragen der Pflanzenmetamorphose befasst. Philologie (»Commentar«, »Exemplar«), Leben (»lebendige Umgebung«) und poetische »Production« gehen ineinander über : Ich hatte mir, überzeugt, daß es für mich keinen bessern Commentar zur Odyssee geben könne, als eben gerade diese lebendige Umgebung, ein Exemplar verschafft und las es nach meiner Art mit unglaublichem Antheil. Doch wurde ich gar bald zu eigner Production angeregt, die, so seltsam sie auch im ersten Augenblicke schien, mir doch immer lieber ward und mich endlich ganz beschäftigte. Ich ergriff nämlich den Gedanken, den Gegenstand der Nausikaa als Tragödie zu behandeln.21

Es wird genau jener Park sein, in dem Goethe wenige Tage später dann die Intuition einer empirisch vorfindlichen Idealpflanze haben wird, mit außerordentlichen Folgen für seine eigene Naturwissenschaft und die Metamorphosenlehre22 ; sowie für sein Verhältnis mit Schiller, das sich an jener Frage der Sichtbarkeit eines Typus zunächst in Streit entzünden wird. Jene Nausikaa ist dramatisches Fragment einer Tragödie geblieben, von 60 Versen. Der ziemlich unbekannte Text ist von einiger Bedeutung, die sich allerdings nicht sofort erschließt. Einerseits hat Goethe das Fragment selbst in die Werkausgabe letzter Hand aufgenommen23 ; zum anderen, was nicht aus dem Text, aber aus dem Kontext erhellt, gehen hier also ein literarisches Griechenland und eine botanische Theorie ineinander über. An der Nausikaa-Episode der Odyssee ist nicht viel Tragisches. Nach sieben Jahren verlässt Odysseus die Nymphe Kalypso, da die Götter befinden, es sei Zeit zur Heimreise nach Ithaka, zu Penelope und Telemach. Poseidon entfacht jedoch einen Sturm, Odysseus’ Floß kentert, er wird nackt und bewusstlos ans Ufer der 19 Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie v. Sachsen. Bd. 31, Weimar 1904, 198f. (i. f. zit. als WA, Abt./Bd., Seite). Hervorh. W. M. 20 WA I/31, 105f. 21 WA I/31, 199. 22 WA I/31, 147f. Vgl. dazu Norbert Miller : Die Insel der Nausikaa: Spiegelungen des sizilianischen Abenteuers, Stuttgart 1994; Rüdiger Görner : »Odysseus, Nausikaa und die Urpflanze. Zu einer mythopoetisch-szientistischen Konstellation bei Goethe«, in: ders.: Goethe: Wissen und Entsagen – aus Kunst, München 1995, 29–39. 23 »Nausikaa. Ein Trauerspiel«, in: Goethes Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Bd. 4, Stuttgart 1827, 225–228.

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Insel gespült, auf der das Volk der Phäaken unter König Alkinoos lebt. Die Königstochter Nausikaa findet den Schiffbrüchigen und führt ihn in den Palast ihres Vaters. Odysseus gibt sich nicht als Herrscher von Ithaka, sondern als einer von dessen Gefährten im Trojanischen Krieg aus; als der Sänger Demodokos beim Gastmahl Episoden aus dem Trojanischen Krieg vorträgt, gibt sich Odysseus zu erkennen, erzählt die Begebenheiten seiner Irrfahrten, ein Schiff wird ihm ausgestattet und auf die Reise geschickt. Goethe sieht in der Episode einen Tragödienstoff; Nausikaa, berichtet er in der Autobiographie vom Plan seines Dramas24, entbrennt in Liebe zu dem Fremden, dem Athene zusätzliche Leibesschönheit verliehen hat; der nennt seinen Namen nicht, scheint also frei zu sein, die Prinzessin verrät öffentlich ihre Zuneigung, Odysseus ist aber ja bereits verheiratet, die Prinzessin damit kompromittiert und nimmt sich das Leben. Die Nausikaa wäre also die einzige regelrechte Tragödie dieser Schaffensperiode geworden; eine der wenigen im Gesamtwerk. Goethes Fragmente haben aus begreiflichen Gründen eine Menge Scharfsinn und poetische Energie auf sich gezogen. Im Vorbeigehen sei an den Auftritt erinnert, den Nausikaa in Adalbert Stifters Nachsommer hat; Stifter hat auch ein Trauerspiel Nausikaa geplant.25 Tatsächlich entstehen vor dem Ersten Weltkrieg mindesten zehn Nausikaa-Dramen, die mehr oder weniger auf Goethes Fragment aufbauen. Für die Philologie sind die publizierten Fragmente eine stete Versuchung kritischen Scharfsinns. So wurde Goethes Achilleis, ein heroisches Hexameterepos aus dem Stoffkreis des Trojanischen Krieges, von dem nur der erste Gesang vorliegt, neben anderen von Wolfgang Schadewaldt rekonstruiert26, und um die Frage nach Goethes Fortsetzung der Zauberflöte von Mozart und Schikaneder waren Philologen vom Rang eines Emil Staiger, Hans Georg Gadamer, Arthur Henkel und Oskar Seidlin bemüht.27 Der bislang jüngste Beleg für die Faszination an 24 WA I/31, 198. 25 Vgl. dazu Günter Häntzschel: »Adalbert Stifters Nausikaa«, in: Walter Hettche, Johannes John, Sibylle von Steinsdorff (Hg.): Stifter-Studien. Ein Festgeschenk für Wolfgang Frühwald zum 65. Geburtstag, Tübingen 2000, 87–96. 26 Wolfgang Schadewaldt: »Goethes Achilleis«, in: ders.: Goethestudien. Natur und Altertum, Zürich, Stuttgart 1963, 301–395. 27 Emil Staiger : »Goethe und Mozart« [1945], in: ders.: Musik und Dichtung, Zürich 1959, 41–60; Hans Georg Gadamer : »Vom geistigen Lauf des Menschen. Studien zu unvollendeten Dichtungen Goethes« [1949], in: ders.: Kleine Schriften II: Interpretationen, Tübingen 1967, 105–135; Oskar Seidlin: »Goethe’s Magic Flute«, in: ders.: Essays in German and Comparative Literature, Chapel Hill 1961, 45–59; Arthur Henkel: »Goethes ›Hommage / Mozart‹ – Bemerkungen zu ›Der Zauberflöte zweiter Theil‹«, in: Robert B. Palmer, Robert HamertonKelly (Hg.): Philomathes. Essays in memory of Philip Merlan, The Hague 1971, 485–502. – Zuletzt erschien zu dieser Frage Karina Becker : Der andere Goethe. Die literarischen Fragmente im Kontext des Gesamtwerks, Frankfurt/Main u. a. 2012 (= Historisch-kritische Arbeiten zur deutschen Literatur 47).

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Goethes Nausikaa ist eine charmante Mystifikation, die Peter Wapnewski vor nicht langer Zeit in die Welt gesetzt hat – ein Manuskript sei aufgefunden worden, mit glücklichem Ausgang.28 Das Fragment der Ausgabe letzter Hand umfasst die beiden ersten Auftritte des ersten Aktes. Im ersten spielen Jungfrauen aus dem Gefolge Nausikaas am Strand Ball; der zweite Auftritt zeigt Ulysses, »aus der Höhle tretend«, er beklagt sein Los, erblickt von fern »die schönste Heldentochter«, »begleitet von bejahrtem Weibe«, also Nausikaa und ihre Amme Eurymedusa, und beschließt sich zu verbergen. Dieser zwischen Oktober 1786 und April 1787 entstandene Text ist seit 1827 als Nausikaa. Ein Trauerspiel bekannt; 1836, in der sog. Quartausgabe (Q), werden weitere Fragmente des Fragments aus dem Nachlass bekanntgemacht, vorgeordnet immerhin von Goethes Sekretär Eckermann und dem Altphilologen, Berater und langjährigen Freund Goethes Friedrich Wilhelm Riemer.29 Es kommen damit ca. 100 Verse dazu; ein Teil des dritten Auftritts des ersten Aktes, weitere Einzelverse, Halbverse, auch nur markierte Textlücken; sowie ein in einem Quartheft aus Sizilien überliefertes Szenarium, das die Auftritte der fünf Akte markiert, dem Text in der Quartausgabe als »Schema« vorgesetzt. Erst 1889 erscheint das Fragment in der Weimarer Ausgabe in einer historisch-kritischen Darbietung des Textbefunds durch Bernhard Suphan, den Direktor der Weimarer Sammlungen, nunmehr ergeben Text und Paralipomena 157 Verse.30 (Als Scherer die Weimarer Ausgabe plant, behält er sich die Nausikaa selbst vor31, die Aufgabe geht nach Scherers Tod auf Suphan über.) An Zeugnissen liegen weiters vor: eine in der Italienischen Reise mitgeteilte Skizze des geplanten Handlungsverlaufs, in einem Abschnitt, der allerdings »Aus der Erinnerung«32 übertitelt ist, sowie einige Briefzeugnisse. Die Mitteilungen über die Projekte in Goethes eigenen autobiographischen Darstellungen werden in der Forschung allerdings immer mit großer Skepsis beurteilt und gelten im allgemeinen als unzuverlässig (so zum Ewigen Juden, zum Epos Die Geheimnisse, auch zur Nausikaa).

28 Peter Wapnewski: »Nausikaa soll nicht sterben! Eine Semi-Seria im Garten Goethes und Homers«, in: Martin Mittelmeier (Hg.): Ungeschriebene Werke. Wozu Goethe, Flaubert, Jandl und all die anderen nicht gekommen sind, München 2006, 9–38. 29 »Nausikaa. Ein Trauerspiel. Fragmentarisch«, in: Goethe’s poetische und prosaische Werke in zwei Bänden, Stuttgart, Tübingen 1836–37, Bd. 1, Tl. 2, 186–188 (i. f. zit. als Q und Seite). 30 WA I/10 (Weimar 1889), 97–102 (Text), 406–423 (Lesarten). 31 So Erich Schmidt in der editorischen Nachbemerkung zu Scherers Nausikaa-Aufsatz, Wilhelm Scherer : »Nausikaa«, in: ders.: Aufsätze über Goethe, 177–234, 234 (i. f. zit. als N und Seite). 32 WA I/31, 198–202.

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III Im September 1879 nun publiziert Scherer in Westermann’s illustrierten Monatsheften einen Aufsatz mit dem lapidaren Titel: Nausikaa. Wie geht Scherer vor? Zuerst nimmt er sich das Szenarium vor und verbessert Riemers Redaktion; dann setzt er zu einer hypothetischen Rekonstruktion des Dramas aus den Fragmenten und Paralipomena an. Er vergleicht dann die so gewonnene Handlungsführung mit Goethes Erinnerungsfragment aus Dichtung und Wahrheit und schließt aus den Inkongruenzen und Unvermittelbarkeiten auf einen zweiten, späteren Plan eines Odysseus-Dramas. Im zweiten Teil des langen Aufsatzes verfolgt Scherer die Selbstäußerungen Goethes, soweit sie zur Schreibzeit bekannt sind; verortet die Arbeit an der Nausikaa in der Italienreise; vergleicht den Text mit Homers Odyssee; isoliert einige zentrale Motive und Figuren im Werkkontext und versucht Linien im Gesamtwerk auszumachen, die zur Nausikaa hinführen und von diesem Text weitergezogen werden können. Als Ergebnisse zeitigt dieser Durchgang: eine durchgängige Identifikation Goethes mit Odysseus; die Arbeit an der Nausikaa ist damit für Goethe Selbstverständigung, Probehandeln innerhalb der ›großen Konfession‹ von Leben im Werk; in Scherers Identifikation verschiedener Figurationen im Gesamtwerk gehört der Odysseus der Nausikaa in die Reihe der Faust, Weislingen, Clavigo, Fernando; dagegen ist Nausikaa ein »classisches Gretchen« (N 227). So weit, so gut. Diese Vorgangsweise folgt dem vorhin angesprochenen Schema des neuphilologisch zu Leistenden, dem »Herausgeben« und »Erklären«; insgesamt zeigt die Rekonstruktion der Genese Einblicke in Goethes Schaffensprozess, das Wie der Verarbeitung von Quellen, Eindrücken wie der Meerfahrt usw.; und bildet damit ein Steinchen für eine spätere, empirisch untermauerte Theorie der Genialität. Allerdings, und das macht die Sache interessant, gibt es das Werk, zu dem hier Kommentar und Genese geliefert werden, eigentlich gar nicht. Der Kommentar ist damit kurioserweise weniger hypothetisch, sondern sicherer, faktizitärer, als der Text. Vor aller genetischen Betrachtung muss also zuerst rekonstruiert, eher noch konstruiert werden. Diese Rekonstruktion wird mit allem Scharfsinn vorgenommen. Im Szenar erscheint der Name Nausikaa aus unbekannten Gründen nicht, Goethe hat hier ganz offensichtlich den Namen durch einen anderen ersetzt. Welchen? In Frage kämen die »Arete« des Szenars – bei Homer ist eine Arete die Mutter der Nausikaa – und eine bei Homer nicht belegte »Xanthe«. Scherer berichtet hierzu von einem Experiment, das er mit seinem Berliner Kollegen Herman Grimm – dem Sohn Wilhelm Grimms – unternommen habe, um die Frage zu klären; Grimm habe den ganzen Plan unter der Hypothese, Xanthe stehe für Nausikaa, durchgearbeitet und nur absurde Ergebnisse erzielt (N 180). Damit ist für Scherer diese Hypothese widerlegt. Eine andere Stelle im

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Schema lautet nach der Quartausgabe: »Arete will die Tochter nicht geben« (Q 186), was Scherer aus dramaturgischen Erwägungen für einen Fehler der Herausgeber Riemer und Eckermann hält und Arete durch Alkinous ersetzt; er vermutet eine Abkürzung im Manuskript (»A.«), die Weimarer Ausgabe bestätigt diese Vermutung zehn Jahre später. Im zweiten Schritt versucht Scherer, »den Gang des Stückes herzustellen, indem ich sämmtliche Fragmente vermuthungsweise an ihrer Stelle einreihe« (N 182). Aus den zwei überlieferten Auftritten der Nausikaa und dem Fast-Nichts der Paralipomena wird jetzt bei Scherer : eine 22seitige Inhaltsangabe eines fünfaktigen Dramas, mit tragischer Verwicklung (Odysseus verschweigt aus Vorsicht seinen Namen; Nausikaa verliebt sich in den Fremden und gibt vor dem Volk ihrer Phäaken ihrer Neigung Ausdruck); mit einer großen ErkennungsSzene im vierten Akt (Odysseus gibt sich zu erkennen, Nausikaa erkennt den Gatten der Penelope) und mit tragischem Schluss (Nausikaa stürzt sich von einem Felsen ins Meer, weil sie sich kompromittiert hat und Odysseus nach Ithaka reisen wird). Odysseus ist schuldlos-schuldig, weil er aus übel angewendeter Klugheit, nicht aus Betrugsabsicht Unglück angerichtet hat. Die Grenzen des philologisch Vertretbaren sind damit wohl wenigstens erreicht. Gewiss ist diese Rekonstruktion als hypothetisch ausgewiesen; dennoch lässt sie sich als Versuch rechtfertigen. Betrachtet man Scherers Archäologie an Goethes Fragment aus einiger Entfernung, zeichnet sich wissenschaftshistorisch zunächst ein anderer Horizont ab als der eines bloßen Empirismus. Scherers Verfahren erinnert zunächst an das Verfahren der Rekonstruktion von fossilen Lebewesen bei Georges Cuvier, einem der Begründer der Paläontologie und der vergleichenden Anatomie.33 Cuvier entwickelte eine spektakuläre Methode, mit der aus Teilen ein Ganzes rekonstruiert werden konnte. Cuvier rekonstruiert, jedenfalls so die Fama, aus einem Knochen das ganze Skelett, aus dem Skelett die Weichteile und damit die äußere Gestalt des Tieres; Cuviers Fossilienfunde vom Pariser Montmartre können mit entsprechenden Kenntnissen aus der komparativen Anatomie hypothetisch rekonstruiert werden, ein Faszinosum bis heute, von der berühmten Australopitheca »Lucy« bis zur magischen Forensik heutiger Vor- und Hauptabendserien. In La Peau de chagrin (1831) hat Balzac Cuvier den größten Dichter des Jahrhunderts genannt, der aus gebleichten Knochen ganze Welten wieder33 Zur Geschichte solcher Rekonstruktionen vgl. Othenio Abel: Geschichte und Methode der Rekonstruktion vorzeitlicher Wirbeltiere, Jena 1925; Martin J. S. Rudwick: Scenes From Deep Time. Early Pictorial Representations of the Prehistoric World, Chicago, London 1992. Zur Kritik kultureller Präsuppositionen bei der »Rekonstruktion«, insbesondere am notorischen Fall »Lucy«, vgl. Melanie Wiber : Erect Men, Undulating Women: The Visual Imagery of Gender, »Race« and Progress in Reconstructive Illustrations of Human Evolution, Waterloo, Ontario 1997.

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Georges Cuvier (1769–1832): Anoplotherium commune au sixiHme de la grand. nat. Encre et lavis sur papier T Paris, MNHN, BibliothHque centrale, Ms 635.

erstehen habe lassen. Cuviers Rekonstruktionen beruhen auf dem »Gesetz der Korrelation«, auf der Annahme eines intrinsischen funktionalen Zusammenhangs der Teile des Organismus: Heureusement l’anatomie compar8e poss8doit un principe qui, bien d8velopp8, 8toit capable de faire 8vanouir tous les embarras : c’8toit celui de la corr8lation des formes dans les Þtres organis8s, au moyen duquel chaque sorte d’Þtre pourroit, / la rigueur, Þtre reconnue par chaque fragment de chacune de ses parties. Tout Þtre organis8 forme un ensemble, un systHme unique et clos, dont toutes les parties se correspondent mutuellement, et concourent / la mÞme action d8finitive par une r8action r8ciproque. Aucune de ces parties ne peut changer sans que les autres changent aussi ; et par cons8quent chacune d’elles, prise s8par8ment, indique et donne toutes les autres.34

Als Cuvier 1812 dieses Gesetz für die Biologie formuliert, hat die klassizistische Ästhetik längst ein ganz ähnliches Konzept ausgebildet. Es handelt sich um das Konzept des integrierten, ›organischen‹ Kunstwerks, das selbst wieder nach dem Vorbild des Organismus, also der Biologie gedacht ist. Anders wäre eine solche Rekonstruktionsarbeit, wie sie Scherer an der Nausikaa vornimmt, auch gar nicht möglich. Ausgeschlossen muss damit etwa sein: das völlig Unerwartete; das bewusste zügellose Überschreiten ethischer Normen durch die Figuren, wie im Fall Kleists; eine unmotivierte Intervention des Übernatürlichen; Metatheater, wie im ironischen romantischen Theater Tiecks. Scherers Philologie 34 Georges Cuvier : Recherches sur les ossemens fossiles de quadrupHdes, oF l’on r8tablit les caractHres de plusieurs espHces d’animaux que les r8volutions du globe paraissent avoir d8truites, Bd. 1, Paris 1812, 58 (Discours pr8liminaire).

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stimmt mit den klassizistischen Normen überein, auch in ihren methodischen und ästhetischen Optionen, sie bildet die selbstverständliche Basis der Arbeit, dann ist Rekonstruktion wie aufgrund von Cuviers vergleichender Anatomie möglich, Phantasie vorausgesetzt: Die Phantasie ist ein großes Mittel der Erkenntniß in allen Geisteswissenschaften. Wo es gilt, alte Zeiten lebendig zu machen, da ist die Phantasie eine große Macht; für historische Wissenschaften pflegte Müllenhoff hervorzuheben, dass das reichste Mittel für die Erkenntniß der zerstreuten Notizen u.s.w. die Phantasie sei, nur natürlich eine geschulte Phantasie, welche aus der lebendigen Anschauung heraus zum lebendigen Zusammenhang vorzudringen weiß. Der kleinste Knochen, das kleinste Glied eines Fingers kann so beschaffen sein, daß ein vergleichender Anatom das ganze Knochengerüst des betreffenden Thieres aufzubauen vermag (Cuvier). Und ebenso können wir aus einer kleinen Notiz vermittelst der Phantasie das Ganze zu erkennen versuchen. Für die kleinsten Schlüsse ist noch heute Phantasie erforderlich; und noch viel stärker mußte sie in der Urzeit arbeiten, wo die Phantasie also ein Mittel der Forschung war. (P 80f.)

Aber Scherer geht noch weiter ; es geht ihm um eine – gewiss empirisch basierte – spezifische Historizität der Texte, um eine ›Philologie des Werdens‹, nicht um bloßen Funktionalismus wie bei Cuvier ; aber auch nicht um bloße kausalgenetische Reduktion von Werkfakten auf Lebensfakten, die dann »genetisch« den Text erklären könnte. Scherer agiert auch an der Grenze der Trennung der Stimmen zwischen Autor und Philologe, Beobachtungsbasis und Analyse. Drei Stellen sollen zunächst näher betrachtet werden. Das folgende Paralipomenon aus der Quartausgabe reiht Scherer in die vierte Szene des ersten Aktes ein, als Figurenrede des Odysseus: Und wie der arme letzte Brand Von großer Herdesglut mit Asche Des Abends überdeckt wird, daß er Morgens Dem Hause Feuer gebe, lag In Blätter eingescharrt … »ich hier auf unbekannter Erde«, so mag man den Satz ergänzen. (N 188)

Das ist eine direkte Interpolation; Scherer schreibt an Goethes Text weiter, markiert durch Schriftgrößenwechsel und Anführungszeichen. Man mag das problematisch finden; im selben Jahr erschien ein Nausikaa-Aufsatz von Biedermann35, der an einer ähnlichen Stelle genau dasselbe gewagt hat, aber auch nur das. Eine andere Stelle, 1. Akt, fünfter Auftritt: Scherer schließt an ein vierzeiliges Paralipomenon an, das offensichtlich in einer tastenden Textbewegung Ulysses’ Entschluss, seinen Namen nicht zu nennen, zu motivieren sucht: 35 Woldemar Frh. v. Biedermann: »Dramatische Entwürfe Goethe’s. 5. Nausikaa«, in: ders.: Goethe-Forschungen, Frankfurt/Main 1879, 124–144, 130.

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Zuerst verberg’ ich meinen Namen, denn Vielleicht ist noch mein Name nicht …. Und dann klingt der Name Ulysses wie der Name jedes Knechtes. Der Gedanke muß sein: Vielleicht ist mein Name noch nicht zu diesen Sterblichen gedrungen; und wenn sie mich nicht kennen als den Bezwinger Ilions, so hilft mir mein Name nichts, der ebenso gut einem Knechte gehören könnte. [j] Doch wie – so mag sich sein Gedankengang fortspinnen – wie, wenn ich versuchte, ob man den Namen des Ulysses kennt? Dann geb’ ich mich für seinen Kampfgenossen aus, des Volkes Hilfe fleh ich für ihn an und rühm’ ihn hoch, wie ich mich selbst nicht dürfte. Und so, indem ich meinem Herrn zu dienen scheine, wirk’ ich klug für mich. Ist ihm der König, ist das Volk geneigt, so mag die Maske fallen. (N 189f.)

Scherer sagt hier, mit einer Ausnahme, in tadellosen Blankversen eigener Produktion: Doch wie […], wenn ich versuchte, ob man den Namen des Ulysses kennt? Dann geb’ ich mich für seinen Kampfgenossen aus, des Volkes Hilfe fleh ich für ihn an und rühm’ ihn hoch, wie ich mich selbst nicht dürfte. Und so, indem ich meinem Herrn zu dienen scheine, wirk’ ich klug für mich. Ist ihm der König, ist das Volk geneigt, so mag die Maske fallen. (N 190)

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Eine dritte Stelle, IV/4, im D8nouement: Ulysses verrät seinen wirklichen Namen, Scherer entwickelt die Szene so: Ich denke mir eine Rede des Ulysses, welche auf seine Zuhörerschaft äußerst spannend wirkt, worin er dankt, daß man seinem Herrn und Freunde so viel Antheil schenke; die Mühe, die man sich für ihn geben wolle, sei geringer, als man denke, man brauche den Ulysses nicht zu suchen; andererseits könne er die Gunst, die man ihm zuwende, nicht annehmen; die Fürstin möge ihm verzeihen, wenn sie könne; mit unauslöschlicher Dankbarkeit werde er stets an sie zurückdenken: – »denn wißt, ich selber bin Ulyß«. Alle stehen starr. Nausikaa: »Penelopes Gemahl!« Der Vorhang fällt. [j] Ich habe natürlich hier wie sonst nicht die Prätension, Goethes Absichten zu errathen. Ich will es nur der Phantasie meiner Leser erleichtern, sich das Goethesche Schema mit Gestalten und Ereignissen zu füllen. (N 199)

Es handelt sich dabei um den vierten Auftritt des vierten Aufzugs; die Textgrundlage, die Induktionsbasis, auf der diese zentrale Szene rekonstruiert wird, ist, man muss daran erinnern, denkbar schmal: »Vierter Aufzug. […] 4) Die Vorigen. Ulysses.« (Q 186) Es lässt sich denken, dass eine solche ›Rekonstruktionsarbeit‹ nicht unbedingt geeignet war, letzte Zweifel an der Wissenschaftlichkeit der Neugermanistik zu zerstreuen. Allerdings: Goethes Schema sollte sich »mit Gestalten und

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Ereignissen füllen«; das ist eine ganz ähnliche Formulierung wie die, die Goethe als Homer-Leser benützt hat, auch anderswo, im Umgang mit Ruinen, dort hieß es beleben; und diese Stelle hat Scherer ja in seiner Poetik wieder zitiert, ohne das Zitat auszuweisen. Tatsächlich ist »Leben« hier das Stichwort. Tatsächlich finden sich Formulierungen bei Scherer, die darauf hindeuten, dass er auch in wesentlichen Teilen Goethes Naturwissenschaftsverständnis übernimmt. Insbesondere sein Begriff der Beobachtung und der Empirie hat mit dem Goethes viel gemeinsam. Es trifft sich, dass gerade das Nausikaa-Projekt auf das engste mit Goethes Biologie verbunden ist. Es wurde angedeutet, dass die Gärten des Alkinoos eine Rolle in der Nausikaa und in der italienischen Reise spielen; genau zur selben Zeit meint Goethe im giardino pubblico in Palermo die Urpflanze zu sehen. Was ist damit gemeint? Goethe sieht eine Form in vielen Gestalten; es gibt einen Typus der Pflanze, von dem die empirischen Pflanzen Variationen, Metamorphosen sind. Goethes botanischer Blick sieht damit in der empirischen Pflanze den Typus wirklich; das Sichtbare ist damit eine Variante, Metamorphose des Typischen, aber es gibt eine Kontinuität zwischen dem Typus und der Einzelform. Der Typus ist keine Abstraktion, auch kein mathematischer Durchschnitt; er ist im Gegenteil in den Exemplaren anwesend. Es gibt keinen kategorialen Unterschied zwischen Anschauung und Begriff; die richtige Haltung den Phänomenen gegenüber ist die denkende Anschauung, eine Formulierung der Scherer emphatisch zustimmt. Als Schiller dem verdutzten Goethe erklärt, das sei überhaupt keine Erfahrung, sondern eine Idee, antwortet Goethe, das könne ihm sehr lieb sein, dass er Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe.36 Deshalb ist die sichtbare Welt immer zugleich auch schon die ganze Welt; die Farben sind in der Farbenlehre »Wirkungen des Lichtes« im Medium des Trüben. Zwischen Physik und Metaphysik herrscht ungebrochene Kontinuität. Von Goethe aus gibt es daher ebenso Linien in den hartgesottensten Empirismus wie in die verstiegenste naturphilosophische Spekulation.37 Goethes Blick sieht in den Phänomenen immer zugleich ihr Wesen, aber auch ihre Geschichtlichkeit, wie Michail Bachtin betont hat.38 »Ideen« sind dann wirklich sichtbar, und sie liegen dem Sehenden offen zutage; insbesondere im gestaltenreichen Süden. Es ist alles andere als Zufall, dass die Nausikaa eine Vergegenwärtigung fiktionaler Figuren aus der Literatur Homers wird und dass gleichzeitig die methodische 36 WA II/11, 13–20, 17f. 37 Vgl. z. B. Albrecht Schöne: Goethes Farbentheologie, München 1987. 38 M[ikhail]. M. Bakhtin: »The Bildungsroman and Its Significance in the History of Realism (Toward a Historical Typology of the Novel)«, in: ders.: Speech Genres and Other Late Essays, übers. v. Vern W. McGee, hg. v. Caryl Emerson u. Michael Holquist, Austin (Texas) 1986, 10–59, bes. 25ff.

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Fiktion der Urpflanze vielleicht in einem Garten in Palermo aufgefunden werden kann. Die Schau, die Vision, der platonischen Ideen, und das ist sozusagen die Pointe der Sache, ist unter günstigen Bedingungen und mit dem rechten Blick nichts anderes als das Sehen der Welt. Gedanklich hängt das bei Goethe an einer Einheitsvorstellung, die er aus Plotin und dem Neuplatonismus bezogen hat, einer Lichtmetaphysik, die er in der Farbenlehre ausbreitet, und, wenn Jochen Schmidt recht hat, in der Schlussszene von Faust II darlegt.39 Es soll hier noch einmal Scherers bereits herangezogene Vervollständigung des Paralipomenon zu I/4 betrachtet werden. Bei den von Goethe publizierten Fragmenten der Nausikaa handelt es sich um Blankverse; in dem Paralipomenon »Und wie der arme letzte Brand« hat man es aber – mit einer Ausnahme – mit jambischen Vierhebern zu tun. Sieht man von den Halbversen am Ende der fragmentarischen Stellen ab, handelt es sich hier um die einzigen Vierheber im gesamten Textbestand des Nausikaa-Materials. Scherer nun, in seiner Vervollständigung der Stelle, vervollständigt nicht etwa das Metrum auf das korrekte Maß oder auf die offensichtliche metrische Zielgestalt der Nausikaa-Verse hin, sondern er vervollständigt den letzten Halbvers zu einem Vierheber, so dass die Stelle also lauten müsste, verfasst von Scherers Goethe: Und wie der arme letzte Brand Von großer Herdesglut mit Asche Des Abends überdeckt wird, daß er Morgens Dem Hause Feuer gebe, lag In Blätter eingescharrt ich hier auf unbekannter Erde.

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Anders kann die Stelle nicht auf die Verszeilen verteilt werden, da sonst die Versgrenze innerhalb der Wortgrenzen zu liegen käme, und das ist beim klassischen Goethe der Iphigenie und des Tasso nicht denkbar. Wenn dem aber so ist, dann bedeutet das: Scherer vervollständigt das Fragment, nicht den Text, zu dem das Fragment gehört; anders gesagt, er schreibt sich damit in die Genese des Textes ein, er schreibt nicht eine divinierte Endgestalt. Scherer scheint hier viel weiter zu gehen als beim Erfinden von Text oder von Szenen, auch wenn es sich hier nur um etwas mehr als eine Zeile handelt. Er geht auch über alle Rekonstruktion / la Cuvier hinaus; viel eher dürfte Scherer hier an Szenarien anschließen, die aus der Goetheschen Naturwissenschaft bezogen sind: eine Art Embryologie, damit aber auch Bildung, Bildungstrieb, Gestaltwerdung, Metamorphose, nicht bloß Anatomie; Wachstum, nicht bloß Funktion. Der Rekonstrukteur scheint hier einen Standpunkt innerhalb der Metamorphose des Ge39 Jochen Schmidt: »Die ›katholische Mythologie‹ und ihre mystische Entmythologisierung in der Schluss-Szene des ›Faust II‹«, in: Jb der Deutschen Schillergesellschaft, Jg. 34 (1990), 230–256.

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dichts zu beziehen, d. h. des Umwandlungsprozesses vom Entwurf zum organischen Teil; dieser ist dann auch gar kein Fragment mehr, sondern eine Stufe der ›Bildung‹ eines Dramas, das aus anderen Gründen nicht zur Vollendung gelangt ist und deshalb nicht eines Hermeneuten, eines Verstehers, sondern eines Mäeuten, eines Geburtshelfers, bedarf, um sich zu beleben. Beobachtung, philologische Observation, wird Schau des Ganzen. Das bleibt natürlich ein Wagnis, und andere Konstruktionen Scherers sind vorsichtiger ; aber er scheint hier etwas offenzulegen, was in ganz anderer Form dann die Literaturwissenschaft der Jahrhundertwende beschäftigen wird. Um diesen Punkt von einer anderen Seite her etwas zu erhärten, kurz ein anderes Beispiel aus dem Korpus von Scherers Goethe-Analysen, scheinbar entgegengesetzt gelagert. Analogien von Philologie und Anatomie liegen nahe; Theodor Wilhelm Danzel spricht vom »anatomischen Messer« der Philologie.40 Seit Friedrich August Wolf das Autorsubjekt Homer in anonyme Rhapsoden und Karl Lachmann das Nibelungenlied in 20 Einzellieder zerlegt hat, steht die destruktive Funktion der Philologie im Vordergrund. Lachmann sagt einmal, »die wahre kritik, welche sich niemahls grenzen setzt, sondern nur die durch den stoff gegebenen anerkennt, ist sowohl auf das verbinden und bauen als auf das trennen und zerstören aus«.41 (Re-)Konstruktion und Destruktion von Text gehören zusammen. Als Scherer sich den ersten Faust-Monolog (Habe nun ach …) vornimmt, zerlegt er ihn mit den Mitteln feinster philologischer Beobachtung in Einzelteile und unterscheidet in diesem kurzen Stück Literatur vier Textschichten aus verschiedenen Werkphasen.42 Allerdings ist dieser gefährliche philologische Blick, das »philologisch bewaffnete[ ] Auge«, wie Heinzel gesagt hat, nicht destruktiv, sondern liefert Einblicke in die Genese des Textes, »den Entstehungsproceß des Werkes in der Seele des Autors«43 ; der analytische Blick wird hier als Mittel eingesetzt, der Textoberfläche eine gestufte Zeitdimension hinzuzufügen, die Plastizität der Genese wiederzugewinnen, wird selbst also innerhalb der Gedankenwelt Goethes verortbar, der Landschaften nur historisch sehen konnte, wenn die Gegenwart als Folge des Vergangenen erscheint. Scherer lässt damit auch konsequenterweise die Basisannahme der klassischen Textphilologie hinter sich, Brüche im Text ließen auf unterschiedene Verfasser schließen. Von hier aus fällt 40 »Auf diese Weise glaube ich die Hauptzüge des Goetheschen Stückes gleichsam reconstruirt, oder die Entstehung desselben in Goethe’s Geiste wie mit dem anatomischen Messer bloß gelegt zu haben.« Theodor Wilhelm Danzel: »Über Goethe’s Clavijo [sic]«, in: ders.: Gesammelte Aufsätze, hg. v. Otto Jahn, Leipzig 1855, 152–165, 164. Auf diese Stelle bezieht sich Scherer in seinem am Ende des vorliegenden Beitrags zitierten Hymnus auf die Philologie, mit der er die »Aufsätze über Goethe« einleitet. 41 Karl Lachmann: Anmerkungen zu den Nibelungen und zur Klage, Berlin 1836, 5. 42 Wilhelm Scherer : »Betrachtungen über Faust«, in: ders.: Aufsätze über Goethe, 293–326, hier 309–326. 43 W. Scherer : »Goethe-Philologie«, 17.

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dann auch besonders ins Auge, wie häufig Scherers Neuerfindung der Neuphilologie auf Goethes integrale Naturwissenschaft terminologisch rekurriert. Seine Poetik etwa übernimmt den Begriff der »inneren Form« aus Humboldts Sprachphilosophie; Humboldt wieder hat ihn aus Goethe bezogen. Scherers Typusbegriff zeigt die spezifische visuelle Dimension, die er bei Goethe hat, der, Scherer zufolge, »in dem Einzelnen nicht bloß das Individuum, sondern auch den Typus«44 gesehen hat. In der Gattungslehre der Poetik entwickelt Scherer eine »gewissermaßen protostrukturalistische […] Auffassung der Gattungen«45, die Vorstellung nämlich, es wären mögliche und wirkliche Gattungen zu unterscheiden, die sich dann wieder im Strukturalismus (bei Tzvetan Todorov) findet. Scherer wird die Idee wohl von Goethes Idee bezogen haben, man werde aus der »Urpflanze« nichtexistente Pflanzen »in’s Unendliche erfinden« können, die consequent sein müssen, das heißt: die, wenn sie auch nicht existiren, doch existiren könnten und nicht etwa mahlerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Nothwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen.46

Die berüchtigte »Wellentheorie« der Literaturgeschichte hat ihr Vorbild in Goethes Polaritätsdenken. Scherer nimmt eine Schaltstelle innerhalb der Geschichte der Literaturwissenschaft ein; er baut die Philologie so weit zu einer »Neuphilologie« um, dass eine »Literaturwissenschaft« sie wird ablösen können. Scherers Philologie rekurriert auf Goethe nicht bloß als Gegenstand, sondern auch auf seine Methoden. Goethe-Philologie ist damit tatsächlich goetheanische Philologie, nicht bloß die Philologie der Goethe-Texte. Scherer rekurriert dabei insbesondere auf Konzepte der Goetheschen Naturforschung; sie verbindet hinreichend empirische Beobachtung mit visionärer »Schau« des Ganzen. Damit gibt es auch bei Scherer, wie häufig behauptet wird, weder ein szientistisches Selbstmissverständnis noch einen Bruch oder eine Wende; die Naturwissenschaft Goethes hat später, um die Jahrhundertwende, Konjunktur, ihr erster Vertreter ist vielleicht der prominenteste deutsche Darwinist, Ernst Haeckel; Haeckel ist auch jener Autor, den Scherer für die – nicht zustande gekommene – monumentale Weimarer Goethe-Biographie für die Naturforschung vorgesehen hatte.47 Haeckel sprach von der »Entwicklungsbiologie nach Goethe, Lamarck und Darwin«. Scherer wird damit zu einem wichtigen Bindeglied zum 44 Ebd, 14. 45 Hans-Harald Müller : »Wilhelm Scherer (1841–1886)«, in: Christoph König, Hans-Harald Müller, Werner Röcke (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, Berlin, New York 2000, 80–94, 91. 46 WA I/31, 240. 47 Wilhelm Scherer, Erich Schmidt: Briefwechsel, Mit e. Bibliographie d. Schriften v. Erich Schmidt hg. v. Werner Richter u. Eberhard Lämmert, Berlin 1973, 313.

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russischen Formalismus und zum Strukturalismus, zu Oskar Walzel, zu Vladimir Propp und Michail Bachtin, drei weiteren Goethe-Verehrern; andererseits zu Petersen, Vietor und dem Literatur-Morphologen Günther Müller.48 Scherer beginnt seine Aufsätze zur Goethe-Philologie mit einem programmatisch gedachten Passus, einer Art Hymnus an die Philologie. Es ist hier jener andere Ton, die zweite Stimme Scherers zu hören: Die Philologie ist die schmiegsamste aller Wissenschaften. Sie ist ganz auf das feinste geistige Verständnis gegründet. Die Gedanken und Träume vergangener Menschen und Zeiten denkt sie nach, träumt sie nach. Hier will sie das verwirrte Lallen entstellter Volksüberlieferungen verstehen; dort folgt sie dem Fluge des Genius auf seiner einsamen Bahn. Aber alles Verstehen ist ein Nachschaffen: wir verwandeln uns in das, was wir begreifen; der Ton, der an unser Ohr schlägt, muß einen verwandten in uns wecken, sonst sind wir taub; und die partielle Taubheit ist leider gemeines Menschenloos. Die Philologie ist allumfassend, allverstehend, allbeleuchtend: die Philologen stehen unter den Gesetzen endlicher Beschränkung. […] Der Philolog hat kein Mikroskop und kein Scalpell; er kann nicht anatomisiren, er kann nur analysiren. Und er kann nur analysiren, indem er sich assimilirt.49

Beobachten, ließe sich schließen, ist damit ein Modus der Weltaneignung, der eine wissenschaftliche, aber auch eine ästhetische Dimension hat. Goethe spricht einmal von einer »zarte[n] Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht, und dadurch zur eigentlichen Theorie wird«50, dieser Aphorismus dürfte hinter Scherers Hymnus stehen – von daher hat »Beobachtung« einen Vektor in Richtung einer Assimilation, einer Verschmelzung der Perspektiven und Identitäten, die schließlich zu einem intensiven Verhältnis von Beobachter und Beobachtetem führen kann. Die Phänomene zeigen sich, wie Carl Friedrich v. Weizsäcker sagt, in Goethes Naturwissenschaft, aber sie zeigen sich auch jemandem.51 Es gibt also dann – in Wissenschaft und Kunst und Literatur – einen objektivierenden Blick im eigentlichsten Sinn, also einen Blick, der aus Sinnesdaten, Phänomenen Fakten macht; und einen Blick, der assimilatorisch Sicht auf die Produktionsbedingungen von Welt selber hat – und das nicht im Sinn eines blassen Konstruktivismus, sondern im Sinn einer Assimilation an die Produktionsmatrizen dieser Welt überhaupt, der Lebewesen und der Kunstwerke. Die waghalsigste Spielart von Beobachtung.

48 Vgl. dazu Verf.: Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext, 1750–1950, Göttingen 2015, 459–541. 49 W. Scherer : »Goethe-Philologie«, 3–4. 50 WA II/11, 128. 51 Carl Friedrich v. Weizsäcker : »Einige Begriffe aus Goethes Naturwissenschaft«, in: Erich Trunz (Hg.): Goethe, Werke. Hamburger Ausgabe: Bd. 13, München 1981, 535–555, 551.

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Abb.: Goethes Nausikaa in der »Quartausgabe«, 1836 – Scherers Arbeitsgrundlage für die Rekonstruktion. Goethe, Johann Wolfgang von, Goethe’s poetische und prosaische Werke, Bd. 1, hg. v. Friedrich Wilhelm Riemer, Johann Peter Eckermann, Stuttgart 1836. Signatur: 1037177 4 P.o.germ. 80 k-1 1037177 4 P.o.germ. 80 k-1, Permalink: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn =urn:nbn:de:bvb:12-bsb10057009-2.

Franz M. Eybl

Beobachtete Blicke. Barocke Josephserzählungen, Kleists Findling und Bernhards Alte Meister

»Der Blick ist weder physiologisch zu bestimmen noch allein von den Techniken der Wahrnehmung abhängig, deren er sich bedient hat«, unterstrich Hans Belting, der Blick ist vielmehr Teil kultureller Praktiken, die ihrerseits historischem Wandel unterliegen. Man »erschlägt […] ein Phantom, wenn man die Geschichte außer Acht lässt, in der das Thema Blick eingefangen ist.«1 Die jeweilige Kontextualisierung des Blicks akzentuiert diesen in entscheidender Weise auch und gerade in seinen literarischen Darstellungen. Um die Differenzen beim historisch je unterschiedlich inszenierten Motiv des Blicks in der Literatur zum Vorschein zu bringen und zur Diskussion zu stellen, werden drei Beispiele einer möglichen Literaturgeschichte des Blicks diskutiert, die mit dem Visuellen zugleich die Sinneswelt des Körperlichen thematisieren und die Parameter einer Kunst des Sehens, also einer Ästhetik. Es geht dabei um das Beobachten und die beobachtete Beobachtung (Beobachtung zweiter Ordnung), deren Voraussetzung in einem Körpermodell sowie deren Konsequenz in Modellen der Kunstbetrachtung. Die folgende Skizze gilt somit auch einer Verbindung der Wahrnehmungstheorie mit der Darstellungstheorie, denn es wird sich zeigen, dass die literarische Darstellung des Beobachtens und der Interpretation des Beobachteten durch die Figuren der Texte mit dem jeweiligen historischen Theoretisierungsgrad der Mimesis korreliert. Das heißt, dass mit dargestellten Blicken nicht bloß das Beobachten der Außenwelt zur Sprache gebracht werden kann, sondern auch das jeweilige Wahrnehmungsmodell künstlerischer Darstellung und Kunstwahrnehmung: Geblickt wird nicht nur auf die Welt, sondern auch auf die Kunst, und in den Blick kommt auch und gerade deren Abbildungsleistung. Dies wird an drei literarischen Darstellungen von beobachteten Blicken skizziert werden. Die barocken Darstellungen der Erzählung vom einnehmenden Aussehen des biblischen Joseph, deren Beobachtungsgrundlage ein Zeichenbegriff ist, der mechanistisch und analog auf einen Sachverhalt verwies, basieren 1 Hans Belting: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, München 2008, 284.

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ebenso auf einem vormodernen Körpermodell wie auf der vormodernen Lehre der Signaturen als valide Instrumente der wissenschaftlichen wie auch künstlerischen Repräsentation. Die Zeichenordnung Kleists, dessen Findling um eine beobachtete Bildbetrachtung kreist, beruht dagegen auf der Unsicherheit von Repräsentation, insbesondere wenn der menschliche Körper im Spiel ist, und auf einer vorausweisenden Poetik der Sprachskepsis. Thomas Bernhards Umgang mit Repräsentation, wie dies in Alte Meister ebenfalls auf ein Bild bezogen detailreich entfaltet wird, steht sodann jenseits einer fixierbaren Zeichenordnung, in einer – von der Komik wirkungsvoll verdeckten – generellen Unmöglichkeit sprachlicher und künstlerischer Wirklichkeitsabbildung, eine postmoderne Position, in der das Körpermodell keine Rolle mehr spielt. Die im Zuge des neuzeitlichen Reflexionsprozesses entwickelten Beobachtungen zweiter Ordnung unterliegen im Verlauf der Moderne zunehmender Fragwürdigkeit, bis in der Kunst Bernhards jener postmoderne Punkt erreicht ist, an dem der Sinneffekt der Kunsttheorie von den Präsenzeffekten in der Performanz der Suada wirkungsvoll und komisch in Schach gehalten wird.

1.

Höfische Blicke: Der biblische Joseph vor den Frauen des Hofes

Die Geschichte des biblischen Joseph, der von seinen Brüdern verkauft wird, im Exil zu Rang und Ansehen kommt und schließlich die Familie wieder vereint, erzählt die Genesis im 1. Buch Moses und hat damit nicht nur die Maler, sondern auch die Literaten bis hin zu Thomas Manns Josephs-Roman angeregt. Lehrreich ist in unserem Kontext der Erzählstrang seiner Liebesgeschichte, und dies deshalb, weil die in der Bibel rudimentäre narrative Begründung der Erzählung viel Gestaltungsraum offen ließ, der unterschiedlich besetzt werden konnte. Vom Aussehen Josephs heißt es in der Bibel nur: »Vnd Joseph war schön vnd hübsch von Angesicht«2 – bekannt ist die fatale Verlockung, die daraus auf die Frau seines Chefs, das in der Bibel namenlose »Weib des Potiphar«, ausging. Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen und Philip von Zesen haben dies in barocken Romanen3 kurz nacheinander zum Ausgangspunkt der Ausgestaltung 2 Luther 1545, 1 Moses [Gen] 39,6. Die Einheitsübersetzung formuliert allgemeiner : »Josef war schön von Gestalt und Aussehen.« 3 Den literarhistorischen Kontext der Josephsgeschichte in gattungstheoretischer wie affektgeschichtlicher Hinsicht entfaltet in ihrer Habil.schrift Irmgard M. Wirtz: Irmgard M. Wirtz: Affekt und Erzählung. Zur ethischen Fundierung des Barockromans nach 1650 (Habil.schrift Bern 2007, Druck in Vorbereitung). – Zum theologiegeschichtlichen Kontext des Josephstoffes in kursorischem Überblick (ohne Zesen) jetzt Michael Nüchtern: »Im Blickpunkt – Joseph. Beobachtungen zur Wirkungsgeschichte einer biblischen Erzählung«, in: Manfred Oerning,

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dieses schönen Anblicks gemacht.4 Im Interesse kontrastiver Darstellung sei mit der ein wenig späteren Fassung Zesens begonnen. Im Assenat-Roman (1670) inszeniert Philipp von Zesen die erste Begegnung des ägyptischen »Frauenzimmers« mit Joseph als Siegeszug des visuellen Eindrucks. Der Ruf, »daß ein überaus schöner Ebreer angelanget« sei, eilt Joseph voraus und weckt Erwartungen, auf deren Rückbindung an die Sprache Zesen Wert legt: man hatte Joseph »beschrieben/ als einen Engel«, alle hatten »seine schönheit […] überlaut gepriesen«. Doch nun herrscht Schweigen, die Frauen betrachten ihn »mit bestürtztem stilschweigen« – »Alle Jungfrauen stunden als erstummet.« »Eine guhte weile währete dieses stilschweigen.« Es ist mit keiner feder aus zu drükken/ wie heftig diese neugierigen durch den ersten anblik des schönen Leibeignen entzükt warden. Man hatte ihn beschrieben/ als einen Engel: aber sie sahen ihn gar vor eine Gottheit an. Hatte man gestern seine schönheit so überlaut gepriesen; so ward sie heute/ mit bestürtztem stilschweigen des gantzen Frauenzimmers/ betrachtet. Alle Jungfrauen stunden als erstummet. Alle Fürstinnen erstarreten. Ja die Königin selbsten war fast gantz aus ihr selbsten. Doch gleichwohl behielten ihre Sinnen noch so viel kraft/ daß eine iede bei ihr selbst zu wündschen vermochte einen so schönen Engel/ in ihrer schlafkammer/ zum stätigen leibwächter zu haben. Eine guhte weile währete dieses stilschweigen. Die Königin war die erste/ welche zu reden begunte.5

Der Topos der versagenden Stimme beglaubigt die überwältigende Kraft des verspürten Affekts, und nach Anblick und Verstummen bemächtigt sich der Eindruck sodann des ganzen Körpers, »Erstummen« führt zu Erstarren. Ein einziger Anblick genügt, um eine ganze Schar von Menschen in Erstarrung, Entzückung und erotische Gier zu versetzen, völlig ungeachtet der Unterschiede ihres gesellschaftlichen Ranges von der Dienerin bis zur Fürstin und der in der höfischen Welt damit einhergehenden Erwartung zunehmender Selbstdisziplin. Die Abfolge von Rede und Verstummen ist dabei die direkte Umsetzung eines Wahrnehmungsmodells, das zwar recht unpsychologisch und mechanistisch gedacht war, aber wissenschaftlich abgesichert. Nach Robert Burtons Anatomy of Melancholy (1624), deren dritter Teil sich ausführlich mit der Liebesmelancholie beschäftigt, ist »the most familiar and vsuall cause of Loue […] that which comes by sight, which convayes those admirable rayes of Beauty and pleasing Walter Bo[s (Hg.): Alttestamentliche Wissenschaft und kirchliche Praxis: Festschrift Jürgen Kegler, Berlin: 2009, 67–82, hier zu Grimmelshausen als »4. Station« 71–76. 4 Die folgenden Erörterungen zu Zesen und Grimmelshausen habe ich in einer anderen Arbeit zum Ausgangspunkt einer Untersuchung des Zusammenhangs von Sinneseindruck und Körperreaktion genommen: Franz M. Eybl: »Vom Blick zur Brunst, vom Schimpf zum Schlag. Übergänge in der Kommunikation der Körper bei Grimmelshausen und Beer«, in: Simpliciana, Jg. 31 (2009), 273–287. 5 Philipp von Zesen: Assenat, Amsterdam 1670 [Neudruck Tübingen 1967 (Deutsche Neudrucke, R. Barock, 9)], »Das erste Buch«, 10.

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graces to the heart«.6 Für die optische Wahrnehmung gilt in dieser Auffassung ein materielles Verständnis des optischen Eindrucks, der auf Korpuskeln beruht, die ins Auge eindringen und sodann das Blut affizieren und mithin den Feuchtigkeitshaushalt des Menschen beeinflussen. Insbesondere beim Blick von Auge zu Auge intensiviert sich der entsprechende Wirkungsanstoß gleichzeitiger Verwundung und Verletzung: […] the Eye betraies the soule, and is both Actiue and Passiue in this businesse; it wounds and is wounded, is an especiall cause and instrument, both in the subiect and in the obiect. † [Zitat Seneca:] As teares, it beginnes in the eyes descends to the breast; It convaies these beautious rayes, as I haue said, vnto the heart.7

Die Physik des Blicks geht von der Korpuskularität der Sehstrahlen aus, deren Dämpfe augenblicklich den Anblickenden anstecken.8 Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein bleibt dies die Grundlage für die Erregung des Liebesgefühls: Wenn nun zwei Paar Augen sich gegenseitig fixieren, so beschießen sie sich gegenseitig mit Lichtpfeilen und setzen auf diese Weise mehrere physiologische Transformationen in Gang […] Bei ihrem Eintritt in den Körper verwandeln sich die visualisierten Lebensgeister in das Blut zurück, aus dem sie geschaffen sind. Sie ›verdicken‹ sich, heißt es, und prägen ihre Qualität in das fremde Herz ein.9

Die erotischen Auswirkungen sind dann medizinisch als starker Flüssigkeitsumlauf, Hitzeentwicklung und pneumatische körperliche Wirkung zu beschreiben. In seinem Josephsroman (1667) hatte Grimmelshausen die Begegnung des Frauenzimmers mit dem schönen Sklaven ebenfalls erzählerisch ausgeschmückt, aber in anderen narrativen Zusammenhang gestellt.10 Die Damen 6 Robert Burton: Anatomy of Melancholy (1624), 3. Aufl., Oxford 1628, Tl 3: »Love Melancholy«, sect. II, memb. II, subsect. II: »Other causes of Loue Melancholy, Sight, Beauty from the face, eyes, other parts, and how it pierceth«, 417–432, 418. 7 R. Burton: Anatomy, 424. – Zur Problematik der historischen Biophysik des Blicks schweigt Sabine Flach: »Das Auge. Motiv und Selbstthematisierung des Sehens in der Kunst der Moderne«, in: Claudia Benthien, Christoph Wulf (Hg.): Körperteile. Eine kulturelle Anatomie, Reinbek b. H. 2001, 49–65. – Der in der Renaissance »neue Kult des Auges« wird freilich auch von H. Belting: Florenz und Bagdad mit der neuen Konjunktur der Säftelehre und ihrer erkenntnistheoretischen Konsequenzen nicht verrechnet (Ebd., 234; vgl. Kap. 6, Abschnitt 1 »Das Auge als Blick«, 229–239). 8 »The rayes, as some think, sent from the eyes, carry certaine spirituall vapours with them, and so infect the other party, and that in a moment.« R. Burton: Anatomy, 431. 9 Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999, 118. 10 Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Keuscher Joseph, in: Werke II, hg. v. Dieter Breuer, Frankfurt/Main 1997(= Bibliothek der Frühen Neuzeit 5) (= Bibliothek deutscher Klassiker 144), 9–130, die Episode 54–56. – Potiphars Gemahlin ist in der Bibel namentlich nicht belegt, »Samuel Greiffensohn aber nennet sie/ in seiner Lebensbeschreibung des Josefs/ woher zeigt er nicht an/ Saliche [recte Selicha]: und andere …. und wir ebenmäßig … Sefira.«

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wissen bereits um die Verliebtheit der Selicha (wie sie bei Grimmelshausen heißt), und durch die tugendhafte Asanet angestiftet, wollen sie bei einem geplanten Mahl der verliebten Herrin ins Gewissen reden, dass sie einem Sklaven verfallen sei. Selicha aber arrangiert die Begegnung zu ihrer Verteidigung, um auf die Macht des Eros zu verweisen, die ihre Kräfte so deutlich übersteigt, sie musste in Liebe zu Joseph entbrennen. Um die Unwillkürlichkeit dieses Vorgangs unter Beweis zu stellen, inszeniert Selicha mit ihrer Zitronenprobe eine medizinische Versuchsanordnung. Nach dem Essen der Damen wird ein Spiel eingeleitet, das deren Geschicklichkeit auf die Probe stellt: um die Wette soll jede eine Zitrone schälen. Das Spiel ist nicht ungefährlich, weil diesmal mit schärferen Messern als gewöhnlich durchzuführen. Als überraschender Anblick tritt »unversehens« Joseph in den Raum, und zwar »aus Befehl seiner Frauen« in (exakt beschriebener) optisch reizvoller Weise gekleidet, die seinen Wuchs und seine Haut aufs Vorteilhafteste zur Geltung bringt. Selicha hatte auf ihre Gäst Fürstlich zugerüstet […] Und als die Mahlzeit vorüber war/ jeglicher ein Citron richen [lies: reichen] lassen/ mit Versprechen/ welche die ihrige zum ersten geschelet haben würde/ die solte einen schönen Ring/ den sie vom Finger nahm und auff die Tafel legte/ gewonnen haben; als sie nun im besten Schelen waren/ tratt Joseph aus Befehl seiner Frauen unversehens ins Gemach/ in einem Seidenen Sommerkleid/ darinnen man ihm das meiste seiner schneweissen Arm/ ein guten Theil der Brust: und die Knie von dem Mittel Theil der Schenckel an biß auff die halbe Waden sehen konte; in der einen Hand hatte er ein vergiltes Handbecken/ und in der andern die Gießkande/ denen Damen das Handwasser zubringen; die alle ihre Augen auff ihn warffen;

Hier nun ist jener Fall gestaltet, den Burton als Reiz des niederen Personals auf Damen von Stand observiert, so wie Venus ihren rußigen Schmied anderen Liebeswerbern vorzog, was aus dem Anblick entblößter Gliedmaßen resultiert:11 Many women […] will sooner dote vpon a slaue, a seruant, a durt-dawber, a Brontes, a Cooke, a Player, if they see his naked legges or armes, thorosaq; brachia †& c., though he be all in ragges, obscene and durty, then vpon a Noble Gallant; P. v. Zesen: Assenat, »Kurtzbündige Anmärckungen«, 404. – Zum Verhältnis der beiden Erzählungen vgl. Siegfrid Streller: »Grimmelshausens ›Keuscher Joseph‹ und Zesens ›Assenat‹«, in: Simpliciana, Jg. 10 (1988), 421–430, zur Wirkungsgeschichte von Grimmelshausens Josephsroman Peter Heßelmann: »›Entblösete Brüste‹ auch in Wolfenbüttel. Grimmelshausens ›Keuscher Joseph‹ und seine Rezeption im 17. und 18. Jahrhundert«, in: Simpliciana, Jg. 11 (1989), 17–33. 11 R. Burton, Anatomy, 428. – Im Übrigen referiert in seinem Kompendium literarischer Liebesdarstellungen auch Burton die biblische Josephsgeschichte, um für die Wirkung der Schönheit auf die Augen der Betrachterinnen ein weiteres Exempel zu streifen: »Ioseph was so faire, that as the ordinary Glosse hath it, filiae decurrerent per murum, & ad fenestras, they ranne to the top of the walles, and to the windowes to gaze on him […].«, 424.

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Der Sklave kommt den Damen in den Blick, die daraufhin die Kontrolle verlieren und sich allesamt in den Finger schneiden. Es sind die gleichen Stufen, die bei Zesen zu lesen waren: vom Anblick zum Verstummen, zum Erstarren, zum Außer-sich-Sein: sie erstarreten ob seiner unglaublichen Schönheit dermassen/ daß keine mehr wuste was sie thät/ ja sie wurden so gar entzuckt/ daß (indem sie diesen holdseligen Anblick beschaueten und gleichwohl den Ring zugewinnen eilents fortscheleten) sich jede/ ausgenommen die Selicha selbst nicht/ in die Finger schnitte/ daß das Blut hernach floß; Selicha sagte/ was bedeut das/ warum zerschneidet ihr eure Händ? Es gilt den Citronen! die Weiber sagten/ warum bezaubert uns dieses Jünglings Gestalt/ daß wir so aus uns selbst kommen seynd?12

Nun erweisen sich alle Details des Arrangements als Beweismittel eines Experiments, die Wahl einer Zitrone, weil deren Saft Schmerzäußerung erzeugt, die Bereitstellung weißer Servietten, damit das Blut sichtbar wird: »eure blutige Dellertücher sollen Zeugen seyn und mich beurkunden/ daß kein Weiblich Bild den Joseph ohnverletzt ansehen könne«.13 Den anatomischen Schnitt, der das Innere sichtbar macht, führen hier die Frauen selbst an sich durch. Blick und Beobachtung, so kann man resümieren, sind in diesen barocken Darstellungen an das Körpermodell der Säftelehre und an deren Vorstellung von Materialität rückgebunden.14 Es ist charakteristisch für das humoralpathologische Menschenkonzept, dass Selichas Zitronenprobe auf dem Fließen von Körpersäften beruht, dass also die Beweisstruktur eine hydrodynamische ist. Und das schließt auch Joseph mit ein, der ja mit Handbecken und Gießkrug angetreten ist, um die Damen zu benetzen. Und ebenso ist es die Unausweichlichkeit eines biophysikalisch gedachten Wirkungsmodells von Blick und Anblick, dass er ohne weiteres Zutun im Herzen die Liebe entflammen kann. Es ist noch jene Voraussetzung, von der Schikaneders Zauberflöte zehrt, deren Liebeshandlung das von Tamino betrachtete »bezaubernd schöne« Gemälde der Pamina auslöst.

12 H. J. C. Grimmelshausen: Keuscher Joseph, 55, Z. 20. 13 Ebd. 55, Z. 30. 14 Vgl. Franz M. Eybl: »Typus, Temperament, Tabelle. Zur anthropologischen und medientheoretischen Systematik der Völkerstereotypen«, in: Miroslawa Czarneck, Thomas Borgstedt, Tomasz Jablecki (Hg.): Frühneuzeitliche Stereotype. Zur Produktivität und Restriktivität sozialer Vorstellungsmuster. V. Jahrestagung der Internationalen Andreas Gryphius Gesellschaft Wroclaw 8.–11. Oktober 2008, Bern u. a. 2010 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik Reihe A: Kongressberichte, 99), 29–43.

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2.

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Stellvertretung und blackbox: Heinrich von Kleists Der Findling (1811)

Damit ist jedoch eine heikle Verschiebung eingetreten, weil zwischen Vorbild und Porträt ein Repräsentationsverhältnis besteht, das die direkte Einwirkung der dem Gegenüber entströmenden, belebten Sehstrahlen ersetzt. Die Wahrnehmung ist einseitig geworden und funktioniert nicht mehr reziprok, das Kunstwerk übernimmt Wirkungskraft vom Körper des oder der Geliebten und setzt sich damit, die Absenz des Liebesobjektes durch das ästhetische Surrogat kaschierend, an deren Stelle. Eben diese Stellvertretung verarbeitet Kleists Erzählung Der Findling (1811)15 innerhalb eines größeren Austauschsystems einer familialen Konstruktion. Wie das Adoptivkind die Stelle des verstorbenen Sohnes einnimmt, so vertreten Gemälde Verstorbene: »Die stärkste und fatalste Stellvertreterschaft aber ist die eines lebensgroßen Bildes für einen Verstorbenen.«16 Es steht im Zentrum von Kleists hier entfaltetem Blicksystem wechselseitiger Beobachtung. Zugleich aber verhandelt Kleist mit dem »Motiv der Bildwahrnehmung« eine spezifische »epistemologisch-darstellungstheoretische Problematik«.17

Beobachtete Blicke Der erste in der Novelle thematisierte Augenschein gilt dem Körper des Knaben Nicolo, nun mitgenommen auf die Reise nach Rom: »Auf der Straße, vor den Toren der Stadt, sah sich der Landmäkler den Jungen erst recht an« (200). Der Adoptivvater Piachi gewinnt durch seinen Blick den Eindruck »einer besondern, etwas starren Schönheit« mit schwarzen Haaren »in schlichten Spitzen«, die ein Gesicht beschatten, »das, ernst und klug, seine Mienen niemals veränderte« (200). Es dürften sich unter Kleists generell extrem sparsamen Figurenbeschreibungen nur wenige Parallelen einer so ausführlichen Ekphrasis körperlicher Erscheinung finden lassen. Die Klimax der ersten Beschreibung präpariert indessen, was die Erzählung ausfalten wird, nämlich neben der bereits früh 15 Heinrich von Kleist: Der Findling, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Helmut Sembdner, 2 Bde. 9., rev. u. erw. Aufl., München, Wien 1993, Bd. I, 199–215; die Nachweise mit Band- und Seitenzahl im Text. 16 Jürgen Schröder : »Kleists Novelle ›Der Findling‹. Ein Plädoyer für Nicolo«, in: Kleist-Jahrbuch, 1985, 109–127, 114 (auch in: Inka Kording, Anton Philipp Knittel (Hg.): Heinrich von Kleist. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2003, 40–58). 17 Marianne Schuller : »Bild im Text. Zu Kleists Erzählung ›Der Findling‹«, in: Konstanze Fliedl, Bernhard Oberreither, Katharina Serles (Hg.): Gemälderedereien. Zur literarischen Diskursivierung von Bildern, Berlin 2013 (= Philologische Studien und Quellen 242), 42–50, 45.

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entwickelten Verstellungskunst des kleinen Protagonisten die Undurchdringlichkeit einer körperlichen Oberfläche, die als Signal des Inneren so gar nichts taugt.18 Der »scheue« Blick verbirgt zuerst Schüchternheit, wenn der Knabe auf der Fahrt nach Rom vom Wagen aus »mit gedankenvoll scheuen Blicken, die Gegenstände« (200) anblickt, später seine Hinterhältigkeit, wenn er, »nachdem er die Umringung, mit scheuen Blicken, ein wenig geprüft hatte, heimlich die Tür des Gemachs öffnete« (207). Und schließlich wirft Nicolo beim Erblicken des Buchstabentauschs im Buchstabenspiel, »von rasenden Hoffnungen von neuem getroffen, einen ungewissen und scheuen Blick auf die ihm zur Seite sitzende Elvire« (210). Von den »schelmischen« Blicken Xavieras (212) im vermeintlichen Triumph über Elvire über deren »entsetzlichen Blick, den sie auf den Elenden warf,« (213) bis zur Absicht, den gerichteten Piachi »durch den Anblick des Todes, der seiner wartete, in das Gefühl der Reue hineinzuschrecken« (214), reicht die Bandbreite der erzählten Blicke, die von der Energie ihrer Sender ebenso zehren wie sie auf die Angeblickten wirken. Sie unterrichten in unterschiedlicher Weise vom Innenleben der Figuren, das sie mehr verbergen als enthüllen. Die Blicke Elvires beschreibt die Erzählung, für Kleists Frauenfiguren sehr typisch,19 mit wesentlich größerer Frequenz als die Blicke der männlichen Figuren. Sie ist als Frau zwischen zwei Männern durch die Undurchdringlichkeit ihrer Mimik gekennzeichnet, denn der Erzähler hebt »ihr mildes, von Affekten nur selten bewegtes Antlitz« (206) hervor, und durch die Ausdruckslosigkeit ihrer Blicke. Sie erblickt aus ihrem Zimmer tretend Nicolo »mit einem ganz gleichgültigen und ruhigen Blick« (207) und hat auch, von einer Fahrt aufs Land zurückgekehrt, für ihn, »der sie sehr freundlich aus dem Wagen hob, nur einen flüchtigen nichtsbedeutenden Blick« (209). Die Aufladung dieses nichtssagenden weiblichen Blicks mit Aussagekraft ist denn auch das immer stärker drängende Ziel Nicolos, der »mit vieler Ungeduld Elvirens Wiederkunft« erwartet »und die Stunde, da ein Blick in ihr Auge seine schwankende Überzeugung krönen würde.« (209) Doch bleibt die Beschreibung von Blicken nicht bei der Wahrnehmung anderer Körper stehen, sie greift auf Bildwerke und Sprachzeichen aus. Der Drehund Angelpunkt der Novelle Kleists besteht in einer (weiblichen) Betrachtung, deren Gegenstand der (männliche) Beobachter dieser Betrachtung zuerst als Männerkörper vermutet und später als Gemälde erkennt. Nicolo beobachtet 18 Die Forschung hat mehrfach über die Unmöglichkeit nachgedacht, unter der einen Ähnlichkeit zwischen Colino und Nicolo das absolut Heroische und ebensogut das absolut Böse der Verstellung angezeigt zu sehen, wie das die Lavatersche Physiognomik nahelegt. PeterAndr8 Alt: Ästhetik des Bösen, München 2010, zum Findling 210ff., 211f. 19 Vgl. zum »schlagenden« Blick der Penthesilea und der Marquise Franz M. Eybl: »Zeugen und Zeugen. In-Formation in Kleists ›Marquise von O…‹«, in: Euphorion, Jg. 106/2 (2012), 169–184, 183f.

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Elvire in ihrem Zwiegespräch mit einem ihm zunächst nicht sichtbaren Bild des genuesischen Ritters, ihres wegen dieser Tat verstorbenen ehemaligen Retters. Für sie wird »ein Stück Profankunst, das konventionelle Bildnis für eine Ahnengalerie« zum (hysterisch) angebeteten »Gegenstand eines Heiligenkultes«.20 Für Nicolo stellt sich das Rätsel im Abgebildeten dar, in der Referenz des Bildes: »je peinlicher und brennender ward die Neugierde in ihm, zu wissen, wer damit gemeint sei« (207). Der so heiß vermisste hermeneutische Schlüssel des Erblickten bildet zugleich, in kühner Umkehrung, die ästhetische Klammer des Textes, verweist er doch auf das Nicolo am Ende erwartende Höllenfeuer mit Pein und Brand. Eben diesen Schlüssel21 meint Nicolo zu erblicken, wenn die Novelle eine zweite ausführlich erzählte Beobachtung von Elvires Reaktion auf die Buchstabenvertauschung zwischen Nicolo und Colino bringt. Ein dritter Umschlagpunkt des Beobachtens und Erblickens kreist um die Substitution des Gemäldes durch den Körper. Im Spiel der Substitutionen, das für den Findling konstitutiv ist und insbesondere im Feld der familialen Ordnungen durchgespielt wird, markiert das den Problemkreis ästhetischer Repräsentation: Ein vermeintlicher Körper wird als Gemälde erkannt, das Gemälde aber soll nach dem Willen des tricksters und durch seine Dazwischenkunft als Körper wahrgenommen werden, was auch gelingt. Spätestens hier wird die durchaus unterschiedliche Dauer der Blicke belangreich, denn verlangen Menschenbeobachtung (durch Piachi, Nicolo und Xaviera) und Bildbetrachtung (durch Elvire) Geduld und Zeit, so geschieht das Kleistsche Niedersinken infolge des raschen, des überwältigenden, des blitzartigen Blicks,22 der hier Elvire sogleich ohnmächtig niederstreckt.

20 Gernot Müller : »Der Findling: Verzeichnung eines Albtraums«, in: ders.: Man müßte auf dem Gemälde selbst stehen. Kleist und die bildende Kunst, Tübingen u. a. 1995, 309–328, 316f. Dort insgesamt die detailreichste und überzeugendste Kontextualisierung der kunstgeschichtlichen Dimension des Bildnisses. 21 Das Motiv des Aufsperrens und Schließens durchzieht die Erzählung in einer »unendlichen Machination von Schlüsseln und Schlüssellöchern«. Heinz D. Kittsteiner : »Die Tode in Kleists Novelle ›Der Findling‹«, in: Dietrich von Engelhardt u. a. (Hg.): Sterben und Tod bei Heinrich von Kleist und in seinem historischen Kontext, Würzburg 2006 (= Beiträge zur Kleist-Forschung 18/2004), 139–160, 157. 22 Zur Leidener Flasche und dem in Ohnmacht niederstreckenden Blitz vgl. Sigrid Weigel: »Die Funken der Bilder und der Experimentalphysik im Zeitalter der Gefühle. Zur Inszenierung affekttheoretischer Umbrüche in Kleists Erzählung Der Findling«, in: dies.: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin, München 2004, 173–191, hier 187 und 190; zuerst als: »Der Findling als ›gefährliches Supplement‹. Der Schrecken der Bilder und die physikalische Affekttheorie in Kleists Inszenierung diskursiver Übergänge um 1800«, in: Kleist-Jahrbuch, 2001, 120–133.

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Blicke, Körper, Bilder Was insgesamt frappiert, ist der Übergang zwischen Bild und Körper, der auf der thematischen Ebene des Findling leicht zu greifen ist, der aber insgesamt, zieht man das Konzept des Tableaus in Betracht, als charakteristische Darstellungsweise Kleists gelten kann.23 Das Bild des im Findling zentralen Tableaus ist mit seiner Stillstellung des Lebendigen die exakte Umkehrung des Pygmalion-Motivs. Mit seinen Tableaus instrumentalisiert Kleist das Bildgedächtnis der Zeitgenossenschaft, und eine deutliche »szenische« Qualität bestimmt seine Erzählungen von der plakativen Hinrichtungsszene des Michael Kohlhaas bis zum intimen Familiengemälde unter dem Granatapfelbaum nach dem Erdbeben von Chili. Bereits der Beginn der Erzählung Der Findling bezieht sich explizit auf ein Bild- und Darstellungsmuster, wenn der Knabe »nach Art der Flehenden, die Hände zu ihm ausstreckte und in großer Gemütsbewegung zu sein schien« (199; Hervorhebung F.E.). Die »große Bewegung« (200), mit der der kleine Nicolo von Piachi in den Wagen gehoben wird, die »Stellung der Verzückung« (207), in der der junge Mann seine Adoptivmutter erblickt, schließlich die Vergebungsszene mit Piachi, aus der Nicolo sich plötzlich in seiner »unerhörte[n] Frechheit« (213) erhebt – all dies sind bildlich imaginierte und als solche erzählerisch markierte Szenen aus dem Fundus nicht nur der gothic novel,24 sondern insgesamt der Lesestoffe der Unterhaltung wie auch eines sie begleitenden Bildgedächtnisses. Die Körper formieren sich zu Bildern, die Bilder treten in den Zustand der Körperlichkeit. Beiden gemeinsam ist ihre Wahrnehmbarkeit mittels ihrer Oberfläche. Gegenüber den hervorschießenden wie eindringenden Augenstrahlen der frühneuzeitlichen Blicktheorie unter galenischem Vorzeichen gestaltet Kleist blickdichte Apparate. Beim Findling ist es der suchende Blick Nicolos, der über die geläufigen Inszenierungsmuster weiblicher Innerlichkeit hinaus25 keinen schlüssigen Anhaltspunkt für die Gefühlslage Elvires gewinnt und darin in seiner Fehleinschätzung bestärkt wird (während ihn Xaviera Tartini unter deutlicher Körpersprache, »nach einer sonderbaren schalkhaften Begrüßung«, mit »schelmischem« Lächeln und ihn lächelnd neben sich auf den Diwan nötigend mit ihren Informationen zu Elvires Liebesobjekt, sehr zu seinem Un23 Ausgangspunkt von Müllers Untersuchung ist »Kleists Bezug auf Bildkunst […] als der das Gesamtwerk durchziehende Ariadnefaden«. G. Müller : »Der Findling«, 18. 24 Zum Einfluß der gothic novel kurz Günter Blamberger : »Der Findling«, in: Ingo Breuer (Hg.): Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar 2009, 133–136, 133; vgl. zum Bildtransfer G. Müller: »Der Findling«, 316. 25 »Elvire dagegen verkörpert mit ihrem Schweigen, den Tränen, den niedergeschlagenen Augen und ihrem häufigen Erröten genau jene Semiotik der Schamhaftigkeit, die Rousseau im Zeitalter der Gefühle dem weiblichen Geschlecht auf den Leib geschrieben hatte, um das Paradox einer ›wissenden Unschuld‹ zur Darstellung bringen zu können.« S. Weigel: »Funken der Bilder«, 179.

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behagen, »aus der Wiege« holt; 211). Bilder und Personal zeigen Außenseiten, die zwar undurchdringlich bleiben, aber als Bildflächen zur Aufnahme von Projektionen fungieren – Projektionen wie Anbetung, Liebe oder Selbstidentifikation. Nicht umsonst markiert Kleist mehrmals im Werk das Abprallen des suchenden Blicks an der Oberfläche des Gegenüber mit dem eisernen Material eines Harnischs, vor allem mit dessen Qualität als Spiegelmedium. »Auf einem Hügel leuchtend« steht Achill in der Penthesilea, »In Stahl geschient sein Roß und er« (V. 1038f.; I/356). Folgerichtig fasst Penthesilea ihre Beziehung zu Achill im Bild des Spiegels, der den Blick zurückwirft: »Ist das die Siegerin«, fragt sie nach ihrem Selbstbild, »Die seines Busens erzne Rüstung mir, Wenn sich mein Fuß ihm naht, zurückespiegelt?« (V. 642ff.; I/343). Wenn die Erzählung uns von der »starren Schönheit« (200) des Knaben Nicolo berichtet hat, dann sind die »großen Augen des Bildes, das ihn starr ansah,« (207) ein Spiegeleffekt. Es ist auch ein Spiegel, vor dem in Elvires Zimmer, also in Gegenwart des Gemäldes, die eifersüchtige Xaviera die Identitätsfrage der beiden Liebhaber Elvires kleinzureden sucht: »sie sagte, indem sie vor den Spiegel trat, zuletzt sei es gleichgültig, wer die Person sei; empfahl sich ihm ziemlich kalt und verließ das Zimmer.« (208) Die wahre Evidenz suchen die Personen der Erzählung jedoch nicht in Blick oder Anblick, sondern in der Schrift (auch das ein durchgängiges Motiv Kleists, vom Erbvertrag der Schroffensteins über das Futteral der Kunigunde bis zum Diadem Alkmenes), und hier ist es die bewegliche Schrift eines arg reduzierten Spielzeugsetzkastens, dessen verbleibende sechs Steine sowohl »Colino« wie auch »Nicolo« bilden können. Nicht umsonst wird Nicolo mit einem Schreiben der Mund verschlossen, vollendet also Schrift die Hinrichtung durch Piachi, der »ihm das Dekret in den Mund stopfte« (214). Wie die Schrift auf einem leeren Blatt keine Spur schreibt und daher unlesbar bleibt, so versagt das Innenleben von Kleists Figuren seine Schrift auf der Oberfläche ihrer Körper, die als blackboxes erscheinen. Die vielzitierte Wendung Kleists von der Unmöglichkeit, sein Herz herauszureißen und postalisch zuzustellen,26 markiert präzise den Hiatus zwischen Gefühlswelt und Schreiben, dem Innenleben und seiner schriftlichen Repräsentation. Penthesilea steht am Schluss schweigend, sie »blicket starr«, unter Tilgung jeglicher Sinnauskunft: »Und blicket starr, als wärs ein leeres Blatt« (V. 2696; I/414). Hier sind die erblickbaren Aussagemöglichkeiten des Körpers mit jenen der Schrift gleichgeschaltet, hier schließt sich der Kreis von den »starren Blicken« im Findling zur prinzipiellen Unlesbarkeit des Angeblickten, denn das ist leer. Die philosophische Erkenntniskrise der Zeit um 26 »Ich wollte ich könnte mir das Herz aus dem Leibe reißen, in diesen Brief packen, und Dir zuschicken. – Dummer Gedanke!« Brief Nr. 72 an Ulrike von Kleist, Leipzig 13./14. März 1803 (II/729–731, 729f.).

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1800, die für Kleist als sogenannte »Kant-Krise« bezeichnet wird, ist im anthropologischen Bereich eine Krise der Lesbarkeit der Körper.

Versuchsanordnungen der Körperphysik Kleists Beobachtung der Blicke kann medientheoretisch als Experiment beschrieben werden, dessen Protokoll entlang der Figuren charakteristische Fehlfunktionen festhält, die den Wahrnehmungsapparat von Innenwelt und seine Stichhaltigkeit in Frage stellen. Die Fehlfunktion eines Instrumentenschadens zeigt sich an Elvire, deren Kurzsichtigkeit zwischen Repräsentation und Urbild schwer unterscheiden lässt und damit verunklart, was präsent ist, was nicht. Die Fehlfunktion aus der gestörten Abgleichung verschiedener Kanäle, die konkurrierende Messdaten liefern, stören die Einschätzung Nicolos. Er müsste bei deren Widerspruch den Sinnesdaten misstrauen, vertraut aber der identifizierenden Leistung des Auges, wonach er selbst mit Elvires Idolatrie gemeint sei, und nicht dem Ohr, das den fremden Namen ausgesprochen hatte anstatt seinen (209). Die Fehlfunktion Piachis hingegen resultiert aus seinen Justierungsproblemen im Maßnahmenbereich, indem seine Toleranz ihn zur Zurückhaltung bringt und er auf Selbstheilung seiner Frau setzt, die er überdies allenfalls stochastisch überwacht. Das Modell des braven Albert schimmert hier deutlich durch.27 Die Rolle der Moral lässt sich, so zeigt die Erzählung, in der Episteme des Experiments innerhalb einer »gebrechlichen Einrichtung der Welt« mühelos technisch übersetzen: als Meßfehler der Akteure. Zusammen mit dem Durchspielen einer »supplementäre[n] Ökonomie von Genealogie und Repräsentation, die Kleist am Übergang verschiedener Episteme und Diskurse um 1800 inszeniert hat«,28 macht das Kleists Findling, und zwar eben nicht nur als Scheitern ihrer Moral, als »eine Geschichte vom Ende der Aufklärung«29 lesbar. Was Kleists lebend gewordenes Bild auszeichnet: Es tilgt die Absenz. Aber es tilgt sie falsch, denn sie lässt sich nicht mehr tilgen. Wenn sich Nicolo an Colinos Stelle setzt, so ist er Ersatz und Stellvertreter. Kein Pygmalion erweckt mit echtem Gefühl das Kunstgebilde zum Leben, der Findling bleibt Usurpator. Ebenso bleiben Bilder im Vergleich zur Wirklichkeit Ersatz und Stellvertreter, wie Kleist als »Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft« entwickelt (II/ 27 J. Schröder: »Findling«, 116f. 28 S. Weigel: »Funken der Bilder«, 191. 29 P.-A. Alt: Ästhetik des Bösen, 214. – Dies nicht zuletzt mit dem Ende einer spezifischen Repräsentationsbeziehung in der Welt der Zeichen, denn es gibt »keine gesicherte Beziehung zwischen den Zeichen und dem Referenten« mehr. M. Schuller : »Bild im Text«, 47.

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327f.).30 Das 1810 in Berlin ausgestellte Bild von Caspar David Friedrich (1774–1840) erzeugt durch den Kontrast zwischen der Fülle der See und der Einsamkeit des auf den Meereshintergrund blickenden Beobachters den Effekt der Erhabenheit, und es scheine Kleist, »wenn man es betrachtet, als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären.« Doch enttäuscht das Bild, wenn man erwartet, die »Stimme des Lebens« zu vernehmen, also die reale Präsenz des Abgebildeten wahrzunehmen. »Dies aber«, die lebendige Performanz des Beobachtens von Präsenz, »ist vor dem Bilde unmöglich«, denn die dargestellte Natur bleibt absent. »Ja, wenn man diese Landschaft mit ihrer eignen Kreide und mit ihrem eigenen Wasser malte«, wenn die Materialität des Zeichens zugleich die Präsenz des Bezeichneten herstellte, »so, glaube ich, man könnte die Füchse und Wölfe damit zum Heulen bringen; das Stärkste, was man, ohne allen Zweifel, zum Lobe für diese Art von Landschaftsmalerei beibringen kann.« Der Konjunktiv und die Figur der Exclamatio verraten die Aussichtslosigkeit dieses Wunsches an die Leistungsfähigkeit der Kunst.

3.

Auflösung der Oberfläche: Thomas Bernhard: Alte Meister (1985)

Das Thema des Blicks auf Kunst beherrscht Thomas Bernhards Roman Alte Meister. Komödie (1985), denn die Beobachtersituation erscheint durchgängig als strukturelles Motiv. Der erzählte Raum des Romans ist das Kunsthistorische Museum in Wien bei den Alten Meistern, genauer : der Bordone-Saal, noch genauer : die Sitzbank vor Tintorettos Weißbärtigem Mann.31 Der Text verwendet bei Bernhard bekannte Strukturen, etwa die Figurenkonstellation zwischen einem »gelehrten« oder jedenfalls geschwätzigen Helden, dem Musikkritiker Reger, und einem ehrfürchtigen Zuhörer, hier Atzbacher, aus dessen Niederschrift der Erzähler berichtet, oder auch die Beobachtersituation (man denke an die Beispiele zwischen Holzfällen und Elisabeth II.). Gleich der erste Satz des Romans, ein Finalsatz, benennt die ungestörte Beobachtung als Ziel des verfrühten Eintreffens: Erst für halb zwölf Uhr mit Reger im Kunsthistorischen Museum verabredet, war ich schon um halb elf Uhr dort, um ihn, wie ich mir schon längere Zeit vorgenommen 30 Zu Kleists erzählten Bildern vgl. den Abschnitt »Der Findling im Arsenal von Kleists verzeichneten Bildern« in G. Müller : »Der Findling«, 321ff.; zur Bildtheorie Kleists in der Auseinandersetzung mit dem »Mönch am Meer« 204–217. 31 Tintoretto, eigentl. Jacopo Robusti 1518–1594. Bildnis eines weißbärtigen Mannes im Lehnstuhl, um 1560/65. Öl auf Leinwand, 111 x 84 cm. Kunsthistorisches Museum Wien, Inv.Nr. 44. Thomas Bernhard: Alte Meister. Komödie, Frankfurt/Main 1985; Nachweise im Text.

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gehabt hatte, einmal von einem möglichst idealen Winkel aus ungestört beobachten zu können, schreibt Atzbacher. (7)

Und mit einem Schau-Erlebnis endet der Roman auch, nachdem eine Fülle von Kunst- und Wienbeobachtungen getätigt, über den Tod von Regers Frau und über die Hygienesituation in Wien gesprochen wurde, da Atzbacher mit Reger im Burgtheater Kleists Zerbrochnen Krug besucht: »Die Vorstellung war entsetzlich.« Man wird nicht umhin können, die beiden Elemente des Eingangs und des Schlusses in ihrer Gemeinsamkeit aufeinander zu beziehen: angesprochen sind Inszenierungen, die sich der Beobachtung aussetzen, und ihnen haftet die Künstlichkeit des Theaters an.

Betrachtete Betrachter Die erzählte Situation der Alten Meister entspricht exakt dem Arrangement des Findling, weil es auch hier zentral um die Beobachtung einer Gemäldebeobachtung geht: Reger beobachtet den Weißbärtigen Mann, und Atzbacher beobachtet Reger dabei: die Beobachtung erfolgt stehend (7f.), Reger ist in den Anblick »vertieft […], wie gesagt wird« (16), »während ich also noch immer Reger beobachtete, der noch immer den Weißbärtigen Mann von Tintoretto betrachtete« (117). »Reger saß jetzt wieder auf der Bordone-Saal-Sitzbank, den Weißbärtigen Mann von Tintoretto betrachtend.« (173) Doch entsteht wie bei Kleist eine Beobachtungssituation zweiter Ordnung, da auch die Beobachter bei ihrem Tun beobachtet werden: »dachte ich, während ich Reger betrachtete, der den Weißbärtigen Mann von Tintoretto betrachtete, der seinerseits wieder von [dem Aufseher] Irrsigler in Augenschein genommen wurde« (23). Man hat von Bernhards »Supervisions-Syndrom« gesprochen, dem alle Figuren unterliegen: Reger betrachtet das Bild Tintorettos, Atzbacher den Kunstkenner Reger, beide werden von Irrsigler beobachtet, Irrsigler »beschatte lieber Museumsbesucher als normale Menschen« (12) – und der Weißbärtige Mann beobachtet alle Beteiligten seinerseits.32 Aus dieser Grundfiguration erhebt sich nun eine aus Bernhards Œuvre wohlbekannte Welt des Sprechens: die Themenbereiche der Kunst, Musik, Philosophie und Literatur werden abgehandelt, der Aufwand an emotionaler Verurteilung entspricht der Aussparung konkreter inhaltlicher Aussagen, und bei der Besprechung von Geistesgrößen (»Alten Meistern«) fallen deftige Beschimpfungen vor : 32 Bettina Bannasch: »Der Ab-Ort. Zur bildenden Kunst in Thomas Bernhards Alte Meister«, in: Joachim Hoell, Alexander Honold, Kai Luehrs-Kaiser (Hg.): Thomas Bernhard – eine Einschärfung, Berlin 1998, 32–37, 32.

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Heidegger war ein Kitschkopf, sagte Reger, genauso wie Stifter, aber doch noch viel lächerlicher als Stifter, der ja tatsächlich eine tragische Erscheinung gewesen ist zum Unterschied von Heidegger, der immer nur komisch gewesen ist, ebenso kleinbürgerlich wie Stifter, ebenso verheerend größenwahnsinnig, ein Voralpenschwachdenker, wie ich glaube, gerade recht für den deutschen Philosophieeintopf. (88)

Insgesamt setze sich, so Andreas Maier in seiner durch und durch mimetischen Lektüre der Alten Meister und Bernhards, »ein Konzept zur universellen Sinnzertrümmerung« durch.33 Anders, wenn man – in der Tradition von Herwig Walitsch 199234 und unter Beachtung des Untertitels – den Roman als komisches Werk liest. Unter solcher Voraussetzung erzeugt die Wiederholungsstruktur der Erzählerrede komische »Rekursivität« – es »führen Bernhards Texte den Sinnprozeß als Autopoiesis vor«.35 Clara Ervedosa beobachtet genauer eine gegenläufige Textbewegung zwischen der »Inszenierung«, also dem »Text als Bühne der Demontage«, hier als Beobachtungsraum erzählt, und einem zweiten Moment der Destruktion, das das »Verpuffen des Textes ins Nichts« kennzeichnet.36 Erst in der Doppelung von Bedeutungsaufladung und Bedeutungsentzug wird die Textbewegung Bernhards strukturell beschreibbar, und gerade das Gestaltungsfeld der Beobachtung gibt Bernhard Gelegenheit, die beiden performativen komischen Momente von Inszenierung und Annullierung wirkungsvoll zu entfalten.

Inszenierung – Annullierung In Alte Meister setzt die Bewegung des Bedeutungsentzugs rasch nach der Inszenierung der Beobachtungssituation im bedeutendsten Kunstmuseum des Landes ein, nach der Aufladung mit künstlerischer Aura, in der sich das Personal dienend oder kommentierend bewegt, in einem Feld des Beschauens und Beobachtens von Bildern. In der Gegenbewegung werden allmählich alle Bereiche der Abbildung ins Verhör gezogen und sozusagen schleichend aufgeweicht. Da ist zunächst die Konsistenz des Tafelbildes selbst und die Art seiner Betrachtung. Seine Oberfläche wird durchlässig, denn das betrachtete Bild erlaubt den 33 Andreas Maier : Die Verführung. Thomas Bernhards Prosa, Göttingen 2004, 271. 34 Herwig Walitsch: Thomas Bernhard und das Komische. Versuch über den Komikbegriff Thomas Bernhards anhand der Texte »Alte Meister« und »Die Macht der Gewohnheit«, Erlangen 1992 (= Erlanger Studien 96), 69–111. 35 Anja Gerigk: Literarische Hochkomik in der Moderne. Theorie und Interpretationen, Tübingen 2008, 175. 36 Clara Ervedosa: »Vor den Kopf stoßen«. Das Komische als Schock im Werk Thomas Bernhards, Bielefeld 2008, zu Alte Meister 165–261; hier 165ff. und 183ff. Zum strukturellen Moment des Komischen in Bernhards Alte Meister, 254f.

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Durchblick auf zeitlich wie räumlich Absentes. Reger beobachtet mit einem Mal nicht mehr das Bild, »sondern etwas ganz anderes hinter dem Weißbärtigen Mann, nicht den Tintoretto, sondern etwas weit außerhalb des Museums« (45). Ebenso beobachtet Atzbacher als Erzähler über den observierten Reger hinweg durch den Tintoretto hindurch seine eigene Kindheit, »und sah doch in meine Kindheit hinein und hörte die Stimmen meiner Kindheit« (46), »während ich Reger beobachtete und gleichzeitig durch den Weißbärtigen Mann von Tintoretto wieder in meine Kindheit hinein schaute« (53). Andererseits beharrt die Rede des Textes auf dem Auslangen bloß oberflächlicher Betrachtung:37 »Schauen Sie ein Bild nicht lang an, lesen Sie ein Buch nicht zu eindringlich, hören Sie ein Musikstück nicht mit der größten Intensität, Sie ruinieren sich alles […]« (68, es spricht Reger im erzählten Bericht Atzbachers). »Kunst ist nicht für die totale Betrachtung und für das totale Hören und für das totale Sehen gemacht, sagte er« (70), denn aus solch intensiver Betrachtung resultiert das Hervortreten von Fehlern, ja einer Karikatur : Die Alten Meister, wie sie jetzt schon seit Jahrhunderten genannt werden, halten nur der oberflächlichen Betrachtung stand, betrachten wir sie eingehend, verlieren sie nach und nach und am Ende, wenn wir sie wirklich und wahrhaftig und das heißt, so gründlich wie möglich die längste Zeit studiert haben, lösen sie sich auf, sind sie uns zerbröckelt […]. (67)

Worauf das Bild als Zeichen referiert, bleibt in beiden Fällen zweitrangig. Anders als bei Kleist, ja in dessen Umkehrung ist jedoch die Außenseite, die Oberfläche, in Alte Meister nicht das Hindernis für eine Sinnvermutung, sondern das Ziel und der Haupteffekt von Kunst. Da wird zweitens die Frage der Autorschaft und ihrer Aura verhandelt. »In Bernhards Alte Meister gibt es die Möglichkeit einer der Natur parallelen Gestaltung von Welt durch die Kunst nicht. […] Als die erstaunlichste künstlerische Leistung gilt die größtmögliche Ähnlichkeit der Kunst mit der Kunst: die Fälschung.«38 »Ob Sie es glauben oder nicht, so der Engländer, so Reger zu mir, der gleiche Weißbärtige Mann von Tintoretto, der in meinem Schlafzimmer in Wales hängt, hängt auch hier« (151). »Es ist, als ob es nicht nur das gleiche, sondern absolut dasselbe wäre, sagte der Engländer, sagte Reger« (156). Gerade die Unentscheidbarkeit der Autorschaft stiftet den Wert des Gemäldes, hier um den Preis seiner Einmaligkeit und Aura: 37 »Die Versenkung in das Bild wird dabei nicht als ein Akt des Eindringens (AM 68) vorgestellt, sondern als ein Niederlassen auf seiner Oberfläche, dem blätternden, auf das Fragment gerichteten Lesen vergleichbar.« Bettina Bannasch: »Der Akt des Sehens. Handkes Die Lehre der Sainte-Victoire und Bernhards Alte Meister«, in: Joachim Hoell, Kai Luehrs-Kaiser (Hg.): Thomas Bernhard. Traditionen und Trabanten, Würzburg 1999, 95–109, 99. 38 Ebd. 106.

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Nur einem so großen Künstler wie Tintoretto mag es, so der Engländer, so Reger, tatsächlich gelungen sein, ein zweites Gemälde nicht als ein vollkommen gleiches, sondern als vollkommen dasselbe zu malen. Das wäre dann immerhin eine Sensation, sagte der Engländer, sagte Reger, und ging aus dem Bordone-Saal hinaus. (160) Auf bisher nicht genau untersuchte Weise thematisiert der Roman die Frage des Mediums, indem die Relation von Gemälde und Fotografie zur Diskussion gestellt wird, denn Heidegger erscheint, und hier ist die Komik der Wiederholung zu greifen, in einer »Reihe von Fotografien« (93): auf diesen Fotografien steigt Heidegger aus seinem Bett, steigt Heidegger in sein Bett wieder hinein, schläft Heidegger, wacht er auf, zieht er seine Unterhose an, schlüpft er in seine Strümpfe, macht er einen Schluck Most, tritt er aus seinem Blockhaus hinaus und schaut auf den Horizont, schnitzt er seinen Stock, setzt er seine Haube auf, nimmt er seine Haube vom Kopf, hält er seine Haube in den Händen, spreizt er die Beine, hebt er den Kopf, senkt er den Kopf […] und so weiter, sagte Reger. Es ist zum Kotzen. (93f.)

Das demonstriert einerseits die Entwertung des Einzelbildes und seiner Mimesis, wirkt aber andererseits in beschleunigter Lektüre wie ein Daumenkino und leitet zum Film über. Die Institution der Kunstpflege gerät unter komische Beleuchtung, wenn die Toiletten des Kunsthistorischen Museums zu dessen Nachteil mit jenen des Hotels Ambassador verglichen werden oder wenn sich Reger die Kunsthistoriker vornimmt, »diese kunsthistorischen Redeschweine« (34). »Die Kunsthistoriker sind die tatsächlichen Kunsttöter« (35), Reger aber sei »kein Schwätzer, nur der bescheidene Aufklärer und Berichterstatter, der dem Betrachter das Kunstwerk offen lässt, es ihm nicht durch Geschwätz verschließt. Das habe ich ihm, Irrsigler, im Laufe von Jahrzehnten beigebracht, wie Kunstwerke zu erklären sind als Betrachtung« (35). Verhandelt wird der Modus des Beschauens, die Kunst des Blicks. Schließlich finden die Doppelungen der Ästhetik auch in den Doppelungen des Sprechens ihre Korrespondenz, demnach in der Poetik des Romans. Damit wird auch die Erzählkonstruktion dieses Romans (was aber mit anderen Werken Bernhards durchaus vergleichbar ist) als Anwendungsfall erschütterter Mimesis begreifbar. In der erzählten Welt inszeniert der Text die Doppelungen des Sprechens als Figurenrede, mit »Irrsigler, der mit der Zeit viele, wenn nicht gar alle Sätze Regers wortwörtlich übernommen hat« (12), »sagt Irrsigler, weil Reger so oft sagt« (13), Irrsigler hat »schon eine sehr hohe Meisterschaft im Aneignen der Regerschen Sätze erreicht« (16). Auf der Ebene des narrativen Diskurses erscheinen Doppelungen des Sprechens in den komplexen, intradiegetischen (Atzbacher), hypodiegetischen (Reger), hypohypodiegetischen (der Engländer)

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und schließlich extradiegetischen Erzählebenen (Erzähler).39 Auch mit diesen Vorkehrungen gelingt komische Wirkung, und es erlangt »der KomödienRoman jene Merkmale, aus denen sich die theoretische Figur [der Hochkomik] zusammensetzt: Performanz statt Thematisierung, Gleichzeitigkeit statt Abfolge, Ambivalenz statt eines eindeutig positiven oder negativen Verhältnisses.«40 Insgesamt zieht der Text mit dieser Dekonstruktion des Tafelbildes in seinen ästhetischen Facetten alle Repräsentationen in Zweifel. Umstandslos lässt sich etwa durch Reger die Behauptung von der Qualität oberflächlicher Bildbetrachtung auf die Literatur übertragen: »Ich bin mehr Umblätterer als Leser, müssen Sie wissen, und ich liebe das Umblättern genauso wie das Lesen […]« (39). Es sei besser zwölf Zeilen gut als ein Buch normal lesen. Franziska Schößler hat das als Grundfigur der verschwindenden Geltung formuliert: »Aura wird mit Reproduktion konfrontiert und zugleich konfundiert, große, lineare Geschichtskonstruktionen mit Simultaneität, das gemalte Unikat mit der Gespensterfotographie, der große Erzähler mit den wiederholenden Phonographen.«41 Bernhard rüttelt damit am kulturellen Zeichensystem der Moderne. Denn was im Gestaltungsfeld des Bildbetrachtens ausgefaltet wird, greift als Suada des Protagonisten auf die benachbarten Kunstformen der Musik (Reger doziert über Bach, Mozart, Schumann) und der Literatur über. Das Durchdeklinieren aller Momente künstlerischer Repräsentation und ihrer beobachtenden Wahrnehmung ist zugleich ein Zugrunderichten der Voraussetzung mimetischer Kunst: nämlich dass sie in der Lage sei, die Wirklichkeit zu repräsentieren. Warum malen die Maler eigentlich, wo es doch die Natur gibt? fragte sich Reger gestern wieder einmal. Selbst das außerordentlichste Kunstwerk ist doch nur eine armselige völlig sinn- und zwecklose Mühe, die Natur nachzuahmen, ja nachzuäffen, sagte er. […] Festhalten, sagen die Leute, dokumentieren, aber es wird ja doch, wie wir wissen, nur Verlogenes Unwahres, es wird nur die Unwahrheit und die Verlogenheit festgehalten und dokumentiert, die Nachwelt hat nur Unwahrheit und Verlogenheit an den 39 Die Forschung ist selten so präzise mit der Klärung der Erzählinszenierung befaßt wie Ervedosa in Abschnitt 3.3.2.7.2.1 »Das Theater der Stimmen: Stimmen erzählen und werden erzählt«, in: C. Ervedosa: Das Komische als Schock, 233–240. 40 A. Gerigk: Literarische Hochkomik, 183. – Zu wenig hinter die Oberfläche der Erzählung greift die Klassifikation von einem »Clown-Künstler und Sprachakrobaten« mit seinem »Sprachwirbel« von L#szlj V. Szabj: »›… aber in der Kunst kann alles lächerlich gemacht werden‹[.] Ikonoklasmen in Thomas Bernhards Alte Meister«, in: Johann Georg Lughofer (Hg.): Thomas Bernhard. Gesellschaftliche und politische Bedeutung der Literatur, Wien u. a. 2012 (= Literatur und Leben [N. F.] 81), 87–101, 97. 41 Franziska Schößler : »Erinnerung zwischen Aura und Reproduktion. Heidegger in Thomas Bernhards Alte Meister und Elfriede Jelineks Totenauberg«, in: dies., Ingeborg Villinger (Hg.): Politik und Medien bei Thomas Bernhard, Würzburg 2002, 208–229, 215.

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Wänden hängen, nur Unwahrheit und Verlogenheit ist in den Büchern, die uns die sogenannten großen Schriftsteller hinterlassen haben […]. (63)

Das »Konzept zur universalen Sinnzertrümmerung« (Andreas Maier) zerlegt die Sprache der Beschreibung, es inszeniert das apriorische Ungenügen künstlerischer Ausdrucksmöglichkeit jenseits der Mimesis: »Die für Bernhard so typischen Sprachgeflechte […] verweisen deutlich auf ihr nicht-nachbildendes Wesen.«42 Bezeichnend auch, dass der Körper und seine Wahrnehmung keinerlei Rolle mehr spielt, denn die Figuren bleiben bloße Sprecher. Dieses Ergebnis wird jedoch, und darin liegt die komische Genialität des Komikers Thomas Bernhard, nicht ernst und argumentativ erzielt, wie so viele Leser und Interpreten es sehen wollen oder auch an Bernhard vermissen, sondern unernst und ästhetisch, mit den Mitteln der Kunst. Die Figur des Beobachtens ist dabei ebenso wie alle thematischen Sinnkerne Bernhards Objekt unmerklicher oder auch manifester Dekonstruktion, die indessen nicht als intellektueller Verlust, sondern als komischer Gewinn gebucht wird – eine heitere Performanz der Dekonstruktion. Die entsetzliche Aufführung des Zerbrochnen Krugs, das Schlusswort der Alten Meister, wird zum zusammenfassenden emblematischen Deutbild einer heiteren Verhandlung um einen verlorenen und zerstörten Kunstgegenstand, der sich der Sicht- und Deutbarkeit entzogen hat: »Nichts seht ihr, mit Verlaub, die Scherben seht ihr«.43

42 Nils Markwardt: »Mit der Kunst leben. Thomas Bernhards Poetik der (Ver-)Fälschung im Roman ›Alte Meister‹«, in: Weimarer Beiträge, Jg. 58/3 (2012), 394–410, 405. 43 Frau Marthe, Kleist, Der zerbrochne Krug, Sz. 7, V. 646; SW I/200.

Thomas Weitin

Den Auftritt des Zeugen beobachten

Ein Zeuge ist ein Beobachter, der über das, was er gesehen oder gehört hat, möglichst wahrheitsgemäße Aussagen machen soll. Den Auftritt des Zeugen zu beobachten, setzt jedoch komplexere Beobachtungsverhältnisse voraus: Der Beobachter wird wiederum beobachtet. In jeder mündlichen Gerichtsverhandlung, in der Zeugen aussagen, findet eine Beobachtung zweiter Ordnung statt. Der Zeuge wird in den Zeugenstand gerufen, befragt und macht seine Aussage unter den Augen des Gerichts und der anwesenden Öffentlichkeit. Heute erscheint dieses im Gerichtsfernsehen gern gezeigte Szenario selbstverständlich, historisch betrachtet ist es im deutschsprachigen Rechtsraum kaum 150 Jahre alt. Bis ins 19. Jahrhundert hinein liefen Gerichtsverfahren in Strafsachen meist geheim und schriftlich ab. Der Richter entschied nicht als Beobachter einer Verhandlungssituation, sondern als Leser der im Ermittlungsverfahren zu den Akten gebrachten Beweise. Das Urteil erging nach Aktenlage, ohne dass der Zeuge vor dem entscheidenden Richter hätte auftreten müssen. Seine Aussage lag nur im Protokoll vor. Es war die Aufklärung, die mit ihren Idealvorstellungen von transparenter Öffentlichkeit und Partizipation das Ende des geheimen Prozesses einleitete. Aufklärung – das hieß in allen gesellschaftlichen Bereichen, auch und gerade im Recht: Nichts soll mehr unbeobachtet im Verborgenen entschieden werden. Damit verbunden war, und dies ist der Einsatz der folgenden Ausführungen, ein medialer Wandel im Strafverfahren in Gestalt des Übergangs vom schriftlichen zum mündlichen Prozess. Dieser Übergang ist für die Literaturwissenschaft von besonderem Interesse, weil die zeitgenössische Dichtung und ihre Theoriebildung eine wichtige Rolle spielten, wenn es darum ging, die Urteilsfindung unter den neuen medialen Bedingungen zu verstehen. Meiner These zufolge ist der Übergang zum öffentlich-mündlichen Gerichtsverfahren mit einer Dramatisierung des Rechts verbunden, die in der unmittelbaren Beobachtung des Zeugenauftritts ihre Schlüsselszene hat.1 1 Vgl. dazu ausführlich: Thomas Weitin: Zeugenschaft. Das Recht der Literatur, München 2009.

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Thomas Weitin

Den Auftritt des Zeugen direkt zu beobachten, hat offenkundig viele Vorteile. Man liest nicht nur die Aussage vom Papier, man kann aus den Umständen der Aussage seine ganz eigenen Schlüsse ziehen. Wird ein Zeuge rot, dann lügt er vielleicht. Wirkt seine Aussage wie auswendig gelernt, ist er unglaubwürdig. Diese Beobachtungen, so der zweite Teil meiner These, bringen jedoch bei allem unzweifelhaften Nutzen zugleich Probleme mit sich. Wer garantiert, dass man in der unmittelbaren Beobachtungssituation aus der Aussage und den ganz unterschiedlichen Zeichen, die sie begleiten, die richtigen Schlüsse zieht? Sind körperliche Zeichen wie das Erröten überhaupt genau zu deuten? Ich werde zeigen, dass die Juristen des 18. Jahrhunderts bei den Literaten Anschauungsunterricht nehmen konnten, wenn es darum ging, Beobachter unmittelbar zu beobachten. Die vornehmste Gattung war zu dieser Zeit bekanntlich das Drama, in welchem die Gerichtsszene einen ebenso prominenten Platz einnahm wie in der Dramentheorie. Die Dramatisierung des Rechts und die komplexen Verhältnisse der Beobachtung und der Zeichendeutung unter den Bedingungen von Unmittelbarkeit waren hier bereits beobachtbar, als es sie in der Rechtspraxis noch gar nicht gab. Ich werde zur Verdeutlichung dieses Zusammenhangs vom Beispiel Friedrich Schillers ausgehen und die im 18. Jahrhundert populäre Vorstellung vom Theater als Gerichtshof beleuchten, um anschließend zwei berühmte Gerichtsszenen bei Goethe und Kleist zu diskutieren. In einem dritten Schritt gehe ich darauf ein, wie die Dramatisierung des Rechts zeichentheoretisch gedacht worden ist. Dabei steht die Problematik des Gebärdenausdrucks als Verbindung zwischen Drama und Prozess im Mittelpunkt. Schließlich möchte ich wiederum am Beispiel Schillers demonstrieren, wie buchstäblich dramatisch die von der Rechtsaufklärung favorisierte Vorstellung unmittelbarer Beobachtung ist.

1.

Das Theater als Gerichtshof

Von der Uraufführung der Räuber ist folgende Zeugenaussage überliefert: Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerraum! Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten einer Ohnmacht nahe zur Thüre. Es war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus deßen Nebeln eine neue Schöpfung hervorbricht!2

2 Aussage eines Augenzeugen der ersten Vorstellung, in: Anton Pichler : Chronik des Großherzoglichen Hof- und National-Theaters in Mannheim, Mannheim 1879, 67f. Hier zitiert nach: Friedrich Schiller : Die Räuber. Texte und Zeugnisse zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte, hg. v. Herbert Kraft und Harald Steinhagen, Frankfurt/Main 1967, 77f.

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Der anonyme Beobachter der legendären Mannheimer Uraufführung von Schillers erstem Drama versucht, die überwältigende Wirkung des Trauerspiels in Worte zu fassen. Wie infiziert vom Fieber des Sturm und Drang-Dramas gerät der Bericht seinerseits dramatisch und beschwört eine kreative Gewalt, wie sie in den Avantgarden der Moderne Manifestcharakter gewinnen wird: Auflösung und Neuschöpfung. Derartige Zeugnisse lassen sich bei abnehmender Radikalität bis in die Frühzeit des bürgerlichen Trauerspiels zurückverfolgen, etwa zu Friedrich Nicolais Besuch einer Berliner Vorstellung von Miß Sara Sampson, über den er Lessing brieflich mitteilt, er sei »ungemein gerührt worden« und habe »öfters geweint«.3 Johann Friedrich Schink hebt in seinem Bericht von der Berliner Erstaufführung der Emilia Galotti die Darstellerin der Claudia hervor und schreibt: »[W]as müst ich können, um das hinzustellen, wie sie es sagte, wie ich es gehört habe; wie die Töne noch vor meinen Ohren schweben!«4 Begutachtet wird in den Kritiken das Ausdrucksvermögen der Schauspieler, ihre künstlerische Fähigkeit, das reiche Repertoire von Gemütszuständen, das die Dramen in Rede- und Nebentext bereithalten, naturgetreu umzusetzen.5 Als Bedingung der Möglichkeit eines Urteils darüber kommuniziert sich immer auch die Kommunikationssituation selbst, die Unmittelbarkeit der Aufführung, der das Theater seine Wirkungsmacht verdankt. So sehr sich die Berichte der Beobachter bemühen, am Ende stellen sie stets die Unnachahmlichkeit des je einmaligen Erlebnisses heraus. Dass die unmittelbare Beobachtung des Bühnenspiels, der Augenblick, in dem es gehört und vernommen worden ist, durch keine Nacherzählung erreicht werden kann, ist ein Topos nicht nur der zeitgenössischen Theaterkritik. Die direkte Beobachtung, die Zeugenschaft der Zuschauer, avanciert in der deutschen Gattungspoetik nach 1750 zum zentralen Klassifikationskriterium, wenn es darum geht, die epische von der dramatischen Dichtung zu unterscheiden. Das bürgerliche Aufklärungstheater setzt in seiner wirkungsästhetischen Ausrichtung auf die Anschaulichkeit lebendiger Vorstellungen und muss daher das aufgeführte Schauspiel gegenüber dem Lesedrama privilegieren6 und die dramatischen den narrativen Gattungen vorziehen. Theoriefähig wird diese Haltung in Deutschland mit Lessings Dramaturgie und seinen Diderot-Übertra3 Brief vom 3. November 1756. Hier zitiert nach: Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel, hg. von Jochen Schulte-Sasse, München 1972, 52. 4 Johann Friedrich Schink: Dramaturgische Fragmente, Bd. 2, Graz 1781, 428f. 5 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas. Epochen der Identität auf dem Theater von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 1, Tübingen, Basel 1999, 319f. 6 Vgl. Wolfgang Scholz: Abbildung und Veränderung durch das Theater im 18. Jahrhundert, Hildesheim 1980, 28.

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gungen. Deren Popularität verdankt sich einer bestimmten Selbstinszenierung der Dramentheorie, über die ein in Frankreich weit weniger beachteter Entwurf in der deutschen Poetikdiskussion Karriere macht. Der Diderot-Schüler LouisS8bastien Mercier radikalisiert die Wirkungsästhetik in seinem Neuen Versuch über die Schauspielkunst durch die Vorstellung vom Theater als »oberste[m] Gerichthof«, womit er einerseits auf antike Traditionen zurückgreift, andererseits aber die Idee eines modernen Massenmediums verbindet, das die Öffentlichkeit, wie er schreibt, »durch den elektrischen Schlag des Gefühls«7 zum Guten ›dahinreißen‹ und aufklären soll. Ähnlich juridisch aufgeladen prägt Schillers Rede über die Schaubühne als moralische Anstalt den Begriff der »Gerichtsbarkeit der Bühne«, die er durch »Anschauung und lebendige Gegenwart« charakterisiert sieht.8 Gemeint sind die gattungspoetischen Merkmale des Dramas im Unterschied zur Epik, zugleich jedoch diejenigen Qualitäten, die das Theater gegenüber der geltenden Praxis des Strafprozesses als Schauplatz unmittelbarer Urteilsfindung herausheben. Das Theater als Gericht, die Gerichtsszene wird zum Inbegriff jener öffentlichen und unmittelbaren Beobachtung der Rechtsprechung, die der zeitgenössischen Rechtspflege fehlt. Anders als in England mit seiner langen bürgerlichen Tradition der öffentlich agierenden Geschworenengerichte, hatte der Strafprozess in Frankreich und in den deutschen Rechtsgebieten Ende des 18. Jahrhunderts wie erwähnt noch die Form der geheimen schriftlichen Inquisition, in der über alle Kapitalverbrechen von gelehrten Obergerichten nach Aktenlage und das heißt: ohne Anschauung und lebendige Gegenwart entschieden wurde.9 In Frankreich änderte das die Gesetzgebung von 1789 schlagartig. In Deutschland hingegen dauerte es bis 1877, ehe nach insgesamt mehr als hundert Jahren intensiver rechtspolitischer Auseinandersetzung eine einheitliche Reichsstrafprozessordnung die frei zugängliche, mündliche Hauptverhandlung in der bis heute gültigen Form kodifizierte. In der Hauptverhandlung muss seither alles, was im Ermittlungsverfahren zu den Akten gebracht worden ist, noch einmal vor den Augen und für die Ohren aller Verfahrensbeteiligten und des interessierten Publikums zur Sprache kommen.10 Die vor Gericht versammelten Beobachter stellen sicher, dass nichts unter der Hand geschieht, wenn Recht gesprochen wird. Erst der theatrale Akt 7 Louis-S8bastien Mercier : Neuer Versuch über die Schauspielkunst, übers. von Heinrich Leopold Wagner, Leipzig 1767 [Neudruck: Heidelberg 1967], 11. 8 Friedrich Schiller : »Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?«, in: ders.: Werke. Nationalausgabe, Bd. 20, hg. v. Benno von Wiese, Weimar 1962, 91, 92. 9 Vgl. Carl Josef Anton Mittermaier : Das deutsche Strafverfahren in der Fortbildung durch Gerichts-Gebrauch und Partikular-Gesetzbücher und in genauer Vergleichung mit dem englischen und französischen Straf-Prozesse, Heidelberg 1827, 67, 117. 10 Vgl. Cornelia Vismann: »Action writing. Zur Mündlichkeit im Recht«, in: Friedrich Kittler, Thomas Macho, Sigrid Weigel (Hg.): Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme, Berlin 2002, 133–152, 142.

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verleiht den Akten Beweiskraft, über die das Gericht laut § 260 der Strafprozessordnung »nach seiner freien, aus dem Inbegriffe der Verhandlung geschöpften Ueberzeugung«11 entscheidet. Als Verfahren gilt nicht mehr wie ehedem der Schriftverkehr, sondern der Auftritt vor Gericht und seine Beobachtung.

2.

Gerichtsszenen der Literatur

Mit Blick insbesondere auf die deutsche Entwicklung kann man sagen: Lange bevor das Unmittelbarkeitsprinzip im Rechtssystem institutionalisiert wird, verdichten sich in der Literatur und ihrer Theorie Vorstellungen vom theatralen Prozess, die die Qualität einer Poetik des Wissens besitzen. Von Poetik des Wissens spricht die Forschung gern, wenn es um den literarischen Charakter vermeintlich außerliterarischer Erkenntnisformen geht.12 Hier dürfen wir das im engen Sinn verstehen, denn der theoretische Klärungsbedarf, den die Umstellung des Gerichtsverfahrens auf unmittelbare Beobachtung mit sich bringt, artikuliert sich im Zentrum der poetologischen Diskussionen zur Zeit der Aufklärung. Die literarischen Vorstellungen vom unmittelbaren Prozess bringen eine Emphase für Direktkommunikation just in jenem historischen Moment zum Ausdruck, da in der literarischen Praxis das Gegenteil, nämlich die Distanz zwischen Autor und Leser zum Regelfall wird. Verantwortlich dafür sind die Alphabetisierungsprogramme der Aufklärung, dank welcher die Schriftkultur breite gesellschaftliche Schichten erreicht. In der Folge weicht die alte rhetorische Organisation von Literatur, in deren Mittelpunkt das gesellige Vortragen und Vorlesen steht, dem leisen Lesen »in der Einsamkeit des Cabinets ohne Zeugen«13. So drückt es der Schweizer Dichtungstheoretiker Johann Jakob Bodmer aus, dessen Formulierung deutlich macht, dass die theatralische Inszenierung unmittelbarer Beobachtung etwas Kompensatorisches hat und gleichsam über die reale Entfernung und Entfremdung der Kommunikation hinwegtröstet. Der Preußische Literat und Pädagoge Johann Jakob Engel, ab 1787 einer der Direktoren des Königlichen Nationaltheaters in Berlin, will die Gattungsdifferenz zwischen Epik und Dramatik danach unterschieden wissen, ob »ein fremder Zeuge« von vergangenen Ereignissen berichtet oder aber die 11 »Strafprozessordnung vom 1. Februar 1877«, in: Werner Schubert, Jürgen Regge (Hg.): Entstehung und Quellen der Strafprozeßordnung von 1877, Frankfurt/Main 1989, 705. 12 Als theoretische Referenz dafür dient: Jacques RanciHre: Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des Wissens, Frankfurt/Main 1992. 13 Johann Jacob Bodmer : Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen, Zürich 1740, 2.

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Zuschauer selbst »zu unmittelbaren Zeugen« einer sich vor ihren Augen abspielenden Handlung werden.14 Aus der Unterscheidung verschiedener Direktheitsniveaus von Beobachtung folgt bei Engel wie bei seinem berühmten Freund Lessing die Privilegierung des Dramas gegenüber den Erzählgattungen. Was bei den Aufklärern angelegt ist, führen die Stürmer und Dränger konsequent weiter. Sie schätzen am Drama die gattungspoetischen Möglichkeiten des unmittelbaren Gefühlsausdrucks und versuchen, auch die diesbezüglich als zweitrangig angesehene Erzählprosa entsprechend zu gestalten. Dabei spielt die Gerichtsszene eine entscheidende Rolle, was sich besonders eindrucksvoll an Goethes Werther demonstrieren lässt. Entstanden ist der Werther-Roman im vorletzten Frankfurter Anwaltsjahr des jungen Juristen Goethe, dessen Schriftsätze ihrem Entdecker und Herausgeber Georg Ludwig Kriegk zufolge immer »etwas dramatisch«15 gerieten, wofür er von Kollegen und Richtern viel Kritik, einmal gar einen offiziellen Verweis einstecken musste. So ergeht es auch Werther, der sich als neu berufener Gesandtschaftssekretär schon bald mit seinem Vorgesetzten über Fragen des Schreibstils entzweit. Die Briefe an Wilhelm simulieren den informellen Charakter einer Unterhaltung, die durch den exzessiven Gebrauch von Interjektionen und Ausrufungszeichen immer wieder als dramatisches Gespräch imaginiert wird. Diese Vorstellungsreihe gipfelt in einer dramatischen Gerichtsszene. »Könnt’ ich dir, mein Freund, jedes seiner Worte vor Gericht stellen!«, schreibt Werther über eine Begegnung mit dem straffälligen Bauernburschen, dessen Mandat er am Ende tatsächlich an sich reißt und vertritt in einer »feurig« vorgetragenen Verteidigungsrede, die bei Albert und dem Amtmann nur Kopfschütteln auslöst.16 Wie tiefgehend der theatrale Prozess die Literatur beschäftigt, das zeigen auch die Rechtsdramen der Zeit, die angesichts der langen Latenz der deutschen Reformentwicklung ihre Schauplätze in das europäische Ausland verlegen. Schiller lässt mit der Bearbeitung des Maria Stuart-Stoffes das englische Geschworenengericht und die Tradition des Peer-Prinzips lebendig werden. Kleist verlegt die Handlung seiner Rechtskomödie Der zerbrochne Krug in die Niederlande und adressiert mit der Utrechter Gerichtsbarkeit eines jener progressiven Stadtrechte, die bereits im Mittelalter, zur Zeit der Wahrheitsproben und Gottesurteile, Elemente des unmittelbaren, tatsachenorientierten Beweisrechts kannten und der Beobachtung des Zeugen entsprechenden Spielraum ein-

14 Johann Jakob Engel: »Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungsarten«, in: ders.: Schriften, Bd. 11: Die Poetik, Berlin 1845, 282. 15 Georg Ludwig Kriegk: »Goethe als Rechtsanwalt 1771 bis 1775«, in: ders.: Deutsche Kulturbilder aus dem 18. Jahrhundert, Leipzig 1874, 268. 16 Johann Wolfgang Goethe: »Die Leiden des jungen Werthers«, in: ders.: Sämtliche Werke, hg. v. Waltraud Wiehölter, Frankfurt/Main 1994, 161, 207 (zweite Fassung).

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räumten.17 Als Höhepunkt der Verhandlung, die das ganze Stück umfasst, ist der 7. Auftritt gestaltet, in dem sich der Dorfrichter Adam mit dem aus Utrecht angereisten Rechtsrevisor Walter in einen prozessrechtlichen Streit über das Unmittelbarkeitsprinzip verstrickt. Adam versucht aus leicht einsichtigen Motiven, die zentrale Tatzeugin Eve von ihrer Aussage abzuhalten, indem er sie durch den Verweis auf die Verwandtschaftsbeziehung zur Klägerin Marthe Rull als prinzipiell untüchtige Zeugin qualifiziert. Der Vertreter des Obergerichts wendet sich gegen diese übereilte Entscheidung mit dem vielsinnigen Hinweis: »Die Jungfer zeugt noch nicht, sie deklariert jetzt; / Ob, und für wen, sie zeugen will und kann, / Wird erst aus der Erklärung sich ergeben.«18 Eingefordert wird der Auftritt der Zeugin, ihre direkt in Augenschein zu nehmende mündliche Erklärung, auf deren Basis allererst über ihre Glaubwürdigkeit entschieden werden soll. Anstelle von situationsunabhängigen Regeln, wie Adam sie zu Rate ziehen will, kommt es Walter auf unmittelbare Beobachtung und freie Beweiswürdigung an.

3.

Dramatisierung des Rechts

Die Gerichtsszene, die schon die Trauerspiele der Frühaufklärung dominiert, rückt mit dem Sturm und Drang noch stärker in den Fokus, weil sie für offene Beobachtungen einsteht, die nicht vorherbestimmt werden können. Deshalb ist sie das ultimative Sinnbild für die Authentizitätsemphase des Zeitgeistes. Deshalb ist sie zugleich derjenige Schauplatz, auf dem die im unmittelbaren Ausdruck und seiner Beobachtung liegenden Sinndeutungsschwierigkeiten erwogen werden können. Die Schwierigkeiten, die die Dramatisierung des Rechts mit sich bringt, sind zeichentheoretischer Art. Ich habe zu Anfang gezeigt, wie die ›Öffentlichkeitsarbeiter‹ der Schaubühne, Mercier und der junge Schiller, die Wirkungsmacht des Theaters anpreisen. Poetologen und Dramentheoretiker haben demgegenüber eine schwierigere Aufgabe. Sie müssen versuchen, die Beobachtungssituation des Zuschauers im Theater hermeneutisch einzuholen. Es muss geklärt werden, wie hier ein Verstehen stattfindet, das heißt wie Zeichen in einer konkreten Situation, die jede Aufführung und jede Gerichtsverhandlung darstellt, so beobachtet werden können, dass Eindeutigkeit gewährleistet ist. Zu den Wissenschaften, denen solche Fragen systematisch zugehören, der 17 Vgl. Rudolf Ruth: Zeugen und Eidhelfer in den deutschen Rechtsquellen des Mittelalters, Breslau 1922, 61. 18 Heinrich von Kleist: »Der zerbrochne Krug. Ein Lustspiel«, in: ders.: Werke. Kritisch durchgesehene und erläuterte Gesamtausgabe, Bd. 1, hg. v. Erich Schmidt, Leipzig, Wien ohne Jahr, 380.

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Anthropologie als Leitdiskurs des 18. Jahrhunderts und der im Entstehen begriffenen Psychologie, nehmen Literatur und Recht nahezu gleichzeitig Kontakt auf. In den frühen Formen der Forensik sind beide Bereiche kaum sinnvoll zu trennen, was sich beispielhaft an der Frage des Gebärdenausdrucks veranschaulichen lässt, die im Zeitalter der physiognomischen Begeisterung hohes Ansehen genießt. Sie beschäftigt die Theorie des Bühnenspiels ebenso wie die Juristen im medialen Wandel vom schriftlichen zum mündlichen Verfahren. Den Auftritt des Zeugen zu beobachten, das heißt im Unterschied zum Lesen eines Protokolls nicht nur den Inhalt der Aussage, sondern gleichzeitig die mimischen und gestischen Zeichen, die sie begleiten, aufzunehmen und zu verarbeiten. Fester Bestandteil des schriftlichen Gerichtsprozesses sind die sogenannten ›Gebärdenprotokolle‹, durch welche im Verhör neben der Aussage auch Mimik und Gestik festgehalten werden sollen, um die gesamte Aussagesituation für den nach den Akten urteilenden Richter so zu simulieren, als sei er selbst dabei gewesen. Das verlangt die Theorie. Die Praxis gelangt zu dem Ergebnis, dass dieser Zweck nicht zu erreichen ist, weil die Gebärdenprotokolle in der Routine des Prozessalltags häufig nicht genau genug gefertigt werden. Das bleibt jedoch nicht der einzige Grund. Anton Mittermaier, berühmter Reformjurist und später neben Jacob Grimm einer der Hauptredner auf dem ersten Germanistentag 1846 in Frankfurt, hegt in seinen Bemerkungen über Geberdenprotokolle im Criminalprocesse grundsätzliche Bedenken, weil, wie er schreibt, auch »die treueste Wiedererzählung des Gesagten« den Vorteil nicht ersetzen kann, den derjenige hat, welcher »selbst hört« und »sieht«.19 Indem er auf die Differenz zwischen dem Zuschauer und der bloßen Beschreibung der Situation abstellt, schließt Mittermaier direkt an den Befund an, der in der Gattungspoetik zur Privilegierung des Dramas führt, und er tut dies unter Berufung auf einen ihrer führenden Vertreter. Insgesamt drei Mal zitiert die kurze Abhandlung den LessingFreund Johann Jakob Engel, von dem bereits die Rede war. Bei Engel heißt es in der Abhandlung Über Handlung, Gespräch und Erzählung: »Der Anblick unterrichtet uns immer unendlich vollständiger, geschwinder, und um beider Ursachen willen, auch unendlich lebhafter, von der Beschaffenheit eines Gegenstandes, als die ausführlichste und schönste Beschreibung«.20 In Mittermaiers juristische Abhandlung zur Beobachtung des Gebärdenausdrucks geht dieser gattungspoetische Befund fast wörtlich ein. Und in den Theorieschriften Engels, 19 Carl Josef Anton Mittermaier : »Bemerkungen über Geberdenprotokolle im Criminalprozesse«, in: Neues Archiv des Criminalrechts, hg. v. Gallus Aloys Kleinschrod, Christian Gottlieb Konopak und Carl Josef Anton Mittermaier, Bd. 1, 3. Stück, Halle 1817, 327–351, 328. 20 Johann Jakob Engel: »Ueber Handlung, Gespräch und Erzählung«, in: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Bd. 16, 2. Stück, Leipzig 1774 [Faksimiledruck, hg. von Ernst Theodor Voss, Stuttgart 1964, 177–256, 237].

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der unter anderem auch der Hauslehrer der Brüder Humboldt war, konnte der Rechtsgelehrte noch mehr zum Thema Beobachtung finden. Sehr detailreich analysiert Engel die Verständnisschwierigkeiten in der unmittelbaren Kommunikation, in der immer zugleich sprachliche Zeichen verstanden und visuelle Zeichen beobachtet werden müssen. Zentral ist dabei das Problem des Gebärdenausdrucks, dem Engel unter dem Titel Ideen zu einer Mimik eine breit rezipierte Abhandlung widmet, auf die Mittermaier, der Engel einen »treffliche[n] Menschenkenner«21 nennt, zurückgreift. Anders als bei seinen Vorgängern auf diesem Gebiet, etwa Bodmer und Sulzer, geht es Engel nicht nur darum, Rednern und Schauspielern Anweisungen zu geben, wie Gebärden möglichst effektiv einzusetzen sind. Im Mittelpunkt stehen die rezeptionsästhetischen Schwierigkeiten einer eindeutigen Wahrnehmung des spontanen und affektgeladenen körperlichen Ausdrucks. Während Engel dem »Gesicht« und insbesondere dem »Auge« einen »unläugbaren Vortheil im Ausdruck des Innern der Seele« zuerkennt, merkt er zugleich an, wie »[s]chade« es sei, »daß sich die Veränderungen desselben so schwer beschreiben lassen!«22 Er zitiert Descartes mit dem Hinweis, dass selbst die vermeintlich unverkennbaren Seelenzeichen beim einzelnen so sehr variieren, »daß es Menschen giebt, die beim Weinen eben so ein Gesicht machen, wie andere beim Lachen«23. Erfasst wird damit eine für die visuelle Situationsbeobachtung zentrale Schwierigkeit, die von der doppelten Kontingenz der fokussierten Körperzeichen herrührt: Sie können bei verschiedenen Personen nicht nur vorhanden oder abwesend sein, sondern auch dieses oder jenes bedeuten.24 Dass ein Reformjurist wie Mittermaier dramentheoretische Abhandlungen konsultiert, zeigt, wie eng der Wissenstransfer zwischen Recht und Literatur an der Schwelle zur Moderne und zum modernen Gerichtsverfahren noch gewesen ist. Dabei kommt das Interessante an der Übergängigkeit von Literaturtheorie und juristischer Verfahrenspraxis über die Einsicht zum Tragen, dass Unmittelbarkeit in jedem Fall und auf jedem Feld ein hohes Maß an Komplexität bedeutet, wenn sie nicht mehr allein nach den althergebrachten Regularien der Rhetorik gehandhabt werden soll. Für den Schulrhetoriker ist klar, welchen Regeln und Prinzipien er folgen muss, um sein Publikum zu überzeugen. Die Rhetorik steht jedoch bei Juristen und Literaten gleichermaßen unter dem 21 Ebd., 332. 22 Johann Jakob Engel: »Ideen zu einer Mimik. Erster Theil«, in: ders.: Schriften, Bd. 7, Berlin 1844, 38. 23 Ebd., 39. 24 Vgl. Manfred Schneider : »Die Beobachtung des Zeugen nach Artikel 71 der ›Carolina‹. Der Aufbau eines Codes der Glaubwürdigkeit 1532–1850«, in: Rüdiger Campe, Manfred Schneider (Hg.): Geschichten der Physiognomik. Text – Bild – Wissen, Freiburg 1996, 153–182, 171.

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Verdacht, auch unzulässiger Beeinflussung Vorschub zu leisten, weshalb man sie, wie es in einem zeitgenössischen deutschen Lexikon heißt »von den meisten Gerichtshöfen abgewiesen hat«.25 Weder die Dramentheorie der Aufklärung noch die angestrebte neue Form des mündlichen Gerichtsverfahrens will sich nach den Regeln der Rhetorik verstehen lassen. Beide stehen schon im Horizont einer allgemeinen Hermeneutik als einer Wissenschaft vom Verstehen und Auslegen, die sich nicht nur auf Texte, sondern auch auf Gesprächssituationen bezieht, wie Schleiermacher zeigen wird.26 Die außerordentliche Datenfülle, die bei unmittelbarer Beobachtung verarbeitet werden muss, stellt die Interpreten jedoch vor sehr schwierige Aufgaben. Als Engel 1785 seine Ideen zu einer Mimik publizierte, stand er unter dem Eindruck der in dieser Zeit populären Theorien des Sprachursprungs, die – etwa bei Herder – die gesprochene Sprache auf eine ursprüngliche Gebärdensprache zurückführten. Das Verstehen der gesprochenen Sprache sollte mit dem Verstehen nonverbaler Zeichen systematisch zusammengeführt werden. Vor diesem Hintergrund hofft Engel auf einen, wie er schreibt, »sprachschöpferischen Beobachter«, der dazu befähigt wäre, sich dem unausdeutbaren Reichtum der Körperzeichen so systematisch anzuschmiegen, dass er am Ende als eine »in Classen gebrachte Sammlung« repräsentiert werden kann.27 Über dreißig Jahre später lautet demgegenüber die nüchterne Bilanz seines juristischen Kollegen Mittermaier : »Noch immer fehlt es an einer untrüglichen Semiotik der Leidenschaften und Affecten, selbst bei den gewöhnlichsten Erscheinungen, z. B. dem Erröthen […]«.28 Bezug genommen wird damit auf jenen Zeichenvorrat, den Engel gemeinsam mit dem Erblassen von seiner Kontingenzannahme ausgenommen hatte, weil er glaubte, darin zwei letzthin doch sichere unwillkürliche und nicht manipulierbare Anhaltspunkte für die Interpretation des Seelenausdrucks gefunden zu haben. Mittermaier korrigiert ihn mit dem Hinweis, dass gerade für das Erröten unmöglich »eine einzige Entstehungsursache«29 anzugeben sei, da es ebenso gut einem schlechten Gewissen, dem Ärger über eine falsche Anschuldigung oder aber schlichter Schüchternheit geschuldet sein könne. Dieser negative Befund führt zu der weit reichenden Schlussfolgerung, dass zur »Menschenbeobachtung« eine »Kunst« gehöre, »die nicht auf Regeln gebracht ist, und nie darauf gebracht werden kann«.30 25 Johann Georg Sulzer : Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer Reihenfolge der Kunstwörter aufeinanderfolgenden Artikeln abgehandelt, Bd. 1, Leipzig 1786, 267. 26 Vgl. Thomas Weitin: Recht und Literatur, Münster 2010, 47. 27 J. J. Engel: »Ideen zu einer Mimik«, 41. 28 C. J. A. Mittermaier : »Bemerkungen über Geberdenprotokolle im Criminalprozesse«, 336. 29 Ebd. 30 Ebd.

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In dem Maße, wie die unmittelbare Beobachtung einzigartige Erkenntnismöglichkeiten eröffnet, die der Beobachter dem Leser immer voraus hat, wird es ungemein schwierig, die geschauten Zeichen in der konkreten Situation so systematisch zu erfassen, dass darüber geurteilt werden kann. Das »Chaos«, das der Augenzeuge der Aufführung von Schillers Räubern spürte, war für die Theaterrevolution des Sturm und Drang ein wirkungsästhetischer Effekt. Nicht umsonst werden im Vortrag über die Schaubühne als moralische Anstalt, der dramentheoretischen Grundlage der literarischen Bewegung, die Räuber als zentrales Beispiel angeführt, auf das sich dann zum Schrecken Schillers auch die tatsächlichen Revolutionäre jenseits des Rheins beriefen.31 Für die anstehende Reform des Strafprozesses kann dies jedoch allem theoretischen Konsultationsbedarf zum Trotz nicht der Weg sein. Im Gerichtssaal darf es lebhaft zugehen, revolutionäres Chaos aber gilt es zu vermeiden.

4.

Eskalation der Körperzeichen: Maria Stuart

Wie schwierig Kommunikation bei gleichzeitiger Beobachtung ist, das zeigt aber nicht nur die legendäre Aufführung von Schillers wildem Erstlingsstück. Gerade der in Reaktion auf den terreur in Frankreich klassisch gemäßigte Schiller, der nun die Menschen ästhetisch zu erziehen gedenkt, schreibt das Konzept der »Gerichtsbarkeit der Bühne« fort, das nun nicht mehr funktional darauf gerichtet ist, die Gesellschaft zu revolutionieren, gerade dadurch aber den Raum schafft, die juristisch bedeutsame Beobachtungssituation als Theater beobachtbar zu machen. Maria Stuart liegt der Fall der nach England geflohenen schottischen Königin zugrunde, die ihren Gatten ermordet hat und nun bei ihrer Schwester Elisabeth Zuflucht sucht. Diese lässt Maria jedoch festnehmen und von einem Geschworenengericht zum Tode verurteilen, weil sie die Ansprüche der Schwester auf die Krone fürchtet. Als sich Schiller dem Schicksal der schottischen Königin zuwandte, hatte der Stoff bereits eine reiche Tradition als religiöse Märtyrertragödie hinter sich, wozu sich der Konflikt zwischen der Katholikin Maria und der Protestantin Elisabeth anbot. Schiller arrangiert sich damit jedoch nur scheinbar, wenn Maria am Ende mit Agnus Dei um den Hals und Rosenkranz am Gürtel beichtet und das katholische Abendmahl empfängt. Noch angesichts letzter Dinge entfaltet sie eine physische Präsenz, die Lord Leicester, den schwächlichen Günstling beider Königinnen, schwindeln macht. Herder protestierte vor der Weimarer Uraufführung beim Herzog erfolgreich gegen diese, wie er fand, finale 31 Vgl. Thomas Weitin: »Gewalt und Performanz. Die ›Gerichtsbarkeit der Bühne‹ in Schillers Räubern«, in: Der Deutschunterricht, Jg. 59/1 (2007), 8–14.

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Profanisierung.32 Goethe verurteilte insbesondere die für den dritten Akt frei erfundene Begegnung zwischen Maria und Elisabeth. Er fand sie ›hurenhaft‹.33 Wo die idealistische Affektkontrolle nicht gelingt, da werden offensichtlich Erwartungen an Geschlechterrollen unterlaufen.34 Die Kritik trifft den Kern des Stückes, dessen juristisch-dramaturgischer Subtext lautet: In der Beobachtung vor Gericht ist der Körper von Gewicht. Das Treffen der Monarchinnen soll der Rahmen sein, in dem das gegen Maria verhängte Todesurteil in Gnade verwandelt werden kann. Was letztlich Leicester einfädelt, ist von Beginn an Marias Ziel, die die Rechtmäßigkeit des Urteils der Geschworenen in Frage stellt und verlangt, »allein« mit »der Schwester« zu sprechen.35 »Nur Könige sind meine Peers.«36 Durch das Standesbewusstsein hindurch ist zu erkennen, dass am Akt des Sich-Gegenübertretens nicht nur das passende Pendant, sondern vor allem die Unmittelbarkeit der Kommunikation interessiert. So erfährt der Zuschauer vom juristischen Hintergrund des Streits: Die Zeugen, auf deren Aussage hin die Königin wegen versuchten Staatsstreichs verurteilt worden ist, hat man ihr gegen geltendes Prozessrecht nie gegenübergestellt. Nun verlangt sie, mit den Zeugen konfrontiert zu werden, um sie bei der Aussage beobachten zu können: »Das sind zwei Zeugen, die noch beide leben! / Man stelle sie mir gegenüber, lasse sie / Ihr Zeugnis mir ins Gesicht wiederholen! / Warum mir eine Gunst, ein Recht verweigern, / Das man dem Mörder nicht versagt?37 Eigentlich sind die Rollen im Gnadenzeremoniell klar vorgeschrieben. Es verlangt von Maria Unterwerfungsgesten und nötigt Elisabeth, die Gnadenformel auszusprechen. In der unmittelbaren Interaktion aber gelingt es nicht, den mimisch-gestischen Dialog durch den Sprechakt zu domestizieren. Die Körpersprache gerät außer Kontrolle. Wilde »Gebärden« Marias werden in den Augen Elisabeths zu Zeichen unangemessenen Stolzes, dem die Richterin ihrerseits mit abschätzigen Blicken begegnet, welche wiederum »steigende[n] Affekt« bei der Verurteilten bewirken, die erst »auffahrend«, dann »von Zorn glühend« spricht.38 Elisabeth »schießt«, wie es im Regietext weiter heißt, »wütende Blicke zurück«.39 Am Ende macht der »Doppelfuror«40 der Körperzeichen

32 Vgl. Peter-Andr8 Alt: Schiller. Leben – Werk – Zeit, Bd. 2, München 2000, 495. 33 Vgl. Rüdiger Safranski: Friedrich Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus, München 2004, 475. 34 Vgl. Götz-Lothar Darsow: Friedrich Schiller, Stuttgart, Weimar 2000, 197. 35 Friedrich Schiller : Maria Stuart, in: ders.: Werke. Nationalausgabe, Bd. 9, hg. von Benno von Wiese und Lieselotte Blumenthal, Weimar 1948, 9. 36 Ebd., 28. 37 Ebd., 35. 38 Ebd., 86, 87, 91, 92. 39 Ebd., 92.

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die als oberste Gerichtsinstanz angerufene Königin »sprachlos«41. Der Gnadenakt scheitert. Die abweichend von den Quellen erdachte Begegnung der Königinnen ist ein Mittel zur Linderung der »Trockenheit«42, die Schiller Goethe gegenüber an seiner rechtshistorischen Thematik beklagt. In ihrer überbordenden Lebhaftigkeit aber wird sie zu einem erheblichen Problem für die Gesamtdramaturgie. Das Trauerspiel versammelt die Gegnerinnen bereits im dritten Aufzug zum angestrebten Gnadenakt, zu einem Zeitpunkt also, der dramaturgisch dem krisenhaften Höhepunkt vorbehalten ist.43 Wirkungsvolle Versöhnungsszenen, wie sie Schiller im Schaubühnen-Vortrag aus Corneilles Cinna zitiert, können nur den Schluss des Stückes bilden. Im dritten Akt muss die Begnadigung scheitern. Die Szene ist also nur scheinbar ergebnisoffen, was Kritiker wie Otto Ludwig als systematische »Heuchelei«44 moniert haben. Solche Klagen verfehlen jedoch die vorweggenommene Pointe des Stückes. Aus der Perspektive von Schillers Theorem einer Gerichtsbarkeit der Bühne erscheint die Gnade mit Grund am ›falschen‹ Ort, um über die Eskalation des Urteilens im unmittelbaren Angesicht des anderen dasjenige hervorzukehren, was die Gerichtsszene ausmacht: das Zuviel, den Überschuss und die Eigendynamik der Zeichen, deren Kontrolle in jeder Verhandlung nur kontrafaktische Voraussetzung sein kann.

5.

Fazit

In der Zeit der großen Strafprozessrechtsreformen nach der Aufklärung war die akademische und intellektuelle Trennung zwischen Dichtern und Juristen noch nicht die Regel. Es gab einen regen Austausch und theoretische Probleme, die zum Austausch drängten. Der Übergang vom geheimen schriftlichen zum öffentlich-mündlichen Strafverfahren war ein großes aufklärerisches Anliegen, den Auftritt des Zeugen beobachten zu können dabei eine Schlüsselszene.45 Die 40 Juliane Vogel: Die Furie & das Gesetz. Zur Dramaturgie der »großen Szene« in der Tragödie des 19. Jahrhunderts, Freiburg 2002, 211. 41 F. Schiller : Maria Stuart, 92. 42 Friedrich Schiller: »Brief an Goethe vom 12. Juli 1799«, in: ders.: Werke. Nationalausgabe, Bd. 30, hg. von Lieselotte Blumenthal, Weimar 1961, 71. 43 Vgl. J. Vogel: Die Furie & das Gesetz, 220. 44 Otto Ludwig: Maria Stuart, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Adolf Stern, Bd. 5, Leipzig 1891, 316. 45 Der berühmte Strafrechtsreformer Anselm Feuerbach verweist in seiner Abhandlung über Öffentlichkeit und Mündlichkeit in der Gerechtigkeitspflege darauf, dass der Haupteinwand gegen das schriftliche Verfahren die Nicht-Öffentlichkeit der Zeugenaussage ist (vgl. Paul Johann Anselm von Feuerbach: Betrachtungen über die Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege, Gießen 1821, 106).

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Thomas Weitin

Literatur, die sich zu dieser Zeit von rhetorischer Geselligkeit abwendet und auf einen anonymen Büchermarkt einstellen muss, in dem die einsame Lektüre ohne Zeugen die Rezeption von Texten bestimmt, imaginiert umso ausführlicher Szenarien unmittelbarer Beobachtung und stellt das Drama als die führende Gattung dar. Die theoretischen Bemühungen einer dramatischen Semiotik, also einer Theorie der Körperzeichen und ihres Verständnisses, kann kaum die Eindeutigkeit herstellen, die ein gesichertes Urteil braucht. Vielmehr zeigt sich in der Dramatik, wie die Kommunikation über Körperzeichen zu nicht kontrollierbaren Steuerungsverlusten führen kann. Mit Blick auf solche Eskalationen verfahren Recht und Literatur institutionell unterschiedlich. Das Theater, auch das klassische, kann der Eskalation Raum geben, wohingegen vor Gericht die Dramatik nicht so weit gehen darf, dass kein Urteil mehr zustande kommt. Das Recht versichert sich dagegen einerseits durch die Entwicklung einer differenzierten Aussagepsychologie46, die heute mit den Mitteln der Hirnphysiologie glaubt, das erreichen zu können, was den Semiotikern um 1800 nicht gelungen ist: nämlich die Botschaft der Körperzeichen doch eindeutig zu entschlüsseln. Dass demgegenüber weiter Skepsis angebracht ist, zeigt das Recht selbst, das sich darauf gerade nicht verlassen will. Es geht eine zusätzliche Versicherung ein, indem es jedes mündliche Verfahren an ein System von Akten zurückbindet. Bei aller Wertschätzung für das Unmittelbarkeitsprinzip können so die Steuerungsvorteile des Speichermediums Schrift auch in den modernen Gerichtsprozess integriert werden. Im ›Drama‹ der mündlichen Hauptverhandlung sind sämtliche Akte von der Verlesung der Anklage über die Zeugenaussagen bis zur Verkündung des Urteils Transformationen von Akten in gesprochene Worte. »Eine reine Mündlichkeit kommt im Recht trotz ihrer Installierung als Prinzip nicht vor«.47 Auf diese Weise kann der eigendynamische Auftritt des Zeugen besser kontrolliert werden. Ist die Aussage im Auftritt unklar, kann sie durch den Vorhalt dessen, was im Ermittlungsverfahren bereits zu Protokoll gegeben wurde, vereindeutigt werden. Den Auftritt des Zeugen zu beobachten – dazu gehören solche Sicherheitsmaßnahmen. Sonst würde aus dem Recht Theater.

46 Vgl. Friedrich Arntzen: Psychologie der Zeugenaussage. Einführung in die forensische Aussagepsychologie, Göttingen 1970; Luise Greuel: Glaubhaftigkeit und Zeugenaussage. Die Praxis der forensisch-psychologischen Begutachtung, Weinheim 1998 und dies.: »Qualitätsstandards aussagepsychologischer Gutachten zur Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen«, in: Stephan Barton (Hg.): Verfahrensgerechtigkeit und Zeugenbeweis. Fairness für Opfer und Beschuldigte, Baden-Baden 2002, 67–88. 47 Vgl. C. Vismann: »Action writing. Zur Mündlichkeit im Recht«, 142.

Cornelia Zumbusch

Hypnotisiert. Pathologien der Beobachtung in der Literatur des 19. Jahrhunderts (Kleist, Schnitzler, Fontane)

1.

»ein wahres Wort aus einem Weibermund«1

In Kleists Ritterschauspiel Käthchen von Heilbronn und Schnitzlers Einakter Anatol finden sich zwei überraschend ähnlich angelegte Szenen, in denen sich ein männlicher Beobachter durch mehr oder weniger bewusst beherrschte Techniken Einblick in die verborgenen Seelenbewegungen einer somnambulen oder hypnotisierten Frau zu verschaffen versucht. Kleist lässt im ersten Akt des Käthchen zum Zweck der Wahrheitsfindung ein »Vehmgericht« in einer unterirdischen Höhle auftreten, die im Eingangssatz als »Höhle der Brust« zur Metapher für die dunkle, verborgene und rätselhafte Seele des Menschen wird. Das Gericht, das sich Wissen um die moralische wie anatomische Schuld oder Unschuld des Mädchens verschaffen will, wirft dem Grafen vom Strahl vor, das Käthchen mit magischen Mitteln verführt zu haben – das Ergebnis könne man, so unterstellt der Vater, »neun Monate«2 später besichtigen. Die Probe auf Käthchens Unschuld gelingt aber nicht dem Gericht, sondern nur dem Angeklagten, denn Käthchen verweigert jede Antwort und wendet sich statt dessen an den Grafen: Was in des Busens stillem Reich geschehn, Und Gott nicht straft, das braucht kein Mensch zu wissen. Den nenn ich grausam, der mich darum fragt! Wenn du es wissen willst, wohlan, so rede Denn dir liegt meine Seele offen dar3

Der Graf nimmt das Angebot an und beginnt mit der Frage, ob sie ihm »den geheimsten Gedanken«, der ihr »im Winkel wo des Herzens schlummert, geben« 1 Arthur Schnitzler : Anatol, in: Dramen 1889–1891, Frankfurt/Main 2004, 3–158, 39. 2 Heinrich von Kleist: Käthchen von Heilbronn, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, hg. v. Helmut Sembdner, München 2001, 429–531, im Folgenden zitiert unter Akt- Szenenund Versangabe, I,1 357. 3 Ebd., I,2 436ff.

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wolle.4 Und das Käthchen will. Die Befragung nimmt nun einen eigenartigen Verlauf, denn der angeklagte Strahl stellt einem wie im Schlaf sprechenden Käthchen suggestive Fragen, in denen er sich selbst die Schuld unterstellt. Indem Käthchen die Fragen verneint, wird die simulierte Schuld des Grafen entkräftet und der Vorwurf des Gerichts abgewehrt. So kann der Richter die Szene schließen: »Der Fall ist klar. Es ist hier nichts zu richten.«5 Zugleich aber ist die Probe auf Käthchens Unschuld zur »Probe« »der Gewalt« oder »Kunst«6 des Grafen geworden, die sich wider Willen performativ bestätigt hat. Die Probe auf diese Probe macht der Graf im vierten Akt. Während Käthchen schlafend unter einem Holunderbusch liegt, schleicht er sich herab, »um einen Entwurf mit ihr auszuführen«.7 Er will, und das Wort wird drei Mal wiederholt, endlich »wissen«, warum ihm das Mädchen folgt wie ein Hund. Auf den von seinem Diener kolportierten Umstand, dass Käthchen nicht nur schläft wie ein Murmeltier und träumt wie ein Jagdhund, sondern noch dazu »im Schlaf spricht«, will der Graf nun seinen »Versuch gründen«.8 Er wiederholt die im ersten Akt noch zufällig gemachte Beobachtung, dass aus Käthchen im Schlaf die reine Wahrheit redet, in einer planvoll geordneten Beobachtungssituation. Was der Graf bei dieser systematischen Befragung zu hören und beim Blick auf das Mal an ihrem Nacken auch zu sehen bekommt, ist die Lösung zu dem rätselhaften Traum, den er selbst während einer schweren Krankheit hatte. Dort habe ihn ein Cherubim in die Kammer eines Mädchens geführt, das ihm zur Ehefrau bestimmt sei. Käthchen, davon überzeugt sich der Graf in dieser zweiten Befragung, ist just die Kaisertochter, die ihm in seinem magischen Traum vorgeführt worden ist. Käthchen und der Graf sind sich also in dieser Silvesternacht begegnet, und zwar in einem Szenario, das Franz Anton Mesmer in seinen Allgemeinen Erläuterungen über den Magnetisms und den Somnambulismus als »Rapport« beschreibt. Unter Rapport versteht Mesmer eine Beziehung zwischen zwei Wesen, die nicht über die äußeren Sinne, sondern über einen geheimnisvollen »innern Sinn« etabliert wird.9 Als Beleg für seine Theorie von einem inneren

4 5 6 7 8 9

Ebd., I,2 452f. Ebd., I,2 618. Ebd., I,2 639; 650. Ebd., IV,2 2029. Ebd., IV,2 2049ff. Franz Anton Mesmer : Allgemeine Erläuterungen über den Magnetismus und den Somnambulismus als vorläufige Einleitung in das Natursystem, Halle, Berlin 1812, 2f. Zum Mesmerismus vgl. auch: Heinz Schott (Hg): Franz Anton Mesmer und die Geschichte des Magnetismus, Stuttgart 1985; Heinz Schott: »Mesmerismus und Romantik in der Medizin«, in: Aurora, Jg. 64 (2004), 41–56; Robert Darnton: Der Mesmerismus und das Ende der Aufklärung in Frankreich, München, Wien 1983; Anneliese Ego: ›Animalischer Magnetismus‹ oder

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Sinn dient Mesmer ein ganzes Bündel von Phänomenen, die seine Zeitgenossen unter dem Namen des »Somnambulismus« kennen. Darunter fällt etwa, dass Personen im Schlafe gehen, die verwickeltsten Handlungen mit eben derselben Überlegung, mit der gleichen Aufmerksamkeit, und mit noch größerer Pünktlichkeit, als im Zustande des Wachens, unternehmen und ausführen. […] In diesem Zustande […] können dergleichen Wesen die Zukunft voraussehen, und sich die entfernteste Vergangenheit vergegenwärtigen. […] Der Wille selbst kann ihnen unabhängig von den durch die Konvention dafür angenommenen Mittel mitgeteilt werden.10

Diese drei Sätze bieten eine kurze Zusammenfassung dessen, was Mesmer unter dem Typus der Somnambulen fasst. Es sind Personen, die von sich aus zum Schlafwandeln neigen, die, wenn sie künstlich in den kritischen Schlaf versetzt werden, über Vergangenes und Zukünftiges befragt werden können und sich von einer anderen Person steuern und zu den abstrusesten Handlungen bringen lassen.11 Anders als in den von Mesmer und seinen Nachfolgern angestellten Experimenten, in denen eine Somnambule von einem Magnetiseur in künstlichen Schlaf versetzt und in diesem Zustand befragt wird, ist in Kleists Szenario aber nicht nur Käthchen somnambul. Vielmehr zeigt sich auch der fieberkranke Graf für den animalischen Magnetismus empfänglich und ist weit davon entfernt, Käthchen zu steuern und ihr seinen eigenen »Willen« mitzuteilen. Zwar präsentiert sie ihm die »geheimsten Gedanken« ihres »Herzens«,12 diese Offenle›Aufklärung‹. Eine mentalitätsgeschichtliche Studie zum Konflikt um ein Heilkonzept im 18. Jahrhundert, Würzburg 1991. 10 F. A. Mesmer : Allgemeine Erläuterungen über den Magnetismus, 53. 11 Kleist hat die in der Romantik zur Mode gewordenen Experimente mit Somnambulen vor allem über Schuberts 1803 publizierten Text Einige Versuch über den thierischen Magnetismus rezipiert; vgl. dazu den Kommentar von Helmut Sembner in der angegebenen Werkausgabe. Zu Hysterie und Magnetismus im Käthchen von Heilbronn: Bettina Knauer : »Die umgekehrte Natur. Hysterie und Gotteserfindung in Kleists ›Käthchen von Heilbronn‹«, in: Günther Emig (Hg.): Erotik und Sexualität im Werk Heinrich von Kleists. Internationales Kolloquium des Kleist-Archivs Sembdner, 22. bis 24. April 1999 in der Kreissparkasse Heilbronn, Heilbronn 2000, 137–151; Uwe Henrich Peters: »Somnambulismus und andere Nachtseiten der menschlichen Natur«, in: Kleist-Jahrbuch, 1990, 135–152; Heinz Schott: »Erotik und Sexualität im Mesmerismus. Anmerkungen zum ›Käthchen von Heilbronn‹«, in: Günther Emig (Hg.): Erotik und Sexualität im Werk Heinrich von Kleists, Heilbronn 2000, 152–174; Christina Strauch: Weiblich, trefflich, nervenkrank. Geschlechterbeziehungen und Machtdispositive. Heinrich von Kleists Werk im medizinisch-anthropologischen Diskurs der Zeit um 1800, Erlangen-Nürnberg 2004. Das Phänomen der Willensübertragung und damit die Asymmetrie der mesmeristischen Einflussbeziehung gibt ein ethisches Argument an die Hand, das in den um 1880 geführten Debatten auch gegen die Hypnose vorgebracht wird. So hat Andriopoulos an der Diskussion posthypnotischer Verbrechen gezeigt. Stefan Andriopoulos: Besessene Körper. Hypnose, Körperschaften und die Erfindung des Kinos, München 2000. 12 H. v. Kleist: Käthchen von Heilbronn, I,2 452f.

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gung funktioniert aber reziprok. Ebenso wie die »Seele« des schlafenden Käthchens dem Grafen »offen dar« liegt,13 weiß Käthchen Dinge, die dem Grafen selbst nicht bewusst sind, vor allem, dass er in sie verliebt sei »wie ein Käfer«.14 Mit dieser Tiermetapher unterstellt sie dem Grafen dieselbe somnambule Instinktsicherheit, die auch ihr als schlafendem Murmeltier und träumendem Jagdhund zugeschrieben wird. In ihrem magnetistischen Rapport sind Käthchen und der Graf einander so durchsichtig, wie sie es bei wachem Bewusstsein gar nicht sein können. Das somnambule Paar bietet damit die Lösung des zu Beginn des Stücks aufgeworfenen Problems. Während der erste Akt den grundsätzlich verstellten Blick in die ›Höhle der Brust‹ thematisiert, phantasiert sich das Stück im Doppeltraum der Liebenden eine Situation der idealen Transparenz. So weiß der Graf nach der magischen Aussprache, dass das, »[w]as mir ein Traum erschien, nackte Wahrheit ist«.15 Alles, was dem Grafen mithilfe des Gottesgerichts im fünften Akt also noch zu tun bleibt, ist, dieses Wissen öffentlich zu bestätigen, Käthchen als die Tochter des Kaisers auszuweisen und sie unter weithin hörbarem Glockenklang zur Kirche zu führen. Die Befragungsszene im vierten Akt des Käthchen von Heilbronn berührt sich mit dem knapp 80 Jahre später verfassten Einakter »Die Frage an das Schicksal«, den Schnitzler an den Anfang seines Anatol-Zyklus gesetzt hat. Tatsächlich läßt sich der Einakter als spätes Echo auf Käthchens Traumbefragung lesen, bei dem einige der bei Kleist exponierten Elemente in neuem Gewand wiederkehren. Während Kleist an Mesmers Theorie des animalischen Magnetismus anknüpft, benutzt Anatol mit der Hypnose ein Verfahren, das der Arzt Arthur Schnitzler selbst bei »funktioneller Aphonie«, also bei nicht organisch bedingten Stimmverlusten eingesetzt hat.16 Nach dem Vorbild der Schule von Nancy um Hippolyte Bernheim bringt Schnitzler seine Patientinnen – denn seine Fallbeschreibungen betreffen ausschließlich Frauen – allein durch sein im »›imperativen Tone‹ gesprochenes Zureden« wieder zum Sprechen.17 In der Vorbemerkung zu seiner Schrift Über funktionelle Aphonie und deren Behandlung durch Hypnose und Suggestion markiert er auch seinen eigenen bescheidenen Einsatz in der 13 14 15 16

Ebd., I,2 436ff. Ebd., IV,2 2076. Ebd., IV,2 1247. Arthur Schnitzler : »Über funktionelle Aphonie und deren Behandlung durch Hypnose und Suggestion«, in: ders.: Medizinische Schriften, hg. v. Horst Thom8, Wien, Darmstadt 1988, 176–216. Zum therapeutischen Einsatz der Hypnose bei funktionalen, also nervös oder »hysterisch« bedingten Störungen vgl. H. Ellenberger : Die Entdeckung des Unbewußten, 137ff. Der Hypnotismus wurde ab den 1840ern auch als Anästhetikum bei Operationen genutzt: vgl. Edwin G. Boring: A History of Experimental Psychology, New York, London 1929, 115–128. 17 A. Schnitzler : »Über funktionelle Aphonie und deren Behandlung durch Hypnose und Suggestion«, 209.

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Debatte: »In die Diskussion über die schädlichen Einflüsse des Hypnotismus, welche in der letzten Zeit so überaus lebhaft geführt wird, darf ich heute noch nicht eingreifen, da die Zahl meiner Beobachtungen eine zu geringe« sei.18 Dabei besteht er auf der wissenschaftlichen Überprüfbarkeit seiner Beobachtungen und betont, dass er »niemals hypnotisierte, ohne dass bei [den] Versuchen andere Ärzte […] anwesend waren«.19 Auch Anatol möchte sein Hypnoseverfahren von zweifelhaften Praktiken unterschieden wissen: »Mit dem Magnetismus«, so beginnt Max seine Überlegungen, und wird von Anatol sogleich unterbrochen: »Hypnotismus«20 habe man die Sache zu nennen, denn Anatol hat mit dem Phänomen Größeres vor und das »Große an der Sache«, das verrät er Max, »ist die wissenschaftliche Verwertung«.21 Das hypnotische Experiment ist aber auch im Jahr 1889 noch mit Hexerei und Zauberei assoziiert und genau hier liegt sein Faszinosum: »Man könnte ein Zauberer sein! Man könnte sich ein wahres Wort aus einem Weibermund hervorhexen«22, formuliert Anatol und sein Freund Max bestätigt ihm: »Ja es steckt ein Zauberer in dir!«.23 Wenn es auch um Wissenschaft und Wahrheit gehen soll, so sind doch auch Zauberei und Täuschung mit im Spiel. Mit Käthchens »nackte[r] Wahrheit« und dem aus Coras Mund hervorgehexten »wahre[n] Wort«, mit der Idealsituation einer unbeschränkten Einsicht ins Innere der Seele steht etwas zur Debatte, was in der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts verstärkt zum Problem wird: Die Frage nämlich, wie sich Psychisches überhaupt beobachten lässt. Beobachtung, dieser Grundbegriff der neuzeitlichen, dem Prinzip der Empirie verpflichteten Wissenschaft, hat der wissenschaftlichen Forschung einige Regeln unterlegt. Beobachtungswissen soll aus der strikt an den Tatsachen orientierten Forschung gewonnen werden, Beobachtungen müssen wiederholbar und anderen vermittelbar sein, um Gültigkeit beanspruchen und Gesetze begründen zu können. Das Psychische, das im Verlauf des 19. Jahrhunderts als ein dem Subjekt per definitionem unzugängliches Unbewusstes konzipiert wird, entzieht sich jedoch auf besonders geschickte Weise der direkten empirischen Beobachtung.24 Wie Kleist und Schnitzlers Dramen zeigen, scheinen Somnam18 19 20 21 22 23 24

Ebd., 179. Ebd., 184. A. Schnitzler : Anatol, 36. Ebd., 37. Ebd., 39. Ebd., 36. Wie Horst Thom8 gezeigt hat, verbindet sich die Umstellung auf die empirische Beobachtung in der Psychologie mit einem grundlegenden Wandel des beobachteten Gegenstands. An die Stelle eines Seelischen, das dem eigenen Bewusstsein zugänglich sein soll, tritt ein dem Subjekt selbst unzugängliches Unbewusstes. Während man in der Erfahrungsseelenkunde des 18. Jahrhunderts psychologische Erkenntnisse noch auf dem Weg der Selbstbeobachtung

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bulismus und Hypnose einen Ausweg aus diesem Dilemma zu bieten. Allerdings haben auch die Beobachtungssituationen des magnetistischen Rapports und der Hypnose ihre Mängel. Im Käthchen von Heilbronn erhält der Fragende keine Antwort, die er nicht schon vorher kannte: »was fragt Ihr doch? Ihr wißts ja!«25 hält Käthchen dem Grafen entgegen. Kleists Dialogtechnik im ersten Akt führt die Zirkularität der Befragung vor. Der Umweg der Sprache, den die Befragung nehmen muss, wird durch das doppelte Negieren des Gesagten kenntlich. Aus der Behauptung falscher Tatsachen, die Käthchen verneint, springt zwar die Unwahrheit des Unterstellten, aber keine Lösung des Rätsels heraus. Käthchens eigentlicher Antrieb, dem Graf wie ein Hund zu folgen, bleibt trotz aller Befragung verborgen. Auch ihr Vater berichtet mit Bedauern, dass seine Tochter sogar im hitzigen Fieber noch geschwiegen habe: »auch nicht der Wahnsinn, dieser Dietrich aller Herzen, eröffnet das ihrige; kein Mensch vermag das Geheimnis, das in ihr waltet, zu entlocken«.26 Als ungleich redseliger erweist sich der Graf vom Strahl selbst. So berichtet die alte Brigitte der bösen Kunigunde über die Fieberkrankheit des Grafen: »Alles, was in seinem Herzen verschlossen war, lag nun, im Wahnsinn des Fiebers, auf seiner Zunge«.27 Gerade in der Szene unter dem Holunder erfährt der Graf vom Strahl nichts über Käthchen, dafür aber einiges über sich selbst: Der Beobachter bringt mehr über sich in Erfahrung als über den Gegenstand der Beobachtung. Auch Anatols kunstgerechte Hypnose biegt sich rekursiv auf den Beobachter zurück. Zwar kann Anatol seine Geliebte in Schlaf versetzen und sie in diesem hypnotischen Zustand auch dazu bringen, ihm die uneingeschränkte Wahrheit zu sagen – er nutzt diese Möglichkeit aber zuletzt gar nicht. Anatol, so scheint es, stellt die Frage nicht, weil er die Wahrheit gar nicht hören will.28 Diese Deutung formuliert der Text selbst, wenn Max, der Beobachter der Beobachtungsszene, Anatol vorwirft, dass ihm die »Illusion doch tausendmal lieber ist als die Wahrheit«.29 Liest man Anatols Begründung genau, dann ist die Frage an das Schicksal von Anfang an überflüssig, denn Anatol meint ohnehin längst zu wissen, was er im Hypnose-Experiment in Erfahrung bringen wird: »Immer sind

25 26 27 28

29

zu gewinnen versucht, wird die Psychologie im Verlauf des 19. Jahrhunderts auf die Fremdbeobachtung umgestellt. Horst Thom8: »Die Beobachtbarkeit des Psychischen bei Arthur Schnitzler und Sigmund Freud«, in: Konstanze Fliedl (Hg.): Arthur Schnitzler im zwanzigsten Jahrhundert, Wien 2003, 51–66. H. v. Kleist: Käthchen von Heilbronn, I,1 293. Ebd., 194. Ebd., II,9 1158. Neumann hingegen sieht hier »nicht mehr die Wahrheit, sondern nur noch die Ordnung der (sozial inszenierten) Geschlechterrollen zur Erscheinung« gebracht. Gerhard Neumann: »Die Frage an das Schicksal. Das Spiel von Wahrheit und Lüge in Arthur Schnitzlers EinakterZyklus Anatol«, in: Austriaca, Jg. 39 (Dezember 1994), 51–67, 57. A. Schnitzler : Anatol, 47.

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diese Frauenzimmer uns untreu. Es ist ihnen ganz natürlich … sie wissen es gar nicht«.30 Sein Wissen um diese natürliche, ihr selbst unbewusste Untreue der Frau hat Anatol nun kurioserweise nicht aus der Beobachtung an Frauen gewonnen, sondern aus der Selbstbeobachtung. Er selbst habe ja auf derartige Fragen immer »gelogen …. ruhig, mit einem seligen Lächeln … mit dem reinsten Gewissen.«31 Anatol macht also ein an sich selbst beobachtetes Faktum zur Regel.32 Trotz des Einspruchs, man könne ein an Männern gewonnenes Ergebnis nicht auf Frauen übertragen, hält Anatol energisch an der Validität des Befunds fest: »Ganz gleich sind wir«,33 behauptet er, zeitgenössische Auffassungen von einer soliden Geschlechterdifferenz gelassen übergehend. Und wenn Max als Schlusspointe seinen Erkenntnisgewinn formuliert: »Eines ist mir klar, daß die Weiber auch in der Hypnose lügen!«34, dann hat Anatols Selbstbeobachtung dieses Gesetz längst vorweggenommen: Denn schließlich war er es ja, der bei der Antwort auf die Treuefrage immer mit, so wörtlich, »reinstem Gewissen« gelogen habe. Die Hypnose kann also nichts zutage fördern, was der Beobachter aus der Selbstbeobachtung nicht schon längst hätte wissen können oder aber bereits weiß.

2.

Aussprechsysteme

Wenn der bei Kleist geträumte Traum von einer perfekten Beobachtungssituation in Anatols Hypnose-Experiment ironisch gebrochen wiederkehrt, dann zeugt dies von der Frustration des Wunsches, direkt in die Psyche blicken und dort so etwa wie »Wahrheit« entdecken zu können. Diesen Wunsch artikuliert nicht nur die Literatur, sondern auch die Psychologie des 19. Jahrhunderts. Das Unbewusste, so versichern seine Entdecker um die Mitte des 19. Jahrhunderts, soll sich im hypnotischen Schlaf vorzüglich zum Sprechen bringen lassen.35 30 Ebd., 37. 31 Ebd., 39. 32 Damit gilt für Anatol, was Horst Thom8 als höchst erfolgreiches, aber eben »alteuropäisches« Beobachtungsverfahren beschreibt: »Die Bedeutung unseres Handelns kennen wir durch Introspektion, die Bedeutung des Handelns anderer durch Anwendung unseres Inspektionswissens per analogiam.« H. Thom8: »Die Beobachtbarkeit des Psychischen«, 52. 33 A. Schnitzler : Anatol, 38. 34 Ebd., 48. 35 Tatsächlich handelt es sich bei der Hypnose um eine Beobachtungspraxis, die entscheidenden Anteil an dieser »Entdeckung des Unbewussten« hat. Henry Ellenberger bezeichnet die Hypnose in seiner Geschichte von »Entdeckung des Unbewußten« als »via regia« zum Unbewussten. Hippolyte-Marie Bernheim, Begründer der so genannten Suggestionstherapie, greift explizit auf Mesmers Überlegungen zu einem somnambulen Traumbewusstsein zurück und indem Freud Bernheim übersetzt, wird das mesmeristische Parawissen auch in das Wissen der Psychoanalyse eingespeist. Henry F. Ellenberger : Die Entdeckung des Un-

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Zwischen dem mesmeristisch inspirierten Somnambulismus und der im Verlauf des 19. Jahrhunderts verfeinerten Methode der Hypnose zeichnet sich mithin ebenjener epistemische Grenzverlauf ab, den die empirischen Wissenschaften zwischen sich und der idealistischen Spekulation zu ziehen versuchen. Für Kleist und seine Zeitgenossen wird der Übergang in einen somnambulen Zustand von der naturphilosophischen Idee eines kosmischen Fluidums gebahnt, das einen kosmischen Zusammenhang aller Dinge stiften und nebenbei auch die Fluktuation von Gedanken zwischen Menschen garantieren soll. Den rätselhaften Einfluss von Menschen aufeinander gruppiert Mesmer mit Erscheinungen wie dem Einfluss der Sterne auf die Gezeiten, den er als Indizien für eine metaphysische Ordnung der Dinge deutet. Die besondere Beziehung zum Übersinnlichen, von der die Theorie des animalischen Magnetismus und damit auch die Praxis des mesmeristischen Rapports durchsetzt ist, wird im Verlauf des 19. Jahrhunderts ausgetrieben. Zwar sammelt der Neurologe Charcot Bilder von Besessenen und ihren religiösen Ekstasen, aber nur, um derlei Zustände wissenschaftlich zu erklären und sie ihrer magischen Aura zu entkleiden.36 Wenn Charcot den Frauen die Hand auflegt, um eine hysterische Krise zu provozieren, dann geschieht dies nicht mehr im Einklang mit kosmischen Harmonien, sondern aufgrund eines ätiologischen Verdachts. Es sei, wie Charcot dem jungen Sigmund Freud zugeflüstert haben soll, bei der Hysterie »toujours la chose genitale«.37 Die ganze Sache, diesen Hinweis buchstabiert Freud in seinen Studien über die Hysterie aus, ist kein Effekt kosmischer Mächte, sondern ein Problem der weiblichen Sexualität. Während der Somnambulismus laut Franz Anton Mesmer eine Ahnung vom bewußten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung, 2. Aufl., Bern 1996 [1970], 165ff. 36 So hat man Charcot als Aufklärer gelesen, der »die Hysterie den vormaligen religiösen Deutungen – entweder Besessenheit durch den Teufel oder aber mystische Verzückung – zu entreißen.« Martha Noel Evans: Fits and Starts. A Genealogy of Hysteria in Modern France, Ithaka 1991. Tatsächlich bleibt der Mesmerismus im Prozess des naturwissenschaftlichen Fortschritts auf der Strecke und bewahrt Wissensbestände aus der hermetisch-magische Tradition, die aus der Aufklärung herausfallen. Während die Romantik an die naturphilosophisch-metaphysische Spekulation offen anschließen, wird die Lust an hysterischen, mystisch Verzückten eher in die Literatur abgedrängt. Jürgen Barkhoff: Magnetische Fiktionen. Literarisierung des Mesmerismus in der Romantik, Stuttgart, Weimar 1995. Dennoch überlappen sich die Wissensformationen des Magnetismus und des Hypnotismus an mehreren Punkten. Im 18. wie im 19. Jahrhunderts sollen Modekrankheiten kuriert werden, die auch als moderne Zivilisationskrankheiten beschrieben werden. Die d8cadence, also die um 1900 allerorten empfundene dekadente Erschlaffung und Übermüdung hat ihren Vorläufer im ennui den vapeurs und der Hypochondrie des 18. Jahrhunderts. Auch sind die der Hypnose zugänglichen nervösen Leiden Frauenkrankheiten, die nur unmännliche Männer befallen oder sie unweigerlich feminisieren. 37 Dianne F. Sadoff: Science of the Flesh. Representing Body and Subject in Psychoanalysis, Stanford 1998, 58.

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inneren Zusammenhang der Welt vermittelt, leuchtet der Hypnotismus, dem die Psychoanalyse ihre Entstehung verdankt, den Kosmos der unbewussten Triebe aus. Freuds Ausbau der gemeinsam mit und an einigen Hysterikerinnen entwickelten Talking Cure zur Psychoanalyse geht zwar mit der konsequenten Verdrängung der Hypnose einher.38 Seine späte Kritik an der Hypnose als »lügenhafte Erneuerung alter Eindrücke«39 kann aber nicht vergessen machen, dass er die Hypnose bei seinen ersten Hysterie-Behandlungen fast durchwegs angewandt hat. In den gemeinsam mit Breuer 1893 erstmals veröffentlichten Mitteilungen Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene heißt es im ersten Satz: »Angeregt durch eine zufällige Beobachtung forschen wir seit einer Reihe von Jahren bei den verschiedensten Formen und Symptomen der Hysterie nach der Veranlassung.« Um seine ersten, ihm selbst zufällig erscheinenden Beobachtungen verstetigen und systematisieren zu können, sei es nötig gewesen, »die Kranken zu hypnotisieren und in der Hypnose die Erinnerungen jener Zeit, wo das Symptom zum ersten Mal auftrat, wachzurufen.«40 Indem die Hypnose dem Analytiker die einzig verlässlichen Hinweise darauf liefert, dass verdrängte Wünsche und Triebe die Auslöser psychischer Pathologien sind, macht sie der wissenschaftlichen Beobachtung etwas zugänglich, was der Patientin bei wachem Bewusstsein verborgen ist. Noch Freud nutzt also die Hypnose als ein Aussprechsystem, das dem Arzt einen direkten Zugang zum Gefühlsleben der Patientin gewährt. Wenn Freud die Hypnose dennoch aufgibt und seine Patienten statt dessen zum freien Assoziieren auffordert, dann geschieht dies aus einem gewichtigen methodischen Grund. Denn wie Freud erkennt, produziert die Hypnose keine fertige Wahrheitsrede, sondern liefert lediglich deutungsbedürftige Daten. Das in Freuds Mitteilungen fast obsessiv wiederholte Schlüsselwort ist neben dem der Beobachtung der Begriff des ›Zusammenhangs‹. Einen Zusammenhang zwischen den aktuellen Symptomen und ihren verdeckten, vergessenen oder 38 Ein wichtiges Indiz für das Ungenügen der Hypnose für (psycho-)analytische Zwecke ist Freuds Distanzierung von der zuerst formulierten Verführungshypothese. Es sei einer »Überschätzung der Realität« und »Geringschätzung der Phantasie« geschuldet, so formuliert er in einer Fußnote von 1924 in dem 1894 gehaltenen Vortrag Zur Ätiologie der Hysterie, dass er unbewusste Verführungswünsche für reale frühkindliche Erfahrungen gehalten habe. Wenn sich Freud auch von den unter Hypnose geäußerten Behauptungen distanziert und nicht alle Hysterikerinnen verführt worden sind, dann lügen die Frauen in der Hypnose tatsächlich. Sigmund Freud: »Zur Ätiologie der Hysterie«, in: Anna Freud u. a. (Hg.): Gesammelte Werke, Bd. 1, [London 1946], 2. Aufl., Frankfurt/Main. 1999, 426–459, 440. 39 Sigmund Freud: »Massenpsychologie und Ich-Analyse«, in: Anna Freud u. a. (Hg.): Gesammelte Werke, Bd. 13, [London 1946], 2. Aufl., Frankfurt/Main. 1999, 73–161, 142. 40 Sigmund Freud: »Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene«, in: Anna Freud u. a. (Hg.): Gesammelte Werke, Bd. 1, [London 1946], 2. Aufl., Frankfurt/Main 1999, 81–98, 80.

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lebensgeschichtlich schlicht weit zurückliegenden Ursachen kann man nicht beobachten, sondern muss ihn deutend herstellen. Nicht umsonst spricht Freud dort, wo er die Psychologie von »einer spekulativen Theorie« zu einer auf »Empirie gebauten Wissenschaft« ausbauen will, von einer »Deutung der Empirie«41 und ergänzt damit die bloße Datenerhebung um das Moment des hermeneutischen Verstehens. Dabei kommt Freud auf zwei verschiedenen Wegen zu seinen Deutungen. Entweder nimmt er eine »sozusagen symbolische Beziehung zwischen der Veranlassung und dem pathologischen Phänomen«42 an und stellt den Zusammenhang zwischen einzelnen Symptomen und ihrem Ursprung durch eine semiotische Operation her. Oder er verknüpft die lebensgeschichtlichen Veranlassungen und Reaktionen zu kohärenten Erzählungen.43 Einzelbeobachtungen werden also nur theoretisierbar, indem man sie entweder symbolisch versteht oder indem man sie als Leidens- und Lebensgeschichte, als Novelle oder Roman erzählt. Mit diesen beiden Kunstgriffen bedient sich Freud literarischer Verfahren, die sich nicht nur in literarischen Szenen und Erzählungen von somnambulen oder nervösen Frauen vorfinden lassen, sondern die im Medium der Literatur auch kritisch reflektiert werden. So wird, wie abschließend an Fontanes Roman C8cile gezeigt werden soll, ebenjene Verknüpfung von Beobachtungen zu einer Geschichte zum Problem.

3.

Fontane: »Sie hat eine Geschichte«

Der animalische Magnetismus legt sich den menschlichen Körper als Medium zurecht, über den sich physische Energien und metaphysische Einsichten, Wünsche und Wahrheiten hin- und hertragen lassen. Folgt man Friedrich Kittlers These von der fortschreitenden Verschaltung von Körpern und Medien, dann heftet sich dieser Traum im Verlauf des 19. Jahrhunderts an die technischen Kommunikationsmedien. Die Beteiligung der Medien an der Kommunikation von unbewussten Wünschen betrifft aber nicht nur die Technik des Übertragungsmediums, sondern auch die soziale Funktion der Medien.44 Fon41 Sigmund Freud: »Zur Einführung in den Narzissmus«, in: Anna Freud u. a. (Hg.): Gesammelte Werke Bd. 10, [London 1946], 2. Aufl., Frankfurt/Main 1999, 135–170, 142, Hervorhebung von C.Z. 42 S. Freud: »Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene«, 83 und 81. 43 In diesem Zusammenhang braucht wohl kaum daran erinnert werden, dass Freuds Studien zur Hysterie narrativ verfasst sind, hat er selbst doch nahegelegt, seine Krankengeschichten wie »Novellen« zu lesen. 44 So hat Elaine Showalter unter dem Namen der Medienhysterie die zirkuläre Rolle der Medien beschrieben, mit deren Hilfe psychopathologische Symptome verbreitet und von den Rezipienten reproduziert werden können. Elaine Showalter: Hysterische Epidemien im Zeitalter der Medien, Berlin 1997.

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tane liefert in seinem realistischen Gesellschaftsroman C8cile zwar keine Hypnoseszenen. Dennoch wird eine Leidensgeschichte erzählt, in der mediale Kommunikationen an der Produktion der Symptome mitbeteiligt sind, die sie lediglich beobachten möchten. Wie in der Forschung bereits gezeigt worden ist, thematisiert der Roman überdeutlich die Modediskurse Hysterie und Nervosität.45 Sein Schauplatz ist zunächst ein Luftkurtort im Harz, in dem sich die kränkelnde C8cile unter der Aufsicht ihres Ehemanns Arnaud von einer nur periphrastisch umschriebenen Krankheit erholen soll. C8cile ermüdet schnell, wirkt in ihrer Müdigkeit noch überspannt und ruhelos, und ihre Beschwerden sitzen an der unteren Wirbelsäule, nahe also dem Ort, von dem die Hysterie seit jeher ihre Ausflüge in den Körper unternommen hat. »Von ähnlicher Unruhe«, so heißt es im Text, ist auch ihr Ehemann, und sogar bei ihrem Verehrer Gordon handelt es sich um einen zeitgemäß nervösen Charakter. Gordons erhöhtes Bedürfnis nach Luft, das nervöse Zucken um den Mund und wiederholte Schwindelgefühle lassen in ihm einen männlichen Hysteriker erkennen.46 Interessanter als diese von zeitgenössischen Diskursen informierte Figurengestaltung ist jedoch, dass Fontanes Roman ein Modell der Beobachtung entfaltet, mit dem auch das Verfahren des Romans selbst zur Sprache kommt. Der Erzähler deutet bereits zu Beginn an, dass hinter der von ihm erzählten Geschichte noch eine andere Geschichte steckt. So wird das Paar C8cile und Arnaud mit einem Verdachtsmoment eingeführt: »täuschte nicht alles, so lag eine ›Geschichte‹ zurück«. Dieser Hinweis des Erzählers wird von Gordon gleich darauf gattungstypologisch präzisiert: »Dahinter steckt ein Roman«. Das Motiv des Aufdeckens von Verborgenem und der Einsicht in ein ›Dahinter‹ intakter Fassaden wird bereits in den ersten Kapiteln angespielt. Auf der im ersten Kapitel geschilderten Zugfahrt in den Harz wird »unseren Reisenden ein Einblick in die Rückfronten der Häuser und ihre meist offen stehenden Schlafstubenfenster« gegeben – über die »[m]erkwürdige[n] Dinge«, die dabei »sichtbar«47 werden, schweigt der Erzähler allerdings. Indem den Lesern der Einblick zugleich vorgeführt und verweigert wird, werden sie als Beobachter 45 In der Forschung gilt C8cile als »typische Krankengeschichte« (Thom8) oder aber als zugeschriebene, bzw. in den Worten des Romans, als »zudiktierte« Krankheit (Becker). Horst Thom8: Autonomes Ich und ›Inneres Ausland‹. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914), Tübingen 1993, 335. Sabina Becker : »›Wer ist C8cile?‹. Der ›Roman einer Phantasie‹. Theodor Fontanes ›C8cile‹«, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 2002, 130–154. 46 Die Hypermännlichkeit des Verführers signalisiert dabei nur Übertreibung der Männerrolle. Petra Kuhnau: »Symbolik der Hysterie. Zur Darstellung nervöser Männer und Frauen bei Fontane«, in: Sabina Becker (Hg.): ›Weiber weiblich, Männer männlich‹? Zum Geschlechterdiskurs in Theodor Fontanes Romanen, Tübingen 2005, 17–61, 26. 47 Theodor Fontane: C8cile, in: ders.: Werke, Schriften und Briefe, hg. v. Walter Keitel, Helmuth Nürnberger, Bd. 2, München 1990, 141–317, 142.

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einer Beobachtungssituation eingesetzt. Auch die anschließenden Kapitel bieten ausführliche Beschreibungen von Beobachtungsformen, in denen der Blick des Lesers auf die Modalitäten der Beobachtung gelenkt wird. So hebt der Erzähler im ersten Kapitel hervor, dass Arnauds »scharfer und beinahe stechender Blick durch einen kleinen Fehler am linken Auge noch gesteigert wurde.«48 Und während C8cile auf die munter flatternden Gardinen blickt heißt es: »C8cile starrte darauf hin, als ob sie den Tiefsinn dieser Zeichen erraten wollte, gewann aber nichts, als dass sich der Mattigkeitseindruck ihrer Züge nur noch steigert.«49 Zweimal erweist die ironische Erzählerstimme das allzu scharfe, konzentrierte und genaue Hinsehen als ebenso fruchtlos wie pathologisch. Es ist entweder einem Sehfehler geschuldet oder es produziert Erschöpfung – zu tieferen Einsichten führt es indes nicht. Vielmehr macht C8cile es sich bequem und Arnaud beobachtete die nur scheinbar Schlafende mit einem Ausdrucke von Aufmerksamkeit und Teilnahme, der unbedingt für ihn eingenommen haben würde, wenn sich nicht ein Zug von Herbheit, Trotz und Eigenwillen mit eingemischt und die freundliche Wirkung wieder gemindert hätte. Täuschte nicht alles, so lag eine ›Geschichte‹ zurück, und die schöne Frau (worauf auch der Unterschied der Jahre hindeutete) war unter allerlei Kämpfen und Opfern errungen.50

Auch hier beobachtet der Leser nicht das Objekt der Beobachtung, sondern ihren Beobachter, und die vom Erzähler angedeuteten Befunde wird der Roman bestätigen. Arnaud hegt gemischte Gefühle und es liegt eine Geschichte von »Kämpfen und Opfern« zurück. Das zweite Kapitel lässt nun mit dem jungen Herrn von Gordon-Leslie die wichtigste Beobachterfigur des Romans auftreten. Von Beruf ein auf Telekommunikation spezialisierter Ingenieur, mausert sich Gordon vom »Kabelmann« zum »Drahtzieher«, vom Nachrichtentechniker zum Intriganten.51 Die auf alle Figuren verteilte Semantik des Sehens, Blickens und Betrachtens verdichtet sich in Gordon, der bei seinem ersten Auftritt ein regelrechtes Beobachtungsprotokoll liefert. Gordon betrachtet zunächst mit gleicher Aufmerksamkeit das Gebirgspanorama, die Gäste und die im Garten angepflanzten Blumen, als ihm das Paar Arnaud in den Fokus läuft. Er »sah eben scharf« auf die Parkwiese als er die beiden »hervortreten sah« und er sie »genau beobachten« konnte.52 Gordon beginnt nun frei zu assoziieren: das ist »Baden-Baden, oder Brighton oder 48 49 50 51

Ebd. T. Fontane: C8cile, 143. Ebd., 143. Ebd., 310. Vgl. auch Hubertus Fischer : »Gordon oder die Liebe zur Telegraphie«, in: Fontane Blätter, Jg. 67 (1999), 36–58. 52 T. Fontane: C8cile, 148.

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Biarritz, aber nicht Harz und Hotel Zehnpfund«. Während er derart alliterierend assoziiert, werden die Abläufe des Datensammelns und Datenordnens parallel geführt. So »folgt sein Auge dem bald sich nähernden, bald entfernenden Paare mit immer gesteigertem Interesse, während er zugleich in seinen Erinnerungen weiterforscht.«53 Dadurch, das Gordon zwischen dem beobachteten Paar und einem »anno 70« angeschossenen Oberst Arnaud einen Zusammenhang herstellen kann, wird das Nachdenken auf eine neue Bahn gelenkt. Es treibt ihn zu »immer neuen Mutmaßungen darüber, welche Bewandtnis es mit dieser etwas sonderbaren und überraschenden Ehe haben möge.« Wenn sich der Beobachter Gordon hier im freien Assoziieren und im Forschen in den eigenen Erinnerungen ergeht, dann vermischt er die vermeintlich objektive Beobachtung mit Elementen der Introspektion. Gordon liegt nicht nur mit seinen ersten »Mutmaßungen« fast durchweg falsch,54 sondern muss auch bald zugeben, dass er alleine nicht weiterkommt: »Ich glaube gar, ich werde der Narr meiner eigenen Wissenschaft und verfalle hier in Spektralanalyse. Poor Gordon! Die Sonne mag ihre Geheimnisse herausgeben, aber nicht das Herz. Und am wenigsten ein Frauenherz.«55 Weiterspinnen kann Gordon seine Theorie über C8cile nur, indem er seine Schwester Klothilde und deren klatschfreudige Freundin Eva dazwischenschaltet. Erst durch die Schwester können die subjektiven Mutmaßungen in objektivere Wissensformen überführt werden, die sich auf soziale Beziehungen stützen: »Klothilde muß von ihr wissen«, denn »was das Regiment nicht weiß, das weiß die Ritterakademie«, »Ja, Klothilde muß es wissen«.56 Obwohl Gordon für die neuesten medialen Übertragungstechniken steht, verläuft die Korrespondenz der Geschwister nur mit Störungen. Briefe und Telegramme müssen warten, bleiben liegen, werden nachgeschickt und überschneiden sich. Deshalb liegt die Lösung des Rätsels, das Gordon seiner Schwester im neunten Kapitel aufgibt, erst im 22. Kapitel in Form eines eingerückten Briefes vor. C8cile ist eine abgelegte »Fürstengeliebte, Favoritin in duplo. Erbschaftsstück von Onkel und Neffe«,57 der schneidige Arnaud hat sich duelliert, um C8ciles verdorbenen Ruf zu retten, hat einen tödlichen Schuss abgegeben und den Dienst quittiert. Diese Vorgeschichte holt C8cile ein, als der nunmehr informierte Gordon sein Verhalten ihr gegenüber ändert. C8cile, die schon im Harz versichert, »ich habe durchaus keine Schultern fürs Tragische«, bittet Gordon noch einmal in Berlin: 53 Ebd., 149. 54 Interessanterweise schätzt Gordon auch andere Gäste zunächst falsch ein – so die beiden »Berliner« – dies wird dadurch hervorgehoben, dass der Hotelier weit genauere Menschenkenntnis beweist. 55 T. Fontane: C8cile, 241. 56 Ebd., 184. 57 Ebd., 282.

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»Forschen Sie nicht weiter. Es ist hier mehr Tragödie zu Haus, als sie wissen«.58 Aber da ist es – tragic timing – schon zu spät. Gordon weiß längst, was er lieber nicht gewusst hätte, und obwohl er sich selbst vorwirft, nicht geglaubt und vertraut zu haben, ist die aus der Aufklärung resultierende »Trübung«59 des Verhältnisses nicht mehr rückgängig zu machen. C8cile nimmt sich das Leben, als sie aus einer Zeitungsnotiz vom Tod Gordons im Duell mit Arnaud erfährt. C8cile ist dabei von Beginn an als Tragödie der Beobachtung und ihrer narrativen Vermittlung angelegt. Auf C8ciles Abwehr jeder »Erzählkunst« verweist der Erzähler bereits im achten Kapitel, in dem C8cile bei der Schlossbesichtigung einer »viel zu weit ausgesponnenen Erzählung«60 zu entkommen versucht und ans Fenster tritt, durch das sie ausgerechnet einen Grabstein zu sehen bekommt. Es ist also die narrative Verdichtung ihrer Vergangenheit zur romanhaften »Lebensgeschichte«,61 von der sich C8cile in den Tod getrieben fühlt. Sie selbst entfaltet diesen Zusammenhang vor Gordon: »Sie haben eines schönen Tages die Lebensgeschichte des armen Fräuleins von Zacha gehört, und diese Lebensgeschichte können Sie nicht mehr vergessen«.62 Diese unvergessliche Lebensgeschichte erschließt sich dem Leser aber nur aus den Klatsch- und Kolportagefragmenten, die Gordons Schwester zusammenträgt und die sich in keine zusammenhängende Geschichte des Herzens fügen. Auch C8ciles letzter Wille in Gestalt eines Briefs, den der Geistliche als »Beichtgeheimnis eines demütigen Herzens« bezeichnet, wird dem Leser vorenthalten.63 Indem die Bekenntnisse der Fürstengebliebten unterdrückt werden und C8cile die Wahrheit über ihr Begehren schuldig bleibt, markiert und respektiert der Roman die Grenze, an die man bei der Ausforschung der Frauenherzen offenbar gelangt. Was bleibt, ist ein am obsessiven Beobachtungstrieb zugrundegegangener Gordon, der mithilfe des von Klothilde kolportierten und über Briefe vermittelten Geredes der Leute herausfindet, was er auf keinen Fall wissen will. Was passiert also, wenn die Literatur den Blick in Frauenherzen wagen will und ihn in von Mädchen bewohnte Kammern, Zimmer und durch »offengelassene Schlafstubenfenster«64 wirft? Die bei Kleist bereits drängende Frage, ob das Engelskind verhext oder ob ihr Begehren von Gott eingegeben sei, kehrt wieder in dem Verdacht, von dem Gordon und Anatol ausgehen: dass bei Frauen 58 59 60 61 62 63

Ebd., 292. Ebd., 313. Ebd., 179. Ebd., 305. Ebd., 305. Der Prediger bittet um die Erlaubnis, C8ciles Brief »abschriftlich und nur in seinem sachlichen Teile mitteilen zu dürfen« und informiert Arnaud und mit ihm den Leser lediglich über die Verteilung ihrer »Dinge«: Der Schal geht an Marie, das Gebetbuch an Rosa, das Kreuz an den Prediger selbst. (Ebd., 316). 64 Ebd., 142.

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der Schein immer trügt. Statt dieses schon vorab gewusste Faktum festzustellen und in exemplarischen Erzählungen festzuschreiben, stehen in den literarischen Texten aber die empirischen Beobachtungsverfahren selbst unter Beobachtung. Während die Magnetiseure oder Hypnotiseure von der Möglichkeit einer unverstellten Beobachtung fantasieren, wird den Zuschauern nicht nur Einsicht in weibliche Seelen geboten, sondern zugleich der exklusive Blick auf die gesamte Beobachtungssituation gewährt. Auf diese Weise begleitet die Literatur den Umbau der Psychologie zur empirischen Wissenschaft und wendet sich dem Vorgang der Beobachtung selbst zu. Beobachtbar werden dabei neben den verborgenen Wünschen der Frauen auch die offen zutage liegenden Wünsche ihrer Beobachter und darüber hinaus die Probleme, an denen die scheinbar so ideale Beobachtersituation krankt. Am fiebernden Grafen vom Strahl, dem vor Eifersucht kranken Anatol und dem nervösen Gordon zeigen sich die Aporien einer empirischen Wissenschaft von der Psyche. Zwischen Menschen gibt es keine Fakten, die beim Übergang vom Beobachten zum deutenden Wissen nicht mit den Wünschen, den Erinnerungen und dem an sich selbst gewonnenen Wissen des Beobachters kontaminiert werden.

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Eidola evozieren, um mit den Toten zu sprechen. Antike und moderne Versuchsanordnungen

Elfriede Jelineks Theaterstück Schatten (Eurydike sagt)1 beginnt mit dem Tod Eurydikes und beschreibt das Ablösen ihrer Seele vom toten Körper und den Übergang zum Schattendasein. Eurydike gefällt es, nur noch ein Schatten, ein Eidolon, zu sein: »Stummes Sein. Endlich Stillsein! Bild sein.«2 Doch der berühmte und umschwärmte Sänger Orpheus will seine Geliebte zurück haben und begibt sich in die Unterwelt, um dort eine Eurydike vorzufinden, die alles andere als erfreut über sein Auftauchen ist. Ihr Schatten-Ich ist jedoch wehrlos, als Orpheus sie mit Hilfe ihres toten, abgelegten Körpers, den er in die Unterwelt mitgebracht hat, zum Eingang des Hades zieht. Schon fast am Ziel, dreht Orpheus sich unerwartet um, um noch ein letztes Erinnerungsfoto zu schießen. Orpheus verliert Eurydike ein zweites Mal, da das künstliche Licht des Blitzes ihren Schatten nicht festhalten kann. Eurydike gleitet zurück in die Unterwelt, während dem Sänger nur die überbelichtete Fotografie des eingefangenen Schattens bleibt. Es stellt sich uns die Frage, weshalb Orpheus unbedingt dieses Foto machen musste? Wollte er seine Geliebte auf der Fotografie fixieren und das Abbild später mit Hilfe einer Totenbeschwörung wieder zum Leben erwecken? Ein Bild wofür? Es ist der Totenkult, der ein Medium der Präsenz forderte. Das Bild eines Toten, als besäße dieser ein neues Leben, füllt die dunkle Lücke im Umgang der Lebenden mit den Toten, in dem von Anfang an ein Paradox herrscht.3 1 Erstaufführung der Theaterfassung von Schatten (Eurydike sagt) in der Regie von Matthias Hartmann im Januar 2013 am Akademietheater in Wien. Uraufführung im Juni 2012 in der Philharmonie in Essen unter der Regie von Peter Schmidt. Das Programmheft beinhaltet den vollständigen Text: Elfriede Jelinek: Schatten (Eurydike sagt), Reinbek b. H. 2010. Der Text wurde außerdem in der Beilage von Theater heute (10/2012) abgedruckt. Vgl. Brigitte E. Jirku: »›Ich bin‹ – Schatten und Schattenreich als Unorte. Zu Elfriede Jelineks Schatten (Euridike sagt)«, in: Pia Janke (Hg.): Jelinek Jahrbuch, Wien 2003, 58–72. 2 E. Jelinek: Schatten (Eurydike sagt), s. p. 3 Hans Belting: »Aus dem Schatten des Todes. Bild und Körper in den Anfängen«, in: Constantin von Barloewen (Hg.): Der Tod in den Weltkulturen und Weltreligionen, München 1996, 92–136, 96.

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In diesem Zusammenhang könnte man Orpheus’ Versuch in die Serie medialer Reanimationen aufnehmen, die in der Fotografie und Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts um die Wiedererweckung der Toten über die Fotografie bemüht sind.4 Die Erfindung der Fotografie ermöglicht eine derart originalgetreue Abbildung in Porträts, dass die Bewunderung der neuen Technik von Ängsten der Abgebildeten, im Vorgang des Fotografierens könnte ein Teil des Selbst verloren gehen und auf der fotografischen Platte gebannt sein, begleitet wird. Vom französischen Fotografen Nadar ist die Befürchtung Honor8 de Balzacs überliefert, durch das Fotografieren könnten die Häutchen, aus denen jeder Körper bestehe, verloren gehen.5 Andererseits entstand für die Betrachter der Fotografie die Hoffnung, dass »die Lichtstrahlen, die erst das Bild von dem Portraitierten ablösen und dann auf die photographische Platte übertragen, eine materielle Spur des Abgebildeten auf der Fotografie zurücklassen.«6 Über diese zurückgelassene Spur glaubte man durch die Fotografie mit dem toten Abgebildeten in Kontakt treten zu können.7 Die Kamera wurde zum Hilfsapparat des Gedächtnisses und ermöglichte eine Speicherung von Erinnerungsbildern und Porträts vertrauter Gesichter. Gleichzeitig findet durch das Fotografiert-Werden ein Übergang statt, in dem sich das Subjekt auflöst, zum Objekt der Betrachtung und damit zum Untoten wird.8 Dieses aus Fotografie und Tod resultierende Gespenstische analysiert Roland Barthes in Die helle Kammer (1989)9. Er teilt den Akt des Fotografierens in die drei Akteure operator (Fotograf), Eidolon (Abbild) und spectator (Betrachter): Der operator ist der PHOTOGRAPH. Der spectator, das sind wir alle, die wir in den Zeitungen, Büchern, Alben und Archiven Photos durchsehen. Und was photographiert wird, ist Zielscheibe, Referent, eine Art kleines Götzenbild, vom Gegenstand abgesondertes eidolon, das ich das spectrum der PHOTOGRAPHIE nennen möchte, weil dieses Wort durch seine Wurzel eine Beziehung zum Spektakel bewahrt und ihm überdies den etwas unheimlichen Beigeschmack gibt, der jeder Photographie eigen ist: Die Wiederkehr der Toten.10

Die Barthes’sche Begriffswahl verweist einerseits auf das lateinische spectrum resp. das französische spectre für Gespenst, andererseits auf die griechische 4 Zu Geisterphotographie vgl. Bernd Stiegler: Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert, München 2001, 124–135. 5 Nadar : Als ich Photograph war, Paris 1900. Gekürzte Fassung. Frauenfeld 1978, 21–22. 6 Vgl. B. Stiegler : Philologie des Auges, 227–228. 7 Zum Begriff der Spur in der Fotografie vgl. Martin Schulz: »Spur des Lebens und Anblick des Todes«, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, Jg. 64/3 (2001), 381–396. 8 Dennis Göttel, Katja Mu¨ller-Helle: »Barthes’ Gespenster«, in: Fotogeschichte, Jg. 29 (2009), 53–58, 54. 9 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt/Main 1989. 10 Ebd., 17.

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Etymologie des Wortes Eidolon, das die moderne Fotografietheorie mit der antiken Philosophie verbindet.11 Barthes Verständnis vom Abbild als ein vom Gegenstand abgelöstes kleines Götzenbild und als unheimliche Wiederkehr der Toten hat seine Entsprechung in dem Begriff des Eidolons in der antiken Philosophie bei Demokrit, Epikur und Lukrez.12 Die Atomisten verstehen unter Eidola: von Lebewesen ausströmende Atomgefüge, die Wahrnehmungen erzeugen: Aus den Körpern selbst oder Atomzusammensetzungen fließen ständig besonders subtile, flüssige und feine Elemente aus. Diese Zusammensetzung zweiten Grades gibt es auf zweierlei Art: Entweder gehen sie aus der Tiefe der Körper hervor oder sie heben sich von der Oberfläche ab (Häute, Tuniken oder Stoffe, Umhüllungen, Äußeres, was Lukrez Trugbilder und Epikur Idole nennt).13

Bereits die Fotografietheorie des 19. Jahrhunderts berief sich auf die antiken Eidola-Häutchen und übertrug diese in einen technischen Kontext. Der Fotografie-Theoretiker Oliver Wendell Holmes wie der Schweizer Fotograf Hans Finsler nahmen den Begriff der Eidola in ihre Studien auf und definierten die Fotografie als physisches Zeugnis der Vergangenheit.14 Von zentraler Bedeutung ist in diesen Definitionen die Übertragung vom Referenten zu seinem losgelösten Teil, dem Abbild oder Eidolon, und die Verbindung dieser Aspekte mit der unheimlichen Wiederkehr der Toten, hervorgerufen durch die Evokation der Erinnerung und Betrachtung der Fotografie.

Begriffsbestimmung antiker Eidola Was die modernen Fotografie-Theoretiker nicht erfasst haben, ist die literarische Bedeutungsdimension der antiken Eidola. Der Begriff leitet sich ab von e_dom, was übersetzt »sehen«, »erblicken«, »wahrnehmen« bedeutet, kann aber auch in der Bedeutung »einsehen«, »erkennen« und »erfahren« verwendet werden. Eidolon bezeichnet zunächst ganz allgemein Gestalt, Bild, Abbild und wird auch für bildliche Darstellungen von Göttern und Menschen gebraucht. Der Begriff hebt den Gegensatz zwischen Schein und Wirklichkeit besonders stark hervor, weshalb Eidolon oft das Trugbild, das den Schein des Lebens vortäuscht, 11 D. Göttel, K. Mu¨ ller-Helle: »Barthes’ Gespenster«, 54. 12 Karl-Heinz Gerschmann: »Eidolon«, in: Peter Prechtl, Franz-Peter Burkard (Hg.): Metzler Lexikon Philosophie. Begriffe und Definitionen, 3. Aufl. Stuttgart, Weimar 2008, 125–126, 125. 13 Gilles Deleuze: Logik des Sinns, Frankfurt/Main 1993, 333. 14 Bernd Stiegler : Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern, Frankfurt/ Main 2006.

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bezeichnet.15 Ähnlichkeiten bestehen auch zu dem Begriff des Schattens (sji\)16, was sich in der Übersetzung des Eidolons als »Schattenbild« oder »Schatten« zeigt. Grundsätzlich teilt sich die Verwendung des Begriffs in der antiken griechischen Literatur in drei Gruppen: Erstens bezeichnet ein Eidolon ein Trugbild, das von Göttern zur Täuschung von Sterblichen geschaffen wurde17, zweitens kommt bei Sophokles, Aischylos und Euripides in der Formulierung »Schattenbild seiner selbst«18 die Hinfälligkeit eines Menschen zum Ausdruck und drittens meint Eidola die Seelen der Abgeschiedenen im Hades.19 Mit der dritten Definition des Eidolon kann entweder die Masse der Toten in der Unterwelt oder die einzelne Seele bezeichnet werden, wobei für Seele auch die Begriffe Schattengestalt (sji\) und Psyche (xuw^)20 verwendet werden. Erwin Rohde beschreibt die Psyche als etwas Luftartiges, Hauchartiges, im Athem des Lebenden sich Kundgebendes. Sie entweicht aus dem Munde, auch wohl aus der klaffenden Wunde des Sterbenden – und nun wird sie, frei geworden, auch wohl genannt »Abbild« (e_dykom).21

15 Karl Ker8nyi definiert diese Ähnlichkeit als eine »Ähnlichkeit der Oberfläche, die Züge einer Identität trägt, aber nur einer hohlen Identität, bei der ein Schein, so gut wie nichts, mit etwas identisch sein sollte.« Siehe: Karl Ker8nyi: Griechische Grundbegriffe. Fragen und Antworten aus der heutigen Situation, Zürich 1964 (= Albae vigiliae, N. F. 19), 37. 16 Vgl. Peter Jackob: Der Schatten. Wandel einer Metapher in der europäischen Literatur, Sulzbach 2001. Peter Jackob untersucht die Metapher des Schattens als Symbol der IchBetrachtung in der europäischen Literatur. Er verwendet den Begriff Schatten (sji\) parallel zum Eidolon-Begriff ohne explizit auf die Unterschiede zwischen den Begriffen einzugehen. 17 Textstellen finden sich in der Ilias (V 443), der Odyssee (V 795), bei Pindars Oden (Pyth. Od. II. 2,33). Das Eidolon der Helena wird erwähnt in Euripides’ Helena und bei einem Fragment von Stesichoros (Fragment 32 überliefert bei Platons Dialog Phaidros, 243a) sowie in kleineren Texten bzw. Textfragmenten (Platon: Politeia, IX 586b, Herodot: Historien, II. 115,4). Siehe auch das Teilkapitel über Hugo von Hofmannsthals Die ägyptische Helena bei Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, 279–284. 18 Siehe dazu die Textstellen von Sophokles Aias (V 118), Ödipus auf Kolonos (V 106), Philoktet (V 945), Euripides’ Phönikerinnen (V 1539) und Aischylos’ Der gefesselte Prometeus (V 562) und Agamemnon (V 833). 19 Eidola als Seelen des Hades finden wir in Homers Ilias (XXIII 62, XXIII 104) und Odyssee (XXXIV 11, XI 20f) und bei Bacchylides’ Meleager (V 68). Als Geist von einem Verstorbenen wird der Begriff auch in Aischylos’ Perser (V 381 und V 607), Sophokles’ Polyxene (FTG 245), Euripides’ Hekabe (V 1) sowie bei Herodots Historien (V 92) und Lukians Charon oder die Betrachtung der Welt (V 7) gebraucht. 20 Michael Frede: »Seelenlehre«, in: Hubert Cancik (Hg.): Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 2, Stuttgart 1996, 325–327. 21 Erwin Rohde: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, Nachdruck der 2. Aufl. von 1898, Darmstadt 1991, 3.

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Weil beim Eidolon der vom Körper abgelöste Geist der »Träger von Gedächtnis und Wissen des Verstorbenen«22 ist, kann dessen Gedächtnis nicht von selbst aktiviert werden. Es muss ein Kontakt von außen hergestellt werden – entweder durch die Lebenden in einer Totenbeschwörung oder durch die Toten, welche die Lebenden aufsuchen. Bei Letzterem handelt es sich um das Motiv der unbestatteten oder ruhelosen Toten, die Monika Schmitz-Emans als Schwellenfiguren definiert: Als körperlos-immaterielle Wesen sind sie Grenzgänger von schemenhafter Erscheinung. Ihr Ort ist die Schwelle zwischen Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit, zwischen Tod und Leben, zwischen Vergangenheit und Gegenwart.23

Als Schatten der Toten wechseln die Eidola demnach von einer körperlichen Gestalt in eine flüchtige, schwer wahrnehmbare und immaterielle Erscheinung und ihr Ort ist der Übergang zwischen Leben und Tod, Vergangenheit und Zukunft. Das Evozieren der Eidola setzt eine Totenbeschwörung in einer Versuchsanordnung durch einen Operator voraus. Diesen Evokationsaufbau möchte ich hier in einer direkten Gegenüberstellung von antiken und modernen Texten analysieren. Der Ausgangspunkt meiner vergleichenden Analyse von Evokationssituationen in der antiken und modernen Literatur ist die These Kelley Wilders, der »die fotografische Platte als eine Art Zwischending aus Beobachtung, Experiment und Visualisierung«24 beschreibt. Um die Transformation nachvollziehbar zu machen, wird mein Beitrag drei Beobachtungssituationen skizzieren und analysieren. Die für die antike Begriffsverwendung paradigmatische Nekyia in Homers Odyssee (zwischen 700–750 v. Chr.) wird dem Fotografie-Roman von Henry Parland Zerbrochen. (Über das Entwickeln von Veloxpapier) (1932) sowie dem Roman Die Kinder der Toten von Elfriede Jelinek (1995) gegenübergestellt. Ziel des Beitrags, der sich als Ergänzung und Spezifizierung eines zentralen Begriffs der Fotografietheorie versteht, ist es, die Transformationen des Begriffs Eidolon sichtbar zu machen, die dieser auf seinem Sprung von der Antike in die technisierte Moderne vollzieht.

22 P. Jackob: Der Schatten, 76. Peter Jackob bezieht sich in diesem Zitat auf die Ausführungen von Erwin Rohde: E. Rohde: Psyche, 8. 23 Monika Schmitz-Emans: »Gespenster. Metaphern der Photographie in der Literatur«, in: Annette Simonis (Hg): Intermedialität und Kulturaustausch. Beobachtungen im Spannungsfeld von Künsten und Medien, Bielefeld 2009, 303–330, 307. Zur genauen Wortdefinition, welche auch Schmitz-Emans zitiert, siehe Gero von Wilpert: Die deutsche Gespenstergeschichte. Motiv, Form, Entwicklung, Stuttgart 1994. 24 Kelley Wilder: »Die fotografische Methode. Beobachtung, Experiment und Visualisierung«, in: Fotogeschichte, Jg. 31 (2011), 23–30. Zitiert nach: Kelley Wilder : »Visualizing Radiation. The Photographs of Henri Becquerel«, in: Lorraine Daston, Elizabeth Lunbeck (Hg.): Histories of Scientific Observation, Chicago, London 2010, 351–368, 364.

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Eine Nekyia zur Evokation der Schatten Eine Nekyia ist eine rituelle Heraufbeschwörung der Toten, die sich von der Katabasis, dem Abstieg in die Unterwelt, unterscheidet. Sowohl die Katabasis als auch die Nekyia entspringen dem Wunsch, mit den Toten zu sprechen, doch während sich der Held in der Katabasis physisch in die Unterwelt begibt, werden in der Nekyia lediglich die Geister an die Oberfläche gerufen.25 Die Nekyia im elften Gesang der Odyssee beginnt mit dem Auftrag von Kirke an Odysseus, er solle zu einem der Unterwelt vorgelagerten Platz fahren und dort in einer Reihe ritueller Handlungen die Toten beschwören. Dorthin kamen wir und landeten; nahmen die Schafe Aus den Schiffen heraus, und längs des Okeanos Fluten Gingen wir, bis wir den Ort erreichten, den Kirke bezeichnet. Allda hielten die Opfer Eurylochos und Perimedes. Aber nun eilt’ ich und zog das geschliffene Schwert von der Hüfte, Eine Grube zu graben, von einer Ell’ ins Gevierte. Goß dann über sie aus für alle Toten ein Opfer, Erst von Honig und Milch, von süßem Weine das zweite, Und von Wasser zuletzt, bestreut mit weißlichem Mehle; Flehte dann viel und gelobte den schwankenden Häuptern der Toten, Wenn ich nach Ithaka käme […] zu opfern. Und nachdem ich flehend die Scharen der Toten beschworen, Griff ich die Schafe und schlachtete beide über der Grube; / Schwarz entströmte das Blut, und aus dem Erebos kamen Viele Seelen herauf der abgeschiedenen Toten. […] / Dicht umdrängten sie alle von allen Seiten die Grube Mit grauenvollem Geschrei; und es fasste mich bleiches Entsetzen. Schnell befahl ich nun und trieb die lieben Gefährten, Daß sie beide Schafe, gestreckt vom grausamen Erze, Häuteten und sie verbrannten und laut anriefen die Götter, Hades’ hohe Gewalt und die schreckliche Persephoneia. Aber ich selbst riß schnell das scharfe Schwert von der Hüfte, Setzte mich hin und wehrte die schwankenden Häupter der Toten, Sich dem Blute zu nahn, eh’ ich Teiresias fragte.26

Der Experimentalaufbau startet mit dem Graben einer Grube »von einer Ell‹ ins Gevierte« und dem anschließenden Füllen derselben mit Honig, Milch, Wein, Wasser, Mehl und Blut. Nach einer Beschwörung der Toten werden Schafe, deren Blut die Eidola in Scharen anlockt, über der Grube geopfert. Die Eidola sammeln 25 Elisabeth Frenzel: »Unterweltsbesuch«, in: dies.: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, 6. Aufl., Stuttgart 2008, 700–714, 705. 26 Homerus: Odyssee. Übers. v. Johan Heinrich Voss, hg. v. Eduard Schwartz, bearbeitet v. E. R. Weiß, Neubearbeitung und Nachwort Bruno Snell, Augsburg 1994, XI 20.

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sich gierig um die Blutlache, sodass Odysseus sie mit dem Schwert abdrängen muss. Odysseus wählt Einzelne aus, lässt sie von dem Blut trinken und spricht mit ihnen, nachdem sie durch den Trank ihre Erinnerung und ihr Bewusstsein zurückerlangt haben. Das erste auserwählte Eidolon ist der kürzlich verstorbene Gefährte Elpenor.27 Sein Körper wurde noch nicht bestattet und beweint, daher symbolisiert er eine Schwellenfigur zwischen Leben und Tod. Seine Funktion ist es, in die Unterwelt überzuleiten und aus dieser herauszuführen. Mit seinem Begräbnisritual am Ende des elften Gesangs wird die Nekyia abgeschlossen.28 Auf Elpenor folgt der Seher Teiresias, der sich von den anderen Eidola durch die Gabe der Zukunftssicht unterscheidet. Teiresias berichtet Odysseus von seiner Zukunft und von dem weiteren Verlauf seiner Fahrt. Odysseus’ Versuch seine Mutter, das nächste Eidolon, das aus der Opfergrube trinkt, zu umarmen, misslingt.29 Körperlichkeit ist den Schatten nicht gegeben. Antikleia deutet ihrem Sohn damit das »Rätsel des Todes, die Verwandlung des Menschen zum Übernatürlichen, die Geistwerdung«30. Die Nekyia wird fortgeführt: Es tauchen die Helden Trojas, Agamemnon und Achilles, aus der Grube auf, die im Gegensatz zu ihrer Heldenexistenz in der Ilias nur kraftlose Schatten ihrer selbst sind. Zum Schluss wirft Odysseus einen Blick in die tiefste Stelle der Unterwelt. Der Hades ist hier ein Raum der überindividuellen Erinnerung.31 Im Einzelnen besteht der Versuchsaufbau der Nekyia aus einer topographischen Übertretung der Schwelle zwischen Lebenden und Toten. Es wird eine abgelegene Insel aufgesucht, eine Grube gegraben und mit Flüssigkeiten gefüllt. Das Ritual der Totenbeschwörung führt zu einer Visualisierung der Schatten, die durch den Trank ihre Erinnerung aktivieren und die Fähigkeit zu sprechen erlangen. Im Gespräch mit den Toten erhält Odysseus wichtige Informationen über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Zudem will Odysseus mit der Erzählung über die Nekyia die Phäaken überreden, ihm ein Schiff für die Heimfahrt zur Verfügung zu stellen.32 Die Nekyia besetzt eine wichtige Stelle in 27 Zur Stellung Elpenors und seiner Rolle in der Reihe der Helden der Nekyia vgl. Hermann Rohdich: »Elpenor. Antike und Abendland«, in: Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens, Jg. 31 (1985), 108–115. Vgl. auch H. Belting: »Aus dem Schatten des Todes. Bild und Körper in den Anfängen«, 109. 28 Isabel Platthaus: Höllenfahrten. Die epische Kat#basis und die Unterwelten der Moderne, München 2004, 96. 29 Zum Motiv der Umarmung der Toten siehe auch die Textstelle der Ilias (XXIII 104), in der Achilles die Seele des toten Patroklos umarmen will. 30 Edith Wimmer : Die Reise in das Land ohne Wiederkehr. Das Motiv der Hadesfahrt im klassischen Epos und der modernen englischen und amerikanischen Abenteuererzählung, Hamburg 1999, 135. 31 Ebd., 121. 32 Wilhelm Büchner weist in seiner Untersuchung darauf hin, dass der Unterschied zwischen

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der Mitte der Odyssee, sie bestimmt den symmetrischen Aufbau und begründet die Zuhörerschaft der Phäaken. Gleichzeitig erweist sich die Nekyia als ein Umweg auf der Reise33. Die Unterwelt ist in der Odyssee die einzige Station, die nicht auf dem Weg liegt und dennoch bewusst angestrebt wird. Sie »bezeichnet das stille Zentrum der Reise und ist ebenso ihr räumlicher Wendepunkt, wie ein Extrempunkt jenseits der bereisten Welt«34.

Musenanruf in der Dunkelkammer In den zahlreichen Odyssee-Texten der modernen Literatur, etwa bei Walter Jens’ Das Testament des Odysseus (1957), in Lion Feuchtwangers Odysseus und die Schweine (1950), in Hans Erich Nossacks Nekyia. Bericht eines Überlebenden (1947) oder in Thomas Manns Zauberberg (1924) finden sich Nekyia-Szenen.35 Hier soll der 2007 aus dem Schwedischen übersetzte Roman Zerbrochen. (Über das Entwickeln von Veloxpapier) von Henry Parland untersucht werden, der die antike Nekyia unmittelbar mit dem Fotografiediskurs verbindet.36 Der Roman beginnt mit einem Brief des Autors und Hobbyfotografen Henry an seine verstorbene Freundin Ami. Er bittet sie, in einer von ihm entwickelten

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der Nekyia in der Odyssee und der Katabasis bei Vergil oder Dante auch im Publikum liegt: »Denn Vergil und Dante ist es nur darum zu tun, vor der Phantasie des Lesers ein möglichst deutliches Bild der Unterwelt und ihrer Bewohner entstehen zu lassen, Odysseus dagegen benutzt als Meister in der Behandlung der Menschen die Gelegenheit, um sich das Wohlergehen der Phäaken und ihres Königspaars zu erhalten und zu verstärken.« Wilhelm Büchner : »Probleme der homerischen Nekyia«, in: Hermes, Jg. 72 (1937), 104–122, 105. I. Platthaus: Höllenfahrten, 102. Ebd., 97. Zur Rezeption der Odyssee in der modernen Literatur gibt es zahlreiche Untersuchungen. Als Ausgangspunkt können die folgenden Studien herangezogen werden: Thomas Bleicher : Homer in der deutschen Literatur vom Frühhumanismus bis zur Aufklärung (1450–1740). Zur Rezeption der Antike und zur Poetologie der Neuzeit, Mainz 1971 (= Germanistische Abhandlungen 39). Walter Ekhart, Sabine Nieberle: Odysseen 2001. Fahrten – Passagen – Wanderungen, München 2003. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Neuausg. Frankfurt/Main 1969. Nach dem Tod Parlands (1908–1930) erschien dieser Roman als Fragment in drei verschiedenen Fassungen (1932, 1966 und 1987). Erst im Zuge der 1998 veröffentlichten Dissertation von Per Stam konnte der Roman in der Fassung der Handschrift herausgegeben werden. Die 2007 erschienene deutsche Übersetzung wurde von Renate Bleibtreu herausgegeben. Im schwedischen Original wurde der Roman 2005 unter dem Titel Sönder veröffentlicht. Per Stam: Krapula. Henry Parland och romanprojektet Sönder, Helsingfors 1998. Renate Bleibtreu: »Nachwort«, in: Henry Parland: Zerbrochen. (Über das Entwickeln von Veloxpapier). Roman, Berlin 2007, 147–158. Der schwedische Titel bereichert die Interpretation durch die Wortbedeutung von »Sönder« als etwas Hervorstechendes, was sich einerseits in dem Entwickeln der Fotografie und dem Hervorholen der Toten aus der Entwicklerflu¨ ssigkeit, andererseits aber auch in der Art des Erinnerungsprozesses zeigt.

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Fotografie zu erscheinen. Ami soll seine Erinnerung wieder aufleben lassen und ihm beim Verfassen eines Romans helfen. Die Bitte entspricht einem Musenanruf an Mnemosyne, die »Göttin der Erinnerung«37. Die Nekyia in Parlands Roman wird im zweiten Kapitel von dem Autor und Fotografen in seiner Dunkelkammer vorbereitet. Er legt das Veloxpapier in die Schale mit der Entwicklerflüssigkeit, beugt sich über die Flüssigkeit und tritt mit der einstigen Geliebten in Kontakt: Sie kommt zögernd, abwartend, der Entwickler presst dem Papier ihre Gesichtszüge ab wie unförmige Flecken. Sie ordnen sich allmählich, werden dunkler und formen Andeutungen von Amis müdem, blondem Kopf. Nervös schüttle ich die Schale, die Flüssigkeit schwappt hin und her, ihrem Gesicht Leben und Ausdruckt verleihend. Es lebt auf, die Züge werden vertrauter – und sie lächelt.38

Zwar trinkt Ami nicht, doch sind das Schütteln der Schale und das Schwappen der Flüssigkeit entscheidend für die Vivifizierung des Bildes. Als er das Abbild Amis aus der Fotografie auftauchen sieht, ist Henry von ihrem Lächeln und ihrer Schönheit so gefangen, dass er vergisst, sie aus der Entwicklerflüssigkeit zu nehmen. Daraufhin mahnt das Eidolon Amis zur Eile: Du musst mich übrigens aus der Schale nehmen, wenn du meine Haut nicht völlig ruinieren willst. Siehst du nicht, dass ich schon einen Sonnenbrand habe, als hätte ich mein Leben lang nichts anderes getan als mich gesonnt. Mach schnell!39

Es ist jedoch zu spät, ihr Gesicht wird von einem dunklen Schleier verdeckt und Henry muss es erneut versuchen. Die zweite Kopie gelingt besser und das Bild beginnt zu sprechen. Wie in der Nekyia der Odyssee misslingt auch in dieser Evokation die Berührung – der im Bild fixierte Schatten besitzt keine eigene Körperlichkeit. Henry bezeichnet die ihm erscheinenden Erinnerungsbilder als mouches volantes40, denn wie Traumbilder entgleitet auch das entwickelte Bild von Ami dem Betrachter, und mit ihm die Erinnerung an die Tote. Das Scheinhafte, das sich dem Betrachter entzieht, ist eine zentrale Eigenschaft der Eidola in den antiken und modernen Texten. Der Experimentalaufbau in Zerbrochen. (Über das Entwickeln von Veloxpapier) ist dem der Nekyia in der Odyssee ähnlich. Auf eine topographische Übertretung – das Betreten der Dunkelkammer – folgt das Füllen einer Schale 37 Siehe dazu: Uwe Fleckner : Die Schatzkammern der Mnemosyne. Ein Lesebuch mit Texten zur Gedächtnistheorie von Platon bis Derrida, Dresden 1995, 18. 38 Henry Parland: Zerbrochen. (Über das Entwickeln von Veloxpapier). Roman, hg. v. Renate Bleibtreu, Berlin 2007, 18. 39 Ebd., 18. 40 Ebd., 57. Parlands Erinnerungskonzept verweist auf Marcel Prousts Konzept der memorie volontaire und der memoire involontaire. Der Roman von Henry Parland ist Marcel Proust gewidmet.

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mit Flüssigkeit. Während die Schatten in der Nekyia sich gierig um die Grube sammeln, erscheint das Gesicht von Ami zögerlich. Die Schatten der Odyssee tauchen nur für die Dauer eines Gesprächs auf, Henry hingegen versucht seine Geliebte dauerhaft auf der entwickelten Fotografie zu fixieren. In Parlands Roman findet außerdem eine Umkehrung der Nekyia statt: Nicht das Eidolon erlangt durch den Trank der (Entwickler-)Flüssigkeit die Erinnerung wieder, hier möchte der Spectator seine Erinnerung durch die Betrachtung und das Gespräch mit der Fotografie anregen. Doch erweist sich die Fotografie als unzuverlässig. Das in der Dunkelkammer entwickelte Bild wird im Laufe des Romans ersetzt durch ältere oder unscharfe Fotografien. Hier wird der in der Fotografietheorie thematisierte Diskurs der Unschärfe angedeutet, welcher Zweifel ausdrückt, ob die Fotografie den Wahrnehmungsprozess nachbilden kann.41 Im Unterschied zum Auge ist die Fotografie nämlich nicht in der Lage immer wieder neu zu fokussieren, sondern legt die Schärfe und Unschärfeverteilung endgültig fest. Daher wird die Fotografie auch lediglich als mechanisches Hilfsmittel gesehen, welches an die Komplexität des menschlichen Gedächtnisses nicht heranreicht. Im Roman ist es jedoch gerade die Unschärfe, welche die Erinnerung Henrys anregt, denn bei längerer Betrachtung der Fotografie vermischt sich seine Phantasie mit der Realität.42 Letztendlich kommt dem Roman die Aufgabe zu, die Lücken im Gedächtnis durch die angeregte Phantasie zu ergänzen.43

Nekromantie der Untoten In den homerischen Epen gehen die Seelen nach dem Ritus der Verbrennung und Beisetzung des Leichnams in den Hades ein. Kommt es zu keiner Bestattung, wird der Seele der Einlass in den Hades verwehrt und sie kann zu einem (Toten-)Dämon (mejuda_lym) werden. Durch die strikte Trennung zwischen Oberund Unterwelt stellen die Totenseelen meist keine Bedrohung dar.44 Wenn aber die Grenze zwischen den Welten verwischt oder verflüssigt wird, übertreten

41 Eine kleine Geschichte der Unschärfe in der Fotografie, vor allem im Zusammenhang mit dem Kunstbegriff, findet sich bei Wolfgang Ullrich: Die Geschichte der Unschärfe, Berlin 2002 und Wolfgang Ullrich: »Unschärfe, Antimodernismus und Avantgarde«, in: Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt/Main 2002, 381–412. 42 H. Parland: Zerbrochen, 109. 43 H. Parland: Zerbrochen, 135. 44 Monika Schmitz-Emans: »Gespenstische Rede«, in: Moritz Baßler (Hg.): Gespenster. Erscheinungen – Medien – Theorien, Würzburg 2005, 229–252, 229.

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einige Wiedergänger die Schwelle und kommen aus der Erde, wie Jaques Derrida in Marx’ Gespenster darlegt: Jeder Wiedergänger scheint hier aus der Erde zu kommen und wiederzukommen, er scheint daraus hervorzukommen wie aus einer tief vergrabenen Heimlichkeit (Humus und Dünger, Grab und unterirdisches Gefängnis), um dahin zurückzukehren wie ins Niedrigste, Tiefste, ins Demütige (humble), Feuchte (humide), Erniedrigte (humili8).45

In Elfriede Jelineks Roman Die Kinder der Toten (1995)46 ist die Erde nicht fest, sie verflüssigt sich kontinuierlich und wird im letzten Abschnitt zu einer Mure, die sich »wie ein Schwall über die Toten [ergießt], um das Verschüttete ins Rutschen zu bringen und also offenzulegen.«47 Die Erdoberfläche ist eine Schwelle, über die die Gesichter von Verstorbenen kriechen. Diese sind jedoch nicht identifizierbar. Tragen die Eidola in der Odyssee die Abbilder der Verstorbenen, sind sie in Jelineks Roman bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Sie tauchen auf und verschwinden wieder unbemerkt, in einer ständigen Wiederholung gefangen. Die Kinder der Toten kriechen rund um die Pension Alpenrose in der Steiermark aus allen Ritzen hervor : als Einzelne, durch Unfall oder Selbstmord zu Tode gekommen, oder als Masse der von den Nationalsozialisten Ermordeten. Das Tun der Gespenster scheint sinnlos, sie sind ruhelos, es verändert sich weder ihr Zustand, noch können sie sich an die Vergangenheit erinnern oder in die Zukunft sehen. Diese Gespenster haben einen oder mehrere Tode hinter sich, aber sie sind immer noch – oder schon wieder – untot. Sie spalten oder verdoppeln sich, sie kaspern, kalauern und kadavern mit ihren Doppelgängern oder Zweitwesen herum, begegnen sich selbst als Wiedergänger, als Zombies oder Vampire, sind als Lamien und Lemuren zugange, als Blutzehrererinnen und Leichenschmauser. Sie haben kein Gedächtnis und sie wissen nichts von sich, wollen auch nichts wissen. Sie feiern ihre Wiederauferstehung wie Orgien und begehen sie wie Verbrechen.48

45 Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt/Main 1995. 46 Elfriede Jelinek: Die Kinder der Toten. Roman, Reinbek b. H. 1995. Hinzuweisen ist auf den Workshop, der 2012 in Hamburg stattgefunden hat: »Ich will kein Leben. Elfriede Jelineks Ästhetik des Untoten«, im Rahmen des Kongresses und Festivals »Die Untoten – Life Sciences & Pulp Fiction«, www.untot.info. Zudem forscht Moira Mertens im Zuge ihrer Dissertation derzeit an der Universität Wien zum Thema »Untote Erinnerung. Medienästhetische Analyse der Erinnerungskonzeptionen der Shoa in Elfriede Jelineks Roman Die Kinder der Toten und den neueren Dramen.« Moira Mertens: »Untote, Zombies und VampirInnen. Die Kritik der Bio-Macht in Elfriede Jelineks Texten«, in: Natalie Bloch, Dieter Heimböckel (Hg.): Elfriede Jelinek. Begegnung im Grenzgebiet, Trier 2014, 39–54. 47 Sabine Treude: »Die Kontextualität des Gespenstischen in Elfriede Jelineks Roman Die Kinder der Toten«, in: SCRIPT. Konturen& Kontexte, Jg. 15 (1998), 9–15, 12. 48 Sigrid Löffler : »Herrin der Unholde und der Gespenster«, in: Literaturen, Jg. 12 (2004), 6–15.

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Die Eidola in Die Kinder der Toten feiern das Vergessen und werden damit zu ruhelosen Toten, dem Inbegriff des »unbefriedigten Vergessens.«49 Bei Jelinek verweisen die Untoten auf das Verdrängen historischer Traumata, insbesondere auf den Umgang mit der (nationalsozialistischen) Vergangenheit in Österreich.50 Gleichzeitig holen die Untoten, angetrieben von der Kommentarstimme der Autorin, in einer erinnerungspolitischen Nekromantie das Verdrängte zurück an die Oberfläche.51 An Stelle einer Begegnung mit den Lebenden setzt Jelinek im Roman eine Leerstelle. Es ergibt sich kein Totengespräch, denn die Untoten werden nur von Ihresgleichen erweckt.52 Der Blick in einen See, den die tote Hauptfigur Karin Frenzel als Spiegel nutzen möchte, führt zu einer unbeabsichtigten Evokation. Zunächst verweigert der Spiegel Karin die »subjektivitätsstiftende Identifikation«.53 Im Becken ist dunkles Wasser, alt, gestockt, schwarz, seit Urzeiten scheint es sich nicht erneuert zu haben, obwohl sich das Gerinnsel recht munter hindurch schlängelt. Die Blutauffrischung scheint aber in der angestammten, schwarzen Brühe nichts ausrichten zu können. Wozu hat dieses Becken gedient? Man kann nicht bis auf seinen Grund sehen, merkt Karin, als sie neugierig nähertritt, geschwärzter Spiegelscherben sie anzuschauen. […] Die Bäume spiegeln sich nicht im dunklen Metall des Wassers, auch Karins Gesicht gibt keinen brauchbaren Abdruck, es verliert sich sofort in der schimmernden Undurchdringlichkeit, die alles auflöst, was sich ihr nähert, als wäre dieses Becken mit Säure oder einer anderen zerstörerischen Substanz gefüllt. Die Blätter liegen ganz unbeweglich auf dem Wasserbildschirm.54

Das Wasser in dem Becken ist geschwärzt und alt, wie mit Säure gefüllt. Karin löst sich darin auf, wird unscharf, Säure zerfrisst ihr Spiegelbild. Das im SeeSpiegel hervorgerufene Bild entgleitet der Betrachtenden, so wie sich das Eidolon der Antikleia dem Odysseus und das Abbild Amis dem Fotografen Henry entzieht. Damit sind auch die Eidola in Die Kinder der Toten flüchtig und lassen sie sich nicht fixieren, ihre zentralen Merkmale sind Unabgegrenztheit, Unschärfe und Zerflossenheit. Ähnlich wie in der mit schwarzem Opferblut 49 Vgl. Harald Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München: 1997, 168–174. 50 Zum Entstehungskontext von Die Kinder der Toten und der Kritik Jelineks an der österreichischen Politik, insbesondere der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) und deren Verharmlosung der nationalsozialistischen Vergangenheit, siehe Pia Janke: »Die Kinder der Toten« in: dies. (Hg.): Jelinek-Handbuch, Stuttgart 2013, 113–118, 113. 51 Moira Mertens: »Untote«, in: Pia Janke (Hg.): Jelinek-Handbuch, Stuttgart 2013, 292–296, 294. 52 E. Jelinek: Kinder der Toten, 456. 53 Inge Arteel: »Der Kampf um das Bild. Elfriede Jelineks Die Kinder der Toten im Dialog mit Franz Kafka und Gilles Deleuze«, in: Thomas Eder, Juliane Vogel (Hg.): Lob der Oberfläche. Zum Werk von Elfriede Jelinek, München 2010, 153–168, 158. 54 E. Jelinek: Kinder der Toten, 84–85.

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gefüllten Grube der Odyssee wird die Wasseroberfläche zu einem Bildschirm, auf dem sich das Abbild der Toten zeigt. Wie in der Unterwelt bewahrt der See die Abbilder der Menschen in einer zerflossenen, unscharfen, nicht klar von ihrer Umgebung abgegrenzten Form in der Tiefe. Aber die Konturen Karins überlagern sich wie »übereinander belichtete Fotos«55, bei denen sich der Unterschied zwischen Kopie und Original verwischt, bis aus dem Spiegelbild eine Kopie, eine unheimliche Verdoppelung der Toten, entsteht. Das Wasser zieht Karin in den See und dupliziert sie. Die beiden gleichen Frauen stehen sich gegenüber, bis die »Wassernixe« Karin langsam wieder im Wasser versinkt, jedoch bald als Karin II wieder im Roman auftaucht.56 So soll versinnbildlicht werden, dass der Tod zu einem Verlust des Selbst führt, das für die ruhelosen Toten auch im Wiedergängertum nicht gefunden werden kann. Die Untoten werden Teil einer Masse. Zwar unterscheiden sie sich von den anderen namenlosen Toten, durch das Vervielfachen zu Karin I und II, Gudrun I und II wird das Einzigartige der Figuren jedoch wieder aufgehoben. Die Verbindung mit den Eidola in der Fotografie-Theorie kann durch die Kritik an der Fotografie und der durch das Fotografiert-Werden entstehenden Verdoppelung des Abbilds hergestellt werden. Hier dient die auf der Fotografie zurückgelassene Spur nicht als Ausgangspunkt für eine Totenbeschwörung, sondern führt – ähnlich wie in der Häutchen-Theorie befürchtet – zum Verlust der Identität durch die Vervielfachung.

Beobachtung der Eidola In den Texten von Jelinek und Parland erscheinen die Beobachtung, das Experiment und die Visualisierung der Toten als Transformationen der homerischen Nekyia. Der Experimentalaufbau der Evokation ist in den drei Texten ähnlich: Zunächst wird für die Evokation der Eidola eine topographische Schwelle übertreten. Mit der Definition der Heterotopoi von Michel Foucault könnte man die Stelle der Nekyia als einen Friedhof betrachten, der mehrere Räume in sich vereint.57 Die Dunkelkammer in Zerbrochen. (Über das Entwickeln von Veloxpapier) verbindet durch das Entwickeln vergangener Fotografien mehrere Erinnerungs-Räume in einem lichtdichten abgedunkelten Raum. In dem Roman Kinder der Toten erscheint die Pension Alpenrose als der Eingang zur Unterwelt oder gar Österreich als ein Zwischenreich, eine »scheinbelebte Nekropole«.58 Als 55 Ebd., 95. 56 Ebd., 101. 57 Michel Foucault: »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais, Leipzig 2002, 34–46, 41. 58 S. Löffler : »Herrin der Unholde und der Gespenster«, 6–15.

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der Ort am Ende des Romans von einer Mure verschüttet wird, erweist sich die Pension Alpenrose als »Friedhof der Namenlosen«59, denn seltsamerweise begräbt der Schlamm nicht nur Bewohner unter sich, sondern auch Tote, die »bereits seit längerem, teils seit sehr langer Zeit schon, verstorben gewesen sein mußten«60. In einem zweiten Schritt treten die Eidola aus der Tiefe ans Licht. Das Gedächtnismodell der Tiefe – verglichen mit einer archäologischen Grabung, Kellerräumen, einem Brunnenschacht oder einem Loch61 – verbindet das Räumliche mit der Unzulänglichkeit und Unverfügbarkeit der Erinnerung.62 Die Grube muss quadratisch sein und die Seiten eine Elle lang: ein ritueller und poetischer Archetyp, der in zahlreichen späteren Werken der Dichtung wiederkehrt. Sie ist eine magische Grube, eine symbolische Aushöhlung, die die Erdoberfläche mit der Unterwelt verbindet, eine liturgische Schwelle, deren Konkavität die chthonischen Tiefen beschwört und diese mit den Lebenden in Berührung bringt.63

Für die magische Animation der Seele sind neben der räumlichen Übertretung der Schwelle Flüssigkeiten, denen Gedächtnis-Kraft zugeschrieben wird, notwendig. Die wichtigste Flüssigkeit für die Totengespräche ist Blut, Zeichen für den schwindenden Lebensimpuls der Sterbenden. Die ruhelosen Toten nehmen das noch warme Blut in sich auf, um sich zu nähren und sich zu erinnern. Ami in Zerbrochen. (Über das Entwickeln von Veloxpapier) trinkt kein Blut, doch erweckt das Schwappen der Entwicklerflüssigkeit sie zum Leben. Gleichzeitig bewirkt der Trank von Flüssigkeiten das Gegenteil: den Verlust der Erinnerung. Durch die besondere Eigenschaft, eine glatte Oberfläche zu bilden und Löcher zu füllen, wurden Flüssigkeiten – insbesondere der Lethestrom – zur Metapher des Vergessens.64 Nur wenige eingeweihte Tote trinken nicht aus dem Fluss des Vergessens und bevorzugen stattdessen den Mnemosyne-Trank. In Die Kinder der Toten trinken die Untoten zwar Blut, doch verhilft es ihnen weder zu scheinbarem Leben noch zu Erinnerung. Der Schlamm der Mure versucht zwar eine glatte Oberfläche zu bilden und die Löcher der Vergangenheit zu verschütten, doch entsteht ein gegenteiliger Effekt: Die Aufräumarbeiten lassen 59 E. Jelinek: Kinder der Toten, 666. 60 Ebd. 61 Harald Weinrich: »Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens«, in: Erich Rothacker, Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Kommission für Philosophie (Hg.): Archiv für Begriffsgeschichte. Bausteine zu einem historischen Wörterbuch der Philosophie, Bonn 2000, 23–26, 17. 62 A. Assmann: Erinnerungsräume, 163. 63 Mino Gabriele: »Blut und Magie in der klassischen Antike«, in: James M. Bradburne (Hg.): Blut. Kunst, Macht, Politik, Pathologie, (Ausstellung im Museum für Angewandte Kunst Frankfurt/Main und der Schirn Kunsthalle Frankfurt, 11. November 2001–27. Januar 2002), München u. a. 2001, 33–40, 34. 64 A. Assmann: Erinnerungsräume, 211.

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Haar-Massen Verstorbener zutage treten. Damit wird verdeutlicht, dass die Vergangenheit nicht verschüttet und vergessen werden kann. Was am Ende des Romans aufgehoben und aufgeschoben wird, indem das Geschehen erneut verdeckt wird, hebt und schiebt Jelinek so weit auf, dass diese Deckung als unsere eigene Geschichte zu einer Sprache kommt, die sie, sich aussprechend, aufwirft, und zwar gründlich.65

Gegen den Verlust des Gedächtnisses arbeiten Fotografien an, die als Simulakrum der Abgebildeten ein Erinnerungsbild, »das den Dargestellten physisch anwesend sein lässt«66, darstellen. So ist nach Barthes und Derrida das Gespenstische das Wesen der Fotografie, in dem die Phantasie des Betrachters durch die Magie der Fotografie angeregt wird. Die Kamera dient als Hilfsapparat des Gedächtnisses, sie ahmt es genau da nach, wo dieses unvollkommen ist: vor allem bei der Speicherung von Erinnerungsbildern und Porträts vertrauter Gesichter.67 Die Visualisierung der Toten über der mit Flüssigkeiten gefüllten Grube überwindet damit eine Bildlosigkeit, eine Lücke, die durch Abwesenheit der Toten entstand. Das Bild entsteht in der Lücke, welche die Toten in ihrem sozialen Umfeld hinterlassen haben, und wird gegen den Körper, den sie verloren haben, eingetauscht. Im Sinne von Jean Baudrillard kann man von einem symbolischen Tausch von Körper und Bild sprechen. Das Bild als Double des Körpers gibt dem verschwundenen Körper ein Medium zurück, in dem er gegenwärtig bleiben kann.68

Hans Belting zufolge kann die Kommunikation durch das Besetzen der Lücke wieder aufgenommen werden.69 Die Eidola erhalten durch die Nekyia – dem rituellen Füllen einer Lücke – die Fähigkeit zu sprechen und sich zu erinnern. Ausgehend von der Hypothese, dass die Grenze zwischen dem Zwischenraum und dem Nicht-Zwischenraum als Nahtstelle des Übergangs zu begreifen ist, sollen Zwischenräume in Bildern, Bilder-Räume, Bilder-Übergänge und der Blick auf Bilder fokussiert werden: Dieser der Bewegung einer Variabilität folgende Blick soll zeigen, dass sich im Zwischenraum nicht nichts, sondern ein Raum befindet, in dem die Bewegung und der Übergang selbst zu einem Bild werden, in dem die Auslassung sozusagen selbst als Figur bezeichnet werden kann.70 65 P. Janke: »Die Kinder der Toten«, 118. 66 B. Stiegler: Philologie des Auges, 227. 67 George Santayana: »Das fotografische und das geistige Bild«, in: Wolfgang Kemp: FotoEssays. Zur Geschichte und Theorie der Fotografie, München 2006, 253. 68 M. Schulz: »Spur des Lebens und Anblick des Todes«, 382. Zitiert wird Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, München 1982. 69 H. Belting: »Aus dem Schatten des Todes«, 124. 70 Trias-Afroditi Kolokitha: Im Rahmen. Zwischenräume, Übergänge und die Kinematographie Jean-Luc Godards, Bielefeld 2005, 13f.

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Die Lücke muss daher erhalten bleiben, damit Bilder entstehen können und die Visualisierung der Eidola zum Erzählen führen. Denn das Erzählen ist Teil des Lebens, während die Unterwelt stumm ist.71 Aleida Assmann betont: »Es gibt kein kreatives Sagen ohne Erinnern, kein Dichten außerhalb der Tradition bzw. ohne Schluck aus dem Musenquell.«72 Man kann sogar behaupten, Literatur entsteht aus einem Totenopfer.73 Die Auferweckung Amis aus dem Bad in der Entwicklerflüssigkeit ist nicht nur ein Totenopfer, sondern auch ein »Musenanruf« an die Geliebte, welcher die Erinnerung des Erzählers anregen soll. Übertragen wird diese Erinnerung in den Raum eines Buches, oder eines Albums, das die Bruchstücke des Zerreißens ordnet. Ähnlich führt auch Parland in Zerbrochen die verstreuten Stücke seiner Erinnerung zu einem, doch nur als Fragment erhaltenen, Roman zusammen. Odysseus erzählt im elften Gesang den Phäaken von seinen Abenteuern. Und auch Elfriede Jelinek kämpft mit einem Schwall aus Sprache gegen das Schweigen an.74 Zentral für die Analyse der Eidola ist letztlich nicht nur das Abbild, das den Schein des Lebens vortäuscht, sondern auch der Operator, der Fotograf oder Totenbeschwörer der Nekyia. Beobachter sind wir, die Betrachter der Fotografien und Leser der Romane.

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I. Platthaus: Höllenfahrten, 105. A. Assmann: Erinnerungsräume, 171. M. Mertens: »Untote«, 293. Vgl. S. Treude: »Die Kontextualität des Gespenstischen in Elfriede Jelineks Roman Die Kinder der Toten«, 12.

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Der Stalker im Spiegel: Beobachtender und verfolgender Blick in Texten von Stefan Zweig und Daniel Glattauer

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Voyeure, Stalker und eine psychoanalytische Theorie der Angst

Wie das »alte Verhalten« Stalking im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts als »neues Verbrechen«1 entdeckt und in Literatur und Film ästhetisch gestaltet wurde, sollte von einer Kulturgeschichte des Blicks aus erst noch dargestellt werden. Allerdings drängen sich die gesellschaftlichen Zusammenhänge des Beobachtens und Beobachtet-Werdens beim Stalking weniger auf als beim kulturwissenschaftlich schon öfter beschriebenen Voyeurismus.2 In der Art ihres Blicks unterscheiden sich Voyeur und Stalker oberflächlich diametral: Der Voyeur scheint aus dem Beobachten selbst alle Befriedigung zu ziehen und darüber hinaus mit seinem Handeln nichts zu bezwecken. Der Stalker3 beobachtet dagegen gerade nicht als Selbstzweck, sondern um bewusst Druck auf sein Opfer auszuüben. Die Gegensätzlichkeit der beiden Blicke ist freilich schon weniger eindeutig, wenn man beim Vergleich nicht vom beobachtenden Täter ausgeht, sondern vom beobachteten Opfer. Dem ist der jeweilige Zweck der Beobachtung oft ungewiss: Auch für das Opfer des Voyeurismus, darauf hat vor allem feministisch orientierte Forschung4 aufmerksam gemacht, spielt Gewalt eine entschei1 Vgl. J. Reid Meloy : »Stalking. An old Behavior, a new Crime«, in: Psychiatric Clinics of North America, Jg. 22/1 (1999), 85–99. 2 Vgl. dazu etwa den Sammelband von Ulrich Stadler, Karl Wagner (Hg.): Schaulust. Heimliche und verpönte Blicke in Literatur und Kunst, München 2005. 3 Jens Hoffmann: Stalking, Heidelberg 2006, 8 sieht »in der Genderfrage ein ziemlich stabiles Ergebnis. Auf Seiten der Opfer stehen etwa viermal so häufig Frauen wie Männer. Analog hierzu sind etwa 80 % der Stalker männlichen Geschlechts.« 4 Claudia Öhlschläger : »Unsägliche Lust des Schauens«. Die Konstruktion der Geschlechter im voyeuristischen Text, Freiburg 1996, 17. Vgl. auch Konstanze Fliedl: »Voyeurismus und Dekadenz: Beispiele aus den Fins des SiHcles«, in: Ulrich Stadler, Karl Wagner (Hg.): Schaulust. Heimliche und verpönte Blicke in der Literatur und Kunst, München 2005, 117–130, 117: »Wenn der Blick ›durchs Schlüsselloch‹ in den weiblichen Raum des Boudoirs, des Bades oder

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dende Rolle: »Die voyeuristische Person maßt sich eine Vorrangstellung an, indem sie sich das Recht auf Anonymität herausnimmt, das sie zugleich ihrem Gegenüber verweigert.«5 Sowohl das Stalking-Opfer wie auch das voyeuristischer Beobachtung sehen sich einem Täter ausgesetzt, der Grenzen der Intimität verletzt. Voyeur wie Stalker fixieren das Opfer in einer gespenstischen DoppelgängerIdentität, die mit seiner »eigentlichen« konkurriert, beide inszenieren ein »Schauspiel« als Realität und Realität als »Schauspiel«. Diese Inszenierung führt vor und verzerrt, wie Wahrnehmung des Selbst und Wahrnehmung des Anderen wechselseitig voneinander abhängen. Zugleich wird dabei ein Konflikt wiederholt, karikiert und ausagiert, in dem sich gemäß psychoanalytischer Theorie jedes Subjekt im imaginären Raum erst als Person konstituiert. Das stellt die übliche, lineare Sichtweise in Frage, die vom Subjekt zum Objekt des Beobachtens führt, denn eine solche Sichtweise kommt »dem Versuch gleich, das Subjekt in eine Sicherheit zu bringen, die trügerisch ist, weil sie verkennt, dass das Subjekt selber auch immer schon in einem Bild ist – im Bild, das sich andere von ihm machen.«6 Jedes Subjekt setzt sich, um Person zu werden, in ein imaginäres Verhältnis zum Begehren des Anderen, stellt sich als Objekt von außen im Blick des Anderen vor. In diesem Spiegelstadium schreibt sich laut Lacan das Symbolische in die Selbsterfindung des Subjekts ein. »Um verstehen zu können, was Menschen motiviert und wie sie sich selbst sehen, muss man verstehen, wie Beziehungen verinnerlicht und wie sie in ein Selbst verwandelt werden.«7 Vor diesem Hintergrund wurde die Psychopathologie von Stalkern aus einer narzisstischen Störung erklärt.8 In seinem zehnten Seminar9 hat Lacan mit Bezug auf Freuds Essay Über das Unheimliche10 Angst als Störung der imaginären Konstitution des Selbst beschrieben.

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des Schlafzimmers fällt, so ersetzt er metaphorisch die Penetration des Frauenkörpers. Diese Ähnlichkeit von sexuellem und skopischem Akt fällt ins Auge; sie hat daher auch die geschlechtsspezifische Asymmetrie des Voyeurismus seit jeher fixiert: Frauen haben nichts zu schauen.« Ulrich Stadler : »Schaulust und Voyeurismus. Ein Abgrenzungsversuch«, in: Ulrich Stadler, Karl Wagner (Hg.): Schaulust. Heimliche und verpönte Blicke in der Literatur und Kunst, München 2005, 9–38, 23. Peter Widmer : »Das unbewusste Begehren des Voyeurs«, in: Ulrich Stadler, Karl Wagner (Hg.): Schaulust. Heimliche und verpönte Blicke in der Literatur und Kunst, München 2005, 141–160, 142. Sheldon Cashdan: »Sie sind ein Teil von mir«. Objektbeziehungstheorie in der Psychotherapie, Köln 1990, 39f. Vgl. J. Hoffmann: Stalking, 54–62. Jacques Lacan: Das Seminar. Buch X, Die Angst, 1962–1963, Wien u. a. 2010. Sigmund Freud: »Das Unheimliche«, in: ders.: Der Moses des Michelangelo, Frankfurt/Main 2004, 137–172.

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Angst entsteht laut Lacan dort, wo der Spiegel-Raum gestört wird, indem im Imaginären plötzlich Reales erscheint. Entsprechend ist auch die vielbesprochene »Angst« des Voyeurs11, beim Blick durch das Schlüsselloch entdeckt zu werden, nicht einfach identisch mit der »Furcht« vor Konsequenzen: Sie entsteht daraus, dass die Entdeckung den subjektiv errichteten Theaterraum zerstört, innerhalb dessen Voyeur wie Stalker Imaginäres schützt und ausdehnt. Die beobachtete Person, die er zur Figur seines Schauspiels gemacht hat, wird plötzlich unkontrollierbar real. Wie der Voyeur hat der Stalker die Forderung der Aufklärung umgekehrt, das Imaginäre durch den vernünftigen Blick zu kontrollieren12 – sein Ziel ist es, den vernünftigen Blick seiner Imagination unterzuordnen. Das Wechselspiel von Angst und Selbstkonstitution des Subjekts im Blick des Anderen erklärt die Unheimlichkeit, die von Voyeuren und Stalkern ausgeht. Ästhetisch hängt daran auch die Leichtigkeit, mit der sich diese Unheimlichkeit von fiktional dargestellten Opfern des heimlichen und verfolgenden Blicks auf Lesende bzw. Zusehende überträgt. Die fiktionale Darstellung von Voyeurismus und Stalking kann den Rezipienten in seiner Selbstdefinition gleich auf zwei Ebenen verunsichern: einerseits in der identifikatorischen Begegnung mit einem grenzverletzenden Anderen auf der Ebene der fiktionalen Handlung, andererseits als Begegnung mit einem allmächtigen Autor oder Regisseur auf der Ebene der Rezeption. An dieser Schnittstelle zwischen Innenwelt und Außenwelt kann deutlich werden, in welcher Weise sich unbewußte psychische und gesellschaftliche Prozesse miteinander verweben und gegenseitig beeinflussen: die Vergesellschaftung des Imaginären und die imaginäre Produktion von Realität.13

Der gemeinsame Hintergrund eines pervertierten Beobachtens bzw. Beobachtetwerdens in Voyeurismus und Stalking macht literaturhistorisch interessant, wie Autoren die beiden Motive kontrastieren und sich zwischen ihnen entscheiden. Welches der beiden Motive wählt ein Autor, wählt eine Epoche, um ein asymmetrisches Verhältnis von Ich und Anderem schon in der Wahrnehmung darzustellen? Ist es literaturgeschichtlich symptomatisch, ob diese Asymmetrie im Voyeur handlungsgehemmt melancholisch dargestellt wird oder im Stalker ausagierend aggressiv? Der folgende Textvergleich über ein Jahrhundert hinweg fragt exemplarisch genau danach und arbeitet dabei zunächst heraus, wie sich psychoanalytisches Modell und Gender-Problematik in der Thematik des Blicks überlagern. 11 U. Stadler : »Schaulust und Voyeurismus«, 24, 25. 12 Zu dieser Forderung vgl. Thomas Kleinspehn: Der flüchtige Blick. Sehen und Identität in der Kultur der Neuzeit, Reinbek b. H. 1989, 172f. 13 Ebd., 157.

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Zweimal die Konstruktion von Gender aus dem Blick

Als Stefan Zweigs Novelle Angst14 1912 erstmals erschien, war »Stalking« als Begriff für die obsessive Verfolgung eines Menschen noch nicht geprägt und als Phänomen noch nicht in der Populärkultur angekommen. Hundert Jahre später, und inmitten einer Welle publizistischer Aufmerksamkeit für das Phänomen in der Unterhaltungskultur, erscheint Daniel Glattauers Ewig Dein. Wie Zweigs Buch wird es sofort ein Publikumserfolg. Beide Texte sind auch Beispiele des vergleichsweise seltenen Falles, dass männliche Autoren die Perspektive einer Frau einnehmen. Beide setzen eine prekäre Abhängigkeit des weiblichen Selbstbilds vom männlichen Blick voraus und thematisieren sie in der StalkingThematik: Bildet sich in diesen beiden Texten also ein unverändertes, genderspezifisches Machtverhältnis ab, wie es Konstanze Fliedl für den Voyeurismus pauschal charakterisiert hat? Dass Frauen, sogar die ranghöchsten, zu Beginn des Jahrhunderts beim Augenspiel nur insofern mitmachen durften, als sie den begehrenden Blick auffingen oder aber imitierten, kommt […] kaum überraschend. Verblüffender ist da schon, dass es eine Jahrhundertwende später auch nicht viel anders aussieht.15

Am Text Zweigs ist durchaus ablesbar, dass sich die Perspektive auf die TäterOpferbeziehung bei Stalking während dieser 100 Jahre zumindest von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen her verändert hat. Heute wird Stalking als strafrechtlich relevantes Delikt aufgefasst. Bei Zweig dagegen wird ein Vorwissen um Stalking als möglichen Straftatbestand durch die Figurenkonstellation in gewisser Weise sogar konterkariert: Stalkingopfer ist die bürgerliche Ehefrau Irene Wagner, Täter ihr Ehemann Fritz, ein angesehener Rechtsanwalt, dessen Verhalten in der Novelle nicht eindeutig als Unrecht verurteilt wird. Fritz Wagner engagiert als Reaktion auf eine Affäre Irenes mit einem Musiker eine Schauspielerin, um seine Frau beobachten und mit ihrer Affäre erpressen zu lassen. Nicht die Gewalttätigkeit des Stalkers steht dabei im Zentrum der Novelle, sondern die Frage der Frau nach der Abhängigkeit ihrer Identität von Blicken, die sich überkreuzen. Frau Irene gehörte mit ihrer ganzen Denkweise zu jener eleganten Gemeinschaft der Wiener Bourgeoisie, deren ganze Tagesordnung darin zu bestehen scheint, daß alle Mitglieder dieses unsichtbaren Bundes einander zu gleichen Stunden mit den gleichen Interessen unablässig begegnen und dies ewig vergleichende Beobachten und Begegnen allmählich zum Sinn ihrer Existenz erheben. Auf sich selbst angewiesen und vereinsamt, verliert ein so an lässige Gemeinsamkeit gewöhntes Leben jeden Halt, die Sinne ohne ihr gewohntes Futter an höchst geringfügigen, aber doch unentbehrlichen 14 Stefan Zweig: Angst, Frankfurt/Main 1991. 15 K. Fliedl: »Voyeurismus und Dekadenz«, 128.

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Sensationen revoltieren und das Alleinsein artet rasch zu einer nervösen Selbstbefeindung aus.16

Zunächst definiert sich Zweigs Protagonistin ganz über den im Kern voyeuristischen Blick einer (groß-) bürgerlichen Gesellschaft. Er ist an sich auf kein Objekt fixiert, aber jedes Mitglied dieser Gesellschaft versucht ihn auf sich zu ziehen. Die gemeinsame Ideologie verbirgt sich hinter den Konventionen der Konversation, das gesellschaftliche Leben wird zum Theater. »Die Stadtmenschen werden zu Künstlern einer besonderen Art: zu Schauspielern. Indem sie ihr öffentliches Leben inszenieren, verlieren sie den Kontakt zur natürlichen Tugendhaftigkeit.«17 Ihr Blick haftet auf den immer gleichen Zeichen, in denen sich eine hermetische Selbstgenügsamkeit ihrer Gesellschaftsschicht bestätigt und wiederholt. Im voyeuristischen Blick auf sich sieht Irene ihre Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft in einer weiblichen Rolle ohne Arbeit bestätigt. Weil dieser Blick aber kein praktisches Interesse an ihr nimmt, fühlt sie ihr Leben zunehmend irreal werden. Irene verinnerlicht diesen Blick und verliert dadurch aus den Augen, was Zweig als ihren Bezug zum praktischen Leben darstellt: ihren Ehemann und ihre Kinder. Sie begehrt eigentlich nicht; ihre einzige, narzisstische Form zu existieren ist, voyeuristisch begehrt zu werden. Sie nahm jeden Blick den ihr die Gasse zusprengte, hastig mit im Vorüberschreiten, und der unerwartete Erfolg vieler solcher männlicher Lockungen reizte ihre Neugier nach dem eigenen Gesicht so sehr, dass sie plötzlich vor dem Spiegel in der Auslage einer Blumenhandlung stehen blieb, um im Rahmen roter Rosen und tauglitzernder Veilchen ihre eigene Schönheit zu sehen.18

In Irenes Affäre mit dem Musiker drückt sich eine Sehnsucht nach einem Jenseits der narzisstischen Selbstbespiegelung aus. Zugleich wiederholt sie aber die Ursache der Selbstentfremdung, auch in der Affäre liefert ihr Narzissmus sie fremdem Begehren hilflos aus. Zweig setzt der narzisstischen Abhängigkeit vom Spiegel des fremden Blicks keine Alternative in einem »eigentlichen Selbst« der Frau entgegen: Ihr Selbstbild ist nicht vom eigenen Begehren aus zu konstruieren. Stattdessen stört der Text die imaginäre Abhängigkeit vom voyeuristischen Blick durch den Einbruch des Realen. Der Ehemann als Stalker konfrontiert Irene mit dem, was dieser Blick verdrängt hat, und zugleich mit Angst. Das »weibliche« Selbstbild hat sich im Einverständnis mit der Gesellschaft zum Objekt von Voyeurismus zugerichtet; durch die Einschaltung der Schauspielerin 16 Ebd., 41, 42. 17 Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt/Main 1986, 158. 18 S. Zweig: Angst, 30.

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konfrontiert es der Ehemann zunächst vorgeblich und in Verkleidung mit dem zweckgerichtet-ökonomischen Blick eines hungrigen Subproletariats. 100 Jahre nach Zweig konstruiert Glattauer die Abhängigkeit des weiblichen Selbstbilds vom fremden Blick ebenfalls ausweglos, aber doch mit bezeichnenden Unterschieden. Auch im Handlungsverlauf von Ewig Dein findet die Protagonistin Judith zunächst keine Alternative dazu, das eigene Begehren spiegelbildlich über den fremden Blick zu definieren. Abseits des Stalkers bleiben aber der Blick und der gesellschaftliche Konversationston eines »Freundeskreises« viel unproblematischerer Bezugspunkt der Identität der Frau. Bei Zweig muss die Frau den Blick des Stalkers, der sie betrifft und verfolgt, erst ihrem Mann zuordnen – und der Leser mit ihr. Bei Glattauer ist sich der Leser mit der Frau viel schneller über den Stalker und die Art des verfolgenden Blicks im Klaren – seine Abseitigkeit und Omnipräsenz muss jedoch erst vor der Öffentlichkeit des Freundeskreises sichtbar gemacht werden. Der Stalker droht Judith nicht nur, sie unvermittelt auszulöschen, sondern über ihre Entfremdung von einem freundschaftlichen Umfeld, das mit ihm um seine Position des »Anderen« im Blickaustausch konkurriert. Zugleich charakterisiert Glattauer dieses Umfeld, aus dem Judith durch die Stalking-Erfahrung fällt, weniger ökonomisch und soziologisch als Zweig. Hannes, der Stalker, ist bei Glattauer im Unterschied zu Zweig im Grunde selbst Voyeur. Sein Machtanspruch ist narzisstisch und asexuell. Gerade indem er Judith ganz für seinen Blick (und nur für seinen Blick) in Besitz nimmt, möchte er sie in letzter Konsequenz als Person auslöschen. Am Anfang des Texts nimmt Judith die Perversion darin nur insofern wahr, als es ihr trotz Mühe nicht gelingt, sich selbst in diesem Blick als begehrt zu erfahren. Sie möchte sich dennoch mit dem Objekt des fremden Begehrens verwechseln und verliert dadurch das Bewusstsein ihrer selbst: Auch der gesellige Blick ihrer Freunde auf sie bleibt zu unpersönlich und durch Nebeninteressen zu zerstreut, um Basis ihrer Selbstkonstruktion werden zu können. 100 Jahre nach Zweig akzentuiert bei Glattauer der »alte« Voyeurismus also in gewissem Sinn die »neue« Thematik des Stalkings: Die Abseitigkeit des Stalkers und seine Omnipräsenz ist dem Freundeskreis schwer zu vermitteln. Sein Blick ist asexuell und vordergründig freundschaftlich und unterscheidet sich außer durch seinen Anspruch der Vereinnahmung nicht vom halb öffentlichen Blick des Freundeskreises. Die Frage nach einer möglichen Emanzipation, die psychologisch auf den Blick des Anderen angewiesen bleibt, stellt sich bei Glattauer dadurch verschoben. Im Unterschied zu Zweig wird der Blick des Anderen, auf den sich ein emanzipiertes Selbstbild beziehen könnte, weder im Stalker personifiziert noch soziologisch in einer bestimmten Gesellschaft verortet. Nicht zufällig komponiert Glattauer die Metaphorik der künstlichen Be-

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leuchtung so durchgängig und bewusst wie Zweig seine des Blicks.19 Judith, die Protagonistin, besitzt ein Lampengeschäft und ist »so sehr empfänglich für vertraute Lichter und ihre Wirkungen, dass sie sie auch spürte, wenn ihre Augen geschlossen waren«20. Ihre Kraft zum Widerstand gegen das vom Stalker aufgezwungene Fremdbild findet Judith unter dem »Goldregen«, einer antiquarisch erstandenen Stehlampe aus Rotterdam.21 Hannes, der Stalker, der sie bewusst in den Wahnsinn treibt, um ihr Leben als Pfleger ganz zu kontrollieren, kauft in ihrem Geschäft einen Kristallluster aus Barcelona.22 Er nimmt damit das Licht, unter dem sie sich kennengelernt hatten, ganz in Besitz.23 An den Lichtern einer Hausfassade wird am Ende entschlüsselt24, dass der Stalker als Ehemann einer andern Frau, die bereits zu seinem Opfer geworden ist, eine Doppelexistenz führt. Der beobachtende Blick wird von Glattauer ganz in der Lichtmetaphorik aufgehoben. Dieser Blick wird zugleich entpersonalisiert und medial objektiviert. Die Beleuchtung, das Licht, in das die Protagonistin sich stellt, wird zur Existenzfrage: »Wie wird man seinen Schatten los? – ›Indem man ihn hinters Licht führt.‹«25 Die Metaphorik macht zwar dem Anschein nach die Verwechslung von Ich und »Anderem« wie in einem Kriminalfall lösbar. Aber wenn man die Metapher ernst nimmt, hält die Lösung nur für einen Augenblick, denn der eben noch »hinters Licht« geführte Schatten kehrt im nächsten Augenblick zurück. Die Erfindung des weiblichen Selbst durch den Blick des Anderen wird nicht dadurch unproblematisch, dass ein Subjekt vorausgesetzt wird, dem die Verantwortung dafür zugeschoben wird, sich selbst »ins rechte Licht« zu setzen.

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Abjekt und Scham

Im Anschluss an Bataille und Lacan hat Julia Kristeva das »Abjekt«26 als Begriff eingeführt. Das Abjekt ist der »reale« Kern des Unheimlichen, der im imaginären Raum erscheint, die Ich-Konstruktion stört und Angst auslöst: Als Reales leistet das Abjekt der symbolischen Einordnung durch das Subjekt Widerstand. In der Reaktion auf das Abjekt vermischen sich Angst und Ekel: Zum Ekel tendiert die 19 Wertvolle Anregungen im Zusammenhang mit dieser Arbeit verdanke ich Studierenden einer Lehrveranstaltung in Salzburg, hier vor allem Tina Ornezeder. 20 Daniel Glattauer : Ewig Dein, Wien 2012, 37. 21 Ebd., 37. 22 Ebd., 143. 23 Ebd., 204. 24 Ebd., 170, 171, 189, 190. 25 Ebd., 105. 26 Julia Kristeva: Powers of horror, New York 1982.

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Reaktion etwa durch die sprachliche Unidentifizierbarkeit des Abjektes und seine gleichzeitige intime Nähe zum Subjekt, Angst löst es aus, weil es die mit ihm konfrontierte Person ganz ausfüllt und als Subjekt gefährdet.27 An der Einstellung zum Abjekt unterscheiden sich laut Kristeva nicht die unterschiedlichen Meinungen innerhalb einer Kultur, sondern die gemeinsame symbolische Ordnung von ihrer triebhaften Grundlage. Dennoch kann die ästhetische Darstellung und Bewältigung des Abjekts symptomatisch für Weltanschauungen wie z. B. Religionen sein. Der Abscheu vor dem Abjekt ist »Ausdruck der Unfähigkeit, sich zum Herrn über Dinge zu machen, denn Dinge mit ausreichender Kraft auszuschließen, ist zugleich eine der Grundbedingungen gesellschaftlicher Existenz.«28 Ein Moment des Stalking besteht darin, dass der Blick des Stalkers dem von ihm betroffenen Subjekt als Abjekt erscheint. Der Blick des »Anderen« erscheint in ihm real und im imaginären Selbstentwurf als etwas Auszuschließendes, das jedoch nicht ausgeschlossen werden kann. Wie Glattauer und Zweig den Blick des Stalkers als Abjekt positionieren und charakterisieren, ist dabei symptomatisch für die Unterschiedlichkeit beider Texte. Bei Glattauer ist es zunächst der Stalker selbst, der aus der Perspektive Judiths als Abjekt erscheint. Der Bananenmann hieß Hannes Berghofer oder Burghofer oder Burgtaler oder Bergmeier, hatte eine große, warme rechte Handinnenfläche und einen derart durchdringenden Blick, dass sich sogar Judiths Nieren davon berührt fühlten.29

Mit dem Abjekt konfrontiert zu sein bedeutet für Judith zunächst, ihren Widerstand weder vor sich selbst benennen zu können noch in der Kommunikation mit Freunden. Ihr Unbehagen äußert sich in der Befürchtung, ihr Freundeskreis könnte an Hannes Zeichen von Andersheit wahrnehmen, er könnte gesellschaftlich unmöglich sein. Das Abjekt wird von Beginn an nicht allein durch die Wirkung auf die Person, sondern auch durch seine gesellschaftliche Wirkung charakterisiert. Dann wird Judith durch ihre scheinbar unbegründete Angst vor Hannes selbst in Gesellschaft unmöglich und verliert scheinbar jeden Sinn für die Realität. Der Blick des Stalkers bildet sich in der psychischen Er27 Vgl. zur phänomenologischen Parallelität und Unterscheidung von Angst und Ekel: Aurel Kolnai: »Der Ekel«, in: ders.: Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle, Frankfurt/Main 2007, 7–65, hier insbesondere 21–24. 28 J. Kristeva: Powers of horror, 56 zitiert Georges Batailles Essais de sociologie. »Abjection […] is merely the inability to assume with sufficient strength the imperative act of excluding abject things (and that act establishes the foundations of collective existence). […] The act of exclusion has the same meaning as social or divine sovereignty, but it is not located on the same level; it is precisely located in the domain of things and not, like sovereignty, in the domain of persons.« 29 D. Glattauer : Ewig Dein, 16.

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krankung Judiths ab, die sich mit Fortlauf der Novelle dem Wunschbild dieses Begehrens angleicht. Aus der Sicht der Freunde wird sie selbst zum Abjekt und zur Personifikation der Angst, aus dem gemeinsamen, konstituierenden Blick herauszufallen. Weil das Abjekt das Auszuschließende ist und im Falle des Blicks des »Anderen« doch die Imagination der Person von sich selbst ganz vereinnahmt, ist Scham die andere Seite dieser Identifikation. Indem sich Judith in die Opferrolle fügt, fügt sie sich zugleich in die mit ihr verbundene Scham. Des Stalkers größte Angst ist, sich selbst in ein nicht von ihm kontrolliertes Licht gesetzt zu sehen, der Scham ausgesetzt zu sein. Der Kampf um die Durchsetzung seines Blicks ist auch aus diesem Grund zugleich einer um die »Öffentlichkeit« von Judiths Freunden. Der Stalker versucht, auch den Blick der Öffentlichkeit auf sein Objekt zu kontrollieren. Letztlich scheitert er nicht am Widerstand Judiths oder ihres Freundeskreises, sondern am Zufall und einer scheinbar Außenstehenden, die nicht Teil seines auch die Gesellschaft inszenierenden Szenariums ist: Judiths jugendlicher Hilfsverkäuferin Bianca mit ihrem »unverschämten«, »offenen« Blick für die Männerwelt und ihrer Sprache dafür. Am Wendepunkt der Handlung in Zweigs Novelle kauft Irene in der Apotheke Morphium, um Selbstmord zu begehen, und ihr Mann gibt sich statt der vermeintlichen Erpresserin in der Rolle des Stalkers zu erkennen. Dem geht ein Gespräch des Ehepaares über eine Bestrafung seiner kleinen Tochter voraus, das Scham und Angst kontrastiert. Irene behauptet darin über eine Psychologie des Geständnisses, dass Angst vor Bestrafung weniger als Scham verhindere, Schuld gerade vor den Nächststehenden einzugestehen. Ihr Ehemann gibt ihr dieses eine Mal recht: »Scham, sagst du … das … das ist ja auch nur eine Angst … aber eine bessere … eine nicht vor der Strafe.«30 Allerdings entschuldigt der Mann damit nicht nur die Weigerung seiner Frau, ihre Affäre einzugestehen, sondern zugleich sich selbst dafür, die Unsicherheit des Verhältnisses zu seiner Frau nicht zur Sprache zu bringen, sondern im Stalking auszuagieren. Gewöhnlich besteht das Befriedigende, das die spiegelbildliche Gestalt hat, genau darin, dass sie die Möglichkeit dieses Erscheinens maskiert. Mit anderen Worten, das Auge richtet das, darin begehrenswerte, Grundverhältnis ein, dass es im Verhältnis zum Anderen stets bestrebt ist zu verkennen, dass es unter dem Begehrenswerten ein Begehrendes gibt.31 30 S. Zweig: Angst, 84. In dem Gespräch wiederholt sich die hier in Kap.1 eingeführte, psychoanalytische Unterscheidung von »Furcht« und »Angst« in einer anderen Begrifflichkeit. 31 J. Lacan: Angst, 340. Fortsetzung: »Denken Sie über die Tragweite dieser Formel nach, die ich als die allgemeinste für das Auftauchen des Unheimlichen* geben zu können glaube. Nehmen Sie an, Sie hätten es mit dem friedlichsten Begehrenswerten, mit seiner beruhigendsten Gestalt zu tun, der göttlichen Statue, die nichts als göttlich ist – was wäre unheimlicher* als zu sehen, wie sie sich belebt/beseelt, das heißt sich begehrend zeigt?«

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Dem Blick ihres Mannes begegnet Irene plötzlich nicht mehr nur im Spiegel ihrer Imagination, sondern im Blick der als Erpresserin angeheuerten Schauspielerin gleichzeitig wirklich und maskiert. Von der Angst hat Lacan behauptet, dass ihr Empfinden ein Signal sei und kein Zeichen, dass sie also nicht täusche. Tatsächlich täuscht sich Irene nicht darin, dass der Blick der Erpresserin nicht nur die materielle, sondern auch die imaginäre Grundlage ihrer Existenz angreift, denn auch sie verkörpert ein Abjekt: Als Reales wird zunächst eine Vertreterin des Subproletariats als eine »Andere« dargestellt, deren Blick die bürgerliche Frau in ein imaginäres Jenseits ihrer Gesellschaft verbannt hat. Der Blick der Erpresserin verdeutlicht zugleich die materiellen Voraussetzungen von Irenes narzisstischer Selbstbespiegelung. Als Abjekt erscheint der Blick der Erpresserin Irene als etwas Objektives, auf das sie nach dem Maßstab ihrer Existenz nicht mehr vernunftmäßig reagieren kann. Zugleich ist es ihr unmöglich, diesem beobachtenden Blick zu entkommen, er scheint sie von überall her zu betreffen, ohne sie aktiv zu verfolgen. Bei Glattauer sind soziale und sexuelle (bzw. asexuelle) Komponenten des Blicks untrennbar verknüpft, wenn der Blick des »Anderen« im Stalking zum Abjekt wird. Zweig jedoch trennt diese Komponenten im Handlungsverlauf durch das von ihm beschriebenen Maskenspiel. Erst nach dem Wendepunkt der Handlung und dem Verschwinden der Schauspielerin begegnet Irene dem sexuell aufgeladenen Blick ihres Mannes als einem anderen, von ihrer bürgerlichen Existenz Verdrängtem. Das Begehren in diesem Blick sucht in der Darstellung Zweigs nach »eigentlicher Wahrheit« und hilft seiner Protagonistin letztlich, sich aus dem bürgerlichen Spiegelkabinett zu befreien. Der heutigen Lektüre erscheint das in der Darstellung fast unfreiwillig komisch, wenn sich das Begehren des Anderen plötzlich möglichst »rein« als sexuelles zeigt, um die gesellschaftlichen Verstrickungen der Existenz aufzulösen: Da stieß kalt und hart der verwundert starre Blick ihres Mannes in ihr Herz. Sie erschrak. […] Verwundert vom jähen Stoß seines Blickes, der immer tiefer in sie zu dringen schien und den sie jetzt schon ganz innen, ganz an ihrem Herze spürte. Sie hätte aufschreien mögen unter der wühlenden Entschlossenheit dieser Augen.32

Die Ambivalenz des bürgerlichen Eheglücks am Morgen des Tages nach durchlebter Krise erinnert an Schnitzlers Traumnovelle. Die Gewalt, der seine Protagonistin ausgesetzt wird, interessiert Zweig nicht moralisch oder politisch, sondern in ihrer psychologischen Konsequenz. Die Gewalt findet sich im Rückblick sogar legitimiert, zumindest im Ansatz. Das Durchleben der Angst wird zu einem Teil notwendiger Arbeit der bürgerlichen Frau an ihrer Ehe. Dadurch wird die Frau vom Imaginären zur Realität erzogen, in die sie sich 32 S. Zweig: Angst, 48.

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findet, indem sie ihr Eheverhältnis auch innerlich akzeptiert. Ganz im Sinne der Konventionskritik der Moderne löst sich in Zweigs Novelle die Frau aus ihrer Abhängigkeit von einer uneigentlichen, bürgerlichen Gesellschaft, die ihren narzisstischen Rückzug ins Imaginäre geprägt hat. Der Weg der Emanzipation bleibt dabei paradox auf den männlichen Blick fixiert. Nur aus der Begegnung mit dem Abjekt heraus33 kann die Protagonistin zu sich selbst kommen, indem sie als das »eigentlich« Reale, das ihre Imaginationen durchkreuzt, den begehrenden Blick ihres Mannes auf sich bezieht. Obwohl der Untertitel Glattauers Text als »Roman« bezeichnet, hat auch er die Struktur einer Novelle. Auch an ihrem Wendepunkt kehrt die Protagonistin den Blick auf den Stalker hin um, der Mann wird von ihrem Beobachter zum von ihr Beobachteten. Der Triumph der gestalkten Frau über die Angst liegt bei Glattauer aber nicht nur darin, ihren Verfolger durch seine Enttarnung loszuwerden. Er liegt auch nicht darin, mittels der Angst die Beschränktheit eines Gesellschaftskreises zu durchbrechen, sondern vor diesem Kreis der Gesellschaft recht zu bekommen. Das, was ihr Freundeskreis und auch sie selbst zeitweise für imaginär gehalten haben, ist ihr in der Angst tatsächlich als Reales begegnet. Bei Zweig emanzipiert sich die Protagonistin von ihrer Voreingenommenheit durch den Blick der Gesellschaft, indem sie sich dem Blick ihres Mannes aussetzt und unterwirft. Bei Glattauer kann sie sich vom fixierenden Blick des Mannes nur emanzipieren, indem sie sich in den Blick der Gesellschaft reintegriert.

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Zur theoretischen Positionierung von Blick und Subjekt

Die Reflexion über die Inszenierung des beobachteten Blicks in den beiden Texten enthält mittelbar eine Kritik ihrer Poetik. Wie die Darstellung des Voyeurs Bilder zum Susanna-, Bathseba- oder Actaeonstoff selbstreflexiv macht34, so wird auch die Darstellung des Stalkers in fiktiven Erzählungen selbstreflexiv. Selbstkonstruktion im Blick des Anderen und Fiktivität des narzisstisch begehrten Anderen, die im Stalking ausgehandelt werden, sind auch für die Poetik konstitutiv. Ein Teil des gewalttätigen Besitzanspruchs im Stalking liegt am Zwang für das Opfer, nur mehr den einen, beobachtenden Blick als Gegenüber zu suchen. Präzise beschreibt H8lHne Cixous eine solche Erzählhaltung, deren

33 Zum Konzept der Hochzeit als dialektischer Aufhebung des Unheimlichen in der Hollywoodkomödie vgl. Stanley Cavell: »Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen«, in: ders.: Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen. Und andere philosophische Essays, hg. mit einer Einleitung und Einführungen v. Espen Hammer und Davide Sparti, mit einem Nachwort v. Hilary Putnam. Aus dem Englischen von Martin Hartmann, Frankfurt/Main 2002, 76–110. 34 U. Stadler : »Schaulust und Voyeurismus«, 19, 20.

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Unheimlichkeit in den Texten von Glattauer und Zweig je unterschiedlich transparent wird. Die Erzählung verweist nicht mehr auf eine hergestellte oder fabrizierte Wirklichkeit oder Wirklichkeitssimulation, sondern unmittelbar und kalkuliert auf die Lektüreszene. Ich, der Erzähler, will, daß du siehst – nicht die Wirklichkeit, sondern meine Weise, Wirklichkeit zu sehen. Ich will, daß du sie in meinen Augen siehst.35

Diese Rückbezüglichkeit überlagert zugleich eine theoretische Diskussion zur Voreingenommenheit des Blicks zwischen Dekonstruktion und psychoanalytischer Tradition.36 Slavoj Zˇizˇek setzt dabei die Ansätze von Jacques Derrida und Jacques Lacan paradigmatisch einander entgegen. Für Derrida gehe die Formierung der Person im Bedeutungsraum der Sprache dem Blick dieser Person zeitlich voraus. Entsprechend ziele die Dekonstruktion darauf, eine Selbstsicherheit jenes Blicks zu stören, in dem immer schon die Schrift wirksam ist. Ziel der »Dekonstruktion« ist es zu zeigen, wie der Blick immer schon determiniert ist von dem »infra-strukturellen« Netzwerk, das das, was gesehen werden kann, vom nicht Gesehenen abgrenzt. Das symbolische Netzwerk selbst entgeht daher notwendigerweise dem Erfasstwerden durch den Blick. Dieser ist also durch den Rand seines Rahmens bestimmt, wofür keine »auto-reflexive« Wiederaneignung Rechenschaft ablegen kann.37

Diese Dekonstruktion des ideologischen Blicks wurde kulturwissenschaftlich einflussreich. Wenn postkoloniale Studien den hegemonialen Blick des Westens kritisieren, dann beschreiben sie die Abhängigkeit dieses Blicks von der Konstruktion eines ideologisch besetzten »Orients«. Wenn feministische Literaturwissenschaft den männlichen Blick auf die Frau kritisiert, beschreibt sie die Abhängigkeit dieses Blicks von der Konstruktion von »Gender«. Lacan hingegen setzt den Blick als das, was der symbolischen Prägung der Person durch die Schrift vorausgeht. Für ihn hat dadurch der Blick von der Person aus etwas Objektives, Reales. Er ist Teil eines Verhältnisses von Subjekt, Objekt und Anderem, in dem sich das Subjekt vor seiner Sprachfähigkeit und

35 Übersetzt von und zitiert nach Friedrich A. Kittler : »›Das Phantom unseres Ichs‹ und die Literaturpsychologie: E.T.A. Hoffmann-Freud-Lacan«, in: Friedrich A. Kittler, Horst Turk (Hg.): Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik, Frankfurt/Main 1977, 139–166, 164. (vgl. H8lHne Cixous: Pr8noms de personne, Paris 1974, 99). 36 Zentral für diese Diskussion ist außer der Position von Derrida und Lacan auch Jean Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, hg. v. Traugott König. In neuer Übers. v. Hans Schöneberg u. Traugott König, Reinbek b. H. 2009, 470–570 (= Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Philosophische Schriften, Bd.3). Schon Wilhelm Reich hat auf die Verbindung dieser Konzeption Sartres mit Lacans Konzept eines vorsymbolischen »Imaginären« aufmerksam gemacht. 37 Slavoj Zˇizˇek: Liebe Dein Symptom wie Dich selbst!, Berlin 1991, 59.

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also auch vor seiner Vereinnahmung durch Ideologie konstituiert. Entsprechend wird der Blick daher immer schon im Außen platziert. Hier stoßen wir jedenfalls auf ein Anzeichen der radikalen Unvergleichbarkeit Lacans und des post-strukturalistischen Dekonstruktivismus: Bei Lacan haben Blick und Stimme beinahe die entgegengesetzte Funktion. Vor allem finden sie sich nicht auf der Seite des Subjekts, sondern auf der des Objekts. Der Blick bezeichnet den Punkt im Objekt (im Bild), von dem aus das es betrachtende Subjekt schon angeblickt wird, d. h. das Objekt ist es, das mich anblickt. Der Blick fungiert – weit davon entfernt, die Selbstpräsenz des Subjekts und seine Sicht zu sichern – als ein Makel, als ein Fleck im Bild, der dessen klare Sichtbarkeit beeinträchtigt und eine nicht aufhebbare Spaltung in meine Beziehung zu dem Bild einführt: Niemals kann ich das Bild an der Stelle sehen, von der aus es mich anblickt, d. h. Sicht und Blick sind grundlegend dissymmetrisch. Der Blick als Objekt ist ein Fleck, der mich daran hindert, aus einer sicheren »objektiven« Entfernung auf das Bild zu schauen, der mich daran hindert, es als etwas einzurahmen, das dem Zugriff meiner Sicht zur Verfügung steht; der Blick als Objekt ist sozusagen ein Punkt, an dem der Rahmen (meiner Sicht) schon dem »Inhalt« des angeschauten Bildes eingeschrieben ist.38

Jaques Derrida hat in seiner Antwort auf Lacans Kommentar zu Poes Purloined Letters kritisiert39, dass es Metaphysik sei, ein nicht vom Akt der Symbolisierung erfasstes Reales vorauszusetzen. Zˇizˇek verteidigt hier die Position Lacans mit dem Argument, dass Derrida durch seine Betonung der Zeichenhaftigkeit alles Erkennbaren gerade das kritische Potential der Psychoanalyse schwäche: »Man darf die Wirklichkeit nicht für eine Fiktion halten – wir sollten in der Lage sein, bei dem, was wir als Fiktion erleben, den harten Kern des Realen zu erkennen, den wir nur ertragen können, wenn wir ihn fiktionalisieren.«40 Im Stalking als Motiv einer Poetik des Blicks und Beobachtens zeigen sich die allgemeinen Vorannahmen dieser Diskussion schon als Teil einer ästhetischen Strategie, bevor sie erkenntnistheoretisch formuliert waren. Zweig gestaltet den Blick des Stalkers aus der Perspektive seines Opfers als Abjekt, als etwas Reales im Sinne von Lacan, das die symbolische Darstellung durchkreuzt. Der Einsatz des Abjekts als Motiv in seinem Text ist eine bewusste, ästhetische Entscheidung. Kristeva hat an Autoren wie C8line und Bataille gezeigt, dass eine Poetik des Abjekts für moderne Texte ein wichtiger und gangbarer Weg ist, den Zweig und Glattauer in ihren Texten über Stalking allerdings sicherlich nicht konsequent verfolgen wollten.

38 Ebd. 39 Vgl. Jacques Derrida: »Das Zuviel an Evidenz oder der Fehl an seinem Platz«, in: ders.: Die Postkarte. Von Sokrates bis an Freud und jenseits, Berlin 1987, 193–281. 40 Slavoj Zˇizˇek: »Jenseits des Fort-Da-Prinzips«, in: Thilo Eith, Christiane Beck (Hg.): Fort – Da. Trennen und Verbinden im psychoanalytischen Prozess, Heidelberg u. a. 2003, 39–54, 52.

Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger

Marcel Beyer, Schriftsteller und Übersetzer, veröffentlicht seit den frühen 1990er Jahren Lyrik, Essays, Romane und Erzählungen. Er ist Herausgeber u. a. der Gesammelten Prosa (2001) und der Gesammelten Gedichte (2004) von Friederike Mayröcker. 2013 hatte er die Ernst-Jandl-Dozentur für Poetik der Universität Wien inne. 2014 wurde ihm der Kleist-Preis verliehen, 2015 der Literaturpreis der Stadt Bremen, 2016 der Georg-Büchner-Preis. Literarische Publikationen in Auswahl: Flughunde, Roman, 1995; Erdkunde, Gedichte, 2002; Putins Briefkasten, Erzählungen, 2012; Graphit, Gedichte, 2014. Natalie Binczek ist Professorin für Neugermanistik an der Ruhr-Universität Bochum. Ausgewählte Publikationen: Im Medium der Schrift. Zum dekonstruktiven Anteil der Systemtheorie Niklas Luhmanns, 2000; Kontakt: Der Tastsinn in Texten der Aufklärung, 2007; (Mithg.) Handbuch Medien der Literatur, 2013. Birgit R. Erdle ist Walter Benjamin Visiting Professor an der Hebrew University of Jerusalem. Ausgewählte Publikationen: Antlitz – Mord – Gesetz. Figuren des Anderen bei Gertrud Kolmar und Emmanuel L8vinas, 1994; (Mithg.) Fünfzig Jahre danach. Zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus, 1995; Literarische Epistemologie der Zeit. Lektüren zu Kant, Kleist, Heine und Kafka, 2015; (Mithg.) Theorien über Judenhass – eine Denkgeschichte. Kommentierte Quellenedition 1781–1931, 2015. Franz M. Eybl ist Professor für Neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Universität Wien. Ausgewählte Publikationen: Geschichte des Buchhandels in Österreich, (gem. m. Norbert Bachleitner u. Ernst Fischer) 2000; Kleist-Lektüren, 2007; (Mithg.) Delectatio. Unterhaltung und Vergnügen zwischen Grimmelshausen und Schnabel, 2009.

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Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger

Elisabeth Grabenweger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin (Postdoc) am Institut für Germanistik der Universität Wien. Ausgewählte Publikationen: Germanistik an der Universität Wien. Zur Geschichte des Faches von 1848 bis in die 1970er Jahre, in: Friedrich Stadler (Hg.) 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert, Bd. 4, 2015; Germanistik in Wien. Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen 1897–1933, 2016. Marcus Hahn ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Regensburg. Ausgewählte Publikationen: (Mithg.) Disziplinen des Lebens. Zwischen Anthropologie, Literatur und Politik, 2004; (Mithg.) Trancemedien und Neue Medien um 1900. Ein anderer Blick auf die Moderne, 2009; Gottfried Benn und das Wissen der Moderne 1905–1932, 2011. Christoph Leitgeb ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Lehrbeauftragter an der Universität Salzburg. Ausgewählte Publikationen: Barthes’ Mythos im Rahmen konkreter Ironie. Literarische Konstruktionen des Eigenen und des Fremden, 2008; (Mithg.) Kommunikation–Gedächtnis–Raum. Kulturwissenschaften nach dem »Spatial Turn«, 2009. (Mithg.) Reisen über Grenzen in Zentraleuropa, 2014. Helmut Lethen ist emeritierter Professor für Neueste deutsche Literatur an der Universität Rostock und ehem Direktor des IFK Wien. Derzeit ist er Professor an der Kunst Universität Linz. Ausgewählte Publikationen: Unheimliche Nachbarschaften: Essays zum Kälte-Kult und der Schlaflosigkeit der philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert, 2009; Suche nach dem Handorakel. Ein Bericht, 2012; Der Schatten des Fotografen. Bilder und ihre Wirklichkeit, 2014. Lukas Mairhofer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Physik der Universität Wien. Im Fach Philosophie promovierte er mit der Arbeit A-tom und In-dividuum – Bertolt Brechts Interferenz mit der Quantenphysik, 2014. Derzeit arbeitet er an seiner Dissertation im Fach Physik. Werner Michler ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Salzburg. Ausgewählte Publikationen: Darwinismus und Literatur. Naturwissenschaftliche und literarische Intelligenz in Österreich, 1859–1914, 1999; (Mithg.) Zur regionalen Literaturgeschichtsschreibung. Fallstudien, Entwürfe, Projekte, 2007; Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext, 1750–1950, 2015.

Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger

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Annegret Pelz ist Professorin für Neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Universität Wien. Ausgewählte Publikationen: Reisen durch die eigene Fremde. Reiseliteratur von Frauen als autogeographische Schriften, 1993; (Mithg.) Album. Organisationsform narrativer Kohärenz, 2013; (Mithg.) Konstellationen – Versuchsanordnungen des Schreibens, 2013. Nathalie Patricia Soursos ist Projektmitarbeiterin am Institut für Byzantistik und Neogräzistik der Universität Wien. Ausgewählte Publikationen: Fotografie und Diktatur – Eine Untersuchung anhand der Diktatur Ioannis Metaxas’ in Griechenland und Benito Mussolinis in Italien, Dissertation 2016. Thomas Weitin ist Professor für Germanistik und Digitale Literaturwissenschaft an der TU Darmstadt. Ausgewählte Publikationen: Zeugenschaft. Das Recht der Literatur, 2009; Freier Grund. Die Würde des Menschen nach Goethes Faust, 2013; Säkulare Tabus. Die Begründung von Unverfügbarkeit, 2015; Digitale Literaturwissenschaft, in: DVjs 89,4 (2015). Cornelia Zumbusch ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Hamburg. Ausgewählte Publikationen: Wissenschaft in Bildern. Symbol und dialektisches Bild in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und Walter Benjamins Passagen-Werk, 2004; (Hg.) Pathos. Zur Geschichte einer problematischen Kategorie, 2010; Die Immunität der Klassik, 2011.