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German Pages [362] Year 2011
Historische Demokratieforschung Schriften der Hugo-Preuß-Stiftung und der Paul-Löbe-Stiftung Band 2 Herausgegeben von Detlef Lehnert Wissenschaftlicher Beirat: Peter Brandt, Wolfram Pyta, Dian Schefold
Detlef Lehnert (Hg.)
Hugo PreuSS 1860 –1925 Genealogie eines modernen Preußen
2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Hugo Preuß, August 1919 © Bundesarchiv, Bild 183-H27725 / Fotograf: o. Ang.
© 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20827-1
Inhalt Detlef Lehnert Preuß und Preußen. Zur Einführung in historischverfassungspolitische Konfliktlinien .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1. Interpretationen und Konzepte
Christoph Müller Souveränität. Rechtswissenschaftlicher a-priori-Begriff oder empirische Funktionsbestimmung des politischen Systems .. . . . . . . . . . . 35 Detlef Lehnert Hugo Preuß in der europäischen Verfassungsgeschichte. Konzepte des modernen demokratischen Bundesstaats . . . . . . . . . . . . . . . 73 Marcus Llanque Hugo Preuß, das Problem der Selbstverwaltung und die Rezeption des Freiherrn vom Stein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Ewald Grothe Hugo Preuß und die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung . . . . . . . 121 Dian Schefold Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Anmerkungen zur Studie von Kathrin Groh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2. Strukturfragen und Reformansätze
Lothar Albertin Zwischen Preußen, Reich und Nation. Zum Profil von Hugo Preuß im akademisch-politischen Streit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Peter Brandt Hugo Preuß als verfassungspolitischer Publizist, Verfassungshistoriker und „Geschichtspolitiker“ .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
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Inhalt
Dian Schefold Ungelöste Probleme der Verwaltungsreform und der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Preußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Monika Wienfort Adelsherrschaft und Eliten um 1900 in europäischer und globaler Perspektive. Hugo Preuß’ Junkerschrift „revisited“ .. . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Wolfram Pyta Hugo Preuß und die Parlamentarisierung der Monarchie im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Michael Dreyer Der Preußsche Neugliederungsplan von 1919 und sein Scheitern . . . . . . 279 3. Kommunal- und Landespolitik
Felix Escher Hugo Preuß und der steinige Weg zu einem Groß-Berlin . . . . . . . . . . . . . 303 Fabian Wittreck Verfassunggebende Landesversammlung und Preußische Verfassung von 1920 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Volker Stalmann Der unbekannte Preuß. Hugo Preuß als preußischer Landtagsabgeordneter der DDP (1919–1925) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
DETLEF LEHNERT
Preuß und Preußen Zur Einführung in historisch-verfassungspolitische Konfliktlinien
Hugo Preuß, als geistiger Vater der Weimarer Verfassung von 1919 bekannt geworden, war ein moderner Preuße, und er arbeitete bis an sein Lebensende als preußischer Landtagsabgeordneter für ein modernes Preußen.1 Solcher Doppelsinn des Untertitels dieser Publikation darf nicht harmonisierend missverstanden werden. Schon als Berliner Stadtverordneter seit 1895 und als unbesoldeter Stadtrat von 1910 bis 1918 war sein Verhältnis zum preußischen Obrigkeitsstaat hauptsächlich konfliktbeladen.2 Zu Beginn des Jahres 1919 wurde sein – zunächst auch für die Zwecke von Wahlgebieten zum Staatenhaus gedachter – Neugliederungsplan von Gegnern zur beabsichtigten „Zerschlagung Preußens“ verengt. Es dürfte wohl nicht zutreffen, dass ihn vornehmlich die Haltung in der Preußenfrage um Chancen der Wahl in die Nationalversammlung oder später den Reichstag brachte.3 Keinen Zweifel ließ Preuß jedoch an seiner Überzeugung, dass ein moderner Bundesstaat nicht einfach das Erbe des Bismarckreichs übernehmen könne. Der sich wechselseitig den Vorwand des jeweiligen Strukturkonservatismus liefernde preußische Hegemonial- und süddeutsche bzw. kleinstaatliche Partikularföderalis1 Zu seinem bislang kaum bekannten Wirken als Landtagsabgeordneter vgl. den Beitrag von Volker Stalmann in diesem Band. – Hiermit wird ein Symposion am 29. und 30. Oktober 2010 anlässlich des 150. Geburtstags von Hugo Preuß in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften dokumentiert, ergänzt um weitere Texte. Die Vielfalt beteiligter Fachrichtungen machte weder eine Vereinheitlichung ihrer Belegsysteme noch Register sinnvoll. 2 Vgl. hierzu den Beitrag von Felix Escher in dieser Publikation. 3 Bei Günther Gillessen, Hugo Preuß. Studien zur Ideen- und Verfassungsgeschichte der Weimarer Republik, Berlin 2000 (Diss. Freiburg 1955), S. 60/Anm. 35, findet sich die Auskunft eines dann in England lebenden Sohnes von Preuß, es sei „in erster Linie die Sympathie für ein engeres Zusammengehen mit der Sozialdemokratie“ und nicht die Preußenfrage als Hauptgrund der politischen Zurücksetzung anzusehen. Solches wurde neben antisemitischen Vorurteilen als Vetoposition der Obrigkeit bereits für die Nicht-Berufung an die Berliner Universität aktenkundig: „Herr Preuß kooperiert mit den Sozialdemokraten ...“ (Ebd., S. 66/Anm. 47), wozu damals noch Mut gehörte.
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mus war in seinen Augen im Ergebnis nur „Scheinföderalismus“4 – gemessen an einer in der Schweiz 1848 und den USA 1865 geformten modernen Bundesstaatlichkeit.5 Gleichwohl blieb Preuß dem Leitbild von Demokratie als Selbstregierung verpflichtet, was die authentischere Übersetzung von self-government gegenüber der preußisch-deutschen terminologischen Schrumpfform von Selbstverwaltung war. Deshalb wollte er neue Länder nicht einfach von oben herab dekretieren. Es ließe sich geradewegs entlang der einzelnen Artikel der Weimarer Verfassung (WV) ein Werkporträt zu Preuß präsentieren: „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus“ (Art. 1, präzisiert im Wahlrechts-Art. 22) war im Plädoyer für den „Volksstaat“, was als deutsches Wort für Demokratie zu lesen ist, schon im ersten Kriegsjahr angebahnt worden.6 Das politische „Selbstbestimmungsrecht“ (Art. 2) ließ ihn nach dem Vorbild der 1848er Demokraten die preußenakzentuierte kleindeutsche Lösung weiterhin für unzulänglich halten.7 Für die republikanische Symbolpolitik „Die Reichsfarben sind schwarz-rot-gold“ (Art. 3) hat er sich publizistisch beharrlich engagiert.8 Zu den „anerkannten Regeln des Völkerrechts“ (Art. 4) bekannte er sich bereits eine Generation zuvor.9 Sein Kommentarfragment aus dem Nachlass trug den Titel „Reich und Länder“ und behandelte vorrangig diesbezügliche Art. 5-19 WV.10
4 Über das Sachregister für Hugo Preuß, Politik und Verfassung in der Weimarer Republik. Gesammelte Schriften, Bd. 4, Hg. Detlef Lehnert, Tübingen 2008, S. 707, sind unter dem Stichwort „Bismarck: Scheinföderalismus“ die thematisch einschlägigen Textstellen sortiert, auch mit häufiger expliziter Verwendung dieses Begriffs (vor allem 1923/24 auf dem Höhepunkt des Konflikts mit antirepublikanischen Kräften, die zur Restauration drängten). 5 Vgl. den Beitrag D. Lehnert in diesem Band, zum Neugliederungsplan 1919 auch den Text von Michael Dreyer. 6 Vgl. Hugo Preuß, Das deutsche Volk und die Politik (1915), in: Ders., Politik und Gesellschaft im Kaiserreich. Gesammelte Schriften, Bd. 1, Hg. Lothar Albertin, Tübingen 2007, S. 383–530. 7 Vgl. Hugo Preuß, Obrigkeitsstaat und großdeutscher Gedanke (1916), in: Ebd., S. 547–583. 8 Dazu Texte in Preuß, Politik und Verfassung (wie Anm. 4), insb. S. 155–57 und 192 f. 9 Vgl. Hugo Preuß, Das Völkerrecht im Dienste des Wirtschaftslebens (1891), in: Ders., Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie im Kaiserreich. Gesammelte Schriften, Bd. 2, Hg. Dian Schefold, Tübingen 2009, S. 426–467. 10 Vgl. Hugo Preuß, Reich und Länder. Bruchstücke eines Kommentars zur Verfassung des Deutschen Reiches, Hg. Gerhard Anschütz, Berlin 1928.
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Besonderes Interesse von Preuß für diesen Problemkreis spricht aus der Erstveröffentlichung eines Kommentartexts allein zu Art. 18 WV11, der etwaige Veränderungen an der „Gliederung des Reichs in Länder“ regelt. Nach detaillierten Kompetenzzuweisungen von Art. 7 und dem Räteartikel 165 beanspruchte der Neugliederungs-Art. 18 die meisten Textzeilen.12 Denn angesichts divergierender Interessen und Überzeugungen war hier das Prozedere genauer als in manchen Formelkompromissen zu beschreiben. Demzufolge mussten „drei Fünftel der abgegebenen Stimmen, mindestens aber die Stimmenmehrheit der Wahlberechtigten“ für die Abtrennung oder Neubildung in einem bestehenden Land votieren. Diese Hürde schützte den Bestand Preußens, zumal ein „verfassungsänderndes Reichsgesetz“ als zweiter Weg auch nur unter „möglichster Berücksichtigung des Willens der beteiligten Bevölkerung“ vorgesehen war. Dann konnten gemäß Art. 76 WV knapp 60 % der preußischen Reichstagsabgeordneten eine wirksame Sperrminorität bilden. Über ggf. versäumte Chancen einer wirtschaftsdemokratischen Ergänzung der parlamentarischen Demokratie wurde vor einem halben Jahrhundert intensiver als heute debattiert.13 Hingegen ist der Weimarer Bundesstaat jüngst – preußenkritisch und zugleich föderalismusfreundlich – monografisch behandelt worden.14
1. Staatsrechts- und politiktheoretische Konzeptionen Auch wenn Preuß den überwiegenden Teil seines Berufslebens in konkreter Praxis mit preußischen Streitfragen konfrontiert war, hatten ihn doch Spannungsverhältnisse von „Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften“ systematisch bereits in seiner Habilitationsschrift beschäftigt.15 Lange bevor niederländische und österreichische Autoren die Staatsgewalt als Rechtssouveränität rekonstruierten16 und der Engländer Harold Laski den Souveränitätsbegriff u.a. zugunsten gewerkschaftlicher und freikirchlicher Autono11 Vgl. Hugo Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung. Seine Entstehung und Bedeutung, Berlin 1922. 12 So ermittelt nach der Ausgabe: Die Verfassung der Weimarer Republik vom 11. August 1919, Stuttgart 2009. 13 Eher skeptisch dazu Ernst Fraenkel, Rätemythos und soziale Selbstbestimmung, in: Ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, 6. Aufl. Stuttgart 1974, S. 69–100. 14 Vgl. Anke John, Der Weimarer Bundesstaat. Perspektiven einer föderalen Ordnung, Köln 2012. 15 Vgl. Hugo Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, Berlin 1889. 16 Vgl. Hugo Krabbe, Die Lehre der Rechtssouveränität, Groningen 1906; Hans Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, Tübingen 1920.
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mierechte verabschiedete17, hatte Preuß ähnliche Ergebnisse aus kritischer Bundesstaatsanalyse gewonnen. So wie beide Teile der Habsburgermonarchie einen gemeinsamen (Vielvölker-)Staat bildeten, ohne dass die österreichische Reichshälfte nach dem Ausgleich von 1867 Souveränitätsgewalt über die ungarische auszuüben vermochte, machte die Frage nach dem legitimen Ort der Staatssouveränität innerhalb der preußisch-deutschen Reichskonstruktion von 1871 für Preuß schlicht keinen Sinn mehr. Im fundamentalen Unterschied zum Deutschen (Staaten-)Bund 1815 bis 1866 blieb unter preußischer Hegemonie im Deutschen Reich den anderen Landesfürsten nach seinen Worten nur „Souveränitätsspielerei“.18 Doch auch dem Reich fehlten, wegen zumindest einer starken Vetomacht des Bundesrats und der Konstruktion eines Reichskanzlers ohne eigenes parlamentarisch verantwortliches Ministerium, wichtige Souveränitätsmerkmale, während Preußen im Bundesrat mangels eigener Mehrheit auch nicht souverän agieren konnte. Der Souveränitätsbegriff war rechtstheoretisch und philosophisch aber dermaßen als unteilbar fixiert, dass Preuß ihn nicht wie andere19 durch Fiktionen einer geteilten oder verbundenen Souveränität retten, sondern als Relikt absolutistischer Denktraditionen aussortieren wollte.20 Ein Souveränitäts-Dualismus war auch nicht dadurch zu entproblematisieren, dass er von der Kopflastigkeit aufgeklärter Fürstenstaats- dann – bereits 1848/49 und erneut 1918/19 – auf demokratische Füße der Volks-Souveränität gestellt werden sollte. Auch schon die Frankfurter Paulskirche fand keinen zukunftsfesten Weg aus dem Nebeneinander von nationaldeutscher und preußenstaatlicher Konstituante.21 Ebenso gesellte sich 1919 zur verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung in Weimar die verfassunggebende preußische Landesversammlung, deren ebenfalls von Preuß wesentlich mit geprägtes Werk die neue Preußische Verfassung von 1920 war.22 Wenn Art. 5 WV besagte, dass „Staatsgewalt ... in Länderangelegenheiten durch die Organe der Länder auf Grund der Landesverfassungen ausgeübt“ wird, redu17 Vgl. Harold Laski, Die Souveränität des Staates (1915), in: Pluralismus. Konzeptionen und Kontroversen, Hg. Franz Nuscheler/Winfried Steffani, 3. Aufl. München 1976, S. 62–76. 18 So Preuß, Der deutsche Nationalstaat (1924), in: Ders., Politik und Verfassung (wie Anm. 4), S. 467. 19 So z.B. Georg Waitz, Grundzüge der Politik, Kiel 1862, S. 164. 20 Für Preuß, Gemeinde (wie Anm. 15), S. 135, war dies nur mehr „ein historischer Begriff“, er hielt die „Eliminierung des Souveränitätsbegriffs aus der Dogmatik des Staatsrechts“ für eine unvermeidliche Tendenz. 21 Hierzu und den weiteren Perspektiven der Beitrag von Peter Brandt in diesem Band. 22 Vgl. die Analysen von Fabian Wittreck in dieser Publikation.
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zierte dies gerade auch Preußen nicht schon auf „Funktionen höchstpotenzierter Selbstverwaltung“23, wie das ursprüngliche Programm der Überwindung von Länderstaatlichkeit bei Preuß lautete. Solches Konzept eines dezentralisierten Unitarismus durch Gliederung des preußischen Großstaates in Länderprovinzen hätte nur durch entsprechende Stimmvolksinitiativen einen tatsächlichen Unterbau erhalten können. Die Verfassungsnormen wie auch die Verfassungswirklichkeit haben sich letztlich auf eine andere Lösung eingependelt: den „unitarischen Bundesstaat“ 24 mit reichsfreundlicher Kompetenzverteilung und eher subsidiären Eigenrechten der Länder, teils nur „soweit das Reich von seinem Gesetzgebungsrechte keinen Gebrauch macht“ (Art. 12 WV). Gerade auch ein „historisch-institutioneller“ politikwissenschaftlicher Ansatz gelangt über die Analyse des spezifisch deutschen „Verbundföderalismus“ (im kooperativen Verhältnis mit den Einzelstaaten bzw. Ländern) ebenfalls zu der Charakterisierung als der „unitarische Bundesstaat“ jedenfalls seit der Weimarer Republik 25. Flankiert wurde dieses institutionelle durch ein politisch-kulturelles Arrangement, demzufolge solches unitarisierende Verständnis „in der Bismarckzeit weit über die nationalliberalen Parteigrenzen hinaus die Hegemonie in der öffentlichen Meinung errang“.26 Dennoch kann die Bismarckverfassung insgesamt nur „als dilatorischer Herrschaftskompromiß“ gelten 27, weil das Spannungsverhältnis zwischen 23 Hugo Preuß, Denkschrift zum Entwurf des allgemeinen Teils der Reichsverfassung vom 3. Januar 1919, in: Ders., Staat, Recht und Freiheit, Tübingen 1926, S. 379. 24 Zum Begriff Heiko Holste, Der deutsche Bundesstaat im Wandel (1867–1933), Berlin 2002, S. 533; dazu auch schon Konrad Hesse, Der unitarische Bundesstaat, Karlsruhe 1962. 25 Gerhard Lehmbruch, Der unitarische Bundesstaat in Deutschland: Pfadabhängigkeit und Wandel, in: Arthur Benz/Ders. (Hg.), Föderalismus. Analysen in entwicklungsgeschichtlicher und vergleichender Perspektive, Wiesbaden 2002, S. 53 und passim, mit dem Befund: „Die Weimarer Republik hat jedoch die preußische Hegemonie im Wesentlichen beendet und die hegemoniale Variante der hierarchischen Koordination durch den zentralistisch-hierarchischen Koordinierungsmodus ersetzt“, wofür „Papens Preußen-Coup“ dann finalisierend wurde (S. 69) – den auf 1930 (statt richtig Juli 1932) zu datieren wohl nur ein Druckfehler ist. 26 Ebd., S. 71. 27 Wolfgang J. Mommsen, Die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 als dilatorischer Herrschaftskompromiß, in: Otto Pflanze (Hg.), Innenpolitische Probleme des Bismarck-Reiches, München 1983, S. 195–216; als Überblicksdarstellung des für Preuß vorrangig relevanten späten Kaiserreichs: Wolfgang J. Mommsen, Bürgerstolz und Weltmachtstreben. Deutschland unter Wilhelm II. 1890 bis 1918, Frankfurt a.M. 1995.
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dem Reichstag des allgemeinen Männerwahlrechts ohne parlamentarisch verantwortliche Reichsregierung und dem mächtigen Bundesrat der Einzelstaaten unter zumindest faktischer Hegemonie Preußens nicht aufgelöst wurde. In einer „Politikverflechtungsfalle“28 steckte deutsche Politik unter maßgebender Beteiligung Preußens demnach bereits im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Solches darf aber nicht allein negativ im Sinne historisch-institutioneller und politisch-kultureller Hemmnisse etwaigen „Durchregierens“ gesehen werden, sondern war auch eine Ausdrucksform des Entwicklungsprozesses von spätabsolutistischen Relikten zu einer umfassenderen Konstitutionalisierung.29 So wie offenbar der Staatsrechtspositivismus Labandscher Prägung als Adressat Preußscher Kritik mit dem Kaiserreich untergegangen war und keines neuen Wortes mehr bedürftig erschien30, hat er seine Dekonstruktion des Souveränitätsdogmas zwar nie widerrufen, jedoch offenbar für eine weniger aktuelle Streitfrage gehalten. Dies macht eine von begriffsjuristischen Spitzfindigkeiten abgelöste Interpretationsvariante möglich, jedenfalls den Preuß der Weimarer Jahre in fließenden Übergängen zwischen Verfassungsund Volkssouveränität anzusiedeln.31 Auch wenn der Präambel keine weitere Normierungskraft innewohnte, verwies sie mit der Formulierung „Das Deutsche Volk ... hat sich diese Verfassung gegeben“ auf das letztgültige Kreationsorgan: ein ursprünglich souveränes, aber schon über das revolutionär-demokratische Wahlgesetz zur konstituierenden Nationalversammlung selbst wiederum verfasstes Staatsvolk, in dem mindestens 20 Jahre alte Frauen und Männer die gleichberechtigte Beteiligung ausübten. Die in Kraft gesetzte, auch für das Stimmvolk erschwert änderbare Verfassung wies dann jedoch auch diesem vormaligen ‚Souverän‘ nur mehr klar umgrenzte Eigenkompetenzen zu: 28 Vgl. Fritz Scharpf u.a., Politikverflechtung: Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, Kronberg/Ts. 1976. 29 Zum Reich-Preußen-Verhältnis vgl. auch Gerhard Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik, Bd. 1: Die Periode der Konsolidierung und der Revision des Bismarckschen Reichsaufbaus 1919– 1930, Berlin 1987. 30 Zum Hintergrund unterschiedlicher Phasen der Staatsrechtskontroversen vgl. Dian Schefold, Geisteswissenschaften und Staatsrechtslehre zwischen Weimar und Bonn, in: Karl Acham u.a. (Hg.), Erkenntnisgewinne, Erkenntnisverluste, Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften zwischen den 20er und 50er Jahren, Stuttgart 1998, S. 567–599. 31 So lässt sich die Preuß-Deutung von Christoph Müller in diesem Band zusammenfassen.
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„Denn das Volk, von dem die Staatsgewalt ausgeht, ist nicht ein unbestimmter ethnischer oder sozialer Begriff; sondern es ist die von der Verfassung und verfassungsmäßigen Gesetzen rechtlich bestimmte Gesamtheit der stimm- und wahlberechtigten Bürger. Die Tatsache, daß der Begriff des Volkes rechtlich erst durch eine Verfassung bestimmt wird, die sich das Volk selbst gegeben hat, läuft nicht auf die Mystik einer generatio aequivoca hinaus; erklärt sich vielmehr aus der für das Verhältnis von Recht und Staat überhaupt grundlegenden Korrelation von Rechtserzeugung und Organisation.“32
Andererseits war die WV mangels unabänderlicher Bestandteile (wie Art. 1 und 20 gemäß Art. 79,3 GG) selbst nicht zum Ersatzsouverän verselbständigt. Das kann den Befund nahe legen, die Weimarer Republik als begründet auf eine verfassungsmäßig überformte Volkssouveränität zu definieren.33 Die zur inhaltlichen Präzisierung seines Volksstaatsbegriffs geprägte Formulierung, „daß der Staat nichts anderes ist als das durch die Verfassung organisierte Volk“34, verwies den Volksbegriff aus dem vermeintlichen Naturzustand in die Kultursphäre der Organisations- und Verfassungstheorie und definierte so den Staat untrennbar soziologisch und juristisch zugleich. Dem häufig als rechtspositivistischer Antipode gehandelten österreichischen Verfassungsvater Hans Kelsen stand er mit dieser Ankopplung des Staates an das Recht sachlich recht nahe.35 Es verblieb der methodische Unterschied, dass Kelsen die Frage nach der Herkunft seiner logisch rekonstruierten Rechtsgrundnorm zugunsten der inneren Fachkonsistenz und Freihaltung von weltanschaulichen Differenzen nicht beantworten wollte. Hingegen verstand Preuß das Staatsvolk ebenso als verfassungsrechtlich organisiert wie das Verfassungsrecht organisierend, somit aus einem juristischen und politisch-soziologischen Wechselverhältnis.
32 Preuß, Reich (wie Anm. 10), S. 51. 33 Wenn „theoretisch“ eine Antwort zu geben war , konnte diese bei Preuß nur lauten, „daß nach meiner Auffassung, die von der Reichsregierung geteilt wird, das deutsche Volk in seiner Gesamtheit Träger der Reichssouveränität ist“. Weitaus bedeutsamer war für ihn, „was praktisch daraus folgt“, und zwar „die Kompetenz-Kompetenz des Reichs“, also jene zeitgemäßere Formulierung, um den „unglücklichen Souveränitätsbegriff“ zu vermeiden; Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 336 (Bericht des Verfassungsausschusses), Berlin 1920, S. 29 f. 34 Preuß, Volk (wie Anm. 6), S. 475. 35 Vgl. Detlef Lehnert, Der Beitrag von Hans Kelsen und Hugo Preuß zum modernen Demokratieverständnis, in: Christoph Gusy (Hg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000, S. 221–255; Stanley L. Paulson, Hugo Preuß und Hans Kelsen – überraschende Parallelen, in: Christoph Müller (Hg.), Gemeinde, Stadt, Staat: Aspekte der Verfassungstheorie von Hugo Preuß, Baden-Baden 2005, S. 65–83.
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Der ähnlich demokratisch und sozialfortschrittlich36 gesinnte Kelsen kann für methodenstrenge Juristen eine höchst respektable Alternative – oder zumindest Ergänzung – zu Preuß bieten. Deshalb ist es umso bemerkenswerter, dass sich der Präsident des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) jüngst sehr engagiert auf Preuß als „Vordenker einer Verfassungstheorie des Pluralismus“ bezogen hat und die von ihm „vorgelebte Verbindung von Theorie und Praxis“ würdigte. Dabei wurde vom BVerfG-Präsidenten eingangs hervorgehoben, dass Preuß „für ein Rechtsdenken eingetreten ist, das seine Begriffe auch an der sozialen und politischen Wirklichkeit ausrichtet“.37 Dies enthält in solchen eindringlichen Worten vielleicht auch die Botschaft, dass sich das BVerfG – schon wegen seiner unvermeidlichen Einbindung in politisch-gesellschaftliche Konfliktlagen – nicht zu sehr in begriffsjuristischer und staatsrechtsdogmatischer Exegese verfangen sollte. Der Pluralismusgedanke ist so auch gewissermaßen die Öffnungsklausel eines aus der Sicht von interessierten Nachbardisziplinen sich häufig allzu hermetisch darbietenden verfassungsjuristischen Diskurses. Mit einem offenen Diskussionsprozess, der sich auch der von Preuß über „seine“ WV auf das Grundgesetz von 1949 abstrahlenden Leitvorstellungen vergewissert, sind freilich methodische und politiktheoretische Differenzen nicht aus der Welt zu schaffen. Auch in neueren und sonst verdienstvollen Publikationen zur Weimarer Staatsrechtslehre38 ist noch eine Neigung zu erkennen, die außerjuristischen, jedenfalls nicht-positivistischen Komponenten des Ansatzes von Preuß schlicht als unmodern abzuweisen und nicht hinreichend in den anders gerichteten Intentionen zur Geltung kommen zu lassen.39 Mehr als in den – noch der Hauptaufgabe einer Wiederentdeckung gewidmeten – frühen Studien ist nun allerdings einzuräumen, dass auch die zukunftsweisenden Auffassungen von Preuß in wichtigen Nuancen ausreifen mussten. Daher kann werkhistoriografisch Auskunft verlangt werden, von welchem Abschnitt seines akademischen und publizistischen Schaffens die hier vertretene Lesart als moderner Autor sich ausgeformt hatte.
36 Die Berliner Gruppe um Barth und Preuß hieß offiziell „Sozialfortschrittlicher Kommunalverein“ (vgl. Anm. 43). 37 Andreas Voßkuhle, Hugo Preuß als Vordenker einer Verfassungstheorie des Pluralismus, in: Jürgen Kocka/Günter Stock (Hg.), Hugo Preuß: Vordenker der Pluralismustheorie, Berlin 2011, S. 23–42 (Zitate: S. 23). 38 Vgl. Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, Tübingen 2010. 39 Dazu die Rezensionsabhandlung von Dian Schefold in diesem Band.
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Da kaum Selbstzeugnisse überliefert sind40, ist allein die Textinterpretation aussagekräftig; diese führt allerdings zu einem recht klaren Befund: In den Jahren nach dem Erscheinen seines – der umfangreichen Habilitationsschrift von 1889 folgenden – zweiten Hauptwerks „Das städtische Amtsrecht in Preußen“ (1902) war auch sonst das intellektuelle Profil von Preuß voll ausgebildet.41 Nicht wesentlich später wird er sich anhand von Josef Redlichs Studie „Englische Lokalverwaltung“ (1901) endgültig von der Überlebtheit älterer Selbstverwaltungslehren in der Tradition eines Rudolf v. Gneist überzeugt haben.42 Politisch hat sich Preuß spätestens 1904 mit Zugehörigkeit zum „Sozialfortschrittlichen Kommunalverein“ und dessen kleiner Fraktion in der Berliner Stadtverordnetenversammlung auf einem äußersten linken Flügel des Liberalismus angesiedelt, der entschieden das Bündnis mit der Sozialdemokratie anstrebte.43 In theoretischer Hinsicht verlieren sich die Spuren einer anfänglich noch von Darwins naturwissenschaftlicher Aufklärung inspirierten Terminologie zu einem neueren Verständnis der „organischen“ genossenschaftlichen Staatslehre, die erkenntniskritische und soziologische Aufklärung in Richtung eines nunmehr häufiger verwendeten Organisationsbegriffs verarbeitet hat.44 Während sich insofern manche Einwände erledigen, wenn der Generationsunterschied von Preuß beispielsweise zum mehr als zwei Jahrzehnte später geborenen Kelsen bedacht wird, der ungefähr zeitgleich mit Erscheinen des „Amtsrechts“ (1902) überhaupt erst sein akademisches Profil auszubilden begann, sollten verfassungspolitische Differenzen als solche markiert werden. Allerdings ist dabei zunächst der Kernbereich für einen legitimen 40 Der Nachlass ging wegen der Emigration bzw. im Krieg verloren; vgl. Gillessen, Preuß (wie Anm. 3), S. 5, 9. 41 Durchaus würdigend dazu sogar der methodische und politische Kontrahent Paul Laband, Rezension zu Hugo Preuß, Das städtische Amtsrecht in Preußen, in: Archiv für öffentliches Recht 18 (1903), S. 73–84. 42 Vgl. Hugo Preuß, Selbstverwaltung, Gemeinde, Staat, Souveränität, in: Preuß, Recht (wie Anm. 9), S. 242 ff. 43 Vgl. Detlef Lehnert, Verfassungsdemokratie als Bürgergenossenschaft. Politisches Denken, Öffentliches Recht und Geschichtsdeutungen bei Hugo Preuß, Baden-Baden 1998, S. 245 f. – Das sozialfortschrittliche Profil definierte Preuß entgegen Stereotypen auch des linksliberalen Elitismus u.a. damit, „sich für das Einkommen der kleinen Leute zu interessieren“; vgl. Amtlicher stenographischer Bericht über die Sitzung der Stadtverordnetenversammlung vom 23.2.1905, S. 109. Als Überblick: Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988. 44 Vgl. Dian Schefold, Einleitung, in: Preuß, Recht (wie Anm. 9), S. 38 ff. zum „Organ“Begriff als Zwischenglied; zu seiner Organisationslehre: Detlef Lehnert, Das pluralistische Staatsdenken bei Hugo Preuß, Baden-Baden 2012.
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Restdissens von manchen überformenden Missverständnissen freizulegen. Geradezu paradox ist es, dass Preuß heute als ein Vordenker der später wesentlich vom Juristen und Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel geprägten Pluralismustheorie gilt, jedoch der 1919 noch sehr junge Fraenkel die WV allzu stark von seinen Erfahrungen des Endes her und in umgewerteter Carl Schmittscher Deutung interpretierte. So hat er Preuß auch mit ursprünglich gar nicht vorhandenen oder von diesem nicht zu vertretenden Konstruktionsfehlern und Auslegungsüberdehnungen belastet.45 Ins Reich der Legende zu verweisen sind Vorhaltungen, dass Preuß – von Rousseaus Gedanken fehlgeleitet – einem Unmittelbarkeitsmythos der Volksherrschaft nachgelaufen sei. Von Rousseau hat sich Preuß demokratietheoretisch nicht allein in seinen Frühschriften abgegrenzt, die noch mehr in der Polarität Liberalismus contra Radikalismus (der jakobinischen Rezeption) zu lesen waren. Vielmehr hat er bis zuletzt die organisatorischen „Zwischenbildungen“ von den Einzelpersonen zum Staat hin als den Kernbestand auch eines jeden modernen Pluralismus festgehalten.46 Der spezifische Rousseauismus war hingegen assoziationsfeindlich, wollte nur die Unmittelbarkeit der Beziehung von autonomen Individuen zur Ausübung der Staatsgewalt als echte Demokratie akzeptieren. Bei Preuß aber blieb Skepsis gegenüber direkter Demokratie auf großstaatlicher Ebene; er wollte ihren Nutzen eher nur als „Mittel der politischen Volkserziehung zu tätiger Demokratie“ anerkennen.47 Ausgerechnet die von Preuß entworfene WV noch als „Produkt obrigkeitsstaatlichen Denkens“48 zum späteren Grundgesetz trennscharf kontrastieren zu wollen, mag aus Diskussionsfronten der 1950er und 1960er Jahre nachvollziehbar gewesen sein, kann aber heute nicht mehr das verfassungsgeschichtliche Urteil leiten.49 Erst recht wären etwaige obrigkeitsstaatliche Motivüberhänge bei anderen Liberalen gegenüber den originären Positionen von Preuß abzugrenzen, die er bereits aus dem späten Kaiserreich in die Verfassungsentwürfe 1918/19 einbrachte.50 45 Vgl. Ernst Fraenkel, Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, in: Ders., Deutschland (wie Anm. 13), S. 147 (dies aber im ungeklärten Widerspruch zu S. 144 betr. „Denkschrift“). 46 Preuß, Reich (wie Anm. 10), S. 269. 47 Hugo Preuß, Deutschlands Staatsumwälzung (1919), in: Ders., Politik und Verfassung (wie Anm. 4), S. 111. 48 Fraenkel, Komponente (wie Anm. 45), S. 147. 49 Dazu u.a. die Beiträge verschiedener Fachdisziplinen in: Die Weimarer Verfassung – Wert und Wirkung für die Demokratie, Hg. Friedrich-Ebert-Stiftung Landesbüro Thüringen, Erfurt 2009. 50 Vgl. Marcus Llanque, Demokratisches Denken im Krieg: die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000, S. 68–88.
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2. Verfassungspolitische Perspektiven Die Fehlwahrnehmungen der in den Beratungen der Weimarer Nationalversammlung erörterten Verfassungsgrundsätze51 könnten aus zwei wesentlichen Differenzpunkten der Entstehung und Entwicklung des Grundgesetzes von 1949 (GG) beeinflusst sein. Einerseits wurde offenbar aus dem möglichen Legitimationsdefizit des – schon aus den teilstaatlichen Ursprüngen und nicht allein dem Besatzungsstatus verständlichen – Fehlens einer vom Stimmvolk gewählten Konstituante eine Tendenz verstärkt: Das GG ist gegenüber jenem Volk, von dem gemäß Art. 20,2 die Staatsgewalt ausgeht, stärker verselbständigt und nähert sich auf diese Weise dem Typus der „Verfassungssouveränität“.52 Andererseits wurde die Weimarer Republik in der Rückblende wesentlich auch zum Opfer plebiszitärer Auslieferung an die antidemokratischen Kräfte gestempelt und so das GG weitgehend von direktdemokratischen Elementen frei gehalten. Von den antiparlamentarischen Volksbegehren und Volksentscheiden war noch am ehesten jener Antrag mit dem Ziel der vorzeitigen Neuwahl des Preußischen Landtags 1931 (37 % Ja-Stimmen) relativ erfolgreich. Doch scheiterte er, trotz kommunistischer Unterstützung für eine Initiative der Rechten, dennoch klar an dem hohen Quorum von 50 % der Stimmberechtigten.53 Gleichwohl verbleiben noch vier ausdrücklich oder teils auch nur unterschwellig anklingende Einwände einer kritisch akzentuierten PreußRezeption. Zweifelsfrei hat Preuß erstens den Interessenverbänden systematisch weniger Gewicht in seiner Pluralismustheorie zugemessen als Fraenkel54, der als früherer Syndikus des Metallarbeiterverbands diesbezüglich ohnehin besonderes Expertenwissen einbrachte. Doch auch Preuß war als Sozialliberaler durchaus gewerkschaftsfreundlich eingestellt, wofür schon die Tatsache zeugt, dass er 1925 eine seiner letzten öffentli51 Vgl. Heiko Bollmeyer, Der steinige Weg zur Demokratie. Die Weimarer Nationalversammlung zwischen Kaiserreich und Republik, Frankfurt a.M. 2007. 52 Vgl. die Typologie bei Heidrun Abromeit, Volkssouveränität, Parlamentssouveränität, Verfassungssouveränität: Drei Realmodelle der Legitimation staatlichen Handelns, in: Politische Vierteljahresschrift 36 (1995), S. 49–66. 53 Einen mit 36,4 % ähnlich hohen Ja-Stimmen-Anteil erreichte 1926 der Volksentscheid zur Fürstenenteignung, der wegen vorrangiger Unterstützung durch republikanischdemokratische Kräfte jedoch anders zu bewerten ist; vgl. Otmar Jung, Direkte Demokratie in der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 1989. 54 So der zutreffende Befund zur„Verbändepluralismustheorie“ bei Groh, Staatsrechtslehrer (wie Anm. 38), S. 255–279, ohne dazu freilich verfassungswissenschaftlich ggf. eher noch wichtigere andere Dimensionen zu behandeln.
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chen Reden auf einem Gewerkschaftskongress mit heftigen Attacken gegen den „Monopolkapitalismus“ gehalten hat.55 Ansonsten beziehen sich alle „Kritikpunkte“ an der modernen Pluralismustheorie bis heute auf privilegierte „Sonderinteressen“, die sich wegen größerer Einflussmittel und schwierigerer Organisierbarkeit der Gegenkräfte verbandsegoistisch durchsetzen lassen und dabei u.a. auch langfristige Gemeinwohlbelange schädigen können.56 Allzu mächtige Partikularinteressen von Minderheiten ohne hinreichende Balance ggf. auch gesetzgeberisch zu bändigen und so das kompakt organisierte Verbandswesen nicht wichtigere politisch-institutionelle und politisch-kulturelle Dimensionen der gewollten Einheit in Vielfalt überwuchern zu lassen, ist dann vielleicht sogar eine zeitgemäße Lesart der Pluralismustheorie. Zweitens bleibt es schlicht ein Auffassungsunterschied, entweder die unbestreitbar von Preuß vorgesehenen Möglichkeiten auch vorzeitiger Neuwahlen mehr – im Sinne einer absorptiven Repräsentationslehre57 – für eine prinzipielle Schädigung des Parlamentarismus zu halten oder dies zumindest differenzierter zu sehen. Grundsätzlich wandte sich Preuß gegen allzu kurze Legislaturperioden zugunsten parlamentarischer Arbeitsfähigkeit. Im Kaiserreich war 1871 bis 1893 neunmal zum Reichstag gewählt worden, nicht etwa als Mittel zu dessen Stärkung.58 Er hielt es aber im Sinne einer Balance von demokratischen und parlamentarischen Erfordernissen für ein notwendiges und jedenfalls sinnvolles Ventil, in Situationen zu großer Entfernung zwischen Parlamentsmehrheit und ihrer Stimmvolkbasis den Weg zu Neuwahlen frei zu machen. Wenn ausgerechnet der so häufig als Modell rezipierte britische Parlamentarismus dies sogar faktisch in die Hände des Premiers zu Zwecken eigener Wahlchancen-Optimierung gelegt hat, werden zuweilen verkürzte Legislaturperioden schwerlich generell als parlamentarismusfremd einzustufen sein. Dreifacher Gebrauch dieses Mittels (1972, 1983 und 2005) unter Geltung des solches bewusst erschwerenden GG könnte sogar zum Beleg des Bedarfs an einem solchen halbplebiszitären Ventil in besonderen Situationen genommen wer55 Hugo Preuß, Die Bedeutung der demokratischen Republik für den sozialen Gedanken (1925), in: Ders., Politik und Verfassung (wie Anm. 4), S. 280–291 (bes. 288–91). 56 Vgl. die Übersicht bei Voßkuhle, Preuß (wie Anm. 37), S. 41. 57 Preuß, Reich (wie Anm. 10) aber dazu klar: „Die Repräsentation der öffentlichen Meinung durch den Reichstag ist keine ‚absorptive’“ (S. 245). Gegen „absorptive“ Repräsentationslehren auch Müller und Schefold in diesem Band. 58 Doch hatte Bismarcks Strategie gegenläufige Effekte: Margaret Lavinia Anderson, Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich, Aus dem Englischen v. Sibylle Hirschfeld, Stuttgart 2009.
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den. Auch dem Krisen-Reichstag aus dem Maiwahlen 1924 werden gerade die im Dezember 1924 dann gestärkt aus Neuwahlen hervorgegangenen Weimarer Verfassungsparteien keine Träne nachgeweint haben. Nicht einmal die erste antiparlamentarisch motivierte Reichstagsauflösung seitens des Präsidialkabinetts Brüning – mit dem Anschwellen der NSDAP auf 18,3 % im September 1930 – hätte zum Debakel der Republik werden müssen, sofern dann eine weltwirtschaftliche Konjunkturerholung bis zum Ende der Legislaturperiode im September 1934 für den nächsten Wahlgang abgewartet worden wäre. Erst die Reichstagsauflösungen in Serie (zu drei finalen Neuwahlen Juli und November 1932 sowie März 1933), statt dieses Mittel im September 1930 einstweilen verbraucht zu sehen, dienten nicht mehr der quasi-plebiszitären Anrufung des Wahlvolks. Dies geschah allein noch zur Ausschaltung des nun fast ständig aufgelösten Reichstags, der 1931/32 auch durch ein deutliches Überwiegen von Notverordnungen gegenüber der regulären Gesetzgebungstätigkeit zermürbt wurde.59 Komplexer sind drittens Fragen nach der Motivlage und dem Argumentationskontext zugunsten solcher Verfassungsöffnung zu mehr als einer nur turnusmäßigen Befragung des Stimmvolks in Parlamentswahlen. Tatsächlich ist wohl die Verwendung des Begriffs der öffentlichen Meinung bei Preuß zuweilen missverstanden worden, indem unzureichend berücksichtigt wird, dass er gegenüber „bonapartistischen“ Plebisziten französischer Herkunft und abgewandelter Bismarckscher Nachbildung historisch-politisch strikt ablehnend eingestellt blieb. Zweifellos hatte er mehr englische Leitideen des schrittweisen Hineinwachsens immer weiterer Bevölkerungskreise in die vollständige Politikmündigkeit im Blick: „Bezeichnend dafür ist es, wie sich in England der allmähliche Übergang vom ständischen zum modernen parlamentarischen Wesen in der Weise vollzogen hat, daß sich die öffentliche Meinung zunächst von außen her in immer wiederholten Anläufen Einfluß auf das Parlament erzwang, das sich seinerseits lange Zeit gegen die Öffentlichkeit überhaupt abzuschließen suchte, bis im Verlaufe des großen Demokratisierungsprozesses auch die ‚Mutter der Parlamente‘ immer ausgesprochener den Charakter rechtlicher Organisation einer Repräsentation der öffentlichen Meinung annahm. Die öffentliche Meinung oder
59 Den fünf Notverordnungen unter Brüning 1930 standen noch 67 Reichstagssitzungen gegenüber, aber schon 1931 hatten sich (42 zu 44) die Gewichte verlagert, 1932 überwogen 60 Notverordnungen klar die wenigen Sitzungstage; vgl. Ursula Büttner, Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933, Stuttgart 2008, S. 422 (mit weiterer Literatur).
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den ‚Volkswillen‘ rechtlich zu organisieren, das ist das Ziel, das die staatsrechtlichen Institutionen der modernen Demokratie in mannigfachen Formen anstreben.“60
Aus diesen und anderen Textstellen bei Preuß lässt sich ein Fazit einstweilen formulieren: Die Rückkopplung der Parlamentarier an die öffentliche Meinung zielte weder auf ein informell wirksames imperatives Mandat, noch hat Preuß so Rekurs auf eine überempirische Gemeinwillensdoktrin genommen. Es ist vielmehr ein Wesensmerkmal des Repräsentativsystems, dass der Repräsentierende nicht nur die ihn tatsächlich Wählenden vertritt. Die Gesamtheit der erfahrbaren Rückkopplungsmomente in meinungsbildender Hinsicht die öffentliche Meinung zu nennen, vermeidet gerade die Substantialisierung oder gar Mystifizierung der Verfassungsnorm: „Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes“ (Art. 21 WV). Einzuräumen ist ferner, dass mit der großstaatlichen Entwicklung und Ausweitung der Stimmberechtigung die öffentliche Meinung sich zunehmend als veröffentliche Meinung konkreter materialisierte und solche Meinungsmultiplikatoren ihrerseits mit der Verantwortung belastet werden, die Urteilsbildung der Leserschaft ebenso zu transportieren wie auch zu formen. Ein mechanischer Dezisionismus, der ohne den Begriff der öffentlichen Meinung auskommt, indem das Wahlvolk auf die Stimmabgabe und die Parlamentarier wesentlich auf Beschlüsse reduziert werden, verkennt die zu gewissen Anteilen für die Meinungsbildung und anschließende Entscheidungsfindung unverzichtbare deliberative Komponente im Politischen. Diese gemäß absorptiver Repräsentationslehre allein ins Parlament zu verlegen, ist schon unter Bedingungen eines zeitungslesend informierten Stimmvolks anachronistisch geworden. Solches entspricht kaum dem vollen Gehalt einer durch Preuß insofern verfassungsgeschichtlich mit angebahnten Verfassungsnorm, dass Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen vom Volke „ausgeübt“ (Art. 20,2 GG) und also nicht bloß legitimiert und an Repräsentanten delegiert wird. Gerade wo erfolgsträchtige plebiszitäre Verfassungsinstitute nahezu gänzlich fehlen, ist die mögliche Rückkopplung an ein geläutertes, nicht mit der Fiktion demoskopischer Abspiegelung zu verwechselndes Konzept von öffentlicher Meinung – als Willensäußerungen des Stimmvolks zwischen den Wahltagen – das einzige informelle Organ solcher „Ausübungs“-Norm. Klärungsbedürftig bleibt viertens noch, warum Preuß aus der faktischen Nullifizierung der monarchischen Dispositionsräume in Großbritannien nicht die Konsequenz gezogen hat, in einer deutschen Republik dann analog sämtliche politische Verantwortung in der Parlamentsregierung zu konzentrieren. Das meint aber nicht die noch ersichtlich von dem erwähnten Fraenkel-Verdikt 60 Preuß, Reich (wie Anm. 10), S. 244.
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beeinflusste Behauptung zu Preuß: „Gerade auch er unterlag der Vorstellung vom Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie“.61 Ziemlich genau das Gegenteil hat Preuß in dem wohl einschlägigsten Text des Gesamtwerks dazu ausgeführt, nämlich seiner „Denkschrift zum Entwurf des allgemeinen Teils der Reichsverfassung“ von Anfang Januar 1919: „Es sind falsche Propheten, die den prinzipiellen Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie lehren. Gewiß ist nicht jeder Parlamentarismus demokratisch; gewiß gibt es aristokratischen und plutokratischen Parlamentarismus. Ob er sich in der einen oder anderen Weise gestaltet, das hängt weniger von Verfassungsparagraphen ab, als von der sozialen und wirtschaftlichen Struktur der Gesellschaft. Aber für ein großes Volk und Reich ist bisher der Parlamentarismus als die beste und fruchtbarste Organisationsform der politischen Demokratie erprobt.“62
Das war gerade in der enthaltenen Dreiteiligkeit eine bemerkenswert differenzierte Sicht: Preuß bekannte sich deutlich zum Parlamentarismus als „beste“ Organisationsform jedenfalls für einen Großstaat, der kaum primär direktdemokratisch funktionieren konnte. Er räumte aber ein, dass solcher Parlamentarismus nicht aus sich heraus schon demokratisch wurde, sondern auch ein Privilegiensystem repräsentieren konnte, wie dies in Großbritannien vor den Wahlreformen von 1867 und 1884 noch sehr ausgeprägt der Fall war. Insofern verwies Preuß eine demokratische Staatsrechtslehre letztlich auf gesellschaftliche Strukturanalyse, nicht zwingend im empirischen Detail, aber in den strukturbestimmenden Grundzügen. Damit griff er dem modernen Konzept von „Staatsrecht als politische Wissenschaft“ voraus, das ein für dieses Stichwort bemühter reformistischer Sozialdemokrat wie Hermann Heller auch seinerseits gesellschaftsanalytisch verankert sehen wollte.63 Die Funktionsfähigkeit der ungeschriebenen englischen Verfassungsordnung haftete wesentlich auch mit an jenem relativen Mehrheitswahlrecht, das in Verbindung mit den – vom Monarchen nur staatsnotariell beglaubigten – Parlamentsauflösungen des Premiers und der begrenzten Anzahl mandatsfähiger Parteien auf Sicht immer handlungsfähige Regierungsmehrheiten verbürgte. Diese Voraussetzungen waren in Deutschland aber gerade nicht 61 So in der wichtigen Studie von Christoph Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat. Zur Theorie parlamentarischer Repräsentation in der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs (1871–1918), Frankfurt a.M. 1997, S. 404. 62 Preuß, Denkschrift (wie Anm. 23), S. 386 f. 63 Vgl. Hermann Heller, Gesammelte Schriften, 3 Bde., Hg. Christoph Müller, 2. Aufl. 1992; Marcus Llanque (Hg.), Souveräne Demokratie und soziale Homogenität. Das politische Denken Hermann Hellers, Baden-Baden 2010.
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gegeben. Dem kaiserzeitlichen Vielparteiensystem wäre angesichts regional gegliederter Parteihochburgen mit dem Wahlrecht nicht beizukommen gewesen.64 Dieses Vielparteiensystem, das seit 1920 im Reich und 1921 auch in Preußen65 mindestens SPD, DDP und Zentrumspartei für eine Mehrheitsbildung notwendig machte und nicht selten gar noch eine vierte Partei erforderte, ist wohl auch der ausschlaggebende Grund für ein Restproblem: Gerade deshalb verharrte Preuß in der – bei ihm sonst modern demokratisch überwundenen – konstitutionellen Doktrin, dass in der Regierungsbildung eine überparlamentarische Kraft das Institutionengefüge erst komplettierte und damit effektivierte. Die Erfahrungen aus dem Kaiserreich mit primär in gesinnungsfester Oppositionspolitik geschulten Parteien ließen Preuß für den Reichspräsidenten als erforderliche Instanz der zusammenführenden Regierungsbildung plädieren. Dessen Volkswahl-Basis wird aber zuweilen überschätzt, denn Friedrich Ebert konnte, obschon 1919–22 und 1922–25 nur kraft Parlamentsvotums amtierend, seine Kompetenzen durchaus wahrnehmen.66 Wäre bis Anfang 1925 Hindenburg – dann im 78. Lebensjahr – verstorben und ein gerade 54jähriger, rechtzeitig operierter Ebert nach Schaffung der Voraussetzungen für eine weitere Amtsperiode erstmals vom Stimmvolk gewählt worden, hätte die Geschichtsschreibung vermutlich eher die Weitsichtigkeit der Weimarer Verfassungskonstruktion unter schwierigen Ausgangsbedingungen gelobt.67 Umgekehrt überlebte die zum Beleg präsidialrechtsfreier Eigenkraft des Parlamentarismus sehr taugliche republikanische Preußenkoalition unter dem autoritätsbewussten Sozialdemokraten Otto Braun teils nur mit wenigen Mandaten Vorsprung.68 Sie hatte also neben bemerkenswerten Fähigkeiten zur Selbstbehauptung auch Fortune, ganz im Unterschied zur Reichsebene, wo außer Ebert (SPD) auch Stresemann (DVP) vorzeitig im Amt verstarb und weitere führende Politiker wie der Finanzreformer Erzberger (Zentrum) 64 Zu den Wahldaten vgl. Gerhard A. Ritter/Merith Niehuss, Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1871–1918, München 1980; Jürgen W. Falter u.a., Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik, München 1986. 65 Vgl. insbesondere Horst Möller, Parlamentarismus in Preußen 1919–1932, Düsseldorf 1985. 66 Vgl. Walter Mühlhausen, Friedrich Ebert 1971–1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn 2006. 67 In Österreich hat die nach 1945 wieder in Kraft gesetzte (1929 aber schon eher „weimarisierte“) Kelsen-Renner-Verfassung unter günstigeren Rahmenbedingungen dann weithin klaglos funktioniert. 68 Vgl. Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, Frankfurt a.M. 1977.
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und der Außenminister Rathenau (DDP) gar Mordopfer des brutalisierten Rechtsextremismus wurden.
3. Preuß und Preußen in der Geschichtsschreibung Für den Erinnerungsverlust ist es bezeichnend, dass Preuß bislang nicht annähernd so häufig für seinen Beitrag zur sich bewährenden neuen preußischen Verfassung von 1920 gewürdigt worden ist, wie er für tatsächliche und vermeintliche Unzulänglichkeiten nicht allein der Konstruktion, sondern auch missbräuchlicher Praxis unter der WV getadelt wurde. Außer der Rolle als Weimarer Verfassungsvater kann sogar die kommunalpolitische Praxis und die Bedeutung von Preuß als Kommunaltheoretiker als deutlich früher abgehandelt gelten.69 Eine Ursache dieser Ungleichgewichte war vielleicht auch die historiografische Sperrigkeit und Komplexität des Themas Preußen und die Konzentration der Geschichtsschreibung auf dessen neue Rolle als „Bollwerk“ der Republik.70 Dieses besondere Profil hat sich aber erst seit 1925 im Kontrast der Weimarer Koalition in Preußen zur Präsidentschaft Hindenburgs und seiner Reichskabinette – unter Beteiligung auch der republikfeindlichen DNVP – zu einem „System“ verdichtet. Dabei ist bislang unzureichend berücksichtigt worden, dass in den Gründungsjahren auch nach breiter Mehrheit für eine neue preußische Verfassung von 1920 der weiteren Mitwirkung von Preuß an der Ausgestaltung und Kommentierung der parlamentarischen Praxis eine mehr als nur symbolträchtige Bedeutung zukam. Neben der sozialdemokratischen Führungsrolle sind auch die Beiträge der Koalitionspartner DDP und Zentrum recht gut erforscht.71 Doch
69 Vgl. Siegfried Grassmann, Hugo Preuß und die deutsche Selbstverwaltung, Lübeck 1965; Dian Schefold, Hugo Preuß (1860–1925). Von der Stadtverfassung zur Staatsverfassung der Weimarer Republik, in: Helmut Heinrichs u.a. (Hg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993, S. 429–453; Detlef Lehnert, Kommunale Institutionen zwischen Honoratiorenverwaltung und Massendemokratie. Partizipationschancen, Autonomieprobleme und Stadtinterventionismus in Berlin, London, Paris und Wien 1888–1914, Baden-Baden 1994. 70 Vgl. den Titel von Hans-Peter Ehni, Bollwerk Preußen? Preußen-Regierung, ReichLänder-Problem und Sozialdemokratie 1928–1932, Bonn 1975. 71 Vgl. Joachim Stang, Die Deutsche Demokratische Partei in Preußen 1918–1933, Düsseldorf 1994; Herbert Hömig, Das preußische Zentrum in der Weimarer Republik, Mainz 1979.
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zur Landtagsfraktion der DDP steht erst jüngst die erschließende Edition zur Verfügung.72 Darin ist eine gewisse Parallele zur Reichspolitik angelegt, wo die Beiträge von Preuß nach seinem Ausscheiden als Verfassungsbeauftragter aus dem Reichskabinett eher vernachlässigt wurden. In der kurz nach seinem Tode erschienenen Auswahlsammlung, für die Theodor Heuss die Einleitung verfasste73, wurden die mit zunehmend kritischem Tenor veröffentlichten Texte schon deshalb nicht aufgenommen, da etliche von denen in einer später weniger herangezogenen Publikation des Mosse-Verlags zusammengetragen worden sind.74 Inzwischen liegen drei einer auf fünf Bände angelegten Edition Gesammelter Schriften vor, die vervollständigt und kommentiert das Gesamtwerk erschließen soll.75 Trotz der erst auf diese Weise erfolgenden Ausfüllung mancher Leerstellen ist unübersehbar, dass Schwerpunkte der Geschichtsschreibung jedenfalls zum späten 19. und dem 20. Jahrhundert weniger von der Verfügbarkeit der Quellen als von der Art und Intensität der Heranziehung und vor allem der Interpretation abhängig sind. Exemplarisch lässt sich an der modernisierend ausdeutenden und ihn zur Gegenfigur für Bismarck akzentuierenden Berufung auf den Freiherrn vom Stein zeigen76: Es würde an den originären Intentionen der Verwendung historiografischer Elemente bei Preuß vorbei gehen, ihn an den Erkenntnissen und Perspektiven der heutigen Geschichtswissenschaft zu messen. Die mit seinem verfassungsgeschichtlichen Nachlasswerk77 betraute Fachhistorikerin Hedwig Hintze traf den Kern des Ansatzes, wenn sie das ausgeprägt interdisziplinäre Profil hervorhob: „In seiner dreifachen Eigenschaft als Politiker, Jurist und Rechtshistoriker war Preuß an die große Aufgabe herangegangen“, würdigte die Herausgeberin die Vielfalt der einzubeziehenden Gesichtspunkte und sah Preuß in jener Schrift die Fragestellung aus „Das deutsche Volk und die Politik“ von 1915 wieder aufnehmen: „Das ‚Anderssein‘ des deutschen Volkes inmitten der übrigen Völker unseres Kulturkreises zu erklären, ist das Grundthema dieses verfassungsgeschichtlichen Fragments.“ Eine solche umfassende Vergleichsstudie – deren Thema später unter dem Stichwort 72 Vgl. Volker Stalmann (Hg.), Linksliberalismus in Preußen. Die Sitzungsprotokolle der preußischen Landtagsfraktion der DDP und DStP 1919–1932, 2 Bde., Düsseldorf 2009. 73 Theodor Heuss, Einleitung, in: Preuß, Staat (wie Anm. 23), S. 1–23. 74 Hugo Preuß, Um die Reichsverfassung von Weimar, Berlin 1924, auch in: Preuß, Politik und Verfassung (wie Anm. 4), S. 367–438. 75 Vgl. die Nachweise in Anm. 4, 6 und 9. 76 Vgl. den Beitrag von Marcus Llanque in diesem Band. 77 Hugo Preuß, Verfassungspolitische Entwicklungen in Deutschland und Westeuropa. Historische Grundlegung zu einem Staatsrecht der Deutschen Republik, Berlin 1927.
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eines ‚Sonderwegs‘ kontrovers erörtert werden sollte – müsse schon durch Weitläufigkeit des Blickhorizonts die engen Fachgrenzen sprengen: „Kaum dürfte sich die kongeniale Persönlichkeit finden, die fortzusetzen wagte, was Hugo Preuß in höchst individueller Eigenart begonnen hat, aber nicht vollenden konnte.“78 Dass Georg v. Below den stadtgeschichtlichen Überblick von Preuß wesentlich unfreundlicher beurteilte79, lag nicht am – konsistenter durchgearbeiteten und für das 19. Jahrhundert auch kenntnisreich verfassten – Text zum „Städtewesen“ selbst. Vielmehr waren es primär die fach- und allgemeinpolitischen Grundhaltungen, die Hedwig Hintze aus Gesinnungsnähe positiv, den alldeutschen Konservativen v. Below hingegen negativ bewerten ließen.80 Die polemische Schärfe, mit der Preuß in seines politischen Mentors Theodor Barths Zeitschrift zur ostelbischen „Junkerfrage“ publizierte81, wird man auch vor dem Hintergrund der ausgrenzenden Unterstellung einer „Judenfrage“ einordnen können. Zu deren öffentlich vergiftender Propagierung wurde gerade aus jenen agrarkonservativen Kreisen ein wesentlicher Beitrag geleistet.82 Über die politische Konfrontation hinaus bemühte sich Preuß sogar in publizistischen Beiträgen, deren eigenes Textgenre nicht mit Fachaufsätzen verwechselt werden sollte83, um Aufklärung zu strukturgeschichtlichen Aspekten. Für ihn war der „wirtschaftliche, soziale und politische Gegensatz zwischen dem Osten und Westen der Monarchie“ ebenso leitmotivisch wie der gesellschaftspolitische Fortschrittgedanke, „daß nämlich die innere Einheit Preußens, die Verwestlichung Ostelbiens nur im Rahmen des deutschen Gesamtstaates durchführbar ist“.84 Der preußische Hegemonialföderalismus lieferte nicht bloß dem süddeutschen und kleinstaatlichen Partikularföderalismus die Vorwände, sondern in manchem 78 Hedwig Hintze, Einleitung, in: Ebd., S. V, VIII, XIII. 79 Vgl. Georg v. Below, Bürgerschaften und Fürsten, in: Historische Zeitschrift 102 (1909), S. 524–555. 80 Zur Verfassungsgeschichtsschreibung der Beitrag von Ewald Grothe zu diesem Band mit weiterer Literatur. 81 Dazu der Beitrag von Monika Wienfort in dieser Publikation. 82 Vgl. Hans-Jürgen Puhle, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich (1893–1914), 2. Aufl. Bonn 1975. 83 Das akademische Werk von Preuß wird hauptsächlich über Preuß, Recht (wie Anm. 9), erschlossen. Wen die heftige Polemik von Preuß gegen das Großagrariertum irritiert, kann einmal Max Weber vergleichend heranziehen, der 1894 zu einem „groben Artikel“ diesen brieflichen Kommentar beifügte: „Ich bin begierig, ob das Schweinevolk darauf etwas Neues grunzen wird“; zit. n. Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, 2. Aufl. 1974, S. 35/Anm. 50. 84 Hugo Preuß, West-Östliches Preußen, in: Ders., Politik und Gesellschaft (wie Anm. 6), S. 295, 299.
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verkörperte Preußen auch selbst zumindest in seinem Potential den „gefährlichsten aller Partikularismen“.85 Die Pointe seiner Argumentation lag in der These, dass unter Bismarck nur die „äußere Verwestlichung“ mit Ausdehnung des preußischen Staatsgebiets weit über die ostelbischen Ursprungsgebiete hinaus und dann in Richtung der Reichsgründung noch die „Rettung vor der inneren Verwestlichung“ durch „konstitutionell-liberale Politik“ bewerkstelligen konnte.86 Für Preuß war schon der „unselige Dualismus der beiden deutschen Nationalversammlungen von 1848, der schwarz-rot-goldnen in der Paulskirche zu Frankfurt und der schwarz-weißen im Schauspielhause zu Berlin“ letztlich das „bezeichnende Symptom für die damalige Unlösbarkeit des Problems“.87 Irgendein Kompromiss zur nachhaltigeren Konstitutionalisierung auch der preußischen Monarchie hätte sich vielleicht finden lassen können, wenn nicht neben anfänglichen Unklarheiten zwischen groß- und kleindeutschen Lösungsversuchen auch noch diese Frage nach Lage der Dinge unbeantwortet bleiben musste: Wie sollte eine nationaldeutsche Monarchie neben bzw. über einzelstaatlichen Fürstenhäusern und Stadtrepubliken konstituiert werden? Die unbewältigte Preußenfrage machte auch die Bismarckverfassung trotz ihres relativ langen und in der Territorialgliederung bis in die Weimarer Republik hineinwirkenden Bestands zu einem Transitorium. Dies galt dann umgekehrt auch für die seit 1850 bestehende preußische Verfassung, weil eben Preußen seit 1871 nicht mehr unabhängig von seiner Verflechtung mit Reichsinstitutionen betrachtet werden konnte.88 Ein in der Preuß-Rezeption bislang vernachlässigter Aspekt waren auch „ungelöste Probleme der Verwaltungsreform und der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Preußen“89, die eine fortschreitende Konstitutionalisierung des Hegemonialstaates behinderten. Das Stichwort der gesellschaftlichen und politisch-kulturellen „Verwestlichung“ des ostelbischen Preußen steht in engem systematischen Zusammenhang mit einem gleichfalls von Preuß sehr umfassend verstandenen Paradigma der „Urbanisierung“.90 Damit war nicht einfach siedlungsräumliche Verstädterung 85 Preuß, Reich (wie Anm. 10), S. 160. 86 Preuß, Preußen (wie Anm. 84), S. 312. 87 Ebd., S. 299. 88 Dieser Aspekt dualistischer Verflechtung ist bei der Würdigung sonst äußerlich stabiler Verfassungslagen mit zu bedenken. Vgl. dazu Arthur Schlegelmilch, Die Alternative des monarchischen Konstitutionalismus. Eine Neuinterpretation der deutschen und österreichischen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bonn 2009. 89 So lautet der Titel des Beitrags von Dian Schefold in diesem Band. 90 Dazu Hugo Preuß, Die Entwicklung des deutschen Städtewesens, Leipzig 1906, S. 220 und passim. Der „große Wert des Buches“ lag, der Rezension von Robert Schachner
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gemeint, was ohnehin in erheblichem Maße mit der Industrialisierung einherging. Ursprünglich nahm Preuß eine „Interessensolidarität zwischen Bürger und Bauer gegenüber dem rückständigen Junkertum“ an 91; er gelangte aber mit fortschreitender gesellschaftlicher Entwicklung zu einer neuen Perspektive: „Das selfgovernment einer modernen Großstadt kann nur von Bourgeoisie und Sozialdemokratie gemeinschaftlich geführt werden“; deren Konfrontation würde „nicht die Macht des Siegers, sondern des tertius gaudens, des bevormundenden Polizeistaates und der ihn beherrschenden antiurbanen Potenzen stärken“, weshalb das „Bewußtsein ihrer Untrenn barkeit als soziale Komplementärerscheinung“ entstehen müsse. 92 Diese sozial-liberale Bündnisorientierung folgte auch seiner Erinnerung „an nationalliberale Reden erster, zweiter und dritter Lesung“, die mit folgendem Schwundprozess ihres eigenständigen politischen Gehaltes behaftet gewesen seien: „In der ersten Lesung das volle und sonore Bekenntnis zu den Grundsätzen des Liberalismus, in der zweiten Lesung Erwägungen, daß doch auch die konservativen Gesichtspunkte von Bedeutung seien, und in dritter Lesung im großen und ganzen Annahme der konservativen Vorschläge.“93 Die Polarisierung im Ersten Weltkrieg seit 1916/17 zwischen einer in militärpolitischen Fragen halbdiktatorischen Stellung der Obersten Heeresleitung unter Hindenburg/Ludendorff und einer allmählich selbstbewusster auftretenden Reichstagsmehrheit öffnete auch erst im Zeichen der Niederlage die Möglichkeit des Übergangs zur parlamentarisierten Monarchie.94
4. Die späte Wiederentdeckung eines vergessenen Demokraten Es ist also kein historischer Zufall, sondern entsprach der von ihm häufig beklagten Schwäche des entschiedenen Liberalismus, dass Preuß erst in der Novemberrevolution 1918 von den sozialdemokratischen Volksbeauftragten als Verfassungsbeauftragter herangezogen wurde. Schon im Herbst 1910 wäre er ohne die SPD-Stimmen gegen den traditionellen „Kommunalfreisinn“ in der Berliner Stadtverordnetenversammlung nicht unbesoldeter Stadtrat für das
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in der »Zeitschrift für Politik« (Bd.1/1908, S. 552) folgend, in der „Ausmeißelung des ‚Urbanisierungsprozesses‘ aus der bunten Folge historischer Begebenheiten“. Preuß, Preußen (wie Anm. 84), S. 311. Hugo Preuß, Zur sozialen Entwicklungstendenz städtischer Selbstverwaltung, in: Europa 1 (1905), S. 863, 865. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 326 (Stenographische Berichte), Berlin 1920, S. 451. Siehe den Beitrag von Wolfram Pyta in diesem Band.
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Verkehrswesen geworden.95 Weder als Verfassungs- und Gesinnungsliberaler noch mit seinen primär gegen die preußischen „Ostelbier“ – den Agrarkonservatismus – gerichteten „Verwestlichungs“-Zielen ist das vielfältige Gesamtkonzept von Preuß bereits hinreichend charakterisiert. Darüber hinaus blieb ihm bewusst und wichtig, dass es ohne sozialdemokratische Unterstützung wohl nie zur Weimarer Verfassung gekommen wäre. Auch deshalb formulierte er zum Weihnachtsfest 1919 diese bislang kaum für sein Verständnis des Neuordnungsimpulses herangezogene Botschaft: „Die deutsche Demokratie betont notwendigerweise und mit Recht das soziale Moment stärker als die westlichen Demokratien.“96 Es trifft also nicht zu, dass Preuß damals nur die Eingliederung Deutschlands in den Kreis der westlichen Demokratien gedanklich vorwegnahm. Vielmehr trat er schon unmittelbar nach Inkrafttreten der neuen Verfassung dafür ein, „das formal demokratische Recht mit sozialem Geiste erfüllen“ zu wollen.97 Auch der – als Nationalliberaler – ihm jedenfalls bis 1914 nicht sehr nahe stehende Staatsrechtspositivist Anschütz betrachtete Preuß rückblickend als Beispiel dafür, wie im Kaiserreich sogar weit überdurchschnittlich „kluge, wissenschaftlich hochbegabte Männer“ keinen Platz auf einem Universitätslehrstuhl fanden. Denn abgesehen von der jüdischen Herkunft, die für sich allein genommen andere Gelehrte nicht an der Berufung hinderte, war Preuß ein „ausgeprägt politischer Kopf“; außerdem „mißfiel die radikale Schärfe, mit der er seine Ansichten vorzutragen pflegte“, weshalb dem Nonkonformisten der Zutritt in eine von Konventionen überfrachtete Institution versperrt wurde: „So kam es, daß Preuß es niemals zu einer ordentlichen Professur, die er zweifellos verdient hätte, und besser ausgefüllt haben würde, als mancher, den man ihm vorzog, gebracht hat.“98 Das scharf konturierte „Profil im akademisch-politischen Streit“99 erschwerte seinen Weg in den Kreisen des Berliner „Kommunalfreisinns“ und erst recht angesichts der
95 Vgl. Amtlicher stenographischer Bericht über die Sitzung der Stadtverordnetenversammlung vom 3.11.1910, S. 373 f.: der Wahlakt – für insgesamt acht unbesoldete Stadträte – ergab dabei 63 Stimmen für Preuß gegen 51 des bisherigen Amtsinhabers (sowie 9 Enthaltungen). 96 Hugo Preuß, Vom Inneren zum Äußeren! (1919), in: Ders., Politik und Verfassung (wie Anm. 4), S. 116. 97 Hugo Preuß, Das Verfassungswerk von Weimar (1919), in: Ders., Politik und Verfassung (wie Anm. 4), S. 92. 98 Gerhard Anschütz, Aus meinem Leben, Hg. Walter Pauly, Frankfurt a.M. 1993, S. 121– 123. 99 So der Untertitel des Beitrags von Lothar Albertin in diesem Band.
Preuß und Preußen
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konservativen bis nationalliberalen Mehrheitsströmung in der kaiserzeitlichen Staatsrechtslehre. Als führenden Fachvertreter auch im Übergang zur Republik wird man am ehesten Heinrich Triepel bezeichnen können, der zunächst die Staatsrechtslehrer-Vereinigung leitete. Für diesen hatte aber „der demokratische Parlamentarismus“ des Verfassungskonzepts von Preuß einen historischen Sieg von „zerstörender Wirkung“ gegen das Erbe Bismarcks errungen: „Die Verfassung hat einen Parlamentsabsolutismus in reinster Form begründet“, was erst dann hinsichtlich eigenständiger Macht des Präsidenten modifiziert werden könne, wenn man „z.B. sein Recht der Parlamentsauflösung von ministerieller Gegenzeichnung befreite“.100 Diese Einschätzung wiegt durchaus schwer, weil Triepel zwar – wie der später liberal umgedeutete Fachkollege Rudolf Smend – in den 1920er Jahren der republikfeindlichen DNVP angehörte, jedoch abweichend zu jenem eher die klassische juristische Interpretation mit dem traditionellen preußisch-deutschen Machtstaatsdenken verband. 101 Die originäre Verfassungspositivität der Weimarer Republik konnte also ein – insoweit redlicher – Interpret der „preußischen“ Staatsrechtsschule (im Sinne des Berliner Lehrstuhls seit 1913) wie Triepel nur so lesen: Die Nationalversammlung hatte, durchaus im Sinne des ursprünglichen Entwurfs von Preuß, den klaren Primat eines demokratischen Parlamentarismus und der ihm verantwortlichen Parlamentsregierung gegenüber limitierten Präsidialkompetenzen beabsichtigt. Es bedurfte erst noch der intellektuell wie demokratisch höchst unredlichen verfassungsdurchbrechenden Umdeutungsjurisprudenz nach Art eines Carl Schmitt, um die Verfassungsbrüche auf Reichsebene seit 1930 und den „Preußenschlag“ 1932 zu rechtfertigen.102 Gerade der von Preuß selbst überlieferte Verfassungskommentar hatte zum Vorrang des parlamentarisch-repräsentativen Systems und seiner Ergänzung mit direktdemokratischen Elementen einen klaren Wortlaut:
100 Heinrich Triepel, Der Föderalismus und die Revision der Weimarer Reichsverfassung, in: Zeitschrift für Politik 14 (1924), S. 208, 229. 101 Vgl. Alexander Hollerbach, Zu Leben und Werk Heinrich Triepels, in: Archiv des öffentlichen Rechts 91 (1966), S. 417–441; Ulrich M. Gassner, Heinrich Triepel. Leben und Werk, Berlin 1999. 102 Auf exemplarische Nennung inzwischen uferloser Schmitt-Literatur wird hier verzichtet. Seine wohl der indirekten Lehrstuhl-Nachfolge an der Berliner Handelshochschule geschuldete, aus der Distanz vieles durchaus richtig wahrnehmende Preuß-Schrift sei aber erwähnt: Carl Schmitt, Hugo Preuß. Sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre, Tübingen 1930.
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Detlef Lehnert „Die deutsche Republik wird durch die Reichsverfassung als mittelbare, repräsentative, und zwar parlamentarische Demokratie organisiert, die aber durch die unmittelbar demokratischen Einrichtungen des Volksentscheids und Volksbegehrens, der Volksabstimmung, der Wahl und Absetzung des Reichspräsidenten durch das Volk (vgl. RVerf. Art. 73–76, 18 Abs. 4, 41 Abs. 1, 43 Abs. 2) modifiziert wird.“103
Als Vertreter des Washingtoner Institute for Government Research wenige Monate vor dessen Tod noch mit Preuß als „,father of the Weimar constitution‘“ sprechen konnten, formulierten sie das Fazit zunächst ganz ähnlich: „The German constitution establishes a government which is representative democracy in principle, parliamentary in form“, und Preuß stimmte zu, ergänzte aber die letztinstanzliche demokratische Prägung der WV: „ ,Power lies always with the people in the last instance‘“. Die interessierten Besucher aus den USA empfanden das Treffen mit Preuß als eine ganz besondere Ehre: „It was as if one could discuss the Constitution of the United States with Hamilton or Madison.“104 Das Werk dieser beiden US-Verfassungsväter wurde dort mit Respekt und Anerkennung bedacht. Schriften von Preuß wurden hingegen im Mai 1933 von jenen ultranationalistischen Fanatikern verbrannt105, deren ideologische Anstifter und mächtige Verbündete zuvor bereits sein Verfassungswerk zerstört hatten. Der 150. Geburtstag von Hugo Preuß bietet auch Gelegenheit, sich dieses Tiefpunktes deutscher Geschichte zu erinnern. Aber gleichzeitig sollten die historischen Chancen nicht vergessen werden, die gerade auch die wissenschaftlichen Gedanken und die verfassungspolitische Tätigkeit dieses großen Demokraten bieten konnten.
103 Preuß, Reich (wie Anm. 10), S. 49. 104 Frederick F. Blachey/Miriam E. Oatman, Hugo Preuss Talks on the German Constitution, in: Southwestern Political and Social Science Quarterly 6 (1925/1926), S. 254, 252. 105 Die Teilsammlung Preuß, Staat (wie Anm. 23), wurde als ein insoweit gelungener Symbolakt in der „Bibliothek verbrannter Bücher“ für die politische Bildungsarbeit nachgedruckt (Hildesheim 2006). Auch Preuß, Entwicklungen (wie Anm. 77), findet sich in den Listen der verbrannten Bücher – wohl gegen Preuß und Hedwig Hintze gerichtet.
CHRISTOPH MÜLLER
Souveränität Rechtswissenschaftlicher a-priori-Begriff oder empirische Funktionsbestimmung des politischen Systems
In seiner Habilitationsschrift über Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften von 1889 musste sich Hugo Preuß mit dem Thema der Souveränität auseinandersetzen. Das von Bismarck geschaffene Deutsche Reich war nicht mehr – wie der 1815 auf dem Wiener Kongress ins Leben gerufene Deutsche Bund – ein bloßer Gesandtenkongress. Schon der Norddeutsche Bund von 1867, der Österreich ausschloss, hatte zentrale Kompetenzen. Es wurde ein Präsidium geschaffen, dessen Präsident der König von Preußen war, und dessen Bundeskanzler die Exekutive des Norddeutschen Bundes leiten sollte. Nach den Kompetenzen, die die Verfassung dem Reich übertragen hatte, war es überwiegende Meinung, dass ihm Souveränität zustand. Auf der anderen Seite beanspruchten die Territorien, aus denen sich das kleindeutsche Reich zusammensetzte, nach wie vor, Staaten zu sein, mit denen die Souveränität als Definitionsmerkmal nach herrschender Meinung begrifflich verknüpft war. Die Frage nach dem Wesen der Souveränität als Kernproblem von Staatenbund und Bundesstaat war daher aktuell, strittig und klärungsbedürftig. Das galt vor allem für die Frage, wie die ganz auf die Person Bismarcks zugeschnittene Verfassung von 1871 auf Dauer funktionieren könne, wenn die Voraussetzungen für die singuläre Beziehung des preußischen Ministerpräsidenten und Reichskanzlers Bismarck zu Wilhelm I. als dem König von Preußen und dem Kaiser des Deutschen Reichs in einem veränderten persönlichen Kontext nicht mehr gegeben waren.1 Die von Preuß postulierte Personalunion in der Wahrnehmung dieser unterschiedlichen Kompetenzen konnte aber das Strukturproblem der Bismarck-Verfassung nur vorübergehend verdecken. 1 Für Hugo Preuß gehörte zu den Mindestvoraussetzungen die unbedingte Personalunion zwischen der Rolle des preußischen Ministerpräsidenten und des Reichskanzlers, vgl. Preuß, Die organische Bedeutung der Art. 15 und 17 der Reichsverfassung (1889), in Preuß, Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 421, und passim. Nach der preußischen Schulkrise (seit 1890) wurde diese Personalunion für einige Zeit aufgegeben, als der preußische Ministerpräsident Caprivi 1892 zum Rücktritt gezwungen wurde, während er noch bis 1894 Reichskanzler blieb. Diese kurze Episode war nicht geeignet, das von Hugo Preuß erkannte Strukturproblem zu widerlegen.
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1. Hugo Preuß hält die Kategorie der Souveränität für veraltet Preuß kam in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, dass dieser althergebrachte Begriff der Souveränität, der als Denkvoraussetzung – eine Art a priori – des öffentlichen Rechts galt, veraltet sei.2 Damit waren aber weder die Vertreter des Reichsstaatsrechts noch die Vertreter der Länderstaatsrechte einverstanden. Die Staatsbildung in Deutschland hatte – definitiv seit dem Ende des sog. Dreißigjährigen Krieges – auf der Ebene der Territorien stattgefunden. Es gab zwar ein Bewusstsein von einer „deutschen Nation“, aber die Bildung eines Nationalstaats war in Jahrhunderten nicht gelungen, und der Versuch der Paulskirchenverfassung von 1848 war am Widerspruch der hohenzollerschen und habsburgischen Dynastien gescheitert. Führende Geister hatten schon geraten, sich damit abzufinden, dass sich Deutschland als eine unpolitische „Kulturnation“ verstehen solle.3 Bismarck aber war es gelungen, die jahrhundertealte Zersplitterung und Staatlosigkeit Deutschlands zu überwinden. Dass sein „preußischer“ Weg – mit Eisen und Blut – so erfolgreich war, hatte ihm ein Prestige eingebracht, das an kultische Verehrung heranreichte,4 auch wenn das Deutsche Kaiserreich in mancher Hinsicht wie ein „Groß-Preußen“ erschien. In seinen Kriegen gegen Dänemark, Österreich und besonders gegen Frankreich hatte er die Territorialherrscher, darunter einige Könige, zu Generälen gemacht, die zwar Vorgesetzte ihrer eigenstaatlichen militärischen Kontingente blieben, aber unter dem Oberbefehl des Königs von Preußen standen. Nach dem Vorbild der Französischen Revolution führte 2 Rudolf v. Gneist (Votum des zweiten Zensor) stimmte dem Erstgutachter Bernhard Hübler zu, „daß man den Begriff der Souveränität nicht eliminieren kann, ohne das Wesen des Staats in seiner beherrschenden Stellung über der Gesellschaft aufzugeben“, in: Archiv Humboldt-Universität, Jur. Fak. 144 Habilitationen, Bl. 71 R. (siehe Fn. 91). 3 Wenn Schiller schreibt: „Zur Nation Euch zu bilden, Ihre hoffet es, Deutsche, vergebens./Bildet, Ihr könnt es, dafür freier zu Menschen Euch aus“, vgl. Preuß, Das deutsche Volk und die Politik (1915), in: Schriften, Bd. 1, S. 446, so stand es außerhalb seiner Vorstellung, dass beim politischen Misslingen vernünftiger nationaler Selbstbestimmung ein Unruhepotential entstehen und in Hypernationalismus umschlagen könnte. Vgl. dazu Fritz Stern, Die politischen Folgen des unpolitischen Deutschen, in: Michael Stürmer (Hg.), Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870–1918¸ Düsseldorf 1970, S. 168–186; Rainer Lepsius, Extremer Nationalismus. Strukturbedingungen vor der nationalsozialistischen Machtergreifung, Stuttgart 1960; Wolf Lepenies, Kultur und Politik, München 2006, S. 35–67. 4 Robert Gerwarth, Der Bismarck-Mythos. Die Deutschen und der Eiserne Kanzler, München 2007.
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Bismarck ein Reichsgesetzblatt ein, mit der Maßgabe, dass die Reichsgesetze mit ihrer Veröffentlichung an dieser Stelle – ohne auctoritas interposita der Territorialstaaten – unmittelbar im ganzen Reichsgebiet Geltung erlangten.5 Der Bundesrat sollte zwar die Reichsregierung sein, konnte das bei seiner Vielköpfigkeit und Inhomogenität aber nicht leisten. Die ehemals souveränen Einzelstaaten hatten „Einfluss“, konnten aber nicht „regieren“6; sie mussten, zumal bei dem Übergewicht der preußischen Stimmen, die Regierung dem Reichskanzler überlassen, der nicht dem Reichstag, sondern dem Kaiser verantwortlich war. Das garantierte dem Königreich Preußen, dem bei weitem größten Einzelstaat, eine führende, „hegemoniale“ Stellung.7 Es gelang Bismarck, im Reich so viel Zentralgewalt aufzubauen, wie nach seiner Meinung nötig war, den Zusammenhalt des Gesamtstaats zu gewährleisten. Auf keinen Fall durfte das Kaiserreich wieder in die Machtlosigkeit des Deutschen Bundes zurückfallen. Aber zugleich versuchte er, die „Souveränität“ der Einzelstaaten möglichst wenig herauszufordern und nahm in Kauf, dass er sich nicht in allen – auch ihm wichtigen – Fragen durchsetzen konnte.8 So 5 Martin Drath, Über den Verfassungsrang der Bestimmung über die Gesetzblätter, in: Forschungen und Berichte aus dem öffentlichen Recht. Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, Hg. Otto Bachof u.a., München 1955, S. 237–257; dazu Christoph Müller, Das Staatsdenken von Martin Drath, in: Michael Henkel/Oliver W. Lembcke, Moderne Staatswissenschaft: Beiträge zu Leben und Werk Martin Draths, Berlin 2010, S. 239– 280 (251–253). 6 Hugo Preuß kam öfter auf den fundamentalen Unterschied von Einfluss und Regierung zu sprechen und berief sich dafür auf George Washington: vgl. Preuß, Liberale und autokratische Revolutionäre, in: Schriften, Bd. 1, S. 125. Der Ausspruch: „influence is not government“ findet sich in einem Brief an Henry Lee vom 31.10.1786, in: The Writings of George Washington; being his Correspondence, Addresses, Messages and other Papers, Official and Private, Bd. IX, Boston 1835, S. 204. 7 Preuß, Der deutsche Nationalstaat, in: Schriften, Bd. 4, S. 462, und passim. – Scharfe Kritik an Preuß äußerte Heinrich Triepel, Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten (1938), Neudruck Aalen 1961. Triepel meinte – auch noch nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs –, „die Bismarcksche Konzeption des hegemonialen Föderalismus“ habe sich bewährt und etwas anderes verdient, „als die verständnislosen Glossen, mit denen sie bei und nach dem Ende des Kaiserreichs von Hugo Preuß bedacht worden ist, und die sich nur aus dem Hasse gegen alles Preußentum und aus der unangebrachten Siegesfreude des ‚demokratischen Unitarismus‘ erklären lassen“ (S. 655). 8 So gelang es Bismarck z.B. nicht, die Finanzverfassung herzustellen, die er für nötig hielt – das Reich blieb „Kostgänger“ der Einzelstaaten, vgl. Preuß, Reichs- und LandesFinanzen, in: Schriften, Bd. 2, S. 506 und 848; auch scheiterte sein Versuch, trotz evidenter verkehrspolitischer Notwendigkeiten, die einzelstaatlichen Eisenbahnsysteme in eine „Reichsbahn“ einzuschmelzen. Das gelang erst der Weimarer Reichsverfassung.
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bestand besonders Bayern nachdrücklich auf seinen „Reservatrechten“ aus den Zeiten seiner ungeschmälerten einzelstaatlichen Souveränität und war nur unter solchen Kautelen „reichstreu“. Bayerns „Hofjurist“, Max v. Seydel, lehnte das neuartige Konzept eines Bundesstaates ab9, wie es sich 1848 in der „Regeneration“ der Schweiz10 und nach dem blutigen Sezessionskrieg von 1861–1865 in den USA entwickelt hatte. Auch hier wurde zwar den Kantonen und Einzelstaaten noch immer ihre frühere Souveränität zugesprochen, sie mussten aber deutliche Restriktionen hinnehmen. Vor allem wurde ihnen das Recht auf Sezession entzogen. Dem Bund in der Schweiz und der Union in den USA wuchsen alle Kompetenzen zu, die zur Wahrnehmung der verfassungsrechtlich verankerten Stellung der Bundesorgane erforderlich waren. In den USA wurden diese Kompetenzverschiebungen mit der „implied-powersDoktrin“ begründet.11 Das Bismarck-Reich sah aus wie ein föderatives System. Hugo Preuß kam nicht umhin, das diplomatische Geschick Bismarcks zu bewundern, der verstand, Machtfragen zu entscheiden, ohne sie auszusprechen. Aber in der Sache kritisierte er den Schein-Konstitutionalismus und vor allem den Schein-Föderalismus, während sich die staatsrechtlichen Kompetenzen von den Einzelstaaten immer stärker auf das Reich hin verschoben. Preuß sah auch in der Bismarck-Verfassung das Prinzip der implied powers am Werke.12
9 Max v. Seydel, Der Bundesstaatsbegriff. Eine staatsrechtliche Untersuchung, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 28 (1872), S. 224; Maren Becker, Max von Seydel und die Bundesstaatstheorie des Kaiserreichs, Frankfurt a.M. 2009. 10 Der Schweizerische Bundesvertrag von 1815 betrachtete die Kantone als souverän; aber nach dem Sonderbundskrieg erhielt die Confoederatio Helvetica Bundesrat, Nationalrat, Ständerat, Bundesgericht, Bundesheer, vgl. dazu Dian Schefold, Volkssouveränität und repräsentative Demokratie in der schweizerischen Regeneration 1830–1848, Basel 1966. 11 In den USA wurden beträchtliche Kompetenzverschiebungen mit der Implied powersKlausel begründet, die in Art. 1, Sec. 8, § 18 der Verfassung von 1787 inkorporiert ist: „The Congress shall have Power ... – To make all Laws which shall be necessary and proper for carrying into Execution the foregoing Powers, and all other Powers vested by this Constitution in the Government of the United States, or in any Department or Officer thereof.“ Die Verfassung war kein kündbarer Vertrag zwischen den Staaten, sondern ein Grundgesetz über ihnen, dem sie unbedingt Gehorsam schuldeten (Daniel Webster gegen John C. Calhoun) und die den Einzelstaaten eine „Nullifikation“ von Bundesgesetzen verbot; vgl. Preuß, Um die Reichsverfassung von Weimar, in: Schriften, Bd. 4, S. 414. 12 Preuß, Rezension Trieps, in: Schriften, Bd. 2, S. 773.
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Ich gehe hier auf die Verschiebungen der Kompetenzen zwischen Reich und Einzelstaaten nicht ein, vernachlässige auch das völkerrechtliche Konzept der Souveränität und beschränke mich im Wesentlichen auf den Aspekt von National Government und Local Government. Hier interessiert der „begriffliche“ Widerspruch, dass Kompetenzen, die als Ausdruck der unteilbaren Souveränität betrachtet wurden, doch in irgendeiner Weise zwischen den Gebietskörperschaften von Gemeinde, Einzelstaat und Reich geteilt werden mussten. Preuß hielt diesen Widerspruch für unaufhebbar und plädierte dafür, den Begriff der Souveränität aus dem öffentlichen Recht zu eliminieren, zumal noch hinzutrat, dass es sich um ein Konzept des Absolutismus handle, das die Wurzel des von ihm bekämpften Obrigkeitsstaates sei.13 In meinen Augen hätte gerade Hugo Preuß den Widerspruch einer im Bundesstaat faktisch unumgänglichen Teilung der Kompetenzen nicht als begrifflichen Widerspruch betrachten müssen, weil er ja die Auffassung vertrat – wie er am englischen Vorbild zeigte –, dass zwischen National Government und Local Government bzw. zwischen Staat und Gemeinde eine strukturelle Wesensgleichheit bestand. Er hätte die Souveränität nur dem politischen System zuschreiben müssen, das die verschiedenen Ebenen – Staat und Gemeinde – umspannte. Eine solche Lösung verhinderte aber die zweite Argumentationslinie: die absolutistische Herkunft des Souveränitätsbegriffs. Um diese im preußisch-deutschen Kontext virulenten Fragen diskutieren zu können, muss ich mich zunächst von diesem Kontext lösen, um zu prüfen, welchen Instanzen in den Entwicklungen der Verfassungsgeschichte – und aus welchen Gründen – die ominöse Souveränität zugeschrieben worden ist.
2. Suzeränitiät vs. Souveränität – Traditionales Recht vs. Rechtsstaat Preuß bezieht sich zu Recht auf Jean Bodin, von dem die moderne Souveränitätstheorie ihren Ausgang genommen hat, ohne allerdings auf den gesellschaftlichen Kontext einzugehen, der für seine Theorie maßgebend war.14 Bodin war der erste Theoretiker, der dem König nicht nur die Rolle eines Suzerain 13 Christoph Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat. Zur Theorie parlamentarischer Repräsentation in der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs (1871–1918), Frankfurt a.M. 1997, S. 370–382. Zum „Abschied vom Souveränitätsbegriff“, vgl. Dian Schefold, Einleitung in: Preuß, Schriften, Bd. 2, S. 11 f. 14 „Daß der Vater der Souveränitätstheorie der Franzose Jean Bodin gewesen ist, mag auf sich beruhen; denn es ist lange her“, Preuß, Die Legende vom Störenfried, in: Schriften, Bd. 1, S. 589.
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zusprach – eines obersten Richters und obersten Lehnsherren –, sondern der auch begründete, dass er als Souverän vor allem oberster Gesetzgeber sei.15 Dieser Unterschied ist deshalb wichtig, weil es politische Verbände gibt, die als Staaten bezeichnet werden, auch wenn ihnen eine formalisierte Setzung neuer Rechtsregeln fremd ist. So gibt es politische Verbände von einer so „naturwüchsigen“ und „unentwickelten“ sozialökonomischen Struktur, dass sie die Setzung neuer Rechtsregeln nicht benötigen, weil hier „die Tradition eine übermächtige Rolle spielen muss ... Sie erreicht diese Form bei stagnanten Zuständen sowohl des Produktionsprozesses wie der ihm entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnisse, durch die bloße Wiederholung ihrer selbst. Hat diese eine Zeitlang gedauert, so befestigt sie sich als Brauch und Tradition und wird endlich geheiligt als ausdrückliches Gesetz.“16 Auch unter archaischen Verhältnissen kommt kein politischer Verband ohne Streitschlichtung und gerichtliche oder gerichtsähnliche Funktionen aus.17 Dabei vernachlässige ich hier, dass es auch unter naturalwirtschaftlichen Verhältnissen durchaus zu einer gelegentlichen Normsetzung kommen kann, die aber für die gesellschaftlichen Verhältnisse noch keinen prägenden Charakter besitzt. Allerdings gibt es auch politische Systeme, die keine – oder nur geringe – formalisierte Gesetzgebung kennen, ohne zu dem oben beschriebenen „archaischen“ Typ von Gesellschaft zu gehören. Auch modernes, positives Recht kann in der Form von „Gewohnheitsrecht“ entstehen. So hat England ein Common Law ausgebildet, das zunächst zwar noch keinen „modernen“ Charakter trug, sich aber mit dem sozialökonomischen Wandel modernisieren konnte. Die örtlichen Gerichte Englands unterlagen einer streng zentralistischen Gerichtsverfassung. Unter dem Vorsitz eines königlichen Reiserichters entschied eine lokale Jury18 über die Tatfrage. Gegen die Entscheidung des örtlichen Gerichts war eine Appellation an das oberste Gericht zulässig – das 15 „Par ainsi on void que le poinct principal de la maiesté souveraine & puissance absolue gist principalement à donner loy aux subiects en general sans leur consentement.“ – „Car il faut que le Prince souverain ait les loix en sa puissance pour les changer, & corriger selon l’occurance des cas …“ ; Jean Bodin, Les six Livres de la République, Faksimiledruck der Ausgabe Paris 1583, Aalen 1961, S. 142 (l. I, ch. VIII); Jean-Fabrien Spitz, Bodin et la souveraineté, Paris 1998, S. 48. 16 Marx, Kapital, Bd. 3, Marx/Engels, Werke, Bd. 25, S. 801 f. 17 Kelsen: „A legal community which has an administration and courts is a state, but a central organ of legislation is not an essential requisite of a state. ... As soon as the position of chief becomes a permanent institution ..., the chief appears as judge, not as legislator“, Hans Kelsen, Law and Peace in International Relations, Cambridge/Mass. 1942, S. 148; vgl. auch Francis Harry Hinsley, Sovereignty, London 1966, S. 224. 18 Über das von dem Normannenkönig Henry II. eingeführte neue Beweismittel des Wahrspruchs der zwölf Nachbarn, das die bisherige Folter obsolet machte, vgl. Eugen
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Oberhaus des Parlaments in Westminster, gebildet von den sog. Legal Lords. Alle Gerichte waren an dessen Präjudizien gebunden. So konnte sich durch kontinuierliche gewohnheitsrechtliche Rechtserzeugung das Common Law an sozialökonomische Veränderungen allmählich anpassen.19 Es hat sich sogar in der Zeit der Industrialisierung nicht nur bewährt, sondern erwies sich dem französischen Satzungsrecht – sogar nach dem Urteil Max Webers – als überlegen.20 Aber auch schon in der frühen Neuzeit war das englische Common Law leistungsfähiger als das Rechtssystem Frankreichs, dessen Könige in ihrer Stellung als Souveräne angeblich oberste Gesetzgeber gewesen sein sollen, die aber nicht in der Lage waren, ein dem Common Law funktionell entsprechendes, im ganzen Land geltendes Recht hervorzubringen. Nach den sozialökonomischen Entwicklungen wäre das erforderlich gewesen. Das gelang erst nach der Großen Revolution mit den Kodifikationen Napoleons.
3. Fürstensouveränität Die politische Souveränität wurde über lange Zeit den Fürsten als „Stellvertretern Gottes auf Erden“ zugeschrieben. Das hat uralte Wurzeln. Das ganze gesellschaftliche Leben war früher von religiösen Vorstellungen durchdrungen. Das Naturgeschehen wurde nicht aus natürlichen Ursachen erklärt, sondern nach Analogie bekannter menschlicher Handlungsformen – „soziomorph“ – gedeutet, als „Wirken“ von Gottheiten, Geistern und Dämonen.21 Das stärkste Band des gesellschaftlichen Zusammenhalts waren kultische Vergemeinschaftungen. Zentrum der frühesten Städte in Mesopotamien war der Tempel der Stadtgottheit. Thron und Altar blieben erst recht bei größer werdenden Verbänden aufeinander angewiesen. Was wir heute als Legitimität eines politischen Systems bezeichnen, wurde ursprünglich durch religiöse Zusammengehörigkeit vermittelt.
Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts (1913), Nachdruck München 1929, S. 218–238. 19 Zum Gewohnheitsrecht, dessen positiver Geltungsgrund nicht gesetzt, sondern vorausgesetzt wird (opinio necessitatis), über dessen Verwandtschaft mit den konkretisierten Normen und zum Spezialfall des Common Law, vgl. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre (1934), 2. Aufl. 1960, S. 204, 223, 229, 232–235, 238, 259 f., 267, 297. 20 Nachweise in: Müller, Staatsdenken von Martin Drath (Fn. 5), S. 255, Fn. 50. 21 Vgl. Hans Kelsen, Vergeltung und Kausalität. Eine soziologische Untersuchung, Den Haag 1939.
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Spinoza wird der Satz zugeschrieben: Oboedientia facit imperantem.22 Während die politische Theorie von „Herrschaft“ spricht und gewöhnlich den Gehorsam als selbstverständliche Folge von Befehlen auffasst, hatte Spinoza umgekehrt die Herrschaft vom Gehorsam her erklärt. „Um richtig zu verstehen, wie weit das Recht und die Macht der Regierung sich erstrecken, ist zu beachten, dass die Macht der Regierung nicht genau in dem besteht, zu dem sie die Menschen durch Furcht zwingen kann, sondern überhaupt in allen Möglichkeiten, die Menschen zum Gehorsam gegen ihre Befehle anzuhalten. ... Non enim ratio obtemperandi, sed obtemperantia subditum facit“.23
Für den Herrscher kommt es nicht auf den Grund des Gehorsams an, sei es Furcht vor Strafe oder Hoffnung auf einen Vorteil, Vaterlandsliebe oder freies Ermessen. Besonders wirkungsvoll war, Herrschaft religiös zu begründen.24 Als es im Jahre 312 nach der Schlacht an der Milvischen Brücke zur „Konstantinischen Wende“ kam und Konstantin und Licinius in Mailand beschlossen, die diocletianische Christenverfolgung zu beenden, schien die Zeit der Religionsfreiheit anzubrechen.25 Aber um die religiöse Legitimierung eines politi22 Nach Manfred Walther (Hannover) hat Hugo Preuß (Preuß, Vom Obrigkeitsstaat zum Volksstaat, in: Schriften, Bd. 4, S. 157 und 637) diesen so nicht belegten Satz Spinozas 1921 sinngemäß richtig wiedergegeben und wahrscheinlich sogar geprägt (Walther, Spinoza in der Rechts- und Staatslehre der Weimarer Republik, noch nicht veröffentlichtes Manuskript). Hugo Preuß hat als Student in Heidelberg Vorlesungen von Kuno Fischer gehört, dem als „Spinozist“ (Synonym für Atheist) für einige Zeit die Lehrbefugnis aberkannt worden war. Von Preuß können Hermann Heller und Gustav Radbruch die Formulierung übernommen haben. Von Max Weber ist dieses Zitat nicht überliefert (Walther), obwohl seine Legitimitätstheorie auf der Erkenntnis Spinozas beruht. Weber war mit dem Werk Spinozas durch eigenes Studium, vor allem aber durch seinen Heidelberger Kollegen Georg Jellinek vertraut, der sich selbst als Spinozist im Sinne Goethes sah. Vgl. auch Manfred Walther, Spinoza und der Rechtspositivismus, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 68 (1982), S. 407–419; Georg Jellinek, Die Beziehung Goethes zu Spinoza, Wien 1878 (Nachdrucke). 23 Baruch de Spinoza, Tractatus theologico-politicus¸ Hg. Günther Gawlick/Friedrich Niewöhner, 2. Aufl. Darmstadt 1989, Bd. 1, Caput XVII (S. 500 f.). 24 „Aus diesem Grund haben früher Könige, die die Herrschaft an sich rissen, ihrer Sicherheit wegen die Meinung zu erwecken gesucht, daß sich ihr Geschlecht von den unsterblichen Göttern herleite. ... So hat Augustus den Römern eingeredet, er stamme von Äneas ab, den man für den Sohn der Venus hielt. ... Alexander wollte, daß man ihn als Sohn des Jupiter begrüßt“, Spinoza a.a.O., S. 506 f. 25 Wilhelm Kahl beruft sich auf Leopold v. Ranke, der das sog. Mailänder Toleranzedikt (313) für eine der „vornehmsten Urkunden der Weltgeschichte“ hielt, weil es „Gleichheit für alle, für Christen, für Heiden, für Juden, vollkommene Glaubens- und
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schen Systems entbehrlich zu machen, musste erst eine ganz neue Festigkeit organisatorischer Strukturen entstehen, für die es im zusammenbrechenden römischen Imperium keinerlei Voraussetzungen gab. Die christliche Religion, ursprünglich eine jüdische Sekte, wurde für etwa anderthalb Jahrtausende zur Staatsreligion erklärt. Mission und Eroberung sollten eine einheitliche Weltreligion schaffen, die die Grundlage eines erneuerten universalen römischen Weltreichs hätte werden sollen. Die heutigen Menschen- und Bürgerrechte auf Religions- und Gewissensfreiheit galten in der Zeit der Staatskirche als Häresie und wurden von Staats wegen verfolgt. Blutige Religionskriege haben vergeblich versucht, die politisch für erforderlich gehaltene Religionseinheit wieder zu erzwingen. Heute muss dieses Konzept als gescheitert angesehen werden. Viele bedauern das, aber es gibt auch viele, die es begrüßen und meinen, dass eine Religion erst dadurch „zu sich selbst“ kommt, dass sie frühere „kognitive“ Funktionen an die Wissenschaft und „politische“ Funktionen an den Verfassungsstaat abgegeben hat.26 Das Ringen um das moderne politische Konzept der Fürstensouveränität trat in ihr entscheidendes Stadium in der Zeit der religiösen Bürgerkriege in Frankreich. Es schien, als könne sich auch hier schon religiöse Toleranz entwickeln. Eine Gruppe von Legisten, zu der auch Jean Bodin gehörte, verstand Kultusfreiheit“ versprach. Es kam anders: Theodosius führte 381 das Christentum als Staatskirche ein, unter Beseitigung der Gewissensfreiheit. Wilhelm Kahl meint: „Ohne Vermessenheit darf man der Phantasie die Frage vorlegen, was wohl geworden wäre, wenn die weltgeschichtliche Entwicklung sich auf der Grundlage des Mailänder Edikts vollzogen hätte. Jedenfalls, viel Blut, viel Haß, viel Spaltung wären vermieden worden“, Kahl, Über das Verhältnis von Staat und Kirche in Vergangenheit und Gegenwart, in: Recht und Staat im neuen Deutschland, Berlin 1929, Bd. 1, S. 355. 26 Der Verzicht der Religionen auf frühere „kognitive“ und „politische“ Funktion hat keineswegs ihr Ende eingeläutet. Hans Kelsen erklärt das mit Immanuel Kant: „So erweist sich Kants Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft letzten Endes als eine Variante der Lehre von der doppelten Wahrheit, die in der Philosophie des Mittelalters eine bedeutsame Rolle spielt: der Lehre, daß etwas secundum rationem et philosophiam wahr sein kann, was secundum fidem et theologiam unwahr ist. Diese Lehre wurde im Wesentlichen zu dem Zwecke vertreten, um die Philosophie gegen Angriffe der Theologie zu verteidigen. Bei Kant hat sie die umgekehrte Funktion: sie soll die Theologie gegen die Philosophie verteidigen“, Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 19), S. 424. Immanuel Kant hat darüber ein Gedicht verfasst: „Was auf das Leben folgt, deckt tiefe Finsterniß./Was uns zu thun gebührt, des sind wir nur gewiß./Dem kann, wie Lilienthal, kein Tod die Hoffnung rauben,/Der glaubt, um recht zu thun, recht thut um froh zu glauben“, Kant, Auf Theodor Christoph Lilienthal, Professor der Theologie, Pfarrer an der Domkirche, in: Kant’s gesammelte Schriften (Akademieausgabe), Bd. XII, Briefwechsel (Bd. 3: 1795–1803), Berlin 1922, S. 397.
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sich als Politiker. Sie kämpften gegen die religiöse Intoleranz der Staatskirche, aber verteidigten ihre eigene Position selber noch religiös. Sie wollten einen Bruch zwischen Religion und Politik vermeiden, indem sie sich im Kampf gegen die Doktrinäre des Staatskirchenrechts auf eine theologische Begründung des öffentlichen Friedens konzentrierten: „Nur durch die Beschränkung ihrer Staatsidee auf den Begriff des inneren Friedens konnte es den Juristen gelingen, den Theologen, in denen sie die Urheber des konfessionellen Bürgerkriegs sahen, das Recht auf die verbindliche Interpretation dessen, was recht im Staate sei, zu verwehren. ... Silete Theologia in munere alieno.“27
Zu dem sozialen Kontext, der für Jean Bodins Lehre von der Souveränität des Königs maßgebend war, muss auch die Situation des konfessionellen Bürgerkriegs herangezogen werden. Im übrigen hat die neuere Forschung die Vorstellung korrigiert, als hätte der König von Frankreich von seiner Souveränität als oberster Gesetzgeber den Gebrauch machen können, der ihm – bei ungenauer Lektüre Bodins – zugeschrieben worden ist. Zwar bezeichnet Bodin die Souveränität als absolute und immerwährende Macht; der König ist als Souverän nicht gebunden an eigene frühere Gesetze, noch ist er verpflichtet, das existierende – traditionale – Recht einzuhalten. „Absolut“ ist diese Macht unter vier Aspekten: Die Souveränität ist unteilbar; sie erkennt keinen gleichoder übergeordneten Machtträger an; sie darf geltendes Recht verändern; und es gibt kein Widerstandsrecht der Untertanen. Aber gleichzeitig unterscheidet Bodin diese Souveränität von der von ihm verabscheuten Despotie und Tyrannei. Denn nach seiner Souveränitätstheorie ist der Herrscher gebunden an das „göttliche Recht“ und an das „Naturrecht“. Obwohl Bodin sich nicht direkt darauf beruft, dass der König Steuern nur auf der Basis von Konsens erheben darf,28 ist für den absoluten Fürsten eine förmliche Zustimmung von größter Bedeutung, weil sie Schwächen des administrativen Zwangsapparats kompensiert. Bodin versteht es meisterhaft, die Konsenswaffe indirekt einzusetzen. 27 „Die Theologie soll schweigen in einer Sphäre, die ihr fremd ist“. Vgl. Roman Schnur, Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des modernen Staates, Berlin 1962, S. 66. 28 Aus dem traditionalen Denken ergab sich, dass alle nicht herkömmlich geschuldeten finanziellen Forderungen der Krone einer Zustimmung bedurften: quod omnes tangit ab omnibus approbetur, vgl. Gaines Post, Medieval Legal Thought. Public Law and the State 1100–1322, Princeton N.J. 1964, S. 163–238; dieser Grundsatz galt auch in Frankreich und nicht nur in dem von Gaines Post untersuchten Zeitraum.
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Auf der Tagung der Generalstände 1576 in Blois verweigert der Dritte Stand – unter Führung von Bodin – die vom König verlangten Subsidien. Dabei opponiert er, um die Souveränität der Krone nicht direkt herauszufordern, mit „naturrechtlichen“ Argumenten. Dazu gehört die Forderung, die Steuern müssten gleichmäßig auf alle verteilt werden. Damit griff er nach außen nur die Steuerprivilegien des Zweiten Standes an. Aber Bodin lässt auch den Plan der Krone scheitern, einen gemeinsamen Ausschuss der drei Stände zu bilden, mit dem der König versuchen wollte, die Generalstände dem englischen Vorbild einer zentralen Steuerbewilligung im Parlament von Westminster anzunähern. Doch ist für Bodin die Macht des Adels in Frankreich zu groß; der Dritte Stand braucht den Schutz des absoluten Königs gegen den Zweiten Stand.29 Daran scheitert die Entstehung des von der Krone gewünschten englischen Modells. Es gelang der Krone nicht, die Blockadesituation der in ihre Privilegien eingegrabenen „Stände“ zu überwinden. Auch die Mehrheit von zwei Ständen hat keine Kompetenz, in die Privilegien eines dritten einzugreifen. Ein dem House of Commons ähnliches Parlament erhält Frankreich erst, als sich in der Französischen Revolution der Dritte Stand, unter maßgeblicher Mitwirkung von Vertretern des Ersten und Zweiten Standes, zur Nationalversammlung erklärt.30 Das freie Gesetzgebungsrecht des absoluten Herrschers scheiterte aber nicht nur an den religiösen Schranken der Souveränität und am Naturrecht, auf die sich der Dritte Stand berief, sondern vor allem am Widerstand der Regionen.31 In regionalen Parlamenten – zu Gerichten gewordenen früheren Regierungen – werden die in ihrem Territorium gültigen Gesetze amtlich „registriert“, um zu gelten. Mit dem Argument, ein Edikt der Krone widerspreche den „traditionalen“ coutûmes des Landes, wurde die Registrierung oft 29 „His fear of the nobility caused him to resist any trend toward parliamentary government in France“, Owen Ulph, Jean Bodin and the Estates Generales of 1576, in: The Journal of Modern History, XIX (1947), S. 296; Christoph Müller, Das imperative und freie Mandat. Überlegungen zur Lehre von der Repräsentation des Volkes, Leiden 1966, S. 185–191 (Volltext: http://edoc.hu-berlin.de). 30 Mirabeau und sogar Robespierre strebten, in Übereinstimmung mit Montesquieu, ursprünglich nur eine parlamentarische Monarchie nach britischem Modell an. Zu Montesquieu, der nicht an einer Dreiteilung der Staatsfunktionen interessiert war, sondern an der Verwandlung der Kurie des Dritten Standes in ein Gremium nach Art der englischen House of Commons, vgl. Martin Drath, Die Gewaltenteilung im heutigen deutschen Staatsrecht, in: Faktoren der Machtbildung, Berlin 1952, S. 99–138; dazu Müller, Staatsdenken von Martin Drath (Fn. 5), S. 253–257. Vgl. Fn. 63. 31 Um 1500 stehen der Krone etwa 50 kleinere oder größere lokale Ständeversammlungen gegenüber, mit denen sie über Steuerbewilligung verhandeln muss, Müller, Mandat (Fn. 29), S. 175.
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verweigert. Kurz vor Ausbruch der Französischen Revolution versuchte die Krone, eine altertümliche Form zu benutzen, um die Registrierung königlicher Edikte zu erzwingen. Es ging um die Reformgesetze von Turgot, mit denen der Zusammenbruch der Finanzen Frankreichs abgewendet werden sollte. Die Krone versuchte, die Tradition der sog. „Kissensitzung“ im zentralen Parlement von Paris (lit de justice) wiederzubeleben. Der König erschien in Person, umgeben von den Großen des Landes, ließ das Edikt verlesen und verlangte, etwaige Einwendungen – remonstrances – an Ort und Stelle vorzubringen. Nach erfolgter Anhörung durfte er – nun als oberster Richter – sofort die Registrierung anordnen. Der König setzte sich durch, aber der Erfolg war ephemer: Wegen anhaltenden Widerstandes musste er die „registrierten“, also in Geltung gesetzten Reformedikte widerrufen.32 Der Absolutismus in den deutschen Territorien sah ganz anders aus als der in Frankreich. Einerseits war die Herrschaft eines Fürsten in kleinräumigen Territorien effektiver als die des Königs von Frankreich, zugleich wirkte ihre „Souveränitätsspielerei“33 gegenüber den sozialökonomischen Wandlungsprozessen als unangemessen. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts fand eine Intensivierung und Professionalisierung der Verwaltung statt, bei der die beamteten „Fürstendiener“ ein zunehmendes Eigengewicht erlangten und die Fürstensouveränität zu einem gewissen Grade hinter dem Konzept einer Souveränität des Staates und eines „monarchischen Konstitutionalismus“ zurücktrat.34
32 Vgl. Müller, Mandat (Fn. 29), S. 196–198. 33 Preuß, Der deutsche Nationalstaat, in: Schriften, Bd. 4, S. 467. Allerdings wurde die Souveränität in Preußen in der Zeit des Großen Kurfürsten und des Soldatenkönigs – ähnlich wie in Frankreich – auch als Waffe gegen den Adel eingesetzt. Aber Friedrich der Große privilegierte den Adel wieder, den er für seine Kriege brauchte. Dieses System von „Absolutismus oben und Feudalismus unten“ hat die Entwicklung Preußens verhängnisvoll blockiert. Vgl. Preuß, Qu’est-ce que le tiers-état?, in: Schriften, Bd. 1, S. 315–322; ders., Die Junkerfrage, a.a.O., Bd. 1, S. 201–274. 34 So bestanden die Könige Preußens zwar – von Friedrich Wilhelm IV. bis zu Wilhelm II. – nachdrücklich auf ihrem „Gottesgnadentum“. Auch Bismarck hielt an dem „christlichen Staat“ Friedrich Julius Stahls fest, damit die Gesetzgebung sich „aus dem Urquell ewiger Wahrheit regeneriere“ und nicht „aus den vagen und wandelbaren Begriffen von Humanität“, Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt a.M. 1980, S. 60. Dennoch gab Bismarck dem Kaiser Wilhelm I. den Rat, im Blick auf den auch in Preußen schon erreichten Grad von „Konstitutionalismus“, das „monarchische Prinzip“ nicht hervorzukehren und seine Fürstensouveränität hinter „konstitutionellen Bekleidungsstücken“ lieber etwas zu verbergen. Vgl. Preuß, Vom ministeriellen Bekleidungsstück, in: Schriften, Bd. 1, S. 354–358.
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4. Staatssouveränität Die industrielle Revolution und die politischen Revolutionen in England von 1688, in den USA von 1776/87 und in Frankreich von 1789 läuteten das Zeitalter des bürgerlichen Verfassungsstaats ein. Allerdings hatte die Demagogenverfolgung seit den Karlsbader Beschlüssen die bürgerlichen Impulse in Deutschland verunsichert. Die „Heilige Allianz der legitimen christlichen Erbmonarchien“ und das von Friedrich Julius Stahl wiederbelebte „monarchische Prinzip“ waren aber ebenfalls brüchig geworden, seit Napoleon zahlreiche Throne gestürzt hatte, geistliche Territorien säkularisiert und auf dem Wiener Kongress die europäischen Staaten neu aufgeteilt worden waren. Auch Bismarck war nur seinem König treu und respektierte andere legitime Monarchen keineswegs.35 Für eine Staatsbildung „von unten“ waren die Verhältnisse ungünstig. So wurde nun versucht, in verschiedenen Anläufen und Stufen, den Monarchen zu „verstaatlichen“ und dafür den Staat zu „sakralisieren“. 1833 war im Königreich Hannover eine Verfassung erlassen worden, die der Thronfolger Ernst August 1837 einseitig wieder aufhob.36 Zu den Göttinger Sieben, die dagegen protestierten und gemaßregelt wurden, gehörte auch der Staatsrechtler Wilhelm Eduard Albrecht. Fast beiläufig, in einer Rezension, protestierte er im gleichen Jahr seiner Entlassung aus der Universität von Göttingen gegen den Verfassungsbruch und fand dabei einen neuen Zugang zur Diskussion um die Souveränität.37 Nach der alten Verfassung von 1833 sollte der König zwar immer noch das Oberhaupt des Staates sein und „die gesamte Staatsgewalt“ in sich vereinigen, aber er sollte seine Rechte auch „auf verfassungsmäßige Weise“ ausüben. Albrecht stellte das „monarchische Prinzip“ nicht in Frage, suchte aber nach einer Lösung für die juristisch nicht geklärte Frage, wie die inzwischen an der Regierung beteiligten „Stände“ in die Verfassung eingefügt werden könnten. Er fand eine Lösung, indem er die Souveränität nicht mehr, wie noch in der alten Verfassung vorgesehen, dem König als Person zuschrieb, sondern ihn nur noch als ein „Organ“ der „juristischen Person des Staates“ ansah. Souverän sollte der Staat sein. Damit stufte er das monarchische Prinzip etwas herab, 35 Bismarck: „Ich bin meinem Fürsten treu bis in die Waden, aber gegen alle anderen fühle ich in keinem Blutstropfen eine Spur von Verbindlichkeit“, vgl. Preuß, Der deutsche Nationalstaat, in: Schriften, Bd. 4, S. 455. 36 Damit wurde die Personalunion des Königreichs Hannover mit Großbritannien und Irland beendet. 37 Wilhelm Eduard Albrecht, Rezension von Romeo Maurenbrecher, Grundsätze des heutigen Deutschen Staatsrechts, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen, 1837, S. 1512 ff. (Neudruck Darmstadt 1962).
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vermied aber zugleich, von Volkssouveränität zu sprechen, was er nicht wagte und wohl auch nicht hätte wagen wollen.38 Wenige Jahre später fand Lorenz v. Stein, auf den Spuren der Philosophie Hegels, einen anderen Weg, den Staat zu überhöhen. Er hatte die „Klassenkämpfe“ in Frankreich eingehend studiert39, war zum wirklichen Kenner von Kommunismus und Sozialismus geworden, aber zu einem Schluss gekommen, der der Theorie von Marx und Engels diametral widersprach. Er appellierte an das Königtum, sich mit der „Idee“ des Staates zu identifizieren. Ganz im Sinne Hegels sah er im monarchischen Staat die einzige Instanz, die zur Rettung aus den selbstzerstörerischen gesellschaftlichen Interessenkonflikten herausführen könne. Oberhalb der Gesellschaft stehend müsse die Krone zu einer neutralen Macht werden, um die Interessengegensätze auszugleichen und die Klassen zu versöhnen. Er entwickelte die Theorie des „sozialen Königtums“. Damit hatte er einen starken Einfluss auf Rudolf v. Gneist, darüber auch auf den Verein für Sozialpolitik und dort auf die von Oppenheimer so genannten „Kathedersozialisten“, die sich in diesem zunächst als Spottnamen gedachten Begriff wiedererkannten, ihn sich zu eigen machten und den sog. „Staatssozialismus“ Bismarcks unterstützten.40 Lorenz v. Stein lehnte die liberale Doktrin, die einen Ausgleich im Wege der Selbstregulation erwartete, als unrealistisch ab, erst recht eine wie auch immer geartete Volkssouveränität. Er forderte die Krone auf, die Chance zu ergreifen, die nur ihr zu Gebote stand; aber warnte zugleich, dass sie ihren Untergang heraufbeschwöre, wenn sie diese Chance nicht nutze. 38 Das bedeutete ein „Festhalten am Überkommenen bei gleichzeitiger Aufnahme des Neuen“ und „eine eigene, national und geschichtlich sich begründende Stellung zwischen Monarchie und Volkssouveränität, jenseits von Absolutismus und Revolution“, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert (1961), 2. Aufl. Berlin 1995, S. 96. 39 Lorenz v. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, 3 Bde., Leipzig 1850. 40 Von Kiel nach Wien verschlagen, hat Lorenz v. Stein die ältere Polizeywissenschaft noch einmal zusammengefasst und zugleich modernisiert, indem er eine eindrucksvolle Verwaltungslehre schuf, die bis heute eine Grundlage der Verwaltungswissenschaft geblieben ist. Vgl. Lorenz v. Stein, Gesellschaft – Staat – Recht, hg. und eingel. von Ernst Forsthoff, mit Beiträgen von Dirk Blasius, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Ernst Rudolf Huber, Frankfurt a.M. 1972. Vgl. auch Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, Neuwied 1966; Thomas Simon, Gute Polizey. Ordnungsbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 2004; Lorenz Jellinghaus, Zwischen Daseinsvorsorge und Infrastruktur. Zum Funktionswandel von Verwaltungswissenschaft und Verwaltungsrecht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2006.
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Wirksam geworden ist sein Konzept des „sozialen Königtums“ allerdings nicht auf der Höhe seiner Ideale; der sog. Staatssozialismus Bismarcks verschärfte die Klassengegensätze durch Ausgrenzung der Organisationen der Arbeiterbewegung aus dem Rechtsstaat und versuchte nicht, was in England Disraeli teilweise gelang, einen Teil der Arbeiterbewegung mit der Monarchie zu versöhnen, und zwar unter Weiterentwicklung des parlamentarischen Systems. Aber trotz seines Scheiterns in der Hauptsache kann Lorenz v. Stein als einer der ersten Theoretiker des Sozialstaats gelten. Auf ganz anderem Wege entwickelte Paul Laband ein Konzept der Staatssouveränität, indem er eine Staatsrechtslehre ausarbeitete, mit der er die Bismarck-Verfassung juristisch untermauerte. Er behauptete, dabei „positivistisch“ vorzugehen, um die geltende Rechtsordnung unter Ausschaltung aller historischen, soziologischen, politischen und philosophischen Erwägungen „rein juristisch“ aufzufassen.41 Aber er beschränkte sich nicht, wie später Gerhard Anschütz, auf einen „Gesetzespositivismus“ des geltenden Rechts, sondern verdeckte in seinem „reinen“ Staatsrecht eine ganze Reihe von metajuristischen Annahmen, die er wie Denkvoraussetzungen a priori einfügte. Seine Konzeption der Staatssouveränität, hinter der die Fürstensouveränität zurücktrat, blieb lange erhalten. Obwohl Georg Jellinek die richtige Idee hatte, das Phänomen Staat sowohl unter einem juristischen wie einem soziologischen Aspekt zu betrachten, blieb es auch für ihn bei der Staatssouveränität. Er sah im Staat eine ursprüngliche Herrschermacht, der das Prädikat der Souveränität so ausschließlich zugehörte, dass er – jedenfalls in dieser Perspektive wie Laband – der Selbstverwaltung keine selbständige Qualität zubilligte, sondern die Kompetenz der Gemeinden mit einem Akt staatlicher Delegation erklärte.42 41 Otto v. Gierke, Labands Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft, [Schmollers] JGVV, NF 7 (1883), S. 1097–1195, Nachdruck Darmstadt 1961, S. 9: „Mitunter hat man den Eindruck, als werde bei der Erörterung einer prinzipiellen Frage, während scheinbar nur juristische Gründe gegeneinander abgewogen werden, doch zuletzt das politische Motiv nur verschwiegen, das in Wahrheit für die Entscheidung den Ausschlag gegeben hat.“ 42 Obwohl Georg Jellinek zugestand, dass die kommunalen Strukturen älter sind als der Staat, hat er die Kompetenz der Gemeindeautonomie auf einen Akt der staatlichen Delegation zurückgeführt. Aus älterer und neuester Erfahrung kann aber das Wiederaufleben originärer kommunaler Selbstorganisation beobachtet werden, vgl. Hans J. Nissen, Urbanismus: Historische Ursprünge einer bleibenden Struktur, in: Christoph Müller (Hg.), Gemeinde, Stadt, Staat, Baden-Baden 2005, S. 17 f. Preuß ging dagegen von der Gleichrangigkeit von Local und National Government aus und sah die Staatsaufsicht über die Gemeinden auf Rechtsaufsicht beschränkt.
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Einzig Otto v. Gierke ging mit seinem genossenschaftlichen Ansatz einen großen Schritt weiter. Er hatte von einer „Zurückverlegung des Staates in das Volk“ gesprochen.43 Unter dem Einfluss der Paulskirchenbewegung schien sein genossenschaftlicher Ansatz noch Elemente der Offenheit für demokratische Entwicklungen zu haben. Aber nach der Reichsgründung 1871 ändert sich seine Haltung. Sein Konzept wird deutlich restriktiver. Für Volkssouveränität ist auch in seinem Konzept kein Raum mehr. Deutlich missbilligte Gierke den Versuch von Hugo Preuß, aus seinem genossenschaftlichen Ansatz demokratische Konsequenzen abzuleiten,44 obwohl das eigentlich, wie Böckenförde schreibt, nahelag.45 Gierke bemühte sich nach 1871 nun darum, das Risiko zu vermeiden, dass seiner Theorie nachgesagt werden könnte, sie führe zur Volkssouveränität. Er definierte das Gemeindeparlament und sogar die Bürgerversammlungen als „Organ“.46 Dabei ist in dem verwinkelten juristischen Argument eine politische Konsequenz versteckt, von der wir vermuten dürfen, dass hier der eigentliche Grund für diese Konstruktion liegt. Juristisch definiert die herr-
43 Otto v. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, 1. Bd.: Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft (1868), Nachdruck Darmstadt 1954, S. 823. 44 Zur wachsenden Distanz zwischen Gierke und Preuß vgl. Detlef Lehnert, Verfassungsdemokratie als Bürgergenossenschaft. Politisches Denken, Öffentliches Recht und Geschichtsdeutungen bei Hugo Preuß, Baden-Baden 1998, S. 180. 45 Ernst-Wolfgang Böckenförde: Auch für das „organische Staatsdenken“ blieb „die unausweichliche demokratische Konsequenz, auf die zuerst Otto Mayer hingewiesen hat“ (Mayer, Die juristische Person und ihre Verwertbarkeit im öffentlichen Recht, in: Festgabe für Paul Laband, 1908, S. 52 f., 60 f.). Das aber „blieb dem Zeitalter ... verborgen“, so Böckenförde, Verfassungsgeschichtliche Forschung (Fn. 38), S. 95. Zwar hatte Otto v. Gierke gerade „im Gedanken der Staatspersönlichkeit die Versöhnung von Monarchie und Volkssouveränität, Herrschaft und Genossenschaft, Freiheit und Abhängigkeit verwirklicht“ geglaubt. Aber: „Die demokratische Konsequenz hat zuerst Hugo Preuß gezogen; sie war unausweichlich, weil vom Begriff der Staatspersönlichkeit her auch der Verbandscharakter des Staates gesetzt und damit als reales Substrat nur noch das Volk, nicht mehr der Herrscher, wie etwa beim Anstaltsbegriff, möglich war“, Böckenförde, a.a.O., S. 95 Fn. 110. 46 Vgl. Wolfgang Mager, Genossenschaft, Republikanismus und konsensgestütztes Ratsregiment, in: Luise Schorn-Schütte (Hg.), Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts, München 2003, S. 53 f. Mager nimmt an, dass Gierke nach der Reichsgründung „von der Gleichsetzung der Bürgerversammlung mit der Gemeinde abrückt und sie in den Kreis der kommunalen Organe aufnahm“. Damit war die Überordnung der Bürgerversammlung über den Gemeinderat beseitigt, die den Gedanken der Volkssouveränität nahegelegt hätte, so Mager ebd.
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schende Meinung: „Hinter dem Organ steht nichts.“47 Das trifft insoweit auch zu, als die Entscheidung, die ein Staatsorgan oder ein Gemeindeorgan trifft, wirksam wird. Die Konstituenten müssen die Entscheidung „ihres“ Organs juristisch gegen sich gelten lassen. Aber politisch verschwinden sie damit nicht. Abgesehen von Korrekturmöglichkeiten, die es bei Verfahrensfehlern geben kann, macht die grundrechtlich garantierte Meinungsfreiheit Kritik und Meinungskämpfe möglich. Da die Demokratie Amtsbefugnisse nur auf Zeit vergibt, können Entscheidungen revidiert werden. Die Rolle der hinter den Organen stehenden Konstituenten mag rechtlich begrenzt sein, kann aber nicht – wie in der undemokratischen, „absorptiven“ Repräsentation – gänzlich annulliert werden. Auch Beseler hatte darauf hingewiesen – ehe auch er sich dem BismarckKult 48 anschloss –, dass seit der Französischen Revolution ein neuer Staatsbegriff entstanden war und „eine Repräsentation des Volks in seiner Gesamtheit“49 eine Tendenz habe, die zur Demokratie führen könne. Die neu organisierte einheitliche Staatsgewalt mit ihrer formalen Rechtsgleichheit war nicht mehr mit den unterschiedlichen Privilegien separater Stände konfrontiert. Es bildeten sich jetzt überall – nicht nur in Frankreich – im Prinzip entscheidungsfähige „Nationalversammlungen“ und Häuser von „Abgeordneten“. Die Idee der Staatssouveränität hatte das monarchische Prinzip mit seinem Gottesgnadentum schon etwas entsakralisiert. Aber die Weiterentwicklung dieser Tendenzen wurde von der herrschenden Meinung blockiert. Hugo Preuß wollte mit Gierke über Gierke hinausgehen. Aber als es möglich wurde, dessen ehemaliges Konzept der „Zurückverlegung des Staates in das Volk“ ins Werk 47 „Die konservative Wende in Gierkes politischem Denken ist unverkennbar“, Wolfgang Mager, ebd. Der Rat repräsentierte nicht mehr das „zur politischen Einheit verbundene Volk“ (formuliert in Anlehnung an Hermann Heller, Die Souveränität. Ein Beitrag zur Theorie des Staats- und Völkerrechts, 1927, in: Schriften, Bd. 2, S. 82 und S. 94). Der Rat wurde nicht mehr von der Gesamtheit der Bürger gewählt, sondern „was formed by the more influential families“; so in Anlehnung an Hugo Preuß: William Harbutt Dawson, Municipal Life and Government in Germany (1914), Reprint New York/London 1985, S. 4. Darin liegt der politische Sinn der herrschenden, angeblich „rein“ juristischen Organ-Theorie: „Hinter dem Organ steht nichts“ (Georg Jellinek, Das System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl., Tübingen 1905, S. 30). Wenn hinter dem Organ nicht mehr die Bürger standen, sondern der Gemeinderat in den Händen von „certain families“ lag, „in hands to whom it seemed naturally to belong“ (siehe Fn. 64), so entsprach das auf der kommunalen Ebene dem, was wir heute als „absorptive” Repräsentation bezeichnen und was in der Tat mit Volkssouveränität nichts zu tun hat. 48 Vgl. Gerwarth, Bismarck-Mythos, Fn. 4. – Ohne diese ins Religiöse abgedriftete Verehrung wäre 1933 der Tag von Potsdam nicht denkbar gewesen. 49 Georg Beseler, Volksrecht und Juristenrecht, Leipzig 1831, S. 152 f.
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zu setzten, wandte Gierke sich entschieden von Preuß ab.50 Die Juristische Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität ergänzte sogar noch nach 1918, als auch für viele Nationalliberale das Scheitern der Bismarck-Verfassung evident geworden war, ihren Lehrkörper durch Gegner der Republik – und Preuß blieb bis zu seinem Tod 1925 dort Privatdozent.51 Auf die großen geschichtlichen Entwicklungen wirken nicht nur objektiv bestimmbare Faktoren ein, sondern auch eine Fülle von „kontingenten“, „zufälligen“ Ereignissen, manchmal von beflügelndem, manchmal von hinderndem Charakter. Es ist merkwürdig, wie nahe das deutsche Kaiserreich um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert unter der Wirkung der dramatischen sozial-ökonomischen Veränderungen bereits an neuen, dauerhaften Lösungen war. Die so hoffnungsvoll begonnene Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit wurde besonders in Preußen von innen gehemmt. Es fehlte wenig. Aber kleine Ursachen können große Wirkungen haben, und „unterlassene Handlungen ziehen oft einen katastrophalen Mangel an Folgen nach sich“.52
5. Parlamentssouveränität Für die Entwicklung demokratischen Denkens in Deutschland hatten die alten Ständeverfassungen, die dem territorialen Absolutismus einige Konzessionen abringen konnten, eine große Bedeutung.53 Aber die Aufteilung der Stände in mehrere Kurien beschränkte sie auf „Einfluss“ und blockierte die Möglichkeit, Entscheidungen für das ganze Land zu treffen.54 „Influence is not government!“55 Aber das heißt weder, dass das englische House of Commons vor der Glorious Revolution eine selbständige Entscheidungskompetenz gehabt hätte, noch dass Einfluss bedeutungslos ist. Aus Einfluss kann unter 50 Otto v. Gierke, Der germanische Staatsgedanke, Vortrag gehalten am 4. Mai 1919, in: Staat, Recht und Volk, H. 5, Berlin 1919. 51 Christoph Müller, Privatdozent Dr. Hugo Preuß, in: Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt Universität zu Berlin, Berlin 2010, S. 701–731. 52 Stanisław Jerzy Lec, Alle unfrisierten Gedanken, Hg. Karl Dedecius, München 1982, S. 215. 53 Karl Bosl (Hg.), Der moderne Parlamentarismus und seine Grundlagen in der ständischen Repräsentation, Berlin 1977. 54 Otto Hintze hat auf den strukturellen Unterschied zwischen dem englischen Zweikuriensystem (Oberhaus/Unterhaus) und dem kontinentalen Dreikuriensystem (Geistlichkeit/ Adel/Dritter Stand) aufmerksam gemacht; Nachweise bei Müller, Mandat (Fn. 29), S. 190, Fn. 321. 55 Vgl. Fn. 6.
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günstigen Umständen Regierung werden. Die einheitliche Vertretung des ganzen Landes in einem ungeteilten Unterhaus56 konnte leichter der „blockierten Situation“ entgehen als die kontinentalen Vertretungskörper mit unterschiedlich privilegierten Ständen, die erst unter dem Einfluss der Französischen Revolution in den neuzeitlichen Typ eines „Abgeordnetenhauses“ verwandelt wurden. Die frühe Bildung des House of Commons schon im Model Parliament von 1294 war ein Werk der normannischen Eroberer gewesen57, die in einer Zeit das Lehnswesen umbildeten, als sich Hoch- und Niederadel noch nicht, wie wenig später in Frankreich, in eine mächtige Adelskurie verwandelt hatten.58 Die englische Krone zeigte eine erstaunlich zentralisierende Kraft. Sie legte ein lückenloses Verzeichnis aller besteuerungsfähigen Grundstücke an, machte den Leiter der Grafschaft zu einem absetzbaren, besoldeten Beamten, während sich der Hochadel im House of Lords um den König scharte. Aus Kleinadel und aufstrebendem städtischem Bürgertum formte sich eine neue, nicht-feudale Klasse, die hoffähige Gentry. Im Unterhaus vertraten die Commoners gemeinsam, nicht in Kurien getrennt, das ganze Land, um – unter beträchtlichem Druck von Krone und Magnaten – den Konsens zu den verlangten Steuern zu erteilen. Der König war oberster Richter und Verwalter, die Gesetze entstanden unter Mitwirkung der Legal Lords durch Gewohnheit. Die Zwangsgenossenschaft der englischen Grafschaft hatte wenig mit der angeblichen besonderen „germanischen Freiheitsliebe“ zu tun.59 Von Demokratie war keine Rede; aber die Vertreter der englischen Grafschaften brachten Petitionen ihrer Konstituenten mit und baten – untertänigst – vor dem unvermeidlichen Zustimmungsakt, ihren Beschwerden abzuhelfen. Ganz ähnlich verfuhren in Frankreich die Abgeordneten der Generalstände, wobei besonders die detailliert ausgearbeiteten Beschwerdeschriften – cahiers de doléance – des Dritten Standes die Grundlage königlicher Edikte werden 56 Otto Hintze, Typologie der ständischen Verfassung des Abendlandes, in: Gesammelte Abhandlungen (1962), Bd. 1: Staat und Verfassung, 3. Aufl. Göttingen 1970, S. 124. 57 Über den normannischen Frühabsolutismus, unter dem sich Adel und Geistlichkeit noch nicht zu abgeschlossenen, mächtigen Kasten entwickeln konnten. vgl. Preuß, Eine Biographie des englischen Parlaments, in: Schriften, Bd. 1, S. 101. 58 Vgl. Müller, Mandat (Fn. 29), S. 173, Fn. 235. 59 „Die nationalromantischen Behauptungen über das Germanentum“ sind inzwischen „dekonstruiert und als Schreibtischprodukte deutscher Professoren enthüllt“, Michael Stolleis, Georg Jellineks Beitrag zur Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte, in: Stanley L. Paulson und Martin Schulte (Hg.), Georg Jellinek – Beiträge zu Leben und Werk, Tübingen 2000, S. 109. Preuß rückt auch an diesem Punkt von Gierke ab, vgl. Preuß, Obrigkeitsstaat und großdeutscher Gedanke, in: Schriften, Bd. 1, S. 558 f.
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konnten.60 Als king in parliament fühlte sich der englische König durch sein Unterhaus nicht in seiner Macht beschränkt; im Gegenteil, es war eine große organisatorische Leistung, die Vertreter aller Grafschaften und Städte61 an einen zentralen Ort des Königreichs zusammenzurufen und so eine Form der Zusammenarbeit mit dem ganzen Land zu organisieren.62 Die Commoners konnten noch nicht regieren, aber sie erlangten immerhin Einfluss. Die einheitliche Vertretung der Gentry, auch wenn sie noch lange von König und Magnaten dominiert war, hatte bereits eine organisatorische Struktur, die das Mehrheitsprinzip anwendbar machte. In den französischen Generalständen dagegen musste jede Kurie für sich abstimmen, was das Mehrheitsprinzip blockierte.63 Langfristig wurde denkbar, dass das Unterhaus durch Mehrheitsentscheidung eine Regierung einsetzen und die monarchische Spitze unter Umständen entbehren und vielleicht sogar abstoßen konnte (Otto 60 Vgl. Peter Blickle, Einleitung in: Blickle (Hg.), Gemeinde und Staat im Alten Europa, München 1998, S. 13, und passim; Beat Hodler, Doléances, Requêtes und Ordonnances, in: ebd., S. 23–67. 61 Die englische Krone, die sich vom king in council zum king in parliament weiterentwickelt hatte, galt geradezu als Inhaberin der Souveränität; Albert Venn Dicey, The Law of the Constitution, 8. Aufl. London 1915, S. 37 ff. Zur Kritik Harold Laski, The Foundations of Sovereignty and Other Essays, London 1931, S. 236. Das englische Parlament galt „noch im Tudor-Absolutismus als Mittel der höchsten Kraftentfaltung der Krone“, Müller, Mandat (Fn. 29), S. 191. Aber es war den normannischen Eroberern nur gelungen, eine zentrale Organisation für das altenglische Gebiet zu schaffen, das sich durch connubium und commercium immer fester integrierte. In Schottland, Wales und Irland mussten sie, wie die französischen Könige, separate Verhandlungen über die Besteuerung führen. 62 Dieses Bewusstsein einer wirklichen Bedeutung des Parlaments, auch schon in vordemokratischen Zeiten, kommt in einem Gedicht aus dem frühen 15. Jahrhundert zum Ausdruck, in dem es heißt: „Denn die Ursache allen Unheils und aller Mißherrschaft, die im Königreich wächst, ist all die vielen Jahre hindurch Schweigen (Mum) gewesen ... Wenn Ritter für die Gemeinden zum Parlament zusammengekommen sind, dann sind sie versammelt, um die Schäden des Königreichs aufzuzeigen und sollen sich nicht scheuen, offen zu sprechen, auch wenn das für sie böse Folgen hätte. Sie sollen die Geschwüre und Abszesse im Innern aufschneiden und den Groll heftig auf einmal hinausfließen lassen, damit der Herd nicht innen weiterschwärt. Ich weiß, dass sie besser heilen, wenn Ärger und Bitterkeit ganz herausgelaufen sind. Denn es wäre besser, aufzubrechen, wo es Abhilfe gibt, als sich gegen die Königsherrschaft zu empören und das Königreich in Wirren zu stürzen“, Mum and the Sothegger, Hg. Mabel Day und Robert Street, London 1936, Fragment M, Zeilen 1115–1140. 63 Bodin über „les Républiques composés de trois ordres, à savoir de l’ordre Ecclesiastique, de la Noblesse, & du peuple, les deux ne peuvent rien faire au preiudice du tiers“; Bodin, Les six Livres de la République (Fn. 15), S. 485 (l. III, ch. VII).
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Hintze). Aber auch als die Macht des Unterhauses – etwa in der Zeit der Französischen Revolution – bedeutend gewachsen war, konnte in England schon von Parlamentssouveränität, aber noch nicht von Volkssouveränität gesprochen werden. Edmund Burke, auf den sich Carl Schmitt für seine Theorie der Repräsentation beruft, definierte ihr „Wesen“ mit der „habitual reverence and admiration of certain families“; das Volk sei zufrieden „to see government wholly in hands to whom it seemed naturally to belong“.64 Das kann als klassische Definition der „absorptiven“ Repräsentation betrachtet werden, bei der die Konstituenten hinter den Repräsentanten völlig verschwinden. Hinter einem solchen Organ stand wirklich nichts. Auch die englische Parlamentssouveränität war zunächst noch eine Art der Fürstensouveränität, mit Prärogativen der Krone. Das schloss aber nicht aus, dass bereits eine Rule of Law entstand, die Herrscher wie Beherrschte verpflichtete, gegen die sich aber das „monarchische Prinzip“ in Preußen bis zu seinem Zusammenbruch sperrte. Während auch Preuß anfangs auf der falschen Spur von Gierke von einer „altgermanischen Freiheitsliebe“ sprach, sah er richtig, dass es in England nicht zur Abspaltung eines „öffentlichen Rechts“ vom „Privatrecht“ kam, wie seit der Rezeption des römischen Rechts auf dem europäischen Kontinent, mit der sich Regierung und Verwaltung für lange Zeit dem gerichtlichen Rechtsschutz entziehen konnten. Wenn die Stuarts in der Zeit der Religionskonflikte versuchten, sich über das Recht zu stellen, so wird mit der „Revolution von 1688 ... die Herrschaft des Rechts, dem auch der König untertan ist, endgültig wiederhergestellt“.65 Allerdings nahm im Zeitalter der Industrialisierung auch in England die Verwaltungstätigkeit zu. Das hat die Rule of Law beträchtlich umgebildet und die idealisierende Darstellung von Dicey einer Kritik unterworfen. 66 64 Edmund Burke, A Letter to Sir Hercules Langrishe, in: Writings and Speeches, 12 Bde., IV (1899), S. 293. 65 William Ebenstein, Die Rule of Law im Licht der Reinen Rechtslehre, in: Rudolf Aladár Métall (Hg.) 33 Beiträge zur Reinen Rechtslehre, Wien 1974, S. 69. „In England geht ... die Doktrin von der gleicherweise Herrscher wie Beherrschte verpflichtenden Rechtsordnung in einer fast ungebrochenen Linie vom Mittelalter bis zum heutigen Tag“. Ebenstein zitiert Henry de Bracton (1210–1268), demzufolge der König zwar keinem Menschen, sondern nur Gott und dem Gesetz untergeordnet ist, da es das Gesetz ist, das den König macht: „Ipse autem rex non debet esse sub homine sed sub deo et sub lege, quia lex facit regem“, Ebenstein, ebd. 66 Die sozialökonomischen Veränderungen im Zeitalter der Industrialisierung ließen die ehrwürdige Rule of Law nicht unberührt. 1920 überragten in England die von Verwaltungsbehörden im Wege der „delegated legislation“ erlassenen Gesetze die parlamentarische Gesetzgebung schon um ein Zehnfaches, Ebenstein, a.a.O., S. 63. Das führte zu einer Kritik an der alten Vorstellung vom Judicial Process. Vgl. dazu Harold Laski, So-
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Es kam auch hier zu einer immer mehr anwachsenden Gesetzgebung von Verwaltungsbehörden in der neuartigen Form von delegated legislation. Aber wenn auch die Verwaltung immer mehr zum Erlass von Gesetzen ermächtigt wurde, blieb es in England doch bei der alten Grundanschauung, dass die Verwaltung eine „Rechtsfunktion“ darstellt. Kelsen hat in seinem groß angelegten Werk die Rechtsfunktion der Verwaltung theoretisch geklärt. Aber er geht so weit, Staat und Recht geradezu zu identifizieren: „Als politische Organisation ist der Staat eine Rechtsordnung“.67 Das führt schließlich zur Frage, ob das Konzept einer Supremacy of Parliament im Sinne der Rule of Law als Souveränität des Rechts gedeutet werden kann, statt sie, wie Preuß vorschlug, als Kategorie des öffentlichen Rechts überhaupt zu eliminieren.
6. Rechtssouveränität Zur Erörterung dieser Frage beschränke ich mich hier auf zwei Aspekte: Woher bezieht die Staatsrechtswissenschaft ihre Begriffe, wenn sie nicht willkürliche Denkvoraussetzungen – a priori – einführen will; und wie ist Kelsens Gleichsetzung des Staates mit der Rechtsordnung zu bewerten. Der Kampf von Hugo Preuß um Vertiefung und Erweiterung des Rechtsstaats entspricht weitgehend dem englischen Verständnis der Rule of Law und damit auch wichtigen Grundpositionen der Reinen Rechtslehre. 68 vereignty (Fn. 61), S. 117–126. Dicey, der große Vertreter der englischen Parlamentssouveränität, musste schließlich zugestehen, das er sein früheres Konzept von der Überlegenheit der englischen Rule of Law jedenfalls gegenüber der französischen Judikatur des Conseil d’État revidieren musste (Einleitung in der 8. Aufl.). Aber Ebenstein warnte vor Übertreibungen der Kritik: „Alles das rüttelt aber nicht an der rechtstheoretischen Bedeutsamkeit seiner Rule of Law als Grundsatz der Rechtmäßigkeit der Verwaltung“, Ebenstein, a.a.O., S. 73. Hinter diesem Konzept blieben Rechtsstaat und Verwaltungsgerichtsbarkeit im Sinne von Rudolf v. Gneist weit zurück. Dem englischen Konzept entsprach aber die Konzeption von Otto Bähr, Der Rechtsstaat. Eine publizistische Studie, Kassel 1864 – im Geist der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848. Vgl. Christoph Schönberger, Rudolf von Gneist (1816–1895). Die altenglische Verwaltung als Vorbild für den preußischen Rechtsstaat, in: Festschrift (Fn. 51), S. 258 f. 67 Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 19), S. 289–293. 68 Als erster hat Ähnlichkeiten zwischen Hugo Preuß und Hans Kelsen festgestellt: Detlef Lehnert, Hugo Preuß als moderner Klassiker einer kritischen Theorie der „verfassten“ Politik. Vom Souveränitätsproblem zum demokratischen Pluralismus, in: Politische Vierteljahresschrift 33 (1992), S. 33–54 (48 f.) sowie ders., Verfassungsdemokratie (Fn. 46), S. 332–339, und passim. Vgl. dazu auch Stanley L. Paulson, Hugo Preuß und Hans
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Auch für ihn ist die öffentliche Verwaltung eine Rechtsfunktion. Seine Option für den Rechtsstaat konnte, ohne auf Naturrechtsspekulationen einzugehen, als Ergebnis einer langen Kulturentwicklung betrachtet werden.69 In den bürgerlichen Revolutionen in England, den USA und in Frankreich entsprach es einem allgemeinen Interesse, auch Regierung und Verwaltung dem Vorbehalt des Gesetze und der Verfassung zu unterwerfen. Aber daraus musste für Deutschland ein konsistentes Konzept erst noch geschmiedet werden. Preuß beantwortet diese Frage, woher die Rechtswissenschaft ihre Grundbegriffe bezieht, mit dem nicht besonders klaren Begriff einer „organischen“ Entwicklung. Als Schüler Gierkes gehörte er zunächst zur „Historischen Rechtsschule“, als deren Haupt der Romanist Friedrich Karl Savigny gilt, die sich mit diesem Zauberwort einen Zugang zu den Problemen der Rechtswissenschaft verschaffen wollte. Neben der „romanistischen“ und „germanistischen“ Prägung des Konzepts einer „organischen Entwicklung“ gab es allerdings auch einen neuartigen naturwissenschaftlichen Entwicklungsbegriff. Wenn Preuß die Vorstellungen der Genossenschaftstheorie gelegentlich als „Darwinismus“ der Rechtswissenschaft bezeichnet,70 so kommt darin eher, eigenwillig, der neue naturwissenschaftliche Akzent von „Entwicklung“ zum Ausdruck. Savigny dagegen versteht die „organische Entwicklung des Kelsen – überraschende Parallelen, in: Müller (Hg.), Gemeinde (Fn. 32), S. 65–83. – Preuß könnte bei seinen Vorträgen in Wien Kelsen persönlich kennengelernt haben, geht aber in seinen Schriften nicht auf ihn ein, wohl weil er an dem – eher mit Jellinek verwandtem, aber methodisch bereinigten – Konzept einer empirischen Staatswissenschaft festhält. 69 Über die „Ungeheuerlichkeit des Widerspruchs ... zwischen den ideellen und materiellen Lebensbedingungen aller moderner Kultur ..., der plötzlichen und gehässigen Zerreißung allmählich entwickelter und liebevoll gepflegter geistiger Gemeinschaft und Verständigung“ im ersten Weltkrieg, vgl. Preuß, Das deutsche Volk und die Politik, in: Schriften, Bd. 1, S. 386, und passim. 70 Schon in Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, Berlin 1889, S. 234: „So ist die Genossenschaftstheorie nichts andres, als der Darwinismus der Jurisprudenz“; vgl. dazu Dian Schefold, Einleitung in Preuß, Schriften, Bd. 2, S. 13. – Allerdings bedeutet das bei Preuß nicht „Sozialdarwinismus“ im Sinne von Herbert Spencer, dem auch Darwin im Alter widersprochen hat, weil er die moralischen Fähigkeiten des Menschen für wichtiger hielt als die natürliche Auslese, vgl. dazu Erl. in: Preuß, Schriften, Bd. 1, S. 748. Preuß löst sich von Savigny, weil er nicht, um mit Marx zu sprechen, „die Niederträchtigkeiten von heute durch die Niederträchtigkeiten von gestern“ rechtfertigte, vgl. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1843), in Marx/Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1974, S. 380. Vgl. Heinz Wagner, Politische Pandektistik, Berlin 1985, S. 124. Bei seinem Konzept von Entwicklung denkt Preuß eher an sozialökonomische Stufen in einer gewissen Verwandtschaft mit dem Historischen Materialismus.
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Volksgeistes“ im „romantischen“ Sinn. Zwar liegt seinem Rechtsverständnis ebenfalls ein realer Vorgang zugrunde. Savigny war ein genialer Interpret des sog. Gemeinen Rechts, wie es sich in einem langen Prozess der Rezeption des Römischen Rechts zum Pandektenrecht entwickelt hatte. Aber sein Rechtsverständnis entsprach nicht einem Gewohnheitsrecht nach den Standards „positiver“ Rechtserzeugung. Auch hielt Savigny eine parlamentarische Gesetzgebung jedenfalls in seiner Zeit für überflüssig, während Preuß die gesetzliche Ausweitung des Rechtsstaats – besonders in der Sphäre des öffentlichen Rechts – für vordringlich hielt. Gewohnheitsrecht vs. Volksgeist. Der Typus der „gewohnheitsrechtlichen“ Rechtsbildung ist nicht identisch mit dem romantischen Verständnis der „Historischen Schule“ von „Entwicklung“ und „Volksgeist“. Auch die gewohnheitsrechtliche Rechtserzeugung ist ein Unterfall des positiven Rechts71, sofern in ihr ein Setzungsakt enthalten ist und das Faktum der Gewohnheit mit der Voraussetzung verbunden ist, diese Gewohnheit als rechtlich gesollt zu betrachten. In diesem Fall trägt die Gewohnheit einen „konstitutiven“ Charakter, der dem Positivierungsakt des Gesetzesrechts entspricht. Bei Savigny dagegen kommt das „Romantische“ darin zum Ausdruck, dass er der Gewohnheit nur einen „deklaratorischen“ Charakter zuspricht und sie kurzerhand mit dem „Volksgeist“ identifiziert.72 In England schloss im übrigen die gewohnheitsrechtliche Bildung des „positiven“ Common Law in keiner Weise aus, dass sich das Parlament – etwa in der Zeit der Industrialisierung – mit den katastrophalen Zuständen im Fabriksystem befasste, Fabrikinspektoren einsetzte und sie mit der Untersuchung beauftragte und das Parlament Fabrikgesetze erließ.73 Um alle die gravierenden sozialen Folgen solcher sozialökonomischer Faktoren der historischen Entwicklung kümmerte sich die „Historische Schule“ mit Savigny und Windscheid nicht. Ähnlich wie Laband und Gierke ihre politischen Motive eher verdeckten, als sie offen zu deklarieren, verblieb auch die „Historische Schule“ mit ihrer geschönten Darstellung der historischen Entwicklung nicht im rein juristischen Stande der Unschuld.74
71 Nachweise Fn. 20. 72 „Damit kommt nur die von der deutschen historischen Schule vertretene Theorie zum Ausdruck, daß das Recht weder durch Gesetzgebung noch durch Gewohnheit, sondern nur durch den Volksgeist erzeugt“ wird, Hans Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 19), S. 233. 73 Aus diesen staatlichen Untersuchungsberichten haben Karl Marx und Friedrich Engels viel Material für ihre Theorie geschöpft. 74 Zu den politischen Implikationen der Historischen Rechtsschule: Wagner, Politische Pandektistik (Fn. 70), S. 121–131.
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Rechtsgenese. Georg Jellinek hatte in seiner Allgemeinen Staatslehre die empirisch-sozialwissenschaftliche Analyse von der normativen Interpretation gesetzlicher Normen durchaus unterschieden, aber Rechtsgenese und Rechtsgeltung, Rechtsform und Rechtsinhalt nicht deutlich genug differenziert. Preuß geht von dem Gegensatz der Kategorien von Genese und Geltung aus. Was die Genese angeht, so ist er empirischer als Jellinek.75 Er studierte die Geschichte der Stadtentwicklung, beobachtete die gewaltige Ausdehnung der Verwaltungstätigkeit im Zeichen der Industrialisierung, involvierte sich praktisch als Kommunalpolitiker in den aus England kommenden „Munizipalsozialismus“ und kämpfte als Stadtverordneter und später als Stadtrat um die Entwicklung eines ganz neuen Tätigkeitsprofils der Kommunalpolitik. Es entsprach nicht seiner praktischen Erfahrung, dass die Gemeinde nur im Wege delegierter Aufgaben- und Kompetenzzuweisung tätig wurde. Die zentrale Politikebene war den lokalen Problemen nicht gewachsen. Auf der lokalen Politikebene mussten deshalb die realen Probleme in „Selbstorganisation“ gelöst werden. Es war die Überforderung der zentralen Staatsverwaltung, die Dezentralisation verlangte.76 Dabei sind die beobachteten sozialen Fakten für Preuß nur Anknüpfungspunkte der Rechtsgenese, von denen sich die in Geltung gesetzten Normen ablösen. Aber wenn der überforderte zentrale Staatsapparat es den Gemeinden überlassen muss, selbst für die Lösung der lokalen Probleme zu sorgen, die für die zentrale Staatsinstanz zu komplex geworden sind, so ist das keine verfassungsrechtliche „Delegation“.77 75 Jellinek räumt ein, dass die Gemeinde älter ist, als der Staat, schließt aber aus seinem Staatsbegriff: „Ihre Ausstattung mit Herrschaftsrechten ist jedoch ursprünglich vom Staat erfolgt“, Jellinek, Allgemeine Staatslehre (1900), 3. Aufl. 1928, Nachdruck 1959, S. 644. 76 Das war auch der Kern der Kritik von Laski am überkommenen Begriff der Souveränität: Weil der Staatsapparat mit seinem Anspruch auf Allein- und Letztentscheidung faktisch überfordert war, wurde Dezentralisierung unumgänglich: „administratively, therefore, we need decentralization“, vgl. Laski, Sovereignty (Fn. 61), S. 242. 77 Im Begriff der „staatlichen Daseinsvorsorge“ wird der große politische Anteil der kommunalen Selbstorganisation ausgeblendet und die Gemeinde als unterste Instanz der Staatsverwaltung betrachtet, weil Forsthoff an die Theorie von Lorenz v. Stein anknüpft, der Regierung scharf von Verwaltung getrennt hat; vgl. dazu Ernst Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, Tübingen 1931, S. 95 f. Es ist wohl auch dem Einfluss Lorenz v. Steins zuzuschreiben, dass Rudolf v. Gneist den anfangs verwendeten englischen Begriff Local Government aufgegeben hat und auf das Konzept von Selbstverwaltung übergegangen ist, vgl. dazu Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert (1950), 2. Aufl. Stuttgart 1969, S. 731–759. Forsthoff kritisiert Heffter, der den inneren Zusammenhang von Selbstverwaltung und parlamentarischer Demokratie im Sinne von Hugo Preuß rühmt (Heffter, a.a.S. 746 f.),
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Rechtsgeltung. Was nun aber die Geltung der Gesetze – auf der Ebene von Reich, Land oder Gemeinde – angeht, so liegt zwar jedem Normierungsakt ein politischer Konflikt zugrunde. Aber sobald die Entscheidung getroffen und eine Norm „erzeugt“ ist, gewinnt sie in ihrer formalisierten Gestalt ein Eigenleben.78 Jetzt verlieren die historischen, ökonomischen, ethischen Motive ihre Bedeutung, weil die in Geltung gesetzten, positivierten Normen nun nach den juridischen „Regeln der Kunst“ interpretiert werden. Preuß war kein „Neukantianer“; er begründete nicht, wie Kelsen, den Unterschied von Sein und Sollen mit der Philosophie Kants. Aber auch er unterschied diese beiden Kategorien deutlich. Schon Aristoteles hatte es als einen Fehler bezeichnet, Kategorien zu vertauschen. Die Metábasis eis allo génos war ein Denkfehler. Kelsen könnte es nicht beanstanden, wenn Preuß in dieser Weise die Rechtsform vom Rechtsinhalt methodisch unterscheidet, sich aber mit beiden befasst. Auch Kelsen hat auf beiden Gebieten gearbeitet. Preuß hat etwas von der Idee der historischen Entwicklung des Rechts aufgegriffen; aber er ist kein Anhänger der „Historischen Schule“ geworden, in dem Sinne, dass er die parlamentarische Gesetzgebung der „Volkslegislative“79 durch den „Volksgeist“ ersetzen will oder den „Volksgeist“ mit dem Gewohnheitsrecht verwechselt. Er geht von der „Gleichartigkeit und Gleichwertigkeit von Gesetzes- und Gewohnheitsrecht“ aus80, weil in beiden Fällen in gleicher Weise ein „Urteil“ über den „Rechtswert“ vorausgesetzt werden muss. Das ist nicht die Sprache Kelsens, aber entspricht der Lehre vom Gewohnheitsrecht. Deshalb muss Preuß als ein „Gesetzespositivist“ betrachtet werden, der auf der Einhaltung der geltenden Rechtsordnung bevgl. Forsthoff, Buchbesprchung von Heffter, in: Deutsches Verwaltungsblatt 66 (1951), S. 157. Noch nach den Zusammenbrüchen in zwei Weltkriegen ist für ihn dieser innere Zusammenhang des kommunalen Bereichs mit dem des Parlamentarismus, den Preuß und Heffter im englischen Local und National Government verwirklicht sehen, ein „ideologisches Schema“, demgegenüber die konservativen Ideologien für ihn Ausdruck „wissenschaftlicher Objektivität“ sind. Zu diesen Kontroversen siehe namentlich Ewald Grothe, Zwischen Geschichte und Recht. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900–1970, München 2005, S. 364 f. 78 Preuß, Zur Methode juristischer Begriffskonstruktion, in: Schriften, Bd. 2, S. 121–124; 127–130; ders., Über Organpersönlichkeit. Eine begriffskritische Studie, in: Schriften, Bd. 2, S. 142; ders., Stellvertretung oder Organschaft, in: Schriften, Bd. 2, S. 166 f.; ders. Hugo Krabbe. Die Lehre von der Rechtssouveränität, in: Schriften, Bd. 2, S. 232; ders. Selbstverwaltung, Gemeinde, Staat, Souveränität, in: Schriften, Bd. 2, S. 237–239. 79 Diesen Begriff hat, in der Linie des Denkens von Hugo Preuß, Hermann Heller geprägt, vgl. Heller, Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung (1927). In: Schriften, Bd. 2, S. 241, und passim. 80 Preuß, Hugo Krabbe (Fn. 78), in: Schriften, Bd. 2, S. 235.
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steht.81 Wenn sich Preuß für die juristische Konstruktion des Zauberwortes „organisch“ bedient, so lehnte er alle Mystifizierung ab, spielt es nicht gegen das geltende Recht aus und ersetzt es zunehmend durch den nüchternen Begriff der „Organisation“.82 Das führt zu dem zweiten Aspekt – zur Frage von Kelsens Identifikation von Staat und Recht, die ihn zur Vorstellung einer „Souveränität des Rechts“ führt. Kelsen macht keinen Unterschied zwischen „Ordnung“ und „Organisation“.83 Aber eine Rechtsordnung, die in einer Organisation gilt und einen normativen, rechtlichen Rahmen zieht, unterscheidet sich beträchtlich von der gestaltenden Tätigkeit, die innerhalb dieses Rahmens stattfindet. Jeder Verein hat eine Satzung oder ein Statut. Regeln müssen eingehalten werden. Eine empirische Organisationssoziologie kommt nicht umhin, sich auch mit meta-rechtlichen Fragen zu beschäftigen. Dazu gehören u.a. Fragen der Aufbau- und Ablauforganisation, die konkreten Formen der Arbeitsteilung, die Art der Kontrollfunktionen, der Stil des Managements, 81 Gneist war liberal genug, um ein „Justizgesetz“ gegen die Sozialdemokratie für unmöglich zu erklären, weil sich ein juridischer Tatbestand der Gemeingefährlichkeit nicht formulieren lasse. Aber er ließ eine Kompetenz der Polizei auf allgemeine, normativ nicht präzisierte Gefahrenvorsorge zu. Vgl. Albrecht Funk, Polizei und Rechtsstaat. Die Entwicklung des staatlichen Gewaltmonopols in Preußen 1848–1914, Frankfurt a.M. 1986, S. 149–153. Gerhard Anschütz näherte sich dem strengen Rechtstaatsdenken von Preuß, der die Einhaltung der positiven Rechtsordnung forderte, wobei Preuß auch Anschütz noch Anpassungen an herrschende Meinungen vorhielt, die nach dem geltenden Rechts unhaltbar waren, vgl. Preuß, Rezensionsabhandlung, in: Schriften, Bd. 2, S. 570–577. 82 Preuß, Selbstverwaltung, Gemeinde, Staat, Souveränität, in: Schriften, Bd. 2, S. 240, und passim. Zu den beträchtlichen Entwicklungen im Rechtsdenken von Hugo Preuß namentlich Dian Schefold, Einleitung, in: Preuß, Schriften, Bd. 2, S. 5–7, und passim. 83 Für Kelsen ist Organisation nur ein Fremdwort für Ordnung; vgl. dazu Hans Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff (1922), 2. Aufl. 1928, S. 169 f.: „Und darum ist der Staat nicht das Volk, sondern die rechtliche Organisation des Volkes, wobei dann schon die Zufügung des Genitivs ‚des Volkes‘ überflüssig ist, denn er bezeichnet nurmehr den selbstverständlichen Inhalt der Rechtsorganisation; und diese ist wiederum nur ein Fremdwort für Rechtsordnung“. Kelsen wollte in seiner Auseinandersetzung mit Max Weber auch die „Staatssoziologie als Rechtslehre“ betrachten. Zu dieser missglückten Inanspruchnahme der verstehenden Soziologie Max Webers für die Reine Rechtslehre vgl. Wolfgang Schluchter, Entscheidung für den Sozialen Rechtsstaat. Hermann Heller und die staatstheoretische Diskussion in der Weimarer Republik, Köln 1968, S. 183; Kritisch zu Kelsen, aber auch mit Vorbehalt gegenüber Schluchter vgl. Christoph Müller, Hans Kelsens Staatslehre und die marxistische Staatstheorie in organisationssoziologischer Sicht, in: Reine Rechtslehre und marxistische Rechtstheorie, Wien 1978, S. 182–194.
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der Grad der Professionalisierung und Hierarchisierung, die Gestaltung des Informationsflusses, der Verhinderung von Leerlauf und Blockaden, der Grad des Vertrauens, der Kooperation, der Motivation und der Identifikation mit den Organisationszielen u.v.a.m. Regierung und Verwaltung können rechtlichen Rahmenbedingungen unterworfen werden, aber die Tätigkeiten von Leitung und Verwaltung erschöpfen sich nicht in den normativen Rahmenbedingungen, sondern sind nach ihrer Substanz produktive, kreative „Gestaltung“. Solche Rahmenbedingungen strukturieren und beeinflussen die Tätigkeiten. Aber Einfluss ist nicht Regierung.84 Der rechtliche Rahmen muss eingehalten, von handelnden Menschen jedoch auch ausgefüllt werden; sie lassen so viel offen, dass es unmöglich ist, dem Recht die Tätigkeits- und Handlungsform der Souveränität selbst zuzusprechen.
7. Volkssouveränität Es müssen gravierende gesellschaftliche Probleme vorliegen, wenn – unter tiefgreifendem Wandel sozialökonomischer und kultureller Rahmenbedingungen – immer wieder nach dem Begriff einer Autorität gesucht worden ist, von der aus gesellschaftliche Konflikte gelöst werden sollen, die sich nicht mehr, wie in einer traditionalen Gesellschaft, fast von selbst regulieren. Von einer bestimmten Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung an waren und sind bewusste Interventionen in das gesellschaftliche Gefüge erforderlich. Aber wegen seiner wechselvollen Geschichte wurde der Begriff der Souveränität als belastend empfunden.85 Die Kritik von Hugo Preuß an ihrer absolutistischen Ausprägung entsprach durchaus den moralischen Vorbehalten von Harold J. Laski, der sich gegen das in England überkommene Konzept der Parlamentssouveränität gewandt hatte. Die gesellschaftlichen Strukturen hatten sich im Zeitalter der Industrialisierung immer weiter differenziert. An die Stelle des vereinfachten Schemas vom Klassenkampf zwischen zwei Antagonisten war der Pluralismus einer Vielzahl von Akteuren getreten. Dabei hatte sich eine paradoxe Situation entwickelt: Der Staat war immer stärker geworden, seine administrativen Strukturen wurden immer weiter ausgebaut; aber das ehrwürdige Konzept der Parlamentssouveränität bildete die realen sozia-
84 Vgl. Fn. 6. 85 Das räumt auch Hinsley, Sovereignty (Fn. 17), S. 219, ein.
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len Strukturen nicht mehr richtig ab.86 Diese widerspruchsvolle Mischung von power und impotence führte Laski zur Forderung nach stärkerer Dezentralisierung des politischen Systems. Aber das diente dem Ziel, es dadurch zu stärken.87 Hinsley schließt aus der Kritik von Laski am Konzept der Souveränität keineswegs, dass es verworfen werden könnte. Es musste vielmehr umgebildet werden, um es zur Lösung der neuen Probleme zu nutzen: „The concept of sovereignty ... may properly be used to explain – let alone to justify – whatever the state or the political society does or may choose to do. It is a principle which maintains no more than that there must be a supreme authority within in the political community if the community is to exist at all, or at least if it is to be able to act as its character and circumstances require it to do.“88
In seiner Funktion für das politische System blieb das Konzept der Souveränität unverzichtbar. Die Organisation Staat konnte ihres früheren sakralen Charakters entkleidet werden, aber es blieb für das politische System unerlässlich, die anfallenden Konflikte in letzter Instanz zu entscheiden.89 Bei Hugo Preuß heißt es: „Der Staat ist die politische Organisation des Volkes“.90 Der staatlichen Ebene des politischen Systems kam auch bei Preuß eine besondere Bedeutung zu. Aber auf der kommunalen Ebene unterhalb des National Government, der Ebene des Local Government, wie auf den Politikebenen, die den Nationalstaat überschritten, bei internationalen Organisationen und im Völkerrecht, ging es für ihn immer um das gleiche Thema: Gerade das politische System einer demokratischen Gesellschaft muss den Anspruch erheben, nicht ein bloßer Überbau über sozialökonomischen Strukturen zu sein, sondern bei Konflikten aktiv auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zurückzuwirken und in sie einzugreifen.91 86 „At exactly that stage when the efficiency and the function of the community and the state had expanded to the highest point, in all their history, these organizations have recently become powerless in the central function to protecting their inhabitants“; Hinsley, Sovereignty (Fn. 17), S. 221. 87 „Administratively, therefore, we need decentralization“; Laski, Sovereignty (Fn. 61), S. 242. 88 Hinsley, Sovereignty (Fn. 17), S. 219. 89 Vgl. Hermann Heller, Die Souveränität (1927), in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. Tübingen 1992, S. 199–202. 90 Preuß, Vom Obrigkeitsstaat zum Volksstaat, in: Schriften, Bd. 4, S. 263, und passim. 91 Hierin lag der wahre Kern der Kritik von Gneist an dem Konzept von Preuß, den Begriff der Souveränität zu eliminieren (siehe oben Fn. 2), nur dass Gneist in den Kategorien Lorenz v. Steins dabei an die Neutralität des sozialen Königtums dachte, und die Kategorie der Volkssouveränität um jeden Preis vermeiden wollte.
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In der Demokratie geht die Staatsgewalt vom Volke aus; das führt zu der Frage, ob die Demokratie auch das aufgelöste Rätsel der Souveränität ist.92 Das würde voraussetzen, dass bei der Lösung aufkommender Konflikte das politische System der Volksherrschaft auf allen Ebenen – in verfassungsrechtlich geordneten Formen – auch wirklich vom Volk ausgeht. Dieses theoretische Postulat führt zur praktischen Frage, ob es möglich ist, die notwendigen Interventionen des politischen Systems – auf ihren verschiedenen Ebenen – in demokratischen Formen zu organisieren und so das Volk fähig zu machen, sich selbst zu regieren. Dieses Thema sprengt den Rahmen dieser Zeilen. Ich beschränke mich hier auf einige wenige Hinweise aus der Sicht von Hugo Preuß. Volkssouveränität kann organisiert werden. Natürlich ist es für eine fundamentalistische Buchstabengläubigkeit absurd, der Masse der unorganisierten Staatsbürger zuzutrauen, sich selbst zu regieren bzw. der Gesamtheit der Gemeindebürger, ihre Angelegenheiten selbst zu verwalten.93 Anders sieht es nur aus, wenn Techniken der repräsentativen Demokratie genutzt werden und verfassungsmäßig vorgesehene Organe Funktionen in Vertretung des Volkes ausüben. Für Preuß kam zur Realisierung der Volkssouveränität – oder besser: zur Annäherung an dieses immer unerreichbar bleibende Ziel – nur die repräsentative Demokratie in Betracht. Im Gegensatz zur Staatssouveränität – die allerdings durchaus die organisatorische Problemhöhe deutlich machte – musste diese Repräsentation in einem Fluidum von öffentlicher Anteilnahme und Meinungsbildung stattfinden.94 Die Repräsentation des Volkes musste so organisiert werden, dass es nicht zu einer „absorptiven“ Repräsentation kam.95 Das setzte u.a. die „freie Selbstorganisation des Volkes auf dem Verfassungsboden der Rechtsgleichheit in Parteien“ voraus.96 92 Anspielung an die Formulierung des jungen – demokratischen – Marx: „die Demokratie ist das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen“, Marx, Rechtsphilosophie (Fn. 70), in: Marx/Engels, Werke, Bd. 1, S. 231. 93 Paul Laband spielte dieses naive Missverständnis geschickt aus, um – scheinbar zwingend – zu begründen, dass der beschränkte Konstitutionalismus seiner Zeit sich mit dem Prinzip der Volkssouveränität nicht verträgt, Laband, Rezension von Pierre Dandurand, Le mandat impératif, in: Archiv des öffentlichen Rechts 12 (1897), S. 280; vgl. Müller, Mandat (Fn. 29), S. 31–34. 94 Die innere Umgestaltung 1919 „wäre nur möglich gewesen, wenn sie sich mit revolutionärer Energie, getragen von einem mächtigen Strom der öffentlichen Meinung, durchgesetzt hätte“; Preuß, Um die Reichsverfassung von Weimar, in: Schriften, Bd. 4, S. 380, und passim. 95 Siehe oben Fn. 64. 96 Preuß, Die Bedeutung der demokratischen Republik für den sozialen Gedanken, in: Schriften, Bd. 4, S. 287, und passim. Vgl. dazu Andreas Voßkuhle, Hugo Preuß als
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Volkssouveränität verlangt einen gut organisierten Staat. Sie bedient sich der rechtsstaatlichen Formen des Verfassungsstaats. Dabei mussten sowohl Vorteile von Zentralisierung und von Dezentralisierung genutzt werden. Demokratische Zentralisierung kommt im „Stufenbau“ des Rechts zum Ausdruck, der von völkerrechtlichen und internationalen Normen und der eigenstaatlichen Verfassung über die formellen Parlamentsgesetze bis zu den ausfüllenden Rechtsverordnungen, dem verfassungsmäßigen Gewohnheitsrecht und zu den individualisierten, konkretisierten Einzelfallentscheidungen der Gerichte und Verwaltungsbehörden reicht. Dieser Stufenbau der Rechtsordnung – von oben nach unten – geht von einem Zentrum aus.97 Zentralisation ist vor allem das Kennzeichen einer Verwaltung, an deren Spitze eine Einzelperson, der verantwortliche Minister steht, wie es, nach den Umwegen und Wirrungen der Großen Revolution, Frankreich entwickelt hat.98 Preuß hat sein Leben lang um die Einführung des parlamentarischen Regierungssystems und damit um die zentrale, parlamentarische Ministerverantwortlichkeit gekämpft.99 Auch sonst betont Preuß, dass in der Zentralisierung der Vorteil klarer Verantwortlichkeit liegen kann.100 Aber es gibt auch Ebenen der Dezentralisation des politischen Systems, die für die Wahrnehmung der Konfliktentscheidung des politischen Systems geeigneter sind als die überforderten Zentralinstanzen. Auch kann auf dieser Politikebene die repräsentative Stellung von Trägern öffentlicher Ämter durch demokratische Rückbindung an ihre Konstituenten verstärkt werden. Das gilt insbesondere für die Ebene der Gemeindeverfassung. Echte Dezentralisierung unterbricht die administrative Hierarchie in einer charakteristischen Weise. Auf der einen Seite sind die kleineren Verbände,
Vordenker einer Verfassungstheorie des Pluralismus, in: Hugo Preuß: Vordenker der Pluralismustheorie. Vorträge und Diskussion zum 150. Geburtstag des „Vaters der Weimarer Reichsverfassung“, Hg. Jürgen Kocka/Günter Stock, Berlin 2011, S. 34 f.; vgl. auch a.a.O., Diskussion S. 56 f. 97 Diesen Stufenbau bejahte Preuß, wenn er die Durchbrechung der Gesetzlichkeit durch Ministerialreskripte und das „monarchische Prinzip“ bekämpfte, vgl. Preuß, Über den konstitutionellen Gesetzesbegriff, in: Schriften, Bd. 2, S. 191–198, und S. 829–832, und passim. 98 Preuß, Die Organisation der Reichsregierung und die Parteien, in: Schriften, Bd. 1, S. 153–176, und passim. 99 Preuß, Deutschlands Staatsumwälzung, in: Schriften, Bd. 4, S. 111, und passim. 100 Auch wenn es einer „lebendigen Selbstverwaltung im Steinschen Geiste nicht ebenbürtig sein mag, so ist das offene Präfektensystem mit seiner straffen Zusammenfassung und klaren Verantwortlichkeit doch einer ausgehöhlten und verfälschten Selbstverwaltung zweifellos weit überlegen“, in: Preuß, Groß-Berliner Neuorientierung?, in: Vossische Zeitung, Nr. 496 (28.9.1915), Abend-Ausgabe (abgedruckt in: Schriften, Bd. 5, im Erscheinen).
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die in den übergeordneten Verband eingegliedert sind, keine „unabhängigen Republiken“; sie unterliegen einer Rechtsaufsicht, die auf Einhaltung der von der Verfassung vorgesehenen Normen beschränkt und gerichtlich überprüfbar ist. Die Organe der Gemeinde sind aber freigestellt von der Fachaufsicht. Wie bei den Mitgliedern der Parlamente der staatlichen Ebene wird politische Kontrolle durch die Rückbindung an die Konstituenten organisiert.101 Über ein Jahrhundert lang hat der Großstaat Preußen vergeblich versucht, seine innere Verfassung zu reformieren. Dabei war allseitig Konsens, dass bürokratische Exzesse und Leerlauf eine Dezentralisierung der Verwaltung verlangten. Aber die Einführung dezentraler Strukturen ist im Kern daran gescheitert, dass es als undenkbar galt, wichtige Entscheidungen in gesetzlichen Tatbeständen zu fixieren „und die letzte Entscheidung einem Gericht anheimzugeben“; es galt als unmöglich, sie dem „persönlichen Meinen, Urteilen und Wollen des Königs zu entziehen“102, wie es dem englischen Prinzip der „Supremacy of the Rule of Law“ entsprochen hätte.103 Der Zentralismus im Frankreich der Dritten Republik war immerhin frei von den antirepublikanischen Gegenströmungen, die die Entwicklung Preußen-Deutschlands behinderten. Preuß nahm wahr, dass sich ein Verständnis echter Dezentralisation anbahnte, wo repräsentative Gremien eine demokratische Rückkoppelung bewirken sollten.104 101 Über eine „Dezentralisierung im Möglichen und Zentralisierung im Notwendigen“ bei der „Entwicklung einer modernen Verwaltungsorganisation“: Preuß, Dezentralisation und Zentralisation (1918), in: Handwörterbuch der Kommunalwissenschaften, Bd. 2, S. 539 (abgedruckt in: Preuß, Schriften, Bd. 5). Preuß rühmt die Eleganz des französischen Verwaltungsrechts und seine feine Begriffstechnik, die für die dezentrale „Geschäftsverteilung unter den Behörden den besonderen technischen Ausdruck déconcentration aufgestellt hat, um die Bezeichnung décentralisation für den Übergang der Kompetenzen vom Staat auf die kommunalen Selbstverwaltungskörper zu reservieren“, vgl. Preuß, Zur preußischen Verwaltungsreform, in: Schriften, Bd. 2, S. 650. Er bezieht sich damit auf Léon Aucoc, Conférences sur l’administration et le droit administratif, 1. Aufl., Paris 1865, S. 64. 102 Kritische Nachschrift von Hans Delbrück, der immerhin liberal genug war, den Beitrag von Preuß in die von ihm herausgegebenen Preußischen Jahrbücher aufzunehmen, vgl. Preuß, Geschichte des Bestätigungsrechts in Preußen, in: Schriften, Bd. 2, S. 554. 103 Preuß, Selbstverwaltung, Gemeinde, Staat, Souveränität, in: Schriften, Bd. 2, S. 268. 104 Preuß zitiert Paul Deschanel, La décentralisation, Paris, 1895, dessen kleines Buch mit den Worten beginnt: „Prenons les choses à la racine. La véritable école du selfgovernment chez tous les peuples libres c’cest la commune“; und Preuß gibt zu bedenken, der vielgescholtene französische Zentralismus habe „in neuerer Zeit manche Abwandlungen in der Richtung freierer Bewegung der engeren Verbände erfahren. Geht die Entwicklung hüben und drüben in der bisherigen Richtung weiter, so könnten wir eines schönen Tages durch die Wahrnehmung überrascht werden, daß die Heimat der
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Interessengegensatz und Interessenausgleich. Volkssouveränität bedeutet nicht die Utopie einer vollkommenen Interessenharmonie, sondern beruht auf Interessengegensätzen, die sich immer wieder neu entwickeln. Es gibt kein „Ende der Geschichte“.105 Mehrere Male zitiert Preuß die alte Formulierung von Hesiod von der ágathe éris106, dem guten, produktiven, stimulierenden Streit, der die Streitenden über sich hinaustreibt und beide bereichert. Klassenkampf ist, als Interessengegensatz, ein Normalfall. Aber als „milderndes und ausgleichendes Gegengewicht“ hätte die „Gemeinsamkeit politischer Arbeit an der nationalstaatlich-parlamentarischen Entwicklung“ wirken können.107 Preuß sah darin eine schwere Belastung, dass diese Chancen in Preußen-Deutschland oft vertan wurden, während in dem industriell erheblich weiter entwickelten England die Arbeiterbewegung das Parlament nicht prinzipiell in Frage stellte, sondern zu nutzen suchte. Die Gründe für diesen Unterschied können hier auf sich beruhen.108 Aber gelingen kann es nur, die Interessengegensätze daran zu hindern, das politische System zu zersprengen, wenn es neben den Konflikten eine Sphäre gibt, die außer Streit ist, auch wenn sie nur in der Übereinstimmung besteht, die Konflikte in parlamentarischen Formen auszutragen.109 Formaldemokratie und Relativität der Politik. Als Liberaler war sich Preuß darüber im Klaren, dass die „soziale“ Frage gelöst werden muss – auf der Ebene des Staates wie vor allem auf der Ebene der Gemeinde. Sie kam in dem Widerspruch zum Ausdruck, der zwischen dem Reichtum der kapitalistischen
Steinschen Städteordnung an praktisch wirksamer Selbstverwaltung von dem Lande überflügelt wird, das stets als Schulbeispiel für die Negation aller Selbstverwaltung herhalten muß“, Preuß, Die Lehre Gierkes und das Problem der preußischen Verwaltungsreform, in: Schriften, Bd. 2, S. 608. 105 Preuß, Ludwig Gumplowitz. Naturgesetze der Politik?, in: Schriften, Bd. 2, S. 793, und passim. 106 Vgl. Preuß, Vom Rechte, das mit uns geboren ist, in: Schriften, Bd. 2, S. 117, und S. 825; ders., Ein sozialpolitischer Schwanengesang, in: Preußische Jahrbücher 136 (1909), H. 1, S. 112, abgedruckt in: Schriften, Bd. 5. 107 Preuß, Der deutsche Nationalstaat, in: Schriften, Bd. 4, S. 482, und passim. 108 Vgl. dazu Christoph Müller, Erst einmal die bürgerliche Revolution zu Ende bringen, in: Christoph Koch (Hg.), Politik ist die Praxis der Wissenschaft vom Notwendigen. Helmut Ridder (1919–2007), München 2010, S. 27–68. 109 Detlef Lehnert hat mit Recht darauf hingewiesen, dass diese heute meist mit Ernst Fraenkel begründete Funktionsbedingung Hugo Preuß bereits klar erfasst und formuliert hat, Preuß, Parlamentarismus und Klassenkampf in: Preuß, Schriften, Bd. 4, S. 591 f.; vgl. auch Lehnert, Einleitung, in: Preuß, Schriften, Bd. 4, S. 57.; ders. in: Hugo Preuß: Vordenker der Pluralismustheorie (Fn. 96), S. 52 f.
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Produktion, die auch Marx bewunderte110, und der Armut und dem Elend, die sie mit sich gebracht hatte. Aber um die soziale Frage zu lösen, bedurfte es der „formalen“ Demokratie, weil „jede Verfassung, wie jede Rechtsordnung überhaupt, formal“ ist. So ist es unumgänglich, „reine Organisationsformen und Wahlen und Stimmrechte“ zu bestimmen.111 Das verstand auch der sich vom Herzensmonarchisten zum Vernunftrepublikaner wandelnde Friedrich Meinecke: „Wie steht es mit der vielgescholtenen formalen Demokratie, das heißt mit der rechtlichen Gleichheit aller, trotz der natürlichen Ungleichheit ihrer Leistungsfähigkeit? Sie ist nichts andres als die Konsequenz der Tatsache, daß, wie Hugo Preuß es einmal ausdrückt, die moderne Rechtsordnung unfähig ist, die Ungleichheit der Individuen zu messen. ... Es ist die geistvollste Verteidigung, die das vielgescholtene gerade um seiner Geistlosigkeit willen verschriene Grundprinzip aller Demokratie bisher gefunden hat.“112
Es ist die „moderne Sozial- und Wirtschaftsentwicklung“, wie Meinecke fortfährt, die die früheren „ständischen Bindungen gesprengt hat“. Die Rechtsgleichheit ist Ausdruck der pluralistischen Vielgestaltigkeit der Gesellschaft. Formale Regeln für den Austrag der Konflikte schaffen so ein „unendlich reiches, kompliziertes und differenziertes“ System, um „friedlich miteinander leben zu können“ und die Gesellschaft vor Explosionen zu bewahren.113 Das geltende, „positive“ Recht muss von einer entsprechenden politischen Kultur abgestützt werden. Um die Repräsentanten daran zu hindern, dass sie die Mitwirkungsrechte ihrer Konstituenten gänzlich aufsaugen und „absorbieren“, bedürfen sie der „Kontrolle“ durch „Presse und öffentliche Meinung, der im demokratischen Staate die Handlungen keines Staatsorgans entzogen sein 110 „Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen“, Marx/Engels, Manifest der kommunistischen Partei (1847/1848), in: Marx/ Engels, Werke, Bd. 4, Berlin 1972, S. 467. 111 Preuß, Die Bedeutung der demokratischen Republik für den sozialen Gedanken, in: Schriften, Bd. 4, S. 282. 112 Friedrich Meinecke, Ein Tag des Denkens (1929), in: Politische Schriften und Reden, Hg. Georg Kotowski, 4. Aufl., Darmstadt 1979, S. 426 (Friedrich Meinecke, Werke, Hg. Hans Herzfeld u.a.), z.T. unter Hinweis auf Graf Dohna. Das Fazit: „die Unfähigkeit der Rechtsordnung, ihre Ungleichheit zu messen, ist das demokratische Prinzip der politischen Gleichberechtigung“, findet sich im Nachlasswerk von Hugo Preuß, Reich und Länder. Bruchstücke eines Kommentars zur Verfassung des Deutschen Reiches, Hg. Gerhard Anschütz, Berlin 1928, S. 42 (auch in: Preuß, Schriften, Bd. 3). 113 Meinecke, ebd.
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sollen“.114 Das Suchen nach einer die formale Demokratie stützenden politischen Kultur ist keine naturrechtliche Position oberhalb des positiven Rechts, sondern – bestenfalls, d.h. wenn sie zustandekommt – eine Übereinkunft zwischen Anhängern verschiedener Weltanschauung und Parteien, einige gemeinsame Rahmenbedingungen für ihr politisches Handeln zu akzeptieren. Es handelt sich hier auch nicht um Fragen der juridischen Geltung von Normen des Rechtsstaats und speziell des Verfassungsrechts, sondern um Bedingung der Wirksamkeit des geltenden Rechts, die die Reine Rechtslehre als solche nicht behandelt, aber voraussetzt.
8. Ergebnis Um die Überlegungen abzuschließen muss ich noch einmal auf das methodische Problem zurückkommen: Es ist ein Denkfehler, Kategorien zu vertauschen. Doch ist es nicht unbedingt erforderlich, der Philosophie Immanuel Kants zu folgen, um deutlich zu unterscheiden, ob empirisch nach Ursachen geforscht oder Normen des geltenden Rechts nach juridischen Kunstregeln interpretiert werden, ob der Vorgang der Rechtserzeugung bzw. des Obsoletwerdens von Normen untersucht wird oder ob geltende Normen angewendet werden, ob es sich um den politische Rechtsinhalt einer Norm oder um ihre von den politischen Kontroversen abgehobene, verselbständigte Rechtsform handelt – kurzum, ob es um Genese oder um Geltung geht. Die Philosophie Kants ist dafür eine ausgezeichnete Hilfe; aber auch auf anderen Wegen lassen sich diese Unterschiede einsehen. Was das Konzept der Souveränität angeht, so gehört es nicht zu den geltenden Normen des Verfassungsrechts; es ist vielmehr Gegenstand einer Theorie des politischen Systems, dessen Kernbereich in einer empirischen, politikwissenschaftlichen Staatslehre besteht.115 Die Theorie der Souveränität erklärt die Gründe, aus denen eine überwiegend naturalwirtschaftliche, traditionale Gesellschaftsformation auf dem Wege über immer stärkere Arbeitsteilung, über das Aufkommen bzw. die Wiederbelebung des Geldwesens, über Ausweitung von Handel und Wandel, sich zu verdichteten Siedlungsformen 114 Preuß, Deutschlands republikanische Reichsverfassung, in: Schriften, Bd. 4, S. 337. 115 Zur Staatslehre als „Teil der politischen Wissenschaften“ vgl. Heller, Schriften, Bd. 3, S. 92–102; zur Auffassung von Hans Kelsen, der seine Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, als Staatlsrechtslehre konzipiert hat und deren wertvollster Teil in der immanenten Ideologiekritik der damals herrschenden Lehre besteht, nehme ich hier nicht näher Stellung. Dieses Thema ist zu weitläufig und m.E. immer noch kontrovers. Vgl. dazu die Andeutungen in Fn. 83.
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entwickelt hat, in denen – schon in dörflichen, erst recht in städtischen und unwiderruflich in territorialen Organisationsformen – politische Interventionen in das immer komplexer werdende gesellschaftliche Gefüge nötig wurden. Unter Vernachlässigung frühgeschichtlicher und antiker Ansätze sind in unserem Kulturkreis in der frühen Neuzeit Organisationsformen entstanden, die auf der sozialökonomischen Höhe der Stadtwirtschaft Grundlagen für eine neuartige Gesetzgebung geschaffen haben. Jean Bodin, machtvoller Vertreter des Dritten Standes, befürwortet ein Gesetzgebungsrecht des Königs, um bei ihm Schutz vor den Vertretern des Ersten und Zweiten Standes zu finden. Mit seiner Theorie der Gesetzgebung als dem Strukturmerkmal der Souveränität hat er maßgeblich daran mitgewirkt, ein erstes Konzept zu entwickeln, das langfristig – unter Evolution und Revolution – zum Gesetzgebungsstaat geführt hat. Das Konzept der Souveränität ist aktuell geblieben, auch wenn sich das gesellschaftliche Gefüge immer weiterentwickelt hat. Im Zeitalter der Industrialisierung mit ihren internationalen Verflechtungen sind in Gesetzgebung und öffentlicher Verwaltung äußerst komplexe Strukturen entstanden, die Zweifel am überkommenen Konzept der Souveränität hervorgerufen haben, zumal dessen politische Funktion missverstanden und nicht selten missbraucht worden ist. Aber auch die heutige Übergangsgesellschaft, die ihre Form noch nicht gefunden hat und die im Zeichen ständig zunehmender Urbanisierung steht, kann auf die zuerst im städtischen Wesen und von Vertretern des Dritten Standes erfasste Notwendigkeit der Intervention in das gesellschaftliche Gefüge mit den Instrumenten des Rechtsstaats nicht verzichten. Souveränität ist kein normativer Rechtsbegriff und kein juridischer Maßstab des Verfassungsrechts für die Definition von Kompetenzen, die Abgrenzung von Zuständigkeiten und die Regelung von Handlungsformen und Verfahren. Insoweit kann Hugo Preuß jedenfalls im Ergebnis zugestimmt werden, dass der Souveränitätsbegriff aus der juristischen Diskussion eliminiert werden muss, weil er selber keine Maßstäbe enthält, mit deren Hilfe Streitfragen austariert werden könnten. Es war vergeblich, mit Hilfe des Souveränitätskonzepts ein Verständnis von Staatenbund oder Bundesstaat zu gewinnen, wie es Missverständnis war und weithin noch ist, Fragen nach der Struktur neuartiger übernationaler Gebilde mit Hilfe des Souveränitätsbegriffs zu entscheiden. Das politische System in seinen verschiedenen Ebenen entwickelt sich nach ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Kriterien. Seine Probleme lassen sich nicht begriffsjuristisch aus dem „Wesen“ des Staates oder dem „Begriff“ der Souveränität ableiten. Aber das macht das Konzept der Souveränität nicht obsolet. Es erklärt die Notwendigkeit, diejenigen rechtlichen Strukturen zu „erzeugen“, die – unter sich ständig wandelnden
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Bedingungen – das Zusammenleben der Menschen auf dem klein gewordenen Planeten möglich machen könnten. Für das Erzeugen, In-Geltung-Setzen und In-Geltung-Halten der Rahmenbedingungen eines „sozialen Rechtsstaates“ (Art. 28 GG) auf den Gebietsebenen ist die Überordnung des politischen Systems über die anderen gesellschaftlichen Subsysteme erforderlich. Das ist eine Bedingung der Möglichkeit, um Rechtsregeln zu erzeugen, die auf das Ziel der „Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle“ (Art. 151 WRV) gerichtet sind. Für die Sphäre der politischen Selbstorganisation, die in die Kategorie der Rechtserzeugung gehört, bleibt die Souveränität unverzichtbar. Die Volkssouveränität, die sich in einer verfassungsstaatlichen Kompetenz- und Verfahrensordnung und im parlamentarischen, außerparlamentarischen, öffentlichen Disput bewährt, kann große Spannungen ertragen. Aber falls das geltende Verfassungsrecht nicht wirksam genug durch eine politische Kultur gestützt wird, kann sie auch scheitern. Hierfür hat Bernard Shaw die sarkastische Formel geprägt: „Die Demokratie ist ein Verfahren, das garantiert, dass wir nicht besser regiert werden, als wir es verdienen.“
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Hugo Preuß in der europäischen Verfassungsgeschichte Konzepte des modernen demokratischen Bundesstaats Das Thema dieses Beitrags lässt sich in dreifacher Perspektive behandeln: Zunächst wird zu klären sein, wie Preuß die eigenen preußisch-deutschen Verfassungskonzeptionen in die europäische Ideen- und Realgeschichte eingefügt hat. Am Ende kann eine vorläufige Bilanz stehen, wo aus heutiger Sicht die Beurteilung von Preuß im Rahmen der europäischen Verfassungsgeschichte positiv bzw. kritisch ausfällt. Sehr weitläufig ansetzender Forschungen würde es bedürfen, künftig noch einen dritten Blickhorizont umfassend mit einzubringen: Wie ist Preuß in seiner 40jährigen publizistischen und akademischen Schaffensperiode von 1885 bis 1925 schon zeitgenössisch innerhalb des europäischen Verfassungsdenkens gesehen worden? Das wäre eine akademiewürdige Fragestellung von kaum je abzuschließender Vielfalt des Materials und der Perspektiven. Dazu werden nur – und eher beiläufig – wenige Grundlinien hier schon zu skizzieren sein, um wenigstens die beiden anderen Zugriffe konkreter präsentieren zu können.
1. Ausgangsbedingungen des Neuordnungsprozesses 1918/19 Im Staatsrechts-Handbuch von Anschütz/Thoma hat Walter Jellinek1 mit skeptischem Unterton zusammengefasst, was ihn am Weimarer Verfassungsvater Preuß auffiel: Zum einen registrierte er die „unverhohlen zum Ausdruck 1 Dieser war der Sohn des epochalen Staatsrechtsgelehrten Georg Jellinek und eine wichtige Stimme aus der vernunftrepublikanischen Mitte der Fachdisziplin; vgl. Jan Ziekow, Die Einhelligkeit der Rechtsentscheidung. Zu Leben und Werk Walter Jellineks, in: Archiv des öffentlichen Rechts 111 (1986), S. 219–230; Klaus Kempter, Die Jellineks 1820–1955. Eine familienbiographische Studie zum deutschjüdischen Bildungsbürgertum, Düsseldorf 1998. – Dieser Beitrag geht auf einen Vortrag am Institut für Europäische Verfassungswissenschaften in Hagen am 6. Juli 2009 zurück. Wenn ein dort entstehendes „Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert“, ein langes 19. Jh. bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs umfassend, komplett vorliegt, werden die Vergleichsperspektiven noch erweitert werden können.
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gebrachte Abneigung gegen Bismarcks Werk“, zum anderen ein anfänglich „zutage tretendes Bestreben nach Auflösung Preußens in dessen organische Bestandteile“.2 Darüber hinaus in das weiter gefasste Thema bringt uns Jellinek, der offenbar den gemäßigt reformbereiten Nationalliberalismus seines Vaters in die Weimarer Kontexte fortschrieb, mit einer verfassungsgeschichtlichen Kontrastfolie zur Reichsgründung von 1871: „Der Entwurf Preuß hat Gedanken aus der Verfassung der Paulskirche, aus England, aus Amerika, aus der Schweiz und aus Frankreich übernommen. ... Von Bismarcks Reichsverfassung hat Preuß absichtlich wenig in den Entwurf hineinverarbeitet“.3
Ein sozusagen gegen-bismarcksches Selbstverständnis hat Preuß in seiner Verfassungsdenkschrift zu Jahresbeginn 1919 tatsächlich formuliert: Der Leitgedanke des „selbstorganisierenden Staatsvolkes“ anstelle des „ewigen Bundes“ der Fürstendynastien sollte zum Gestaltungsprinzip der nachholenden inneren Reichsgründung werden: „Der neue Bau des Deutschen Reiches muss also ganz bewusst auf den Boden gestellt werden, den Bismarck bei seiner Reichsgründung ganz bewusst nicht betreten hat“.4 Die Reichseinheit wollte Preuß gerade nicht angetastet sehen, denn wie er dies bei der Einbringung des Entwurfs in die Weimarer Nationalversammlung eindringlich formulierte: Auch „nicht ein ‚Bund der Gliedstaaten‘ ist der Ausgangspunkt für die neue Verfassung, sondern die Selbstorganisation des deutschen Volkes in seiner Gesamtheit“.5 Aber die innere Ordnung wollte er schon im Kaiserreich aus dem Erbe der Selbstverwaltungs- und Paulskirchen-Tradition reformieren. 2 Zur Beurteilung durch Preuß: „Auch hier hat die Revolution an Stelle der Widerstände, die sie beseitigt hat, neue Widerstände im Sinne des für die deutsche Einheit gefährlichsten aller Partikularismen, des preußischen, erstehen lassen“, formulierte Anschütz in eher unüblicher Ausdehnung der Aufgaben einer Nachlass-Edition eine politische Antithese: „Diesem Satz der Denkschrift muss widersprochen werden. Die Macht, die hier und sonst (landläufig) ‚preußischer Partikularismus‘ genannt wird, ist in Wahrheit gar nicht partikularistisch, sondern – vermöge der überragenden Größe und der Struktur des preußischen Staates – durchaus unpartikularistisch, unitarisch, ein Faktor, der nicht zentrifugal, sondern (schlimmstenfalls in Konkurrenz und Rivalität mit der Reichsgewalt) zentralisierend, zusammenfassend wirkt“; vgl. Hugo Preuß, Reich und Länder, Berlin 1928, S. 159 f. (mit Anm. 40 von Anschütz). 3 Walter Jellinek, Entstehung und Ausbau der Weimarer Reichsverfassung, in: Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, Tübingen 1930, S. 128, 130. 4 Hugo Preuß, Staat, Recht und Freiheit, Tübingen 1926 (Hildesheim 2006), S. 370. 5 Ebd., S. 398.
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Freilich wusste Preuß sehr wohl, dass in Steins Städteordnung noch keine demokratische Konzeption wirksam war und an welche Grenzen die 1848er Revolution gestoßen ist.6 Es fällt auf, dass er trotz eigener Berliner Stadtratstätigkeit seit Beginn des Ersten Weltkriegs in seinen Schriften nicht mehr so viel Gewicht auf kommunalpolitische Fragen legte. Diese waren bis 1914 offenbar auch Ersatz für die fehlenden Perspektiven eines grundlegenden Wandels auf preußischer und nationaler Ebene gewesen und sollten diesen insbesondere auf städtischer Ebene mit anbahnen. Sogar die Paulskirche hat Preuß bei aller Wertschätzung ihrer Impulse zugleich als mahnendes Beispiel herbeizitiert, wie eine Revolution an ungelösten inneren Widersprüchen scheitern konnte. Deshalb brauchte er, wie Jellinek insofern richtig erkannte, für seine Verfassungskonzeption zusätzliche Bausteine aus den etablierten westlichen Demokratien. So improvisiert bei ihm manches in der Praxis mangels preußisch-deutscher Tradition von Selbstregierung notgedrungen sein musste, war doch in der Staatstheorie vieles über Jahrzehnte hinweg ausgereift. Kaum beachtet worden ist bislang, dass Preuß die großstaatliche Republik der USA und die kleinstaatliche der Schweiz vor allem für sein gegenbismarcksches Bundesstaatsmodell studiert hatte.7 Beharrlich bot er – als ewiger Privatdozent gesinnungsdiskriminiert – an der Berliner Universität dazu auch Lehre an8 und schrieb in Publizistik und Fachorganen sich geradewegs die Finger wund, um die von ihm so genannte Variante des „Scheinföderalismus“ nicht länger mit einem modernen Bundesstaat verwechseln zu lassen. Im Kern 6 Vgl. Hugo Preuß, Politik und Verfassung in der Weimarer Republik. Gesammelte Schriften Bd. 4, Hg. Detlef Lehnert, Tübingen 2008, S. 596, dass Stein natürlich „kein Demokrat im modernen Sinn“ war – und insofern mit etwaiger Reduzierung auf stadtbürgerliche Selbstverwaltung jedenfalls Preuß als ein solcher moderner Demokrat im Sinne der umfassenden Selbstregierung gründlich verkannt würde; zu seiner Bewertung der 1848er Revolution a.a.O., S. 449–454. 7 So betonte er auch in seinem knappen Verfassungskommentar (1923) deren Profil als „Republiken in Gesamtheit und Gliedern, deren politische Organisation sich naturgemäß von unten nach oben entfaltete“, und hob deshalb „entscheidende Gegensätze der inneren Struktur“ zwischen dem „kaiserlichen Deutschland“ und den „schweizerischen und amerikanischen Verfassungen“ hervor: Preuß, Schriften Bd. 4 (wie Anm. 6), S. 320, 327; ähnlich 1917: Ders., Politik und Gesellschaft im Kaiserreich. Gesammelte Schriften Bd. 1, Hg. Lothar Albertin, Tübingen 2007, S. 652 f.; dass gerade amerikanische Verfassungsprinzipien nur in Verbindung mit englischen und französischen Vorbildern zu verstehen sind und insoweit mit zur „europäischen“ Verfassungsgeschichte gehören, muss hier nicht weiter erläutert werden. 8 Vgl. die Belege bei Christoph Müller, Hugo Preuß (1860–1925), in: Stefan Grundmann u.a. (Hg.), Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2010, S. 706 f.
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holte sein Verfassungskonzept nur die Entwicklung zum modernen Bundesstaat nach, wie er 1848 in der Schweiz und 1865 in den USA konsolidiert wurde. Das Kaiserreich war insofern ein Transitorium zwischen dem staatenbündischen System des Deutschen Bundes 1815–1866, im Bundesrat teils fortgeführt, und der parallelen Entwicklungsrichtung zum modernen Bundesstaat. Aus den „Reichsämtern“ wurde nach Bismarck – dem an Bedeutung gewinnenden Reichstag gegenüber – erst allmählich faktisch eine Reichsregierung. Die Pointe der Preußschen Argumentation zur Entfaltung „des modernen okzidentalen Staats“ lag darin, in Deutschland wohl erst über eine unitarisierende Überwindung der hergebrachten Länderstaatlichkeit den Weg dorthin finden zu können: „Möglich, daß nach Lage der Dinge unser Vaterland zunächst durch den Einheitsstaat hindurch gehen muß, um dann auf dem Wege der Dezentralisation und Selbstverwaltung zur endlichen Gestaltung zu gelangen.“ Die Antwort auf die Frage, welche tragenden Prinzipien „das fruchtbarste und originellste Staatsgebilde der Neuzeit geschaffen“ haben, „den nordamerikanischen Bundesstaat“, gab Preuß mit pluralistischen Strukturen im Hinblick auf „Mannigfaltigkeit in der Einheit, freie Bewegung der Glieder ohne Zerreißung des Ganzen“. Auch in unmittelbarer Nachbarschaft fand er durchaus ein beachtenswertes Vorbild: „Unter der Form des Bundesstaats vereinigt die schweizerische Eidgenossenschaft, unbehelligt von den sie umtobenden nationalen Kämpfen, Deutsche, Franzosen und Italiener zu einem kleinen, aber kraftvoll gesunden Staatswesen. Unter der Form des Bundesstaats hat Deutschland endlich die lang ersehnte nationale Einheit gefunden; im Ausbau und der Vollendung dieser Staatsform zeigt sich ihm der Weg seines politischen Fortschritts.“9
Allerdings benannte ein solchen Entwicklungen gegenüber betont skeptisch bleibender und den einheitsbildenden Charakter der Staatsgewalt betonender Konservativer wie Erich Kaufmann schon bald nach Inkrafttreten der Weimarer Verfassung das gesellschaftlich-politische Potential der Nivellierung regionaler Unterschiede: „Die große unitarisierende und zentralisierende Wirkung der parteipolitischen Durchorganisiertheit des ganzen Volkes ist bei uns noch nicht richtig gewürdigt worden. Die Parteien liefern nicht nur die Klischees für das politische Denken von Königsberg bis Konstanz, sondern sie haben neben die staatliche Organisation eine großartige gesellschaftliche Organisation gestellt, welche alle ihre Mitglieder zum poli9 Preuß, Schriften Bd. 1 (wie Anm. 7), S. 115 f.
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tischen Wollen und Handeln zusammenfasst und das politische Leben der Nation zu führen unternimmt.“10
Eine kontinuierlich fortschreitende Zentralisierung war aber damals nicht ohne weiteres schon die reale Tendenz z.B. in den USA und der Schweiz. Diese aus der Laband-Schule übernommene Doktrin ist wesentlich auch die Konsequenz der ebenfalls mit fortgeschleppten Herrschaftssouveränitätslehre, die sich nicht gut mit dem modernen Bundesstaat vereinbaren lässt. Dieser ist entweder in kleinstaatlichen Verhältnissen auf Volkssouveränität angelegt (in der Schweiz auch kantonal ausgeübt) oder wurzelt in großstaatlichen Verhältnissen, wie den USA und der Bundesrepublik Deutschland, in einer allenfalls noch auf „Verfassungssouveränität“ zugerechneten Kompetenzverteilung.11 Hingegen verträgt sich britische Parlamentssouveränität und französische Nationalsouveränität – in der III. Republik parlamentarisch verkörpert, zuvor und danach mehr im Staatsoberhaupt – nicht gut mit dem Bundesstaat. Das gilt eher auch für die modernen Nationalmonarchien (Italien, Spanien, Skandinavien, Niederlande). Zusätzlich noch erwähnenswert könnte sein, dass sämtliche drei maßgebenden Bundesstaaten gemischtkonfessionell sind, was offenbar eine zusätzliche kulturelle Barriere der weiteren Unitarisierung errichtete. In den ebenfalls gemischkonfessionellen Niederlanden etablierte sich, wenn die Verselbständigung Belgiens – als bereits 1830 vollzogen – gesondert betrachtet wird, eine andere Form der inneren Föderalisierung in Form der „Versäulung“ konfessioneller Segmente.12 Der Katholizismus in der Nachfolge des Imperium Romanum und erst recht die Erben des Byzantinismus zeigten wenig Affinität zum föderativen Prinzip, und das Luthertum stärkte eher die ihrerseits Territorialstaaten formierende Fürstensouveränität. In einem zivilreligiösen Deutungsrahmen war offenbar am ehesten das reformierte Bekenntnis, mit seiner US-Wirkungsgeschichte und einem weiteren Schwerpunkt im deutschen Südwesten und der Schweiz, in modern bundesstaatlicher Richtung offen. Allerdings ist wie bei Webers Protestantismus-These, die mehr eine Calvinismus-These ist, durchaus anzunehmen, dass beides über ‚dritte‘ Faktoren begünstigt wurde. Dem konfessionellen Faktor kommt dann ggf. eher Indikations- als Erklärungskraft zu. Allerdings ist gleichzeitig von einem 10 Erich Kaufmann, Gesammelte Schriften, Bd. 1, Göttingen 1960, S. 383. 11 Zur Begrifflichkeit vgl. Heidrun Abromeit, Volkssouveränität, Parlamentssouveränität, Verfassungssouveränität: Drei Realmodelle der Legitimation staatlichen Handelns, in: Politische Vierteljahresschrift 36 (1995), S. 49–66. 12 Vgl. Friso Wielenga, Die Niederlande. Politik und politische Kultur im 20. Jahrhundert, Münster 2008.
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Verstärkereffekt der geistig-kulturellen auf die strukturellen Dispositionen auszugehen. Hinsichtlich damaliger historischer Realisierungschancen wird Skepsis durchaus angebracht sein, und konzeptionell argumentierte Preuß hier sehr entschieden: Erst wenn in der Länderkammer nicht mehr Regierungen von Einzelstaaten vertreten waren, sondern zumindest von den Landtagen gewählte Volksvertreter, war der qualitative Sprung von einer staatenbündischen zur bundesstaatlichen Verfassungsordnung für ihn wirklich komplett bewerkstelligt. Offenkundig haben liberale Fürsprecher der süddeutschen Mittelstaaten dieses moderne Bundesstaatsmodell so wenig akzeptiert wie preußische Konservative und auch viele Staatssozialisten.13 Tatsächlich waren jene Mittelstaaten aber gerade die von Preuß – schon recht nahe an der heutigen Ländergliederung – zugrunde gelegte Größenordnung auch für neue Länder; dieser sollten die Kleinstaaten sich durch Zusammenlegung und Preußen durch Verselbständigung von Provinzen annähern.
2. Konfliktlagen einer Neugliederung Preußens Da territorial konsolidierte Mittelstaaten also unbesorgt sein durften14 und verbleibende ‚Kleinstaaterei‘ nur unpraktisch, aber nicht gefährlich werden konnte, hatte das deutsche Bundesstaatsproblem letztlich einen Namen: Preußen. Im Verfassungsausschuss der Weimarer Nationalversammlung wollte Preuß gegen teilweise missverstandene Aufnahme seiner ersten Vorschläge „einmal aus der Schule plaudern“ und die Bedeutung der eher nur als Mythos kursierenden politischen Landkarte zurechtrücken: „Hier komme ich auf den Punkt, der den ganzen ersten Lärm bezüglich der Zerstückelung Preußens verursacht hat, worüber man an sich in dem ersten Entwurf ja nichts findet. Bei der Überlegung, wie könnte man zunächst, ehe neue Grenzverhältnisse geschaffen sind, die Verteilung nach der Bevölkerungszahl im Staatenhaus durchführen, kamen wir bei den Vorarbeiten zur Aufstellung eines Entwurfs von Wahlbezirken zum Staatenhaus; von Wahlbezirken, die einerseits kleine Staaten zusammenlegten und 13 Zur insoweit unübersichtlichen zeitgenössischen Debatte vgl. Anke John, Der Weimarer Bundesstaat. Perspektiven einer föderalen Ordnung, Köln 2012. 14 Dies hat Preuß auf der zweiten Länderkonferenz Ende Januar 1919 zugesichert, ohne die geschichtliche Realität zu beschönigen: „Die süddeutsche Staatenbildung ist zwar auch nicht natürlich erwachsen; aber ich sehe keine Schwierigkeiten vom Standpunkte des Reichsinteresses, dass sie bleibt, wie sie ist“; zit. n. Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 4, Stuttgart 1992, S. 34.
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andererseits Preußen in verschiedene Wahlbezirke auseinanderlegten. Ich betone, das waren nicht Vorschläge für neue Staatsbildungen, sondern Vorschläge für Wahlbezirke zum Staatenhaus. Auf einem mir dunkel gebliebenen Wege ist dieser, ich will einmal sagen, Laboratoriumsversuch in die Presse gekommen, und zwar unter dem Stichwort, das sei die neue Landkarte von Deutschland, wie sie im Reichsamt des Innern vorgesehen sei.“
Solche Darstellung klang plausibel, weil Preuß die Absicht verfolgte, zu einem Staatenhaus zumindest indirekt über die Landtage wählen zu lassen und nicht Regierungsvertreter wie im alten Bundesratsmodell dort vorzusehen. Nur einem in seine Provinzen aufgegliederten Preußen konnten dann auch Stimmgewichte nach Bevölkerungszahl zuwachsen. Allein dieser Aspekt konnte das bisherige Schonungsprivileg der Klein- und Mittelstaaten, nicht vom preußischen Stimmenblock erdrückt zu werden, negativ tangieren. Dies sollte aber von der Chance eines künftigen balancierteren Zuschnitts der Länder aufgewogen werden. Doch Preuß räumte gleichzeitig ein, in jenen Wahlbezirken zum Staatenhaus – mit Vertretern je ca. eine Million Einwohner – eine Anregung in den politischen Raum gestellt zu haben, wie sich dortiges Wahlvolk dann möglicherweise auch in regionaler Selbstbestimmung organisieren könnte: „Dass dabei vielleicht auch die Ansicht unterlaufen ist, vielleicht geht es so, will ich ja nicht bestreiten. Irgend ein Zwang sollte natürlich darin nicht liegen.“15 Der Hinweis auf die Freiwilligkeit etwaiger Übernahme der Wahlbezirke als Grenzen neuer Länder erschien glaubwürdig. Denn Preuß ist zu lange entschiedener Verfechter des Gedankens der Selbstverwaltung von unten her gewesen, um als Staatssekretär nun gar komplette Neugliederungspläne ggf. auch von oben dekretieren zu wollen. Ohne dies im Rahmen eines Überblicks zu verschiedenen Aspekten hier näher ausführen zu können, musste eine provisorische Wahlgebiets-Aufteilung für eine Zweite Kammer, wohlbemerkt nur bis „sich die neuen Freistaaten gebildet haben“, nicht zwingend einer kompletten Länderneugliederung vorausgreifen. So hat Preuß, der mit großstädtischen Angelegenheiten zweifellos am besten vertraut war, u.a. die Zuweisung von zwei gemeinsamen Vertretern an „drei Hansestädte mit annähernd 1 ½ Millionen Einwohnern“ beabsichtigt. Dies übte keinerlei – territorial auch gar nicht plausiblen – Verschmelzungsdruck auf Hamburg, Bremen und Lübeck aus. Umgekehrt präjudizierte die Berücksichtigung von „Berlin, bestehend aus den zum Verbande Groß-Berlin vereinigten Stadt- und 15 Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 336 (Bericht des Verfassungsausschusses), Berlin 1920, S. 149.
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Landkreisen mit 4 Millionen Einwohnern“ und somit vier Stimmen nicht bereits eine weitere Stadtstaatsbildung oder auch nur die (ein Jahr später gelingende) kommunale Entstehung von Groß-Berlin.16 Im Urteil von Preuß ist auch das Deutsche Kaiserreich sozusagen eine k.u.k.-Monarchie gewesen, indem beide Wilhelms zugleich König von Preußen und Kaiser des Deutschen Reiches waren, staatspolitisch flankiert durch eine Personalunion von preußischem Ministerpräsidenten und Reichskanzler. Die im Bundesrat verankerte Abweichung von strenger Proportionalverteilung wurde auch im amerikanischen Senat und schweizerischen Ständerat praktiziert. In solcher Perspektive war die Praxis des Kaiserreichs, an Preußen nur etwa die Hälfte der ihm nach Kopfzahl zufallenden Stimmen zu geben, nicht zwingend änderungsbedürftig. Aber das politische Schwergewicht einer faktischen zweiten Reichsregierung für 60 % der Gesamtbevölkerung blieb auch im Übergang zur demokratischen Republik nicht zu verkennen. Hier sehen die Befürworter eines demokratischen „Bollwerks Preußen“ nur die eine Seite der Medaille. Dies hing teilweise auch noch an der Zusammenlegung mit den Reichstagswahlen vom Dezember 1924 und Mai 1928, wo es jeweils ökonomisch und politisch aufwärts ging. In gewisser Hinsicht war diese – eher föderalismusfremde – Wahlkonzentration und die gängige Parteienpraxis von Tauschgeschäften zwischen Preußen- und Reichsämtern ein warnender Vorbote dessen, was Preuß schon nach Abgang Bismarcks vorausgesehen hatte: Nur der Reichsgründer selbst konnte die Erblasten der inneren Fehlkonstruktionen seiner vorwiegend ungeschriebenen Machtstaatsverfassung zusammenhalten17; ohne den Übergang zum modernen Bundesstaatsmodell werde eines Tages ein Zugriff des Reiches auf Preußen das Ende auch des „Scheinföderalismus“ bringen. Mit dem „Preußenschlag“ von 1932 und bald folgendem Übergang ins „Dritte Reich“ geschah dies schließlich unter rechtsautoritärem Vorzeichen. Zwar räumte Preuß rückblickend die gegenüber den klassischen Verfassungsstaaten schwierigeren Ausgangsbedingungen des November 1918 ein: „Anders als bei den Revolutionen fester gefügter Nationalstaaten hatte sich hier die entscheidende Umwälzung nicht im Zentrum vollzogen und von dort aus verbreitet, sondern sie schritt eher umgekehrt von der Peripherie zum Zentrum fort. Jedenfalls 16 Verfassungsentwurf Preuß v. 3. Januar 1919 § 29, zit. n. Jasper Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß’ für die Verfassung der deutschen Republik und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar, Frankfurt a.M. 1991, S. 93 (allerdings einen Schreibfehler zur Anzahl der hansestädtischen Vertreter berichtigend). 17 So der Tenor seiner 1891 publizierten Studie: Preuß, Schriften Bd. 1 (wie Anm. 7), S. 155–176.
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war es eine sehr dezentralisierte Revolution; dem überkommenen Bestand der 25 Einzelstaaten entsprachen 25 Einzelrevolutiönchen; und eben dadurch wurde dieser Bestand in den neuen Zustand hinübergerettet.“
Aber gerade wegen der Schwerkraft der Überlieferungen war eben nur in den wenigen Tagen des Regierungswechsels ein Zeitfenster für die Chancen einer Neugliederung geöffnet. Allein in der Revolution konnten auch starke Kontinuitätslinien gebrochen werden, worauf Preuß folgendermaßen insistierte: „Eine Möglichkeit bot der 9. November, und sie wurde versäumt. Der Umsturz in Berlin hätte damals ohne ernste sachliche Schwierigkeit der neuen revolutionären Reichsregierung die Möglichkeit geboten, ihre Hand auf Preußen zu legen, sich als Reichs- und preußische Regierung zugleich zu konstituieren und damit einen wesentlichen Schritt vorwärts zur Lösung des preußischen Problems zu tun. Statt dessen schuf man schleunigst wieder eine besondere preußische Staatsregierung, sogar mit doppelter Rollenbesetzung, und verbaute damit auch diesen Weg.“
Daraufhin erwies sich nach seinem Eindruck wiederum ein „horror novi bei den aus der Revolution hervorgegangenen einzelstaatlichen Regierungen“ als bestimmender Faktor.18 Mit paralleler Bildung einer preußischen Revolutionsregierung als „sechsköpfiger Ministerpräsident“19 war jene Doppelstruktur, die nach seiner Analyse bereits wesentlich zum Scheitern der 1848er Revolution beitrug, als stärkstes Hemmnis künftiger bundesstaatlicher Neuordnung rekonstruiert. Die in Berlin ansässige preußische Zentralverwaltung in den Reichsdienst zu übernehmen und die preußischen Gebietsverwaltungen auf neue Selbstverwaltungsregionen zu beziehen, wäre nach Meinung von Preuß wohl eine Reorganisation ohne viel „Chaos“ geworden. Auf diese Weise hätten sich möglicherweise auch kommunale Rätegremien zur Unterstützung der Verwaltungsreform länger beteiligen lassen, ohne sie zugleich als Rivalen der örtlichen Volksvertretungen aufzubauen.
18 Hugo Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung, Berlin 1922, S. 3, 5; ähnlich: Ders., Verfassung des Freistaats Preußen vom 30. November 1920, in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts 10 (1921), S. 223: „Nach dem Zusammenbruch des alten Regimentes am 9. November 1918 hatte der ‚Rat der Volksbeauftragten‘ die Funktionen der provisorischen Regierungsgewalt nur für das Reich übernommen, nicht auch zugleich für Preußen, was damals nahegelegen hätte.“ 19 So Philipp Scheidemann, Der Zusammenbruch, Berlin 1921, S. 211 – im Hinblick auf die formell gleichberechtigte Stellung der Volksbeauftragten ohne klare Ämterteilung.
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3. Vergleichsperspektiven der Verfassungskonzeption Vermutlich hatte Jellinek direktdemokratische Elemente gemeint, als er die Schweiz als Vorbild mit erwähnte. In dieser Hinsicht war aber durchaus Skepsis bei Preuß aus den ersten Verfassungsberatungen zu berichten: „An das Referendum trete er nicht ohne Bedenken heran. Es wirke nach den in der Schweiz damit gemachten Erfahrungen mindestens in sozialer Beziehung eher reaktionär als fortschrittlich. Der Apparat sei bei einem Siebzigmillionenvolk sehr groß“.20 Damit lässt sich auch die von Ernst Fraenkel ausgehende Legende dementieren, in einem des öfteren verwendeten Begriff der öffentlichen Meinung sei Preuß vom identitätsdemokratischen Denken Rousseaus beeinflusst worden.21 Stattdessen verwies er diesen Staatstheoretiker in die eidgenössische Kleinteiligkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse: Den „staatlichen Forderungen Rousseaus entsprechen höchstens in einigen Punkten die kleinen Kantone der Schweiz, die ihm auch – soweit er überhaupt sein Auge der Wirklichkeit öffnete – als Muster seines Staates vorgeschwebt hatten“.22 Nach den Kriterien von Preuß hatte die Schweiz „überhaupt kein parlamentarisches System“, denn der „Bundesrat ist auf bestimmte Zeit gewählt“23 und entsprach somit eher deutschen Stadt- als Staatsverfassungen. Vorbildhaft war für ihn aber „das Milizsystem“, welches „eine nahezu mustergültige Ausbildung in der schweizerischen Eidgenossenschaft erhalten“ hatte.24 Sein Hinweis, dass der Versailler Vertrag in der Beschränkung auf eine kleine Berufsarmee auch strukturell der Weimarer Demokratie schadete, ist hier mit zu bedenken.25 Darüber hinaus schätzte er den Bildungswert einer solchen Partizipationskultur – denn „jeder Schweizer Kutscher weiß besser über das Verhältnis von Eidgenossenschaft und Kanton Bescheid, als gar manche preußischen ‚Spitzen‘ über die Rechtsbeziehungen von Reich und Staat“.26 So wies er in seinen Verfassungskommentaren direktdemokratischen Akzenten vor allem die Bedeutung zu, den politischen Selbsterziehungsprozess eines allzu lange obrigkeitsstaatlich bevormundeten deutschen Volkes zu beför20 Zit. nach Max Weber, Gesamtausgabe, Bd. 16, Tübingen 1988, S. 76. 21 Vgl. Anm. 77 für den wesentlichen Bezugstext Fraenkels. 22 Hugo Preuß, Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie im Kaiserreich. Gesammelte Schriften Bd. 2, Hg. Dian Schefold, Tübingen 2009, S. 109. 23 Verhandlungen Nationalversammlung (wie Anm. 15), S. 264. 24 Preuß, Schriften Bd. 2 (wie Anm. 22), S. 400. 25 Vgl. Preuß, Schriften Bd. 4 (wie Anm. 6), S. 105, 172, 437, 515 (ein recht häufiges Argument). 26 Preuß, Schriften Bd. 1 (wie Anm. 7), S. 354.
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dern.27 Mit dem Begriff der Eidgenossenschaft wurde historisch weit ausholend der Bogen zum bürgergenossenschaftlichen Staatsdenken gespannt. Wie auch die Schweiz würdigte Preuß die USA jenseits des Bundesstaatsmodells zunächst wesentlich für die Aufnahme deutscher Freiheitskämpfer, die vor der politischen Reaktion flüchten mussten: Die ausführlichste Darstellung zur Schweiz blieb der Bericht über den Besuch in der sozialdemokratischen Exildruckerei unter dem Sozialistengesetz.28 Den Namen des US-Emigranten Franz Lieber tragen gleich zwei seiner Frühschriften im Titel; diese würdigten auch dessen Beitrag zur Entstehung von Politischer Wissenschaft.29 Ansonsten gilt einer Festigung der United States of America aus dem Bürgerkrieg sein Hauptaugenmerk. Wohl auch deswegen findet sich das ursprüngliche staatsbegründende Leitmotiv „E pluribus unum“, das amerikanische Münzen um die Welt getragen haben, nicht in den Schriften von Preuß: Es konnte noch unentschieden erscheinen lassen, welche Rolle den vielen Einzelstaaten in der einen Föderation zugedacht war. Unverkennbar ist aber der vergleichende Seitenblick auf geistig-politischen Sezessionismus von deutschen Südstaatlern: So heißt der bayerische John Calhoun für ihn Max Seydel, dessen Föderalismustheorie noch staatenbündisch konzipiert war.30 Allerdings folgte Preuß nicht der herrschenden Lehre eines Paul Laband, der über einzelstaatlichen Monarchien keine Gesamtmonarchie zu konstruieren vermochte und deshalb im Reich nur eine paradoxe Nicht-Monarchie mit einem Kaiser an der Spitze ausmachen konnte.31 Darin sprach wohl zuletzt auch der elsässische Staatsrat aus Laband: Er hatte das ohne tradierte Rechtskontinuität auskommende Kaisertum Napoleons III. vor Augen, welches auch Bismarck – als den eigentlichen Heros preußisch-deutscher Staatslehrer – inspiriert hatte. Insoweit wird der traditionalistische Monarchismus im kaiserzeitlichen Staatsdenken wohl überschätzt. Das war mehr die Sache der kleinen – freilich in preußischen Verwaltungsspitzen einflussreichen – Kreuzzeitungspartei, nicht unbedingt der freikonservativ-natio-
27 Vgl. Preuß, Schriften Bd. 4 (wie Anm. 6), S. 111. 28 Vgl. Preuß, Schriften Bd. 1 (wie Anm. 7), S. 118–122. 29 Vgl. Detlef Lehnert, Verfassungsdemokratie als Bürgergenossenschaft. Politisches Denken, Öffentliches Recht und Geschichtsdeutungen bei Hugo Preuß, Baden-Baden 1998, S. 59. 30 Vgl. Preuß, Schriften Bd. 4 (wie Anm. 6), S. 414. – Inwieweit Preuß die gesichteten Modelle außerdeutscher Verfassungsordnungen nach heutigem Kenntnisstand teilweise unzutreffend rezipierte, ist nicht Thema dieses Beitrags, der auf ihre Wirkung abzielt. 31 Vgl. Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, Tübingen 1911, S. 97.
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nalliberalen Hauptströmung, die eher ans weltliche Machtstaats-Vaterland als noch an das Gottesgnadentum glaubte. Auch Preuß betonte schon, dass eine letztlich ins Verderben führende imperialistische Traditionslinie von alldeutsch-völkischen Tendenzen des Kaiserreichs und der sog. Vaterlandspartei des Ersten Weltkriegs ausging. Das vielzitierte Kaiserbuch des Alldeutschen Heinrich Claß wurde nicht primär monarchistisch, sondern eher schon präfaschistisch motiviert.32 Wie naive Frömmigkeit war auch – von Bismarck faktisch längst in die Rumpelkammer der Geschichte gestellter – legitimistischer Erbmonarchismus weitgehend nur mehr den Blick vernebelndes Opium fürs gemeine Volk, das allerdings handfeste obrigkeitliche Machtinteressen verschleiern konnte. Der Bundesrat organisierte aus solchem Blickwinkel nicht die gemeinsame Staatssouveränität aus einem Fürstenbund. Ein vielköpfiger monarchischer „Scheinföderalismus“ verhüllte nach pointierter Formulierung von Preuß nur mühsam die „eiserne Faust“ der „preußischen Hegemonie“33, deren Führungsrolle für ihn auf dem Quasi-Bonapartismus aus Bismarcks Reichsgründung beruhte. Die amerikanische Präsidialverfassung hat Preuß so nicht übernehmen wollen. Das war mehr die Idee von Friedrich Meinecke, die insoweit wohl tatsächlich ersatzmonarchisch inspiriert blieb.34 An der Spitze auch der Regierung sollte nach dem Willen von Preuß ein volksgewählter Präsident schon deshalb nicht stehen, weil er dies für die Ursache des sog. Beutesystems der Verwaltungsspitzen hielt. Am ehesten kernpreußisch waren Passagen bei Preuß zu lesen, in denen er das Berufsbeamtentum und eine unabhängige Berufsrichterschaft verteidigte. Darin kam zugleich völlig klar zum Ausdruck, dass sein Verständnis des Volksstaates eben nicht den Rousseauschen Unmittelbarkeits-Mythos im staatstheoretischen Reisegepäck hatte. Bislang wenig beachtet worden ist daran anschließend, dass er offenbar amerikanische Impulse zu einer gerichtsförmigen Behandlung strittiger Verfassungsfragen sogar gegenüber allzu einseitiger Parlamentssouveränität favorisierte. Als er von einem Parteikollegen im Verfassungsausschuss mit durchaus skeptischem Akzent auf das Beispiel der praktizierten „amerikanischen Verfassung“ hingewiesen wurde: „Dort muss der Richter jedesmal 32 Zu dieser Schrift „Wenn ich der Kaiser wär‘“ (1912 unter Pseudonym Frymann) vgl. Detlef Lehnert, Auf dem Weg zur „nationalen Volksgemeinschaft“?, in: Klaus Megerle (Hg.), Warum gerade die Nationalsozialisten?, Berlin 1983, S. 14 f. 33 Preuß, Schriften Bd. 4 (wie Anm. 6), S. 461. 34 Sein bekanntes Zitat: „Ich bleibe, der Vergangenheit zugewandt, Herzensmonarchist und werde, der Zukunft zugewandt, Vernunftrepublikaner, bei Friedrich Meinecke, Verfassung und Verwaltung der deutschen Republik, in: Die neue Rundschau 31 (1919), S. 2, stand dann (S. 10 f.) in solchem Argumentationskontext.
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nachprüfen, ob das Gesetz rechtmäßig zustande gekommen sei“, plädierte er daraufhin für die Vermeidung des Streites um eine Regelung mit der eigenen Interpretation, „dass, wenn nichts gesagt ist, sich das richterliche Prüfungsrecht von selbst versteht“.35 Dies bedeutete nicht, dass Einzelrichter sich über das Gesetz erheben durften, sondern zunächst nur, dass sie bei Zweifeln diese in geeigneter Weise anzumelden hatten. Auch sonst wird man Preuß kein generell antipreußisches Ressentiment unterstellen können. Immer wieder betonte er einen „deutschen Beruf“ Preußens, was vor allem die Botschaft enthielt: Es sollten keine Vorwände für süddeutschen und kleinstaatlichen Partikularismus geliefert werden; also hatte Preußen zwar unitarisierend zu wirken, jedoch den Großstaat zugleich dezentraler auszugestalten. Dies sollte auch den Weg ebnen für die politischkulturelle Emanzipation des rheinisch-westfälischen Westens von ostelbischen Bastionen des Agrarkonservatismus.36 Die Gewaltenteilungsdoktrin Montesquieus hielt er mit Recht für ein grundlegendes Missverständnis des britischen Parlamentarismus. Aber er räumte zugleich ein, dass in der Praxis einiges dafür sprach, neben die Exekutive eine starke Legislative und autonome Judikative zu stellen, also weder reine Volks- noch Parlamentsherrschaft zu etablieren. Insoweit gehört Preuß ganz eindeutig, allen späteren Fehldeutungen Fraenkels zum Trotz, zu den Frühpluralisten der Staatstheorie.37 Nur so ist auch seine Ablehnung der Souveränitätslehre zu verstehen, die schon die Habilitationsschrift prägte. Deren Titel „Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften“ (1889) verwies bereits auf das spezifisch deutsche Konstruktionsproblem der Staaten- und Reichseinheit. Die absolutistische Staatssouveränität in Frankreich ließ sich in „demokratischer Inversion“, wie er sich ausdrückte38, mithin vom Kopf auf die Füße gestellt zu einer ähnlich kompakten Volkssouveränität umdeuten. Das schuf nicht zwingend freiheitsverbürgende Institutionen, wofür Preuß kaum noch, wie viele klassische Liberale, den Jakobinismus gedanklich zu Tode reiten musste. Denn im Ansatz schon der erste Bonaparte, in welchem der königlich-preußische Staatsphilosoph Hegel den Weltgeist zu Pferde sah, und allemal der zweite, der Vorbild und Opfer Bismarcks zugleich wurde, zeigten die Kehrseiten plebiszitärer Akklamation ohne entsprechenden politisch-kulturellen Reifegrad. 35 Verhandlungen Nationalversammlung (wie Anm. 15), S. 483. 36 Vgl. Preuß, Schriften Bd. 1 (wie Anm. 7), S. 293–314, zum Stichwort „West-Östliches Preußen“. 37 Vgl. Andreas Voßkuhle, Hugo Preuß als Vordenker einer Verfassungstheorie des Pluralismus, in: Jürgen Kocka/Günter Stock (Hg.), Hugo Preuß: Vordenker der Pluralismustheorie, Berlin 2011, S. 23–42. 38 Preuß, Schriften Bd. 1 (wie Anm. 7), S. 589.
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Das zentralistische Verwaltungssystem Frankreichs schilderte Preuß zwar mit Respekt für dessen rationale Struktur, die sich von der unübersichtlichen Vielstufigkeit in Preußen positiv abhob. Doch ebenso unzweideutig hielt er dies gerade auch mentalitätsgeschichtlich betrachtet für nicht übertragbar auf deutsche Verhältnisse; für sie kam nur ein „dezentralisierter Einheitsstaat“ in Frage.39 Insofern gehen Einstufungen von Preuß als einseitiger Unitarier oder gar „demokratischer Zentralist“40 gleichermaßen an seinen historischen Einsichten wie dem Kern eigener politischer Überzeugung vorbei. Diese war auf ein demokratisch erneuert verstandenes englisches Vorbild von local and national government fokussiert. Die ihm zumeist als emphatisches Leitbild zugeschriebene deutsche Selbstverwaltungstradition war keineswegs seine Zielperspektive, nur immerhin die bessere Ausgangsposition gegenüber Staatsvormundschaft. Zum kaiserzeitlichen Preußen stand er wesentlich deshalb in Opposition, weil der Hegemonialstaat gleichermaßen den Weg zu kommunaler und nationaler Selbstregierung blockierte, was insoweit sein kombiniertes Staatsmodell bildete. Dabei hatte Preuß von den kenntnisreichen Publikationen des Wiener Staatsrechtlers Josef Redlich profitiert, der zur Jahrhundertwende die innere Demokratisierungstendenz der englischen Lokalverwaltungen im Gleichklang mit jener des nationalen Parlamentarismus herausarbeitete.41 Damit löste dieser als Klassiker der politisch anglophilen Blickperspektive den 1895 verstorbenen Rudolf Gneist ab, der sich vom Honoratiorendenken nicht verabschieden wollte. Gleich dem akademischen Lehrer Gierke verschob sich, mangels Bereitschaft zur demokratischen Öffnung, der ursprünglich reformliberale Impuls Gneists zur freikonservativnationalliberalen Hauptströmung des kaiserzeitlichen Bildungsbürgertums. Hingegen entwickelte Preuß sich mit dem politischen Mentor Theodor Barth seit der Jahrhundertwende weiter nach links hin zum demokratischen Sozialliberalismus und erstrebte das Bündnis mit der Sozialdemokratie.42 39 Vgl. Preuß, Schriften Bd. 4 (wie Anm. 6), S. 104. 40 So die Formulierung in dem sonst informativen Beitrag von Heiko Holste, Die Nationalversammlung gehört hierher!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 10.1.2009, S. 2. Zum dezentralisierten Einheitsstaat bekannte sich hingegen auch der Verfassungskommentar: Preuß, Reich (wie Anm. 2), S. 157. 41 Vgl. Josef Redlich, Englische Lokalverwaltung, Leipzig 1901; zur Rezeption vgl. die Einleitung von Dian Schefold in: Preuß, Schriften Bd. 2 (wie Anm. 22), S. 56 f. 42 Vgl. Lothar Albertin, Liberaler Revisionismus: Theodor Barth und Hugo Preuß, in: Detlef Lehnert/Christoph Müller (Hg.), Vom Untertanenverband zur Bürgergenossenschaft. Symposion zum 75. Todestag von Hugo Preuß am 9. Oktober 2000, BadenBaden 2003, S. 59–96.
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Dabei wollte er auch dem Vorbild der Londoner Progressives folgen, die Reformliberale mit der Fabian Society und den Trade Unions als Gegengewicht zum Konservatismus und Wirtschaftsliberalismus zusammenfügten.43 Dass er als Großbürger damit gewissermaßen „Klassenverrat“ beging, war ihm vollauf bewusst: In launigem Ton versprach Preuß dem handverlesenen Steuerzahler-„Adel“ seiner Wähler der ersten Klasse im vornehmen Berliner Tiergartenviertel, weiterhin alles zu unternehmen, was ihren politischen und ökonomischen Privilegien oberflächlich betrachtet nur schadete.44 Das symbolische Kapital der Ehre, solchen Querdenker als Stadtverordneten zu entsenden, wurde damals offenbar als hinreichendes Motiv einmütiger Wiederwahl empfunden. Doch handelte es sich vermutlich teils um dieselbe urban-jüdische Kaufmannschaft, die 1906 auch seine Berufungssperre an staatliche Universitäten durchbrochen und ihm eine Professur für Öffentliches Recht an der privaten Berliner Handelshochschule verschafft hat.
4. Argumentationslinien im europäischen Kontext Die Weltkriegspropaganda und die quasi-halbdiktatorische Stellung des britischen Premiers in solchen Kampfzeiten mit ausgeprägtem ZentralisierungsSchub hat die Begeisterung von Preuß für dieses Vorbild sichtlich abgekühlt. Trotz noch massiverer Bedrückung seitens der französischen Siegermacht, unter den Stichworten Versailles und Rheinlandbesetzung in alle Geschichtsbücher eingegangen, fanden sich zu Weimarer Zeiten auch Bezugnahmen auf den französischen Republikanismus. Nunmehr sollte ein deutscher Nationalstaat dem französischen zumindest ähnlicher werden. Dem VielparteienReichstag allein traute Preuß dies im Wissen um kaiserzeitliche Erblasten nicht zu. So ließ er sich rasch von Max Weber überzeugen, dass anders als in Frankreich der künftige Präsident, als welcher nach Lage der Dinge am ehesten Friedrich Ebert auf der Vorschlagsliste stehen konnte, zur Stärkung seiner zusammenführenden Potenzen direkt vom Volk gewählt werden sollte. Auch wenn institutionell somit fast nichts unmittelbar an Frankreich erinnerte, war eben doch ein politisch-kulturelles Leitbild verfügbar. Bereits im Kaiserreich hatte sich Preuß, wie nur recht wenige Liberale, durchaus positiv anlässlich 43 Zum Metropolen-Vergleich: Detlef Lehnert, Kommunale Institutionen zwischen Honoratiorenverwaltung und Massendemokratie. Partizipationschancen. Autonomieprobleme und Stadtinterventionismus in Berlin, London, Paris und Wien 1888–1914, Baden-Baden 1994. 44 Vgl. Ernst Feder, Hugo Preuß. Ein Lebensbild, Berlin 1926, S. 15.
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des 100. Jahrestags der Französischen Revolution geäußert.45 Schon damals nahm er zur Kenntnis, dass auch bei den gefürchteten Jakobinern, die später gar von Lenin vereinnahmt wurden, zwei widerstreitende Tendenzen hervortraten: Neben Exponenten des autoritären Zentralismus und Tugendterrors gab es auch Kommunalisten im Sinne des bevorzugten Strebens nach städtischer Selbstregierung.46 Dieses kannte ebenso London und teilweise sogar Wien, aber es wurde für Berlin unter der Aufsicht des Oberpräsidenten in Potsdam schmerzlich vermisst. Neuere Forschungen wie jene Hedwig Hintzes, die Preuß noch würdigte, so wie sie ihm zwei engagierte Nachrufe geschrieben hat, trugen weiter zum positiven Gesamtbild der Französischen Revolution als Gründungserzählung moderner demokratischer Entwicklungen bei.47 An schlichter Übernahme von Traditionen des französischen Republikanismus hinderte Preuß seine bleibende Skepsis gegenüber Tendenzen, den klassischen Souveränitätsbegriff in Zuschreibung auf „das Volk“ retten zu wollen. Nicht zufällig steht in der Weimarer gleich der Bonner Verfassung, dass alle Staatsgewalt vom Volke „ausgeht“, sie also nicht dort exklusiv ausgeübt wird. Sonst würden gewaltenteilige und repräsentative Institutionen keinen weiteren Sinn ergeben. In realhistorischer Analyse war es ja auch nicht „das Volk“ als Ganzes oder wenigstens in aktiver Mehrheit, welches einen Verfassungsstatus durch neue Regularien ablöste. In der Regel geschah dies über handlungsfähig organisierte Minderheiten, die sich nachträglich Zustimmung verschaffen und wenigstens faktische Duldung sichern, um sich an der Macht zu behaupten. Die Rahmenbedingungen für große historische Revolutionen ließen sich ohnehin nicht kodifizieren; diesen außerjuristischen Rest aufgeklärten Naturrechts wollte er auch gegen die Alleinherrschaft des staatsrechtlichen Positivismus verteidigen. Doch unterhalb dieser Schwelle erschien ihm einzig rule of law, die Herrschaft des Gesetzes, als geeignetes Verfassungs-Leitbild. In dieses hatten sich auch die unmittelbaren Volksrechte einzufügen, um nicht gar zu leicht usurpiert werden zu können. Allein die „Rechtssouveränität“ konnte 45 Vgl. Preuß, Schriften Bd. 1 (wie Anm. 7), S. 146–155. 46 So erwähnte Hugo Preuß, Die Entwicklung des deutschen Städtewesens, Leipzig 1906, S. 234, dass die „freilich nie ausgeführte Jacobinische Verfassung von 1793“ sogar eine „fast unbeschränkte Kantonalsouveränität schaffen wollte“ (darin wohl Schweizer Erfahrungshintergründe Rousseaus reflektierend). 47 Vgl. einerseits Hugo Preuß, Rezension Alphonse Aulard, Politische Geschichte der Französischen Revolution, in: Deutsche Juristen-Zeitung 30 (1925), Sp. 977, zur „ausgezeichneten Einleitung“ von Hedwig Hintze hinsichtlich der „großen Revolution“; andererseits Hedwig Hintze, Hugo Preuß. Eine historisch-politische Charakteristik, in: Die Justiz 2 (1927), S. 223–237, sowie ihre Einleitung zu: Hugo Preuß, Verfassungspolitische Entwicklungen in Deutschland und Westeuropa, Berlin 1927, S. V–XX.
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für ihn, ohne dass er diesen Begriff letztlich für sinnvoll oder gar notwendig hielt, analog zur Kelsenschen Grundnorm-Hypothese noch hinter einer Verfassungsordnung stehen.48 Bei aller Wertschätzung der Amerikanischen und Französischen Revolution billigte Preuß dem langen Atem des englischen Parlamentarismus den höchsten geschichtlichen Wert zu.49 So hat er die eigene Verfassungskonzeption auf die parlamentarische Demokratie zugeschnitten, die von direktdemokratischen Elementen und der Volkswahl des Reichspräsidenten nur ergänzt werden sollte. Während Max Weber sich in den Verfassungsberatungen den Präsidenten als „Gegengewicht gegen das Parlament“ vorstellte, hat sich Preuß für die Rechte wie bei einem „beschränkten parlamentarischen Monarchen“ ausgesprochen und folgerichtig dem Reichskanzler „die Stellung eines englischen Premier-Ministers“ zugedacht.50 Die nicht selten als Bonner Verbürgung der Regierungsfähigkeit seit 1949 überschätzte politische Richtlinienkompetenz des Kanzlers steht wortgleich schon in der Weimarer Verfassung von 1919 (Art. 56) und in der neuen Preußischen Verfassung von 1920 (Art. 46). Von einer übergeordneten Kompetenz des Reichspräsidenten war keine Rede, solange Kanzlerregierungen sich eben selbst als das „bewegliche Bindeglied“, wie Preuß es formulierte51, gegenüber Präsident und Parlament zu behaupten verstanden. Auch ohne entsprechenden Verfassungsartikel ging schon Preuß von der Wirksamkeit allein des konstruktiven Misstrauensvotums aus: Eine in die Minderheit geratene Regierung hatte mit allen Rechten geschäftsführend im Amt zu bleiben, solange keine neue Mehrheit sie ablösen konnte.52 Die angebliche Verwiesenheit eines funktionierenden Parlamentarismus auf das britische Mehrheitswahlrecht hielt er für eine Geschichtslegende. In Wirklichkeit hatte sich das Zweiparteiensystem in England, wie bis heute in den USA, aus den gesellschaftlichen Kräften formiert; es war ursprünglich nicht durch Wahlbestimmungen herbeigezwungen worden. Sobald zumindest eine dritte Kraft, wie spätestens in den englischen 1920er Jahren, hinzugetreten war, erwies sich gerade auch das Mehrheitssystem – ohne zweite Wahlgänge wie in Frankreich – als überfordert, die gesellschaftliche Vielfalt noch angemessen zu repräsentieren. Nicht aus vermeintlich rousseauistischen Motiven sozusa48 Vgl. die Studie des Niederländers Hugo Krabbe, Die Lehre der Rechtssouveränität. Beitrag zur Staatslehre, Groningen 1906, und die Rezension von Preuß in: Archiv für öffentliches Recht 23 (1908), S. 307–314, auch Preuß, Schriften Bd. 2 (wie Anm. 22), S. 229–236. 49 In diesem Sinne: Preuß, Entwicklungen (wie Anm. 47), S. 432. 50 Zit. nach Weber, Gesamtausgabe Bd. 16 (wie Anm. 20), S. 85 f., 89. 51 Preuß, Staat (wie Anm. 4), S. 387. 52 Vgl. die Einleitung zu Preuß, Schriften Bd. 4 (wie Anm. 6), S. 51 f. mit Belegstellen.
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gen einer fundamentaldemokratischen Abbildtheorie blieb Preuß zusammen mit der Sozialdemokratie ein strikter Anhänger des Proportionalwahlrechts. Es ging ihm, getreu seinem bürgergenossenschaftlichen Staatsbild, auch um die Einbringung gesellschaftlich organisierter Pluralität in den parlamentarischen Willensbildungsprozess. Dies konnte eine wahlmechanisch erzeugte Bipolarität gerade auch im regional und konfessionell weitläufiger gegliederten Deutschland nicht leisten. Das war ein zusätzliches Argument für die scharfe Ablehnung des englischen Mehrheitswahlrechts, das Preuß zum altenglischen Relikt abstempelte.53 Er musste sich insofern nicht den Vorwurf gefallen lassen, eines der anderen nationalspezifischen Modelle ungeprüft zu importieren. Dass Österreich als vormaliger und äußerst fragiler Kriegsverbündeter, der zuvor ein ähnliches obrigkeitsstaatliches System aufgewiesen hatte, im Zeichen des Zerfalls eines Vielvölkerstaats aktuell nicht als Vorbild für deutsche Verfassungsberatungen zur Verfügung stand, mag einleuchten. Vor österreichischem Publikum ließ aber Preuß während des Ersten Weltkriegs durchaus Sympathien für einen damals vielleicht noch denkbaren Versuch erkennen, aus dortigen Verhältnissen eine „hohe Schule für die Symbiose verschiedener Nationalitäten in einem Staate“ machen zu wollen: „In diesem Zusammenhange vor allem interessant scheint mir der besonders von Renner vertretene Gedanke einer Scheidung des Politischen vom Nationalen in der Kompetenz wie in der Organisation und verbunden mit einer Demokratisierung der Selbstverwaltung. ... Der Nationalitätenstaat muss daher das ethnische Moment durch das politische Ferment des Gemeinwesens überbieten und so als Substrat seiner Gesamtpersönlichkeit die organische Willenseinheit eines übernationalen Staatsvolks entwickeln“.54
Dies klingt fast wie eine – insofern weit in die Zukunft hinausgreifende – Version der staatstheoretischen Grundlegung für eine zwar integrations-, aber darüber hinaus nicht auch nivellierungswillige Europäische Union. Tatsächlich ist ja das Habsburgerreich zum Ausgangspunkt paneuropäischer Ideen geworden, die in einer Periode des Nationalismus wohl noch keine Realisierungschancen hatten. Zu sehr waren die deutschsprachigen Österreicher als Vormacht präsent gewesen, um wenigstens noch die nicht-ungarische Reichshälfte auch nach einem verlorenen Krieg als Föderation zusammenhalten zu können. Gelöst waren die Nationalitätenprobleme auf diese Weise 53 Vgl. Preuß, Schriften Bd. 4 (wie Anm. 6), S. 253. 54 Preuß, Schriften Bd. 1 (Anm. 7), S. 581 f.
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nicht. Vielmehr enthielten die siegermächtig eingehegten Anschlussvisionen von Deutschösterreichern und die neohabsburgische Vielvölkerstruktur der parlamentarisch einigermaßen funktionierenden tschechoslowakischen Republik einige Sprengsätze für kommende politische Explosionen. Bislang kaum beachtet worden ist auch die Intensität, mit der Preuß den italienischen Weg zur Nationalmonarchie als versäumte Chance einer Durchtrennung des Gordischen Knotens preußisch-deutscher Selbstblockade erörterte. Die grenzüberschreitenden Verwicklungen aus der italienischen Nationalbewegung hatten schon den preußischen Liberalismus zunächst offensiv im Verfassungskonflikt der frühen 1860er Jahren auftreten lassen. Bei Lassalle, dessen Schriften Preuß kannte und schätzte55, fanden sich mit Blick auf die italienischen Ereignisse sogar Hoffnungen der Wiederaufnahme des Impulses von 1848. Den italienischen Politiker Camillo Cavour nannte Preuß in einem Atemzug mit George Washington als Architekten einer Staatskonstitution völlig anderen Zuschnitts als in Bismarckscher Reichsgründung.56 Jenseits von äußerlichen Konturen der nationalen Einigung war Italien aber noch weniger als Frankreich eine Bezugsquelle für Einzelaspekte im Verfassungsdenken bei Preuß. Denn zu sehr misstraute er ‚römischen‘ Traditionen des staatsimperialen Denkens. Zwar hielt sich Preuß von antikatholischen Kulturkampf-Akzenten fern, weil er Minderheiten jeglicher Art nicht diskriminiert sehen wollte und der protestantischen Hohenzollern-Monarchie wenig Sympathie entgegenbrachte. In dieser Hinsicht unterschieden sich Italien, mit dem Vatikan auf seinem Territorium, und das laizistische Frankreich ohnehin grundlegend. Aber diese großen westlichen und südlichen Nachbarn gehörten beide für ihn zu jener romanischen Welt, die er wegen tradierter Neigung zum staatlichen Zentralismus stets in Gefahr eines neuen Cäsarismus wähnte. Das war sicher keine völlige Fehleinschätzung, sofern neben dem Mussolini-Faschismus auch die mildere Variante des Bonapartismus und demokratieverträglicheren Gaullismus mit bedacht wird. Was Preuß von der Schweiz über die Niederlande und Skandinavien bis hin nach England zur Sphäre des Antiromanismus oder nach Gierkescher Terminologie gar noch dem juristischen „Germanismus“ zurechnete, waren Gebiete ausgeprägter Freiheitstraditionen. Diese gab es aber ebenso in Belgien, das ein auch von Preuß gewürdigter Pionierstaat des 55 So wie es für seinen Identifikationsbegriff des „Volksstaats“ gemeinsame Wurzeln zur frühen Sozialdemokratie hin gab, konnte sich Preuß, Schriften Bd. 4 (wie Anm. 6), S. 409, 423, 462 f., 465, 470, 508, 571, im „Scheinkonstitutionalismus“ als Kampfbegriff gegen den Obrigkeitsstaat einig wissen mit der Terminologie bei Ferdinand Lassalle, Gesammelte Reden und Schriften, Berlin 1919, S. 101. 56 Vgl. Preuß, Schriften Bd. 1 (Anm. 7), S. 122–128.
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modernen Konstitutionalismus schon nach der Pariser Julirevolution von 1830 war. Die Verselbständigung gegenüber den Niederlanden ließ Belgien so gesehen dann noch stärker zur spannungsreichen Begegnungsstätte zweier Kulturkreise werden. Noch unpassender gegenüber manchen Gierke-Doktrinen, zu denen Preuß nur schrittweise Abstand fand, bleibt aber die Tatsache, dass ausgerechnet Deutschland unter dem territorialstaatlichen Absolutismus und darauf bezogener Rezeption des römischen Rechts sich vom Idealtypus des juristischen Germanismus immer weiter entfernt hatte. Genau diese Entwicklung bildete aber für Preuß den kritisch gesehenen Ursprungspunkt für zusätzliche Rechtfertigungsideologien einer zunehmend verselbständigten Obrigkeitsgewalt: „Durch die Rezeption des römischen Rechts werden die Landesherren mit der Majestät der Cäsaren bekleidet. Denn mit dem römischen Privatrecht fand zugleich die politische Rechtlosigkeit der byzantinischen Despotie Eingang.“57 Diese Argumentationslinie griff der als Herausgeber jener „Kommunalen Praxis“, die solches druckte, in dieser Hinsicht Preuß nahestehende SPD-Reichstagsabgeordnete Albert Südekum auf, wenn er vor der englischen Fabian Society ungefähr zeitgleich ausführte, was bezüglich „the absolute state“ in deutscher Entwicklung zu verzeichnen war: Die „adoption of Roman law introduced the ideas of Byzantine despotism“.58 Das war gerade im Hinblick auf das landläufig negativ eingefärbte Bild eines „Byzantinismus“ absoluter Untertänigkeit auch zum Zweck polemischer Zuspitzung so formuliert. Dennoch ist die aus der Lehre Gierkes entwickelte Grundthese zur juristischen Romanistik ursprünglich von einigem Gewicht für die Gesamtkonzeption von Preuß gewesen. Immerhin war es gegen eine Dominanz des Machtstaats-Positivismus, ob realpolitischer oder staatsrechtlicher Prägung, eine herrschaftskritische Pointe, die Engländer und andere (nord)westliche Nachbarn als die wahren Erben eines älteren deutschen Stadtrepublikanismus hervorzuheben. Das hat Kelsen in seiner Polemik durchaus verkannt, wenn er Preuß unterstellte, die Staatstheorie aus „national-politischen Gesichtspunkten“ konstruieren zu wollen.59 Die Kelsensche Flucht in den universalistischen Rechtsrationalismus entsprang auch dortigen Orientierungsproblemen zwischen Renners Reformzielen im Habsburgerreich und moderat großdeutschen Perspektiven seit dessen Zerfall. Umgekehrt hätte Preuß einer Reinen Rechtslehre nach Art 57 Hugo Preuß, Die internationale Entwicklung des Selbstverwaltungsprinzips, in: Kommunale Praxis 7 (1907), S. 747. 58 Fabian News 1/1907, S. 93. 59 Hans Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, Tübingen 1920, S. 3 (Anm.1).
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Kelsens60 auch dann wenig abgewinnen können, wenn er fachlich damit intensiver befasst gewesen wäre, als es ihm durch politische Tätigkeit bedingt noch möglich war. Das klang methodisch doch zu ähnlich den Labandschen Postulaten, dass normative Juristen eben nicht mit den Schmuddelkindern Politik, Geschichte, Soziologie und Ökonomie spielen und sich keinesfalls an wirklichkeitswissenschaftlichen Nachbardisziplinen verunreinigen sollten. Wer so argumentierte, wollte die Rechtswissenschaft als logische Disziplin isolieren und gegen den Zugriff der Ideologien und Machtfaktoren immunisieren. Tatsächlich ist sie auch über den Staatsrechtspositivismus hinausgreifend als „Rechnen mit Begriffen“ charakterisiert worden.61 So wie spöttisch angemerkt wurde, dass Deutsche und Österreicher die gemeinsame Sprache trennt, waren der Berliner Preuß und der Wiener Kelsen jenseits methodischer Differenzen eigentlich denkverwandte sozialliberale Demokraten.62 Zusammen mit dem in Prag geborenen Österreicher Kelsen, dem englischen Radikalpluralisten Harold Laski und dem niederländischen Staatsrechtler Hugo Krabbe gehört Preuß zu den profilierten Souveränitätskritikern. Dieses Quartett von Autoren wurde aus gegnerischer Sicht auch schon von Carl Schmitt so wahrgenommen; dieser hat stattdessen in vielfältiger Hinsicht den aus römischer Tradition übernommenen Souveränitätsbegriff überstrapaziert. Allerdings fanden sich im deutschen politischen Denken bis hin zur Sozialdemokratie die Einflüsse der Hegelschen Emphase von Staatssouveränität, die sodann auf Volkssouveränität umgedeutet wurde. Dies galt jedenfalls für eine Traditionslinie von Lassalle bis zu Hermann Heller, als dem einzigen Sozialdemokraten unter den namhaften Weimarer Staatsrechtlern. Wenig bekannt ist aber hierzulande die Gegenposition des österreichischen Parteitheoretikers Otto Bauer, der jenen Etatismus nicht einfach nur vom Kopf auf die Füße stellte: 60 So bereits der Untertitel zu der in Anm. 59 genannten Studie, bevor dann 1934 eines der bekanntesten Werke Kelsens unter diesem Haupttitel erschienen ist. 61 Otto v. Gierke, Labands Staatsrecht und die deutsche Staatswissenschaft, Darmstadt 1961, S. 10. 62 Vgl. Detlef Lehnert, Hugo Preuß und Hans Kelsen als ‚linke Juristen‘ in der Weimarer Republik?, in: Manfred Gangl (Hg.), Linke Juristen in der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 2003, S. 75–99 (mit weiterer Literatur). Wenn Preuß nach Einschätzung von Jellinek, Entstehung (wie Anm. 3), S. 127, der „wohl der am weitesten ‚links‘ gerichtete Staatsrechtslehrer des damaligen Deutschlands“ genannt werden konnte, ist freilich der Standort der im Kaiserreich berufungsfähigen Kollegenschaft zu bedenken. Der frühe Preuß-Biograph Günther Gillessen hat als Publizist mit feinsinniger Ironie vermerkt: „Von rechts gesehen, stand er links“ (FAZ 18.10.2000). Allerdings hat Preuß als Stadtverordneter zuweilen tatsächlich damit kokettiert, die SPD in manchen Fragen links zu überholen, vgl. Anm. 92.
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Detlef Lehnert „Wollen wir frei werden von dem Banne der Ideen, die das Erbe der ostelbischen Epoche in Deutschlands Geschichte sind, dann müssen wir uns befreien von dem Aberglauben an die Allmacht der Gewalt und die Allgewalt des Staates.“ Dies formulierte er ganz im Stile eines Kritikers der Staatssouveränität in seiner Streitschrift „Bolschewismus oder Sozialdemokratie?“ vom Frühjahr 1920 und sah alle deutschen Hauptströmungen von solchen Erblasten bedrückt: „Noch sieht keine der deutschen Arbeiterparteien diese Aufgabe; nicht die Rechtssozialisten, die von dem alten Borussentum nicht emanzipiert sind, und nicht die Unabhängigen und Kommunisten, die der Versuchung des neuen Russentums erliegen.“
Ausdrücklich bezog sich Bauer stattdessen auf Traditionen des englischen „selfgovernment“ und wandte sich gegen jeden „Sozialismus von Ideologen, denen das Proletariat nur das Werkzeug der Idee ist“. Er vermied so auch den später auf Rudolf Hilferdings Theorie des Organisierten Kapitalismus gestützten reformerischen Etatismus, wenn er postulierte: „Sozialismus ist nichts anderes als industrial democracy, wirtschaftliche Demokratie“.63 Eine solche Wende vom herrschaftlichen zum genossenschaftlichen Denken vertrat in Deutschland am ehesten der Arbeitsrechtler Hugo Sinzheimer.64 Dieser war nicht allein für den von Preuß durchaus akzeptierten Räteartikel 165 der Weimarer Verfassung verantwortlich, sondern kam ursprünglich ebenso aus dem Kreis anglophiler Demokraten um Theodor Barth.65 Weitere prominente Namen dieser heute fast vergessenen Gruppierung waren Rudolf Breitscheid, später außenpolitisch führender Parlamentarier der SPD, und der bedeutende demokratische Publizist Hellmut von Gerlach. Sie alle zeichnete aus, seither nie auch nur ansatzweise für die von Otto Bauer gegeißelten altborussischen oder neurussischen Tendenzen des autoritären Staates anfällig geworden zu sein. 63 Otto Bauer, Bolschewismus oder Sozialdemokratie?, in: Werkausgabe (Wien 1975 ff.), Bd. 2, S. 356, 330, 328. Übrigens hat Friedrich Engels gerade in jenen letzten Lebensjahren nach dem Tod von Marx, als er dem Ziel einer demokratischen Republik mehr Eigengewicht zumessen wollte, sich ähnlich preußenkritisch geäußert: „Andererseits muss Preußen aufhören zu existieren, muss in selbstverwaltete Provinzen aufgelöst werden, damit das spezifische Preußentum aufhört, auf Deutschland zu lasten“ (MEW 22, S. 235). 64 Vgl. Karsten Malowitz, Die Persönlichkeit des Staates und das Wesen der menschlichen Verbände. Anmerkungen zur Genossenschaftstheorie Otto von Gierkes und ihrer Rezeption durch Hugo Preuß und Hugo Sinzheimer, in: Gangl (Hg.), Juristen (wie Anm. 62), S. 121–145. 65 Zu dessen Bedeutung vgl. Konstanze Wegner, Theodor Barth und die Freisinnige Vereinigung, Tübingen 1968.
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Damit ist auch deutlich ausgesagt, dass vergleichende Staats- und Verfassungswissenschaft im Sinne von Hugo Preuß nicht allein Theorie und Geschichte von politischen Institutionen und einzelnen Rechtsinstituten sein kann. Wie diese sich in der Praxis auswirken, hängt eben wesentlich auch von der politischen Kultur eines Landes ab. Diesen Begriff und das ihm zugrunde liegende Deutungskonzept kannte in Grundzügen auch schon Preuß. Allerdings bemängelte er vor allem eine „politische Unkultur“66, die in Deutschland zu überwinden sei, bevor auch dort Institutionen der parlamentarischen Demokratie wirklich funktionieren konnten.
5. Das Profil des Preußschen Konzepts und dessen Probleme Wenn hier eine Zusammenschau bislang gewonnener Erkenntnisse im Lichte heutiger Einsichten versucht werden soll, ist eine methodische Bemerkung vorauszuschicken. Auch Preuß hat in der verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung darauf hingewiesen, es bleibe „das Missliche in der Politik, dass man nie mit einem Laboratoriumsexperiment beweisen kann“.67 Insofern vermögen nur gute statt wirklich zwingende Gründe eigene Argumente abzustützen. Bei Preuß kommt erschwerend hinzu, dass er gegen den akademisch-politischen Mainstream vieler Generationen erst wieder neu zu entdecken ist. Auch in der Einleitung von Theodor Heuss zu einer Teilsammlung von Schriften klang bei aller bekundeten Wertschätzung doch an, dass jener am liberalen Rand des Mainstreams zu steuern trachtete und deshalb Preuß nicht umfassend würdigte: Ohne die Spätberufung zum Verfassungsvater „würde der Name von Hugo Preuß eine ehrenvolle Auszeichnung in der Geschichte der Verwaltungswissenschaft und ein Vermerk in der Berliner Lokalhistorie geblieben sein“.68 Da ließe sich erstaunt zurückfragen, wo der Name von Theodor Heuss oder selbst der von Konrad Adenauer in den Geschichtsbüchern zu finden wäre, hätten sie nicht 1949 noch in einem Alter, das Preuß gar nicht mehr erlebte, den Weg in die beiden höchsten Staatsämter gefunden. Das Lebenshauptwerk ist nun einmal vorrangig erinnerungsprägend. Deshalb muss vom Beitrag zur Weimarer Verfassung auch der Zugang zu anderen Aspekten wie den Spannungsfeldern zwischen Preuß und Preußen gesucht werden. 66 So z.B. Preuß, Schriften Bd. 1 (wie Anm. 7), S. 678. 67 Sitzungsberichte der verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung 30.10.1920, Bd. 10, Berlin 1921, S. 13379. 68 Einleitung von Theodor Heuss zu Preuß, Staat (wie Anm. 4), S. 6.
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Im Sinne einer akribischen Sichtung positiver Rechtsmaterie ist zwar „Das Städtische Amtsrecht in Preußen“ (1902) das bedeutendste akademische Werk von Preuß. Es fand sogar lobende Worte des führenden Juristen Laband69 und ließ die Berliner Fakultät vergeblich Preuß für eine außerordentliche Professur vorschlagen.70 Auch sonst war preußische Verwaltungsreform für ihn ein wichtiges Thema, bis hin zu einer historisch weit ausholenden Denkschrift von 1910.71 Aber unter den zumeist konservativen bis allenfalls nationalliberalen Staatsrechtlern blieb er stets ein Querdenker. „Neben jenen herrschenden Staatsrechtslehrern wirkte Preuß wie Heinrich Heine unter den Klassikern“72, ist dazu pointiert bemerkt worden. Darüber hinaus wird an Preuß neben der juristischen Prägung zunehmend das Profil eines frühen Politikwissenschaftlers erkennbar. Ihm schwebte eine fachübergreifende staatswissenschaftliche Forschung und Lehre vor, weshalb er anfänglich – wie Max Weber – auch volkswirtschaftliche Studien verfasst hat.73 Die vergleichende Betrachtung der Verfassungsordnungen moderner Staaten in möglichst umfassendem Verständnis war sein allgemeiner Fragehorizont. Schon der 28jährige frisch Habilitierte erwiderte der in väterlichem Ton gehaltenen Ermahnung des Dekans, mit seinen Ansichten werde er kaum eine große Karriere machen, überaus selbstbewusst: „Ich kann nur meinen Weg gehen und den werde ich gehen.“74 Der erste deutsche Reichsinnenminister einer parlamentarischen Regierung zu werden und den Verfassungsentwurf zu liefern, hätte sich auch ein als Sanguiniker bekannter Preuß wohl nicht träumen lassen. Aber niemals wie erhofft Reichstagsabgeordneter geworden zu sein, blieb doch ein Rest des politischen Scheiterns. Ersatzweise seine politische Laufbahn im Preußischen Landtag zu beenden, den er in solcher Form gar nicht rekonstruieren wollte, muss als kleine Ironie der Geschichte vermerkt werden. Aber Preuß war eben kein Doktrinär und wusste mit britisch anmutendem common sense auf die tatsächlichen Verhältnisse zu reagieren. Nicht unproblematisch war gleichwohl der Versuch, wie aus einem großen Baukasten die jeweils vorzugswürdig erscheinenden Verfassungstraditionen 69 Paul Laband, Rezension zu Hugo Preuß, Das städtische Amtsrecht in Preußen, in: Archiv für öffentliches Recht 18 (1903), S. 73–84. 70 Vgl. Müller, Preuß (wie Anm. 8), S. 726. 71 Preuß, Schriften Bd. 2 (wie Anm. 22), S. 645–731; hierzu den Beitrag von Dian Schefold in diesem Band. 72 Elmar M. Hucko, Zur Erinnerung an Hugo Preuß, in: Neue Juristische Wochenschrift 1 (1985), S. 2309. 73 Vgl. Lehnert, Verfassungsdemokratie (wie Anm. 29), S. 473 und 477 f. 74 So beschrieben in einem Gedenkartikel in der linksliberalen Frankfurter Zeitung, 14.10.1925.
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sehr verschiedener Länder zum neuen Entwurf zusammenzufügen. Spätestens der Erste Weltkrieg hatte aber Entwicklungen offenkundig werden lassen, die ein schlichtes Wiederanknüpfen an die preußischen Reformer und die Frankfurter Paulskirche als gar zu anachronistisch erscheinen lassen musste. Das meistgelesene Buch von Preuß „Das deutsche Volk und die Politik“ von 1915 mündete deshalb folgerichtig in die Botschaft, dass nunmehr forciert der Anschluss an die westlichen Verfassungstraditionen gefunden werden müsse. Eines seiner durchschlagendsten Argumente war, dass ein Regime sich überlebt hatte, welches die Parlamentarisierung aus Gründen der außenpolitischen Machtentfaltung verweigerte, unter Kriegslasten sich aber gerade nicht gegen die parlamentarischen Demokratien bewährte. Diese Kritik des Obrigkeitsstaates erreichte nun auch reformbereite Nationalliberale wie Gerhard Anschütz und Max Weber. Beide waren im Gegensatz zu Preuß noch Bismarckianer gewesen.75 Aber wo nur ein neuer Bismarck das System hätte beherrschen können und nicht am Horizont auftauchte, war dann eben die Zeit reif zum Übergang in neue, volksstaatlich geprägte Verfassungsmodelle. Dass er die zeittypisch skeptischen Diagnosen Redslobs76 zum französischen Parlamentarismus übernahm, wird man Preuß kaum besonders ankreiden können. Einen volksgewählten Reichspräsidenten wie Ebert vorzusehen, erschien in der konkreten Verfassungslage zum Jahreswechsel 1918/19 nicht prinzipiell unvernünftig. Ein solches Modell war nicht, wie Fraenkel durch eine „Bonn ist nicht Weimar“-Brille meinte, primär noch der Ausfluss „obrigkeitsstaatlichen Denkens“77. Es gab dafür, wie auch ein britischer Wissenschaftler bestätigt, durchaus „good democratic reasons“.78 Nicht gefolgt werden kann hingegen Redslob und damit auch Preuß, dass ein Verzicht auf einen an der Regierungsbildung beteiligten Präsidenten einen „unechten Parlamentarismus“ geschaffen hätte, weil der originäre englische den
75 In seiner Autobiographie bestätigte Gerhard Anschütz, Aus meinem Leben, Frankfurt a.M. 1993, „der Monarchie wie der Republik mit gleicher Überzeugungstreue als Staatsrechtslehrer gedient“ zu haben; mit solchem Kontinuitätsbewusstsein sei er „stets bestrebt“ gewesen, „das Werk von Weimar nicht so sehr als einen Umsturz, denn als eine Fortentwicklung, Fortbildung der Verfassung des Kaiserreichs“ darzustellen (S. 328 und 287). 76 Vgl. Robert Redslob, Die parlamentarische Regierung in ihrer wahren und in ihrer unechten Form, Tübingen 1918. 77 Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, 6. Aufl. Stuttgart 1974, S. 147. 78 Peter Stirk, Hugo Preuss. German Political Thought and the Weimar Constitution, in: History of Political Thought 23 (2002), S. 497 f. (und das Fazit S. 514).
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Monarchen mit vorsah.79 Dessen Rolle ist schließlich, und das konnte auch der englandorientierte Preuß nicht übersehen haben, zum Zeremonienmeister der Regierungseinführung entsubstantialisiert worden. Auch das ursprüngliche Kelsensche und das bundesdeutsche Verfassungsmodell kann nicht ernstlich „unechter“ Parlamentarismus genannt werden. Vielmehr ist ein zum Staatsnotar und zur nationalen Symbolfigur entmachteter Bundespräsident geradewegs das passende Gegenstück zu den in gar keiner Weise mitregierenden Monarchen im heutigen West- und Nordeuropa. Mehr sachliches Gewicht hat das – auch nicht gerade unproblematische – Preußsche Stichwort „Parlamentsabsolutismus“, den er damals vermeiden wollte.80 Bei Kelsen und manchen sozialdemokratischen Vorstellungen, sofern ihnen nicht direktdemokratische Leitbilder der Schweiz vorschwebten, erschien tatsächlich zuweilen die Regierung wesentlich nur als geschäftsführender Parlamentsausschuss.81 Die Sorge um die neuerliche Verselbständigung einer Obrigkeitsgewalt war vor dem Hintergrund der preußischen und österreichischen Geschichte verständlich. Doch reine Parlamentsherrschaft war allenfalls mit einem Zweiparteiensystem, dem Österreich in den 1920er Jahren nahe kam, aber nicht mit einem regionalisierten und bikonfessionellen Vielparteiensystem wie in Deutschland einigermaßen realistisch vorstellbar. Da konnte ein Präsidentenamt, das verfassungstragende Parteien und die Regionen zusammenführen sollte, konzeptionell durchaus Sinn machen. In der tschechoslowakischen Republik bewährte es sich damals, weil ein Masaryk eben Demokrat blieb und nicht zum Hindenburg wurde, in dieser Hinsicht trotz mindestens so heterogener Parteien- und Parlamentsverhältnisse.82 Ausgerechnet z.B. in der Entscheidung über Krieg und Frieden hat sich auch in Großbritannien – mit Ursprüngen in den Weltkriegen bis hin zu Thatcher 79 Vgl. Preuß, Schriften Bd. 4 (wie Anm. 6), S. 340; so auch bei Preuß, Staat (wie Anm. 4), S. 387. 80 Preuß, Schriften Bd. 4 (wie Anm. 6), S. 91, 109, 341. 81 Hingegen wollte Preuß – Verhandlungen Nationalversammlung (wie Anm. 15), S.427 – mit derartigem Stichwort ersichtlich nur Besorgnisse der neuerlichen Etablierung von Obrigkeitsgewalt abfedern: „Da wir nach der neuen Verfassung eine parlamentarische Regierung haben, die jederzeit verantwortlich ist, kann diese nicht in einer Weise gebunden werden, wie noch nie eine reine Obrigkeitsregierung gebunden worden ist. Die Regierung ist doch nur der Exekutivausschuss des Parlaments, und das Parlament hat doch das größte Interesse, der Regierung nicht Hände und Füße zu knebeln.“ Eine nicht allzu eng angebundene, sondern parlamentarisch verantwortliche Regierung war dann gerade nicht bloß ein „Ausschuss“ des Kreationsorgans, sondern zu selbständigem politischen Handeln ermächtigt. 82 Vgl. Karl Bosl (Hg.), Die Erste Tschechoslowakische Republik als multinationaler Parteienstaat, München 1979.
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und Blair – ein fast schon „präsidialer Stil“ etabliert.83 Das ist wohl ein klares Indiz für zu viel Machtkonzentration in den Händen einer Person, die nur die Mehrheit der eigenen Fraktion benötigt, welche ihrerseits wahlrechtsbedingt noch nicht einmal die Bevölkerungsmajorität repräsentieren muss. Wie Frankreich war England trotz seiner weit verzeigten Lokalverwaltungen und der innerbritischen nations eben nie ein Bundesstaat gewesen und tendierte somit letztlich zur nationalen Repräsentation an einem hauptstädtischen Ort. Das hielt auch der eingefleischte Berliner Preuß nicht für auf Deutschland übertragbar. Deswegen fügte er institutionell diesbezügliche Bausteine aus den USA und der Schweiz mit ein. Der wirkliche Fehler in der Konstruktion der Weimarer Verfassung lag mehr im ‚Diktaturartikel‘ 48. Dessen versäumte Ausführungsbestimmungen mahnte auch Preuß zu spät an, weil er seinem Auftraggeber Ebert die Instrumente zur Abwehr republikfeindlicher Kräfte nicht zu früh beschneiden wollte. Hier erkannte Preuß aber 1922 bei der von ihm abgelehnten Bildung des Cuno-Kabinetts, wie auch Ebert unter zu großen Einfluss von Mitarbeitern und Beratern mit vordemokratischen Denkweisen geraten war.84 Etwas gegen den Strich der herrschenden Lehre in Geschichts-, Politik- und Rechtswissenschaft gelesen, lag diese teilweise schon 1922/23 beginnende präsidialstaatliche Fehlentwicklung aber vielleicht mehr darin begründet, erst Hindenburg 1925 mit Volkswahl-Mandat ausgestattet und es ihm fatalerweise 1932 verlängert zu haben. Wäre nämlich Ebert in den ersten Jahren nach Inkrafttreten der Weimarer Verfassung, wie diese es vorsah und Preuß das nun anders kaum mehr für verfassungsgemäß hielt85, tatsächlich vom Volk gewählt worden, hätte er sich möglicherweise besser gegen die Beharrungskräfte im Staatsapparat behaupten können. Jedenfalls wäre es mit solchem Mandat im Rücken wohl kaum zur weithin ungestraften Demontage seiner Autorität 83 Vgl. den Hinweis bei Karina Urbach, „Moscow is making war on England“, in: Christoph Gusy (Hg.), Demokratie in der Krise: Europa in der Zwischenkriegszeit, BadenBaden 2008, S. 154. 84 Das halbparlamentarische Cuno-Kabinett führte auch zu erster öffentlicher Kritik am sonst von ihm positiv eingeschätzten Präsidenten Ebert: Preuß, Schriften Bd. 4 (wie Anm. 6), S. 396. 85 Das ergibt sich aus seiner Ablehnung verfassungsdurchbrechender Einzelbeschlüsse anstelle der ordnungsgemäßen Verfassungsänderung bei Preuß, Schriften Bd. 4 (wie Anm. 6), S. 551: „Ein verfassungsänderndes Gesetz muss also, um verfassungsgemäß zu sein, nicht nur in den erschwerten Formen der Verfassungsänderung ergehen, sondern auch die Verfassung wirklich ändern, sei es durch Änderung ihres Textes, sei es durch Zusätze zur Verfassungsurkunde; andernfalls ist es verfassungswidrig und daher nichtig“.
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von rechts her gekommen, die Ebert zuletzt gar mit in den allzu frühen Tod getrieben hat. Bis heute verwechselt manche denkfaule Geschichtsdeutung die Abfolge von Ereignissen mit Kausalität, das wohlmeinende Spottwort von Historikern als „rückwärts gewandten Propheten“ geradewegs bestätigend. Das frühe Sterben von Ebert und die Langlebigkeit Hindenburgs hätte Preuß wohl auch nicht vorausgesehen, wäre er wie sein bekannter Berliner Stadtverordneten-Kollege Virchow im Hauptberuf Medizinprofessor gewesen. Solche und andere historische Kontingenzen und Imponderabilien lassen sich kaum jemals durch Verfassungsartikel bändigen. Hätten nachkriegsbedingte Verkehrsprobleme Max Weber anstelle des präsidialskeptischen Beiratsmitglieds Anschütz und des ähnlich denkenden, von Preuß geschätzten Verwaltungsreformers Bill Drews am Erscheinen in Berlin gehindert, wäre aus diesen Beratungen dann möglicherweise auch kein Präsidentenamt in Volkswahl – und dementsprechend kompetenzstark – dabei herausgekommen.86 Vermutlich hätte Ebert als Reichskanzler die Kontinuitätsanleihe beim letzten kaiserzeitlichen Kabinett, als ihm Prinz Max von Baden das Reich in die Hände legte, in gemäßigten bürgerlichen Kreisen mindestens so getragen wie das Präsidentenamt nur von Parlamentsgnaden, aber ohne Volkswahlmandat. Das mag auch ein Hintergrund mancher sozialdemokratischen Gegnerschaft zu solcher Direktwahl gewesen sein, die scheinbar Ebert von der Staatsspitze ferngehalten, in Wirklichkeit ihn auf das einst von Bismarck geformte Amt des Reichskanzlers verwiesen hätte.87
6. Bilanz und Ausblick Inzwischen haben deutsche Parlamente an breiter Akzeptanz, wenn auch damit noch immer nicht an Identifikationswert gewonnen. Es macht eben doch einen Unterschied aus, ob Jahrhunderte wie in England oder nur Jahrzehnte dem Parlamentarismus zur Verfügung standen, um sich im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Diese grundlegende historische Differenz hatte schon Preuß erkannt. Das Stichwort „Improvisierung des Parlamentarismus“ stammt von ihm aus den Oktobertagen 1918 und wurde von Theodor Eschenburg, der Preuß immerhin korrekt erwähnte, dann später als die „improvi86 Vgl. die Belegstellen in der Einleitung zu Preuß, Schriften Bd. 4 (wie Anm. 6), S. 13 (dortige Anm. 45). 87 Ohnehin ist die Einstufung des Reichspräsidentenamts der Weimarer Republik als „ersatzmonarchisch“ allzu einseitig vergangenheitsorientiert. Der seinerzeit einzige Großstaat mit volksgewähltem Staatsoberhaupt, die USA, ist wohl nicht zufällig auch die einzige Großmacht, die nie monarchisch oder diktatorisch regiert wurde.
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sierte Demokratie“ (1954) bekannter gemacht.88 Neben dem preußischen Langzeit-Ministerpräsidenten Otto Braun, der historiografisch angemessen beachtet wurde89, ist bislang nicht hinreichend gewürdigt worden, dass auch der Reichstagspräsident Paul Löbe von 1920 bis 1932 ein solcher tragender Kontinuitätsfaktor der Republik war.90 Wenn Preuß, der – anders als Max Weber, bei dem es also ernstlich nur das Universitätsmilieu beklagen konnte – immerhin jahrzehntelange politische Erfahrung hatte, kein Reichstagsmandat erhielt, war das auch im Gruppen-Proporzdenken mit begründet: Zwecks Abspiegelung der Mitglieder- und Wählerbasis sollten bevorzugt die größeren Teilgruppen der Gesellschaft berücksichtigt werden. So blieb für nicht auch z.B. als Verbandsfunktionäre tätige Intellektuelle kaum mehr ein freier Platz. Nicht einmal jungdemokratische Unterstützung für diesen immer noch jugendfrisch reformwilligen 60jährigen reichte dann für einen chancenreichen Listenplatz aus. Sich mehr um eine innerparteiliche Hausmacht zu kümmern, hielt ein Gelehrtenpolitiker wie Preuß spätestens mit dem ihn ohnehin qualifizierenden Verfassungswerk eher als unter seiner Würde und Eignung. Nicht ohne Stolz wollte er die DDP als die „einzige rein politische Partei“91 vom Zugriff anderer, sei es der Kirchen oder von Interessenverbänden, möglichst frei halten. Nur fehlten einer Partei, die auf die Gewinnung einer besonderen Klientel wie z.B. der Angestellten und der unter ihnen zahlreich vertretenen Frauen kein hinreichendes Augenmerk lenkte, dann eben auch rasch die erforderlichen Millionen von Wahlstimmen.92 Dafür machte Preuß mit Recht kaiserzeitlich geprägte Funktionäre mit verantwortlich; er übersah aber, wohl dem eigenen – wie immer auch kritisch reflektierten – Großbürger-Milieu geschuldet, manche Erfordernisse moderner Massenpolitik. Für diese hatte Friedrich Naumann, der auch zu früh verstarb und in seinen Ideen teilweise 88 Vgl. Preuß, Schriften Bd. 1 (wie Anm. 7), S. 718–720. 89 Vgl. Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, Frankfurt a.M. 1977. 90 Dessen Tätigkeit wird punktuell beleuchtet und positiv gewürdigt bei Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik, Düsseldorf 2002. 91 Preuß, Schriften Bd. 4 (wie Anm. 6), S. 592. 92 Als Berliner Stadtverordneter hatte Preuß sich aber zur „festen Sicherung der Rechtsstellung der städtischen Beamten und Angestellten“ bekannt und darin als unzulänglich betrachtete Dienstordnungen zurückgewiesen: „Wenn wir in dieser ablehnenden Haltung uns vielleicht als äußerste Linke zeigen sollten und vielleicht noch weiter gehen sollten als die Herren Sozialdemokraten, so werden wir diese gefährdete Situation auf uns nehmen müssen“ (Amtlicher stenographischer Bericht über die Sitzung der Stadtverordnetenversammlung vom 31.5.1900, S. 294).
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sehr ambivalent blieb93, immerhin schon mehr Verständnis – trotz oder vielleicht gar wegen der kläglich gescheiterten Versuche seiner nationalsozialen Arbeiteragitation. Das problematische Stichwort einer plebiszitären „Führerdemokratie mit ‚Maschine‘“94 meinte auch Max Weber in seinen klassischen Thesen zu „Politik als Beruf“ sicher ohne Bezug auf möglichen faschistischen Missbrauch. Zumal er bis zu seinem Tod 1920 von Mussolinis oder gar Hitlers Ambitionen nichts wissen konnte, verwies solcher Typus zuvor auf den Übergang zur Massenagitation vor allem in englischen und amerikanischen Wahlkämpfen. An neuen soziologischen Fragestellungen zeigte Preuß anfänglich Interesse; er fand aber nach Übernahme der Professur an der Handelshochschule 1906 und der unbesoldeten Stadtratstätigkeit 1910 kaum noch Zeit, sich über das eigene Fachgebiet hinaus umfassend auf dem Stand des sozialwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts zu bewegen. In der Preußischen Landesversammlung hatte die DDP für Preuß aber dann auch deshalb Verwendung, weil eine neue Landesverfassung überhaupt erst noch erarbeitet werden musste, was sich bis zum Herbst 1920 weiter hinzog. Dort war es freilich noch unverständlicher, mangels eigenständiger Staatsspitze davon zu sprechen, dann „nicht das reine parlamentarische System“ geschaffen zu haben.95 Das änderte zwar an konstruktiver Praxis der Weimarer Koalition nichts, die Preuß bis zu seinem Tod 1925 aktiv förderte. Solche Nebentöne konnten jedoch für eine weitere Verankerung parlamentarischer Leitgedanken auch nicht gerade hilfreich sein. Dennoch bewegten sich die aus heutiger Sicht irritierenden Stichworte wie „unechter Parlamentarismus“ oder „Parlamentsabsolutismus“ nur auf terminologischer Ebene und beeinflussten nicht ersichtlich sein entschiedenes Wirken für die Herausbildung und Festigung einer parlamentarischen Demokratie. Im Ergebnis kristallisiert sich bei Preuß gerade in den betrachteten Vergleichsperspektiven ein Kerngehalt seines Verfassungsdenkens heraus, dessen modern bundesstaatliches Profil bislang zu wenig beachtet worden ist. Die positiven Bezugnahmen auf die Schweiz und die USA als unterschied93 Ohne hier auf seinen Entwurf eines Grundrechtskatalogs einzugehen, ist es wohl im Kern zutreffend, im „aktiven Liberalismus“ mit gesellschaftskritischen Akzenten den „religiösen“ Zugang als „Typus Naumann“ und den „rationalistischen“ als „Typus Preuß“ zu charakterisieren; so der Nachruf von Gertrud Bäumer, Der Schöpfer der Reichsverfassung, in: Die Hilfe Nr. 20 v. 15.10.1925, S. 418; vgl. auch Peter Theiner, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik: Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860–1919), Baden-Baden 1983. 94 Max Weber, Gesammelte Politische Schriften, 3. Aufl. Tübingen 1971, S. 544. 95 Preuß, Verfassung (wie Anm. 18), S. 271.
Konzepte des modernen demokratischen Bundesstaats
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lich dimensionierte Vorbilder solchen Zuschnitts ließen dieses Richtmaß seiner Argumentation deutlich erkennen. Umgekehrt fanden die Möglichkeiten einer Übernahme französischer Traditionsbestände in dortiger zentralstaatlicher Organisation ihre unverkennbaren Grenzen. Dies galt dann auch für andere Länder des „romanischen“ Staatstyps, wenngleich Italien für Preuß ein historisches Beispiel nationalmonarchischer Überwindung dynastisch-partikularistischer Erblasten darstellte. Die Entwicklungen in den Niederlanden und Skandinavien glaubte Preuß schon deshalb nicht im einzelnen auswerten zu müssen, weil sie im Ergebnis strukturanalog zum englischen Vorbild des Übergangs zur parlamentarischen Monarchie ausfielen. Der britische Typus eines letztlich demokratisierten Nationalstaats beruhte zwar im Ursprung auf starken Elementen lokaler und regionaler Selbstverwaltung. Doch hatte sich dort unter den Einflüssen der imperialistischen und staatsinterventionistischen Epoche, forciert im Ersten Weltkrieg, ein unverkennbarer Zentralisierungsschub ergeben, der einer schlichten Übertragung auf deutsche Verhältnisse mit ihrer strukturell wie mental ausgeprägteren Regionalisierung entgegenstand. Deshalb erschien keines der vorgefundenen Modelle ohne weiteres auf die Gründungskonstellation einer deutschen Republik nach der Novemberrevolution 1918 übertragbar. Aus der eigenen Geschichte waren Anknüpfungspunkte der Frankfurter Paulskirche zu finden, die jedoch auch wesentlich am ungelösten Dualismus gescheitert ist: Zum einen verblieb die Spannung zwischen klein- und großdeutschen Perspektiven, zum anderen das ungeklärte Verhältnis Preußens zum Gesamtstaat, auch unter Ausklammerung der zusätzlichen österreichischen Probleme. Selbst ungeachtet der politischen Meinungsverschiedenheiten in den weiteren Beratungen konnte insofern kaum ein Gesamtentwurf „aus einem Guss“ von Preuß erwartet werden. Die balancierte Kombination von Elementen, die in anderen Ländern bewährt erschienen, vermochte auch seinem pluralistischen Staatsdenken besser gerecht zu werden als Vorstellungen homogener Organisationsformen von politischer Führung, wie diese zeitgenössisch u.a. von Carl Schmitt vertreten wurden. Ob eine Umsetzung des – gleichermaßen unitarischen wie dezentralisierten – Preußschen Bundesstaatsmodells, insbesondere hinsichtlich einer grundlegenden Neuorganisation Preußens, der Weimarer Republik andere Chancen der Etablierung auch stärker regional verwurzelter Demokratie eröffnet hätte, ist wohl eine allzu hypothetische Frage. Bis heute wird aber die strukturkonservative Ablehnungsfront, die wesentlich von den ihre Stammgebiete verteidigenden Funktionärsgruppen getragen wurde, in der absorbierenden Breitenwirkung überschätzt. Das Wahlvolk ist dazu nicht befragt worden, in den bedeutenden
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DDP-nahen Tageszeitungen fand Preuß durchaus Resonanz.96 Kluge Geister unter den engagierten Demokraten wie der spätere SPD-Justizminister Gustav Radbruch unterstützten den Verfassungsbeauftragten dann auch politisch: „Bei der Sozialdemokratie steht es jetzt, mit Entschiedenheit und Festigkeit den Entwurf Preuß durchzusetzen.“97 Dem tatsächlich beschrittenen Weg des Kompromisses hat dann aber eine Dreiviertelmehrheit der Weimarer Verfassungsparteien, in Preußen sogar um die nationalliberale DVP erweitert, die Legitimation verschafft. Die Vorstellungen der verfassungsgegnerischen Parteien enthielten keine brauchbare Alternative. Folglich macht es aus Blickwinkeln jener verfassungspolitischen Strömungen, die sich in eine Traditionslinie von der Paulskirche 1848/49 zum Grundgesetz von 1948/49 stellen, nur wenig Sinn, das historische Bindeglied der Weimarer Demokratie zu verkennen. In welchem Dilemma komplexer Problemlösungen sich die Verfassunggebende Nationalversammlung und mit ihr der Autor des bereits modifizierten Entwurfs befanden, wird gerade auch im europäischen Vergleich zusätzlich nachvollziehbar.
96 Beispielsweise Vossische Zeitung 29.1.1919 „Der Fall Preuß“ und seine dort am Folgetag veröffentlichte Stellungnahme, abgedruckt in Preuß, Schriften Bd. 4 (wie Anm. 6), S. 75 f. 97 Vorwärts, 25.1.1919.
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Hugo Preuß, das Problem der Selbstverwaltung und die Rezeption des Freiherrn vom Stein 1. Dimensionen des Problems der Selbstverwaltung im Kaiserreich Die Selbstverwaltung war für Hugo Preuß der Angelpunkt der Modernisierung des politischen Systems des Kaiserreichs, sie stand daher auch lange Zeit im Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen Forschung und publizistischen Tätigkeit. Er widmete sich ihr umfangreich in historischer Perspektive, wenn man vor allem an seine Arbeit Entwicklung des deutschen Städtewesens denkt, von der nur der erste Band, die Entwicklungsgeschichte der deutschen Städteverfassung erschien1, gefolgt von zahllosen politischen und rechtsgeschichtlichen Studien zur Stadtgeschichte.2 Aber auch und vor allem in systematischer Hinsicht galt Preuß’ Werk der Erforschung und Erschließung der Stadt. Den Grundstein legte er bereits in seiner Habilitation3 und es folgte die Arbeit zum Städtischen Amtsrecht.4 Die Stadt und die Gemeinde als Rechtsgebilde interpretierte Preuß als eine Herausforderung geltender, zentraler rechtstheoretischer Begriffe wie dem der Souveränität. Die Souveränität wurde im Kaiserreich hauptsächlich in der Bundesstaatstheorie diskutiert. Diesen Horizont wollte Preuß um die Dimension der Städte erweitern. Kommunen, Länder und Staaten sind demnach jeweils Gebietskörperschaften und begrifflich zunächst als gleichrangig zu betrachten. Es gab für Preuß keinen aus der Natur der Sache oder aus dem Begriffe abgeleiteten prinzipiellen Rangunterschied. Es gab nur eine in eigener Verantwortung zu organisierende Kompetenzaufteilung, die dann in jeder konkreten politischen Ordnung sehr unterschiedlich ausfallen kann.5 Mit dieser Theorie nahm Preuß eine Minderheitsposition innerhalb des syn1 Hugo Preuß, Die Entwicklung des deutschen Städtewesens, Leipzig 1906. 2 Hugo Preuß, Ein Jahrhundert städtischer Verfassungsentwicklung (1908), in: Ders., Staat, Recht und Freiheit, Tübingen 1926, ND 2006, S. 25–73; ferner: Ders., Staat und Stadt, ebd., S. 73–102; ders., Die wirtschaftliche und soziale Bedeutung der Stein-Hardenbergschen Reform, Berlin 1908. 3 Hugo Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, Berlin 1889. 4 Hugo Preuß, Das städtische Amtsrecht in Preußen, Berlin 1902. 5 Ebd., S. 136 f.
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chronen Diskurses um die Staatlichkeit im Kaiserreich ein. Sein Angriff auf den Souveränitätsbegriff diente Preuß auch der rechtstheoretischen Befreiung der Institution der Selbstverwaltung von ihrer institutionellen Subordination unter den Anstaltsstaat.6 Gegen den Anstaltsstaat setzte Preuß seine Gierke entlehnte Alternative der genossenschaftlichen Einheit in der Vielheit.7 Dieser Gedanke begründet die Gleichrangigkeit von Stadt und Staat: „Die Gemeinde ist dem Staate eingegliedert und ihm daher in allen Beziehungen untergeordnet, die sich aus diesem Eingliederungsverhältnis ergeben; aber als sich selbst regierende bürgerliche Gemeinwesen sind Gemeinde und Staat einander wesensgleich“.8 Aber Preuß wollte nicht nur die Stadt ins Zentrum der rechtswissenschaftlichen Betrachtung rücken, er war davon überzeugt, dass der dogmatische Positivismus mit seiner Fixiertheit auf den Staat dazu außerstande war. Die Stadt bzw. der „kommunale Selbstverwaltungskörper“, so definierte er im Städtischen Amtsrecht, ist ein dreifach zu erfassendes Gebilde. Zunächst ist er eine „Gebietskörperschaft“, was Preuß an dieser Stelle auch als „politisches Gemeinwesen“ bezeichnet; sodann ist er zweitens ein Teilorganismus des Staates, dem er eingegliedert ist, und er ist drittens ein sozialer Organismus.9 Seiner Ansicht vermochte nur die „organische Schule“ diese Dimensionen der Stadt theoretisch angemessen zu erfassen. Es ging daher Preuß auch um die Bewährung der organischen Rechtstheorie. So war es seiner Ansicht nach nur mit Hilfe der Theorie der Organstellung möglich, Aufsicht von Subordination, Amt von Beamten zu differenzieren und in ihrer jeweiligen Bedeutung korrekt zu erfassen. Doch auch damit hatte es noch nicht sein Bewenden. Preuß wollte weder nur eine systematische Lücke in der zeitgenössischen Staatslehre schließen noch die rechtstheoretischen Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern Labands und Gierkes fortsetzen. Preuß war davon überzeugt, dass die Modernisierung des politischen Systems Deutschlands nur gelingen konnte, wenn es überhaupt möglich wurde, den Unterschied zu erfassen, der darin lag, ob man die Rechtsordnung und die Stellung der Menschen in ihr aus der Perspektive des Staates betrachtete, oder aber ob man dies umgekehrt aus der Perspektive der Rechtsgenossen in Augenschein nahm. Preuß war davon überzeugt, dass bei Fortentwicklung des politischen Systems des Kaiserreichs der Idee der 6 Preuß, Gemeinde (wie Anm. 3), S. 136. 7 So z.B. Hugo Preuß, Selbstverwaltung, Gemeinde, Staat, Souveränität, in: Staatsrechtliche Abhandlungen. Festgabe für Paul Laband, Bd. 2, Tübingen 1908, S. 199–245, hier: S. 221, und Preuß, Amtsrecht (wie Anm. 4), S. 10. 8 Preuß, Staat und Stadt (wie Anm. 2), S. 101. 9 Preuß, Amtsrecht (wie Anm. 4) , S. 9.
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Selbstverwaltung eine besondere Rolle zukam.10 Hugo Preuß wollte nicht nur eine moderate Modernisierung des Kaiserreichs ohne Veränderung seiner zentralen Strukturen und maß hierbei der Selbstverwaltung eine zentrale Rolle zu; er wollte nichts weniger als einen Systemwechsel, den er mit seiner polemischen Opposition der Begriffe von Volksstaat und Obrigkeitsstaat kenntlich machte. Dieser Systemwechsel drückte sich Preuß zufolge weniger in einem äußerlichen Umbau des Institutionengefüges aus als vielmehr in einem innerlichen Wandel der politischen Mentalität: ob das Bürgertum nämlich sich selbst regieren wollte, oder es sich mit einem bescheidenen Platz in der Selbstverwaltung begnügte. In dieser Frage lag für Preuß nichts weniger als die Entscheidung, ob es Deutschland gelänge, in den Kreis der westlichen politischen Kultur zu gelangen oder nicht. Dies aber war in Preuß’ Auslegung die Grundintention des Freiherrn vom Stein und der von ihm wesentlich initiierten und gestalteten Städteordnung von 1808 gewesen, in deren Geist und Nachfolge sich Preuß immer wieder stellte. Nur in dieser letzten Hinsicht soll hier das Thema der Selbstverwaltung bei Hugo Preuß beleuchtet werden. Wie auch immer die Idee der Selbstverwaltung im Kaiserreich gedeutet wurde, in der wilhelminischen Realität war die Selbstverwaltungsidee politisch marginalisiert worden.11 Die Diskussion der Selbstverwaltung vor dem Hintergrund des Kaiserreichs war geprägt von Staatslehrern und Historikern, die sich angesichts eines dominanten Staatsbegriffs nur in geringem Maße über einen tragenden Politikbegriff verständigen zu müssen glaubten. Der Staat war der Inbegriff der Politik, wie selbst der progressive Liberale Georg Jellinek in seiner Staatslehre konstatierte.12 Die begriffliche Differenzierung nach Verwaltung und Politik war vertraut, aber wenig reflektiert, was Autoren wie Max Weber am Ende des Kaiserreichs und zu Beginn der Weimarer Republik zu einer geradezu polemischen Entgegensetzung beider Begriffe motivierte: nicht das „und“ zwischen Verwaltung und Politik war kennzeich-
10 Hans Boldt, „Den Staat ergänzen, ersetzen oder sich mit ihm versöhnen?“. Aspekte der Selbstverwaltungsdiskussion im 19. Jahrhundert, in: Edith Hanke/Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Max Webers Herrschaftssoziologie. Studien zu Entstehung und Wirkung, Tübingen 2001, S. 139–165. 11 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2: 1800– 1914, München 1992, S. 389; Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1950, der die konservative Wende mit dem Jahr 1878 ansetzt: S. 654 ff. 12 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1914, 5. Nachdruck, Hg. Walter Jellinek, Berlin 1929, ND Kronberg/Ts. 1976, S. 180: „‘Politisch‘ heißt ‘staatlich‘; im Begriff des Politischen hat man bereits den Begriff des Staates gedacht“.
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nend, sondern das „oder“.13 Das hatte bei Max Weber zur Folge, dass die politischen Parteien, die im Kaiserreich als politische Vereine der Gesellschaft zugeschlagen wurden und damit als Fremdgebilde außerhalb des staatlich begriffenen politischen Systems galten, nun ins Zentrum rückten, weil sie in den Augen Webers den Kern des parlamentarischen Systems darstellten. In dieser Ansicht arbeitete Hugo Preuß Weber vor. „Selbstverwaltung“ und „Selbstregierung“ waren aus dieser Sicht zwei sehr unterschiedliche Begriffe und nicht zwei austauschbare Bezeichnungen für dieselbe Tätigkeit.
2. Das englische self-government Preuß wollte Rechtsbegriffe und die von ihr zu begreifende historisch-politische Realität der Selbstverwaltung vereinen. Als Vorbild hierzu dienten ihm Otto von Gierke und Rudolf von Gneist. „Beispiele wie Gneist und Gierke gegenüber Waitz und Treitschke“ zeigen, „daß nur der Jurist, der sich auf historische Studien stützt, und nicht der Historiker, der in Jurisprudenz dilettiert, Segensreiches für unsere Wissenschaft leisten kann“.14 Hugo Preuß fühlte sich einerseits Rudolf von Gneist und dem Ansatz seiner Forschung verpflichtet; andererseits kam er wenigstens verfassungspolitisch zu sehr unterschiedlichen Auffassungen.15 Gneist war für die Selbstverwaltungsdebatte von zentraler Bedeutung. Er galt als der führende Kenner der englischen Rechtsgeschichte im allgemeinen und des dortigen Instituts des self-government im besonderen. England diente der deutschen Reformdiskussion ganz grundsätzlich als Folie. Das beschränkte sich nicht nur auf das Gebiet der Selbstverwaltung, auch das englische self-government beschäftigte die deutsche Reformdiskussion.16 Niemand
13 Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland (1918), in: Ders., Gesammelte politische Schriften, 5. Aufl. Tübingen 1988, S. 306–443 und Max Weber, Politik als Beruf (1919), in: Ebd., S. 505–560. 14 Preuß, Gemeinde (wie Anm. 3), S. 39. 15 Zum Verhältnis von Preuß zu Gneist vgl. Dian Schefold, Selbstverwaltungstheorien. Rudolf Gneist und Hugo Preuß, in: Detlef Lehnert/Christoph Müller (Hg.), Vom Untertanenverband zur Bürgergenossenschaft, Baden-Baden 2003, S. 97–121. 16 Hans-Christof Kraus, „Selfgovernment“ – Die englische lokale Selbstverwaltung im 18. und 19. Jahrhundert und ihre deutsche Rezeption, in: Helmut Neuhaus (Hg.), Selbstverwaltung in der Geschichte Europas in Mittelalter und Neuzeit, Berlin 2010, S. 213–246.
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hatte in dieser Debatte einen mit Gneist vergleichbaren Einfluss ausgeübt.17 Gneist’ Erforschung der englischen Selbstverwaltung hatte ursprünglich mit seinem Interesse am dortigen Recht der Geschworenengerichte zu tun, und zwar unmittelbar vor dem Hintergrund der deutschen Diskussion um die Einführung des Laiengerichts.18 Das self-government beschäftigte ihn dann in umfangreichen und materialreichen Studien.19 Preuß bediente sich in vielen Details der Gneistschen Studien und integrierte sie in seine Argumentation.20 Doch gerade in der Erfassung des englischen self-government sah Preuß bei Gneist eine grundsätzliche Fehlwahrnehmung am Werk. Zum einen übersah Gneists Eintreten für das Ehrenamt die Preuß wichtige Herausstellung der Eigenart der gewählten Gemeindevertreter und der Selbstverwaltungsorgane im allgemeinen.21 Zum anderen hielt Preuß die Übersetzung von self-government mit Selbstverwaltung vor dem Hintergrund des deutschen Verwaltungsverständnisses und seiner Nähe zum Staatsbegriff für irreführend. Hier folgte Preuß auch der Kritik von Josef Redlich an Gneist. Josef Redlich bemängelte an Gneists Darstellung der englischen Selbstverwaltung, dass das von Gneist allein der Landgemeinde zugewiesene Prinzip des self-government in Wirklichkeit ein die gesamte englische Verfassung kennzeichnendes Prinzip ist.22 Redlichs Interpretation hat dann auch Heffters Darstellung der Selbstverwaltung aus dem Jahr 1950 geprägt. Ihre Idee beschränkte sich demnach nicht auf den „nüchternen Verwaltungsalltag, in dem sich ihre Praxis vollzieht. Sie hängt aufs engste zusammen mit dem allgemeinen Streben nach politischer, sozialer, menschlicher Freiheit ... Das englische Selfgovernment des 18. Jahrhunderts, das Urbild und Vorbild aller modernen Selbstverwaltung, meint den ganzen Staatsaufbau einer freiheitlich-genossenschaftlichen Ordnung im Gegensatz zum monarchisch-bürokratischen Obrigkeitsstaat: das Kernstück ist das Parlament, 17 Christoph Schönberger, Rudolf von Gneist (1816–1895). Die altenglische Verfassung als Vorbild für den preußischen Staat, in: Stefan Grundmann u.a. (Hg.), 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2010, S. 241–260. 18 Rudolf v. Gneist, Die Bildung der Geschworenengerichte in Deutschland mbB auf England und Frankreich nebst einem Gesetzentwurf, Berlin 1849, ND Aalen 1967. 19 Rudolf v. Gneist, Geschichte und Gestalt der englischen Communalverfassung oder das Selfgovernment, 2 Bde., 2. Aufl. Berlin 1863, sowie ders., Selfgovernment, Communalverfassung und Verwaltungsgerichte in England, 3. Aufl. Berlin 1871. 20 Vgl. Hugo Preuß, Die Lehre Gierkes und das Problem der preußischen Verwaltungsreform, in: Festgabe für Otto von Gierke, Bd. 1, Breslau 1910, S. 245–304, besonders S. 272 ff. 21 Preuß, Amtsrecht (wie Anm. 4), S. 130. 22 Josef Redlich, Englische Lokalverwaltung, Leipzig 1901, S. 809; vgl. Siegfried Grassmann, Hugo Preuß und die deutsche Selbstverwaltung, Lübeck 1965, S. 29.
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die Laienverwaltung der Grafschaften und Städte ist nur ein Teilstück, die Laiengerichtsbarkeit der Jury ein weiteres; mit dem Wort Selbstregierung wäre das Selfgovernment in der deutschen Sprache treffender wiederzugeben als mit dem Wort Selbstverwaltung“.23 Wenn Preuß sich dieser Auffassung anschloss tat er dies nicht nur aus dem Wunsch heraus, die historische Einschätzung einer bestimmten Praxis zu korrigieren, sondern um in die Entwicklung der eigenen Zeit zu intervenieren. In Preuß’ Interpretation war Gneists Begriff des self-government als polemischer Gegenbegriff zu John Stuart Mills Begriff des representative government gedacht24, und zwar als Zwischenbau zwischen Staat und Gesellschaft.25 Verantwortlich für Gneists Fehleinschätzung des englischen self-government war Preuß zufolge die Idee staatlicher Souveränität, die keine andere, gleichrangige, wesensgleiche politische Selbstorganisationsform duldet. Der Begriff der Souveränität wurde von Preuß als „das tragende Prinzip des Obrigkeitsstaates“ abgelehnt.26 Der Obrigkeitsstaat behandelte aber die Stadt wie eine subordinierte Landgemeinde. Gneists Fehler sei es gewesen, selfgovernment als Zwischenbau zwischen Staat und Gesellschaft (Gesellschaft verstanden als Inbegriff der individuellen Vielheit) zu verstehen und nur den Anstaltsstaat als Einheit der Vielheit gelten zu lassen.27 Wenn Selbstverwaltung Teil der gesellschaftlichen und nicht staatlichen Aktivität ist, lag es nahe, im unabhängigen Ehrenamt den hierfür repräsentativen Akteurstyp zu bestimmen. Für die städtische Selbstregierung war aber laut Preuß das Wahlamt im Gegensatz zum ernannten Berufsbeamten kennzeichnend. Der gewählte Stadtbeamte war daher keine Stufe im anstaltsstaatlichen Verwaltungsaufbau, wie Preuß im Städtischen Amtsrechts herausstellte.28 Rudolf von Gneist wollte Preuß zufolge den Gedanken des Selfgovernment von dem des Parlamentarismus ablösen und nur die vom Parlamentarismus isolierte gemeindliche Selbstverwaltung als Vorbild akzeptieren. Daher lehnte es Gneist auch ab, den englischen Parlamentarismus moderner, das heißt 23 Heffter, Selbstverwaltung (wie Anm. 11), S. 5. 24 Preuß, Gemeinde (wie Anm. 3), S. 219 über Rudolf v. Gneist, Verwaltung, Justiz, Rechtsweg. Staatsverwaltung und Selbstverwaltung nach englischen und deutschen Verhältnissen mit besonderer Rücksicht auf Verwaltungsreformen und Kreisordnungen in Preußen, Berlin 1869, S. 52 f. 25 Preuß, Gemeinde (wie Anm. 3), S. 219 über Rudolf v. Gneist, Der Rechtsstaat, Berlin 1872, S. 7. 26 Preuß, Gemeinde (wie Anm. 3), S. 136. 27 Ebd., S. 220. 28 Preuß, Amtsrecht (wie Anm. 4), S. 117–333.
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aber parteipolitischer Art, zu akzeptieren oder gar als Vorbild für die deutsche Entwicklung anzuerkennen. Gneist glaubte in England den Zenit des englischen self-government für überschritten, die staatliche Beamtenschaft besaß mittlerweile gegenüber den lokal-autonomen Selbstverwaltungskörpern die Oberhand und die Parlamentsreform wandelte das Unterhaus von einer, wie Gneist angenommen hatte, ursprünglich kommunalen Versammlung zu einer Parteienherrschaft. Schon in seiner Rezension von Gneists Buch Das englische Parlament in tausendjährigen Wandlungen verwies Preuß auf die Notwendigkeit einer zunehmenden Rolle der Parteien im englischen Parlamentarismus. Für Preuß war die Frage nicht eindeutig negativ zu beantworten, ob mit der Reformbill von 1884 und der Zuschneidung der Wahlkreise, die nicht mehr den historischen Gemeinde- und Grafschaftsgrenzen folgte, sondern stärker der Bevölkerungsverteilung Rechnung trug, der Parlamentarismus den Gedanken des self-government verraten hatte.29 Die Parlamentsreform mochte den Niedergang der aristokratisch dominierten Selbstverwaltung in England mit sich bringen, wie Gneist behauptete, aber das bedeutete laut Preuß nicht, dass damit die Idee der Selbstregierung beendet war, sie trat nur in eine neue Phase.30 Daher folgte Preuß immer weniger Gneists Vorgaben und stellte dafür den Freiherrn vom Stein in das Zentrum seiner Argumentation. Gelegentlich hatte Preuß eine Nähe Gneists zu Stein behauptet.31 Aber das war nur der Versuch, die beiden von Preuß geschätzten Vorbilder zusammenzuführen. In der Sache war es Stein, oder besser: die von Preuß stilisierte Person des Freiherrn vom Stein, mit der Preuß den Pfad kennzeichnete, dem er folgen wollte.
3. Die Debatte um die Selbstverwaltung und die Stein’sche Städteordnung Die Debatte um die Selbstverwaltung in der Zeit des Kaiserreichs war eine wichtige Komponente in der allgemeinen Reformdebatte zur Modernisierung des preußisch dominierten deutschen Anstaltsstaates. Unabhängig von der rechtswissenschaftlichen Debatte spielten historische Argumente eine zentrale Rolle. Schon die allgemeine Diskussion, nach welchem Vorbild eine mögliche Staats- und Verwaltungsreform sich orientieren sollte, drehte sich um die 29 Hugo Preuß, Eine Biographie des englischen Parlaments (1886), in: Hugo Preuß, Gesammelte Schriften, Bd.1: Politik und Gesellschaft im Kaiserreich, Hg. Lothar Albertin in Zusammenarbeit mit Christoph Müller, Tübingen 2007, S. 98–105. 30 Preuß, Lehre Gierkes (wie Anm. 20), S. 245–304, hier S. 253. 31 Preuß, Amtsrecht (wie Anm. 4), S. 121 f.
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Frage, nach welchem Vorbild sie jetzt schon eingerichtet sei: war es die französische Verwaltungskultur, die als Vorbild gedient hatte? Ihren tatsächlichen Einfluss auf die Entstehung der preußischen Verwaltung am Anfang des 19. Jahrhunderts konstatierte Ernst von Meier32 und Georg Jellinek folgte ihm mit Blick auf § 110 der Stein’schen Städteordnung von 1808, die die Gemeindevertreter von Weisungen oder Aufträgen befreite.33 Diese sachliche Frage der Rezeption von Verwaltungskulturen wurde mit der Frage der politischen Intentionen des Freiherrn vom Stein verknüpft.34 Nach einer frühen Abhandlung von 1877 hatte Max Lehmann seine dreibändige Stein-Biographie in den Jahren 1902–1905 veröffentlicht,35 auf die Ernst von Meier 1908 eine „Streitschrift“ veröffentlichte36, nachdem Meier bereits 1881 das Problem ausführlich behandelt hatte.37 Diese Kontroverse schlug hohe Wellen, namhafte Preußen-Historiker wie Hans Delbrück38 und Otto Hintze beteiligten sich daran.39 Die historische Kontroverse wurde eine ideengeschichtliche dort, wo ideenpolitisch über die Rekonstruktion oder Konstruktion von Genealogien Deutungsmuster aufgestellt wurden, wie die Gegenwart Preußen-Deutschlands zu begreifen sei, und damit die Richtung der zukünftigen Entwicklung. Man konnte wie Otto Hintze Stein in der Sache als einen gleichsam weißen Revolutionär interpretieren, der in einer Kette zwischen Friedrich dem
32 Ernst von Meier, Französische Einflüsse auf die Staats- und Rechtsentwicklung Preußens im 19. Jahrhundert, Bd. II, Leipzig 1908, S. 315 ff. 33 Jellinek, Allgemeine Staatslehre (wie Anm. 12), S. 594. 34 Zum Streit um Stein im Kaiserreich vgl. Klaus Epstein, Stein in German Historiography, in: History and Theory 5 (1965), S. 241–274, hier S. 247–257. Hierzu ferner Werner Gembruch, Nationalistische und personalistische Tendenzen in der SteinHistoriographie, in: Nassauische Annalen 90 (1979), 80–97. Zur Historiographie der Reformzeit vgl. auch die Angaben bei Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd.1: Vom Feudalismus des Alten Reichs bis zur defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815, München 1987, S. 641 f. 35 Max Lehmann, Stein, Scharnhorst und Schön, Leipzig 1877; ders., Freiherr vom Stein, 3 Bde., Leipzig 1902–1905. 36 Ernst von Meier, Der Minister von Stein, die französische Revolution und der preußische Adel. Eine Streitschrift gegen Max Lehmann, Leipzig 1908. 37 Ernst von Meier, Die Reform der Verwaltungsorganisation unter Stein und Hardenberg, Leipzig 1881, Bearb. Friedrich Thimme, 2. Aufl. München 1912. 38 Hans Delbrück, Stein, Hardenberg und die socialpolitischen Ideen der Gegenwart, in: Ders., Historische und politische Aufsätze, Berlin 1887. 39 Siehe etwa die Besprechungen von Otto Hintze, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 21 (1908), S. 313–326 und 625–627. Ebd. auch Meiers Erwiderung auf Delbrück, S. 638–632.
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Großen und Bismarck stand.40 Stärker auf die Modernisierung Preußens drängende Historiker wie Friedrich Meinecke sahen Stein eher als Teil einer Riege an Reformern wie Scharnhorst oder Boyen, die im Ganzen weniger das Bürgertum und die Nation, sondern Staatlichkeit und Wehrhaftigkeit, Unabhängigkeit von Besatzung und Vitalität der Gesellschaft im Gegensatz zur verknöcherten Tradition im Auge hatten. Stein war in dieser Auslegung dementsprechend auch nur im Konzert mit Scharnhorst und Humboldt, Hardenberg und Boyen zu begreifen.41 Gegen die Überschätzung der Tragfähigkeit der Preußischen Reformen ist in der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft immer wieder argumentiert worden. Der preußische Staat hatte schon aus Gründen der Vereinheitlichung ein Interesse an der Städtereform, um die rheinischen mit den ostelbischen Provinzen zu verbinden. Der Sinn der Schaffung von Staatsbürgern lag aus der Sicht des Staates auch in der beabsichtigten Erleichterung der Besteuerung und Verwaltung. Mit Wehler zu sprechen waren die Aussichten der Städteordnung auf Erfolg mangels einer geeigneten Akteursschicht gering gewesen.42 Aber die Ära der Preußischen Reformen übte auf das Kaiserreich und die dort ausgetragenen Reformdebatten eine große Faszination aus, schien hier doch die Möglichkeit gefunden, Modernisierungspotentiale des gegenwärtigen Staates aus seiner eigenen genealogischen Vorgeschichte gewinnen zu können.
4. Preuß und der Freiherr vom Stein Hugo Preuß’ eigene genealogische Interpretation bestand nun darin, einen „westlichen“ und damit gemeineuropäischen Pfad zu rekonstruieren, den alle Nationen auf ihre Weise beschritten hatten und an dessen Ende sie sich auch immer mehr annäherten, mit der signifikanten Ausnahme Preußen-Deutschlands. Freiherr vom Stein war in Preuß’ Augen kein spezifisch „preußischer“ Autor, sondern jemand, der für die deutschen Verhältnisse den westlicheuropäischen Weg der politischen Modernisierung erkundet und hierzu die lokale Selbstverwaltung als Katalysator identifiziert hatte. Auch die Paulskirchenverfassung galt dem Bestreben einer „Erstarkung des westlichen Kulturelements“, wobei „westlich“ hier den westlichen Teil Preußens meint, den 40 Otto Hintze, Friedrich der Große, Stein und Bismarck, in: Hohenzollern Jahrbuch 15 (1911), S. 1–16. 41 Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat (1907), Werke Bd. 5, Hg. Hans Herzfeld, München 1962, S. 142–177: Stein, Gneisenau und Humboldt. Vgl. auch Friedrich Meinecke, Von Stein zu Bismarck, Berlin 1908. 42 Wehler, Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 34), Bd. 1, S. 203–209.
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Preuß in einen Gegensatz zum östlichen, von Max Weber später ostelbisch genannten, Teil Preußens stellte.43 Noch in Das deutsche Volk und die Politik beklagte Preuß 1915 das Anderssein Deutschlands gegenüber seinen westlichen Nachbarn.44 Laut Preuß soll Steins Reform die Absicht verfolgt haben, die Fähigkeit des deutschen Volkes zur Selbstorganisation auszubilden45, um aus eigener Kraft zur Überwindung der bürokratischen Obrigkeitsregierung anzusetzen, und zwar durch die lokale Selbstverwaltung als politische Praxis, die eine entsprechend erzieherische Wirkung in Sachen politischer Selbstregierungsfähigkeit haben soll.46 In Das deutsche Volk und die Politik komprimierte Preuß seine zuvor kursorisch angestellten Überlegungen wie folgt: „Als ein Erziehungswerk hatte damals auch der größte deutsche Staatsmann der Zeit die Überwindung deutscher Staatlosigkeit aus der Tiefe ihres politischen Elends heraus in Angriff genommen. Aber er faßte diese Aufgabe eben als Staatsmann an; nicht im Sinne eines individuellen Bildungsideals, das seine Schöpfung, die freie Persönlichkeit, vor dem zunächst jedenfalls als hoffnungslos aufgegebenen Staate abschließen und schützen wollte; vielmehr im Sinne einer wahrhaft politischen Bildung, die die kraftvolle Selbständigkeit der freien Persönlichkeit in den Staat hineindrängt und so die Selbständigkeit eines politischen Volkes schafft. ‚Durch die Reform eine Nation zu bilden‘, in diesen wundervoll knappen und wundervoll inhaltsreichen Satz hat der Freiherr vom Stein den Leitgedanken seiner staatsmännischen Wirksamkeit gepreßt“.47
Die Städteordnung des Freiherrn vom Stein war nach Lesart von Preuß ein durchgängiger Fixstern der Orientierung seines politischen Denkens gewesen. In Preuß’ Augen war Stein das größte staatsmännische Genie, das Deutschland hervor gebracht hatte.48 Eine solche Einschätzung war zu einer Zeit, da überwiegend Otto von Bismarck als Reichsgründer in der Meinung sowohl der Öffentlichkeit wie der gelehrten Forschung dieses Attribut zugesprochen bekam, auffällig und zeigte bereits Preuß’ Sonderstellung.
43 Hugo Preuß, West-östliches Preußen (1899), in: Preuß, Schriften (wie Anm. 29), Bd. 1. S. 293–314, hier S. 297. Vgl. Grassmann, Preuß (wie Anm. 22), S. 41. 44 Hugo Preuß, Das deutsche Volk und die Politik, Jena 1915, S. 164. 45 Ebd., S. 116, 128. 46 Ebd., S. 117, 127. 47 Ebd., S. 92. 48 Ebd.; zum Verhältnis von Preuß zu Stein vgl. auch Günter Gillessen, Hugo Preuß. Studien zur Ideen- und Verfassungsgeschichte der Weimarer Republik (1955), Berlin 2000, S. 43 ff.
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Die Städteordnung Steins zielte in Preuß’ Interpretation nicht auf die Schaffung vom Obrigkeitsstaat isolierter Inseln bürgerlicher Selbstverwaltung. Auf diese Weise wäre dem obrigkeitlichen Umstand der „polizeistaatlichen Verwaltung des Staates und der feudalpatrimonialen Organisation des agrarischen Landes“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht beizukommen gewesen. Wie Stein so ging es auch später der Paulskirche um die „organische Verbindung“ von „kommunaler Selbstverwaltung mit der Selbstregierung des Verfassungsstaates“.49 Was hier aber „organisch“ meint, bezieht sich nicht nur auf das institutionelle Gefüge, sondern schließt die innere Einstellung der Akteure mit ein. Mangels der geeigneten politischen Kultur würde auch eine rein äußerliche, nur auf die Institutionen bezogene Reform zum Scheitern verurteilt sein. Institutionen realisieren nur den nötigen politischen Willen zur Gestaltung, sie sind lediglich ein Mittel und können die politische Kultur eines „mündigen Volkes“ nicht ersetzen: „Organisatorische Differenzierung ist ... das technische Mittel, wodurch das formengestaltende Recht die politische Idee einer Selbständigkeit des mündigen Volkes in Verfassung und Verwaltung plastisch realisiert.“50 Hugo Preuß wollte einen radikalen Schnitt in der politischen Kultur Deutschlands vollziehen. Stein war für ihn kein repräsentativer Reformer, er wollte unter widrigen Bedingungen eine revolutionäre Idee reformerisch verwirklichen: die Umstellung einer auf den Obrigkeitsstaat eingestellten Bevölkerung von Untertanen zu einem zur Selbstregierung fähigen Volk. Es ist keine Frage, dass Preuß sowohl von Stein als auch von dem Entwicklungspotential der Städtereform Steins eine zu hohe Meinung hatte. Otto von Gierke, der sich 1909 an der Stein-Kontroverse beteiligte, hatte ein wesentlich ausgewogeneres Bild von Stein, er entdeckte in Stein auch konservative Züge.51 Man kann Preuß vorhalten, historische Argumente für politische Kämpfe zu benutzen.52 Preuß argumentierte aber auch nicht als Geschichtswissenschaftler, er argumentierte mit historischen Mitteln auf ideenpolitischem Terrain (rhetorisch gesprochen: mit exempla). Preuß interessierte sich für systematische Fragen des Rechts und die Rechtsfortbildung unter ideenpolitischen Gesichtspunkten. 49 Preuß, Jahrhundert (wie Anm. 2), S. 25–73, hier S. 45. 50 Preuß, Amtsrecht (wie Anm. 4), S. 124. 51 Otto v. Gierke, Die Steinsche Städteordnung, Berlin 1909. 52 Das meinte Justus Hashagen in seiner Besprechung von Preuß’ Städtewesen, in: Historische Vierteljahresschrift 12 (1909), S. 107 ff., Hinweis von Gillessen, Preuß (wie Anm. 48), S. 45, der sich Hashagens Urteil anschließt.
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Preuß war nicht von der Möglichkeit einer evolutionären Entwicklung des deutschen Staates hin zu einem Volksstaat überzeugt. Gegen die Auffassung, wonach die Stein’sche Städteordnung das glatte Gegenstück zur französischen Zentralisierung darstellt, behauptete Preuß, die Preußischen Reformen verdankten der Französischen Revolution „äußerlich alles, innerlich sehr viel“.53 Ein deutsch-französischer Gegensatz in Fragen der Selbstverwaltung wurde jedenfalls von Preuß mit Hinweis auf Stein abgelehnt; er interpretierte Stein sogar als einen Reformer im Geiste der französischen Republik-Idee, die nicht zwingend zentralistisch gedacht werden muss.54 Das Anliegen Steins sah Preuß darin, mit der Städteordnung überhaupt erst die Voraussetzungen dafür zu schaffen, um ein politisch gemeinsinniges Bürgertum hervorzubringen, wie er es im westlichen Europa, namentlich in England am Werk sah, nach Meinung von Preuß „die politisch fähigste Nation der modernen Welt“.55 Die Idee des bürgerlichen Staates findet sich in der politischen Selbstorganisation von der kommunalen bis zur nationalen Ebene. Der in Preuß’ Augen gekorene Träger dieser Idee politischer Selbstorganisation ist in Europa das Bürgertum: „Es ist der Beruf des an Zahl wie an wirtschaftlicher Kraft so gewaltig erstarkten Bürgertums, diese Vollendung der urbanen Organisation, des bürgerlichen Staates über den bürgerlichen Gemeinden zu erringen. Nur so löst sich der alte Gegensatz von Staat und Stadt in jener höheren Einheitlichkeit“.56 Preuß wollte eine Revitalisierung des Bürgertums, ihm war nicht daran gelegen, über Demokratisierungs-Bestrebungen die bürgerliche Gesellschaft rasch zu überwinden. Wenn Preuß die Selbstverwaltung sowohl in Steins Modell wie in der englischen Praxis dem Prinzip des Volksstaates zuschlug, so vermied er damit, seine Absicht als „demokratisch“ zu bezeichnen. Die Nähe der Selbstverwaltungsidee zur Demokratieidee erwogen durchaus einige Zeitgenossen, dazu zählten der Politiker Eduard Lasker57 ebenso wie der Jurist Julius Hatschek.58 Preuß befürwortete die Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie, er war ein bekennender Munizipalsozialist, gerade in den 53 Preuß, Entwicklung (wie Anm. 1), S. 233. 54 Ebd., S. 233. 55 Preuß, Biographie (wie Anm. 29), S. 98–105, hier S. 101. 56 Preuß, Staat und Stadt (wie Anm. 2), S. 102. 57 Eduard Lasker bezeichnet die Gemeinde als Ausdruck des demokratischen Prinzips: Sten. Ber. Preuß. Landtag, 2. Session 1868/69, 28. Sitzung, S. 140 f. 58 Julius Hatschek, in: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts, hg. von Fleischmann, Bd. III, 2. Aufl. 1914, S. 419 ff. „Selbstverwaltung und Demokratie sollte man für Verbündete halten, schon deshalb, weil nur durch die Überwälzung einer größeren Zahl von Staatsfunktionen auf die Selbstverwaltungskörper jener Idealtypus von
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modernen Metropolen. Doch für Preuß blieb das Bürgertum aufgerufen, wesentliche Trägerschicht des politischen Systems zu sein, oder besser: zu werden. Den Anspruch des Bürgertums wie das Eigenrecht der Gemeinden auf Selbstregierung gründete Preuß nicht auf einer „naturrechtlichen“ Argumentation, wie es Georg Jellinek all jenen unterstellte, die von der Vorstellung eines „ursprünglichen Herrschaftsrechtes der Gemeinde“, ihrem „selbständigen imperium“ ausgingen und zu denen er auch Gierke und seine Schule zählte (zu der er wiederum ausdrücklich Preuß rechnete), die jedoch, so setzt Jellinek fort, mit dieser Theorie selbst nichts mehr „anzufangen“ wissen.59 Wenn Preuß nicht mehr Gierkes späteres Zugeständnis teilte, dem Staat ein höheres Recht gegenüber den ihm eingegliederten Verbänden einzuräumen60, so war dies kein Bekenntnis zum Naturrecht. Preuß verortete das Problem der Selbstverwaltung in jenem Bereich, der heute der politischen Kultur zugerechnet wird. Das Problem lag in seinen Augen viel tiefer als nur in Fragen der Form der politischen Ordnung. Wie Preuß in seiner Rede Stadt und Staat von 1909 hervorhob, handelt es sich bei dem Gegensatz von Obrigkeitsstaat und Volksstaat nicht um den Kampf von Verfassungsformen, sondern um den Kampf unterschiedlicher Vorverständnisse des Politischen überhaupt: „Selbstverwaltung und Verfassungsstaat, local und national selfgovernment, sind zwei korrelate Erscheinungsformen desselben Prinzips, das der kontradiktorische Gegensatz des Obrigkeitsstaats ist. Die kommunale Regierung ist kein Ausfluß einer von oben kommenden Obrigkeitsgewalt, sondern der genossenschaftlichen Organisation des lokalen Verbandes; wie die staatliche Regierung nicht die a priori gegebene Eigenschaft einer eigenberechtigten Obrigkeitsgewalt ist, sondern ein Ausfluß der genossenschaftlichen Organisation des nationalen Verbandes.“61
Preuß skizzierte den Niedergang des politischen Selbstbewusstseins der „bürgerlichen Gesellschaft“ in Deutschland, die sich in ihrer städtischen Selbstorganisation noch als Gegenmodell zum Fürstenstaat verstanden hat, dann aber im Zuge des Absolutismus ihrer Freiheit beraubt wurde.62 So in ihrem Bewusstsein gebrochen und dergestalt „entseelt“ wurden die Städte zu DomäDemokratie möglich wird, der das Berufsbeamtentum zugunsten der durch Volkswahlen bestellten Beamten in den Hintergrund drängt“. 59 Jellinek, Allgemeine Staatslehre (wie Anm. 12), S. 644 f. 60 Preuß, Gemeinde (wie Anm. 3), S. 234; vgl. Grassmann, Preuß (wie Anm. 22), S. 175. 61 Preuß, Staat und Stadt (wie Anm. 2), S. 101. 62 Ebd., S. 73–102.
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nen und Garnisonenstädten herabgedrückt.63 „Das Schicksal der Besiegten war ihre vollständige politische Entnervung“.64 Die Stadt, die polis ist nicht mehr der Quell des politischen Selbstverständnisses. Es kam zur „Verstaatlichung der Stadt“.65 Das Anliegen der Stein’schen Städtereform war es laut Preuß, der sich ausbildenden Territorialgewalt der Fürsten den genossenschaftlichen Herrschaftsverband autonomer Gebietskörperschaften, hier: die Städte, entgegenzustellen und diese gleichzeitig mit dem modernen Gedanken der nationalen Repräsentativkörperschaft an ihrer Spitze zu verbinden. Die Reform „war gedacht als das politische Erziehungswerk eines unpolitischen Volkes“.66 Hierzu zitierte Preuß aus einem Schreiben Steins an Hardenberg, in dem jener davon sprach, die Nation müsse daran gewöhnt werden, ihre eigenen Geschäfte zu verwalten und aus dem Zustande der Kindheit herauszutreten.67 Aber Stein wurde entlassen, sein Werk blieb unvollendet und sein politisches Anliegen blieb unverrichtet. Das Scheitern des Steinschen Reformwerks, das Bürgertum durch die Selbstverwaltung in den Kommunen in einen Prozess der Selbsterziehung eintreten zu lassen, um zum Subjekt dieser umfassenden Idee politischer Selbstorganisation zu werden, ist in Preuß’ Augen stets ein Menetekel der Grenzen des deutschen Bürgertums gewesen. In diesem wie in anderen Entwicklungen entfernte sich Preuß zufolge die deutsche politische Kultur von jener Westeuropas. Was Steins Scheitern hätte hindern können, wollte dieser überhaupt erst verwirklichen: „Denn hierzulande war es nicht der politische Gemeingeist des Volkes oder auch nur der Bürgerschaft, der sich mit spontaner Kraft seine Organisationsform des politischen Gemeinwesens schaffen wollte; vielmehr sollte diese [von Stein initiierte] Organisationsform den bürgerlichen Gemeingeist erst erzeugen. Nicht die Nation schuf die Reform, sondern die Reform wollte eine Nation im politischen Sinne schaffen“.68 Das war in Preuß’ Augen nicht nur eine Zustandsbeschreibung der ersten Dekade des 19. Jahrhunderts, diese Diagnose galt weiterhin. Daher hätte selbst ein zweiter Stein keine Chance gehabt angesichts der „völligen politischen Apathie des Volkes“69, sich durchzusetzen. Statt zu ver63 Ebd., S. 75 f. 64 Ebd., S. 83. 65 Preuß, Amtsrecht (wie Anm. 4), S. 36. 66 Preuß, Staat und Stadt (wie Anm. 2), S. 91. 67 Preuß, Amtsrecht (wie Anm. 4), S. 38. 68 Preuß, Staat und Stadt (wie Anm. 2), S. 91. Zuvor ähnlich: Preuß, Amtsrecht (wie Anm. 4), S. 39. 69 Preuß, Staat und Stadt (wie Anm. 2), S. 91 f.
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langen, dass der Staat das „im Gemeinwillen der Rechtsgenossen lebende Recht“ nur deklariert, duldet das Volk und sein Bürgertum die Auffassung der „Obrigkeitsidee ..., wonach die Staatsgewalt durch ihre Gesetze das Recht aus dem Nichts schafft“.70 Preuß war daher schon frühzeitig zu dem etwas resignierten Schluss gekommen, dass der Weg zur politischen Selbstverwaltung angesichts der augenblicklichen mentalen Verfassung des Bürgertums wohl erst „durch den Einheitsstaat hindurchgehen muß“.71 Diesen Weg ist er dann auch 1918/19 gegangen und hat dabei versucht, Preußen zu zerschlagen. Mit der Gründung der Weimarer Republik endete der Deutungskampf um Stein nicht. Er trat mit den Auseinandersetzungen zwischen Franz Schnabel und Gerhard Ritter in eine neue Phase.72 Nur ging es den beiden Historikern nicht um den Begriff des Politischen, es ging um die Auslegung der Idee der Nation, eine Auslegung, die unter den veränderten Bedingungen der Republik anderen Anforderungen und Erwartungen ausgesetzt war als im Kaiserreich. War es im Kaiserreich darum gegangen, die Entwicklungspotentiale des Anstaltsstaates mit seiner relativ stabilen sozialen Führungselite auszuloten, so stand die Diskussion in der Republik eher unter der Fragestellung der Integrationskraft der nationalen Idee. Hugo Preuß widmete sich in der Republik überwiegend dem von ihm so bezeichneten Abschluss der Idee der Selbstverwaltung, der Errichtung und Verteidigung des Parlamentarismus. Man wird sagen müssen, dass sein Reformwerk ein ähnliches Schicksal ereilte wie das seines großen Vorbildes, des Freiherrn vom Stein: es blieb von den Zeitgenossen überwiegend unverstanden.
70 Ebd., S. 99. 71 Hugo Preuß, Nationalitäts- und Staatsgedanke (1887), in: Ders., Schriften (wie Anm. 29), Bd. 1, S. 116. 72 Bernd Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges – die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980, S. 200– 208.
Ewald Grothe
Hugo Preuß und die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung*
In neuerer Zeit ist Hugo Preuß primär als Verfassungsschöpfer, politischer Praktiker und Theoretiker der Selbstverwaltung gewürdigt worden1. Seltener wurde er dagegen als Universitätslehrer oder als Historiker betrachtet. Dafür typisch sind die beiden älteren Teilbiographien von Günther Gillessen und Siegfried Grassmann, bei denen Preuß als Historiker nur am Rande behandelt wird2. Hinzuweisen in diesem Kontext ist dagegen auf die biographische Skizze von Gustav Schmidt, die dieser im Rahmen der Historiker-Biographien von Hans-Ulrich Wehler 1980 vorgelegt hat3.
1. Preuß als Jurist und Historiker Das beschriebene Forschungsdefizit ist umso weniger nachvollziehbar, als Preuß selbst immer ausgesprochen großen Wert darauf gelegt hat, seine rechtswissenschaftlichen Werke stets historisch zu fundieren. So bemerkte er, dass „der Rechtstheoretiker trotz seiner besonderen Methode doch auch die historische Entwicklung in Betracht zu ziehen“ habe, weil „das Bestehende nur aus der Geschichte seines Entstehens zu verstehen ist“4. Preuß ging es um eine juristisch-historische Betrachtungsweise, die im besten Sinne interdis* Der Beitrag geht auf einen Vortrag am 28. Mai 2009 an der Technischen Universität Berlin zurück. Für Kritik und vielfache Hinweise danke ich meinen Freunden Michael Dreyer (Jena), Edgar Liebmann (Wuppertal) und Ulrich Sieg (Marburg). 1 Detlef Lehnert, Verfassungsdemokratie als Bürgergenossenschaft. Politisches Denken, Öffentliches Recht und Geschichtsdeutungen bei Hugo Preuß, Baden-Baden 1998, sowie Michael Dreyer, Hugo Preuß – Vater der Weimarer Verfassung. Eine politische Biographie, Darmstadt 2011. 2 Günther Gillessen, Hugo Preuß. Studien zur Ideen- und Verfassungsgeschichte der Weimarer Republik (Diss. 1955), Berlin 2000; Siegfried Grassmann, Hugo Preuß und die deutsche Selbstverwaltung, Lübeck 1965. 3 Gustav Schmidt, Hugo Preuß, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker. Bd. 7, Göttingen 1980, S. 55–68. Scharfe Kritik an Schmidt bei Lehnert 1998, S. 124– 130. 4 Zitiert nach Lehnert 1998, S. 58 f.
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ziplinär zu verstehen war und dabei, in chronologischer und systematischer Perspektive verfahrend, beide Fächer miteinander zu verbinden suchte. Die nachfolgenden Ausführungen sind Preuß als Historiker gewidmet. Dies geschieht im Spiegel seiner beiden verfassungshistorischen Hauptwerke: dem Buch über die „Entwicklung des deutschen Städtewesens“ von 19065 und der 1927 posthum durch die Historikerin Hedwig Hintze herausgegebenen Studie über „Verfassungspolitische Entwicklungen in Deutschland und Westeuropa“6. Bei beiden Werken, die bis heute wegen ihres eingängigen Stils die Lektüre lohnen, werden Entstehung, Inhalt und Rezeption erläutert7. Schließlich sollen grundsätzliche Aussagen über Hugo Preuß als Verfassungshistoriker und seine Stellung in der deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung getroffen werden.
2. Preuß’ Verhältnis zu Rechtsgeschichte und Staatstheorie Hugo Preuß war von Haus aus nicht Historiker, sondern Jurist. Die relevante Frage, warum er eigentlich historisch arbeitete, ist in der Forschung bisher kaum gestellt und allenfalls implizit beantwortet worden. Selbst wenn man voraussetzt, dass das juristische Studium in den 1880er Jahren nicht so eng und verschult war wie heute, so wirkt es doch auf den ersten Blick ungewöhnlich, dass Preuß als Rechtswissenschaftler überhaupt historische Werke verfasste. Zu bedenken ist dabei zunächst, dass die Juristen des 19. Jahrhunderts generell solide rechtshistorische Kenntnisse aufwiesen. Das lag daran, dass vor Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs im Jahre 1900 im Privatrecht stets auf geschichtliche Fälle zurückgegriffen werden musste. Und auch in anderen Rechtsbereichen war der Rückbezug auf historisch gewachsenes Recht sehr häufig notwendig. Historische Kenntnisse gehörten somit nicht nur zur juristischen Ausbildung, sondern auch zu den grundlegenden Bestandteilen juristischer Berufspraxis. Sie zählten zu den rechtsrelevanten Inhalten und galten als unverzichtbare Grundlage der genetischen und der 5 Hugo Preuß, Die Entwicklung des deutschen Städtewesens, Leipzig 1906 (Neudr. Aalen 1965); eine Art Kurzfassung: Ders., Stadt und Stadtverfassung, in: Josef Brix u.a. (Hg.), Handwörterbuch der Kommunalwissenschaften, Bd. 4, Jena 1924, S. 1–17. 6 Hugo Preuß, Verfassungspolitische Entwicklungen in Deutschland und Westeuropa, Hg. Hedwig Hintze, Berlin 1927. 7 Die beiden historischen Hauptwerke Preuß’ werden in den „Gesammelten Schriften“ nicht abgedruckt, zumal sie in Neudrucken verfügbar sind. Dian Schefold, Einleitung, in: Ders./Christoph Müller (Hg.), Hugo Preuß. Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie im Kaiserreich, Tübingen 2009, S. 1–76, hier S. 2, Anm. 2.
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historischen Auslegung. In der Jurisprudenz waren Kenntnisse der Geschichte somit recht häufig anzutreffen. Die Rechtsgeschichte galt als eines der Kernfächer der Jurisprudenz8. Und im Bereich des Öffentlichen Rechts, besonders des Staats- und Verfassungsrechts, schienen historische Grundlagen nahezu unverzichtbar, boten doch die Lehrstuhlinhaber dieses Teilfachs regelmäßig Veranstaltungen zur deutschen Verfassungsgeschichte an9. Noch ein weiterer Punkt ist erwähnenswert. Preuß war schon früh mit dem Liberalismus als Weltanschauung in Berührung gekommen. Er stand im Alter von gut zwanzig Jahren seit Mitte der 1880er Jahre der Freisinnigen Vereinigung nahe und zog für sie 1895 als Abgeordneter in die Berliner Stadtverordnetenversammlung ein10. Von dieser politischen Grundhaltung aus setzte sich Preuß mit dem durch Paul Laband geprägten wissenschaftlichen Gesetzespositivismus auseinander. Grundgedanke seiner antipositivistischen Kritik war die Vorstellung von einem historisch gewachsenen Recht und von einem genossenschaftlich geprägten Staatsverband11. Eine historische Herleitung des Rechts passte aber nicht zum ‚gereinigten‘ Staatsrecht Labands. Umso mehr pflegten die Gegner Labands in der Geschichte Argumente zu finden. Otto von Gierke, dessen Forschungen Preuß als Leitbild dienten, verstand sich ebenso sehr als Historiker wie als Jurist. Seine Genossenschaftstheorie war tief historisch verankert12.
3. „Die Entwicklung des deutschen Städtewesens“ Bereits Preuß’ frühere wissenschaftliche Veröffentlichungen wiesen historische Bestandteile und historische Argumente auf. Generell bevorzugte er den historisch informierten Juristen gegenüber einem juristisch dilettieren8 Eine wissenschaftsgeschichtliche Studie zum juristischen Teilfach „Rechtsgeschichte“ ist ein Desiderat. Eine wertvolle Skizze bietet: Michael Stolleis, Rechtsgeschichte, Verfassungsgeschichte, in: Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek b. Hamburg 1998, S. 340–361; siehe auch die Beiträge in ders./Dieter Simon (Hg.), Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte einer Disziplin, Tübingen 1989. 9 Ewald Grothe, Zwischen Geschichte und Recht. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900–1970, München 2005, S. 45–54. 10 Lothar Albertin, Einleitung, in: Ders./Christoph Müller (Hg.), Hugo Preuß. Politik und Gesellschaft im Kaiserreich, Tübingen 2007, S. 1–65, hier S. 13–19. 11 Gillessen 2000, S. 34–41. 12 Ebd., S. 22. Siehe auch Hans Boldt, Otto von Gierke, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. 8, Göttingen 1982, S. 7–23.
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den Historiker13. Preuß beschäftigte sich intensiv mit der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft. Selbst wenn seine beiden größeren (verfassungs-) historischen Schriften keine direkten Nachweise enthalten, so sind Lesespuren und Lesefrüchte dennoch deutlich erkennbar. Auch über die Stadtgeschichte im engeren Sinne hat Preuß bereits vor 1906 publiziert. In seiner im Jahre 1902 vorgelegten Untersuchung über das „städtische Amtsrecht in Preußen“ hatte er sich als „vorzüglicher Kenner des preußischen Stadtrechts und seiner Geschichte“ gezeigt14. Überhaupt stand Preußen ganz im Zentrum seiner verfassungsgeschichtlichen Studien. Das Thema „preußische Stadtgeschichte“ lag durch seine politischen Ämter geradezu auf der Hand. Nach langjähriger Tätigkeit als Stadtverordneter der Hauptstadt war Preuß seit 1910 unbesoldetes, ehrenamtliches Mitglied des Berliner Magistrats15. Es war für ihn selbstverständlich, dass seine politische Arbeit stets in historischen Bezügen stand; dies zeigt sich in Reden, Denkschriften und politischer Publizistik gleichermaßen16. Nicht ganz unwichtig für die Entstehung von Preuß’ Städtegeschichte scheint zudem das in der Vorbemerkung erwähnte „herannahende Säkularfest der ersten Städteordnung“ im Jahr 1908 gewesen zu sein17. Ein Überblick zur deutschen Stadtgeschichte lag jedenfalls kurz vor dem Jubiläum der sogenannten Steinschen Reformen in der Luft. Überhaupt zeigte sich die Stadtgeschichte in den Jahren um 1900 als attraktives Feld innerhalb der Verfassungsgeschichte18. Der Berliner Wirtschaftshistoriker Gustav Schmoller publizierte im Zusammenhang seiner Acta Borussica-Edition verschiedene Studien zur Stadtgeschichte19. Auch der seit 1905 in Freiburg lehrende Verfassungshistoriker Georg von Below brachte 1898 eine Studie über 13 Hugo Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, Berlin 1889, S. 39. Preuß neigte eher zu Rudolf (von) Gneist und Otto (von) Gierke als zu Georg Waitz und Heinrich von Treitschke. 14 Hugo Preuß, Das städtische Amtsrecht in Preußen, Berlin 1902; Gillessen 2000, S. 36. 15 Schmidt 1980, S. 55. 16 Dies belegt eindrucksvoll die sorgfältige Zusammenstellung im ersten Band seiner „Gesammelten Schriften“: Lothar Albertin/Christoph Müller (Hg.), Hugo Preuß. Politik und Gesellschaft im Kaiserreich, Tübingen 2007. 17 Preuß, Entwicklung des Städtewesens 1906, S. III. Da Preuß dies nicht mitteilt, ist nicht davon auszugehen, dass das Buch als Auftragsarbeit von irgendeiner offiziellen Stelle oder auf Anregung des Verlages entstanden ist. 18 Heinz Schilling, Die Stadt in der Frühen Neuzeit, München 1993, S. 52, 72 f. 19 Dazu zählten ein Aufsatz über das „Städtewesen unter Friedrich Wilhelm I.“ sowie mehrere Studien zu Straßburgs Geschichte. Generell zu Schmoller: Rüdiger vom Bruch, Gustav Schmoller, in: Notker Hammerstein (Hg.), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988, S. 219–238, sowie Wolfgang Neugebauer, Gustav Schmoller,
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das ältere deutsche Städtewesen heraus20. Schließlich hatte der dritte Band von Karl Lamprechts „Deutscher Geschichte“ die deutschen Städte im Mittelalter zum Thema21. Preuß benutzte auch andere Vorarbeiten, so die Genossenschaftslehre Otto Gierkes, die verfassungshistorischen Forschungen Rudolf Gneists sowie die wenige Jahre zuvor erschienene Studie von Josef Redlich über die englische Lokalverwaltung22. Er selbst erwähnte die Stadtgeschichtsforschung über das Mittelalter, an deren „Spitze neuerdings v. Below“ stehe23. Außerdem habe die preußische Reformzeit das Interesse der Geschichtsschreibung gefunden. Hier nennt er zwei Namen: zum einen den Juristen Ernst Meier, zum anderen den Historiker und Biographen des Freiherrn vom Stein, Max Lehmann24. Preuß ordnete seine Synthese in diesen Forschungskontext ein. Zu Beginn des Jahres 1906 erschien das knapp 380 Seiten umfassende Werk mit dem unprätentiösen Titel „Die Entwicklung des deutschen Städtewesens“ im Leipziger Verlag Teubner. Der erste (und einzige) Band handelte über die „Entwicklungsgeschichte der deutschen Städteverfassung“25. Es sollte ein historischer Längsschnitt sein, dem in einem geplanten zweiten Band ein Querschnitt über die „Entwicklung der städtischen Kommunalverwaltung und Otto Hintze und die Arbeit an den Acta Borussica, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 48 (1997), S. 152–202. 20 Georg von Below, Das ältere deutsche Städtewesen und Bürgertum, Bielefeld 1898. Grundlegend zu Below: Hans Cymorek, Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1998, bes. S. 104–110, der erwähnt, dass Below für Schmoller als „Hecht im Karpfenteiche“ der Stadtgeschichtsforschung galt. 21 Karl Lamprecht, Deutsche Geschichte, Bd. 3, Berlin 1893. 22 Otto Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, 4 Bde., Berlin 1868–1913; Rudolph Gneist, Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht. Bd. 1: Geschichte und heutige Gestalt der Aemter in England mit Einschluß des Heeres, der Gerichte, der Kirche, des Hofstaats, Berlin 1857; ders., Englische Verfassungsgeschichte, Berlin 1882; Josef Redlich, Englische Lokalverwaltung. Darstellung der inneren Verwaltung Englands in ihrer geschichtlichen Entwicklung und in ihrer gegenwärtigen Gestalt, Leipzig 1901. 23 Preuß, Entwicklung des Städtewesens 1906, S. III. 24 Ernst Meier, Die Reform der Verwaltungs-Organisation unter Stein und Hardenberg, Leipzig 1881; Max Lehmann, Freiherr vom Stein, Leipzig 1902. 25 Zur Einordnung in das Werk: Dreyer 2011 (Kapitel über Hugo Preuß als Geschichtsschreiber der Selbstverwaltung); Lehnert 1998, S. 124–150, in Auseinandersetzung mit zeitgenössischen und späteren Kritikern von Preuß’ Städtegeschichte. Siehe auch Christoph Müller, Zur Grundlegung der Kommunalpolitik bei Hugo Preuß, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 18 (2006), S. 13–44 und Bd. 5 der „Gesammelten Schriften“: Ders. (Hg.), Hugo Preuß. Kommunalwissenschaft und Kommunalpolitik, Tübingen 2011.
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Kommunalpolitik“ folgen sollte26. Dieser zweite, eher systematisch angelegte Überblick, der mehr politikwissenschaftlich und juristisch konzipiert gewesen wäre, ist bis zu Preuß’ Tod nicht erschienen. Es blieb somit bei dem historischen Teil. Das Buch selbst enthält nach einer kurzen Einleitung über die römischen Städte auf deutschem Boden fünf chronologische Kapitel über die Entwicklung der deutschen Stadtverfassung seit dem hohen Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart der Zeit um 1900. Die Hälfte der Untersuchung widmet Preuß dem Städtewesen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, knapp hundert Seiten in zwei Kapiteln sind für das Mittelalter und rund achtzig für das Zeitalter des Absolutismus reserviert. Es folgt die Darstellung der preußischen Reformen und die Entwicklung bis zur Gegenwart mit jeweils 90–100 Seiten. Die strenge Proportionalität dieser Kapitel-Aufteilung ist auffällig, und allein deshalb wirkt das Werk äußerst planvoll angelegt. Daraus lassen sich bereits erste Schlüsse im Hinblick auf die Wichtigkeit der jeweiligen Zeitabschnitte aus Preuß’ Sicht ziehen. Für das halbe Jahrtausend im Mittelalter benötigt Preuß ebenso viel Platz wie für die wenigen Jahre der preußischen Reformen oder das Jahrhundert seit deren Abschluss. Keine Frage also, dass die preußische Städteordnung und ihre Wirkung im Mittelpunkt von Preuß’ Interesse stehen. Der Stil der Untersuchung ist anschaulich, sie ist flüssig geschrieben und für den interessierten Laien gedacht. Preuß setzt wenig Vorwissen voraus und ist stets bestrebt, eine umsichtige Darstellung mit kleinen Zeitpanoramen zu bieten. Der Verfasser verzichtet völlig auf einen wissenschaftlichen Apparat. Es gibt weder Fußnoten noch ein Literaturverzeichnis, auch kein Register. Der Leser muss allein mit einem relativ detaillierten Inhaltsverzeichnis vorlieb nehmen. Das sei ein Zugeständnis an „bloße Konsumenten, an die das Buch sich doch auch wenden möchte“. Den Forderungen „gelehrter Kritiker“ indes versucht Preuß mit der „gewissenhaften Nennung“ der Urheber wörtlicher Zitate zu genügen. Er kommentiert dies mit der spitzen Bemerkung: „Band und Seitenzahl wird der Gelehrte auch so finden, der Ungelehrte nicht suchen“27. Für den Gelehrten, den Fachmann, den Historiker freilich ist das Werk nicht geschrieben. Forschungskontroversen interessieren Preuß nicht. Die Details übergeht er – ihm kommt es auf die großen Linien an. Preuß will nicht zeigen, wie es gewesen ist, sondern er will primär politisch bilden, geradezu belehren.
26 Preuß, Entwicklung des Städtewesens 1906, S. IV. 27 Ebd.
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Preuß’ Darstellung selbst wirkt erfrischend und lebendig gerade wegen der in ihr enthaltenen grundsätzlichen und stets präsenten politischen Botschaft. Kein noch so weit zurückliegendes Ereignis, keine von ihm identifizierte verfassungspolitische Struktur hatte eine rein historische Bedeutung; in ihr lag jeweils der Kern für spätere Entwicklungen. Preuß konstatiert langfristige historische Entwicklungen, und er weist ihnen apodiktisch weitreichende Folgen zu. Dies beginnt bereits auf den ersten Seiten, wo z.B. zu lesen ist: „Die mittelalterliche Stadt ist die Keimzelle des modernen Staates“28. Damit hatte Preuß bereits zu Beginn den Grundton seiner Studie angeschlagen. Preuß’ Sicht auf die deutsche Stadtgeschichte war durchzogen vom Gegensatz zwischen Fürsten bzw. Staat und Bürgern bzw. Stadt. Die einen verkörperten für ihn die Reaktion, den Rückschritt, die anderen die Zukunft, den Fortschritt. Die Stadt war für Preuß auch und gerade in der Geschichte eine progressive Erscheinung, weil sie nach dem Genossenschaftsprinzip funktioniere und damit den Weg zur Demokratie durch Selbstverwaltung gewiesen habe. Die Fürsten waren dagegen die ewigen Verhinderer, die zusammen mit dem Adel eine Front gebildet hätten. Preuß schildert den über Jahrhunderte sich hinziehenden ungleichen Konflikt. Das Schema war streng dichotomisch angeordnet, und es war überdies wenig differenziert. Stets war von „den“ Fürsten und „den“ Städten die Rede; Abweichungen gab es praktisch kaum. Feudalismus kontra Urbanisierung – so sah die Frontstellung in der Geschichte aus. In moderner Variante hieß dies dann: Obrigkeitsstaat versus Volksstaat29. Preuß war, das zeigt sich an zahlreichen Stellen seiner Studie, ein Meister der Zuspitzung. Das führt mit seinem Hang zu rhetorischen Stilmitteln oft zur Bildung von Gegensatzpaaren und griffigen Formulierungen, die in ihrer Eindeutig- und Einseitigkeit zum Teil problematisch waren. So bleiben zwei von Preuß’ Zentralbegriffen ambivalent und schillernd: Feudalismus zum einen und Urbanisierung zum anderen. Preuß verwendet beispielsweise einen sehr weiten Feudalismus-Begriff, der allgemein Adelsherrschaft meint und universalhistorisch sowie epochenspezifisch verwendbar ist. Die Verbindung zum ursprünglich begriffsbildenden Lehnswesen geht damit vollständig verloren. Diese Art der Verwendung des Feudalismus-Begriffs stand damit in diametralem Gegensatz zu Otto Hintzes Auffassung30. 28 Ebd., S. 5. Vgl. auch Wolfgang Krogel, Die mittelalterliche Stadt als Leitbild für die Reformen kommunaler Selbstverwaltung im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in: Der Bär von Berlin 55 (2006), S. 23–44, hier S. 38–40. 29 Hugo Preuß, Vom Obrigkeitsstaat zum Volksstaat, Berlin 1921. 30 Christoph Müller, Hugo Preuß und Otto Hintze. Versuch der Rekonstruktion eines möglichen Diskurses, in: Ingo Kolboom u.a. (Hg.), Zeit-Geschichten aus Deutschland,
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Die Geschichte gewann bei Preuß eine Zwangsläufigkeit, gegen die sich der methodisch bewusste Historiker sträubt. Die Formulierungen von der „inneren Notwendigkeit“ und der „immanenten Logik der Dinge“ passen dazu31. Preuß’ Geschichtssicht setzte nicht eine zufällige, sondern eine zielgerichtete Entwicklung der Geschichte voraus. Das Ziel der historischen Entwicklung schien dabei von vornherein festgelegt: es war der demokratische Verfassungsstaat. Preuß betrachtete die Städte als dessen Keimzelle. Bis zu ihrem Ziel verlief die Geschichte aus Preuß’ Sicht allerdings nicht geradlinig, sondern in einem natürlichen Wachstumszyklus. Nach früher „Blüte“ im hohen Mittelalter begann im Spätmittelalter der „Niedergang“ der Städte, dem im Absolutismus schließlich der „Verfall“ folgte. Mit den Steinschen Reformen in Preußen kam es dann zur „Wiedergeburt städtischer Selbstverwaltung“32. Das 19. Jahrhundert war durch eine dichte Abfolge gesetzgeberischer Maßnahmen zur Regelung der städtischen Selbstverwaltung gekennzeichnet. Die Aufgabe der Gegenwart sei es, so Preuß, die Probleme der unaufhaltsamen Urbanisierung, der „ungeheuren Agglomeration von Menschen“, mit Hilfe der kommunalen Selbstverwaltung zu bewältigen33. Der „große Gedanke“ bestehe darin, durch „urbane Reformen eine Nation zu bilden“34. Das klang nach Ausblick und war doch zugleich und vor allem eines: es war Botschaft.
4. Die Rezeption von Preuß’ Städtegeschichte Die einfachen Formeln, die glatten Lösungen und die Zwangsläufigkeit in der von Preuß erzählten Geschichte riefen die Kritiker aus der Historikerzunft auf den Plan. Die Rezensenten mahnten zu Recht die fehlenden Differenzierungen an35. Diesem im Einzelnen nachzugehen, erscheint nicht weiterführend. Ebenso wenig fruchtbar wäre es zu versuchen, die Darstellung von Preuß an den Ergebnissen der modernen Stadtgeschichtsforschung zu messen. Auf die Stoßrichtung einer Besprechung ist aber kurz zu verweisen, weil sie eines der zentralen Probleme der Studie offen und unverblümt ansprach, nämlich die Frankreich, Europa und der Welt. Lothar Albertin zu Ehren, Lage 2007, S. 13–42, hier S. 16–18. 31 Preuß, Entwicklung des Städtewesens 1906, S. 6, 152. 32 Ebd., S. 195. 33 Ebd., S. 377. 34 Ebd., S. 379. 35 Justus Hashagen, in: Historische Vierteljahrsschrift 12 (1909), S. 107–110, Robert Schachner, in: Zeitschrift für Politik 1 (1908), S. 551 f.
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politische Ausrichtung. Kein geringerer als Georg von Below, der scharfzüngigste Kritiker der Jahrhundertwende unter den Historikern, hat Preuß’ politisierte Geschichtsschreibung in einer dreißig Seiten langen Einzelbesprechung in der „Historischen Zeitschrift“ des Jahrgangs 1909 gegeißelt36. Während Below für sich „das Zeugnis der Unparteilichkeit beansprucht“, wettert er heftig gegen Preuß. Dieser habe die Geschichte „sehr ungeniert nach der sog. ‚freisinnigen‘ Anschauung geschildert“. Er frage sich, so Below weiter: „wohin gelangen wir überhaupt, wenn wir die historischen Tatsachen nach vorher fertigen Gesetzen ordnen! Unsere Aufgabe ist es, unbefangen zu ermitteln.“ Und: „Man wird abgestoßen, wenn man sieht, wie die feineren Unterschiede, die die Forschung festgestellt hat, von Preuß mit rauher Hand verwischt werden.“ Er argumentiere „mit schlechten Witzen und Entstellungen“. Belows Besprechung ist nicht nur eine Abrechnung mit Preuß und den unhistorisch arbeitenden Juristen, es ist die Verdammung von „Anschauungen, [die] heute Mode zu werden scheinen“. Below verweist darauf, dass „in einem sehr viel genannten Werk des letzten Jahrzehnts verwandte Ideen“ begegnen, und spielt damit auf Karl Lamprechts „Deutsche Geschichte“ an. Mit offenkundiger Mühe gelangt der Rezensent am Ende doch noch zu einigen lobenden Worten: „[D]ie Form des Buches, die Lebendigkeit und Übersichtlichkeit der Darstellung verdient Anerkennung“; der Überblick fülle „eine wesentliche Lücke der Literatur“ aus37. Preuß vertrat ganz offen ein alternatives Geschichtsbild, das der Mehrheitsmeinung in der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft deutlich widersprach. Der Schweizer Verfassungshistoriker Andreas Heusler stellte vorsichtig eine „gewisse Einseitigkeit des Standpunktes“ fest38. Tatsächlich lag im missionarischen Eifer, der bei Preuß unverkennbar durchscheint, die Hauptproblematik des Buchs, aber zugleich auch seine Stärke. Denn im Gegensatz zu der immanenten politischen Argumentation anderer Historiker im Kaiserreich tritt hier die politische Dimension offen zutage. Preuß gibt eine Gesamtdarstellung der Geschichte des deutschen Städtewesens aus liberal-freisinniger Sicht. Und das hebt sein Buch politisch von den meisten anderen Werken seiner Zeit ab. So originell Preuß’ Buch in seiner politischen Ausrichtung ist, methodisch geht er keine neuen Wege. So sind es neben den Verfassungsstrukturen – aus strategischen wie stilistischen Motiven – auch „große Männer“, welche die Geschichte wesentlich beeinflussen, sei es der Lübecker Bürgermeister 36 G.[eorg] v. Below, Bürgerschaften und Fürsten, in: Historische Zeitschrift 102 (1909), S. 524–555. 37 Die Zitate ebd., S. 524 f., 528, 537 f., 549, 554. 38 Andreas Heusler, in: Archiv des öffentlichen Rechts 22/23 (1907/08), S. 543–545, hier S. 544.
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Jürgen Wullenwever in der Reformationszeit oder Preuß’ Lieblingsfigur in der Geschichte, der Freiherr vom Stein. Das bewegt sich in historistischer Tradition und nimmt nicht etwa die zeitgleichen methodischen Neuansätze eines Otto Hintze auf. Von einer Typenbildung etwa findet sich bei Preuß so gut wie nichts. In einem anderen wichtigen Punkt allerdings kann Preuß sehr wohl als vorbildlich gelten. Denn in seiner Darstellung verknüpft er entwicklungsgeschichtliche Passagen mit systematischen Betrachtungen. Dabei gelangt er als Jurist zu interessanten historischen Einblicken und bereichert damit die zeitgenössische Verfassungsgeschichtsschreibung39. Im Unterschied zu seinen nicht selten problematischen Deutungen zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadtgeschichte erschließen Preuß’ Ausführungen zu den Städteordnungen des 19. Jahrhunderts in vielen Fällen ein bis dahin historisch noch wenig beackertes Feld und enthalten bedenkenswerte Einsichten. Zudem wirkt das politische Urteil aus aktueller Perspektive hier weniger störend, weil es weniger anachronistisch ist und besser in die damals jüngste Vergangenheit passt. Die damalige Stadtgeschichtsforschung hat Preuß’ Städtewesen nicht besonders breit rezipiert. Vielen Kollegen und Zeitgenossen passte die Darstellung politisch nicht ins Bild, anderen enthielt sie zu viele Ungenauigkeiten im Detail. Und auch die Gesamtdeutung auf der Grundlage der Genossenschaftslehre wurde selbst von deren Schöpfer durchaus skeptisch beurteilt. Otto von Gierke setzte sich kritisch mit Preuß’ „Städtewesen“ auseinander40. Gustav Schmoller wiederum schüttete eine antisemitische Hasstirade über Preuß aus41. Erst nachdem das Kaiserreich untergegangen, die erste Republik auf deutschem Boden etabliert worden und der Schöpfer ihrer Verfassung verstorben war, wandelte sich auch die Sicht auf Preuß’ Werk. In den Einleitungen der beiden posthum erschienenen Editionen von Aufsätzen und von Teilen seines „Staatsrechts“ der Weimarer Republik gelangten der Dozent an der deutschen Hochschule für Politik Theodor Heuss zum einen und die Historikerin
39 Zur Einordnung: Grothe 2005, S. 100 f. 40 Otto von Gierke, Die preußische Städteordnung von 1808 und ihre Nachfolgerinnen, in: Jahrbuch der Bodenreform 7 (1911), S. 169–197, hier S. 176 f. 41 Gustav Schmoller, Hugo Preuß, Obrigkeitsstaat und Volksstaat, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 40 (1916), S. 423–434, hier bes. S. 424.
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Hedwig Hintze42 zum anderen zu sehr positiven Urteilen über Preuß’ Städtegeschichte43.
5. „Verfassungspolitische Entwicklungen“ Im Vergleich zur Darstellung des Städtewesens aus dem Jahr 1906 hat Hugo Preuß’ zweites verfassungshistorisches Hauptwerk mit dem Titel „Verfassungspolitische Entwicklungen in Deutschland und Westeuropa. Historische Grundlegung zu einem Staatsrecht der Deutschen Republik“ weniger Beachtung gefunden. Es wurde 1927 nach seinem Tod als Fragment durch die Historikerin Hedwig Hintze herausgegeben. In ihrem im Zusammenhang mit dem Habilitationsgesuch 1928 eingereichten Lebenslauf schildert die Ehefrau von Otto Hintze die Entstehungsgeschichte der Edition. „Im Sommer 1926 wandte sich der Verlag Carl Heymann, Berlin, mit der Bitte an mich, zusammen mit Herrn Professor Gerhard Anschütz ein nachgelassenes Werk von Hugo Preuss herauszugeben. Da Professor Anschütz mit anderen Arbeiten stark belastet war, bat er mich zunächst, die eigentlichen Editionsarbeiten zu übernehmen und behielt sich nur die Abfassung einer allgemeinen Einleitung vor; als aber die Arbeiten bis zu diesem Punkte gediehen waren, forderte er mich auf, auch diese Einleitung noch selbst zu schreiben und dann allein als verantwortlicher Herausgeber zu zeichnen. Weihnachten 1926 ist dieses Nachlasswerk … erschienen.“44 Der Band selbst sollte ursprünglich als erster von drei Teilen eines umfassenden „Staatsrecht[s] der Deutschen Republik“ publiziert werden. „Dem Kommentar im engeren Sinne“, schreibt Hedwig Hintze in ihrer Einleitung, „sollten zwei einleitende Bücher vorausgeschickt werden, deren erstes die ‚ver42 Zur Person H. Hintzes liegen mehrere biographische Arbeiten vor: Steffen Kaudelka, Rezeption im Zeitalter der Konfrontation. Französische Geschichtswissenschaft und Geschichte in Deutschland 1920–1940, Göttingen 2003, bes. S. 284–307; Peter Th. Walther, Die Zerstörung eines Projekts. Hedwig Hintze, Otto Hintze und Friedrich Meinecke nach 1933, in: Gisela Bock/Daniel Schönpflug (Hg.), Friedrich Meinecke in seiner Zeit. Studien zu Leben und Werk, Stuttgart 2006, S. 119–143; Robert Jütte/ Gerhard Hirschfeld (Hg.), Otto Hintze – Hedwig Hintze. „Verzage nicht und laß nicht ab zu kämpfen...“. Die Korrespondenz 1925–1940, bearb. von Brigitta Oestreich, Essen 2004. 43 Theodor Heuss, Hugo Preuß, in: Hugo Preuß, Staat, Recht und Freiheit, Tübingen 1926, S. 1–23, hier S. 7–9; Hedwig Hintze, Einleitung, in: Preuß, Verfassungspolitische Entwicklungen 1927, S. V–XX, hier S. VII. 44 Friedrich Meinecke, Akademischer Lehrer und emigrierte Schüler. Briefe und Aufzeichnungen 1910–1977, Bearb. Gerhard A. Ritter, München 2006, S. 425.
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fassungspolitische‘ und deren zweites die ‚rechtstheoretische Entwicklung‘ bis zu dem Punkte führen wollte, wo das Werk von Weimar einsetzt“. Dieser erste Teil sei zum Zeitpunkt von Preuß’ Tod immerhin „weit genug gediehen [gewesen], um als selbständiges, wenn auch fragmentarisches Werk in die Öffentlichkeit treten zu können“.45 Der zweite Teil wurde 1928 unter dem Titel „Reich und Länder. Bruchstücke eines Kommentars zur Verfassung des Deutschen Reiches“ von Gerhard Anschütz ediert46. In mancher Hinsicht knüpft die neue verfassungshistorische Darstellung von Preuß an sein erstes Buch zum Städtewesen an. Erneut schildert Preuß den Sieg des „fürstlich-feudalen Prinzips über das bürgerlich-korporative“47. Erneut verteilt der Autor Noten für die historischen Entwicklungen. Er blickt auf England als Vorbild, da hier das korporative Prinzip die Oberhand behalten habe. Er verurteilt die deutschen Fürsten und Landesherren, die nicht nur einen einheitlichen Nationalstaat verhindert, sondern auch alle korporativen Bestrebungen in der deutschen Geschichte unterdrückt hätten. Insgesamt geht es ihm darum, das „Anderssein“ des deutschen Volkes im Vergleich mit seinen westeuropäischen Nachbarn nachzuweisen. Preuß bietet einen verfassungshistorischen Durchgang, der wie in seiner Städtegeschichte eine politische Botschaft enthält. Am Ende dient die Darstellung auch zur Rechtfertigung des Verfassungswerks von Weimar, indem sie dieses von dem Ruf, ‚undeutsch‘ zu sein, zu befreien versucht. Nur die unglücklichen verfassungspolitischen Entwicklungen hätten die positiven Traditionen eines korporativen Staatsaufbaus verschüttet, die es in der deutschen Geschichte – so wird Preuß nicht müde zu betonen – durchaus gegeben habe. Im mittelalterlichen Städtewesen sowie im Bauernkrieg seien letztendlich Chancen verpasst worden. Dagegen hätten die Städte im Zeitalter des Absolutismus einen Niedergang erlebt; die Territorien seien nur Surrogate echter Staatlichkeit gewesen. Bei einer Fortsetzung des Werkes hätte zweifellos auch die preußische Städteordnung von 1808 den ihr aus Sicht des Verfassers gebührenden Ehrenplatz in der Geschichte erhalten. Preuß zeichnet als Kontrastfolie zu den positiven Traditionslinien die Tragik der deutschen Geschichte nach, die zu einer insgesamt negativen Entwicklung geführt habe. Dabei geht er, wie er dies bereits in seinem Buch „Das deutsche Volk und die Politik“ getan hatte48, konsequent verfassungsvergleichend vor. Ein starkes Königtum habe in England und Frankreich seit dem Mittelalter 45 46 47 48
Hintze, Einleitung 1927, S. V–VI. Erschienen in Berlin. Preuß, Verfassungspolitische Entwicklungen 1927, S. 50. Hugo Preuß, Das deutsche Volk und die Politik (1915), in: Albertin/Müller (Hg.) 2007, S. 383–530.
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Nationalstaaten entstehen lassen, während in Deutschland die „nationale und korporative Konsolidierung“ am Eigensinn der Territorialfürsten gescheitert sei49. Die „national-dynastische“ Politik Frankreichs und die „internationaldynastische“ Politik Habsburgs hätten zusammen mit der „antinational-dynastischen Politik des deutschen Landesfürstentums“ zu einer „nationalen und internationalen Ohnmacht Deutschlands“ geführt50. So sei es zum Sonderweg Deutschlands gekommen, der bei Preuß eindeutig negativ konnotiert ist. Auch in dieser Darstellung zeigt sich Preuß als politisierender Historiker und als politischer Professor. Er möchte die großen Linien der Geschichte zeichnen, und er möchte eine politische Botschaft vermitteln. Erneut ist es eine freisinnig-liberale Sicht auf die Geschichte und somit eine Botschaft, die weiten Kreisen der Historiker nicht genehm war, aber dem Verfasser als politische Aussage für breitere Bevölkerungsschichten wichtig erschien. Preuß ging es nicht primär um die Vermittlung historischen Fachwissens, sondern um die sinngeleitete Deutung der deutschen Geschichte im Vergleich mit der Entwicklung der westlichen Nationalstaaten. So resümiert Hedwig Hintze in ihrer Einleitung zutreffend: „Wer im Studium der Historie auch politische Bildung sucht und nicht Muße hat, die großen fachwissenschaftlichen Werke durchzuarbeiten, wird aus der vorliegenden Darstellung reiche Belehrung schöpfen.“51 Dennoch ist der fragmentarische Charakter des Buches offensichtlich. Die chronologisch im Mittelalter anhebende Untersuchung bricht nach dem dritten Kapitel, das den „aufgeklärten Despotismus“ des 18. Jahrhunderts behandelt, ab52. Danach folgt nur noch ein weiterer Abschnitt über die englische Revolution. Im Unterschied zur Städtegeschichte mangelt es dem Fragment der „verfassungspolitischen Entwicklungen“ an Geschlossenheit. Hier macht sich das Fehlen des 19. Jahrhunderts besonders bitter bemerkbar. Denn der Leser vermisst schmerzlich die Anknüpfung der Darstellung an die Gegenwart. Zu gern hätte man Passagen über die Französische Revolution, die preußischen Reformen oder die Revolutionen von 1848 gelesen. Auch den preußischen Verfassungskonflikt oder die Kaiserreich-Deutung von Preuß hätte man gerne geschlossen dargeboten bekommen. So aber muss man aus den Aufsätzen und dem Buch über das Städtewesen Preuß’ Ansichten rekonstruieren. Die Herausgeberin Hedwig Hintze legt in ihrer Einleitung zunächst das historiographische Anliegen des Verfassers aus ihrer Sicht dar. Es handele sich um 49 Preuß, Verfassungspolitische Entwicklungen 1927, S. 55. 50 Ebd., S. 120 f. 51 Hintze, Einleitung 1927, S. XII. 52 Preuß, Verfassungspolitische Entwicklungen 1927, S. 237.
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eine „gedrängte vergleichende Verfassungsgeschichte“53. Diese Bemerkung der Herausgeberin ist gleich in doppelter Hinsicht beachtenswert. Denn zum einen war ihr, die sie selbst zur französischen Verfassungsgeschichte arbeitete54, völlig klar, dass eine vergleichende Verfassungsgeschichte ein Novum in der Historiographie darstellte. Zum anderen war es ausgerechnet dieses Vorhaben, eine „allgemeine vergleichende Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der neueren Staatenwelt“, das ihr Mann Otto Hintze in seiner Antrittsrede vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1914 angekündigt hatte55. Ob Hedwig Hintze damit nahelegen wollte, dass man bei Preuß bereits die Grundlinien für ein solches Projekt finden könne? Zumindest mit Blick auf die unverkennbar politische Seite des Werkes wäre dies interessant. Hintze fährt fort, die Ausführungen Preuß’ seien „unternommen weder von einem ‚zünftigen‘ Historiker, der alle Tatsachen aus ursprünglichen, kritisch geprüften Quellen zu schöpfen sich verpflichtet glaubt, noch auch von einem rein formaljuristisch eingestellten Systematiker, der nur das, was in den Rechts- und Verfassungsurkunden steht, sieht und sehen will“56. Hier rekurriert sie auf das Ideal eines Gelehrten, der beide Fächer miteinander verknüpft, wie es sich ihr Mann als Ideal bereits um 1900 gewünscht hatte. Zur generellen Einordnung und zum Wert des Fragments ergänzt sie: „[U]nsere deutsche verfassungsgeschichtliche Literatur [ist] nicht so reich an Werken, die über spezielle Nützlichkeit hinaus sich zu allgemeiner Bedeutung erheben“57. Schließlich nutzt die Herausgeberin in ihrer Einleitung die Chance, die politische Einstellung von Preuß’, die sich in großen Teilen mit ihrer eigenen deckte, vorzustellen. Zwar habe die Verfassung von Weimar nicht die „theoretische Vollkommenheit“ besessen, die ihrem Schöpfer vorgeschwebt habe, aber sie habe dennoch „bereits die Feuerprobe schwerer krisenreicher Jahre bestanden“. Preuß habe „echte vorurteilsfreie Liebe zum Vaterland“ beseelt, zugleich habe sein „humanitärer Liberalismus“ auf eine internationale Friedensgemeinschaft gezielt. Das „Machwerk von Versailles“ habe zu
53 Hintze, Einleitung 1927, S. VI. 54 Hedwig Hintze, Staatseinheit und Föderalismus im alten Frankreich und in der Revolution, Berlin 1928. 55 Otto Hintze, Antrittsrede in der Preußischen Akademie der Wissenschaften, in: Ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, Hg. Gerhard Oestreich, mit einer Einleitung v. Fritz Hartung, Göttingen 31970, S. 563–566 [zuerst 1914]. 56 Hintze, Einleitung 1927, S. VI. 57 Ebd., S. VII.
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seinem Rücktritt als Innenminister geführt, wohingegen er „die Tage von Locarno und Genf“ nicht mehr habe erleben dürfen58. Hedwig Hintze und Hugo Preuß verband vieles59. Sie waren beide in dreifacher Hinsicht Außenseiter: sie waren zum ersten jüdischer Abstammung bzw. Juden, sie bekannten sich zum zweiten positiv zur Weimarer Republik, und sie teilten zum dritten mehrere wissenschaftliche Interessen. Die Historikerin Hintze und der Jurist Preuß trafen sich auf halber Wegstrecke zwischen Geschichte und Recht in der Verfassungsgeschichte60. Aber in der Art und Weise wie die beiden verfassungshistorisch publizierten, unterschieden sie sich sehr. Auf der einen Seite die gewissenhafte Quellenforschung und detailreiche Darstellung bei Hintze. Auf der anderen Seite die populäre historische Aufbereitung und zugleich politische Deutung der Geschichte, um ihre Relevanz für die Gegenwart zu verdeutlichen und ihr auf diese Weise gerecht zu werden. Preuß’ zweites monographisches Werk zur Verfassungsgeschichte ist mäßig breit rezipiert worden61. Möglicherweise auf Anregung von Hedwig Hintze (die Redakteurin bei der „Historischen Zeitschrift“ war) erschien bereits 1927 eine frühe Rezension im ‚Flaggschiff‘ der Historikerzunft. Verfasser war nicht zufällig einer der besten Kenner der französischen Verfassungsgeschichte, Robert Holtzmann. Seine Besprechung fiel äußerst freundlich aus, indem er Autor und Editorin gleichermaßen mit Lob bedachte. Preuß sei bei Mängeln 58 Ebd., S. XVII–XIX. 59 Hedwig Hintze äußerte sich zu Preuß auch in dies., Hugo Preuß. Eine historisch-politische Charakteristik, in: Die Justiz 2 (1927), S. 223–237. Vgl. auch Steffen Kaudelka, Hedwig Hintze und Hugo Preuß. Auf der Suche nach einem neuen Verständnis von demokratischer Selbstregierung und Nation in europäischer Dimension, in: Christoph Müller (Hg.), Gemeinde, Stadt und Staat. Aspekte der Verfassungstheorie von Hugo Preuß, Baden-Baden 2005, S. 101–120. Preuß kommentierte Hedwig Hintze nur an einer einzigen Stelle: Rezension zu A.[lphonse] Aulard, Politische Geschichte der Französischen Revolution, in: Deutsche Juristen-Zeitung, Literatur-Beilage 30 (1925), Sp. 977. 60 Grothe 2005, S. 139–142. 61 Erich Bleich, Vertragswerk und Verfassungswerk. Betrachtungen über zwei wichtige Fragen der Zeitgeschichte, in: Mitteilungen aus der historischen Literatur, NF 16 (1928), S. 1–15, hier S. 12–15; [Anton] Dyroff, in: Annalen des Deutschen Reiches für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 60/61 (1927), S. 498; [Fritz] Friedrich, in: Vergangenheit und Gegenwart 17 (1927), S. 400 f.; J.[ustus] Hashagen, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 55 (1931), S. 149– 151; Ernst v. Hippel, in: Verwaltungsarchiv 34 (1929), S. 145; [Heinrich] Lindenau, in: Preußisches Verwaltungsblatt 48 (1926/27), S. 411; Richard Thoma, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 84 (1928), S. 388 f.
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im Detail „eine Fülle richtiger und anregender Urteile“ und eine „recht interessante“ Deutung der Verfassungsgeschichte zu verdanken. Durch die Edition erkenne man, dass Preuß die Reichsverfassung „mit historischem Sinn und Verständnis“ entworfen habe62. Auch der frühe Biograph, der Reichsgerichtspräsident Walter Simons, äußerte sich 1930 sehr lobend63. Mit der Rezeption der „verfassungspolitischen Entwicklungen“ war es nach 1933 selbstverständlich vorbei. Preuß war es darauf angekommen, die korporativen und damit auch demokratischen Wurzeln der deutschen Geschichte herauszuarbeiten und darzulegen, weshalb die deutsche Geschichte einen negativen Sonderweg einschlug und 1918 Demokratie und Verfassungsstaat der Not gehorchend improvisiert werden mussten. Nach 1933 wurde die Deutung der deutschen Geschichte ins Gegenteil verkehrt64. Der Weimarer Staat war nicht mehr positiver Zielpunkt der Geschichte, sondern das Schreckbild schlechthin.
6. Preuß als historiographischer Vorläufer und politisches Vorbild Preuß’ Deutung konnte erst nach 1945 wieder Anhänger finden. Jetzt war es wieder gefragt, die deutsche Geschichte mit derjenigen in Westeuropa in Beziehung zu setzen und die jüngere deutsche Geschichte kritisch zu beurteilen. Rudolf Stadelmann schrieb 1946 in seiner Aufsatzsammlung „Deutschland und Westeuropa“: „Es bleibt wohl nur übrig, daß wir geistig auf den Punkt zurückgehen, wo die revolutionäre Entwicklung in Westeuropa und die deutsche Sonderentwicklung sich gegabelt haben.“65 Noch viel konkreter als Stadelmann knüpfte der Hamburger Historiker Heinrich Heffter 1950 in seiner Habilitationsschrift über „die deutsche Selbstverwaltung“ an Preuß an. Sein Urteil fiel zwiespältig aus: „Preuß hat in dem Buch ‚Die Entwicklung des deutschen Städtewesens‘ ... die moderne Selbstverwaltung ganz in den Zusammenhang der Verfassungsgeschichte der liberalen Demokratie gestellt. Es ist im Kern dieselbe Auffassung, die uns heute erst recht als die richtige erscheint ... Aber in Preuß drängt der starke 62 Robert Holtzmann, in: Historische Zeitschrift 136 (1927), S. 532–535, hier S. 533. 63 Walter Simons, Hugo Preuß, Berlin 1930. Zwei andere frühe positive Porträts: Carl Schmitt, Hugo Preuß. Sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre, Tübingen 1930, sowie Ernst Feder, Hugo Preuß. Ein Lebensbild, Berlin 1926. 64 Grothe 2005, S. 215–309. 65 Rudolf Stadelmann, Deutschland und die westeuropäischen Revolutionen, in: Ders., Deutschland und Westeuropa, Laupheim 1948, S. 11–33, hier S. 33.
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Reformwille des Politikers doch den Historiker zu sehr zurück.“66 Es ist bemerkenswert, dass dieselbe Kritik, die er an Preuß übte, nun auch Heffter selbst widerfuhr. Erich Becker, ein konservativer Verwaltungshistoriker von der Fachhochschule Speyer, den Heffter als Parteigänger des Nationalsozialismus kritisiert hatte, warf ihm in der „Historischen Zeitschrift“ des Jahrgangs 1953 eine „ungewöhnliche ideologische Politisierung des Themas“ vor. Heffter verurteile „alle Geschichtsforscher … mit Ausnahme von Hugo Preuß, den er politisch akzeptiert, als Historiker jedoch ‚unzulänglich‘ nennt“67. Beckers Urteil über Preuß’ politisierte Historiographie fiel deutlich aus. Was die Person von Preuß angeht, übte er sich indes in Zurückhaltung. Nur wenige Jahre nach Inkraftsetzung des bundesdeutschen Grundgesetzes war der Verfassungsschöpfer von Weimar nicht öffentlich angreifbar. Der Jurist und Politiker Preuß dominierte fortan in der öffentlichen und in der wissenschaftlichen Wahrnehmung über den Rechts- und Verfassungshistoriker – an diesem Bild sollte sich bis vor einigen Jahren wenig ändern. Über Deutschlands angeblichen negativ konnotierten Sonderweg im Vergleich mit den westeuropäischen Nationalstaaten ist seit den 1970er Jahren intensiv und kontrovers diskutiert worden68. Die These ist inzwischen längst gefallen, aber der Vergleich ist berechtigterweise geblieben. Als Heinrich August Winkler zur letzten Jahrtausendwende sein zweibändiges Werk über den „langen Weg nach Westen“ vorlegte, berief er sich nicht auf historiographische Vorbilder69. Der Verfassungsvater Preuß kommt bei ihm erneut nur als Verfassungsjurist und nicht als Historiker vor. Dabei hätte Preuß auch als historiographischer Vorläufer und – mehr noch – sogar als politisches Vorbild getaugt.
66 Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert. Geschichte der Ideen und Institutionen, Stuttgart 1950, S. 180, Anm. 1. Zu Preuß weiterhin ebd., S. 530, 647, 746, 751–765. 67 Heffters Kritik an Becker, ebd., S. 180 f., Anm. 1; Erich Becker, in: Historische Zeitschrift 175 (1953), S. 115–123, hier S. 117. 68 Siehe u.a. Bernd Faulenbach, „Deutscher Sonderweg“. Zur Geschichte und Problematik einer zentralen Kategorie des deutschen Bewußtseins, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 31 (1981) B 33, S. 3–21. 69 Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. 2 Bde., München 2000.
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Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik Anmerkungen zur Studie von Kathrin Groh Mit der Weimarer Verfassung gelingt in Deutschland erstmals, über die noch umstritteneren und letztlich erfolglosen Versuche um 1848 hinaus, eine demokratische Konstitutionalisierung durch eine verfassungsgebende Nationalversammlung. Nahe liegt daher, hier den Beginn einer demokratischen Staatsrechtslehre zu lokalisieren und das Schrifttum der Weimarer Zeit unter diesen Oberbegriff zu subsumieren. Christoph Gusy hat auf diese Fragestellung aufmerksam gemacht und sie in eigener Darstellung sowie einem durch eine Tagung vorbereiteten Sammelband „Demokratisches Denken in der Weimarer Republik“ (Baden-Baden 2000) vorgestellt. Notwendigerweise war dieser Band von der Heterogenität der vielen Autoren geprägt. Um so erfreulicher ist, dass aus seiner Bielefelder Schule jetzt eine Arbeit vorliegt, die das demokratische Staatsdenken systematisch zu erfassen sucht und insofern zur Diskussion stellt.1 Dabei kann freilich auch die Verfasserin nicht darüber hinweggehen, dass Staatsrechtslehre unabhängig von der konkreten Verfassung betrieben werden kann. Mehr noch, der Verfassungsbegriff des 19. Jahrhunderts, fest gefügt in Folge des Wiener Kongresses, des Deutschen Bundes und des ihn insofern nur in der nationalen Einheit, nicht im Verfassungsmodell grundsätzlich verändernden Deutschen Reiches, mochte als aprioristisches Modell seinen Einfluss ausüben, ungeachtet oder in Umdeutung der Verfassungsschöpfung von Weimar. Daher ist der Methoden- und Richtungsstreit der Weimarer Zeit zumindest vorrangig keiner um die Weimarer Verfassung. Die Fronten werden vor deren Erlass, im Wesentlichen schon 1911/12, abgesteckt, und soweit die Weimarer Verfassung zum Gegenstand des Streits wird, etwa hinsichtlich des Verfassungsbegriffs, des Gleichheitssatzes, der allgemeinen Gesetze, des Hüters der Verfassung, geht es weniger um Auslegung des Verfassungstexts 1 Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Von der konstitutionellen Staatslehre zur Theorie des modernen demokratischen Verfassungsstaats, Tübingen 2010. Die folgenden Anmerkungen erscheinen in leicht veränderter Form auch in der Festschrift für Hans Peter Bull, Berlin 2011.
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und dessen historisch-systematisches Verständnis, als um die Anwendung bestimmter, von außen an die Verfassung herangetragener methodischer Maßstäbe. Aber gerade deshalb hat es seinen guten Grund, dass die Studie von Kathrin Groh sich von vornherein auf einen bestimmten Kreis, auf „demokratische Staatsrechtslehrer“, die die Weimarer Verfassung behandelt haben, beschränkt. Nur, wie wird dieser Kreis bestimmt? Man könnte den Ausschluss bestimmter, recht zweifelsfrei der Verteidigung der Weimarer Verfassung zuneigender Autoren, etwa Ludwig Waldeckers, kritisieren2, oder durch Abstellen auf die Legitimität der Verfassung oder die Tagung republikanischer Hochschullehrer vom 23./24.4.19263 den Kreis zu bestimmen suchen, oder Beteuerungen der Verfassungstreue angesichts von Angriffen gegen die geisteswissenschaftliche Methode4 zugrunde legen. Jede dieser Abgrenzungen wäre kritisierbar. Eben dies spricht für die Methode der Verfasserin, sich auf fünf zweifelsfrei bedeutende, der Weimarer Verfassung verbundene und sie interpretierende Autoren zu beschränken, auf Hugo Preuß, Gerhard Anschütz, Richard Thoma, Hans Kelsen und Hermann Heller. Allerdings impliziert dies Inkongruenzen. Die Geburtsdaten der fünf Autoren liegen bis über 30 Jahre (Preuß: 1860, Heller: 1891), die Todestage gar fast 50 Jahre (Preuß: 1925, Kelsen: 1973) auseinander. Folglich ist Preuß dem Schwerpunkt seiner Tätigkeit nach noch der Zeit vor 1918, methodisch einem dem Weimarer Methodenund Richtungsstreit vorausliegenden Methodenstreit zwischen der von der Romanistik beherrschten Staatsrechtsdogmatik und der germanistischen Kritik daran verhaftet (richtig S. 25). Hingegen gehören Kelsen und Heller zu den – freilich beide aus Österreich stammenden und deshalb nicht so zentral bzw. exklusiv an der Weimarer Verfassung interessierten – Beteiligten am Weimarer Methodenstreit. Allerdings ist Heller zur Zeit von dessen Erledigung verstorben, und Kelsen war von Anfang an, dann in der Emigration und nach dem Zweiten Weltkrieg ein Neubegründer der Rechtstheorie. All dies, ebenso wie Anschütz’ und Thomas Tätigkeit vor 1918, muss im Rahmen der vorliegenden Arbeit zurücktreten, bedarf aber der Bewusstmachung, wenn den Autoren Gerechtigkeit widerfahren soll. Grohs Arbeit gliedert sich, nach einer die Fragestellung konkretisierenden Einleitung, in drei Hauptteile: zunächst eine knappe Darstellung der Lehre 2 S. 1 werden als weiter in Betracht kommende Autoren genannt: Wittmayer, Radbruch, Nawiasky und Giese. 3 Dazu die Listen bei E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 6, Stuttgart 1981, S. 10, 988. 4 So Gerhard Leibholz in seiner Rezension zu O. Mainzer, Gleichheit vor dem Gesetz, Archiv des öffentlichen Rechts 18 (1930), S. 254 (259).
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der fünf behandelten Autoren, dann eine eingehende Behandlung von fünf Grundfragen des Weimarer Regierungssystems: Führerauslese, Parteienstaat, Pluralismus, Parlamentarismus, Grundrechte. Den Abschluss bildet ein Teil zu einer demokratischen Verfassungstheorie der Weimarer Republik. Das sind Schlaglichter, die sich sämtlich rechtfertigen lassen und heuristisch zu akzeptieren sind. Aber schon die Gliederung zeigt im Einzelnen, dass manchmal die Behandlung durch die fünf Autoren einfach nebeneinander gestellt wird, manchmal systematisch, und dann meist unter Einbeziehung auch der neueren Diskussion, argumentiert wird. Die erstgenannte Methode, die den Autoren besser gerecht wird, hat den Nachteil, ihre Ausführungen einfach zu referieren und zu addieren, die zweite, aktueller relevante, kann schwerlich vermeiden, die Aussagen der Autoren unter Hintanstellung des wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhangs zu nivellieren. Vorweg betont sei die vorzügliche Literaturerfassung, der Primär- wie der Sekundärliteratur. Hugo Preuß’ Schriften etwa sind ziemlich komplett erfasst, wobei Band 1 der Gesammelten Schriften5 bereits herangezogen wird, wenn auch die dort abgedruckten Schriften nicht alle danach zitiert werden. Für die übrigen Bände hat die Verfasserin ihrerseits einen großen Teil der Editionsarbeit eigenständig vorbereitet6.
1. Staats- und Demokratielehren der betrachteten Autoren Im 1. Teil muss die Darstellung der Lehre der fünf Autoren auf eine Rekonstruktion im Detail verzichten und bisweilen apodiktisch ausfallen, wenn etwa Hugo Preuß die „Verstaubtheit der organischen Staatstheorie“ (S. 25) trotz der Erkenntnis von deren Funktion entgegengehalten oder die Rückführung auf das Volk, die sich in seinem Denken erst nach und nach entwickelt, als genuin für Preuß bezeichnet wird (richtiger S. 30). Die Prämisse, dass die Vielheit der Bürger in der Einheit des Staates aufgehoben werde (S. 27 – das wäre eher für die von Preuß verworfene Gesellschaftsvertragslehre oder auch für Gneist, vgl. S. 37, zutreffend), vernachlässigt die von Preuß stets betonte „Einheit in Vielheit“7. Richtig ist dagegen die Konzentration der Freiheit auf demokra5 Hg. im Auftrag der Hugo-Preuß-Gesellschaft e.V. von Detlef Lehnert und Christoph Müller, Tübingen, Bd. 1, eingel. von Lothar Albertin, 2007, Bd. 4, eingel. von Detlef Lehnert, 2008, Bd. 2, eingel. von Dian Schefold, 2009; im folgenden nur als „Gesammelte Schriften“ mit Band- und Seitenzahl zitiert. 6 Bei „Anschütz, Staatsrecht“ (so zahlreiche Zitate S. 53 Fn. 63 ff.) stört etwas, dass das Werk im Literaturverzeichnis zutreffend nur unter Meyer/Anschütz aufgeführt ist. 7 Vgl. Gesammelte Schriften Bd. 2, S. 95, und öfter.
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tische, also nicht vorstaatliche, Mitgestaltung (S. 35). Natürlich gab es zu Preuß’ Zeiten noch keine ausgearbeitete soziologische Methode zur Erfassung der dafür notwendigen Lernprozesse (S. 41). Aber die Beschreibung der auftretenden Konflikte und deren allmählicher Eingrenzung und Ausgleichung leitet doch zu hoch aktuellen Fragestellungen über. Für Gerhard Anschütz weist die Darstellung eine Preuß’ Entwicklung verblüffend ähnliche Herausbildung des demokratischen Denkens auf, besonders eindrücklich in Anschütz’ Rezension von Preuß’ Buch über „Das deutsche Volk und die Politik“ (1915). Allerdings hat die teleologisch-politische Argumentation bei Anschütz ganz andere Wurzeln und bleibt die Staatsbejahung abstrakt. Gewiss kann man sie als demokratisch, etwa im Sinn heutiger Argumentationen mit Verfassungspatriotismus, bezeichnen (S. 64, 68). Aber im Verhältnis zu Preuß fehlt die Grundlage in der organischen Theorie, im Verhältnis zur französischen Verfassungstradition – man denke an Carré de Malberg! – die Betonung der volonté générale, so dass der Staat als solcher stark, die demokratische Bestimmung zwar bejaht, aber doch eher aufgesetzt wirkt8. Beim gegenüber Anschütz sieben, gegenüber Preuß vierzehn Jahre jüngeren Richard Thoma ist dagegen der Einfluss des „Weimarer“ Methoden- und Richtungsstreits bereits evident, so sehr in der praktischen Wirksamkeit die Kooperation mit Anschütz hervortritt, und so sehr das Methodenbewusstsein durch den Einfluss Max Webers geprägt ist (S. 78 ff.). Aber die Bedeutung der Vorstellung eines Beziehungsgefüges als Wesensmerkmal des Staates (S. 83) erinnert außer an Weber doch mehr an Smend als an Kelsen (vgl. S. 86) – wobei freilich die wiederum durch Weber geprägte realistische Sicht des Herrschaftsverbands in bloßer Rechtsform der Körperschaft die Zurückführung auf die reale Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen, die in Preuß’ Organisationslehre so zentral war, erschwert. So wird der Demokratie-Begriff schillernd, normativ wenig aussagekräftig. Man nimmt Thoma sein Bekenntnis zum Parlamentarismus und seine Loyalität gegenüber der Republik gern ab. Aber sie ist weniger theoretisch, als praktisch politisch fundiert. Gilt dies auch für Hans Kelsen? Zumindest für die Fragestellung des vorliegenden Bandes muss die Demokratielehre, über deren Bedeutung kein Zweifel mehr bestehen sollte, deren Verhältnis zur Rechtstheorie aber problematisch ist, im Mittelpunkt stehen (S. 106 ff., 129 ff.). Der die Demokratietheorie be8 In diesem Sinn wäre auch die starke Betonung der Kontinuität von monarchischem und republikanischem Reich zu erwähnen, vgl. etwa Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl. Berlin 1933, Einleitung, S. 1 ff.
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stimmende Wertrelativismus, vor allem die Ablehnung einer ontologischen, sei es naturrechtlichen, soziologischen oder materialistischen Begründung von Sollenssätzen, bestimmt jedoch zugleich Kelsens Rechtstheorie. Daher überzeugt, dass Groh den Ausgangspunkt der Entwicklung der Reinen Rechtslehre, vor allem in den Frühschriften vor 1914, in einer Entzauberung des Staates, einer Kritik an den für den Obrigkeitsstaat hilfreichen Theorien sieht (S. 113 f.). Gerade insofern ist die Parallele zu Preuß deutlich. Wie die Genossenschaftstheorie und die daraus abgeleitete Bestimmung der Gebietskörperschaft durch den Gemeinwillen den Patrimonialstaat, so entzaubert die Reine Rechtslehre durch Definition des Staates als Sollensordnung den personalen Herrscher. Die Kelsen’sche Gleichsetzung von Staat und Recht erweist sich auch insofern der schon von Preuß gesehenen engen Verbindung beider (wie auch Krabbes Lehre von der Rechtssouveränität) verwandt, mag auch der methodische Ausgangspunkt entgegengesetzt sein. Mehr noch: wenn Groh aus der Verwerfung der Trennung von öffentlichem und privatem Recht ableiten will, dass Kelsen die von Preuß herausgearbeitete Wesensgleichheit aller Gebietskörperschaften zur Wesensgleichheit aller juristischen Personen erweitere (S. 114), so lenkt sie das Augenmerk auf die Herrschaftsverhältnisse zwischen juristischen Personen, in der Terminologie der Genossenschaftstheorie zwischen Gesamtpersonen und ihren Gliedpersonen. Diese Herrschaftsverhältnisse sind – daran lässt gerade Preuß keinen Zweifel – durch die faktischen, wenn auch oft verrechtlichten Machtverhältnisse bestimmt. Kelsen setzt an deren Stelle die hypothetische Grundnorm. Aber diese knüpft das Sollen an die faktische Autorität des Rechtserzeugers (vgl. mit Nachw. S. 111). Unter Gebietskörperschaften mag diese, auch nach Völkerrecht, evident sein. Soll sie aber auch bei andern juristischen Personen konstatiert und dabei deren Regelung nach einer Sonderordnung des staatlichen, öffentlichen Rechts vermieden werden, so stellt sich jedes Mal die Frage nach der sozialen, machtmäßigen Legitimation der das Recht erzeugenden juristischen Person. Damit bliebe für die selbständige Sollensordnung wenig übrig. Die Demokratietheorie müsste, als politische Soziologie der jeweiligen Körperschaften, über die Wirksamkeit (vgl. S. 126 f.) der jeweiligen Sollensordnung befinden.9 Stellt Grohs Analyse schon bei Kelsen die Zurückdrängung der seinswissenschaftlichen Grundlagen der Staatsrechtslehre in Frage, so hat Hermann Heller die wirklichkeitswissenschaftliche Methode der Staatslehre bewusst 9 Kelsen hätte diese Konsequenz wohl nicht akzeptiert. Aber sie zeigt, dass die hypothetische Grundnorm gebietsspezifisch verstanden werden muss, wenn sie die einheitliche Sollensordnung begründen soll.
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in den Mittelpunkt gerückt. Damit hat er nach Einschätzung der Verfasserin (S. 144) – die zumindest bis 1970, wenn nicht bis 1980 schwerlich, für die neuere Zeit aber eher zutrifft – die neuere Entwicklung am nachhaltigsten von allen Theoretikern der Weimarer Zeit beeinflusst. Dennoch, das Postulat einer wirklichkeitswissenschaftlichen Staatslehre blieb schillernd. Keinesfalls war damit ein materialistisches Verständnis gemeint. Die „Dialektik“ von Sein und Sollen, die an Preuß erinnert (richtig S. 160, 166), beruhte bei diesem auf den von Heller nicht übernommenen und in der Tat jedenfalls für das zweite Viertel des 20. Jahrhunderts nicht mehr plausiblen Prämissen der organischen Staatslehre. Zwischen andern methodischen und soziologischen Theorien oszillierte Heller, so dass man seine Beschreibung der Hervorbringung des Staates als Einheit kaum als wirklicher betrachten kann als die Smends (überzeugend S. 163). Insofern sind die Fragezeichen an den Rand des Heller’schen Befunds der Wirklichkeit des Staates (S. 158) angebracht. Es gilt im Auge zu behalten, dass seine „Staatslehre“ Torso geblieben und dass Heller in einem Alter gestorben ist, in dem die andern von Groh behandelten Autoren nahe dem Höhepunkt ihres Wirkens waren. Als fruchtbar hat sich wohl Hellers kulturwissenschaftliche Begründung der Einheit von Volk, Nation und Staat erwiesen. Sie prägt vor allem die Demokratietheorie und die These vom sozialen Rechtsstaat als Verbindung kultureller Einheitsbildung, liberaler Grundrechte und sozialer Gleichheit durch demokratische Entscheidung. Aber dies verlangt von der Arbeiterschaft, dass sie sich in die nationale Kultur hineinkämpfe (S. 169, 172); denn Ort der demokratischen Entscheidung bleibt der Staat als organisierte Einheit trotz zunächst bestehender sozialer Gegensätze. Dass diese etatistische Betrachtungsweise (so zutr. insb. S. 177) auch die gegenseitige Entfaltung durch die Menschen in der Gemeinschaft einschließe (S. 179), nehme ich gern zur Kenntnis, und ich korrigiere mich insofern, nicht aber hinsichtlich meines Befundes des Primats des Staates als Wirkungseinheit, der die demokratische Selbstbestimmung relativiert und absorbiert10. In diesem Befund glaube ich mich mit der Verfasserin einig wissen zu dürfen.
2. Positionen im Kontext des Weimarer Regierungssystems Der zweite Teil setzt ein mit einer Analyse des Volksbegriffs, wobei der mythisierende, antidemokratische Kollektivbegriff einem auf die Verbindung der Individuen gegründeten Volk gegenübergestellt wird. Die Gegenüberstellung 10 Dian Schefold, Gesellschaftliche und staatliche Demokratietheorie, in: Gusy (Hg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000, S. 256 (insb. 283 ff.).
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wird jedoch dadurch relativiert und erschwert, dass gerade Preuß seiner organischen Staatskonzeption einen rationalen, verfassungsrechtlich konstituierten Volksbegriff zugrunde gelegt hat (richtig S. 188 Fn. 9). Insofern muss die zunächst behandelte Fragestellung nach Führertum und Elitenherrschaft auf eine schillernde soziologische Fragestellung aufbauen; sie ist staatstheoretisch schwer fassbar und, wie die Ausführungen zeigen, wenig ergiebig. Bei Anschütz wird die Fragestellung kaum zum Gegenstand. Auch bei Preuß bleibt sie marginal und einem Pflichtethos der Führenden sowie einer Hoffnung auf natürliche Auslese, die freilich Pluralismus, Konkurrenz und deshalb letztlich Chancengleichheit bei Proporz der politischen Strömungen voraussetzt, verhaftet. Im Ergebnis verhält sich das, trotz des entgegengesetzten methodischen Ansatzes, ganz ähnlich wie bei Kelsen und seinem Plädoyer für die Ablösbarkeit der Führer, die nicht als Genies verklärt werden sollen. – Dieser Negativbefund kontrastiert freilich zur eingehenden, wohl auf Max Weber zurückgehenden Diskussion der Führer-Problematik bei Richard Thoma (S. 195 ff.) und zu den verwandten Überlegungen bei Hermann Heller (S. 208 ff.). Thoma hat in der Tat das Volk zunächst als Masse gesehen und dem, wohl auch in einer Nostalgie nach der Epoche des Honoratiorentums, Elite und Geistesaristokratie gegenübergestellt. Obwohl dies die Schleuse zu einem demokratisch fragwürdigen Führertum öffnen könnte, insistiert Thoma jedoch auf der Legitimation durch den Wahlakt und der Ablösbarkeit der Eliten. Auch bei Heller begünstigt das Postulat der Einheitlichkeit der Herrschaft die kleine Zahl, ja die Sympathie für den genialen Führer im Gegensatz zum Funktionär und daher Skepsis gegenüber der Verhältniswahl11. Aber vor allem die Faschismus-Analyse schützt ihn vor einem Abgleiten ins antidemokratische Lager. Fruchtbarer erscheint das folgende Kapitel zum Weimarer Parteienstaat. Er wird grundsätzlich von allen fünf behandelten Autoren bejaht. Aber die Darstellung dieser Bejahung leidet daran, dass sie auf dem Hintergrund des Art. 21 GG erfolgt (was S. 220 f. auch zugestanden wird) und daher die heutige Sicht in eine noch nicht ausgeformte und in ihren Dimensionen sehr umstrittene Parteienstaatlichkeit hineinträgt. So sind die Ausführungen zur Vermittlungs-, Bündelungs- und Auswahlfunktion sowie zur Ausgrenzung verfassungswidriger Parteien stark von der heutigen Betrachtungsweise geprägt. Hoch interessant ist dagegen die Gegenüberstellung der relativistischen Theorien von Kelsen, der den Gemeinwohlbegriff verwirft, und Radbruch, der ihn pluralistisch-ethisch fasst, aber für den Parteibegriff die Orientierung an 11 So Groh S. 211; hier wäre aber immerhin auf das moderate Rechtsgutachten über Die Gleichheit in der Verhältniswahl (1929, jetzt in: GS Bd. 2, S. 319 ff.) hinzuweisen.
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einem solchen Gemeinwohl fordert; zu Recht wird die Nähe dieser Position zu Preuß und auch Thoma betont (S. 233 ff.). Schärfer fällt demgegenüber das Urteil über den Parteienstaat als „Variante identitärer Demokratie“ bei Gerhard Leibholz aus; eine solche Abwandlung sei antiparlamentarisch. Aber sie ist nur vor dem Hintergrund von Leibholz’ – gewiss idealistisch überhöhter und in Verbindung mit Carl Schmitt und Heinrich Triepel einzuordnender – Repräsentationslehre einerseits, der politischen Entwicklung um 1930 andererseits verständlich, und die These bedürfte der Auseinandersetzung mit der neueren Leibholz-Literatur12. Konkret ist die Betrachtung der Parteien als Staatsorgane nur eine terminologische Variante zur vom Reichsstaatsgerichtshof angedachten und bei den – von der Verfasserin als solchen betrachteten – demokratischen Staatsrechtslehrern rezipierten Behandlung als Verfassungsorgane. Beide Varianten sind nach 1951 für die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung zur Parteiendemokratie wichtig geworden. Ähnliches gilt von den Lösungen für den Konflikt zwischen Parteienstaatlichkeit und freiem Mandat. Bei aller Bedeutung der von der Verfasserin geschilderten Vermittlungsversuche wird man sie nicht als die einzigen sehen können, die die Entwicklung nach 1945 beeinflusst haben. Ein weiteres Kapitel sucht die Problematik des Pluralismus einerseits grundsätzlicher, andererseits speziell im Hinblick auf Interessenverbände zu erfassen. Das Verhältnis zum vorangehenden Kapitel ist schillernd; Parteienpluralismus ist ja ein klassischer Anwendungsfall der Pluralismustheorie. Aber der Einstieg mit Hugo Preuß (S. 257 ff.) erklärt die Argumentationslinie: Während, wie ausgeführt, auch bei Preuß eine Bejahung des Parteienstaats konstatiert wird, soll der Ansatz der organischen Staatslehre der Annahme eines Verbändepluralismus entgegenstehen. Zur Begründung wird auf Preuß’ vorrangiges Interesse an kommunaler Selbstverwaltung hingewiesen; aber letztlich scheint mir das schon im 1. Teil angesprochene Verhältnis zwischen Gesamtperson und Gliedperson entscheidend. Indem Groh hier Preuß unterstellt, er lasse die Vielheit der Bürger in der Einheit des Staates aufgehen, vernachlässigt sie die von Preuß ständig betonte „Einheit in der Vielheit“13. Die Vielheit tritt in den lokalen Gebietskörperschaften zutage, gewiss, aber ebenso in den politischen Parteien, und ebenso in den wirtschaftlichen Kräften. Schon 12 Manfred Wiegandt, Norm und Wirklichkeit. Gerhard Leibholz (1901–1982), BadenBaden 1995; Susanne Benöhr, Das faschistische Verfassungsrecht Italiens aus der Sicht von Gerhard Leibholz, Baden-Baden 1999, sind gar nicht berücksichtigt; Ernst Benda, Hugo Preuß und Gerhard Leibholz, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 48 (1996), S. 291, wird zwar bibliographiert, im vorliegenden Zusammenhang aber nicht diskutiert. 13 Das Sachverzeichnis zu GS Bd. 2, S. 872, verzeichnet dazu 9 Belegstellen.
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in der Habilitationsschrift hat Preuß, über seinen Lehrer Gierke hinausgehend, den Genossenschaftsbegriff gleichermaßen auf das private und das öffentliche Recht angewendet14. In den Folgeveröffentlichungen, namentlich zum Völkerrecht im Dienst des Wirtschaftslebens15 und in Auseinandersetzung mit Wilhelm Kaufmanns Buch über die Welt-Zuckerindustrie16 treten als Akteure nationaler wie internationaler Verflechtung neben den Gebietskörperschaften auch private Wirtschaftssubjekte in den Blick. Dass dieses Blickfeld in den Weimarer Schriften nicht verengt, sondern eher noch geweitet worden ist, hat Detlef Lehnert überzeugend nachgewiesen17. Seitdem überdies Andreas Voßkuhle in seinem Vortrag zum 150. Geburtstag von Hugo Preuß am 26.10.2010 „Hugo Preuß als Vordenker einer Verfassungstheorie des Pluralismus“ dargestellt und seine Sicht unter Verwertung der gesamten Literatur überaus umfangreich dokumentiert hat18, sieht sich die Argumentation der Verfasserin gewichtigen Einwänden ausgesetzt, die hier nur unterstrichen werden können. Richtig ist dagegen, dass Preuß’ Einwände gegen die Souveränitätslehre den Pluralismus begünstigten. Ebenso überzeugt, dass trotz der Betonung des starken Staates bei Anschütz und Thoma pluralistische Konzepte Eingang finden und dann bei Heller, erst recht bei Kelsen entfaltet werden. Weitaus die breitesten Ausführungen sind jedoch der parlamentarischen Demokratie gewidmet (S. 280–408). Sie können hier nur fragmentarisch diskutiert werden. Zu Recht wird betont, dass die Verzerrungen des preußischen Dreiklassenwahlrechts und auch der Wahlkreiseinteilung für die Mehrheitswahl beim Reichstagswahlrecht, von der Laband/Jellinek’schen 14 Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, Berlin 1889 (Neudrucke 1964, 1999), Kap. IX, insb. S. 239 ff., und dazu meine Erläuterung in der Einleitung zu GS Bd. 2, S. 16. Schon deshalb ist die von Groh S. 260 gezogene Folgerung, Preuß habe sich nur für öffentlichrechtliche Körperschaften interessiert, unzutreffend; auch private Organisationen können nach seiner Terminologie „gewachsene“, nicht nur „gewillkürte“ sein: Die organische Theorie ist für Preuß ausdrücklich (etwa GS Bd. 2, S. 80 f., 168 ff., 304 ff.) alles andere als mystisch! Wenn sie, wie S. 263 richtig konstatiert wird, den Zweckgedanken aus der Organisationslehre eliminiert, so doch nicht den Willen der beteiligten Subjekte, auch nicht den Gemeinwillen der öffentlich- oder privatrechtlichen Körperschaften. 15 GS Bd. 2, S. 426 ff. 16 1906, dazu Preuß’ Rezension in GS Bd. 2, S. 805 ff. 17 Grundlegend bereits in PVS 33 (1992), S. 33 ff.; seither u.a. in der Einleitung zu Preuß, GS Bd. 4, insb. S. 9, 57 f., 67 f.; eine weitere Studie zum pluralistischen Staatsdenken bei Hugo Preuß steht kurz vor dem Erscheinen. 18 Andreas Voßkuhle, Hugo Preuß als Vordenker einer Verfassungstheorie des Pluralismus, in: Jürgen Kocka/Günter Stock (Hg.), Hugo Preuß: Vordenker der Pluralismustheorie, Berlin 2011, S. 23–42.
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herrschenden Lehre durch die Reduktion auf Reflexe der Regeln über die Bildung des Parlaments reduziert, für alle19 in Frage stehenden demokratischen Autoren untragbar und durch ein spiegelbildlich, also durch Verhältniswahl, das Wahlvolk abbildendes Wahlsystem zu korrigieren waren. Auch Groh will (S. 299 f.) daraus mit Recht keine Schuld am Scheitern der Republik ableiten. Das Hauptgewicht liegt – nach sehr knappen Bemerkungen zu den direkt-demokratischen Institutionen – auf der Behandlung „demokratischer Rechtserzeugungslehren“, d.h. des Verfahrens parlamentarischer Gesetzgebung unter den Bedingungen und angesichts der Praxis der Weimarer Republik, wiederum mit getrennter Behandlung der fünf Autoren. Dass Preuß die Tätigkeit des Parlaments einem außerdem existierenden Gemeinwillen gegenüberstellt, wird sehr kritisch vermerkt – obwohl doch der Begriff des Gemeinwillens bei Preuß, ganz anders als bei Rousseau, weder auf einen Gesellschaftsvertrag zurückgeführt, noch idealistisch verabsolutiert, sondern in der gewordenen Körperschaft ausformuliert wird, wobei Preuß jede Mythisierung und auch die antidemokratische Stoßrichtung des Volksgeists, in Absetzung von der historischen Schule, vermeidet (zutr. S. 318). Wohl aber bildet sich der Gemeinwille, vor allem das Recht, in der öffentlichen Diskussion, an der auch und vor allem das Parlament Anteil hat, als Endprodukt eines Willensbildungsprozesses20. Nur fragt sich jetzt, ob einzig die parlamentarische Repräsentation den Gemeinwillen verkörpert und damit absorbiert, so dass nur durch sie von Gemeinwillen gesprochen werden kann, oder ob ein ausgesprochener Volkswille ihm entgegengestellt werden kann. Groh entscheidet sich eindeutig für den absorptiven Charakter der parlamentarischen Repräsentation, und 19 Dass Preuß ursprünglich, insb. im Aufsatz über Die Organisation der Reichsregierung und die Parteien (1890, jetzt in GS Bd. 1, S. 155 ff.), im Rahmen seiner organschaftlichen Betrachtungsweise noch nicht zu allen Weimar bestimmenden Reformpostulaten gelangte (Groh S. 286 ff.), trifft zwar für die Zeit bis ca. 1900, vielleicht teilweise 1910 zu, hindert aber nicht, dass er schon im Aufsatz über Organpersönlichkeit (1902, jetzt in GS Bd. 2, S. 131, dazu meine Einleitung S. 39), wenn auch mit eigener Begründung, ähnlich wie Anschütz den subjektivrechtlichen Charakter des Wahlrechts betonte und in der Folge dezidiert für gleiches Wahlrecht und Verhältniswahl eintrat (richtig zum Frauenwahlrecht S. 290; die Aussage S. 286 mit Fn. 20 – Befürwortung des Wahlalters 25 Jahre – ist unzutreffend, die zur organischen Staatslehre S. 293 Fn. 53 bezieht sich auf van Calker und ist Preuß nicht zuzurechnen). 20 Insofern ist es schief, wenn S. 310 nach Anschütz, Thoma, Kelsen und Heller der Gemeinwille als Produkt der Staatswillensbildung formuliert werden soll, während er bei Preuß der Ursprung der Staatswillensbildung sei: Auch und gerade für Preuß bedingen sich Gesellschaft (Staat) und Recht („ubi societas, ibi jus“) und formiert sich der Gemeinwille erst in der Staatswillensbildung.
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sie ist dabei in guter Gefolgschaft etwa zu E. W. Böckenförde21 und Ernst Fraenkel (S. 329). Dass Preuß diese Entscheidung nicht eindeutig getroffen habe, brandmarkt sie als Mangel22. Aber sie konstatiert selbst (S. 313), dass Bluntschli und Holtzendorff, also zwei vor allem für den jungen Preuß zentral wichtige Autoren, die parlamentarische Entscheidung unter den Vorbehalt der Berücksichtigung der öffentlichen Meinung gestellt haben, und sie kann schwerlich verkennen, dass die Verifikation des Repräsentationsprozesses ein dauerndes Legitimationsproblem darstellt – in der stärkeren Rückbindung der Parlamente an die Spiegelbildfunktion, dann in den direktdemokratischen Institutionen in Weimar, die eben deshalb eine Betrachtung in diesem Zusammenhang verdient hätten, und verstärkt in der neueren Entwicklung zu Instrumenten direkter Demokratie. Ob diese, vor allem durch die starke Stellung des Reichspräsidenten, in der Weimarer Verfassung sinnvoll ausgestaltet waren, hätte erörtert werden können; das hätte in der Tat wohl Anlass zur häufig geäußerten Kritik an Preuß gegeben. Aber der Vorwurf, Preuß habe die Bedeutung des Vorbehalts des Gesetzes und des parlamentarischen Verfahrens unterschätzt, scheint mir ungerechtfertigt23. Insofern ist zwischen Preuß und dem danach behandelten Anschütz – der in der Spätphase Weimars angesichts des Versagens des Reichstags durchaus für die Rechtsetzungsmacht des Reichspräsidenten argumentierte (S. 339 ff.) – kaum ein Unterschied auszumachen. Auch die im Anschluss daran (S. 342 ff.) dargestellte Ideologiekritik und Demokratielehre Kelsens stellt sich zwar, außer gegen alle naturrechtlichen Strömungen, auch gegen den Volksgeist und damit gegen Preuß’ und Krabbes soziologisierende Lehren von der Rechtserzeugung und Rechtsgeltung, gelangt aber durch die Postulate des Pluralismus, des Kompromisses und des Minderheitenschutzes zu ganz ähnlichen Anforderungen an die Gesetzgebung, ohne dass damit eine Monopolstellung des Parlaments, geschweige denn eine konkrete Gesetzgebungslehre entwi21 Wohl am schärfsten formuliert in dessen Aufsatz: Mittelbare/repräsentative Demokratie als eigentliche Form der Demokratie, Festschrift Kurt Eichenberger, Basel/Frankfurt 1982, S. 301–328. 22 S. 321, mit einer Diktion, die von Carl Schmitt, nicht von demokratischen Staatsrechtslehrern geprägt ist. 23 Insofern ist bedauerlich, dass der Verfasserin der – freilich an versteckter Stelle publizierte – Vortrag über den konstitutionellen Gesetzesbegriff (1903, jetzt in: GS Bd. 2, S. 191 ff.) entgangen ist. Er weist Preuß, schon vor 1918, als ferventen Verteidiger des Parlamentarismus und insofern als Bundesgenossen von Anschütz (bei Groh, S. 333 ff.) aus – nur dass er, im Gegensatz zu diesem, eine festere theoretische Basis hatte (und vielleicht deswegen nicht so leicht wie Anschütz den Reichspräsidenten als Ersatzgesetzgeber akzeptiert hätte).
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ckelt würde. Dabei unterschlägt Groh außerdem, dass Kelsen eine Reform des Parlamentarismus, vor allem durch Einbau direktdemokratischer Elemente, durchaus befürwortete24 und daher keinesfalls als Befürworter einer absorptiven Repräsentationstheorie eingeordnet werden kann. Trotz der völlig unterschiedlichen methodischen Ausgangspunkte unterscheiden sich insofern die Positionen von Kelsen und Preuß im Ergebnis nicht. – Dass demgegenüber Thomas parlamentszentrierte Haltung eher mit der von Groh gelobten absorptiven Repräsentation übereinstimmt, liegt nach den bisherigen Ausführungen nahe (S. 367 f.). Hier geht, auch unter dem Eindruck der Kritiker im Methodenund Richtungsstreit, die Parlamentarismustheorie in eine Technik des rationalen Funktionierens des parlamentarischen Regierungssystems durch Überwindung von Gegensätzen und Suche nach Kompromissen über. Mag dies demokratischen Grundsatzpositionen gegenüber als eine Verengung erscheinen – es ist nicht das geringste Verdienst der Arbeit Grohs, die Bedeutung dieser Position für Weimar und, fortwirkend, darüber hinaus hervorgehoben zu haben. Im Gegensatz dazu sind die Ausführungen Hellers (dazu S. 371 ff.) abstrakter. Dass die Rechtsgrundsätze und ihre kulturelle Verankerung die staatliche Gesetzgebungsaufgabe nicht prädeterminieren, wird überzeugend dargelegt. Insofern scheint mir, auch aufgrund der verwandten Methode, kein wesentlicher Unterschied zu Preuß zu bestehen25 und auch die methodische und grundsätzliche Kluft zwischen Positivisten und Antipositivisten unter den fünf behandelten Staatsrechtslehrern im Ergebnis überbrückbar. Wohl aber hebt die Monopolisierung der Kompromiss-Suche im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren Heller – wie Anschütz und Thoma – von Preuß und Kelsen ab. Insgesamt wird der Vergleich der fünf Autoren dadurch kompliziert, dass sich die Fragen der Bindung an außerpositive Grundsätze und der Monopolisierung der Entscheidungsfindung beim Parlament überschneiden; hinzu kommt die im 3. Teil behandelte Frage nach der gerichtlichen Kontrolle der legislativen Entscheidungen. Den Abschluss der Ausführungen zum Parlamentarismus bildet eine eher knappe und nicht nach Autoren getrennte Stellungnahme zur Ausgestaltung des parlamentarischen Regierungssystems (S. 389–408). Sie arbeitet heraus, dass sich die Einstellung gerade der demokratischen Staatsrechtslehrer – außer von Hugo Preuß, den der Tod 1925 dieser Überprüfung enthob – 24 Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. Tübingen 1929, S. 38 ff. 25 Die S. 382 Preuß entgegengehaltenen Einwände Hellers beruhen auf dem Missverständnis, dass Preuß die gesellschaftlichen Interessengegensätze durch die Annahme eines Volksgeists überkleistert habe; dass diese Interpretation nicht zutrifft, ergibt sich aus Preuß’ vielfachen Auseinandersetzungen mit Klassenkonflikten, etwa GS Bd. 1, S. 322 ff., Bd. 2, S. 198 ff., 426 ff., Bd. 4, S. 280 ff.
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unter dem Eindruck der Weimarer Entwicklungen wandelt (S. 398). Mit Recht wird auf die Schwächung des Parlamentarismus schon durch die Übernahme monarchischer Elemente, aber auch durch die Überlegungen zur Führerauslese hingewiesen. Zu ergänzen wären die negativen Erfahrungen der französischen Dritten Republik und, vor allem bei Preuß und zur Zeit der Nationalversammlung, die Gefahr des Separatismus, die eine Betonung staatlicher Einheit in einem monokratischen Organ nahe legte. Dazu kam die Scheu, Details des Regierungssystems in ein Normenkorsett zu pressen. Erst die Staatspraxis weckte Konkretisierungswünsche26. Angesichts der praktischen Entwicklungen und der konservativen Stimmen konnten sie nur auf eine Stärkung des Einflusses des Reichspräsidenten bei der Regierungsbildung abzielen. In der Tat liegt auf der Hand, dass angesichts der Gefahr negativer Reichstagsmehrheiten der Kampf dagegen, eben die „Kampfregierung“, Gründe für sich hatte. Aber in der Rückschau steht ebenso fest, wohin dieser Weg geführt hat. Die Darstellung des Regierungssystems schließt, durch die Anlage der Weimarer Verfassung begründbar, aber im Gegensatz zu den Auffassungen von Preuß und Kelsen, die die demokratische Freiheit auf die Gleichheit und politische Rechte stützen wollten, mit Ausführungen zur Grundrechtstheorie ab. Diese Fragestellung ist freilich vor allem durch die Entwicklung seit 1949 geprägt und trägt daher heutige Sichtweisen an Weimar heran (so deutlich S. 411), während der für die Aufnahme eines Grundrechtsteils als Basis des Regierungssystems doch ebenfalls wichtige Rückbezug auf die Grundrechtsdiskussion der Paulskirche27 im Hintergrund bleibt. Sie wäre jedoch ein Schlüssel vor allem zum Verständnis der demokratischen Funktion der Grundrechte, die Smend und insofern ähnlich Heller entwickelt, E.R. Huber zur Karikatur denaturiert28 und Carl Schmitt zu verdrängen gesucht hat. Dabei kann sich Groh vor allem auf Anschütz berufen; dass Preuß dessen epochemachendes Werk von 1912 sofort – wenn auch nicht unkritisch – in seiner Bedeutung erkannt hat, verdient denn doch, hervorgehoben zu werden29. Die Behandlung der Grundrechtsbindung des Gesetzgebers bleibt, weil von der des erst im 3. Teil erörterten richterlichen Prüfungsrechts getrennt, eher abstrakt, und die dargestellten Bemühungen vor allem Thomas 26 Die S. 395 Fn. 501 erhobene Forderung Thomas datiert von 1929, der Hinweis auf Glum, S. 397 Fn. 513, bezieht sich gar auf eine Veröffentlichung von 1965. 27 Dazu namentlich Jörg-Detlef Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 2. Aufl. Neuwied 1998, insb. S. 160 ff. 28 Eindrücklich und Preuß pervertierend das Huber-Zitat S. 418 Fn. 34. 29 Vgl. gegenüber den Zitaten S. 426 f. Fn. 67/68 Preuß’ Rezensionsabhandlung, jetzt in GS Bd. 2, S. 570 ff.
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um die Unantastbarkeit von Grundrechten für bestimmte rechtsetzende Instanzen erscheinen für die Analyse des Regierungssystems letztlich wenig ergiebig. Im Gegensatz dazu hatte die Kontroverse um die Beschränkbarkeit von Meinungs- und Kommunikationsfreiheit in der Tat politische Brisanz. Smends Güterabwägungslehre und ihre Übernahme durch Heller insofern als Freiheitsverlust zu qualifizieren, kann sich auf Folgen um 1933, vor allem E. R. Hubers Argumentation stützen, trägt aber wohl doch weder Smends Position in der Zeit30, noch ihren Auswirkungen in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung seit dem Lüth-Urteil Rechnung. Die Bilanz einer sozialstaatlichen Grundrechtstheorie fällt für Weimar mager aus, freilich abgesehen von Preuß’ Verteidigung des Munizipalsozialismus und Hellers Konzept des allerdings demokratisch, nicht durch Grundrechtsinterpretation zu verwirklichenden sozialen Rechtsstaats. Insgesamt ist daher der im Vergleich mit 1848 zu konstatierende Rückstand der Grundrechtsdogmatik des Kaiserreichs bis 1933 nur sehr ansatzweise aufgeholt worden.
3. Verfassungstheoretische Ansätze Nach diesen Befunden fragt der Schlussteil nach der Leistung einer demokratischen Verfassungstheorie für die Weimarer Republik. Hat die Weimarer Verfassungsdogmatik das Korsett eines nur formalen Verfassungsverständnisses gesprengt und das Modell eines materialen demokratischen Verfassungsstaats entwickelt? Insofern lässt sich die Lehre Kelsens vom Stufenbau der Rechtsordnung und daher Superiorität der Verfassung durchaus material, als „Superlegalität“ (S. 465, 468 ff.) deuten. Gegenüber dem Konzept des pouvoir constituant ist Groh jedoch kritisch, da es, namentlich in Carl Schmitts Lesart, die bestehende Verfassung delegitimiere, ihre Ersetzung begünstige. Namentlich mit Berufung auf Thoma, Kelsen und Heller plädiert sie daher für die Ausblendung einer verfassunggebenden Gewalt, die Gleichsetzung von Verfassung und Verfassungsgesetz und dessen Vorrang vor allem sonstigen Recht. Dabei beruft sie sich auch auf das von Preuß zugrunde gelegte Konzept der gewordenen Körperschaft, blendet dabei jedoch aus, dass diese nach Preuß einen Gemeinwillen artikuliert, der durchaus die Form eines pouvoir con30 Ist es ein bloßer Druckfehler, dass S. 449 Fn. 167 Smends Referat zur freien Meinungsäußerung in das Jahr 1938 statt 1928 datiert wird? Gerade der Unterschied zwischen Smends Vortrag über Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht (1933) und Hubers fast gleichzeitiger Studie über den Bedeutungswandel der Grundrechte (AÖR 62, 1933, S. 1 ff.) charakterisiert die beiden Positionen.
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stituant annehmen kann31. Mir scheint, dass hier die legitimierende Funktion der verfassunggebenden Gewalt für ein materiales Verfassungsverständnis zu wenig bedacht ist. Auf der gerade von Preuß betonten Grundentscheidung zugunsten des Volksstaats, der Republik, beruhte ja die materiale Bindungswirkung des Weimarer Verfassungswerks, und es wäre doch zu erwähnen, dass dessen Verteidigung, über die Verfassungsdogmatik hinaus, Anliegen der Herzensrepublikaner war32. Ob die normative Verankerung von Grenzen der Verfassungsänderung insofern eine Stärkung der Bindungswirkung der Verfassung bewirken konnte, mochte man erwägen, aber auch bezweifeln – der diesbezügliche, von Groh zusammengetragene Befund (S. 472 ff.) ist dünn. Wesentlich breiter wird, unter etwas sibyllinischem Titel, „Die Verfassung als Konstituante“ behandelt (S. 476–546). Offenbar geht es hier um „das Prä der Verfassung“, eine Verfassungskraft des Rechtsstaatsprinzips aufgrund dessen demokratischer Verankerung – eine Fragestellung, die aufs engste mit dem richterlichen Prüfungsrecht zusammenhängt, aber zunächst davon getrennt abgehandelt wird. Für dieses Konzept wird auf westeuropäische und nordamerikanische Traditionen, unter Vermeidung der Idee des pouvoir constituant, verwiesen – offenbar erneut eine auch auf die Bundesrepublik bezogene Betrachtungsweise. Die Darstellung gewinnt hier jedoch Konturen, da die fünf Autoren einzeln diskutiert werden. Für Preuß wird (S. 479 ff.) zutreffend die Vermeidung des Souveränitätsbegriffs und die daraus resultierende Suprematie des Rechts hervorgehoben, aber vernachlässigt, dass diese durch die Genese des Gemeinwillens zugleich bedingt und begrenzt ist. Gewiss ist das nicht die Beliebigkeit, die Carl Schmitt für die verfassunggebende Gewalt vindiziert, und liegt Preuß die Argumentation vom Ausnahmezustand her völlig fern. Aber um „das Prä der Verfassung“ zu begründen, bedarf es der Argumentation mit dem Gemeinwillen als verfassunggebender Gewalt33. Wie Preuß auf den zunehmenden Missbrauch des Art. 48 WV am Ende der Weimarer Republik reagiert hätte, lässt sich nur mutmaßen. Anhaltspunkte ergeben sich allerdings aus der Frühschrift über 31 Dadurch löst sich der S. 470 mit Fn. 7 behauptete Widerspruch auf. 32 Dazu eindrücklich und reich – auch mit Anschütz’ Rede vom 11.8.1923, S. 55 ff. – belegt Ralf Poscher (Hg.), Der Verfassungstag, Baden-Baden 1999; die Bedeutung dieses Aspekts für Preuß hat Detlef Lehnert in seiner Einleitung zu Bd. 4 der Gesammelten Schriften, S. 17 ff., zutreffend gewürdigt. 33 Exakt das besagt die von Groh S. 484 Fn. 27 zitierte Stelle DJZ 1924, Sp. 649 (651) (jetzt in GS Bd. 4, S. 547, 548 f.), die das richterliche Prüfungsrecht gerade durch die Höherrangigkeit des pouvoir constituant legitimiert.
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Friedenspräsenz und Reichsverfassung34, in der Preuß, entgegen den kasuistischen Lösungen, auf dem Vorbehalt des Gesetzes insistiert – wie er auch für Art. 48 WV den Erlass eines Ausführungsgesetzes für unabdingbar erklärt hat35. – Für Kelsen kommt Groh zu ganz ähnlichen Ergebnissen (S. 488 ff.), aber auf der Grundlage des Stufenbaus der Rechtsordnung, der ohne weiteres zu einer Überordnung der Verfassung führt und einen Ausnahmezustand nur nach Maßgabe ihrer Regelungen zulässt. Nur, was bringt das angesichts des ausdrücklichen Art. 48 WV? – Der schon konstatierte Vorrang des Staates setzt bei Anschütz der Funktion der Verfassung Grenzen (S. 496 ff.). Aber Groh zeigt, dass die konkreten Fragen der Verfassungsinterpretation zu einer Betonung der Bindungswirkung der Verfassung führen – vor allem bei der Interpretation des Art. 48 im Verfassungsstreit zwischen Preußen und dem Reich. Diese neue, etwa vom Befund Paulys (vgl. S. 505) abweichende Argumentation dürfte eine neue Phase der Diskussion eröffnen. – Bei Thoma führt die Einbeziehung soziologischer Elemente zu einer Flexibilisierung der Verfassung und Anpassung an sich ändernde gesellschaftliche Lagen, vor allem zur Betonung der Stellung des Reichspräsidenten in Krisenzeiten (S. 505 ff.). Bei allen guten Absichten lag hier die Missbrauchsgefahr und die Nähe zu den Befürwortern der Präsidialrepublik auf der Hand. – Am eingehendsten ist Grohs Auseinandersetzung mit Heller (S. 514 ff.). Das ist angesichts der oben referierten Einschätzung seiner Bedeutung folgerichtig, befrachtet aber die Untersuchung mit den Problemen einerseits der wirklichkeitswissenschaftlichen Methode, die die Normativität der Verfassung relativiert, andererseits des Verständnisses des Staates als Wirkungseinheit mit Betonung der Souveränität, die der politischen Entscheidung Vorrang vor der normativen Bindung vindiziert. Das wirkt sich besonders beim Verfassungsbegriff aus. Das darüber verfasste Kapitel ist das letzte der „Staatslehre“, das Heller, bereits Verfolgter des Nationalsozialismus, im Exil abschließen konnte, und es geht von einer Vielfalt der Verfassungsbegriffe aus. Insofern begrenzt Heller bewusst – und nach bitterer Erfahrung – die normative Kraft der Verfassung. Darüber hinaus erfordert die Souveränitäts-Argumentation, ganz gegen Preuß und Kelsen, die Durchsetzung der Staatsgewalt gegenüber dem Recht. Hier nähert sich Heller Carl Schmitts Theorie an, wenn er an diesem auch die Beliebigkeit der Realanalyse und die Zurückdrängung ethischer Rechtsgrundsätze kritisiert. Aber wer urteilt darüber? In einem funktionierenden parlamentarischen System mochte diese Rolle der Arbeiterschaft zufallen, 34 1887, jetzt in GS Bd. 2, S. 333 ff. 35 So zutreffend S. 485; vgl. die Hinweise in GS Bd. 4, S. 279, 567, 575 und die Einleitung durch Lehnert, S. 14, 51.
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die mit Hilfe der Volkslegislative den liberalen in einen sozialen Rechtsstaat überführt36. Aber davon konnte 1933 kaum mehr die Rede sein. Hier setzte Hellers Argumentation mit der kommissarischen Diktatur ein. Aber bei aller Ablehnung des Faschismus: auch in Hellers Sichtweise wurde damit das „Prä der Verfassung“ preisgegeben, wie Groh selbst (S. 534) zugesteht. Entsprechend werden aus dieser Darstellung der fünf Autoren die Stellungnahmen zur Diktaturgewalt des Reichspräsidenten hergeleitet. Die umfangreiche Diskussion der Weimarer Zeit, in der Bundesrepublik vielfach behandelt, wird vorgestellt. Dabei stellt sich freilich das Problem der zeitlichen Einordnung, denn die Bedeutung des Art. 48 WV hat sich gewandelt und erst allmählich zugenommen, so dass Stellungnahmen der Phase der Verfassungsgebung nicht unbesehen mit denen der Jahre um und nach 1930 verglichen werden können. Allerdings hat schon in der Phase um 1924 das Notverordnungsrecht für Ebert als Reichspräsidenten eine große Rolle gespielt und ist auf der ersten Staatsrechtslehrertagung diskutiert und früh von Preuß, der wohl bei der Verfassungsgebung die Bedeutung der Vorschrift unterschätzt hatte, verteidigt worden37. Diese Präjudizien, die damals die Verfassungsstruktur nicht entscheidend tangiert haben, mochten die Bedeutung dessen verschleiern, was durch die Brüning-Hindenburg’sche Notverordnungspraxis eingeleitet wurde. Die Diskussion der Grenzen des Notverordnungsrechts im Grundrechtsund Organisationsbereich, die Erforderlichkeit eines Ausführungsgesetzes und die Justitiabilität der Notstandsvoraussetzungen und -befugnisse werden erörtert – mit dem Ergebnis, dass wirkliche Grenzen kaum durchzusetzen waren. Schärfer gesagt: das „Prä der Verfassung“ wurde durch ein Prä der Präsidialmacht aus den Angeln gehoben. Insofern erscheint das Ergebnis des so umfangreichen und reich belegten Kapitels mager, wenn nicht sogar negativ. Erst danach und davon getrennt wird auf die „Gewähr der Verfassung“, vor allem durch Rechtsprechung, eingegangen, wobei die Stellung des Reichspräsidenten und, aufgrund der Gegenzeichnung, der Reichsregierung zusätzlich ein Prüfungsrecht38 gegenüber Gesetzen impliziert. Im Vergleich 36 So Hermann Heller, Rechtsstaat oder Diktatur? 1929/30, in: Ders., Gesammelte Schriften Bd. 2, S. 449 ff.; vgl. dazu Dian Schefold, Hellers Ringen um den Verfassungsbegriff, in: Chr. Müller/I. Staff (Hg.), Der soziale Rechtsstaat, Baden-Baden 1984, S. 555 (572). 37 Wichtig und instruktiv insofern der Hinweis S. 536 Fn. 279 auf den Aufsatz „Reichsverfassungsmäßige Diktatur“, der freilich schon 1923 in der Zeitschrift für Politik, Bd. 13, S. 97 ff. veröffentlicht wurde (jetzt in: Gesammelte Schriften Bd. 4, S. 523 ff.) 38 S. 549 ist sogar von „Sanktion“ die Rede; das ist schief, aber für die Weimarer Diskussion wohl symptomatisch.
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dazu wird die ja durchaus existierende und dem parlamentarischen System gemäßere parlamentarische Selbstkontrolle im Gesetzgebungsverfahren gar nicht erwähnt; sie wurde in der Weimarer Zeit wohl kaum diskutiert. Wohl aber steht im Mittelpunkt das inzidente („diffuse“) richterliche Prüfungsrecht, dessen Pro und Contra in der Weimarer Rechtsprechung und Diskussion ausgebreitet wird (S. 551–560). Mit Recht wird betont, dass es dabei nicht (nur) um Verfassungsmäßigkeitsprüfung, sondern um die Verwirklichung materieller Gerechtigkeit ging, etwa in der Aufwertungsfrage. Das richterliche Prüfungsrecht war daher weniger ein Instrument zur Gewähr der Verfassung, als zur Beschränkung demokratischer Politikgestaltung. Nur durch die – eben deshalb so wichtige – Interpretation des Gleichheitssatzes, wie sie im Methoden- und Richtungsstreit Leibholz und andere vertraten, ließen sich diese beiden Ziele verbinden und folglich das richterliche Prüfungsrecht ins Verfassungssystem einbauen. Aber trug das dem Sinn der demokratischen Verfassungsordnung Rechnung? Was Groh insofern den von ihr behandelten Staatsrechtslehrern entnimmt, stimmt skeptisch: vorsichtige und eher beiläufige Befürwortung bei Preuß, Skepsis bei Thoma, Ablehnung bei Anschütz und Heller; Kelsens abweichende positive Haltung ist rechtstheoretisch begründet und gehört in den Zusammenhang des österreichischen BundesVerfassungsgesetzes von 1920, dessen Grundgedanken Kelsen allerdings auch auf Deutschland erstrecken wollte. Aber wenn das Prüfungsrecht bejaht werden sollte, stellte sich, ähnlich wie in Österreich, die Frage einer Einordnung in ein System der Verfassungsgerichtsbarkeit (S. 559 ff.). Insofern ist es problematisch, dass Groh weder bei den historischen Grundlagen, noch beim Text der Weimarer Verfassung – zu dem erst S. 571 ff. kurz etwas gesagt wird – einsetzt. Grundlage der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland ist ja, ganz anders als in den USA und auch im Österreich nach dem Ersten Weltkrieg, die zentralstaatliche Kontrolle gliedstaatlicher Verfassungsautonomie und der Schutz der gliedstaatlichen Ordnung, zunächst mit eher repressiven Ursprüngen im System Metternich nach 1815, unterschiedlichen Ausprägungen in den gliedstaatlichen Verfassungen, einem Höhepunkt in der Paulskirchenverfassung 1849 und dem Relikt des Art. 76 RV 1871; daran knüpfte vor allem Art. 19 WV an, ohne freilich Verfassungsstreitigkeiten zwischen Reichsorganen einzubeziehen. Aber all dies hatte mit Normenkontrolle – zu der Art. 13 WV eine partielle, von Art. 19 strikt getrennte Regelung traf – nichts zu tun. Sollte nun die in ihren Ursprüngen nicht unproblematische Staatsgerichtsbarkeit mit der aufgrund der geisteswissenschaftlichen Methode und der Freirechtsschule39 ebenfalls stark befrachteten Normenkontrolle zu 39 Der Hinweis darauf bei Groh, S. 565 f. ist durchaus begründet und hat Gewicht.
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einer einheitlichen Verfassungsgerichtsbarkeit verbunden werden, so lagen gerade angesichts der in den zwanziger Jahren keineswegs überwundenen Einwände gegen das richterliche Prüfungsrecht die Bedenken auf der Hand. Gewiss, die Verfassungsgerichtsbarkeit ist in der Bundesrepublik mit großem Erfolg implementiert worden und hat sich auch als Exportschlager, vor allem in demokratisierten Diktaturen, erwiesen. Aber eben deshalb liegt von heute her gesehen die Gefahr nahe, die dabei zu überwindenden und in der deutschen Nachkriegsliteratur intensiv diskutierten Schwierigkeiten zu übersehen40. Diese Diskussion hatte vor 1933 gerade erst begonnen. Sie war durch die Rechtsprechung des Reichsstaatsgerichtshofs zur Antragsberechtigung im Verfassungsstreit gefördert worden, die sich ihrerseits auf Hugo Preuß’ Konzept von Rechtsverhältnissen im innerorganisatorischen Bereich stützen konnte41. Aber diese erweiterte Staatsgerichtsbarkeit auch noch zum Hauptträger des richterlichen Prüfungsrechts zu machen, war ein Schritt, zu dem die Weimarer Republik, allen Anstrengungen von Anschütz zum Trotz, noch schwerlich bereit war. Auch das von Anschütz und Thoma herausgegebene Handbuch des Deutschen Staatsrechts tat ihn nicht42. Eine abschließende Zusammenfassung (S. 579–592) erschließt das Buch in prägnanter, freilich sehr gedrängter Form; daher ist sie für sich ohne Lektüre des Vorhergehenden nicht überall verständlich und ist es bedauerlich, dass die einzelnen Absätze nicht auf die Ausführungen, die sie zusammenfassen, zurückverweisen. Sachlich lässt die Zusammenfassung nochmals erkennen, was für eine umfassende Darstellung der Verfasserin zu verdanken ist. Allerdings treffen die vorstehend dargelegten und angedeuteten Einwände auch die Zusammenfassung, wobei deren Zuspitzungen, etwa zur sozialstaatlichen Grundrechtsinterpretation (S. 583) oder zur Reaktion von Anschütz und Thoma auf die Krise der Republik (S. 584 f.) den – sachlich durchaus überzeugend dargestellten – Befund sogar überzeichnen. Aber das ist wohl der Preis prägnanter Aussagen.
40 Für einen Versuch, unter Einbeziehung der Weimarer Erfahrungen dieser Schwierigkeiten Herr zu werden, darf ich auf Dian Schefold, Normenkontrolle und politisches Recht, Juristische Schulung 1972, S. 1 ff. verweisen. 41 So zutreffend S. 571 ff. mit Hinweis auf Preuß’ Stellungnahme von 1902 (!) „Über Organpersönlichkeit“, jetzt in: Gesammelte Schriften Bd. 2, S. 131 ff., vgl. auch den Vortrag Über den konstitutionellen Gesetzesbegriff (1903), Gesammelte Schriften Bd. 2, S. 191 ff., und dazu meine Einleitung S. 38 f., 49. 42 Besonders deutlich durch die Trennung der Kapitel über Die Staatsgerichtsbarkeit (Ernst Friesenhahn, Bd. 2, Tübingen 1932, § 98, S. 523 ff.) und Das richterliche Prüfungsrecht (Ernst von Hippel, § 99, S. 546 ff.).
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4. Zusammenfassende Beurteilung Grohs Buch ist ein wichtiger Beitrag zur Würdigung der Staatsrechtsentwicklung in der Weimarer Republik und zugleich zur Vorgeschichte und den Bedingungen der Verfassungsgebung und Verfassungsentwicklung der Bundesrepublik. Dadurch wird zwar die Gegenüberstellung verschiedener Schulen im Methoden- und Richtungsstreit nicht obsolet, und die immer wieder durchscheinende Sympathie der Verfasserin für den staatsrechtlichen Positivismus muss nicht als These verstanden werden, alle Positivisten seien Demokraten und alle Nicht-Positivisten Antidemokraten gewesen. Aber das Buch hat den Nachweis geführt und erbracht, dass es in der Weimarer Republik, wie das von Kurt Sontheimer dargestellte antidemokratische Denken, auch ein demokratisches Denken gegeben hat, das in sich zusammenhängend dargestellt werden kann und für die Staatsrechtslehre fruchtbar geworden ist. Dazu haben Positivisten Wesentliches beigetragen. Grohs Darstellung macht überdies deutlich, dass auch der vor dem Ausbruch des Methoden- und Richtungsstreits im Gegensatz zum Positivismus des Kaiserreichs entwickelte Ansatz von Hugo Preuß, die sich rechtstheoretisch vom klassischen Positivismus unterscheidende Reine Rechtslehre Hans Kelsens und die wirklichkeitswissenschaftlich argumentierende Staatslehre Hermann Hellers mit einbezogen werden können und sollten. Dabei zeigt die Darstellung verblüffende Parallelen auf, nicht nur zwischen Preuß und Anschütz und, worauf in den letzten Jahren häufiger hingewiesen worden ist, zwischen Preuß und Kelsen, sondern auch zwischen Preuß und Heller. Insofern hat sich die Auswahl der behandelten Autoren bewährt und neues Licht auf ihre Gedankengebäude geworfen. Abgrenzungen und Überschneidungen im Methoden- und Richtungsstreit müssen daher auf Grund der Ergebnisse des Buches neu überdacht werden. Diese Ergebnisse, in gründlicher Darstellung hergeleitet und griffig, ja pointiert zusammengefasst, sind eine wichtige und unentbehrliche Grundlage für jede weitere Forschung über das Thema. Damit steht nicht in Widerspruch, dass manche Einzelthesen des Buchs kritische Rückfragen provozieren und teils zu kritisieren sind, teils als Diskussionsbeiträge zu Themen gelten können, zu denen man unterschiedlicher Meinung sein kann. Diese Einwände sind hier dargestellt worden; einige wichtige Punkte seien zusammenfassend nochmals hervorgehoben. Zu Preuß, dessen Erfassung trotz Kenntnisnahme erst des ersten Bandes der Gesammelten Schriften auf hohem Niveau gelungen ist, der aber zur Zeit als aktuelles Forschungsthema besonders interessieren kann, ist vor allem auf die sehr differenzierte Sicht der Stellung des Einzelnen und auch der Gliedperson in der Gesamtperson hinzuweisen. Die Ablehnung der
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Theorie des Gesellschaftsvertrags und die Charakterisierung der gewordenen Körperschaft ermöglichen es Preuß, trotz des kollektivistischen Ansatzes die innere Differenzierung der Gesamtperson anzuerkennen und eine Absorption der Stellung des Individuums – wie auch gesellschaftlicher Gruppen – im Gemeinwesen abzulehnen. Die dadurch entstehende „Einheit in Vielheit“, die zunächst sogar die Gewährleistung von Grundrechten über die politischen Mitwirkungsrechte hinaus für entbehrlich erscheinen ließ, öffnet neben der von Groh zutreffend dargestellten positiven Sicht politischer Parteien auch die Sicht für eine pluralistische Gesellschaft. Daneben ist sie die Grundlage der Anerkennung von Rechten auch von Organträgern und innerhalb der Gesamtperson, damit eines wesentlichen Elements der modernen Verfassungsgerichtsbarkeit. Schließlich aber steht sie der Monopolisierung des Gemeinwillens der Gesamtperson im Parlament entgegen und ermöglicht die Verifikation, ob und wieweit die parlamentarische Entscheidung als endgültige Äußerung des Gemeinwillens anerkannt werden kann. Damit hängt zusammen, dass Grohs Darstellung der parlamentarischen Demokratie mit der Mehrheit der von ihr behandelten Autoren – freilich nicht Kelsen, der insofern verkannt wird – zwar die Handlungsfähigkeit eines funktionierenden parlamentarischen Systems zum Thema macht, für „Die Rechte der direkten Demokratie“ aber sehr wenig (S. 300–303) übrig hat. Das ist ein bis in die Gegenwart viel vertretener und deshalb sicher vertretbarer Standpunkt, aber er muss sich dem Einwand stellen, dass, von einem pluralistischen Standpunkt aus, auch Wert und Richtigkeit des Parlamentswillens relativ sind, und dass, von einem demokratischen Standpunkt aus, die Legitimation der politischen Entscheidung im Wahlakt, vor allem angesichts der in Weimar viel diskutierten und in dem Buch treffend dargestellten Probleme des Wahlsystems, in Frage gestellt, verifiziert und nötigenfalls modifiziert werden kann. Wie das zu geschehen hat, ist eine in der Weimarer Verfassung und Verfassungspraxis wohl nicht überzeugend gelöste Frage. Aber auch die Antwort darauf entscheidet über die Funktionsfähigkeit parlamentarischer Demokratie. Auch gegenüber der Legitimation der Verfassung durch eine verfassungsgebende Gewalt ist die Verfasserin sehr skeptisch. Offenbar wird sie dabei von der in der Spätphase der Weimarer Republik verbreiteten Idee eines neuen Akts der Verfassungsgebung und der Diskreditierung des geltenden „Verfassungsgesetzes“ bestimmt, und die nach 1949, erneut nach 1989 geführte Diskussion zu Art. 146 GG mag solche Vorsicht untermauern. Aber dabei wird doch vernachlässigt, dass 1918/19, anders als 1948/49, von einem eigenständigen, durch die Wahl der Nationalversammlung legitimierten Verfassungsgebungsprozess gesprochen werden konnte. Dessen
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Nichtbeachtung oder Diskreditierung verletzte das demokratische Prinzip und insofern gerade „das Prä der Verfassung“, das mit solchem Aufwand begründet wird. Daher waren auch und gerade die von der Verfasserin behandelten Autoren Verfassungspatrioten, und sie beriefen sich auf die Entstehung der Verfassung, um deren Höherrangigkeit zu rechtfertigen. In der Tat spräche die Argumentation des Buchs zur parlamentarischen Demokratie eher gegen deren Kontrolle auf Verfassungsmäßigkeit, und war es vor allem die Lehre vom pouvoir constituant, die den Vorrang der Verfassung rechtfertigen konnte. Eine ähnliche, aber wohl dem Diskussionsstand der Weimarer Jahre geschuldete Lücke scheint mir ferner in der Vernachlässigung der Grundlagen zu liegen, die die Verfassungsgebung und Reichsverfassung von 1848/49 gelegt haben, vor allem für die Grundrechte. Wenn schon das Preuß’sche Konzept eines weitgehenden Verzichts auf Grundrechte 1919 über Bord geworfen wurde, hätte eines der Hauptargumente dafür, die Kontinuität mit der liberaldemokratischen Orientierung von 1848/49, Würdigung verdient – zumal, wie in der neueren Literatur jetzt deutlich (bereits 1912 von Hugo Preuß angedeutet!), das Grundrechtsverständnis von 1848/49 erleichtert hätte, die mit vollem Recht kritisierten Verkürzungen der Grundrechtsgeltung in der zweiten Hälfte des 19. Jh. als solche zu erkennen, wettzumachen und der neuen Grundrechtsdogmatik zugrunde zu legen. Wie schon in den Kapiteln über den Parteienstaat und über die Grundrechtslehren, wirkt sich auch im 3. Teil des Buchs die Prägung durch die Fragestellungen des Grundgesetzes nachhaltig aus. Das ist diskutabel und zu rechtfertigen, aber es drängt die Rücksicht auf die geschichtlichen Zusammenhänge zurück. Jedenfalls für die Phasen funktionierender parlamentarischer Mehrheitsbildung bedeutet eben das Prä der Verfassung eine Zurückdrängung, ein „Post“ des parlamentarischen Gesetzgebers. Von da her erklärt sich der Widerstand gerade demokratischer Staatsrechtslehrer gegen das richterliche Prüfungsrecht, dessen undemokratische Grundlagen gut herausgearbeitet werden. Zugleich ist auch die richterliche Entscheidung von Verfassungsstreitigkeiten historisch mit eher undemokratischen Zielsetzungen befrachtet. Der Weg zur modernen Verfassungsgerichtsbarkeit und ihrer Implementation in den demokratischen Staat war daher weit, und man muss schon die allmähliche Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik zugrunde legen, um sie als Rezept für Weimar empfehlen zu können. Ein bereits angedeutetes Grundproblem des Buchs liegt darin, dass das Etikett „Demokratische Staatsrechtslehrer“ exklusiv verstanden werden könnte. Dass Groh bestimmte Autoren ausgewählt hat, nicht alle demokratischen Staatsrechtslehrer Revue passieren lässt und immer wieder
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auch andere Autoren zu Wort kommen, ist als Hypothese zu akzeptieren und hat sich, würdigt man den Ertrag des Buchs, eindeutig bewährt. Aber was ist mit der restlichen Staatsrechtslehre? A contrario könnte sie als antidemokratisch bezeichnet werden. Groh vermeidet diesen Schritt, trotz ihrer bereits erwähnten Sympathie für die Positivisten, und mit gutem Grund. Alle Beteiligten am Methoden- und Richtungsstreit standen in der Krise der Republik vor der Bewährungsprobe; in allen Richtungen gab es Nazis und Verfolgte43, bei allen, auch den demokratischen Staatsrechtslehrern, gab es – Groh zeigt dies eindrücklich auf – Ansätze, die im Sinn eines autoritären oder totalitären Staates pervertiert werden konnten. In dem Sinn gibt es demokratische Staatsrechtslehrer, auch wenn zu ihrem Demokratieverständnis einzelne Fragezeichen gesetzt werden können, und nicht eindeutig demokratisch orientierte Staatsrechtslehrer, die aber doch für die Entwicklung der Weimarer Demokratie wichtig geworden sind. Hier gilt es, mit dem Einwand der antidemokratischen Position vorsichtig zu sein, und insofern sind einzelne Rückfragen an die Verfasserin nötig. Leibholz’ Option für die Parteienstaatlichkeit nimmt gewiss die Parlamentarismuskritik der zwanziger Jahre auf; aber sie hat sich als eine der Grundlagen der Parteiendemokratie der Bundesrepublik bewährt. Smends Argumentation zu den allgemeinen Gesetzen mochte auch den Vorrang eines apokryphen Gemeinschaftsideals verteidigen, aber sie konnte auch als Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit dienen und hat sich als solcher nach 1949 bewährt. Hier und anderswo sind es zwar nicht die Grundpositionen der Verfasserin, aber Folgerungen mit Hinsicht auf nicht in ihren Darstellungsbereich gehörigen Autoren, zu denen etwas mehr Vorsicht und Differenzierung wünschbar wäre. Aber diese Einwände, die, das sei betont, gegenüber dem grundsätzlich positiven Gesamturteil ganz sekundär sind, zeigen zugleich Forschungsfelder auf, die für die Zukunft Ertrag versprechen. Auch darauf hingewiesen zu haben, ist ein Verdienst des Buchs, das der engagierten und pointierten Darstellung zugute gehalten werden kann und soll.
43 Vgl. Horst Dreier/Walter Pauly, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, VVDStRL 60 (2001), S. 9 ff.; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, München 1999; für meine eigene Bewertung darf ich auf Dian Schefold, Geisteswissenschaften und Staatsrechtslehre zwischen Weimar und Bonn, in: K. Acham u.a (Hg.), Erkenntnisgewinne, Erkenntnisverluste, Stuttgart 1998, S. 567 (573 ff.) verweisen.
Lothar AlBertin
Zwischen Preußen, Reich und Nation Zum Profil von Hugo Preuß im akademisch-politischen Streit
Hugo Preuß war im Kaiserreich immer in der Minderheit: als StaatsrechtsGelehrter, in der öffentlichen Meinung, in der Parteipolitik Preußens und des Reichs, meistens auch in der Berliner Stadtverordnetenversammlung. Sein Rechtsdenken wie auch sein politisches Ethos leiteten seine Analysen, Kritiken und Gegenentwürfe zum obrigkeitsstaatlichen Macht- und Herrschaftssystem, das in Preußen wie im Reich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs dominierte. Er war ein leidenschaftlicher Autor von Reformvorschlägen, die gleichwohl zunächst in den Grenzen des monarchischen Systems blieben. Bei Heinrich Heffter ist das Urteil formuliert, in Preuß habe der starke Reformwille des Politikers den Historiker zurückgedrängt; aus dem politischen Bedürfnis habe er daher das Verhältnis der Kräfte des Alten und des Neuen, des Obrigkeitsstaats und der Selbstverwaltung doch zuweilen vereinfacht, die Vielfalt der Übergänge und Verflechtungen nicht genügend berücksichtigt. Kämpferisch pointiert war Preuß zweifellos, weil der prinzipielle Dualismus zwischen Staatsverwaltung und Selbstverwaltung dies thematisch nahe legte. Gleichwohl argumentierte er im disziplinären Disput mit präziser Detailkenntnis. Erst die fundierte Wissenschaftlichkeit und der unermüdliche Überzeugungswille gemeinsam ließen ihn seit der Jahrhundertwende in die erste Reihe des Linksliberalismus aufrücken. Im perspektivischen Veränderungswillen unterschied er sich nicht von Max Weber und Friedrich Naumann.1 Das Argumentieren in politischer Konfrontation bringt ihn 1918 in methodische Verlegenheit. Im Zusammenbruch des monarchischen Obrigkeitsstaates ist das Objekt seiner jahrzehntelangen Arbeit gleichsam abhanden gekommen. Carl Schmitt sollte später (1930) schreiben: „Der kritische Moment in der Geschichte ist der Augenblick, in welchem sein Gegner entfällt“.2 Damit hing ein anderes staatstheoretisches Problem zusammen. Preuß hatte seine Leitidee 1 Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert. Geschichte der Ideen und Institutionen, Stuttgart 1969, S. 180 f. und 749 f. 2 Carl Schmitt, Hugo Preuß. Sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre, Tübingen 1930, S. 17.
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von der „Selbstorganisation des Volkes“ in der historischen und politischen Auseinandersetzung mit dem Kaiserreich eingesetzt und fortgebildet. Nun gab es zwar für diese Idee unmittelbaren Handlungs- und Gestaltungsbedarf, das wesentliche soziale Substrat dieser Idee, das Volk, war aber nur als amorphe oder fragmentierte Größe sichtbar. Die linksliberale Elite büßte, unvorbereitet auf die Situation, für die Systemloyalität ihres Denkens.3 Unbestimmtheit, Bedeutungsvielfalt und Wandel des Volksbegriffs hatten die politischen Diskurse der Liberalen durch das 19. Jahrhundert begleitet. Er konnte in ihren Selbstzuschreibungen im Vormärz das „eigentliche Volk“ meinen als diejenigen, die wahre Interessen der Nation repräsentierten, die Gebildeten und Besitzenden, wie schon in der geplanten Verbindung von Armee und Nation im preußischen Wehrgesetz von Boyens 18144, die „politisch verantwortlichen“ Angehörigen der Nation5, oder den Teil der Gesellschaft, der als „Bürgertum“ galt und den „Kern der Nation“ zu bilden beanspruchte. Diese Liberalen konnten noch in der Tradition einer unpolitischen Auffassung der Nation stehen, mit dem Leitbild einer weltoffenen Kulturnation, oder schon am „wachsenden politischen Staatsnationsbewusstsein der deutschen Vormächte, insbesondere Preußens“ teilhaben; im Vormärz war es ihre Überzeugung, die Richtung des Wandels zu repräsentieren, „Partei der Bewegung“ zu sein.6 Die Ablösung der „klassenlosen Bürgergesellschaft“ (Lothar Gall) war inzwischen längst objektiv vollzogen, sozialemanzipatorisch war der Liberalismus seit den 1850er Jahren nicht mehr. Erst eine Gruppierung der Freisinnigen um Theodor Barth und Hugo Preuß war ab 1893 bemüht, nicht unter den Ideologieverdacht sozialdefensiven Rückzugs zu geraten. Und Friedrich Naumann gab den Rat, beeinflusst von Max Weber, den „Klassencharakter des Liberalismus frei und offen“ anzuerkennen.7 Die seit 1890 zur Massenbewegung anwachsende Sozialdemokratie, zu 3 Vgl. Jörg-Detlef Kühne, Demokratisches Denken in der Weimarer Verfassungsdiskussion – Hugo Preuß und die Nationalversammlung, in: Christoph Gusy (Hg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000, S. 115–133, (117:) „Eine Staatsrechtslehre, die der Demokratie in nennenswerter Weise vorgearbeitet hätte, war hierzulande vor 1918 nicht lebendig“; und Schmitt 1930, S. 16: „Im Jahre 1914 hatte die bürgerliche Bildung kaum noch staatstheoretische Interessen.“ 4 Deutsche Militärgeschichte in sechs Bänden, Bd. 2, München 1983, S. 59 f. 5 Zit. bei James J. Sheehan, Liberalismus und Gesellschaft in Deutschland 1815–1848, in: Lothar Gall (Hg.), Liberalismus, Meisenheim 1980, S. 208–231 (hier: 221). 6 Militärgeschichte, Bd. 1/II, S. 26, und Sheehan, ebd., S. 222. 7 Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Der deutsche Liberalismus zwischen „klassenloser Bürgergesellschaft“ und „Organisiertem Kapitalismus“. Zu einigen neueren Liberalismusinterpretationen, in: Geschichte und Gesellschaft 4 (1978), S. 77–90.
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„Reichsfeinden“ stigmatisiert, war auch für das nationale Paradigma vieler Liberaler ein sperriges Phänomen.
1. Notlösung 1918: Souveränität der Nationalversammlung Der definitorische staatsrechtliche und politisch-soziologische Zugriff fiel 1918 umso schwerer, als der Umsturz im Volk verschiedene Neigungen und Absichten freisetzte, von der parlamentarischen bis zur Räterepublik. Der Wegfall monarchisch-obrigkeitsstaatlicher Souveränität und die reale Diffusität des Volkes als neue Referenzgröße in der Souveränitätsfrage lenkten Preuß’ begriffliche Anstrengungen, wie Carl Schmitt beobachtete, in die Nähe einer verfassungsgebundenen Souveränität. Tatsächlich hieß die frühe provisorische Lösung, die Souveränität der verfassunggebenden Nationalversammlung zuzuordnen, um damit die evolutionären und revolutionären Imponderabilien einzuhegen und vor anarchischen Tendenzen zu bewahren. Als Preuß am 8. Februar 1919 das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt begründete, erklärte er, die Nationalversammlung allein sei „Trägerin der Souveränität des Volkes“. Friedrich von Payer eröffnete zwei Tage später die Fraktionserklärung der DDP mit dem Satz: „Das deutsche Volk hat die ihm zustehende Souveränität ausgeübt durch die Wahl der Nationalversammlung und diese mit der weiteren Ausübung der Souveränität beauftragt.“8 Diese Erinnerung einer historischen Schlüsselsituation legt Fragen nahe: Über welche Erkenntnisse und Erfahrungen reformerischen Denkens und Handelns aus der Monarchie verfügte damals der Linksliberalismus, insbesondere sein Protagonist Hugo Preuß? Über die drei Titelbegriffe, die durch ihre gemeinsamen Schnittmengen ihre thematische Spannung gewinnen, erschließen sich Etappen und Elemente eines Geschichtsbildes, in dem Preußen und das 8 Vgl. Lothar Albertin, Liberalismus und Demokratie am Anfang der Weimarer Republik, Düsseldorf 1972, S. 267. In einer späteren Kommentierung der Präambel hat Preuß betont, dass Notverfassung und Reichsverfassung „rechtlich nur als aufeinanderfolgende Akte der Selbstorganisation des nationalen Gemeinwillens“ zu erfassen seien. Das ist auf dem Hintergrund seiner Lehre von der „Korrelation von Rechtserzeugung und Organisation“ zu verstehen. Preuß leugnet nicht, dass auch eine durch gelungene Revolution geänderte Staatsordnung von der Mehrheit des Volkes gewollt und als zu Recht bestehend angesehen werden konnte; der „Zwischenherrschaft“ der Volksbeauftragten sprach er jedoch diesen „rechtlichen Hiatus“ ab. Sein demokratisches Postulat lautete: „Die Identität des tatsächlichen Gemeinwillens mit seiner rechtlichen Organisation ist also das nie erreichbare, aber immer anzustrebende Ideal aller Verfassungsgesetzgebung.“ Zit. bei Albertin, ebd., S. 268.
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Reich sowohl als gebietskörperschaftliche Subjekte als auch als vielfältige symbolische Bedeutungsträger die staatliche Einigung und die machtvolle Ausformung der Nation vollziehen. Deren innere, mehr obrigkeitsstaatliche als parlamentarisch konsequente Gestaltung sowie imperialistisch aufgeladene Außendarstellung haben die Nationalliberalen überwiegend mitgetragen, die Linksliberalen meistens kritisch begleitet. Hugo Preuß interpretiert die preußische und deutsche Geschichte als die Geschichte intendierter und realisierter, aber auch verhinderter oder reaktionär verfremdeter Reformen. Das visionäre Leitbild seiner historischen Spurensuche sind der sukzessive Fortschritt an partizipativer Kompetenz im Volk und dessen Erwerb eines friedensfähigen nationalen Selbstbewusstseins. Was er mit dieser demokratischen Empathie wahrnimmt, analysiert, erkennt, befürwortet, kritisiert oder verurteilt, wünscht, vorschlägt oder fordert, soll in der Folge unter einer Reihe thematischer Aspekte untersucht werden.
2. Fragen politischer Lernfähigkeit im Volk: „Freiheitskriege“ Aus der liberalen Ideen- und Reformgeschichte war, wie die verfassungspolitische Option 1918/19 zeigte, ein handhabbarer Volksbegriff nicht abrufbar; er wurde vielmehr noch in der großen Abhandlung „Das deutsche Volk und die Politik“ im Rahmen einer appellativ postulierten „Selbstorganisation des Volkes“ definiert. In keiner anderen Arbeit wird die mentalitätsgeschichtliche Problematik so deutlich, die Preuß’ Reformwillen charakterisiert und die er auch selber methodologisch reflektiert. Die vom Freiherrn vom Stein initiierten preußischen Reformen, die er lobt, sind „Reformen von oben“. Er stellt zwei Deutungen gegenüber: Das Volk, das sich für die Befreiungskriege mobilisieren ließ, erwartete daraus eine „freie Staatsverfassung“; tatsächlich folgten Restauration, Polizeistaat, Adelsvorrechte etc. Die andere Deutung lautet: Es kam ihm auf die Befreiung von der Fremdherrschaft an, bei gleichzeitigem Desinteresse an politischen Entwürfen und Verfassungsplänen – von einigen „Ideologen“ abgesehen.9 Dies entspricht der Umdeutung des ursprünglichen Begriffs der „Freiheitskriege“ in „Befreiungskriege“ durch die Restauration.10 Preuß fragt in diesem Zusammenhang: „Was ist Wahrheit?“ Er antwortet, sie lasse sich bei derart komplexen Sachverhalten nicht behaupten, geschweige denn beweisen. Auch was man nur für wahrscheinlicher halte, das hinge in der Hauptsache davon ab, „was man nach seiner gesamten Anschauung dafür hal9 Hugo Preuß, Das deutsche Volk und die Politik, Jena 1915, S. 98. 10 Militärgeschichte, Band 1/II, S. 25.
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ten will“. Er sucht Annäherung an die Wahrheit durch die Abwägung nüchterner Realitäten, in diesem Falle durch die Betrachtung des Zeitraums zwischen den Schlachten von Jena und Leipzig, jeweils im Oktober 1807 und 1813. Seine Konklusion: Ein grundlegender politischer Mentalitätswechsel des politischen Geistes und Charakters des „deutschen und des preußischen Volkes“ bleibt kaum denkbar, trotz aller äußeren Ereignisse und inneren Reformpläne. So ergänzt er lakonisch: „Die Obrigkeit führte das Volk dahin, wohin es geführt sein wollte, zum Kampf gegen die Fremdherrschaft.“11 Das ist die zentrale Frage für das Reformdenken von Hugo Preuß: Wie politisch lernfähig ist das Volk, in welcher soziologisch bestimmbaren Größe auch immer? Und sie spitzt sich im Vergleich der Kriege 1807/13 und des Ersten Weltkrieges, dessen Totalität kaum noch „Nichtkombattanten“ kannte, zu der Frage zu: Wie lernfähig ist kollektives Bewusstsein unter dieser historisch extremen, existentiell bedrohlichen Belastung? Dazu gehört die allgemeine Frage im Schaffen dieses liberalen Gelehrtenpolitikers: Was vermögen Ideen, kritische Analysen und Reformvorschläge, deren Autoren in ihrer Zeit in der Minderheit blieben – die bis 1918 zur „Generation der Übergangenen“ gehören sollten? Was bedeutet es für den Historiker, ihre Erfolglosigkeit in jener Zeit zu beobachten? Was bringt es, Alternativen nachzuspüren, die sich nicht erfüllt haben? Für eine bestimmte historische Situation ist dieser Frage Wolfgang J. Mommsen nachgegangen (vgl. Anm. 7), nämlich angesichts der Hoffnungen linksliberaler Protagonisten auf politischen Klimawechsel und konstitutionelle Reformen im Kaiserreich, als der schwerkranke Friedrich III. die Nachfolge seines Vaters antrat und die Idee der Regentschaft seiner Gemahlin Viktoria aufkam. Beiden Persönlichkeiten waren angesehene Freisinnige eng verbunden. Die Hoffnungen zerrannen bekanntlich rasch unter der Wirksamkeit der herrschenden Kräfte. Gleichwohl lohnt es, meint Mommsen, im Sinne einer „kontrafaktischen Phantasie“ der Geschichtsbetrachtung der faszinierenden Hypothese nachzugehen, welche Chance der Entwicklung sich aufgetan hätte. Eine Frage, die sich aus der Analyse der Demokratiebewegungen im 19. und 20. Jahrhundert ergibt, könnte auch an die Biographie von Preuß gestellt werden: Bedürfen Fortschritte im kollektiven Bewusstsein des ideellen und institutionellen Vorgriffs durch Eliten? Oder bleiben sie letztlich die Voraussetzung für institutionelle Reformen?
11 Preuß 1915, S. 99–101.
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3. Preußens „deutscher Beruf“: Liberale Versäumnisse 1848 Sogar der Begriff der Nation führte, wie schon eingangs dargelegt wurde, für die Liberalen in Preußen und im Reich disparate Bedeutungen mit sich. Ihre politische Geschichte stand im Zeichen eines Prozesses nationalstaatlicher Einigung und internationaler Positionierung, dem der Liberalismus sich teilweise verschrieb, teilweise kritisch versagte. Seine organisatorische und programmatische Zersplitterung im Kaiserreich hing mit dessen innerer Gestaltung und seiner Außenpolitik zusammen. Im Reformdenken von Hugo Preuß bedurfte der Begriff längst einer neuen Bestimmung, spätestens seit er durch seine militärisch-machtstaatlichen Elemente und imperialistisch-expansionistischen Ziele obsolet geworden war. Die großen Darstellungen der deutschen Einigung, etwa aus der Feder Treitschkes oder Sybels, waren abgeschlossen, der Übergang Deutschlands in eine weltgeschichtliche Rolle beschäftigte schon länger die Historiker, Nationalökonomen und Soziologen.12 Friedrich Meineckes „Weltbürgertum und Nationalstaat“ war 1908 erschienen. Preuß haderte geradezu zornig mit dem politischen Liberalismus, der die Forderungen nach innerem Ausbau des Nationalstaats preisgab. Das Reich hatte – anders als Preußen – als Verfassungsstaat begonnen, aber sein inneres Staatsleben bedürfe noch in mannigfacher Hinsicht des gesetzlichen Ausbaus, schrieb er 1888.13 Sein Lehrer Gierke hatte im ersten Band seiner Genossenschaftslehre (1868) für sein Staatsverständnis, woran Carl Schmitt 1930 erinnerte, „kühnes politisches Fortschrittsbewusstsein“ gezeigt und die Lösung deklariert: „Einheit und Freiheit, Nation, Bildung und Fortschritt“.14 Hier empfing Preuß nachhaltige Anstöße: die „Emanzipation von der Souveränität“, die wesentlich war für seine eigene Weiterbildung der Genossenschaftslehre, die Idee von der „Zurückverlegung des Staates in das Volk“ durch den Ausbau einer konstitutionellen Verfassung.15 Nach 1870 – so Schmitt – „brach“ die wirtschaftliche Prosperität „den politischen Sinn des 12 Vgl. Theodor Schieder, Das deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, Köln 1961, S. 70. 13 Vgl. Hugo Preuß, Was uns fehlt, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Hg. Lothar Albertin, Tübingen 2007, S. 129–146 (145). 14 Schmitt 1930, S. 29 f.; Schmitt nennt die private Meinung von Carl Herz, manche Stellen des ersten Bandes von Gierke erinnerten an das Kommunistische Manifest: wo der Staat von unten nach oben aufzubauen sei und es heiße, er sei in das Volk zurückzuverlegen, er sei nichts anderes als das „organisierte Volk“. 15 Ebd., S. 30. Vgl. Dian Schefold, Hugo Preuß (1860–1925). Von der Stadtverfassung zur Staatsverfassung der Weimarer Republik, in: Helmut Heinrichs (Hg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993, S. 419–453.
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deutschen Bürgertums“ und leitete einen langen „Abstieg des staatstheoretischen Bewusstseins“ ein.16 So verloren die Liberalen aus ihrem historischen Gedächtnis die volle Zielsetzung nationaler Einigung. Hatte nicht der Freiherr vom Stein als der Initiator einer Selbstverwaltungsidee gegolten, über die zugleich die nationale Einigung beflügelt werden sollte: „Man muss die Nation daran gewöhnen, ihre eigenen Geschäfte zu verwalten“.17 „Er wäre bereit gewesen“, schrieb Preuß 1915, „selbst Preußen zu opfern, wenn dessen Stärke einer festeren Einheit Deutschlands im Wege gestanden hätte“.18 Preuß habe in Würdigung der Steinschen Reformen immer darauf hingewiesen, schreibt Michael Dreyer, „dass es Stein darum zu tun war, die ganze Nation umzugestalten, ja, diese Nation eigentlich zu schaffen; ‚aus jenem zusammenhanglosen Konglomerat politisch rechtloser Untertanen ein Volk im politischen Sinne, eine Genossenschaft selbsttätiger Staatsbürger erst zu bilden‘.“19 Historiker haben den Vormärz gründlich erforscht und das Bild von der Zielrichtung der preußischen Reformen 1807–1815 auf das Reich bestätigt und differenziert. So erinnerte Walther Hubatsch in seinem einführenden Aufsatz „Preußen und das Reich“ zu einem Sammelband „Zur Problematik ‚Preußen und das Reich’“ an das Wort des Freiherrn vom Stein: „Ich habe nur ein Vaterland, und das ist Deutschland – so bin ich auch nur ihm und nicht einem Teil desselben von ganzer Seele ergeben.“20 Aber die Prioritäten der Ziele haben sich für die Forschung verschoben. Die emphatische Überhöhung der Gemeindefreiheit rangierte zeitweilig, meint Lothar Gall, noch vor der Gewerbefreiheit, Parlamentarisierung und vor Erfolgen in der nationalen Frage; deren Junktim mit der Gewerbefreiheit blieb aber, erhofft war nunmehr die umgekehrte Kausalität: die Lösung der nationalen Frage „von unten“.21 Die 1848er Ereignisse stellten für Preuß selbst die große historische Chance deutscher Einigung dar, die das liberale Bürgertum verfehlt und die Preußen gleichsam usurpiert und genutzt hatte. Heidelberger Versammlung, 16 Schmitt 1930, S. 14. 17 Zit. bei Lothar Gall, Das liberale Milieu. Die Bedeutung der Gemeinde für den deutschen Liberalismus, in: Liberalismus und Gemeinde. Liberale Texte, Sankt Augustin 1991, S. 17–33 (19). 18 Preuß 1915, S. 104. 19 Michael Dreyer, Hugo Preuß (1860–1925). Biographie eines Demokraten, Habil.Schrift Jena 2002, S. 136 f. 20 Walther Hubatsch, Preußen und das Reich, in: Oswald Hauser (Hg.), Zur Problematik „Preußen und das Reich“, Bd. 4, Köln 1984, S. 1–11 (9). 21 Gall 1991, S. 22.
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Vorparlament, 50er Ausschuss, Paulskirchenversammlung, provisorische Zentralgewalt unter Heinrich von Gagern standen für den „Anschein, als ob die Selbstorganisation des deutschen Volkes zum nationalen Verfassungsstaat mit elementarer Kraft ... ihren Siegeszug anträte“, lautet seine Skizze der Argumentation. Dann verfolgte er, wie es der preußischen Obrigkeitsregierung gelingt, die „gewaltigste Triebkraft deutscher Einigung“ diesen Kräften zu „entreißen“ und sich selber dienstbar zu machen. Für Preußen – auf dem Wege in die Pentarchie der Großmächte – wird diese ergänzende Verbindung mit Deutschland eine „Lebensfrage“, die „oberste Bedeutung seiner eigenen Existenz“. Währenddessen bleibt das Volk ruhig und „politisch apathisch“. Es wird auch nicht – bei einer letzten Gelegenheit des liberalen Bürgertums im 19. Jahrhundert, die politische Macht zu gewinnen – im preußischen Verfassungskonflikt für eine „Strategie des passiven Widerstandes“ mobilisiert.22 Es fehlt ihm einfach nach allen Erfahrungen die Entschlossenheit zur Selbstorganisation. An die Ereignisse von 1848 hatte der Liberalismus noch demokratisch verschieden weitgehende nationale Einigungsmodelle geknüpft. Nach dem Urteil Theodor Schieders haben die „von Hegel ausgehenden Anhänger des gemäßigten Liberalismus“ schon in der Frankfurter Paulskirche „ihren Willen gezeigt, den nationalen Staat nur als starken Staat zu begründen“: „Es gab in Frankfurt nur noch nationalkulturelle Toleranz im Rahmen des nationaldeutschen Staates“.23 Die deutsche Rolle Preußens war aber auch auf dem linken Flügel des Liberalismus, mit innen- und außenpolitisch abweichender Radikalität, gefordert worden. Preuß spricht nur flüchtig von der „entschiedenen Linken“ für die 50er Jahre und erwähnt Karl Twestens Haltung im Verfassungskonflikt.24 Auf radikalere Reformkonzepte in der nationalen Frage ging er offenbar nicht ein. Der Zuruf des Königsberger Arztes Johann Jacoby an die preußischen Abgeordneten unter dem Titel „Deutschland und Preußen“ bei der Eröffnung des ersten deutschen Parlaments am 18. Mai 1848 warnte vor einseitiger Politik und verlangte, mit aller Kraft „aus Deutschland ein einiges und freies Reich zu machen“. Jacoby, der am 8. Mai 1848 in die preußische Nationalversammlung gewählt wurde, hielt die Republik für die eines freien, politisch gebildeten Volkes würdigste Staatsform, fügte sich aber den liberalen Bemühungen um 22 Preuß 1915, S. 136 f., 148. 23 Schieder 1961, S. 10, 27. Vgl. Lothar Albertin, Liberalismus und Liberale in Staat und Gesellschaft, in: Jürgen P. Nautz/Joachim F. E. Bläsing (Hg.), Staatliche Intervention und gesellschaftliche Freiheit, Melsungen 1988, S. 187–209 (193). 24 Preuß 1915, S. 148.
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eine konstitutionelle monarchische Regierungsform.25 Staatliche Freiheit sei demnach „nicht letzter Zweck“, das „Wohlergehen Aller“ sei nur durch das „verständnisinnige, brüderliche Zusammenwirken der Völker“ erreichbar.
4. Innere Freiheit und Völkerfriede im Linksliberalismus Im November 1858 warb Jacoby in einer Königsberger Urwählerversammlung für „Grundsätze preußischer Demokratie“ und richtete nach dem Regierungsantritt Wilhelms I. einen „Mahnruf an Preußens Vertreter“; die Hauptaufgabe sei, „Deutschlands Bruderstämme in staatlicher Freiheit zu einen“. Im April 1865, bei der Heeresneubildung, trat er im Abgeordnetenhaus, fast isoliert, gegen die Gefahr von Völkerkriegen auf: „Deutschland in staatlicher Freiheit geeint – ist die sicherste Bürgschaft für den Frieden Europas; unter preußischer Militärherrschaft ist Deutschland eine beständige Gefahr für die Nachbarvölker.“26 Mit den Ereignissen von 1866 und 1871 brachte die kontroverse Diskussion über den deutschen Nationalstaat und seine Politik die erwähnte Auseinanderentwicklung des politisch organisierten Liberalismus. Für die Staatsgründung 1871 hatte Bismarck den Namen des Deutschen Reiches von 1848/49 wieder aufgenommen. Der preußisch-deutsche Staat seiner Prägung hat dann auf dem Felde der fremden Nationalitäten – etwa in der in den 70er Jahren beginnenden Sprachen-Assimilationspolitik – noch „Zurückhaltung“ geübt. Die weit darüber hinausgehenden Forderungen in der Sprachenpolitik gegenüber den Polen hatten ihre eigentlichen Triebkräfte in gesellschaftlichen Gruppierungen. Diese haben hauptsächlich – in partei- und vereinspolitischen Formationen – ein Nationalgefühl verbreitet, das immer aggressiver wurde und sich in vielfacher Weise mit imperialistischen und militaristischen Elementen verbündete. Der Liberalismus hatte daran wachsenden Anteil. Er führte aber auch – namentlich in seinen linksliberalen Strömungen – Haltungen mit, die ethischen und rechtlichen Prinzipien mit ins Spiel zu bringen. Zu den Gründen mancher liberalen Schwächen gehörte auch die Stagnation in der Theorie. Der Liberalismus konnte mit einer aktualisierten, auf die großen innen- und außenpolitischen Probleme des „Nationalstaats“ eingestellten Staatstheorie nicht aufwarten. Der Staatsrechtler Paul Laband war „die zent-
25 Handbuch des Socialismus. Von Carl Stegmann und C. Hugo, Zürich 1897, S. 334 f. 26 Ebd., S. 337.
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rale Figur des Faches in den Jahrzehnten vor dem Weltkriege“.27 Der positivistische Ausbau des Rechtsstaates bis zur kasuistischen Rechtspraxis befriedigte die meisten Liberalen, so dass ihnen die Möglichkeiten, eine materiale Staatslehre im Sinne der Ziele einer „inneren Reichsgründung“ zu konzipieren, aus den Augen geriet. Der Rückgriff auf das Gedankengut der europäischen Revolutionen von 1848 für die internationalen Beziehungen fand sich indessen bei einer politisch organisierten Minderheit. Die Süddeutsche Volkspartei hat auf ihrem Münchener Delegiertentag 1895 den Leitsatz in ihr Programm aufgenommen: „Die Volkspartei ist die Partei des Friedens. Sie erkennt im Krieg und im Militarismus die schwerste Schädigung des Volkswohlstandes, wie der Kultur- und Freiheitsinteressen“. Das Einigungsprogramm der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei von 1910, zu der Hugo Preuß gehörte, fügte die völkerrechtliche Dimension ausdrücklich hinzu. Es verlangte: „Förderung der Bestrebungen auf Annäherung der Völker zu gemeinsamer Kulturarbeit und zu gleichmäßiger Erleichterung der Rüstungslast, Ausbau des Völkerrechts und der internationalen Schiedsgerichtseinrichtungen zum friedlichen Ausgleich entstehender Streitigkeiten“.28 Es ist bemerkenswert, wie sehr liberale Gelehrte auf ein Staatsverständnis setzten, das darauf vertraute, dass die für die auswärtige Politik zuständige Staatsgewalt dank ethischer Substanz und wohlverstandener Staatsräson friedensfähig sei. Solche Anhänger eines „modernen organisatorischen Pazifismus“ (Walther Schücking) neigten dazu, die Wirkung internationaler Verträge und Resolutionen, wie sie aus den Haager Konferenzen (1899 und 1907) oder der gut besuchten Londoner Konferenz der Interparlamentarischen Union (1906) hervorgingen, zu überschätzen. Es kam hinzu: Die liberalen Pazifisten wollten dem Frieden dienen, ohne die Massen zu bewegen. Gegen die Allianz mit der Sozialdemokratie sprachen lange Zeit die eigenen Interessen und einige Berührungsängste.
5. Zur späten Rezeption der Kritik von Preuß am Kaiserreich Wer sich die unnachsichtige Schärfe der Kritik am bornierten preußisch-deutschen Obrigkeitsstaat bei Hugo Preuß vergegenwärtigt, muss sich eigentlich wundern, dass ihre Rezeption in der ersten deutschen Demokratie, der Weimarer Republik, nur begrenzt – unter Sozialdemokraten und wenigen Linksliberalen oder Zentrumsleuten – fortgeführt wurde. Die Folgefrage lautet: Warum 27 Manfred Friedrich, Paul Laband und die Staatsrechtswissenschaft seiner Zeit, in: Archiv des öffentlichen Rechts 111 (1986), S. 197–218 (197). 28 Zit. bei Albertin 1988, S. 195.
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bedurfte es erst der Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem Nationalsozialismus29, bis es zu Analysen und Urteilen über das Kaiserreich kam, deren Tenor sich schon bei Preuß findet? Im Grunde waren die Weimarer Reichsverfassung sowie die Grundausrichtung und Politik der tragenden Kräfte der Republik zugleich kritische Antworten auf das System der obrigkeitsstaatlichen Monarchie. Auch die gewandelte Rolle Preußens zum „Bollwerk der Republik“, seine Personalpolitik unter den Innenministern Carl Severing und Albert Grzesinski (1920–1932), die Preuß als Mitglied seiner Landtagsfraktion bis zu seinem Tode im Prinzip befürwortete, intendierte den Abbau oder die Abwehr obrigkeitsstaatlicher Haltungen und Einflüsse. Es gehörte indessen auch zur Weimarer Demokratie, dass sie Kompromisse mit den sogenannten Vernunftrepublikanern und pragmatische Kooperation mit politisch unzuverlässigen Kräften einging. Die öffentliche Auseinandersetzung über Normen und Werte der Republik wurde so temporär suspendiert, statt sie konsequent zu schützen.30 Erst der Nationalsozialismus zeigte, wie anfällig und verfügbar die soziopolitischen Strukturen und militanten Einstellungen monarchistischnationalistischer Observanz für die Indienstnahme zu einer bis dahin unvorstellbaren Inhumanität waren. Diese bitterste Erfahrung der Deutschen, aber auch die Erfolgsgeschichte ihrer zweiten Demokratie, schärfte den Blick für die strukturellen Hemmnisse und mentalen Barrieren vor 1918, welche damals noch minoritäre Verkünder demokratischer Reformen mit ihren luziden Argumenten und moralischen Appellen vergeblich zu überwinden gehofft hatten. In der Vielfalt der späteren Deutungen herrscht eine Auffassung zum Verhältnis Preußen-Reich vor: Es blieb demnach durch zwei politische und gesellschaftliche Kulturen bestimmt, die in Verschränkungen, Brechungen und Verwerfungen nebeneinander und gegeneinander existierten, deren Spannung nicht durch den Nationalstaat – also gleichsam symbiotisch – aufgelöst worden sei. Diese Spannung war auch verfassungsrechtlich nicht entschieden: Der Begriff „Nation“ erschien nicht einmal in den Verfassungen von 1867 und 1871, von indirekten Erwähnungen abgesehen, worauf Michael Stürmer aufmerksam gemacht hat. Noch am Ende des Kaiserreichs funktionierte die preußische Hegemonie militärisch und verwaltungsmäßig, erinnert Stürmer. „Das Reich war Großpreußen, und es war auch deutscher Nationalstaat“, und
29 Vgl. Jürgen Kocka, Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft, in: Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Stuttgart 2000, S. 30 ff. 30 Vgl. Lothar Albertin, Die Auflösung der bürgerlichen Mitte und die Krise des parlamentarischen Systems von Weimar, in: Eberhard Kolb/Walter Mühlhausen (Hg.), Demokratie in der Krise, München 1997, S. 59–111.
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zwar ein „bürokratisch-militärisch straff geführter Verwaltungsstaat“.31 Ralf Dahrendorf hat in seinem Buch „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“ (1966) das Kapitel über die deutsche Frage mit dem Zwischentitel „Die verworfene Nation“ zuende geführt. Er meint insbesondere die Verwerfungen in Preußen, spricht, im Anschluss an Talcott Parsons, von Offizieren und höheren Beamten als dem statusprägenden Modell für die Bourgeoisie und bemerkt zum kaiserlichen Deutschland nicht ohne Bitterkeit, dass dort die industrielle Revolution den Weg in die Moderne noch nicht gefunden, sich vielmehr als „industrielle Feudalgesellschaft mit autoritärem Wohlfahrtsstaat“ konsolidiert habe.32
6. Hugo Preuß im Oktober 1918: Was ist eine Nation? Am Ende des Kaiserreichs war immer noch Grund, zu fragen: „Was ist eine Nation?“ Preuß stellte diese Frage am 19. Oktober 1918 in seiner Rektoratsrede an der Handelshochschule in Berlin. „Was ist das principium individuationis jeder nationalen Gemeinschaft und damit der Kern nationaler Gegensätze?“ Er schloss gängige Behauptungen aus, um dann zu sagen, das Entscheidende sei, Ernest Renan folgend: „Die Nation ist ein geistiges Prinzip, das Resultat tiefer geschichtlicher Zusammenhänge.“33 Sie wird wirksam in der Wechselwirkung von Individual- und Gemeinwillen, nach der Idee des Contract Social: Der geschichtlich bedingte Mensch wählt seinen Staat, indem er seine Nation wählt: „Man schafft die nationale Matrikel; und der einzelne gehört der Nation an, bei der er sich immatrikulieren lässt“ (S. 356). Hier hält sich immer noch eine liberal-optimistische politische Anthropologie. Wichtiger als diese theoriegeleitete Option erscheint ihm aber die realhistorische Kategorie des politischen Gemeinwillens. Die Nation verträgt sich keineswegs, sagt Preuß, mit obrigkeitsstaatlichen Strukturen. Sie erscheint indessen historisch und aktuell als „primitives Nationalgefühl“: als Überschätzung der eigenen und in der Ungerechtigkeit gegen andere Nationen, wie Kjellens Exempel zur selbstbezogenen Bewertung anderer Nationen demonstriert. 31 Michael Stürmer, Eine politische Kultur – oder zwei? Betrachtungen zur Regierungsweise des Kaiserreichs, in: Oswald Hauser (Hg.), Zur Problematik „Preußen und das Reich“, Köln 1984, S. 35–47 (38, 42 f.). „Preußen hat den Nationalstaat noch gründen können, nicht mehr prägen. Der Rest war ‚langes Sterben‘ (S. Haffner)“ (S. 42). 32 Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1966, S. 59– 74 (74). 33 Hugo Preuß, Nationaler Gegensatz und internationale Gemeinschaft, in: Ders., Staat, Recht und Freiheit, Tübingen 1926, S. 355 (Seitenzahlen folgen dieser Ausgabe).
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An der Aufrechterhaltung des nationalen Gegensatzgefühls sei der Selbsterhaltungstrieb der obrigkeitsstaatlichen Herrschaftsorganisation interessiert, „weil es alle inneren Spannungen, die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Gegensätze mit elementarer Überlegenheit zurückdrängt“ (S. 357). Preuß macht keinen Hehl aus seiner Kritik an der massensuggestiven Steigerung des Gegensatzes nach außen zum Paroxismus, zu einer entfesselten „Kampfwut atavistischer Gewalt“. Alle Nationen gleichen sich demnach in der emotionalen Intensität ihrer Motivation für den Krieg als eines Kampfes um nationale Selbsterhaltung: Die internationale Gemeinschaft der stärksten Gefühle ist die Quelle unversöhnlichen Gegensatzes (S. 359). Tatsächlich hat der Krieg die normative Idee der internationalen Gemeinschaft, die nationale Gegensätze und Spannungen durchaus einschließt, verdrängt oder blockiert, somit auch die Berührung der Völker, ihren materiellen und geistigen Austausch, den die Raumüberwindung durch Technik und Handel und die Fortschritte des Völkerrechts mit der Vision des Kantschen Weltbürgerrechts sukzessive begünstigten. Hier gingen Gedanken ein, mit denen Preuß und andere Linksliberale längst und eindrücklich auf den nationalen Gewinn aus dem Reichtum internationaler Kontakte und Kooperationen verwiesen hatten. Er macht auch hier das nationalstaatliche Souveränitätsprinzip als das wesentliche Hindernis jeder wirksamen Organisation einer internationalen Gemeinschaft aus.34 Es steht zu ihr in absolutem Gegensatz und widerstrebt nach seiner inneren Natur der Eingliederung in eine weitere Gemeinschaft ebenso wie der „Verdrängung atavistischer Kampfformen“ durch eine friedliche Rechtsordnung (S. 360). Die Abkoppelung des Souveränitätsgedankens von der Nation zwecks Eignung für eine friedensstiftende Rechtsordnung ermöglicht zugleich mit logischer Konsequenz deren innerstaatliche Voraussetzungen: die verfasste Freiheit und Gleichheit. Das ist im Kern – aus seiner Kritik der auswärtigen „Realpolitik“ des Reiches bereits 30 Jahre zuvor – die These von dem konditionalen Zusammenhang freiheitlicher Innenpolitik und einer langfristigen, grundsätzlich auf die Idee des „ewigen Friedens“ gerichteten Außenpolitik.35 Die Parlamentarisierung und Demokratisierung Deutschlands mit dem Ziel tiefgreifender „Umwandlung seiner innerpolitischen Struktur“36 sollen die internationale Friedensfähigkeit der Nation gewährleisten. Preußen rückt in diesen Betrachtungen nicht mehr ins Blickfeld. Es wird nur indirekt gestreift, wo der Rückgriff auf den bestgeschätzten Teil seiner Geschichte erfolgt: die 34 Vgl. Dreyer 2002, S. 144. 35 Preuß, Schriften, Bd.1, S. 142 f. 36 Hugo Preuß, Die Improvisierung des Parlamentarismus, in: Preuß 1926, S. 361.
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Ideen der Selbstverwaltung in den Steinschen Reformen zur Durchdringung und Stärkung des Staates mit bürgerschaftlichen Beteiligungspotentialen.
7. Die Selbstverwaltungsidee: Schlüssel für die Rolle Preußens Die wechselhafte Reformgeschichte Preußens auf dem langen Wege zur nationalstaatlichen Einigung und der Auseinandersetzungen um den inneren Ausbau des Reiches hat den Gelehrtenpolitiker nie losgelassen. Preuß hat eine Idee von dem folgerichtigen Weg der Deutschen mit dem Ziel eines freiheitlich ausgebauten Nationalstaates. Er konstatiert die partielle Leistung der preußischen Militärmonarchie, die einheitsstiftende „Reform von oben“, „indem die organisierte Macht der einzelstaatlichen Obrigkeit an die Spitze der deutschen Volksbewegung trat und die anderen widerstrebenden Obrigkeiten sich und dem populären Einheitsdrang unterwarf“. Insofern substituierte die preußische Monarchie den machtpolitisch nicht präsenten Liberalismus und ersetzte die Freiheitsforderung durch einseitige Surrogate nationaler Erfolge: militärische Siege und wirtschaftliche Prosperität.37 Beamtentum und Offizierskorps sorgten für die Einheit und die Kontinuität des Staates. Ergänzt man das von Detlef Lehnert erwähnte pointierte Urteil bei Preuß aus den Erkenntnissen Reinhart Kosellecks, so ließe sich sagen: Das Beamtentum leistete zunächst noch mehr als dies. Demnach war die Reorganisation der preußischen Verwaltung nach dem Zusammenbruch 1806/07 ihre Selbsterneuerung, mit intendierten Effekten auf die Gesellschaftsstruktur. Das preußische Reformwerk – schon länger geplant – wurde erst durch diese Katastrophe ausgelöst. Nach dem Scheitern der Einführung gesamtstaatlicher „Reichsstände“ 1823 war die preußische Verwaltung genötigt, mehr als Verwaltung zu sein, „nämlich der die Gesellschaft repräsentierende, politisch richtungsweisende Staatsträger. Die preußische Beamtenschaft ist sich dieser ihrer Rolle bewusst gewesen.“ Seit den 1840er Jahren setzt ihr Bedeutungsverlust ein. Sie verliert die Initiative und Funktion, „Staat und Gesellschaft in sich zu verbinden“.38 Die Analysen von Preuß zur preußischen Verwaltungsreform verfolgen deren Schicksal durch die Geschichte, wobei die historische Stringenz eher in den Verhinderungen, Blockierungen und reaktionären Suspendierungen und Rückbildungen fortschrittlicher Ideen als in ihrer progressiven, kon37 Vgl. Detlef Lehnert, Verfassungsdemokratie als Bürgergenossenschaft, Baden-Baden 1998, S. 161 f. (Preuß 1915, S. 134 f., zitierend). 38 Reinhart Koselleck, Staat und Gesellschaft im preußischen Vormärz, in: Otto Büsch (Hg.), Moderne preußische Geschichte 1648–1947, Berlin 1991, S. 378–415 (414 f.).
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tinuierlichen Durchsetzung liegt. Preuß leidet geradezu argumentativ und rhetorisch daran, dass Preußen sich seiner historischen Bestimmung so oft versagt, sie halbherzig annimmt, verfälscht oder preisgibt. Eine der leitenden Ideen, die Dezentralisierung, wird mit Bezug auf das französische Verwaltungsrecht präzisiert, dessen „Eleganz einer feinen Begriffstechnik“ die „déconcertation“ als Geschäftsverteilung unter Behörden von der „décentralisation“, dem Übergang von Kompetenzen vom Staat auf die kommunalen Selbstverwaltungskörper, unterscheidet.39 Seine Selbstverwaltungsidee setzt die Maßstäbe für Befunde, Kommentare und Forderungen. Auf ihr beruhe alles konstitutionelle Wesen, schreibt Preuß 1888, weil sie eine der wichtigsten Fortschritte in der Staatswissenschaft im letzten Menschenalter sei; er sieht eine Affinität nach Sinn und Neigung bei Deutschen und Engländern, „unseren Vettern jenseits des Kanals“.40 Die Selbstverwaltung ist sein Indikator für die Evaluation demokratischer Qualität einer intendierten oder implementierten Maßnahme zur Verwaltungsreform, zugleich historisch-deskriptiver Begriff für die realen Segmente eines kommunalen Unterbaus, dessen Mangel Preuß bedauert, aus den dynastischen und obrigkeitsstaatlichen Interessen am Machterhalt erklärt, und durch die Reform behoben sehen möchte. So beobachtet er beispielsweise an der Kreisordnung von 1872, dass sie zwar die gutsherrliche Patrimonialpolizei über die Landgemeinden beseitigt, die ländliche Ortspolizei aber dem Amtsvorsteher zuordnet, was in zahlreichen Fällen der gesellschaftlichen Interessenlage im Osten „das alte Institut unter anderer Firma“ bedeutet habe. Damals glaubte man, unterstellt Preuß parlamentarischen Befürwortern der Kreisordnung, sie sei der erste Schritt zur Dezentralisierung der gesamten Staatsverwaltung durch kommunale Selbstverwaltung. Er lässt den Abgeordneten von Blanckenburg aus der Beratung des dritten Entwurfs im November 1872 zu Wort kommen: die Bürokratie habe ihre Verdienste gehabt, damit sei aber nicht mehr zu regieren. Das Bevölkerungswachstum, das Verkehrsaufkommen und andere Erscheinungen sozialen Wandels bedeuten, „dass die Bürokratie nicht mehr lebensfähig regieren kann ... Der Formalismus ist so groß, dass das Ganze sich als organisierte Zeitvergeudung charakterisieren lässt.“ Die „Überfülle der Behörden“, die Verzichtbarkeit des Regierungspräsidenten, der als „kleiner Präfekt“ auftrete, sind Monita gegen die beharrenden Momente von Staatlichkeit, gegen die Preuß auch maßgebende Liberale wie Johannes Miquel in den Zeugenstand ruft; dieser habe in der Reformdebatte verlangt,
39 Hugo Preuß, Zur preußischen Verwaltungsreform, Leipzig 1910, S. 7. 40 Preuß, Schriften, Bd. 1, S. 138 f.
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kommunale und Staatsverwaltung „wesentlich in die Hand der Bevölkerung zu legen“.41 Hugo Preuß dürfte der klarste und konsequenteste deutsche Repräsentant des Selbstverwaltungsprinzips in Theorie und Praxis sein. Er hat die Begriffsverwirrung, die verschiedenen Grundauffassungen entsprang, immer wieder kritisiert, so 1912 im Handbuch für Politik: „Die schönste Einmütigkeit und die schlimmste Meinungsverworrenheit zugleich bestehen in unserer Literatur über die Selbstverwaltung. Dass sie nützlich, notwendig, unentbehrlich sei, darüber ist alles einig; aber was eigentlich Selbstverwaltung ist, worauf ihr Wesen beruht – darüber ist alles uneinig.“42 Jedenfalls war hier nicht gemeint, was Rudolf Gneist mit langer Nachwirkung vertrat, „dass das entscheidende Kriterium der Selbstverwaltung das Ehrenamt sei“.43 Preuß ging vom Grundrecht der Gemeindefreiheit im eigenen Wirkungskreis aus, mit eigenen Lokalparlamenten und eigenen, ebenfalls frei gewählten Verwaltungsorganen. Das Ehrenamt und die unmittelbare Teilnahme von Laien an der bürgerschaftlichen Selbstverwaltung waren ein wichtiges Element, nicht aber ihr Wesenskern. In diesem Sinne hat der Liberalismus in den Verwaltungsreformen in Preußen und anderen deutschen Staaten die neuen Institutionen von der Steinschen Städteordnung bis zu derjenigen von 1853 sowie der Kreis- und Provinzialordnung von 1872 und 1875 verfolgt. Der Selbstverwaltungsbegriff ist hier auch in die Gesetzessprache eingegangen.44 Preuß analysiert die Geschichte der preußischen Selbstverwaltung – er hat sie 1888 eine „Leidensgeschichte“ genannt45 – unter Maßstäben von Gewinn und Verlust an demokratischer Qualität: Er betrachtet dabei das kommunale Handlungsfeld in seiner verfassten Ordnung und praktischen Arbeit als Basis bürgerschaftlicher Beeinflussung und Durchdringung von Staatlichkeit, oder als Basis eines „contre-pouvoir“, einer Gegenmacht auch im Sinne eines Testfeldes für die Konstellation gesellschaftlicher Interessenlagen. Auch sieht er dort die wesentliche Voraussetzung einer politischen und administrativen Dezentralisierung zur Behebung obrigkeitsstaatlicher Strukturen und Mentalitäten. Preuß schöpft seine Erfahrungen nicht zuletzt aus seinem langjährigen Engagement als Berliner Kommunalpolitiker und gewinnt die Kompetenz und Glaubwürdigkeit eines Wissenschaftlers, der nicht im Elfenbeinturm sitzt. Seine Analysen zur Leistungsfähigkeit preußischer 41 Preuß 1910, S. 26, 29, 78 f., 32, 37. 42 Hugo Preuß, Die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland, in: Handbuch der Politik, Bd. 1, Berlin 1912, S. 198–218 (198). Zit. bei Heffter 1969, S. 741 f. 43 Zit. ebd., S. 741 (dazu auch Laband: „völlig unhaltbar“). 44 Ebd., S. 740. 45 Preuß, Schriften, Bd. 1, S. 139.
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Verwaltung behalten in ihren treffsicheren Pointierungen zu deren Ineffizienz eine systemneutrale und zeitlose Gültigkeit. Der Grundtenor seiner Kritik an dem „alten Prinzip der direkten Staatstätigkeit in der örtlichen Verwaltung und [der] Art der Staatsaufsicht über die kommunale Selbstverwaltung nach preußischer Tradition“ verdient hier in längeren Passagen vergegenwärtigt zu werden: „Trotz aller Reformversuche eines Jahrhunderts lebt die Vielregiererei des eudämonistischen Polizeistaates fort, dem es eine unvollziehbare Vorstellung ist, dass in der Verwaltung irgendwo etwas ohne Wissen und Willen der verschiedenen Obrigkeiten bis zur höchsten hinauf geschehen könne. Wohl sind daneben Institutionen der Selbstverwaltung getreten; aber sie haben die Regierungslast der Staatsbürokratie nur vermehrt, statt sie zu vermindern.“ Dann spricht er ironisch von dem „höchst komplizierten und arbeitsreichen Grenzüberwachungsdienst“, „um die immer zweifelhafte und durch alle Kasuistik nicht festzulegende Scheidelinie zwischen staatlicher und kommunaler Kompetenz mit Argusaugen zu hüten“. Er beklagt das „altererbte Misstrauen der Staatsbürokratie gegen das ihr heterogene Element der Selbstverwaltung“, das er auch in der Kommunalaufsicht erkennt, „die großenteils in Wirklichkeit eine staatliche Leitung und Mitverwaltung“ sei. Die Folge sind Arbeitslast, Reibungsverluste und Ineffizienz: „Alle Instanzen haben unendlich viel zu tun, um die Genehmigung zu erlangen, etwas zu tun.“46
Preuß demonstriert Mißstände an konkreten Bereichen, geht exemplarisch ins Detail. Er beklagt die prinzipielle Scheidung von Polizei- und Kommunalverwaltung als „preußisches Dogma“. So bleiben Möglichkeiten blockiert, über die Gesundheitspolizei den modernen Erfordernissen der Sozialhygiene und Sozialpolitik zu genügen, etwa die Armut zu bekämpfen. Die allgemeine Folgerung lautet: Die preußischen Organisationsprinzipien, die staatlich determiniert sind, verhindern die Freisetzung und Entfaltung lokaler subsidiärer Ressourcen. Im Schulbereich bemerkt er das „organisierte Chaos“ in den großen und größten Städten: „Es ist das Musterbeispiel einer Organisation, wie sie nicht sein soll, die mit größtmöglichem Kraftaufwand den möglichst geringsten Nutzen erzielt“. Preuß erkennt die Konkurrenz staatlicher und kommunaler Verwaltung in der „mystischen Rechtsstellung des Volksschullehrers“ – „eines mittelbaren Staatsbeamten“, der tatsächlich aber einer der wichtigsten „integrierenden Bestandteile städtischer Kommunalverwaltung“ sei.47
46 Preuß 1910, S. 90 f. 47 Ebd., S. 98, 92 f., 101.
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Die Liste weiterer aufgeführter Mißstände ließe sich verlängern, wie die Rekrutierung und die Karrieren von Verwaltungsbeamten, der Status des Landrats48, der eigentlich zum Träger der „Dezentralisation“ geeignet sein sollte; das meiste unterstreicht den „Zug zur Subalternisierung das heißt zur schlimmsten Art des Bürokratismus“, mit dem Pendant einer „falsch organisierten Selbstverwaltung“, welche die Bereitschaft zum bürgerschaftlichen Engagement lähmt: „Der Staat ist kein deus ex machina, der helfen könne, wo der Gemeinwille sich nicht selbst zu helfen vermag“. Die Rollenerwartung an Preußen lautet bei Hugo Preuß, „Vorkämpfer für die modernen Ideen in unserer staatlichen Entwicklung“ zu sein: „Seit mehr als einem Jahrhundert ist mit logischem Zwange die Frage der inneren preußischen Reform eine deutsche Frage.“ Aus den Reformdebatten des preußischen Abgeordnetenhauses im Norddeutschen Bund bringt er Miquel in Erinnerung, der 1869 postuliert, Deutschland brauche eine gleichmäßige Verfassung und Verwaltung: „ja, ich glaube, wir Deutschgesinnte müssen selbst über Preußen hinaus unser Augenmerk werfen und fragen: Legen wir hier Grundzüge nieder, die entwicklungsfähig sind, die dienen können als äußerer Rahmen für die Verwaltung in Deutschland“.49 Später sollte Heffter – wenige Tage nach Preuß’ Tode – auf dessen Urteil zurückgreifen, die Verwaltungsreform sei nicht einmal im preußischen Staat geschafft worden, und sagen: „Aber die preußische Verwaltungsreform galt ihm doch nur als Vorarbeit für die Reichsreform, die die demokratische Reichsverfassung durch ein ‚dezentralisierendes Reichsverwaltungsrecht’ zu ergänzen hatte“.50
8. Der Weltkrieg: Impulse für nationalstaatliche Erneuerung? Was ist der Kern des Buches „Das deutsche Volk und die Politik“? Der Krieg provoziert den Diskurs über die Bereitschaft des Volkes, demokratie- und friedensfähig zu werden, eine Erneuerung des Nationalstaates durch „Selbstorganisation“ zu erreichen. Preuß entwirft ein historisches und aktuelles Stärke- und Schwächeprofil der deutschen Nation, innerstaatlich und in ihren internationalen Beziehungen. Die Stärken sind virtueller Art, die Schwächen lauten:51 48 Zur politisch-konservativ einflussreichen Stellung der Landräte in Preußen vgl. Richard Lewinsohn, Das Geld in der Politik, Berlin 1930, S. 226, wo deren Pressepolitik über die rund 400 amtlichen Kreisblätter geschildert wird. 49 Preuß 1910, S. 105, 11, 21. 50 Heffter 1969, S. 783. 51 Nachfolgend jeweils die Seitenzahlen aus Preuß 1915.
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– Der Krieg ist die „primitivste Form der Austragung von Interessengegensätzen“; er zerreißt die west- und mitteleuropäischen Kulturvölker und isoliert das Deutsche Reich (S. 5). – Er offenbart zugleich den unpolitischen Charakter des Volkes, der in der Tradition idealisierter Staatsfremdheit steht und dem es an politischer Gestaltungskraft mangelt, am Willen zum „volkstümlichen Ausbau seiner politischen Existenz“ (S. 113). – Der Krieg demonstriert die eklatante Diskrepanz von demographischer, militärischer, wirtschaftlicher und technischer Stärke einerseits und politischer Kraftlosigkeit andererseits. – Er verschärft noch den Dualismus von altem, militärisch-bürokratisch gestütztem Obrigkeitsstaat und einem modernen Volksstaat. – Zumal Preußen erweist sich als Land des „hoffnungslosen politischen Stillstandes im Inneren und nach außen“ (S. 7). – Der Krieg bietet aber Gelegenheit, nach dem Vorbild der Befreiungskriege, zur Rückbesinnung auf „Preußens deutschen Beruf“ und den Appell des Freiherrn vom Stein, „durch die Reform eine Nation zu bilden“ (S. 117). Die Berufung auf das historische Vorbild legitimiert die Kritik am aktuellen Status der preußisch dominierten Machtstrukturen des Kaiserreichs. – Die eigentlich wesentliche Aussage lautet: Der Krieg ist eine Katastrophe. Weder der militärische Sieg noch die Niederlage sind die maßgebenden Alternativen für sein Ende. Sinnstiftend kann nur noch sein, dass aus ihm die Umbildung des Obrigkeitsstaates in den Volksstaat hervorgeht, dessen Regierungsfähigkeit in Selbstorganisation wurzelt. Jedes andere Ende bliebe sinnlos. Das alte Regime hat die Geduld der Geschichte erschöpft. – Das Volk, das zur Demokratie- und Friedensfähigkeit finden soll, darf kein diffuser Begriff mehr sein. Preuß nennt deshalb Kräfte, Mechanismen, Prinzipien für diese Umbildung, gewerkschaftliche und andere Organisationen, die kommunale Selbstverwaltung und das Institut der allgemeinen Wehrpflicht. – Er geht davon aus, dass sich der Parlamentarismus mit der sozialen Struktur des Volkes wandeln wird, denn „die fortschreitende soziale Demokratisierung demokratisiert auch das parlamentarische System“. Er spricht dem Parlament nunmehr die Aufgabe zu, „den Druck des sich in der öffentlichen Meinung manifestierenden Volkswillens auf die Regierung überzuleiten“. Die Parteien würden nach dem Kriege den „innerlichen Erziehungsprozess vollkommener Politisierung des Volkes“ betreiben (S. 186 f.).
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In den Tagen der Nationalversammlung erklärte Preuß dann ausdrücklich: „Parlamentarisches System ist wechselnde Herrschaft der Parteien“.52 Seine Devise für die Verfassungsarbeit ab 1918 hieß: Die politische Reife von Parlament und Volk kann nicht Vorbedingung der parlamentarisch-demokratischen Organisation sein, sondern muss als Ziel deren Gebrauchs erwartet werden. Später musste er erfahren – als Beobachter und betroffener Insider der DDP –, dass dieses Ziel immer unerreichbarer wurde. Im kritischen Jahr 1923, mit vier verschiedenen Kabinetten und drei Kanzlern, sah er das Parteiwesen in der Tradition der „verantwortungslosen Unmündigkeit des Obrigkeitsstaates“, und statt der erhofften Reife des Volkes thematisierte er in der Weimarer Zeit, wie Michael Dreyer bemerkt, die tatsächliche „Politikunfähigkeit der Deutschen“. Preuß beschrieb das Dilemma folgendermaßen: „Die Demokratie ist ohne den Parteibetrieb nicht lebens- und handlungsfähig, aber ohne ein starkes, allen ihren Parteien gemeinsames nationales Selbstbewusstsein ist die Demokratie auf die Dauer nicht regierungsfähig.“53 Weder die Not des Krieges noch die Belastungen aus der Niederlage hatten die Deutschen zusammengeführt. Viele haben sich einem Fortschritt an politischer Kultur verweigert. So konnte es bereits auf der Kohlenkonferenz von Spa im Juli 1920 passieren, dass der Sachverständige Hugo Stinnes den jüdischen Experten in der deutschen Delegation, die für die Annahme der alliierten Bedingungen eintraten, androhte, antisemitische Stimmungen zu schüren; er hat ihnen später auch öffentlich vorgeworfen, sie hätten „aus einer fremdländischen Psyche heraus, den deutschen Widerstand gegen unwürdige Zumutungen gebrochen“. Und es konnte geschehen, dass Stinnes bei einem Theaterbesuch in seiner Loge erkannt und vom Publikum wegen seiner Spa-Rede mit einer spontanen Ovation und anschließender Nationalhymne gefeiert wurde.54 Die Stigmatisierung deutscher Juden, die sich als Patrioten im Dienst der Republik engagierten, unter dem Rubrum des „internationalen Pazifismus“ blieb in jener rechtsliberalen DVP-Reichstagsfraktion, der Stinnes angehörte, so gut wie unwidersprochen. Solche symptomatischen Weiterungen aus einer internationalen Schlüsselszene des Jahres 1920 demonstrierten sowohl den Mangel an „gemeinsamem nationalem Selbstbewusstsein“ unter den Parteien als auch die „Politikunfähigkeit“ des Volkes, in dessen Wählerschaft die Abwanderung nach rechts bereits begonnen hatte. Gerade zu Anfang des Krieges hatten 52 Zit. bei Albertin 1972, S. 276. 53 Zit. bei Dreyer 2002, S. 456 f. (das Zitat findet sich bei Hugo Preuß, Reich und Länder, Berlin 1928, S. 46). 54 Vgl. Gerald D. Feldman, Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen 1870–1924, München 1998, S. 619, 630.
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noch jüdische Kreise, über deren Leben im eigenen Volk die antisemitische Agitation dunkle Schatten gelegt hatte, in den linksliberalen Vereinen patriotische Verbundenheit bekundet und gehofft, dass nach dem Kriege „volle innere Freiheit erblühen werde“.55 Ihre Enttäuschung war nunmehr elementar. Der kritische Zeitgenosse konnte sich schon damals fragen: Was musste eigentlich noch geschehen – nach den unermesslichen Schäden und Verlusten des Weltkrieges –, damit die nationale Elite insgesamt und das Volk Demokratie und internationale Verständigung als ihre historischen Chancen erkannten und Persönlichkeiten wie Preuß ihre Wertschätzung zuwandten, die ein berufliches und politisches Leben lang für diese Ideale geworben hatten!
55 Vgl, Lothar Albertin, Liberaler Revisionismus: Theodor Barth und Hugo Preuß, in: Detlef Lehnert/Christoph Müller (Hg.), Vom Untertanenverband zur Bürgergenossenschaft, Baden-Baden 2003, S. 59–96 (94).
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Das Gebiet des Landes Preußen am Ende der Weimarer Republik liegt in den mit durchgehender schwarzer Linie markierten Grenzen (ab 1919/21) einschließlich der nur punktierten Abstimmungs- und Besatzungsgebiete, jedoch abzüglich der quer oder längs schraffierten Flächen der anderen Länder sowie nicht schraffierter Flächen Bremens, Hamburgs und Anhalts. Die Karte ist entnommen aus: Eberhard Kolb, Die Weimarer Republik (Oldenbourg-Grundriss der Geschichte, Band 16), 7. Auflage. © 2009 Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München
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Hugo Preuß als verfassungspolitischer Publizist, Verfassungshistoriker und „Geschichtspolitiker“
Nur wenige Tage nach dem Staatsumsturz vom 9. November 1918 wurde Hugo Preuß vom Kabinett der Volksbeauftragten (ohne Widerspruch der USPD-Vertreter) mit dem Entwurf einer neuen Reichsverfassung beauftragt. Das war eine durchaus plausible Entscheidung, hatte er sich in den Jahrzehnten davor doch als entschiedener Gegner des Obrigkeitsstaates gezeigt und galt unter Kollegen als der am weitesten links stehende deutsche Staatsrechtler. Preuß gehörte zu denen, die die seit jeher im deutschen etablierten politischen Denken verbreitete Vorstellung einer Trennung von Staat und Gesellschaft in der Weise, dass vom Staat am Ende, wie er spöttisch formulierte, „schlechterdings nichts als die amtierende Obrigkeit übrig bleibt“1, in Frage stellten; und so mahnte er, hier 1910, die „,Zurückverlegung des Staates in das Volk‘“2 an, und zwar nicht allein durch institutionelle Veränderungen. Auch ein „innerlicher Erziehungsprozess vollkommener Politisierung“ des im Ver-
1 Hugo Preuß, Das deutsche Volk und die Politik (1915), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1: Politik und Gesellschaft im Kaiserreich, Hg. Lothar Albertin, Tübingen 2007, S. 383–530, hier S. 502. – Vgl. zur Person und zum wissenschaftlichen sowie politischen Denken von Hugo Preuß: Michael Dreyer, Hugo Preuß. Biographie eines Demokraten, Habil.-Schrift Jena 2002; Detlef Lehnert, Verfassungsdemokratie als Bürgergenossenschaft. Politisches Denken, Öffentliches Recht und Geschichtsdeutungen bei Hugo Preuß, Baden-Baden 1998; Jasper Mauersberg, Ideen und Konzeptionen Hugo Preuß’ für die Verfassung der deutschen Republik und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar, Frankfurt a.M. 1991; Detlef Lehnert/Christoph Müller (Hg.), Vom Untertanenverband zur Bürgergenossenschaft. Symposion zum 75. Todestag von Hugo Preuß am 9. Oktober 2000, Baden-Baden 2003; Christoph Müller (Hg.), Gemeinde, Stadt, Staat. Aspekte der Verfassungstheorie von Hugo Preuß, Baden-Baden 2005; Siegfried Grassmann, Hugo Preuß und die deutsche Selbstverwaltung, Lübeck 1965; Günther Gillesen, Hugo Preuß. Studien zur Ideen- und Verfassungsgeschichte der Weimarer Republik (Diss. Freiburg 1955), Berlin 2000. 2 Hugo Preuß, Die Lehre Gierkes und das Problem der preußischen Verwaltungsreform (1910), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2: Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie im Kaiserreich, Hg. Dian Schefold, Tübingen 2009, S. 605–644, hier S. 621 (Gierke zitierend).
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hältnis von Obrigkeit und Untertanen entpolitisierten Volkes sei erforderlich, um die Deutschen zum Staatsvolk im eigentlichen Sinn zu machen3.
1. Vom Obrigkeitsstaat zum Volksstaat Schon in seinen frühen politischen Artikeln während der 1880er Jahre bezog sich Hugo Preuß auf die prägenden Ereignisse in der Entwicklungsgeschichte der deutschen Einheit, die nicht-obrigkeitlichen Anstöße seit Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ und den Reformen des Freiherrn vom Stein sowie den antinapoleonischen Freiheitskriegen betonend. Bei solchen meist umstandslos ausgesprochenen Bezugnahmen, nicht nur bei Preuß, ist stets mit zu bedenken, dass es auch darum ging, der vermeintlich illegitimen Berufung der konservativen und völkischen Rechten auf diesen Traditionsstrang zu widersprechen. Suggestiv fragt Preuß 1885, ob denn Deutschland bereits die „definitive Form seiner staatlichen Existenz erlangt“ habe. „Oder ob nicht die bisherige Entwicklung bereits den Keim einer ganz bestimmten weiteren Fortbildung in sich trägt?“ Und 1903 spricht er von der „Unfertigkeit des deutschen Konstitutionalismus“4. Als Vertreter dezidiert demokratischer und sozialer Auffassungen im freisinnigen Liberalismus des wilhelminischen Kaiserreichs (wenn er auch nicht dem dissentierenden Weg seines großen Vorbilds Theodor Barth in die kleine Demokratische Vereinigung folgte), befand er sich in einer klaren Frontstellung gegen das ostelbische Junkertum, den preußischen Obrigkeitsstaat und die Konservierung der Bismarck’schen Staats- und Verfassungskonstruktion von 1867/71. Er postulierte die „Mündigkeit“, also letztlich die Souveränität des Volkes. Dieses Volk wurde im Ersten Weltkrieg bekanntlich nicht nur faktisch in bisher unbekanntem Ausmaß von oben mobilisiert; es entstand – parallel und gegenläufig zu den diktatorischen Tendenzen der 3. Obersten Heeresleitung Hindenburg-Ludendorff – zudem eine partizipatorische Dynamik5. Sowohl 3 Preuß, Das deutsche Volk (wie Anm. 1), S. 521. – Hervorhebungen in wörtlichen Zitaten hier und im Folgenden wie im Original. 4 Hugo Preuß, Die Entwicklungsgeschichte der deutschen Einheit (1885), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 94–98, hier S. 97; ders., Sozialismus und Konstitutionalismus (1903), in: a.a.O., S. 322–337, hier S. 325. 5 Vgl. dazu sowie generell zur Reformfähigkeit des Kaiserreichs Udo Bermbach, Vorformen parlamentarischer Kabinettsbildung in Deutschland. Der Interfraktionelle Ausschuß 1917/18 und die Parlamentarisierung der Reichsregierung, Köln 1967; Dieter Grosser, Vom monarchischen Konstitutionalismus zur parlamentarischen Demokratie,
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die muttersprachlich-kulturelle als auch die staatsbürgerliche Ebene einbeziehend und ordnungspolitisch ambivalent – man hat diese Ambivalenz auf die Formel „Volksgemeinschaft“ versus „Volksstaat“ gebracht – wurden die politische Terminologie und die politische Debatte gewissermaßen volklich aufgeladen. Man kann die Überwindung des kaiserlichen Widerstands gegen die Anbringung der Widmung „Dem deutschen Volke“ am Giebel des Reichstagsgebäudes kurz vor Weihnachten 1916 als symbolischen Ausdruck davon ansehen. Während die Sozialdemokratie, anknüpfend an die kleinbürgerliche Demokratie des 19. Jahrhunderts, seit jeher mit dem Volksbegriff (neben dem Klassenbegriff) operierte, schärften auch die bürgerlichen Mittelund Rechtsparteien im Übergang zur Weimarer Republik ihr volkstümliches Profil und definierten sich im revolutionären Umbruch, teilweise explizit in ihren neuen Namen, als „Volksparteien“6. Hugo Preuß, der, zumal seit 1917, nur in der Demokratisierung der Verfassung einen Ausweg für das Deutsche Reich sah, formulierte unumwunden „das Prinzip der Identität von Volk und Staat“, in dem die Idee des
Den Haag 1970; Reinhard Schiffers, Der Hauptausschuss des Deutschen Reichstags 1915–1918, Düsseldorf 1979; Manfred Rauh, Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches, Düsseldorf 1978; Christoph Schönberger, Die überholte Parlamentarisierung. Einflußgewinn und fehlende Herrschaftsfähigkeit im sich demokratisierenden Kaiserreich, in: Historische Zeitschrift 272 (2001), S. 623–666; Peter Brandt, War das Deutsche Kaiserreich reformierbar? Parteien, politisches System und Gesellschaftsordnung vor 1914, in: Karsten Rudolph/Christl Wickert (Hg.), Geschichte als Möglichkeit. Über die Chancen von Demokratie. Fs. Helga Grebing, Essen 1995, S. 190–210. – Zum gesellschaftlichen Hintergrund und zu den gesellschaftspolitischen Konstellationen vgl. zudem Gerald D. Feldman, Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914– 1918, Berlin 1985; Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914–1918, Göttingen 1973. – Von den Gesamtdarstellungen der Geschichte des Deutschen Kaiserreichs seien hier nur genannt Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, 2 Bde., München 1990/92; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1845/49–1914, München 1995; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bde. 3–5, Stuttgart 1963–78. 6 Sowohl die rechtsliberale Deutsche Volkspartei (DVP) als auch die konservative, in den ersten Jahren einen „völkischen“ Flügel beinhaltende Sammlungspartei Deutschnationale Volkspartei (DNVP), die Bayrische Volkspartei (BVP) und anfangs teilweise auch die außerbayrische Schwesterpartei, die Zentrumspartei (unter der Bezeichnung Christliche Volkspartei), bedienten sich dieser Nomenklatur. – Vgl. zur Umbildung des politischen Systems, namentlich der Parteien, 1918/19 immer noch Eberhard Kolb (Hg.), Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, Köln 1972.
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Nationalstaats letztlich wurzele7. Das bedeutete für ihn indessen gerade nicht, Konzessionen an antiliberale Konzepte eines vorgegebenen homogenen und statischen Volkskörpers zu machen, sondern es ging ihm darum, dass „sich alle Gruppen und Klassen, alle Richtungen und Strömungen des Volkes als gleichberechtigte und gleichverpflichtete organische Teile des Staates empfinden“ können8. Idee und Begrifflichkeit des dem „Obrigkeitsstaat“ in den Debatten während des Ersten Weltkrieges entgegen gesetzten „Volksstaats“, wenn auch nicht das (schon ältere) Wort, stammen maßgeblich von Hugo Preuß. Auch dessen konstitutionalistische Ordnungsvorstellung mit parlamentarisch-demokratischer Tendenz schöpfte ihre Legitimation aus dem „Augusterlebnis“ von 1914 und dem vermeintlich geschlossenen Einsatz der breiten Bevölkerungsschichten, nicht zuletzt der Arbeiter, im Krieg. „Nicht der Staat, so wie er war, ist es in Wirklichkeit, der diese unerhörteste Kraftprobe [im Weltkrieg] bewundernswert besteht, vielmehr die deutsche Volkskraft in ihrer All-Einheit…“9. Bei der innenpolitischen „Neuorientierung“, die man seitens der Vertreter dieser Strömung – zu ihr gehörten neben Preuß in erster Linie Gerhard Anschütz, Hans Delbrück, Franz von Liszt und Max Weber – forderte, dachte namentlich Preuß, an frühere Überlegungen anknüpfend, nicht zuletzt an die Beteiligung der politischen Parteien an der verantwortlichen Mitgestaltung der Politik anstelle der Chimäre einer überparteilichen, nur dem abstrakten Staatswohl verpflichteten Regierung – eine Umschreibung für die Parlamentarisierung der Regierungsweise. Es sei gerade der Ausschluss von der Verantwortung, der den viel beklagten „doktrinären Radikalismus“ der Parteien fördere10. Dabei musste Preuß und anderen daran liegen, den 7 Preuß, Das deutsche Volk (wie Anm. 1), S. 507–514, 520. – Im Übrigen benutzten Preuß und andere Demokraten, bis hin zur Sozialdemokratie, ebenfalls zuweilen den Ausdruck der „Volksgemeinschaft“, meist um völkische oder autoritäre Verwendungen des Terminus abzuwehren bzw. zu konterkarieren. So sprach etwa Hermann Heller davon, allein durch die Realisierung der „sozialen“ sei die „nationale Volksgemeinschaft“ zu erreichen; Hermann Heller, Sozialismus und Nation, Berlin 1925, hier S. 41, 74. Zu Hermann Heller – gewissermaßen dem demokratisch-sozialistischen Pendant zum Sozialliberalen Preuß – vgl. ders., Gesammelte Schriften, 3 Bde., Hg. Christoph Müller, 2. Aufl. Tübingen 1992; Christoph Müller/Ilse Staff (Hg.), Der soziale Rechtsstaat. Gedächtnisschrift für Hermann Heller 1891–1934, Baden-Baden 1984; sowie die in Anm. 42 genannte Literatur. 8 Hugo Preuß, Das deutsche Volk (wie Anm. 1), S. 514. 9 Hugo Preuß, „Neue Zeit?“ (1915), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 538–542, hier S. 540. 10 Zit. nach Steffen Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003, S. 243.
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Eindruck zu vermeiden, sie seien unkritische „Westler“. Es galt deshalb, vor allem diejenigen Begründungen hervorzuheben, die auf spezifisch deutsche Traditionen und auf die Behauptung der deutschen Nation im kriegerischen Existenzkampf abhoben. Die Mehrdeutigkeit des von der Sozialdemokratie übernommenen Terminus „Volksstaat“ erlaubte es, die ethnisch-kulturelle Bedeutung des „Volkes“ mit der staatsbürgerlichen und demokratischen zu verbinden, was für die Republikaner nach 1918 bestimmend bleiben sollte. Der dritte Aspekt von „Volk“ – die Massen gegen die Macht-Elite – behielt naturgemäß am ehesten für das Selbstverständnis der SPD seine Relevanz11. Die verfassungspolitischen und verfassungsrechtlichen Vorschläge der Volksstaatbefürworter liefen darauf hinaus, die Hegemonie Preußens im Reich zu beseitigen, wozu an erster Stelle die Angleichung des Wahlrechts gehörte. Eventuell sollte eine Art faktischer Verreichlichung des größten Einzelstaats erfolgen, um so ebenfalls eine Status- und Einflussminderung der übrigen deutschen Fürstentümer zu ermöglichen. Dabei sollte neben der Erhebung des quasi fürstenbündischen „Deutschen Kaisers“ zum Reichsmonarchen die Stärkung der Macht des Reichskanzlers in seiner üblicherweise zusätzlichen Eigenschaft als preußischer Ministerpräsident und die Einflussminderung des Bundesrats zugunsten des Reichstags treten, also durchweg Ziele, die als Tendenzen der realen Entwicklung schon länger im Rahmen der Verfassung von 1871 sichtbar geworden waren. Zudem sollte die Inkompatibilität der Mitgliedschaft im Bundesrat und im Reichstag aufgehoben werden, damit die Führungsmannschaft der Exekutive für das parlamentarische Personal als normales Rekrutierungsfeld geöffnet werde würde12. Insgesamt entsprachen die Veränderungen durch die Oktoberreformen des Jahres 1918, die „Improvisierung des Parlamentarismus“13 auf Reichs- wie einzelstaatlicher 11 Vgl. zum Begriff des Volkes, namentlich in der politischen Sprache, Reinhard Koselleck, „Volk, Nation, Nationalismus, Masse“, in: Otto Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 141–431; Peter Brandt, „Volk“, in: Joachim Ritter u. a. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Basel 2001, S. 1080–1090. 12 Vgl., neben der mehrfach zitierten Schrift von Preuß, Das deutsche Volk (wie Anm. 1), und Bruendel, Volksgemeinschaft (wie Anm. 10), auch Gerhard Anschütz, Gedanken über künftige Staatsreformen, in: Friedrich Thimme/Carl Legien (Hg.), Die Arbeiterschaft im neuen Deutschland, Leipzig 1915; Marcus Llanque, Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000. 13 Hugo Preuß, Die Improvisierung des Parlamentarismus (1918), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 718–720. – Zu den Oktoberreformen vgl. die in Anm. 5 genannte Literatur.
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Ebene, obwohl manches Wesentliche noch in der Schwebe blieb, weitgehend den Vorstellungen von Hugo Preuß, Gerhard Anschütz usw. Doch kam der erst unter dem Druck der bevorstehenden militärischen Niederlage und der Wilson-Noten durchgesetzte Systemwandel viel zu spät, um die Stellung des Reiches nach außen und innen in veränderter Verfassungsordnung nachhaltig zu stabilisieren. Denjenigen, die während des Krieges eine Weiterentwicklung der im engeren Sinn konstitutionellen zur parlamentarischen Monarchie im Auge hatten, war der Unterschied der Reichsverfassung zur Verfassung Preußens bewusst, der in der späteren wissenschaftlichen Diskussion meist unterschätzt worden ist14. Die Verfassung des Kaiserreichs war im Unterschied zu der Preußens kein Oktroi, sondern zwischen Preußen bzw. dem Norddeutschen Bund und den süddeutschen Staaten einerseits, Bismarck und den Liberalen andererseits ausgehandelt, „vereinbart“ worden. Zudem bedurfte sie der Ratifizierung durch Bundesrat und Reichstag, welcher aus allgemeiner und gleicher Männerwahl hervorging, übernommen vom Norddeutschen Bund und letztlich von der Paulskirche. So wenig der Deutsche Reichstag dem nach Dreiklassen-Wahlrecht bestimmten Preußischen Abgeordnetenhaus entsprach, so wenig glich der föderative Bundesrat dem aristokratisch-royalistischen Herrenhaus. Ferner konnte der Reichskanzler erheblich eigenständiger operieren als der kollegial eingebundene Ministerpräsident Preußens. Ohne die Belastung auch des Reichskonstitutionalismus durch die starke Position des Monarchen, insbesondere bei der Militärgewalt („Kommandogewalt“), zu leugnen, muss dessen gegenüber der „revidierten“ preußischen Verfassung von 1850, auch bezüglich des Notverordnungsrechts, besondere Qualität unterstrichen werden. In der Logik dessen hoben die in Richtung Parlamentarisierung und Demokratisierung weisenden Reformvorschläge stets auf die Stärkung der Reichsebene gegenüber der Ebene der „Bundesstaaten“ einschließlich des preußischen Hegemonialstaats ab.
14 Auf dieser Differenzierung beharrt in der neueren Forschungsliteratur vor allem Arthur Schlegelmilch, Die Alternative des monarchischen Konstitutionalismus. Eine Neuinterpretation der deutschen und österreichischen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bonn 2009, insb. S. 158 ff. – Die „Kaiserproklamation“ am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Versailler Schlosses, von Anton von Werner in dem berühmten Gemälde dargestellt, begründete eine – als solche geschichtsmächtige – konservativmonarchistische Deutung der Reichsgründung und der Reichsverfassung, die nicht der Genese und dem Charakter beider entspricht.
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2. Demokratischer Neubeginn in Weimar Die Weimarer Verfassung, am 31. Juli 1919 verabschiedet von der Nationalversammlung mit großer Mehrheit, bot dann für Preuß in ihrer demokratischen Substanz den zentralen Bezugspunkt eines auf die Republik gerichteten deutschen Patriotismus. Dabei blieb für ihn als Gierke-Schüler die Genossenschaftsidee wesentlich. Die nationale Bürgergenossenschaft mochte er sich nur in der Vielfalt des englischen self-government vorstellen, so dass er in der kommunalen Selbstverwaltung die Grundlage des Staatsbaus sah. Preuß scheute sich nach 1918 nicht, die Überlegenheit der liberalen westlichen, vor allem angelsächsischen politisch-geschichtlichen Wirklichkeit gegenüber dem obrigkeitsstaatlichen Überhang des deutschen Verwaltungsstaates immer wieder offen zu benennen, und auch die Epoche machende Bedeutung der Französischen Revolution erkannte er an. Bereits 1888, vor dem 100. Jubiläum, bezeichnete er die „Ideen von 1789“ als „Gemeingut der modernen politischen Welt“15. Ungeachtet dieser vorurteilsfreien Weltoffenheit blieb für Preuß klar, dass der deutsche demokratische Verfassungsstaat seine spezifischen Bezugspunkte in der deutschen Kultur und Geschichte zu suchen hatte und dort finden würde. In einer für Liberale ungewöhnlichen Eindeutigkeit bekannte Preuß sich auch zu dem revolutionären Ursprung der Weimarer Republik, wenn er feststellte: „Die Reichsverfassung der Deutschen Republik vom 11. August 1919 ist der staatsrechtliche Niederschlag der Revolution vom 9. November 1918.“16 Das hatte unter anderem mit seinem nicht unkriti15 Hugo Preuß, Die Jubelfeier der französischen Revolution (1888), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 146–155, Zitat S. 155. – Obwohl Preuß in dem Artikel seine positive Bezugnahme auf die Französische Revolution erheblich relativiert, ist die Kernaussage ganz eindeutig. 16 Hugo Preuß, Deutschlands republikanische Reichsverfassung (1923), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4: Politik und Verfassung in der Weimarer Republik, Hg. Detlef Lehnert, Tübingen 2008, S. 307–363, hier S. 308. – Zur Weimarer Verfassung und zur parlamentarischen Praxis der Republik vgl. aus heutiger Sicht Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1997; Horst Möller, Parlamentarismus in Preußen 1919–1932, Düsseldorf 1985; Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2002. – Zum politischen Umfeld von Hugo Preuß vgl. Lothar Albertin, Liberalismus und Demokratie am Anfang der Weimarer Republik, Düsseldorf 1972; Larry E. Jones, German Liberalism and the Dissolution of the Weimar Party System: 1918–1933, Chapel Hill 1988; Heinz Schustereit, Linksliberalismus und Sozialdemokratie in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1975; Erich Portner, Die Verfassungspolitik der Liberalen – 1919. Ein Beitrag zur Deutung der Weimarer Reichs-
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schen, aber grundsätzlich positiven Blick auf „1848“ zu tun. 1915 hatte sich Preuß noch recht skeptisch über die 1848er Bewegung geäußert, in der die eine radikale demokratische Neugestaltung anstrebenden Revolutionäre, namentlich in der Bevölkerung, eine kleine Minderheit gewesen seien und gegen die intakt bleibenden Militärgewalten sowie die Konservative und Liberale vereinende Furcht vor der „roten Revolution“ keine Chance gehabt hätten. Allein die Bismarck’sche Revolution von oben sei deshalb am Ende übrig geblieben17. Als Hugo Preuß am 8. Februar 1919 den Entwurf des Gesetzes über die vorläufige Staatsgewalt in der Nationalversammlung vorstellte, nannte er als Gemeinsamkeit der revolutionären Ereignisse von 1848/49 und von 1918/19 den Vorrang der Verfassungsgebung. Die Verfassung werde, wie einst Heinrich v. Gagern formulierte, gestiftet aus der „‚Souveränität der Nation. Deutschland will eins sein, ein Reich, regiert vom Willen des Volkes unter Mitwirkung aller seiner Gliederungen‘“. Darin sah Preuß „die wunderbare Wiederholung der Erscheinungen“18. verfassung, Bonn 1973; Heiko Bollmeyer, Der steinige Weg zur Demokratie. Die Weimarer Nationalversammlung zwischen Kaiserreich und Republik, Frankfurt a.M. 2007; Heinrich Potthoff, Das Weimarer Verfassungswerk und die deutsche Linke, in: Archiv für Sozialgeschichte 12 (1972), S. 433–483; Tina Pohl, Demokratisches Denken in der Weimarer Nationalversammlung, Hamburg 2002; Christoph Gusy (Hg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000; Andreas Wirsching/Jürgen Eder (Hg.), Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik, Stuttgart 2008; Dieter Fricke (Hg.), Deutsche Demokraten. Die nichtproletarischen demokratischen Kräfte in Deutschland 1830 bis 1945, Köln 1981; Jürgen C. Heß, „Das ganze Deutschland soll es ein.“ Demokratischer Nationalismus in der Weimarer Republik am Beispiel der Deutschen Demokratischen Partei, Stuttgart 1978. – Von den Überblickdarstellungen zur Geschichte der Weimarer Republik seien hier genannt Ursula Büttner, Weimar. Die überforderte Republik, Berlin 2010; Eberhard Kolb, Deutschland 1918–1933. Eine Geschichte der Weimarer Republik, München 2010; Andreas Wirsching, Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft, München 2000; Detlev J.K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a.M. 1987; Detlef Lehnert, Die Weimarer Republik, Stuttgart 2009; Hans Mommsen, Die verspielte Freiheit. Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang 1918 bis 1933, Berlin 1989; Heinrich August Winkler, Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993; Gerhard Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur. Die Periode der Konsolidierung und der Revision des Bismarckschen Staatsaufbaus 1919–1930, Berlin 1987. 17 Preuß, Das deutsche Volk (wie Anm. 1), S. 478–488. 18 Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte, Bd. 326, Berlin 1920, S. 12.
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Hugo Preuß war – unter dem bestimmenden Gesichtspunkt der Demokratie – Unitarier mehr als Föderalist. Das föderative Element akzeptierte er allenfalls in dem Sinn, dass zwischen der kommunalen und der nationalen Ebene regionale Selbstverwaltungskörper treten sollten. Doch waren die tradierten Länder eine selbst 1918/19 nicht aufhebbare Realität; und der Plan, den übergroßen preußischen Teilstaat in Einheiten von normaler Größe aufzugliedern, musste Preuß bekanntlich bald aufgeben. Die Widerstände waren zu groß. Er wandte sich aber wiederholt gegen partikularistische, Geist und Buchstaben der Verfassung entgegenstehende Tendenzen. Das betraf sowohl die in zumindest indirekter Beziehung zur französischen Rheinland-Politik stehenden westdeutschen Partikularisten als auch solche, wie die bayrischen, die ihren Machtbereich als gegenrevolutionäre „Ordnungszelle“ verstanden. Preuß legte Wert darauf, vor allem auf die reaktionäre Rolle des als Föderalismus getarnten Partikularismus in der deutschen Geschichte, nicht zuletzt während des Zweiten Kaiserreichs, hinzuweisen. Ein zentraler Bestandteil des politischen Gesamtkonzepts von Hugo Preuß war sein Verständnis des Nationalen, wobei der damals unübliche Begriff des „Verfassungspatriotismus“ durchaus treffend ist19. Die Gemütswerte der sich als Herkunfts-, Sprach- und Kulturgemeinschaft verstehenden Deutschen waren für Preuß nicht die Sache selbst, um die es ihm ging; er benannte sie jedoch ungeniert als eine Art Rohmaterial. An Ernest Renans berühmtes Diktum von der Nation als „plébiscite de tous les jours“ (auch bei diesem historischkulturell und kollektivpsychologisch ja nicht voraussetzungslos) anknüpfend, postulierte er die nationale Bewusstseins- und Willengemeinschaft, hergestellt durch kollektives politisches Handeln. „Denn eine Nation ist keine Tierrasse, sondern sie ist ein geistig-sittliches Element, beruhend auf tausend verschiedenen Komponenten“, in den von Preuß zitierten Worten Renans „ein geistiges Prinzip, das Resultat tiefer geschichtlicher Zusammenhänge“20. Antisemitismus etwa sei kein Zeichen eines entwickelten, sondern eines unterentwickelten, stecken gebliebenen Nationalbewusstseins.
19 So Detlef Lehnert, Einleitung zu Hugo Preuß, Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 17 ff.; Peter Brandt, Hugo Preuß – der Verfassungspatriot, in: Hagener Online-Beiträge zu den Europäischen Verfassungswissenschaften, IEV-Online 2009. 20 Hugo Preuß, Die heutige politische Lage des Reichs und das deutsche Judentum (1925), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 291–301, hier S. 296; ders., Nationaler Gegensatz und internationale Gemeinschaft (1918), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 714.
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3. Zu den Problemen mit „Versailles“ Vor dem militärischen Zusammenbruch der mittel- und osteuropäischen Kaiserreiche, gerade auch im Hinblick auf die Donaumonarchie, hatte Preuß die Möglichkeit angesprochen, dass, bei demokratischer Fundierung, durch starke Tradition und ein entsprechendes Bewusstsein der Gemeinschaft auch unterschiedliche Nationalitäten zu einer Staatsbürgernation vereinigt werden könnten21 – das Beispiel der Schweiz lag nahe. Doch schien sich mit der Niederlage der Mittelmächte paradoxerweise statt dessen die Chance zu bieten, die großdeutsche, Österreich einschließende Idee von 1848 zu verwirklichen. Für Hugo Preuß wie für viele deutsche Demokraten war dies verbunden mit der begeisternden Aussicht, die neue Republik national zu legitimieren, zumal die Zweckmäßigkeit dieser „Wiedervereinigung“ der großen Mehrheit der Deutschösterreicher anfangs offenkundig schien. Es lässt sich nicht übersehen, dass in der neuen Konstellation seit dem Herbst 1918 Preuß die sprachlich-kulturelle Dimension des Nations- bzw. Volksbegriffs stärker akzentuierte als vorher. Die Sprach- und Kulturnation sowie die Staatsbürgernation im Volksstaat schienen deckungsgleich zu werden. Jedenfalls vertrat er die Idealvorstellung einer großdeutschen Demokratie auch nach dem Anschlussverbot in den Friedensverträgen von Versailles und Saint Germain uneingeschränkt weiter22. Die Geschichtswissenschaft neigt heute dazu, die Bedeutung von „Versailles“ für die Instabilität und die Legitimationsschwäche der Weimarer Republik erheblich zu relativieren23. Eine gewisse apologetische Tendenz ist unübersehbar. Richtig ist, dass – anders als viele Zeitgenossen, auch aus dem 21 Hugo Preuß, Obrigkeitsstaat und großdeutscher Gedanke (1916), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 547–582; vgl. auch schon ders., Nationalitäts- und Staatsgedanke (1887), in: a.a.O., S. 110–117. 22 Vgl. etwa Hugo Preuß, Um die Reichsfarben (1921), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 192 f.; ders., Paulskirche und deutscher Nationalstaat (1923), in: a.a.O., S. 258–261, hier insb. S 261. – Zur Problematik des Anschlusses „Deutsch-Österreichs“ an Deutschland unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg vgl. Susanne Miller, Das Ringen um „die einzige großdeutsche Republik“. Die Sozialdemokratie in Österreich und im Deutschen Reich zur Anschlussfrage 1918/19, in: Archiv für Sozialgeschichte 11 (1971), S. 1–67; Alfred D. Low, Die Anschlußbewegung in Österreich und Deutschland 1918–1919 und die Pariser Friedenskonferenz, Wien 1975. 23 Vgl. zum Versailler Frieden und zu seiner Behandlung durch die derzeitige Historiographie Manfred F. Boemeke u. a. (Hg.), The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years, New York 1998; Gerd Krumeich (Hg.), Versailles 1919. Ziele, Wirkung, Wahrnehmung, Essen 2001; Eberhard Kolb, Der Frieden von Versailles, München 2005.
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republikanischen Lager, das zunächst wahrnahmen – der Versailler Vertrag Deutschlands Schwächung, nicht seine Vernichtung intendierte. Die neue internationale Ordnung bot dem Deutschen Reich sogar gewisse Chancen, die man ab 1924 ja dann auch zu nutzen versuchte. Das änderte allerdings nichts daran, dass hier tatsächlich ein den früheren Kriegsgegner in Form und Inhalt demütigender Friedensvertrag regelrecht diktiert wurde, ein Vertrag, der die Deutsche Republik und insbesondere die jetzt Regierenden, die Parteien der Friedenresolution des Reichstags von Juli 1917, schwerstens belasten musste. Es war ja nicht so, dass nur die nationalistische Rechte und die Anhänger des gestürzten kaiserlichen Regimes „Versailles“ als einen imperialistischen Gewaltfrieden ablehnten. Die inhaltliche Ablehnung ging durch das gesamte politische Spektrum, einschließlich der USPD, die als einzige Partei von Anfang an für die Unterzeichnung eintrat. Diejenigen, die Sozialdemokraten und die Zentrumskatholiken, die das Ultimatum der Sieger letztlich annahmen, taten das nicht, weil sie das Vertragswerk für akzeptabel hielten, sondern weil sie andernfalls mit guten Gründen noch schlimmere Folgen vorhersahen24. Es mag naiv bzw. zweckoptimistisch gewesen sein, auf einen milden „Wilson-Frieden“ zu hoffen (und eine solche Hoffnung im Volk zu nähren), doch gilt es zunächst einmal, die Wahrnehmungen und Vorstellungen der Beteiligten, die ihr Handeln bestimmten, überhaupt gebührend zur Kenntnis zu nehmen. Für Hugo Preuß waren der Versailler Friede und die daran anschließende repressive Politik der Alliierten gegenüber Deutschland, namentlich die maximalistische Sicherheitspolitik Frankreichs, völlig verfehlt, und seine Vertragsablehnung ging so weit, dass er zusammen mit den anderen DDPMinistern aus der Reichsregierung ausschied. Es war übrigens auch für andere Republikaner nicht untypisch, dass die schärfsten Äußerungen des ansonsten meist betont sachlich Formulierenden während der Ruhr-Besetzung (mit den katastrophalen Folgeereignissen) 1923 fielen, wo von „Fluch“ des „Scheinfriedens“ und „Verbrechen“ der Sieger „ohne Beispiel“ die Rede war25.
24 Vgl. Dieter Groh/Peter Brandt, „Vaterlandslose Gesellen“. Sozialdemokratie und Nation 1860–1990, München 1992, hier S. 180 ff., mit einschlägigen Zitaten. – Zur Kontextualisierung vgl. neben den in Anm. 23 genannten Titeln Leo Haupts, Deutsche Friedenspolitik 1918–19. Eine Alternative zur Machtpolitik des Ersten Weltkrieges, Düsseldorf 1976; Klaus Schwabe, Deutsche Revolution und Wilson-Frieden. Die amerikanische und deutsche Friedensstrategie zwischen Ideologie und Machtpolitik 1918/19, Düsseldorf 1971. 25 Hugo Preuß, Deutschlands Republikanische Reichsverfassung (1923), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 307. – Vgl. zur Ruhrkrise von 1923 Klaus Schwabe (Hg.),
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Doch selbst zu diesem Zeitpunkt ließ Preuß nicht den geringsten Zweifel daran, dass er jedes gedankliche Spielen mit militärischer Gegenwehr für „verbrecherischen Irrsinn“ hielt26, wie er für chauvinistische Anwandlungen völlig unempfänglich und zu nationaler Feindbildpflege unwillig war. Er war seit jeher Anhänger einer internationalen Rechtsordnung und bejahte den Gedanken des Völkerbunds. Die „alten Demokratien“ des Westens müssten aber nachdrücklich auf die Verletzung ihrer eigenen Prinzipien hingewiesen werden. Nur auf der Grundlage des Rechts und der Gleichberechtigung könnten die Deutschen in eine wirkliche Völkergemeinschaft eingegliedert werden: „Jedes System einer überstaatlichen Rechts- und Friedensorganisation ist die Projektion des demokratischen Prinzips der nationalen Interessengemeinschaft freier und gleichberechtigter Bürger auf die internationale Interessengemeinschaft freier und gleichberechtigter Staatsvölker. Das System kann in der Welt nicht zur Geltung kommen, solange es in Europa nicht gilt, und es kann in Europa nicht zur Geltung kommen, solange dem größten europäischen Volke, dem deutschen, die nationale Freiheit und Gleichberechtigung auf Grund eines durch Waffengewalt erzwungenen Diktats versagt wird.“27
Den entscheidenden Gesichtspunkt für die Fundamentalkritik am Versailler Frieden und dem weiteren alliierten Vorgehen bildeten die außen- und mindestens so sehr innenpolitischen Folgen für die Deutsche Republik; „die Feinde Deutschlands draußen und die Gegner der Demokratie drinnen“, sagt er in einem fingierten Interview mit einem Amerikaner, arbeiteten sich „eifrig in die Hände“28. Die Gegnerschaft von Hugo Preuß zur Politik der Siegermächte stand also nicht im Widerspruch zu seinem demokratischen Verfassungspatriotismus, sondern war vielmehr gerade aus diesem motiviert. Und selbst der Rücktritt vom Ministeramt aus Protest gegen den Versailler Vertrag und das entsprechende Abstimmungsverhalten ihm politisch Nahestehender im Reichstag müssen als Ausdruck der Sorge verstanden werden, dass die Republik eine solche ungeheure Hypothek psychologisch nicht würde tragen können. Die Ruhrkrise 1923, Paderborn 1985; Michael Ruck, Die Freien Gewerkschaften im Ruhrkampf 1923, Köln 1986; Paul Wentzcke, Ruhrkampf, 2 Bde., Berlin 1930/32. 26 Hugo Preuß, Nationale Demokratie (1920), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 150–154, hier S. 152. 27 Hugo Preuß, Um die Reichsverfassung von Weimar (1924), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, hier S. 437. 28 Ebd., S. 371.
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4. Kritische Nationalgeschichtsschreibung Eine Gesamtdeutung der preußisch-deutschen Geschichte legte Hugo Preuß 1924 mit der kleinen Monographie „Der deutsche Nationalstaat“29 vor, die der historisch-politischen Bildung des lesenden Publikums und zugleich der historischen Legitimierung der Verfassung und des Öffentlichen Rechts der Weimarer Republik dienen sollte. Es ging ihm dabei um die Verbindung von verfassungsgeschichtlicher und politikgeschichtlicher Deutung mit der Entwicklung der deutschen Nation. In der brillant geschriebenen und wie stets scharf argumentierenden Abhandlung stellt er mit dem Paulskirchenparlament und dem Staatsmann Bismarck, mit den Verfassungen von 1849 und 1871 – radikaler als früher – zwei nationalstaatliche Existenzformen gegenüber, deren eine, die des Bismarck’schen bzw. wilhelminischen Reichs, er als Kümmerform entlarven will, am Leben erhalten nur durch Machtentfaltung nach außen und systematische Ausschaltung bzw. Unterbindung der parlamentarisch-demokratischen Konsequenzen des staatlichen Zusammenschlusses der Nation. Diesen Verhinderungsmechanismus erdacht und mit großem Geschick ins Werk gesetzt zu haben, sei – neben dem gewaltsamen Durchhauen des gordischen Knotens des preußisch-deutschen Problems durch die sog. Einigungskriege von 1864 und 1866 (während des preußischen Heeresund Verfassungskonflikts) sowie 1870 – Bismarcks beachtliche Leistung. Doch sei diese um den Preis einer Blockade des politischen Systems erzielt worden. Durch die Degradierung des Reichstags zu einer inferioren Volkskammer der Legislative, wenn auch mit fortschrittlichem Wahlrecht, einschließlich der Anpassung der politischen Parteien an den Status quo ihrer Entmannung und Selbstentmannung, durch die Vermeidung, dem Parlament eine Reichsregierung gegenüber zu stellen, gelang es Preuß zufolge, die immanente Parlamentarisierungs- und Demokratisierungstendenz, wie sie dem monarchischem Verfassungsstaat zueigen sei und international empirisch nachgewiesen werden könne, an ihrer quasi natürlichen, vollen Entfaltung zu hindern. Hinzu kam die Konstruktion des Reiches als Fürstenbund, also aufgrund des dynastisch-obrigkeitlichen Prinzips, der Zwittercharakter des Bundesrats, durch die eigentümliche Symbiose von klein- und mittelstaatlichem Partikularismus mit der preußischen Hegemonie. Ein monarchischer Konstitutionalismus ohne Volks-, Nations- oder (wie in England) Parlamentssouveränität, so im Deutschen Kaiserreich, bleibt für Preuß 29 Hugo Preuß, Der deutsche Nationalstaat (1924), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 441–516.
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letztlich ein Scheinkonstitutionalismus. Ein Föderalismus ohne ungefähres Gleichgewicht der Gliedstaaten, so im Kaiserreich, war für ihn nur ein Scheinföderalismus. Wenngleich er auch im Rückblick die Möglichkeit einer inneren Reform des Kaiserreichs nicht apodiktisch ausschließen will, tendiert er 1924 offenbar dazu anzunehmen, dass, analog dem friderizianisch geprägten Preußen in der Niederlage gegen Napoleon 1806/07, nur die militärische Katastrophe imstande gewesen sei, die strukturellen Hindernisse für eine Neugestaltung aus dem Weg zu räumen. Die geschriebene und reale Verfassung von 1871 diente laut Preuß somit dem Zweck, im Rahmen der unvollkommenen und stecken gebliebenen Nationalstaatsgründung die Eigenstaatlichkeit und damit fast automatisch die Suprematie Preußens im Reich zu konservieren. Dessen Stellung und innere Verhältnisse, die Beziehung Preußens zu Deutschland, machten für Hugo Preuß den Kern des nationalen Verfassungsproblems im Deutschen Kaiserreich aus. Dieses Kernproblem der modernen deutschen Geschichte steht auch im Zentrum der Preuß’schen Analyse der Vorgänge von 1848/49. Dabei sei die Bewegung für Einheit und Freiheit nicht wegen „unzulänglicher Durchdenkung“ der Problematik missglückt, sondern – so 1917 – „wegen des Mangels eines spezifisch politischen Willens, der sich aus dem Mangel praktisch politischer Schulung“ in den Zuständen des Vormärz ergab. Sieben Jahre später hebt Preuß zudem auf die machtpolitischen Restriktionen ab und konstatiert, dass „das Problem des deutschen Nationalstaats nach Lage der damaligen Verhältnisse tatsächlich unlösbar war“30. Das große Verdienst der Pauskirche sieht er in dem weit gediehenen Versuch, ganz Deutschland, dann notgedrungen beschränkt auf das außerösterreichische Deutschland, als „modernen korporativen Nationalstaat“31, also als von unten nach oben aufsteigendes, bürgergenossenschaftliches Gemeinwesen 30 Hugo Preuß, Parlamentarisierung (1917), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 656–660, hier S. 657; ders., Nationalstaat (wie Anm. 29), S. 454. – Zur Problematik Preußens in Deutschland während des 19. und frühen 20 Jahrhunderts vgl. Otto Büsch (Hg.), Handbuch der Preußischen Geschichte, Bd. 2: Das Neunzehnte Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens, Berlin 1992; Wolfgang Neugebauer (Hg.), Handbuch der Preußischen Geschichte, Bd. 3: Vom Kaiserreich bis zum 20. Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens, Berlin 2001; außerdem nach wie vor unentbehrlich Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 8 Bde., Stuttgart u. a. 1990–92; zu der von den Gegnern des Obrigkeitsstaates, auch durch Massenproteste, wiederholt thematisierten Wahlrechtsfrage vgl. Thomas Kühne, Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preußen 1867–1914, Düsseldorf 1994. 31 Preuß, Nationalstaat (wie Anm. 29), S. 449.
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zu schaffen. Andere wichtige Aspekte und Dimensionen von 1848/49, die die Forschung der letzten Jahrzehnte stark betont: der gesamteuropäische, zugleich teilweise auch nationalantagonistische Charakter der Revolution, die sozialen Protestbewegungen in Stadt und Land, die breitenwirksame Fundamentalpolitisierung durch Vereine und Presse sowie die Kapitalisierung und Industrialisierung fördernden Maßnahmen der neuen wie der ihnen folgenden Regierungen (vieles davon von andauernder Wirkung) bleiben außer Betracht. Das 1930/31 erschienene, zweibändige opus magnum von Veit Valentin32, der in der damaligen Historikerzunft ein linksliberaler Außenseiter war, konnte Preuß noch nicht kennen. Und die Auffassungen des konservativen Mainstream der Historiographie liefen immer noch auf eine Abwertung bzw. Unterschätzung der Revolution von 1848/49 zugunsten der Bismarck’schen Reichsgründung hinaus. Die Untersuchung des Rechtsgelehrten Preuß konzentriert sich jedenfalls auf die politische Konstituierung der Nation durch Verfassungsgebung. Die Behandlung der Vorgeschichte – die Sackgasse des römisch-deutschen Reichsuniversalismus und des Duodez-Absolutismus, die partikular-obrigkeitliche Staatsbildung der Dynastien (wobei auch dem süd- und mitteldeutschen Konstitutionalismus und Kammerliberalismus nach 1815 keine national emanzipatorische Rolle zugebilligt wird), die trotz eines anderen Ansatzes das bürokratisch-militärische Wesen des Staates letztlich nicht transzendierenden preußischen Reformen ab 1807 usw. – enthält wenig Originelles. Besondere Aufmerksamkeit verdient aber der analytische Blick auf das Reich-PreußenVerhältnis 1848/49. Nicht ein noch so einschneidendes Ereignis an der Oberfläche wie die Weigerung Friedrich Wilhelms IV., die Kaiserkrone aus den Händen der Paulskirchenversammlung anzunehmen, ist für Preuß maßgeblich, sondern die strukturelle Unverträglichkeit der gesonderten, schon in damaliger Größe übermächtigen preußischen Monarchie innerhalb eines national-deutschen Kaisertums.
32 Veit Valentin, Geschichte der deutschen Revolution von 1848–49, 2 Bde., Berlin 1930/31. Vgl. zum heutigen Kenntnis- und Reflexionsstand Wolfram Siemann, Die deutsche Revolution von 1848/49, 7. Aufl. Frankfurt a.M. 1997; Frank Engehausen, Die Revolution von 1848/49, Paderborn 2007; Rüdiger Hachtmann, Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution, Berlin 1997. – Zu den verfassungsgebenden Versammlungen, namentlich zur Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche, vgl. außerdem Manfred Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848–1850, Düsseldorf 1977; Wilhelm Ribhegge, Das Parlament als Nation. Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, Düsseldorf 1998.
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Wiederholt bezieht sich der Autor auf die italienische Einigung von 1859–61, wo das Königreich Piemont-Sardinien, gewissermaßen als italienisches Preußen, allerdings mit gemäßigt-liberaler Orientierung, mit Hilfe der Volksbewegung die anderen monarchischen Gebilde auf italienischem Boden schlicht annektierte (vollendet erst 1866, 1870 und nach italienischem Verständnis 1919) und damit nolens volens der Parlamentarisierung bzw. Demokratisierung den Weg bahnte. Eine vollständige Borussifizierung Deutschlands durch Weitertreiben der Annexionen von 1866 hätte – hier greift Preuß einen früheren Gedanken von Lassalle auf33 – das Ende des tradierten Preußentums bedeutet, Preußen tatsächlich, wie Friedrich Wilhelm IV. noch im März 1848 vollmundig verkündet hatte, in Deutschland aufgehen lassen und es damit unvermeidlicherweise direkt dem politischen Druck der bürgerlichen Gesellschaft ausgesetzt. Die Weiterexistenz der klein- und mittelstaatlichen Dynastien und Partikularismen war somit eine wesentliche Existenzbedingung des preußischen Obrigkeitsstaates. Deshalb war, so heißt es, „das eigentlich Entscheidende nicht die Frage Monarchie oder Republik an sich, sondern der tiefinnerliche Gegensatz zwischen der Struktur des deutschen Landesfürstentums und dem Wesen des modernen korporativen Nationalstaats“.34 Seit dem ersten Auftauchen des Gedankens einer Einigung Deutschlands unter Preußens Führung im Anschluss an die Befreiungskriege, so argumentiert Preuß unter Berufung auf Friedrich Meinecke35, habe sich diese Vorstellung mit der impliziten Forderung verbunden, den in sich geschlossenen preußischen Einheitsstaat in ein „unmittelbares Reichsland“ umzuwandeln, das sich in „natürliche Teilgebiete“ mit ähnlichem Status wie dem der übrigen Länder hätte gliedern müssen. Unmittelbar plausibel, solange Preußen absolutistisch-bürokratisch regiert wurde, hätte aber selbst die Konstitutionalisierung Preußens 1848/50 das Strukturproblem nicht gelöst. Denn der Partikular-Konstitutionalismus drohte den Separatstaatscharakter innerhalb des Kaiserreichs noch zu verstärken. Das Wesen des dynastischen Militär- und Beamtenstaates hätte sich auch unter konstitutionellen Formen behaupten können. Deshalb hätte das Kalkül 33 Ferdinand Lassalle, Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens, in: Ders., Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 1, Berlin 1919, S. 61: Würde die Berliner Regierung die prekäre Lage des Habsburgerreichs im Krieg gegen das von Frankreich unterstützte Piemont-Sardinien zur „Zerstückelung von Österreich“ ausnutzen, „fällt das besondere Preußen von selbst…, und Preußen und Deutschland decken sich“. 34 Preuß, Nationalstaat (wie Anm. 29), S. 450. 35 Vgl. Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, München 1908; vgl. auch ders., Das Zeitalter der deutschen Erhebung 1795–1815, 2. Aufl. München 1913.
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der Verfassungsväter der Paulskirche in Gestalt der Erbkaiserlichen Partei und der mit ihnen schließlich zusammen gehenden gemäßigten Demokraten darin bestanden, den König von Preußen zur Annahme der Kaiserkrone veranlassen zu können, wenn ihm dadurch die widerwärtige preußische Verfassung erspart bliebe. Die den übrigen einzelstaatlichen Parlamenten entsprechenden Volksvertretungen hätten in einem solchen Fall statt eines gesamtpreußischen Parlaments, in Fortentwicklung der früheren ständischen Provinziallandtage, in den preußischen Provinzen etabliert werden müssen. Faktisch stärkte der Quasi-Staatsstreich der königlichen Exekutive Preußens im November 1848, mit der Auflösung der gesamtstaatlichen gesetzgebenden Versammlung, der sog. Preußischen Nationalversammlung, nach dem Sieg der Gegenrevolution in Wien im Oktober wieder die Hohenzollernmonarchie, auch wenn die oktroyierte Verfassung vom Dezember 1848 den Forderungen der Zeit und den Bedürfnissen des liberalen Bürgertums noch weit entgegenkam. Die Ergänzungen und Revisionen in den Folgejahren (beginnend mit der Einführung des Dreiklassen-Wahlrechts) machten Preußen dann zum Paradebeispiel jenes Konstitutionalismus-Typs mit monarchischem Schwergewicht, den Hugo Preuß immer wieder polemisch als „Scheinkonstitutionalismus“ bezeichnet36.
5. Gesellschaftspolitische Konfliktlinien Hugo Preuß fehlte keineswegs der scharfe Sinn für den gesellschaftsgeschichtlichen Hintergrund der preußischen Verfassungsprobleme. In einem 1899 in der „Nation“ erschienenen Aufsatz zum inneren West-Ost-Gegensatz Preußens hat er die Hohenzollernmonarchie in ihrer Anbindung an das und politisch-sozialen Abhängigkeit von dem ostelbischen Junkertum auch unter der Konstitution analysiert. Die Geschichte des Königreichs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter Einbeziehung der Bürokratie und der zwangsläufig an Gewicht zunehmenden „bürgerlichen Gesellschaft“ interpretiert er kenntnisreich als eine Dreier- bzw. Viererkonstellation. Durch die Umstände ihres Zustandekommens und die persönliche Einstellung Friedrich Wilhelms IV. begründete „die Verfassung in Preußen das einseitigste und härteste Parteiregiment…, freilich nicht das einer parlamentarischen Mehrheitspartei, 36 So etwa in Preuß, Nationalstaat (wie Anm. 29), S. 462. – Die pauschale Charakterisierung erscheint mit Preuß’ früheren Argumentationen nicht recht vereinbar (jedenfalls in ihrer Übertragung auf die Reichsverfassung) und ist wohl der politischen Intention geschuldet: zu suggerieren, dass der Parlamentarismus als eigentlicher und einzig echter Konstitutionalismus anzusehen sei.
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sondern das einer kleinen ostelbischen sozialen Gruppe“. Nachdem das alte Preußen durch seine militärische Macht die deutsche Einheit geschaffen hatte, zeigte sich, dass die „innere Einheit Preußens“ nur „im Rahmen des deutschen Gesamtstaates durchführbar“ sei – und zwar durch die „Verwestlichung Ostelbiens“. Ob die Krone die Kraft aufbringe, sich von der „staatswidrigen feudalen Cliquenwirtschaft“ zu lösen und „die große historische Aufgabe der Entjunkerung Preußens zu erfüllen“, sei keine Frage der Macht, sondern des politischen Willens37. Die Weimarer Republik schleppte Hugo Preuß zufolge jene Defizite nicht weiter mit, die das Kaiserreich daran gehindert hatten, ein wirklicher Nationalstaat zu sein, der nur als Volksstaat realisiert werden konnte. Insofern realisierte die Weimarer Nationalversammlung 1919, was die Frankfurter 1848/49 nicht hatte durchsetzen können. Allerdings hielt Preuß die ReichPreußen-Problematik nach 1918 nur für entschärft, nicht vollständig gelöst. Auch andere Staatsdenker beschäftigten sich weiter damit, nicht zuletzt die führenden, insbesondere sozialdemokratischen Politiker des „Freistaats Preußen“, der zu einem republikanischen „Bollwerk“38 wurde. Die Aufteilung Preußens galt als schädlich, wenn sie nicht mit der Verwirklichung des deutschen Einheitsstaats einherginge, der weiterhin grundsätzlich angestrebt wurde. In den einschlägigen Überlegungen erschienen die Arrondierung Preußens durch den Anschluss kleinerer nord- und mitteldeutscher Länder einerseits, die Verreichlichung Preußens durch die Schaffung von Reichsprovinzen andererseits als denkbare Schritte hin zu diesem Ziel39. Hugo Preuß selbst verteidigte nach dem Scheitern seines Neugliederungsplans nachdrücklich die zwischenzeitliche Existenz eines (im Innern verstärkt dezentralisierten) Landes Gesamtpreußen. „Der notwendigen Stärkung des Reichs, als des deutschen Nationalstaats, kann und muss sich der preußische Partikular-Großstaat op37 Hugo Preuß, West-Östliches Preußen (1899), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 293–314, hier insb. S 306, 308. 38 Vgl. Hans Peter Ehni, Bollwerk Preußen? Preußen–Regierung, Reich–Länder–Problem und Sozialdemokratie 1918–1932, Bonn 1975; Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, Frankfurt a.M. 1977; Siegfried Heimann, Der preußische Landtag 1899–1947. Eine politische Geschichte, Berlin 2011; Thomas Albrecht, Für eine wehrhafte Demokratie. Albert Grzesinski und die preußische Polizei in der Weimarer Republik, Bonn 1999. 39 Vgl. Otto Braun, Einheitsstaat oder Föderalismus? Berlin 1927; Ernst Hamburger, Der Weg zur Reichseinheit, in: Die Gesellschaft 1926/II, S. 303 ff. – Vgl. auch Oswald Hauser (Hg.), Zur Problematik Preußen und das Reich, Köln 1984; Enno Eimers, Das Verhältnis von Preußen und Reich in den ersten Jahren der Weimarer Republik (1918– 1923), Berlin 1969; und wie Anm. 38.
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fern; nicht jedoch der nationalen Zersetzung durch eine Länderstaatlichkeit nach bayrischem Muster“40. Bekanntlich scheiterte die Weimarer Republik. Neben dem Versailler Frieden, der Inflation, dann der Weltwirtschaftskrise sowie der Gewalt und Extremismus begünstigenden politischen Kultur war dabei die republikfeindliche oder ihr gegenüber zumindest distanzierte Haltung der wirtschaftlichen, militärischen, bürokratischen und akademischen Eliten ausschlaggebend. Die Schwäche der Republikaner bestand indessen außerdem darin, dass diese es nicht vermochten, den elementaren vorpolitischen Nationalpatriotismus der breiten Volksschichten, die „Vaterlandliebe“, dauerhaft an die parlamentarisch-demokratische Ordnung zu binden. Doch ist der Befund weit weniger eindeutig als es das zeitgenössische (und bis heute meist unkritisch kolportierte) Schlagwort von der „Republik ohne Republikaner“ suggeriert. Gerade in der ersten Hälfte ihrer Existenz zeugten Ereignisse wie der Generalstreik gegen den Kapp-Lüttwitz-Putsch (einschließlich der Verweigerung der Beamtenschaft) und die Reaktionen auf die Ermordung Walther Rathenaus – mit einem reichsweiten Proteststreik sowie Massenkundgebungen überall im Lande, einer Million Teilnehmer allein in Berlin, eine „einzigartige Demonstration für die Republik“41 – von einer breit vorhandenen 40 Preuß, Um die Reichsverfassung (wie Anm. 27), S. 381. 41 Martin Sabrow, Walther Rathenau, in: Etienne Fraçois/Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte II, München 2001, S. 601–619, hier S. 610. – Vgl. zum Geschehen auch ders., Der Rathenaumord. Rekonstruktion einer Verschwörung gegen die Republik von Weimar, München 1994; ders., Die verdrängte Verschwörung. Der RathenauMord und die deutsche Gegenrevolution, Frankfurt a.M. 1998. – Harry Graf Kessler, Tagebücher 1918–1937, Hg. Wolfgang Pfeiffer-Belli, 4. Aufl., Frankfurt a.M. 1979, S. 324, notierte als Eindruck von einer der Berliner Kundgebungen: „Die Erbitterung gegen die Mörder Rathenaus ist tief und echt, ebenso der feste Wille zur Republik, der viel tiefer sitzt als der vorkriegsmonarchische ‚Patriotismus‘“. – In der Reichstagsdebatte am 25. Juni 1922, dem Tag nach dem Attentat, rief der dem linken Flügel des Zentrums angehörende Reichskanzler Joseph Wirth in großer Erregung, nach rechts zeigend, die Worte aus: „Da steht der Feind, wo Mephisto sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelte … dieser Feind steht rechts“. – Vgl. auch Hugo Preuß, Am Todestag Walther Rathenaus (1923), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 606 f.; sowie ders., Gedächtnisfeier für Rathenau im Reichstag (1923), a.a.O., S. 607 f. – Zu anderen herausragenden Manifestationen eines Massenrepublikanismus vgl. Johannes Erger, Der Kapp-Lüttwitz-Putsch, Düsseldorf 1967; Erwin Könnemann u. a. (Hg.), Aktionseinheit contra Kapp-Putsch, 2 Bde., Berlin 1972; Ulrich Schüren, Der Volksentscheid zur Fürstenenteignung 1926, Düsseldorf 1978. – Zu den rechtlichen und polizeilichen Aspekten des Republikschutzes vgl. Gotthard Jasper, Der Schutz der Republik. Studien zur staatlichen Sicherung der Demokratie in der Weimarer Republik 1922–1930, Tübingen
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Bereitschaft, die Weimarer Demokratie zu verteidigen. Die Problematik dieser Abwehrbereitschaft bestand darin, dass es hauptsächlich die Kräfte der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung waren, die aktiv hervortraten; diese war zwar vorbehaltlos bereit, die politische Demokratie als große Errungenschaft zu schützen, wollte indessen das kapitalistische Fundament der Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung weiterhin schrittweise überwinden42. Das Eintreten der SPD und der Freien Gewerkschaften für die Weimarer Verfassung bedeutete mit anderen Worten nicht die Aufgabe der demokratisch-sozialistischen Zielsetzung. Mit wesentlich stärkeren Vorbehalten war die Verteidigung der Republik beim linkssozialistischen bzw. kommunistischen Flügel der Arbeiterbewegung behaftet, wo man die „bürgerliche Demokratie“ durch die „proletarische“ – zugleich als einstweilige „Diktatur“ über die vordem herrschende Klasse vorgestellt – ersetzen wollte43. 1963; Christoph Gusy, Weimar – die wehrlose Republik? Verfassungsschutzrecht und Verfassungsschutz in der Weimarer Republik, Tübingen 1991; und wie Anm. 38. 42 Die meisten Gesamtdarstellungen zur Geschichte der Weimarer Republik neigen dazu, diesen durchaus relevanten Tatbestand zu ignorieren oder zu gering zu veranschlagen. – Zu dem Transformationskonzept der SPD und ihrer staatsrechtlich-staatstheoretischen Fundierung vgl. Benno Fischer, Theoriediskussion der SPD in der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 1987; Günter Könke, Organisierter Kapitalismus, Sozialdemokratie und Staat. Eine Studie zur Ideologie der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik (1924–1932), Stuttgart 1987; Wolfgang Luthardt, Sozialdemokratische Verfassungstheorie in der Weimarer Republik, Opladen 1986; Joachim Blau, Sozialdemokratische Staatslehre in der Weimarer Republik. Darstellung und Untersuchung der staatstheoretischen Konzeptionen von Hermann Heller, Ernst Fraenkel und Otto Kirchheimer, Marburg 1980; Wolfgang Luthardt (Hg.), Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Weimarer Republik. Materialien zur gesellschaftlichen Entwicklung 1927–1933, 2. Bde., Frankfurt a.M. 1978; Walter Euchner, Sozialdemokratie und Demokratie. Zum Demokratieverständnis der SPD in der Weimarer Republik, in: Archiv für Sozialgeschichte 26 (1986), S. 125–178; Thomas Meyer/Horst Heimann (Hg.), Reformsozialismus und Sozialdemokratie. Zur Theoriediskussion des Demokratischen Sozialismus in der Weimarer Republik, Berlin 1982; Richard Saage (Hg.), Solidargemeinschaft und Klassenkampf. Politische Konzeptionen der Sozialdemokratie zwischen den Weltkriegen, Frankfurt a.M. 1986. – Allgemein und umfassend zur Geschichte der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung vgl. Heinrich August Winkler, Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, 3 Bde., Berlin 1985–87. 43 Zum Demokratieverständnis der USPD und der frühen KPD vgl. Volker Arnold, Rätebewegung und Rätetheorien in der Novemberrevolution, 2. Aufl. Hamburg 1985; Hartfrid Krause, USPD. Zur Geschichte der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Frankfurt a.M. 1975; Robert F. Wheeler, USPD und Internationale, Frankfurt a.M. 1975; Paul Levi, Zwischen Spartacus und Sozialdemokratie. Schriften, Aufsätze, Reden und Briefe, Frankfurt a.M. 1969; Werner T. Angress, Die Kampfzeit
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Für die republikanischen bzw. gegenüber der Republik loyalen Teile des bürgerlichen Spektrums machte die starke Position der SPD und der Gewerkschaften, Ergebnis des Basiskompromisses von 1919, die Bejahung der gegebenen politischen Ordnung schwerer, wobei die Deutsche Demokratische Partei und deren (allerdings stetig schrumpfende) Anhängerschaft die geringsten Berührungsängste zeigten. Insgesamt machte sich jedoch die damit angedeutete strukturelle Schieflage der Weimarer Republik auch auf der Ebene der geschichtlichen Legitimation und des zeittypischen Symbolkampfes geltend, wo die Erinnerung an 1848/49 und die damit verbundenen Symbole einen zentralen Platz einnahm44. Auch hier dominierte die Sozialdemokratie unverhältnismäßig stark.
6. Republikanische Symbole Der revolutionäre Staatsumsturz vom November 1918 als Ausgangspunkt der Republik wurde seitens der neuen Staatslenker bald in den Hintergrund gerückt. Als Erhebung von Arbeitern und Soldaten unter der roten Fahne, untrennbar verbunden mit der Kriegsniederlage, knüpften sich selbst im liberalen Teil des Bürgertums daran wenig positive Assoziationen. Hingegen erhielt der Umbruch von 1918/19 historische Würde zugesprochen als Fortsetzung und Vollendung des 70 Jahre zuvor unternommenen Versuchs, in einer breiten Volksbewegung „Einheit und Freiheit“ zu verwirklichen. Die Erkenntnis, dass die neue Staatsordnung eine eigene Repräsentationskultur entwickeln musste, um emotionale Wurzeln zu schlagen, ließ die der KPD 1921–1923, Düsseldorf 1973; Arnold Reisberg, An den Quellen der Einheitsfront. Der Kampf der KPD um die Aktionseinheit in Deutschland 1921–1922, 2 Bde., Berlin 1971; Klaus Kinner, Der deutsche Kommunismus. Selbstverständnis und Realität, Bd. 1: Die Weimarer Zeit, Berlin 1999; Klaus-Michael Mallmann, Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung, Darmstadt 1996. 44 Für das Folgende vgl. Bernd Buchner, Um nationale und republikanische Identität. Die deutsche Sozialdemokratie und der Kampf um die politischen Symbole in der Weimarer Republik, Bonn 2001; Karl Rohe, Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, Düsseldorf 1966; Nadine Rossol, Performing the Nation in Interwar Germany. Sport, Spectacle and Political Symbolism 1926–1936, Basingstoke 2010; Hans Hattenhauer, Geschichte der deutschen Nationalsymbole. Zeichen und Bedeutung, 2. Aufl. München 1990; Ekkehard Kuhn, Einigkeit und Recht und Freiheit. Die nationalen Symbole der Deutschen, Berlin 1991; Fritz Schellack, Nationalfeiertage in Deutschland von 1871 bis 1945, Frankfurt a.M. 1990. – In weiterer Perspektive vgl. auch Wolfgang Hardtwig (Hg.), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1919–1939, Göttingen 2005.
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Regierungsparteien veranlassen, dass 1920 das Amt eines „Reichskunstwarts“ eingerichtet wurde45. Es gelang wiederholt, große staatsoffizielle republikanische Feiern zu organisieren, die als beeindruckend und in der Außenwirkung erfolgreich wahrgenommen wurden, so 1923 zum fünfundsiebzigjährigen Jubiläum der ersten Deutschen Nationalversammlung. Obwohl es der SPD und der DDP gegen den offenen Widerstand der Rechten und die Verschleppungstaktik der übrigen bürgerlichen Parteien nicht gelang, den 11. August, den Verfassungstag, als Nationalfeiertag gesetzlich zu verankern, wurde der Tag von den Republikanern regelmäßig begangen. Das zehnjährige Jubiläum 1929 sah die Republik noch einmal in der gedenkpolitischen Offensive: Aufmärsche und Fackelzüge am Vorabend, parlamentarische Feierlichkeiten am Vormittag, Parteizusammenkünfte von SPD und DDP am Abend des 11. August. Die wichtigsten Staatssymbole waren mit der Geschichte des 19. Jahrhunderts, namentlich mit „1848“ verbunden. Das nach dem Rathenau-Mord von Reichspräsident Ebert zur Nationalhymne erhobene „Lied der Deutschen“ von Heinrich Hoffmann von Fallersleben hatte seinen geistigen Ursprung zweifellos in der Opposition gegen die vormärzlichen Zustände, war wirklich populär geworden aber erst im Weltkrieg, im allgemeinen Bewusstsein eher mit dem Mythos von Langemarck46 als mit dem der Barrikadenkämpfer des Jahres 1848 verbunden und wurde vielfach nationalantagonistisch verstanden. Trotz der Versuche, die Hymne in den demokratischen Traditionsbestand zurück zu holen, blieb die Wirkung des Liedes wohl ambivalent und gerade deswegen als einziges Staatssymbol fast unumstritten. Die Linke und die linke Mitte betonten, wie schon von Ebert vorgegeben, die dritte Strophe, die Rechte weiterhin die erste Strophe. Hart umkämpft waren hingegen die Farben der Nationalfahne, für die Hugo Preuß in seinem ersten Verfassungsentwurf noch keinen Vorschlag gemacht hatte. Das Rot der Sozialistenfahne, von der USPD favorisiert, war für sämtliche bürgerliche Parteien inakzeptabel, das Schwarz-Weiß-Rot des 45 Vgl. Annegret Heffen, Der Reichskunstwart – Kunstpolitik in den Jahren 1920–1933. Zu den Bemühungen um eine offizielle Reichskunstpolitik in der Weimarer Republik, Essen 1986; vgl. auch Edwin Redslob, Von Weimar nach Europa. Erlebtes und Durchdachtes, Berlin 1972. 46 Laut Heeresbericht sollen in der Nähe des westflanderischen Ortes Langemarck am 10. November 1914 „junge Regimenter“ unter dem Gesang des Deutschlandliedes gegen die feindlichen Stellungen vorgestürmt und diese eingenommen haben. Diese offenbar gezielt in die Welt gesetzte Version entfaltete eine ungeheure Wirkung. Dazu und zur Schilderung der tatsächlichen Vorgänge vgl. Karl Unruh, Langemarck, Legende und Wirklichkeit, Koblenz 1986.
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Kaiserreichs traf auf den heftigen Widerstand der Arbeiterparteien. Auch für die Mehrheitssozialdemokraten stand es für „antinationalen Monarchismus“ und den Geist einer „Herrenkaste“, und Preuß sprach rückblickend gleichfalls von einer „kaiserlichen Fahne des Regiments der Ausnahmegesetze und der Entfremdung der breiten Massen vom Staate“47. In dieser Konstellation erschien das auf das Lützower Freikorps von 1813 und die Urburschenschaft von 1815 zurückgehende, im Vormärz zur deutschen Trikolore gewordene SchwarzRot-Gold48 als Kompromissangebot; es verknüpfte die Weimarer Republik mit der Revolution von 1848/49 und der Frankfurter Nationalversammlung, die durch nichts so sehr symbolisiert wurde wie durch den schwarz-rot-goldenen Dreifarb. Doch ließ sich nicht übersehen, dass 1848 – anders als 1789 mit der blau-weiß-roten Trikolore Frankreichs – wegen der vordergründigen Niederlage keinen massenwirksamen nationalen Befreiungsmythos hatte begründen können. Eine das Kaiserreich überdauernde schwarz-rot-goldene Tradition gab es nur in Kümmerformen, am ehesten bei der (Süd-)Deutschen Volkspartei und auf dem linken Flügel der Freisinnigen. Während Teile der Liberalen nach 1850 das Erbe der Paulskirche in Ehren hielten, richtete sich das Gedenken der Sozialdemokraten auf den 18. März 1848, den Tag des bewaffneten Aufstands in Berlin, der durch einen historischen Zufall zugleich der Kalendertag war, an dem 1871 die Pariser Commune, die Vorbotin der verheißenen proletarischen Revolution, proklamiert worden war. Das Schwarz-Rot-Gold der nationalen Demokratie wurde in der sozialdemokratischen Erinnerungskultur des Kaiserreichs gewissermaßen von dem Rot der Klassenbewegung überlagert49. 47 So z. B. Wilhelm Sollmann 1926, zit. bei Groh/Brandt, Vaterlandlose Gesellen (wie Anm. 24), S. 190; Hugo Preuß, Um die Reichsfarben (1921), in; Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 193. 48 Vgl. – neben diversen Äußerungen von Hugo Preuß, Gesammelte Schriften, Bd. 4, insb. ders., Schwarz-Rot-Gold. Zum Nürnberger Parteitag (1920), a.a.O., S. 155–157 – zeitgenössisch Veit Valentin/Ottfried Neubecker, Die deutschen Farben, Leipzig o. J. – Vgl. außerdem Paul Wentzcke, Die deutschen Farben. Ihre Entwicklung und Deutung sowie ihre Stellung in der deutschen Geschichte. Neue, bis zur Gegenwart fortführende Fassung, Heidelberg 1955; Bernd Gruben, Schwarz, Rot und Gold. Biographie einer Fahne, Berlin 1991. 49 Beatrix W. Bouvier, Die Märzfeiern der sozialdemokratischen Arbeiter, in: Dieter Düding u. a. (Hg.), Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Reinbek 1988, S. 334–351; dies., Zur Tradition von 1848 im Sozialismus, in: Dieter Dowe u. a. (Hg.), Europa 1848. Revolution und Reform, Bonn 1998, S. 1169–1200; Buchner, Um nationale und republikanische Identität (wie Anm. 44), insb. S. 168–184; Wolfgang J. Mommsen, Die Paulskirche, in: François/ Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte II (wie Anm. 41), S. 47–66. – In der Weimarer
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Demzufolge musste nach 1918 auch im linken Segment des politischen Spektrums die neue Fahne erst heimisch gemacht werden. Umso mehr galt das für die bürgerlichen Koalitionsparteien der SPD, das Zentrum und die DDP, welch letztere nach der Annahme des Versailler Vertrags durch die Nationalversammlung mehrheitlich – ebenso ein Teil des Zentrums – nicht mehr bereit war, für Schwarz-Rot-Gold zu stimmen, und die ihnen zugehörigen sozialen Milieus. Doch lässt sich konstatieren, dass die neue Fahne unter den Anhängern der Weimarer Koalitionsparteien von 1919 und denen des gemäßigten Flügels der USPD, der sich 1922 wieder mit der Mehrheitssozialdemokratie vereinigte, zunehmend auch denen der rechten bürgerlichen Mitte an Akzeptanz gewann, wobei auch die „großdeutsche“ Bedeutung von Schwarz-Rot-Gold eine Rolle spielte. Sie war durch den einstimmigen und beiderseits der Grenze euphorisch begrüßten Beschluss der Provisorischen Nationalversammlung Deutsch-Österreichs vom 12. November 1918, sich der „Deutschen Republik“ anzuschließen, aktualisiert worden. Die deutschen Republikaner erinnerten immer wieder an die großdeutsche Tradition der Nationalfarben, die auch für Hugo Preuß die „Farben der großdeutschen Demokratie“ waren50. Preuß war 1924/25 Gründungs- und Vorstandsmitglied des gesamt-republikanisch gedachten, doch faktisch und zunehmend sozialdemokratisch dominierten „Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold“51, zugleich als Kriegsteilnehmerorganisation die Alternative zu Verbänden wie dem „Stahlhelm“ und dem „Kyffhäuserbund“, dann auch der SA, sowie dem „Roten Frontkämpferbund“ der KPD. Schon in seinem Namen verkörperte das Reichsbanner den republikanischen Mythos; es entfaltete einen regelrechten Kult um die schwarz-rotgoldene Fahne. Überhaupt war dieser Bund die wichtigste Vermittlungs- bzw. Propagierungsinstanz der Inhalte und Symbole eines nationalpatriotischen Republik setzte sich die Tradition des 18. März-Gedenkens fort, nahm aber stärker die mit der Paulskirche verbundenen Erinnerungselemente der Revolution 1848/49 mit auf. 50 Hugo Preuß, Bergbriefe (1921), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 194–211, hier S. 205. 51 Rohe, Reichsbanner (wie Anm. 44); Groh/Brandt, Vaterlandslose Gesellen (wie Anm. 24), insb. S. 190 f; Helga Gottschlich, Zwischen Kampf und Kapitulation. Zur Geschichte des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, Berlin 1987; Carsten Voigt, Kampfbünde der Arbeiterbewegung. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und der Rote Frontkämpferbund in Sachsen 1924–1933, Köln 2009; Peter Brandt/Axel Kellmann, Walther Encke – ein „radikaldemokratischer“ Berliner Polizeioffizier am Ende der Weimarer Republik, in: Der Bär von Berlin 1996, S. 119–154. – In der Literatur finden sich diverse Beispiele für die Halbherzigkeit, mit der die meisten Politiker und Anhänger der bürgerlich-republikanischen Parteien das Reichsbanner unterstützten, das dadurch faktisch zu einem Teil der sozialdemokratischen Vorfeldorganisationen wurde.
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Republikanismus, der populare Wehrhaftigkeit, die Pflege freiheitlicher Traditionen und die Vermittlung demokratischer Werte miteinander verband. In einer charakteristischen Formulierung von 1926 ging es darum, „auch dem Einfachsten eine Ahnung, und sei sie noch so dumpf, vom geschichtlichen Sinn seines Handelns“ zu geben. Mit einer „nur negativen Einstellung zum reaktionären Geschichtsbild“ sei der links eingestellte Deutsche „ohnmächtig gegenüber einem Gegner, dessen Willensbildung auf der großen Macht der Vergangenheit beruht, und sei diese Vergangenheit noch so lächerlich und primitiv gedeutet“.52
7. Fazit Man wird Hugo Preuß nicht Unrecht tun, wenn man die zutiefst politische, wenn auch nicht tagespolitische Motivation seiner gesamten Publizistik einschließlich der im engeren Sinn wissenschaftlichen abschließend hervorhebt. Insbesondere gilt das für die historischen und zeithistorischen Arbeiten, in denen er seine beachtlichen Kenntnisse der deutschen und europäischen Geschichte nicht einfach ausbreitete, sondern stets in eine stringente, auf politische bzw. verfassungspolitische Konsequenzen zielende Argumentation einbaute. Die historische Legitimierung seiner demokratischen Position, die er aus der fortschrittlich-freiheitlichen Linie der modernen deutschen, namentlich preußisch-deutschen Geschichte bezog, beginnend mit den Stein-Hardenberg’schen Reformen und den antinapoleonischen Unabhängigkeitskriegen über die Urburschenschaft und den vormärzlichen Liberalismus bis zur Revolution von 1848 mit der Paulskirchenversammlung, entsprach den bei den deutschen Republikanern, namentlich den Sozialdemokraten, generell üblichen Bezügen. Ungeachtet dessen, dass Manches und manche Gestalten (so der Freiherr vom Stein) ein wenig zu modern gezeichnet wurden, handelte es sich nicht allein um eine vordergründige, rein propagandistische Berufung auf ein Erbe, das großenteils auch von der Rechten in Anspruch genommen wurde. Vielmehr ging es Hugo Preuß als einem der Protagonisten eines solchen Ansatzes darum, die erste deutsche Demokratie und die parlamentarisch-demokratische Verfassung in ihren teilweise verschütteten, teilweise royalistisch missdeuteten Traditionen erinnerungskulturell zu aktivieren. Damit sollte die 52 Das Reichsbanner. Zeitung des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold. Bund republikanischer Kriegsteilnehmer v. 01.05.1926, zit. nach Rohe, Reichsbanner (wie Anm. 44), S. 231 f.
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Weimarer Republik als nicht nur national legitimes, sondern im Hinblick auf die moderne Nations- und Nationalstaatsbildung folgerichtiges Ergebnis der Geschichte im politischen Bewusstsein der Republikaner und der Deutschen überhaupt verankert werden, so dass der Verfassungspatriotismus zum eigentlichen Nationalpatriotismus avancieren würde. Dass es dahin nicht kam, ist nicht zu übersehen. Weniger offensichtlich ist, obwohl das vielfach suggeriert wird (und die Folgeereignisse als solche das nahe legen), dass „Weimar“ einen von vorne herein aussichtslosen Kampf führte. Wenn man die Jahre 1918/19 bis 1932/33 wieder mehr unter dem Aspekt alternativer Entwicklungen und konkreter Entscheidungssituationen in den Blick nähme, könnte das vielleicht dazu beitragen, den Horizont zu erweitern, um neue Fragen zu stellen und neue Antworten auf alte Fragen geben zu können.
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Ungelöste Probleme der Verwaltungsreform und der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Preußen
Ein Thema, das einerseits der Genealogie eines modernen Preußen, andererseits dem 150. Geburtstag von Hugo Preuß gilt, zeigt schon dadurch ein Doppelgesicht. Es betrifft hier einerseits die heutige Sicht auf ungelöste Probleme in Preußen, andererseits deren Diagnose durch Hugo Preuß. Mir ist klar, dass Historiker im Rahmen sozialgeschichtlicher Forschung und auch von Detailanalysen preußischer Verwaltungsgeschichte zur erstgenannten Frage sehr viel zusammengetragen haben, das ich nicht alles nachvollziehen kann. Mein Interessenschwerpunkt ist Hugo Preuß und sein Werk, zunächst vom staatstheoretischen Ansatz her. Aber dann geht es auch – das hat sich bei der Entscheidung über die Bandgliederung der Schriften1 herausgestellt und, denke ich, bewährt – um die Diskussion der Verwaltungsreform2. Das hier behandelte Thema hängt, wie ich zu zeigen hoffe, mit der Begriffsbildung schon durch den jungen Preuß aufs engste zusammen, auch wenn die Zusammenhänge sowohl mit der politischen Geschichte als auch mit der Kommunalpolitik gewiss nicht bestritten werden können und sollen. Daher werde ich den Schwerpunkt auf die Diskussion der Sichtweise von Verwaltungsreform und Verwaltungsgerichtsbarkeit durch Preuß legen. Zur allgemeinen Problemsituation Preußens möchte ich zuvor einige Bemerkungen machen, deren allgemeine, lückenhafte und ergänzungsbedürftige Natur mir bewusst ist; ich hoffe, dass weitere Diskussionen dieses Tableau der Probleme des Preußen um 1900 ergänzen und differenzieren werden. Insofern scheinen mir vor allem drei Themenbereiche erörterungsbedürftig. Ein erster betrifft das Verhältnis traditioneller Herrschaftsstrukturen – Krone, Adel, Offizierskorps – zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Das ist das Thema des Beitrags von Frau Wienfort und sollte in diesem Zusammenhang behandelt werden; ich werde es daher, im vollen Bewusstsein seiner Bedeutung, im folgenden ausklammern. Dagegen möchte ich in zwei einleitenden Abschnitten einige 1 Die Tübingen 2007 ff. erscheinenden Gesammelten Schriften von Hugo Preuß werden nachfolgend mit GS abgekürzt. 2 Dieser Bereich hebt sich von der politisch-geschichtlichen Thematik (Bd. 1, Albertin) wie von der kommunalwissenschaftlichen Thematik (Bd. 5, Müller) ab.
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Bemerkungen zur Territorialentwicklung und Inhomogenität des preußischen Staates (nachfolgend Nr. 1) und zum Verhältnis der Verfassungsstaatlichkeit zum monarchischen Prinzip als Grenze einer Reformfähigkeit Preußens machen (nachfolgend Nr. 2).
1. Die Heterogenität der preußischen Territorien Jede Erörterung einer Verwaltungsreform in Preußen muss die Heterogenität des Staatswesens in Rechnung stellen. Preußen war ja im 17.–19. Jahrhundert enorm gewachsen, und auch wenn manche erworbenen Gebiete wieder verloren gingen, war es ein buntscheckiges Konglomerat von Territorien. Brandenburg, an dem die Kurfürstenwürde hing, hatte mit Preußen, nach dem sich die seit 1701 gekrönten Könige benannten, territorial und strukturell wenig gemein, sondern war zunächst nur durch Erbfolge und Personalunion verbunden3. Das eigentliche Preußen, später Ostpreußen genannt, dessen König doch nun Kurfürst sein sollte, gehörte nicht einmal zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und zum Deutschen Bund. Auf der westlichen Seite erwarb die Monarchie immer neue, unter sich und mit dem Stammland nicht zusammenhängende Gebiete wie Kleve, Mark, dann Halberstadt, Minden und Magdeburg, um nur einige zu nennen. Vor allem aber die drei Teilungen Polens vergrößerten Preußens Territorium enorm und durch teilweise polnischsprachiges, schwer integrierbares Gebiet. Auch wenn sich die Quantität dieses Problems durch die folgenden Verluste eines Teils dieser Gebiete minderte, blieb es, wie noch zu zeigen sein wird, ein Grundproblem preußischer Verwaltungsorganisation. Nach den – teilweise durch den Reichsdeputationshauptschluss ausgeglichenen – Gebietsverlusten im Westen während der napoleonischen Zeit rundete der Wiener Kongress Preußens Stellung im Rheinland und Westfalen ab. Erst recht aber brachten die Annexionen nach dem Krieg von 1866 enorme Territorialgewinne und ein anscheinend weitgehend geschlossenes Staatsgebiet. Aber dessen Heterogenität wurde dadurch nicht behoben, sondern im Gegenteil durch neue Gegensätze erweitert. Im neu gegründeten Reich führte die Verbindung von dessen Regierung – soweit man, mit der Fragestellung von Hugo Preuß, überhaupt von einer „Organisation der Reichsregierung“ sprechen konnte4 – 3 Plastisch die Darstellung, auch für das Folgende, durch Gerhard Köbler, Historisches Lexikon der deutschen Länder, 4. Aufl. München 1992, S. 477 ff. 4 Hugo Preuß, Die Organisation der Reichsregierung und die Parteien (1890), in: GS Bd. 1, S. 155 ff.; die Schrift ist zusammen mit dem Habilitationsvortrag über Die organische
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mit den preußischen Ministerien nicht nur zur vielberufenen Verpreußung des Reichs, sondern auch zu zusätzlichen Heterogenitätselementen in der preußischen Verwaltungsstruktur, so dass man von einer Verreichlichung Preußens sprechen kann. Insgesamt erforderten unterschiedliche Traditionen, die ihrerseits mit ganz unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen zusammenhingen, unterschiedliche Regelungen, ob diese nun vom französischen Zentralismus der Bürgermeisterverfassung, von traditionellen Elementen wie in Brandenburg oder von den Nationalitätskonflikten wie in Posen geprägt waren. Nicht zufällig hieß die preußische Gesetzessammlung im uns interessierenden Zeitraum noch „Gesetz-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten“ und anerkannte diese Staaten als eigenständig in einer nur von der Monarchie zusammengehaltenen Verbindung. Hatte das aufklärerische Preußen noch durch seine Gesetzgebung, vor allem das Allgemeine Landrecht, eine einheitliche Rechtslage für das damalige Territorium herzustellen getrachtet5, so erwies sich diese als im Gesamtstaat kaum realisierbar. Der Versuch einer Gemeinde-Ordnung für den Preußischen Staat6, in Gesetzesform gegossen noch im unmittelbaren Anschluss an den Erlass der Verfassung vom 31.1.1850, hielt der erstarkenden Reaktion nicht lange stand, wurde bereits durch Erlass vom 19.6.1852 unterbunden und bald durch sieben Gemeindeordnungen für die einzelnen Landesteile zwischen 1853 und 1856 aufgegeben7. So eindrücklich jener Versuch als Programm im Gedächtnis bleiben mochte, nachhaltig eine einheitliche Struktur der Verwaltung hat er nicht prägen können. Interessanter war schon, dass die Städteordnung für die sechs östlichen Provinzen vom 30.5.18538, wie die früheren seit 1808, auch für die Städte der Provinz Posen gelten sollte und damit deren Sonder-Problematik nicht anerkannte. Welche Folgen hatte das für das Nationalitäten-Problem? Immerhin wurde Posen 1881 vom Geltungsbereich der Kreisordnung und der Provinzialordnung9 ausgenommen. Um so mehr stand die östliche Bedeutung der Art. 15 und 17 der Reichsverfassung (1889), in: GS Bd. 2, S. 405 ff. zu sehen. 5 So Köbler (zit. Fn.3), S. 478. 6 Vom 11.3.1850 (PrGS S. 213), auch bei: Engeli/Haus, Quellen zum modernen Gemeindeverfassungsrecht in Deutschland, Stuttgart 1975, S. 314 ff. 7 Zur Geschichte im einzelnen Engeli/Haus, S. 310, 313; vgl. auch Günther Grünthal, Parlamentarismus in Preußen 1848/49–1857/58, Düsseldorf 1982, S. 182 ff., 301 ff. 8 PrGS S. 261, auch bei Engeli/Haus, S. 373 ff. 9 In der Fassung vom 19.3.1881 (PrGS S. 179, 180, 234); zu den Gründen Preuß, GS Bd. 2, S. 687 f.
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Städteordnung im Gegensatz zu denen der andern Provinzen, sei es durch das Fehlen einer Ordnung für die Landgemeinden – bis 1891! –, sei es durch die dort einheitlichere und überwiegend modernere Ordnung des Verhältnisses von Stadt und Land. Diese Problematik spitzte sich schon anlässlich des Konflikts um die Kreisordnung bei deren Erlass 187210 zu; darauf wird zurückzukommen sein.
2. Monarchisches Prinzip: Relativierung der Verfassungsstaatlichkeit Aber zuvor gilt es, das andere Hindernis einer Verwaltungsreform in Preußen zu beleuchten. Gewiss, das Preußen des 19. Jahrhunderts war Verfassungsstaat, zunächst imperfekt, da die „landständische Verfassung“ im Sinne des Art. 13 der Deutschen Bundesakte allenfalls und notdürftig durch provinzialständische Vertretungen realisiert wurde11, jedenfalls jedoch seit 1848 und der Verfassung vom 31.1.1850. Aber diese Konstitutionalisierung harzte. Die anlässlich der Befreiungskriege gegebenen, durch die Denkschriften der Reformperiode vorbereiteten Verfassungsversprechen blieben zunächst folgenlos, und die Wiener Schlussakte vom 15.5.1820 schränkte die Tragweite der landständischen Verfassung ein. Wenn „die gesammte Staatsgewalt in dem Oberhaupte des Staates vereinigt bleiben“ (Art. 57) musste, so war damit auch die Aufgabe, für die Einheit des Staates zu sorgen, beim Monarchen monopolisiert. Er war es, der die heterogenen Bestandteile des von ihm beherrschten Gebiets zusammenzuhalten hatte. Die Verfassung mochte dazu als zusätzliches Instrument dienen; aber sie durfte die Substanz der monarchischen Herrschaft nicht tangieren. Der Monarch hatte, schon bei Erlass der Verfassung, eine maßgebliche Rolle12, und als Träger der Gesamtheit der Staatsgewalt hatte er Anteil an allen staatlichen Funktionen. Folglich durfte und konnte eine Verwaltungsreform diese Position nicht in Frage stellen. Das monarchische Prinzip musste in allen Einzelentscheidungen und Untergliederungen des Staates zur Geltung kommen. Vor diesem Hintergrund ist die preußische Konstituierung 1848–50 zu sehen, mit der Verlagerung und Auflösung der Nationalversammlung, der oktroyier10 Gesetz vom 13.12.1872 (PrGS S. 661). 11 So die beschönigende Interpretation durch Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1, Stuttgart 1960, S. 657. 12 Dazu statt aller Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie (1967), in: Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt 1976, S. 112 ff.
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ten Verfassung, dem durch Notverordnung eingeführten Dreiklassenwahlrecht, der Ablehnung der Kaiserkrone entsprechend dem Angebot der Frankfurter Nationalversammlung und dem Insistieren der Krone auf Einzelbestimmungen der revidierten Verfassung vom 31.1.1850. Dies prägte auch die Entwicklung in die Reaktionsphase, die Umbildung der Ersten Kammer zum Herrenhaus und schließlich den Verfassungskonflikt. Zwar gilt seit dem 5.12.1848 die Verfassung, aber sie ist vom Monarchen von Gottes Gnaden erlassen. Zwar wird die Übereinstimmung mit beiden Kammern hergestellt, aber unter erheblichem Druck, durch die Manipulation des Dreiklassenwahlrechts und unter Vorbehalt künftiger Manipulationen, wie sie sich später als „Lücke“ der Verfassung offenbaren. Dieser anhand der historischen Fakten kaum bezweifelbare Befund mag unterschiedlicher Deutung zugänglich sein; man kann die konstitutionelle Monarchie deutschen, speziell preußischen Typs als dilatorische Lösung auf dem Weg zum Dezisionismus (Carl Schmitt), zu einer künftigen Demokratisierung (Ernst-Wolfgang Böckenförde) oder als eigenständigen Verfassungstyp (Ernst Rudolf Huber) auffassen13. Angesichts der immerhin erheblichen Dauer des Vorherrschens der konstitutionellen Monarchie in der dargestellten Form einerseits, der zahlreichen Variationen und Erscheinungsformen der konstitutionellen und parlamentarischen Monarchien im Europa des 19. Jahrhunderts andererseits lässt sich die These von der deutschen konstitutionellen Monarchie als besonderem Typus gut begründen. Aber dann gehört zu seinen Kennzeichen, dass er durch den Vorbehalt der monarchischen Autorität als Grenze der Verfassungsstaatlichkeit bestimmt ist und insofern den Verfassungsbegriff in einer von westeuropäischen Modellen abweichenden Weise relativiert, also die monarchische Prägung aller Staatsgewalt und namentlich der Verwaltungsstruktur aufrecht erhält. Für Preußen, zur Einheit zusammengefügt, wie gezeigt, durch die monarchische Gewalt, beschränken diese Rahmenbedingungen jede Verwaltungsreform und erfordern, den Einfluss der Krone und der ihr verantwortlichen Zentralgewalt aufrecht zu erhalten.
3. Ausgangspunkte im staatstheoretischen Frühwerk von Preuß Damit komme ich zum Hauptteil meiner Ausführungen, der sich mit der Behandlung der Probleme von Verwaltungsreform und Verwaltungsgerichts13 Zur Diskussion dieser Varianten Dian Schefold, Verfassung als Kompromiss?, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 1981, S. 137 ff.
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barkeit durch Hugo Preuß beschäftigt. Insofern scheint mir entscheidend, festzuhalten, dass Preuß zunächst keinerlei spezielles Interesse an diesem Fragenkreis hatte. Der Einfluss, den Rudolf Gneist auf den jungen Preuß hatte, betraf Fragen des Gesetzesvorbehalts, vor allem hinsichtlich der Friedenspräsenzstärke14 und der Ministerverantwortlichkeit, auch auf Grund des englischen Vorbilds15, und äußerte sich darüber hinaus in großem persönlichem Respekt. Aber weder Gneists Rolle bei der Vorbereitung der Kreisordnung noch der Verwaltungsgerichtsbarkeit scheinen die frühen Schriften von Hugo Preuß beeinflusst zu haben. Im Gegenteil: durch die Verbindung mit Otto von Gierke konzentriert sich Preuß’ Interesse in der Habilitationsschrift über „Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften“ (1889) auf den Begriff der Gebietskörperschaft und dessen Ausprägung. Ausgangspunkt ist das Nebeneinander von Gliedstaat und Reich, also die Bundesstaats-Konzeption. Einbezogen wird dann auch die Betrachtung der ursprünglichen genossenschaftlichen Gebietskörperschaften und damit vor allem der Städte. In diesem Zusammenhang rücken dann allerdings auch andere gebietskörperschaftliche Einheiten ins Blickfeld: wie auf internationaler Ebene die Weltgemeinschaft, so zwischen Gemeinde und Staat die Kreise und, speziell für Preußen, die Provinzen. Aber von seinem – von Gierke geprägten – rechtshistorischen und rechtstheoretischen, dann bundesstaatsrechtlichen Ausgangspunkt erkennt Preuß die Grenzen seiner Untersuchung und setzt sich ausdrücklich von einer verwaltungsrechtlichen Fragestellung ab16. Im Gegenteil: nähere Durchsicht zeigt eine in der Rezension des Werks durch Albert Hänel17 wohl nicht ohne Grund gerügte Tendenz zur Harmonisierung der Befunde, wenn etwa das Fehlen der noch gar nicht erlassenen Landgemeindeordnung für das ostelbische Preußen kaum thematisiert, die Kreis- und Provinzialverfassung ohne präzisere Diskussion als körperschaftlich qualifiziert oder das Wohnsitzkriterium für die Zugehörigkeit nicht nur kommunal, sondern auch zwischen den Gliedstaaten des Reichs als maßgeblich betrachtet wird. Preuß’ Schluss: „Auf der Grundlage der Genossenschaftstheorie und dem aus ihr fließenden Begriff der Gebietskörperschaft erhebt sich einheitlich und geschlossen 14 Dazu die Schrift: Friedenspräsenz und Reichsverfassung (1887), jetzt in: GS Bd. 2, S. 333 ff. und dazu meine Einleitung, S. 7 ff., insb. 9 f. 15 Dazu die Schriften: Eine Biographie des englischen Parlaments, sowie: Finis Britanniae (1886), jetzt in: GS Bd. 1, S. 98 ff., 105 ff. 16 Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, S. 218 Fn. 35. 17 Albert Hänel, Zur Revision der Methode und Grundbegriffe des Staatsrechts, AÖR 5 (1890), S. 457 ff.
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die Konstruktion des deutschen Staates“18, passt zwar hervorragend in die Gierke-Schule, klingt aber doch in theoretischer Rekonstruktion nach einer Idealisierung des Kaiserreichs. So bestimmend die in der Habilitationsschrift von Preuß entwickelte „Konstruktion des deutschen Staates“ für seine weitere Arbeit war, und so sehr sich seine rechtspolitischen, auch rechtskonstruktiven Postulate daraus ableiten lassen, für die konkrete Arbeit waren zusätzlich weitere Erfahrungen bestimmend19. Für den theoretischen Ausgangspunkt ist jedoch wichtig, dass der Begriff der Gebietskörperschaft, wie er in der Habilitationsschrift erarbeitet worden ist, mit dem Gneist’schen Konzept des Self-government wenig gemein hat. Gneist hat seine Darstellung der englischen Kommunalverfassung immer als Bestandteil seiner Arbeiten über das englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht verstanden20 und deshalb auf das Staatsganze bezogen, das eine Vielzahl gesellschaftlicher Interessen zu integrieren hat. Die Vertretung dieser Interessen im einheitlichen Staat durch Ehrenbeamte ist Self-government; die lokale – städtische und Grafschafts-Ebene – ist immer auf den Staat bezogen. Der Staat ist somit politische Einheit, juristische Person. Angesichts der romanistischen Ausrichtung Gneists21 könnte es nahe liegen, hier eine Nähe zur romanistischen Theorie und zu ihrer Rezeption im Staatsrecht, namentlich durch Paul Laband und seine Schule, zu sehen. Umgekehrt: Das von Gierke geprägte Konzept genossenschaftlicher Formationen auf verschiedenen Ebenen, von denen jede eine abgeschlossene, gebietskörperschaftliche Legitimation beanspruchen kann, hat mit der Gneist’schen Selbstverwaltungstheorie wenig zu tun. Der erste Methodenstreit in der Staatsrechtslehre – vor dem um 1911 ausgebrochenen, der die Weimarer Diskussion bestimmt hat – ist vom Gegensatz zwischen Germanistik und Romanistik in der Historischen Rechtsschule bestimmt. Insofern sind die gedanklichen Ansätze bei Preuß als Germanisten und Gneist als Romanisten ganz verschieden, auch wenn sich
18 Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, S. 419. 19 Deren Gewicht habe ich vielleicht in früheren Arbeiten unterschätzt; vor allem: Dian Schefold, Hugo Preuß: „Aus dem großen Zusammenbruch den demokratischen Volksstaat retten“, in: Recht und Politik 1997, S. 144 ff. 20 Vgl. die bibliographischen Angaben bei Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jh., 2. Aufl. Stuttgart 1969, S. 380 Fn. 1, Erich J. Hahn, Rudolf von Gneist 1816–1895, Frankfurt 1995, S. 278 f.; Dian Schefold, Selbstverwaltungstheorien: Rudolf Gneist und Hugo Preuß, in: Detlef Lehnert/ Christoph Müller (Hg.), Vom Untertanenverband zur Bürgergenossenschaft, Baden–Baden 2003, S. 97 (98 Fn. 3), dort auch zum Folgenden. 21 Dazu mit wertvollen Belegen Hahn, S. 260 f.
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diese Unterschiedlichkeit, durch den großen Respekt des jungen Preuß vor dem Meister das Fachs Gneist, um 1890 noch nicht zuspitzt.
4. Perspektivenwechsel anhand von Erfahrungen aus der Praxis Eine kritischere Sicht der real existierenden Selbstverwaltung in Preußen bildet sich bei Preuß erst in den folgenden Jahren heraus, geprägt vor allem durch die Erfahrungen praktischer Kommunalpolitik. Dabei verbinden sich verschiedene Erfahrungen und Erkenntnisse. a) Eine Schlüsselrolle dürfte, wie schon Gillessen herausgearbeitet hat, dem Konflikt um die staatliche Leitung des Schulwesens zukommen22, den Preuß mehrfach, am schärfsten angesichts der ministeriellen Einschränkung der Lehrtätigkeit jüdischer Lehrerinnen durchzustehen hatte. Die nach herrschender Auffassung bestehende Ambivalenz zwischen Schulverwaltung als eigener Angelegenheit der Gemeinden und staatlichem Einfluss, in der preußischen Verfassungsurkunde (Art. 21–26) vorgezeichnet, aber lange gesetzlich nicht konkretisiert, führte in der Praxis zu der von Preuß immer wieder gegeißelten Einmischung des Staates. Preuß lehnte auch die – immerhin Art. 24 III der Verfassungsurkunde zugrunde liegende – Trennung innerer und äußerer Schulangelegenheiten ab23: Schule ist Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft und daher vom Recht der Selbstverwaltung gedeckt, das nur nach Maßgabe staatlicher förmlicher Gesetze Staatseingriffe zulässt. Entsprechend ist das staatliche Bestätigungsrecht für kommunale Amtsträger, soweit vorgesehen, als bloße Kompetenz zur Überprüfung des Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen für die Bestellung eines Amtsträgers zu deuten24; die Organbestellung bleibt Aufgabe der zuständigen Gebietskörperschaft. Dass diese Betrachtungsweise der preußischen Praxis – und, wird man hinzufügen müssen, wohl auch Rechtslage25 – nicht entsprach, musste Preuß freilich immer wieder konstatieren. 22 Günther Gillessen, Hugo Preuß, Berlin 2000, S. 64 ff.; vgl. auch Siegfried Grassmann, Hugo Preuß und die deutsche Selbstverwaltung, Lübeck 1965, S. 62 ff., mit Darstellung der zugrundeliegenden schulrechtlichen Kontroverse S. 58 ff. 23 Das Recht der städtischen Schulverwaltung in Preußen, Berlin 1905, demnächst in GS Bd. 5; grundlegend in: Das städtische Amtsrecht in Preußen, Berlin 1902, Kap. IX S. 272 f.; vgl. auch die diesbezügliche Kritik an Anschütz in der Rezension zu dessen Verfassungskommentar, jetzt in: GS Bd. 2, S. 570 (577). 24 Das städtische Amtsrecht, Kap. VII S. 169 ff. = Preußische Jahrbücher 107, 1902, S. 261 ff., jetzt in: GS Bd. 2, S. 527 ff. 25 Hinsichtlich der Lehrer standen immerhin Art. 23 II, 24 III 2 PrVUrk. entgegen.
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b) Noch grundsätzlicher wurde Preuß’ Vision einer Pyramide von Gebietskörperschaften, von der Gemeinde zur Weltgemeinschaft, dadurch in Frage gestellt, dass die unterste Ebene keineswegs flächendeckend gebietskörperschaftlich strukturiert war. Die Städteordnungen galten ja, anders als etwa die Gemeindeordnung für die Rheinprovinz (1845) oder die kurhessische Gemeindeordnung (1834), und entgegen dem Anspruch der kurzlebigen preußischen Gemeindeordnung von 1850, nur für die Städte, und für die ganz überwiegende Zahl und auch Fläche der Landgemeinden blieb die Regelung bis 1891 ganz lückenhaft. Es gab zwar die beiden Gesetze über die ländliche Obrigkeit und über die Landgemeindeverfassung vom 14.4.185626; aber sie bestätigten eher die gutsherrliche Herrschaft auf dem platten Lande27. Noch die Kreisordnung von 1872, auf die und deren Rolle für die Landgemeinden gleich zurückzukommen sein wird, setzte sich nicht in eine weitere Regelung für die Gemeindeebene fort. Erst nach Bismarcks Entlassung kam es zum Erlass der Landgemeindeordnung für die sieben östlichen Provinzen vom 3.7.189128. Gewiss, sie konstituierte die Landgemeinden als Selbstverwaltungskörperschaften (§ 5) und führte eine, wenn auch mit Besitz verbundene, Regelung des Gemeinderechts, also der Mitwirkung an der Selbstverwaltung, ein (§§ 39 ff.). Aber der Landrat behielt intensive Aufsichts- und Eingriffsrechte, die Gutsbezirke bestanden fort und behinderten die Entwicklung der körperschaftlich strukturierten ländlichen Zentren, und die Gemeinden blieben großenteils so schwach, dass die „Verbindung nachbarlich belegener Gemeinden und Gutsbezirke behufs gemeinsamer Wahrnehmung communaler Angelegenheiten“ (4. Titel, §§ 128 ff.) notwendig war und zum Schwerpunkt der Verwaltung, vor allem der als übertragene staatliche Aufgabe konzipierten Ortspolizei wurde. Insofern aber wurde nicht etwa die Lösung von Gemeindezusammenschlüssen in der Art der (heute noch in Niedersachsen existierenden) Samtgemeinden mit eigener Selbstverwaltung gewählt, sondern eine bürokratische Amtsorganisation, zwar als Ehrenamt, aber ohne effektive demokratische Legitimation geschaffen. c) Schon dies zeigt, dass sich die Selbstverwaltung im ländlichen Bereich nach wie vor entscheidend auf die Kreise stützte, so dass deren Regelung, von Preuß in der Habilitationsschrift noch eher stiefmütterlich behandelt, die Schlüsselfrage für die Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems war. In der Tat aber war der Erlass der Kreisordnung, unter wesentlichem Einfluss Gneists, ein für das Preußen der Jahre um die Reichsgründung hoch konfliktiver 26 PrGS S. 354, 359. 27 So Engeli/Haus, S. 540 m. Nachw. 28 PrGS S. 233, auch bei Engeli/Haus, S. 543 ff.
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Prozess; denn es galt, die teils in den Landesteilen ganz unterschiedlichen, vor allem aber in den Städteordnungsprovinzen ganz auf die – feudale Relikte festschreibenden – Regelungen der 1820erjahre gestützten Regelungen der Landkreise zu modernisieren und zu vereinheitlichen. Seit der Umwandlung der Ersten Kammer in das Preußische Herrenhaus (1854) war klar, dass dies nur gegen erbitterten Widerstand der betroffenen Großgrundbesitzer möglich sein würde. Dieser Prozess des Erlasses der Kreisordnung ist oft beschrieben worden, durch Preuß, aber auch schon vor und nach ihm29. Den heftigen Debatten lässt sich entnehmen, dass die Frage der Kreisstruktur die „erbliche Obrigkeit“ auch neben der Krone betraf30. Insofern gehörte Gneist, in scharfem Gegensatz zu den Adelsvertretern im Herrenhaus, zu den Reformern, die für das Ehrenamt, für eine Mitwirkung fähiger Bürger plädierten, als Vertreter der Gesellschaft und im Gegensatz zum Eigeninteresse patrimonialer Herrschaft der Junker31. Aber diese Betonung des Allgemeininteresses bedeutete für ihn zugleich eine Abwehr des Parteiwesens, wie es mit der parlamentarischen Herrschaft verbunden war, und des Lokalegoismus, wie er – so Gneist – auch in der Gemeindeordnung von 1850, dem darauf gestützten Plan einer Kreis- und Bezirksorganisation sowie der Vorstellung von einem eigenen Wirkungskreis der örtlichen Gemeinschaft zum Ausdruck kam. Im Gegensatz dazu war für Gneist Selbstverwaltung, neben einer wirtschaftlichen Betätigung, vor allem Mitwirkung der Ehrenbeamten am obrigkeitlichen, also staatlichen Regiment auf lokaler Ebene. Dazu gehörte der verbeamtete, vom Monarchen ernannte Landrat im Kreis ebenso wie die Mitwirkung ehrenamtlicher Mitglieder des Kreisausschusses, die vom aufgrund des Dreiklassenwahlrechts gewählten Kreistag zu wählen waren. Dass dieser Kreisausschuss die Landgemeinden beeinflusste, namentlich den Amtsvorsteher benannte, war diesem Konzept ebenso wenig fremd wie die Verwaltung der Regierungsbezirke und Provinzen durch staatliche Beamte unter Mitwirkung von Ehrenbeamten auf der jeweiligen Ebene. Aber von einer eigenständigen Organisation der jeweiligen Ebene der Gebietskörperschaften konnte bei dieser Vermengung staatlicher Verwaltung mit Bürgerbeteiligung schwerlich gesprochen werden. 29 Für die Darstellung in Preuß’ Denkschrift von 1910 jetzt GS Bd. 2, S. 659 ff.; davor ist zunächst Rudolf Gneist, Die preußische Kreisordnung, Berlin 1870; sodann Heinrich von Treitschke, Zehn Jahre deutsche Kämpfe 1865–1874, Berlin 1874 zu nennen; aus heutiger Sicht mit Nachweisen E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 4, Stuttgart 1969/82, S. 351 ff. 30 So die charakteristischen Äußerungen von Graf Brühl und Kleist-Retzow am 22.10.1872, wiedergegeben bei Preuß, GS Bd. 2, S. 661. 31 Vgl. Schefold, Selbstverwaltungstheorien (zit. Fn. 20), S. 104 f.
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d) In eine solche Verwaltungsorganisation mochte sich der Gedanke einfügen, dass der Schutz lokaler Interessen durch das Ehrenamt zugleich Rechtsschutz sei, der durch den obrigkeitlichen Charakter der Organisation auch mit dem Schutz der Gesetzlichkeit, einer Kontrolle über die unteren Verwaltungsbehörden verbunden sein könne. Dieser Gedanke lag dem von Gneist parallel zum Erlass der Kreisordnung entwickelten Konzept der Verwaltungsgerichtsbarkeit zugrunde32. Trotz der Grundlegung in Gneists England-Studien und der scharfen Absetzung gegenüber Frankreich 33 ist es kein reiner Zufall, dass es fast gleichzeitig mit der Entwicklung einer eigenen verwaltungsakzessorischen Rechtspflege durch den französischen Conseil d’État entstanden ist34: Der Gedanke an eine zwischen Justiz und Verwaltung stehende Rechtspflege in Verwaltungssachen lag nahe. Allerdings, die Anlehnung dieser Rechtspflege an die Kreisausschüsse, die auch als (untere) Verwaltungsgerichte amtierten, an die Bezirksausschüsse als obere Verwaltungsgerichte und, als Krönung dieses Systems, das 1875 geschaffene Preußische Oberverwaltungsgericht als zentrale Verbindungs- und Aufsichtsstelle mit verwaltungsmäßiger und justitieller Kompetenz gaben der Verwaltungsgerichtsbarkeit eine das gesamte Staatswesen durchdringende Struktur. Diese legte zugleich offen, dass diese Verwaltungsgerichtsbarkeit in engster Verbindung mit der aktiven Verwaltung blieb, so dass ihre Unabhängigkeit prekär war.
5. Verwaltungsgerichtsbarkeit als Rechtsschutz Um Preuß’ Reaktion auf diese modifizierenden Feststellungen und Entwicklungen zu charakterisieren, setze ich zunächst beim letzten Punkt an. Acht Jahre nach der Habilitation und Veröffentlichung der Habilitationsschrift, 1897, wurde Preuß von der schon damals hoch angesehenen Berliner Juristischen Gesellschaft zu einem Vortrag über die zivilprozessualen Grundlagen des Verwaltungsstreitverfahrens eingeladen. Über diesen ist ein – offenbar von Preuß verfasstes – Resümee im Jahresbericht der Gesellschaft abgedruckt35. Es betont die Bedeutung des gerichtstypischen kontradiktorischen Verfahrens, 32 Rudolf Gneist, Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte in Deutschland, 2. Aufl. Berlin 1879 (Neudruck 1958), dort insb. S. 278 ff. 33 Der Rechtsstaat, a.a.O., S. I f., 158 ff. 34 Grundlegend der arrêt Blanco des Tribunal des conflits vom 8.2.1873; zur Bedeutung vergleichend Alfonso Masucci, Formazione ed evoluzione del diritto amministrativo in Francia e Germania: Diritto e processo amministrativo 1/2011, S. 81 (84 ff.). 35 Jetzt in: GS Bd. 2, S. 525 f.
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das selbst die altpreußische Kammerjustiz beherrscht habe. Dieses Verfahren sei essentiell für Rechtsprechung auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts. Insofern wird auf Otto Bähr36 und dessen justizstaatliche Tendenz hingewiesen. Getreu der Themenstellung des Vortrags geht Preuß nun zwar auf Bährs eigentliches Postulat, die öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten bei den ordentlichen Gerichten zu monopolisieren, nicht ein; aber er verweist – entgegen Gneist – darauf, dass das formalisierte Prozessverfahren auch für den Prozess auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts unverzichtbar sei. Dabei nimmt er Verhandlungsmaxime und Beweislast aus und konstatiert eine Tendenz zur Schaffung eines eigenständigen Verwaltungsstreitverfahrens. An dieser Argumentation fällt auf, dass sie keinerlei Verbindungslinie zur für Preuß doch zentralen Selbstverwaltungsproblematik zieht. Hätte Preuß dies getan, so hätte er sich mit Gneists Selbstverwaltungslehre und der durch ihn begründeten Konzeption der Verwaltungsgerichtsbarkeit auseinandersetzen müssen, und das wäre schwerlich ohne eine scharfe Kritik an Gneists Selbstverwaltungslehre abgegangen. Offenbar wagt Preuß zu diesem Zeitpunkt, zwei Jahre nach Gneists Tod und Preuß’ ehrendem Nekrolog37, diesen Schritt noch nicht. Wohl aber lässt der Vortrag erkennen, dass Preuß auch eine Verwaltungsgerichtsbarkeit, die der Verwaltungskontrolle dient, nur als prozessualen Schutz subjektiver Rechte anerkannte. Damit stellte er das verwaltungsakzessorische System preußischer Prägung in Frage und ließ eine Tendenz zu Otto Bährs Konzept eines Rechtsschutzes durch die ordentlichen Gerichte auch auf dem Gebiet der Verwaltung erkennen. Die Fragestellung stand bei Preuß nicht im Mittelpunkt. Im grundlegenden Beitrag zur Gierke-Festschrift (1910)38 ist davon nur ganz beiläufig die Rede, und auch in der gleichzeitig vorgelegten Denkschrift „Zur preußischen Verwaltungsreform“ nur im Zusammenhang der verwaltungsorganisatorischen Fragen39. Otto Bähr, auch die Grundlage im berühmten und wichtigen § 182 der Paulskirchenverfassung40, wird nicht erwähnt, aber der Kerngedanke der ja in der Tat für die englische Rechtstradition zentralen „Einheitlichkeit
36 Otto Bähr, Der Rechtsstaat, Kassel 1864. 37 Rudolf Gneist, in: Staat, Recht und Freiheit, 1926, S. 503 ff., demnächst in GS Bd. 5. 38 Die Lehre Gierkes und das Problem der preußischen Verwaltungsreform, 1910, jetzt in: GS Bd. 2, S. 605 ff.; kurze Erwähnung S. 640. 39 Zur preußischen Verwaltungsreform. Denkschrift verfasst im Auftrage der Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin, 1910, jetzt in: GS Bd. 2, S. 645 ff., dort insb. S. 691 ff., 705 f., 730 f. 40 Verfassung des Deutschen Reichs vom 28.3.1849 (RGBl. S. 101), § 182 I: „Die Verwaltungsrechtspflege hört auf; über alle Rechtsverletzungen entscheiden die Gerichte.“
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des Rechts“41 wiedergegeben: Wenn gegenüber der Verwaltung, sei sie staatlich oder kommunal, die Einhaltung des Rechts gewährleistet werden muss, bedarf es dazu einer wirklich unabhängigen Rechtsprechung, und damit der Einschaltung der Gerichte. Als solche kamen zur fraglichen Zeit nur die ordentlichen Gerichte in Betracht. Dieser heute angesichts der Art. 19 IV, 92, 95 GG selbstverständliche Gedanke, schon Ergebnis der Verfassungsberatungen von 1848, in der Folge von Otto Bähr erneut begründet und z.B. für die Entwicklung des italienischen Rechtsstaats essentiell 42, war zwar in der preußischen Rechtsstaats-Tradition verdängt worden. Doch gehört es zu den grundlegenden Verdiensten von Hugo Preuß, ihm auch in der Spätphase des Kaiserreichs Ausdruck gegeben zu haben.
6. Kritik der Verwaltungsreformen: Für ein Mehrebenensystem von Gebietskörperschaften Aber damit habe ich vorgegriffen. Zur Rekonstruktion der Preuß’schen Kritik an den infolge der preußischen Verwaltungsreformen der Jahre 1869– 189143 ungelösten oder neu aufgetretenen Problemen ist auf drei Schichten der Argumentation einzugehen: die Überlegungen im Zusammenhang mit dem hundertjährigen Jubiläum der Städteordnung von 1808, die theoretische Grundlegung im Beitrag zur Gierke-Festschrift (1910) und die Ausführung in der Denkschrift für die Ältesten der Berliner Kaufmannschaft (1910); die weiteren, die Erkenntnisse anwendenden Aufsätze44 sind von untergeordneter Bedeutung. a) Nach den praktischen Erfahrungen in der Kommunalpolitik bot das hundertjährige Jubiläum der Stein’schen Städteordnung von 1808 den Anlass zu einer Bilanz. Sie färbte auch auf Preuß’ politische Schriften jener Jahre ab45 und wird in wesentlichen Teilen in Bd. 5 der Gesammelten Schriften
41 Zitat GS Bd. 2, S. 691. 42 Vgl. das Gesetz vom 20.3.1865 n. 2248, Allegato E, dazu Dian Schefold, Verfassungsund Verwaltungsrecht, in: Einführung in das italienische Recht, Frankfurt 2007, S. 21 (89), und jetzt eingehend Masucci (zit. Fn. 34). 43 Dieser Zeitrahmen ist zunächst durch die erste Vorlage des Entwurfs der am 13.12.1872 verkündeten Kreisordnung, in der Endphase durch die Verkündung der Landgemeindeordnung vom 3.7.1891 gesteckt. 44 GS Bd. 2, Nr. 32–34, S. 732–763; vgl. auch Bd. 1, S. 372 ff., 542 ff.; Bd. 4, S. 552 ff. 45 Vgl. die Spuren in GS Bd. 1, S. 359, 364 ff. und auch die Artikel zu Theodor Barth, S. 367 ff.
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zu dokumentieren sein46. Aber zu der Bilanz gehörte auch die Erkenntnis, dass die Städteordnung ein Torso geblieben war47, beschränkt auf die Städte, ohne Erfüllung des Verfassungsversprechens des Monarchen, und damit, aus staatspolitischer Sicht, ohne Ausformung des Programms nationaler Reform der Stein’schen Ära. Die Verwaltungsorganisation hatte die 1808 in Angriff genommene Ausbildung der territorialen Gliederungen zu Gebietskörperschaften nicht konsequent durchgeführt, sondern eine Vielzahl von Einheiten und damit überkomplizierte Entscheidungswege geschaffen, so dass der Reformbedarf, auch von Praktikern anerkannt, weiter bestand. Preuß verwendet in jenen Jahren oft die Formel „halb noch Rohbau, halb schon Ruine“48. Er lässt den Konflikt mit der Gneist’schen Deutung der Selbstverwaltung als System von Ehrenämtern anklingen, stellt aber jetzt Gneist die inzwischen erschienene Untersuchung von Josef Redlich entgegen 49, die der englischen Lokalverwaltung, entgegen Gneist, die Eigenständigkeit der kommunalen Ebene attestiert. Zwischen diesem Modell und dem französischen Verwaltungszentralismus oszilliert die preußische Lösung – und entbehrt eben deshalb der Folgerichtigkeit. Dem stellt Preuß, sich auf den Freiherrn vom Stein berufend, das Prinzip entgegen, dass dezentrale Verwaltung nur als Selbstverwaltung zu rechtfertigen sei und als deren Träger Gebietskörperschaften erfordere. Als solche kommen bei entsprechender Ausgestaltung – deren Mängel jetzt benannt werden – Gemeinden, Kreise und Provinzen in Betracht. Die bürokratischen Regierungsbezirke dagegen sind Fremdkörper, die dem System der Selbstverwaltung nicht nur widersprechen, sondern es lahm legen. Hieraus folgt für Preuß ein Programm, das zunächst in den folgenden Schriften abgearbeitet wird, aber auch grundlegend für das Reformkonzept ist, das in der Verfassungsarbeit für Weimar verfolgt wird – wenn auch nur teilweise mit Erfolg. b) Zur theoretischen Grundlegung der Postulate der Verwaltungsreform nutzt Preuß sodann den Beitrag zur Festschrift seines Lehrers Otto von Gierke zum Goldenen Doktor-Jubiläum 191050. Er beruft sich unmittelbar auf den 1868, 46 Vgl. vorerst die in Staat, Recht und Freiheit (1926) abgedruckten Beiträge: Ein Jahrhundert städtischer Verfassungsentwicklung (1908), S. 25 ff.; Stadt und Staat (1909), S. 73 ff. 47 Dazu und zum Folgenden: Verwaltungsreform und Politik. Eine Säkularbetrachtung (1908), jetzt in: GS Bd. 2, S. 581 ff. 48 Zur Herkunft dieses Zitats (Friedrich Albert Graf zu Eulenburg) Detlef Lehnert, GS Bd. 4, Kommentar zu S. 553, S. 683, vgl. Bd. 2, zu S. 541, S. 850. 49 Josef Redlich, Englische Lokalverwaltung (1901), zit. GS Bd. 2, S. 602 Fn. 31. 50 Die Lehre Gierkes und das Problem der preußischen Verwaltungsreform, GS Bd. 2, S. 605 ff.
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zwischen Gründung des Norddeutschen Bundes und Reichsgründung, erschienenen ersten Band von Gierkes Genossenschaftsrecht und entnimmt ihm ein Bekenntnis zum gebietskörperschaftlichen Neuaufbau deutscher Staatlichkeit, insofern – ähnlich wie in der Habilitationsschrift – Gierkes Theorie für seine eigene in Anspruch nehmend. Aber anders als 1889 sieht er jetzt schon in der Bundesrats-Konstruktion der Reichsverfassung ein Relikt zur Stärkung des Patrimonialstaats, und entsprechend in den zeitlich parallelen preußischen Reformen einen Widerspruch zwischen dem Neugründungsanspruch einerseits, dem faktischen Schutz monarchischer Herrschaft und junkerlicher Bestimmung der dezentralen Verwaltungsebenen andererseits. Dabei setzt er sich jetzt eingehender mit Gneists Umdeutung einer Selbstverwaltung auseinander, die auf gebietskörperschaftlicher Eigenverantwortung beruht. Indem Gneist, sporadische Ansätze bei einzelnen Reformern im Umfeld Steins aufgreifend51, die wirtschaftliche von der obrigkeitlichen Selbstverwaltung unterschied und für letztere staatliches Bestimmungsrecht einforderte, wirkte er der Verankerung der Selbstverwaltung in den Gebietskörperschaften entgegen. Gewiss mochte dabei „der böse § 166“52 der Stein’schen Städteordnung von 1808, der die Polizei zur staatlichen Aufgabe erklärt und den Magistrat insofern den staatlichen Behörden unterstellt, eine Vorbild-Rolle spielen. Aber während Preuß die Bestimmung, sich auch auf ihren Wortlaut stützend, als bloße Verpflichtung zur Wahrnehmung als Auftragsangelegenheit deutet, ist sie für die Verfechter der Verwaltungsreform nach 1870 Einfallstor für die Schaffung von Organen. Diese werden aus staatlichen Beamten und gewählten örtlichen Ehrenbeamten zusammengesetzt. Daher kann ihnen die Erfüllung obrigkeitlicher Aufgaben auf lokaler Ebene anvertraut werden, während den gewählten Kommunalvertretern nur die Erfüllung wirtschaftlicher Aufgaben überlassen bleibt. Die Abgrenzung der beiden Aufgabenfelder ist fließend, nach Preuß’ Auffassung sogar beliebig, so dass die Garantie eines kommunalen Selbstverwaltungsbereichs zerrinnt, die obrigkeitliche Verwaltung sich beliebig einmischen kann. Der Kommunalbeamte wird, in schärfstem Gegensatz zum im Buch über das Städtische Amtsrecht herausgearbeiteten Modell, zum mittelbaren Staatsbeamten. Folglich ist staatliche Einflussnahme auf die Bestellung, vor allem Bestätigung, keine Durchbrechung örtlicher Personalhoheit, sondern natürliche Konsequenz. Derart zusammengesetzte Organe mögen dann auch in der erwähnten Weise Aufgaben der Verwaltungsgerichtsbarkeit wahrnehmen.
51 Zu Theodor von Schöns Position und ihren Grundlagen GS Bd. 2, S. 611 f. 52 So Hugo Preuß, Das städtische Amtsrecht in Preußen, Berlin 1902, S. 141.
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Aber Preuß arbeitet heraus, dass damit die gebietskörperschaftliche Einheit der Träger von Selbstverwaltung aufgesplittert und kommunale Eigenverantwortung beseitigt wird. Um diese wahrzunehmen, bedarf es einheitlicher kommunaler, auf örtliche Volksvertretung zurückführbarer Willensbildungsprozesse. Diese sind in den reformierten Kreis- und Provinzialstrukturen kaum erkennbar, weil die Heterogenität der Wahlkörper – in den Kreisen Städte, Landgemeinden und Gutsbesitzer – zwar vielleicht einem Modell des Ehrenamts, aber schwerlich dem einer Gebietskörperschaft entspricht. c) Zur praktischen Ausführung hat Preuß in der fast gleichzeitig mit diesem Festschriftbeitrag erschienenen Denkschrift zur preußischen Verwaltungsreform53 Stellung genommen. Hier gibt er eine ausführliche Darstellung der Genese der einzelnen Gesetze, von der Kreisordnung an, und er zeigt auf, wie die komplizierte Struktur von Provinz, Regierungsbezirk, Kreis, Amt und Gemeinde, ferner die Unterscheidung von wirtschaftlicher und obrigkeitlicher Selbstverwaltung, schließlich die Verbindung von Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, d.h. von nichtstreitigen und streitigen Verwaltungsangelegenheiten, zu einem komplizierten, unauflösbaren Verwaltungswirrwarr führt. Hieraus erklärt er die kontinuierlichen Neuregelungen der 1870er und 1880er Jahre bis zur Landgemeindeordnung von 1891. Sie lösen freilich die Probleme nicht, und sie lassen vom Impetus des Reformzeitalters immer weniger spüren. So scheitert die Modernisierung der Städteordnung. Die Beibehaltung der Regierungsbezirke, zunächst als vorübergehender Notbehelf etikettiert, wird zum zentralen Postulat staatlicher Verwaltungspolitik. Auf allen Ebenen drängt die bürokratische obrigkeitliche Selbstverwaltung den faktischen Einfluss des Ehrenamts und erst recht die örtlich-demokratische Legitimation der Amtsträger zurück. Im Kreis zeigt sich immer stärker das politische Übergewicht der Gutsbesitzer, die in Verbindung mit dem staatlich bestellten Landrat als Organ der obrigkeitlichen Verwaltung das flache Land beherrschen und die kreisangehörigen Städte und großen Dörfer, die nur zur Deckung des Finanzbedarfs beitragen dürfen, majorisieren. Folglich determinieren die Gutsbesitzer in Verbindung mit dem Landrat auch die Verwaltung der Landgemeinden und instrumentalisieren zu diesem Zweck die Amtsvorsteher, die unentbehrlich sind, weil weder eine lokale Gemeindereform unter Eingliederung der Gutsbezirke noch eine Bildung gebietskörperschaftlicher Samtgemeinden zustande kommt. Da die Regierungsbezirke keine Vertretungskörperschaften haben, sind die dort gebildeten Bezirksausschüsse ohne eigenständige Legitimation. Überdies nimmt 53 Jetzt in: GS Bd. 2, S. 645 ff.
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die Rechtszersplitterung zwischen den verschiedenen Landesteilen Preußens nicht ab, sondern eher zu, vor allem weil die Nationalitätsprobleme für die Provinz Posen Sonderregelungen erfordern. Dem gegenüber helfen die technischen Neuerungsbestrebungen, die Preuß in den Jahren seit 1908 konstatiert und dokumentiert54 und die Anlass seiner Denkschrift gewesen sind, nicht weiter. Zentral und unverzichtbar bleibt die Forderung, alle dezentrale Verwaltung gebietskörperschaftlich auszugestalten. Entsprechend wären Provinzen, Kreise und Gemeinden – Städte und nötigenfalls zu Samtgemeinden verbundene Landgemeinden – zu strukturieren. Sie wären mit eigenen Selbstverwaltungskompetenzen unter bloßer Rechtsaufsicht des Staates, auch auf dem Gebiet des Polizeiwesens und der damit notwendig verbundenen Verwaltung – aus heutiger Sicht: Ordnungsverwaltung – auszustatten.
7. Fazit Zusammengefasst bleibt die Vision eines auf „höchstpotenzierter Selbstverwaltung“55 beruhenden Staatswesens. Preuß hat diesen Begriff Anfang 1919 auf die neu zu bildenden, Preußen entbehrlich machenden Länder neuen Typs angewendet. Sachlich aber bezeichnet der Föderalismus und Selbstverwaltung verbindende Begriff das Bestreben, das Preuß von Anfang an bestimmt hat: Jeder Gebietskörperschaft so viel Eigenständigkeit und eigene Befugnis wie möglich zuzusprechen, und die übergeordneten Gebietskörperschaften auf Rechtsaufsicht und allenfalls punktuelle Vorbehalte durch die Schaffung von Auftragsangelegenheiten zu beschränken. Dieses Modell, zunächst weithin spekulative Interpretation der wilhelminischen Wirklichkeit, wird in den letzten Vorkriegsjahren zum nicht nur verwaltungs-, sondern auch verfassungspolitischen Postulat, das auf jeder Ebene demokratische Strukturen einfordert, dem Obrigkeitsstaat den Volksstaat gegenüberstellend. Insofern ist Preuß’ Position zur Verwaltungsreform eine der Grundlagen, die ihn zum Projekt der Staatsreform von 1918/19 motiviert haben. 54 Vgl. namentlich die Artikelserie in der Schlesischen Zeitung vom Februar 1909, die in Verbindung mit der Berufung einer Immediatkommission durch königlichen Erlass vom 7.6. 1909 zu sehen ist, sowie die zahlreichen schon im unter a) erwähnten Aufsatz von 1908 erwähnten Artikel, dazu GS Bd. 2, S. 584, 647 f. 55 So, für die künftigen Länder neuen Typs, die Denkschrift zum Entwurf des allgemeinen Teils der Reichsverfassung vom 3.1.1919, in: Staat, Recht und Freiheit, 1926, S. 368 (379).
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Adelsherrschaft und Eliten um 1900 in europäischer und globaler Perspektive Hugo Preuß’ Junkerschrift „revisited“ Hugo Preuß und die Junker im Kaiserreich – zwischen dem liberalen Juristen und Verfassungsexperten, dem Berliner Stadtverordneten und Englandfreund einerseits und dem konservativen Grundbesitzeradel aus Ostelbien andererseits bestanden die denkbar größten Gegensätze. Lothar Albertin hat die Junkerfrage als „Schlüsselthema“ für Hugo Preuß im Kaiserreich bezeichnet. In welcher Weise aber hat Preuß den preußischen Grundbesitzeradel persönlich erlebt? Unglücklicherweise liegt Preuß’ Biographie im Grunde immer noch im Dunkeln. Man kann aber vermuten, dass Preuß relativ früh, genauer gesagt 1879, während des Militärdienstes bei den 2. Garde-Dragonern, mit einigen Vertretern des preußischen Militäradels Bekanntschaft gemacht hat. Positiv kann der Eindruck kaum gewesen sein, obwohl Preuß in seinem Werk über die Junkerfrage aus dem Jahr 1896 über den preußischen Kriegsminister v. Roon bemerkte, dieser sei „nicht eigentlich ein Junker vom reinsten Wasser, kein uniformierter Agrarier, sondern durchaus Berufssoldat“. Diese bemerkenswert scharfsinnige und differenzierende Charakterisierung, die die Professionalisierung der preußischen Armee und ihrer Offiziere ausgezeichnet wiedergab, steht kaum in Einklang mit der polemischen Typisierung der Junker, welche die grundlegende Stoßrichtung des Junkertextes bildet. Zugespitzt könnte man sagen: Der Liberale bestand auf der politischen Analyse der preußischen Großgrundbesitzer als „Klasse“, sah aber durchaus, dass für viele Adlige als Individuen konkurrierende Charakterisierungen maßgeblicher wurden.1
1 Hugo Preuß, Die Junkerfrage (1897), in: Ders., Gesammelte Schriften Bd. 1, Hg. Detlef Lehnert/Christoph Müller, Tübingen 2007, S. 201–74, Zitat S. 257. Lothar Albertin, Einleitung, in: Ebd., S. 19. Zur Biographie vgl. Michael Dreyer, Hugo Preuß. Biographie eines Demokraten, Habil.-Schrift, Jena 2002. Zur Geschichte des preußischen Adels im Kaiserreich vgl. vor allem Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2003; Hartwin Spenkuch, Das Preußische Herrenhaus. Adel und Bürgertum in der Ersten Kammer des Landtags, 1854–1918, Düsseldorf 1998.
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Hugo Preuß’ Traktat stellt weniger eine historische Analyse dar als eine politische Kampfschrift. Aus ihr klingt die Enttäuschung über die politische Entwicklung Preußens in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, in denen die Spaltung des Liberalismus und die erneuerte Allianz Bismarcks mit den Konservativen die liberale Aufbruchsstimmung des Reichsgründungsjahrzehnts hatten in Vergessenheit geraten lassen. Im Einleitungsabsatz des in den 1890er Jahren entstandenen Textes heißt es: „Denn wer nicht nach Art mancher – leider auch liberaler – Politiker im Staube des Tageskampfes so schwachsichtig geworden ist, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen, der muß erkennen, daß heute die entscheidende Frage unserer inneren Politik die Machtstellung des ostelbischen Junkertums ist.“2 Preuß sah einen fundamentalen Gegensatz zwischen den Junkern einerseits und dem Ideal der kommunalen Selbstverwaltung andererseits, die für ihn den Wesenskern der politischen Ordnung überhaupt darstellte. Vermutlich beeinflusst durch die politische Auseinandersetzung um eine neue Landgemeindeordnung, die wenigstens einen Teil der Gutsbezirke integrieren sollte, und die die Liberalen an der Seite des Innenministers v. Herrfurth fand, schrieb Preuß als enttäuschter liberaler Reformer. Die Auseinandersetzung um die Landgemeinden bestärkte Preuß in der Überzeugung, die lokale Perspektive sei entscheidend. Der politische Kontext, aber auch seine eigenen Prioritäten erklären, warum sich sein Blick so wenig auf die anderen deutschen Staaten richtete und das nicht föderal organisierte England stets ein Vorbild blieb. Preuß’ Betrachtung der preußischen Junkerherrschaft im 19. Jahrhundert endete folgerichtig mit einer Beschreibung der politischen Auseinandersetzung um die Kreis- wie die Landgemeindeordnung. Die Kreisordnung von 1872 jedenfalls schrieb auf den ersten Blick die Dominanz der Junker in den ostelbischen Provinzen in wenn auch abnehmender Weise fort. Patrick Wagner hat allerdings kürzlich darauf aufmerksam gemacht, dass ein differenziertes Bild angemessen ist. Während in stark vom Rittergutsbesitz dominierten Regionen wie Pommern mehr als die Hälfte der 1872 neu gewählten Amtsvorsteher Rittergutsbesitzer waren, kamen in Danzig, Marienwerder oder Gumbinnen deutlich mehr gutsituierte Bauern und kleine Gutsbesitzer zum Zuge. Jedenfalls veränderten sich auf der Ebene der Lokalverwaltung die Verhältnisse. Die ländliche Eigentümergesellschaft im städtearmen ostelbischen Preußen legte weiterhin ein Übergewicht der Großgrundbesitzer nahe, z.B. im Weiterbestehen der
2 Preuß, Junkerfrage, S. 201.
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Gutsbezirke, die nicht in die Landgemeinden integriert wurden, gestand ihnen aber nicht mehr ausschließlich die politische Macht zu.3 Aber auch der Blick auf die Liberalen selber bot Preuß keinen Anlass zur Zufriedenheit. Der Liberalismus zeigte sich uneinig, die Vorstellung, viele Bürger hätten sich Lebensstil und Wertekanon des Adels zum Vorbild genommen, war weit verbreitet. Diese letzten Jahre des 19. Jahrhunderts erlebten die Geburt der „Feudalisierungsthese“, also der Vorstellung, die traditionelle Elite des Deutschen Kaiserreichs, namentlich der Adel, habe es erfolgreich vermocht, das Bürgertum mit den eigenen Begriffen zu imprägnieren und die Nobilitierung zum ehrgeizigsten „Bürgerprojekt“ zu machen. Die Vorstellung, nicht einmal die führenden Industriellen des Landes verfügten noch über genuinen Bürgerstolz, wurde nicht zuletzt von ausländischen Beobachtern geteilt. So schrieb der Bismarck-Freund Sidney Whitman in seinen 1912 erschienenen Erinnerungen an Deutschland: „Thus the present tendency of the rich-grown German industrialists to think little of their own status and to try to obtain patents of nobility and force themselves into the society of the nobility can only be described as one of the many pernicious forms of reaction rampant of late, which also tends to weaken the middle classes in their fight with Collective Socialism.“ Preuß blickte mit seiner Schrift aber nicht auf das Bürgertum und die Frage der Anpassung an Monarchie und Adel, sondern auf das System, das die gerechtfertigte Machtteilung mit dem Bürgertum aus seiner Sicht verhinderte: auf die Politik der Junker seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts.4 „Die Junkerfrage“ sollte dem – gespaltenen – deutschen Liberalismus sein gemeinsames Feindbild vorführen, wenngleich an ein gemeinsames politisches Leitbild kaum noch zu denken war. Im Folgenden steht aber nicht die Rhetorik der politischen Auseinandersetzung im Mittelpunkt, auch nicht die dahinter stehenden emotionalen Erfahrungen von Preuß. Es wird auch nicht versucht, die Begriffsgeschichte des Junkers im Kaiserreich aufzuarbei3 Landgemeindeordnung für die östlichen Provinzen vom 3.7.1891, in: Gesetzsammlung für die Preußischen Staaten, 1891, S. 223–78. Vgl. zum Kontext Paul Nolte, Repräsentation und Grundbesitz. Die kreisständische Verfassung Preußens im 19. Jahrhundert, in: Klaus Tenfelde/Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Wege zur Geschichte des Bürgertums, Göttingen 1994, S. 78–101, hier S. 92; Patrick Wagner, Bauern, Junker und Beamte. Lokale Herrschaft und Partizipation im Ostelbien des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2005, S. 329–75, zur Landgemeindeordnung 1891 vgl. S. 538–43. 4 Zur „Feudalisierungsthese“ vgl. Sven Oliver Müller/Cornelius Torp (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009; Dieter Hertz-Eichenrode, Die Feudalisierungsthese – ein Rückblick, in: VSWG 89 (2002), S. 265–87; Sidney Witman, German Memories, Cambridge/Mass. 1912, S. 76.
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ten und kritisch zu bewerten oder sich mit den Chancen und Möglichkeiten einer Adelsreform im Kaiserreich zu beschäftigen. Stattdessen geht es erstens um die politische Diagnose und die Bedeutung eines dichotomischen Gegensatzes. Preuß’ Text argumentiert zeithistorisch und nimmt die Rolle der Junker seit den Preußischen Reformen, also über das 19. Jahrhundert hinweg, in den Blick. Das Werk erzählt die Geschichte des ostelbischen Landadels aus liberaler Sicht unter den Überschriften Reformen – Revolution 1848 – Neue Ära – Bismarck und Verwaltungsreform. Dabei bleibt die negative Einschätzung, vor allem aber auch die Vorstellung konstant, die Junker seien wirtschaftlich am Ende und versuchten, dem ökonomischen Untergang mit Hilfe von Privilegiensicherung und politischer Dominanz zu entgehen. Für Preuß folgte aus dieser Grundannahme der entscheidende Analyseschritt: Politik und Gesellschaft in Preußen drifteten aus seiner Sicht auseinander. Während die Politik weiterhin von monarchischer Regierung und dem preußischen Landadel, der sich im „Herrenhaus“ zu konservativer Interessenpolitik zusammenfand, beherrscht wurde, zeigten Wirtschaft und Gesellschaft ganz andere Tendenzen. Mit der Industrialisierung gewann das Bürgertum an Bedeutung, wurde aber an der politischen Macht nicht angemessen beteiligt.5 Zur Interessenskoalition von Großgrundbesitz und Industrie in der Frage der Schutzzölle äußerte sich Preuß nur sehr knapp. „Meisterhaft hatte er in der ‚liberalen Epoche‘ jede Festigung des parlamentarischen Wesens zu verhindern gewußt; und da nun der liberale Mohr seine Schuldigkeit getan hatte, kehrte der Kanzler zu seiner ersten Liebe zurück, nicht nur reich beladen mit Liebesgaben wirtschaftlicher Art, sondern er führte dem Junkertum zu sozialer Verstärkung auch eine ansehnliche Hilfstruppe zu. Das war der politische Sinn des großen Umschwungs der Wirtschaftspolitik vom gemäßigten Freihandel zum ‚Schutz der nationalen Arbeit‘ durch die Verbindung agrarischer und industrieller Schutzzölle. 5 Zur Begriffsgeschichte der Junker vgl. Heinz Reif, Die Junker, in: Etienne Francois/ Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte I, München 2001, S. 520–36; zur Politik im Herrenhaus vgl. Spenkuch, Herrenhaus. Wichtigster neuerer Beitrag zur Sozialgeschichte: René Schiller, Vom Rittergut zum Großgrundbesitz. Ökonomische und soziale Transformationsprozesse der ländlichen Eliten in Brandenburg im 19. Jahrhundert, Berlin 2003; ausführlicher zum Vergleich von Preuß und der Politik- und Sozialgeschichte der Junker im Kaiserreich: Stephan Malinowski/Christoph Müller, Die Junkerfrage in der Analyse von Hugo Preuß und ihre Überprüfung an Entwicklungen in der Geschichte des deutschen Adels. Ein Gespräch, in: Christoph Müller (Hg.), Gemeinde, Stadt, Staat: Aspekte der Verfassungstheorie von Hugo Preuß, Baden-Baden 2005, S. 191–221. Die Autoren interpretieren die Schrift v.a. im Kontext eines liberalen Adelsreformdiskurses, der die Schlüsselsituationen zu Beginn des 19. Jahrhunderts (1807) und in der zeitgenössischen Gegenwart von 1897 verortet (S. 220).
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Die Verstärkung der feudalen Gesellschaftsreste durch Zuführung wichtiger Elemente des höheren Bürgertums, die von der Masse desselben abgesprengt wurden, war ein wesentliches und gewiß nicht unbeabsichtigtes Nebenprodukt des Schutzsystems für die nationale Arbeit.“6
In dieser Charakterisierung erscheint Bismarck als der Handelnde, Junkeradel und industrielles Bürgertum – das für Preuß nicht die Mehrheit des Bürgertums bildet – lassen sich in der Frage der Schutzzölle gerne zu einer Koalition verbinden. Der zweite Teil dieses Beitrags vergleicht Preuß’ Junkerschrift mit Otto Hintzes Analyse in dem Aufsatz „Die Hohenzollern und der Adel“ aus dem Jahre 1913/14, der sich als eine Vorstudie zur Jubiläumsschrift „Die Hohenzollern und ihr Werk“ verstehen lässt. Hintzes knappe Darlegung legitimierte, gänzlich staatszentriert, die Verfassung des Kaiserreiches und strich eine positive Rolle der Junker für den Prozess der Staatsbildung vor allem in der Frühen Neuzeit heraus. Während Preuß am Ende des 19. Jahrhunderts nach einer bestimmenden Rolle des Liberalismus vor allem in der Innenpolitik verlangte, ging es Hintze nur wenige Jahre später um die historische Rechtfertigung der Rolle des Adels in der preußischen Staatsbildung und aktuell um die Integration der Arbeiter und der Sozialdemokratie in das Deutsche Reich. Dabei äußerte sich Hintze im Bewusstsein einer prekären außenpolitischen Lage, einer gefühlten „Einkreisung“ und der Folgen der Flottenpolitik.7 Der letzte Abschnitt (3.) bemüht sich um eine vergleichende typologische Betrachtung der „Junkerfrage“. Dieses Anliegen ist auch deshalb gerechtfertigt, weil es Preuß selber um eine vergleichende Einordnung ging. Angesichts seiner politischen Präferenzen war es nicht überraschend, dass Preuß Großbritannien als Vergleichsland wählte. Im Kontext der Diskussionen um die Selbstverwaltung befand er sich in dieser Hinsicht in der guten Gesellschaft des Freiherrn v. Stein und Rudolf (v.) Gneists. Preuß’ Britannienbild formte sich im „middle class“–Ideal und gehört in einen der grundlegenden politischen Diskurse der Politik des 19. Jahrhunderts. Der große Einfluss der britischen Aristokratie in der Politik und der Gentry in der Lokalverwaltung, der mindestens bis in die 1880er Jahre dominierte, geriet in den Hintergrund der Betrachtung. Für Preuß ordnete sich der britische Adel eben in seiner machtorientierten Honoratiorenbeteiligung an Politik und Verwaltung vorbildlich in den „Staat“ 6 Preuß, Junkerfrage, S. 266 f. 7 Otto Hintze, Die Hohenzollern und der Adel, (Vortrag 15. März 1913, veröff. in der Historischen Zeitschrift 1914) in: Ders., Gesammelte Abhandlungen Bd. III, Regierung und Verwaltung, Göttingen 1967, S. 30–55, hier S. 54 f.
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ein. Dieser Blick auf Großbritannien und Frankreich besitzt im übrigen seine eigenen Kontinuitätslinien, bis in die Sonderwegsthese der 1960er Jahre hinein. Dieter Langewiesche hat kürzlich daran erinnert, dass Preuß sich als einer der frühen Autoren der Sonderwegsidee verstehen lässt. Im letzten Teil geht es daher erstens um zeitgenössische elitengeschichtliche Zugriffe auf den Adel (Robert Michels) und zweitens um die Analysen der Rolle der „großen Landbesitzer“ bei Theda Skocpol, Charles Kurzman und Jürgen Osterhammel.8
1. Preuß und die Junker Preuß’ Darstellung der Geschichte des 19. Jahrhunderts konzentrierte sich auf Preußen und auf die Politik. Beinahe niemals erscheint das Kaiserreich als föderales Gebilde, Bezüge zum traditionell starken süddeutschen Liberalismus fehlen. Diese Konzentration auf Preußen als Handlungsraum „vergrößerte“ die Akteure, und besonders die Junker, zum entscheidenden Faktor überhaupt. Im Zentrum des Preußschen Denkens stand stets die Verfassung, und daraus folgend der Aufbau des Zentralstaates, vor allem auch in seiner lokalen Gliederung. Es ergab sich eine eigentümliche Konstruktion: Preußen wird als staatlicher Handlungsraum dargestellt, Provinzen und Regionen spielen eine geringe Rolle, und auf einer unteren Ebene geraten die Städte mit einem Selbstverwaltungskonzept in den Blick. Das war die Welt, der Preuß sich am meisten verbunden fühlte. Obwohl Preuß an dem „deutschen Beruf Preußens“ und damit an der nationalen Einheit lag, existierte ein Reichsbürgertum für ihn kaum, und auch die ländlichen Gemeinden blieben marginal. Er sah allerdings deutlich die innere Heterogenität des preußischen Staates. Für Preuß drückte sich diese Heterogenität vor allem in der Dichotomie von einem durch Industrie, Städte und Bürgertum dominierten Westen und dem agrarischen, städtearmen und durch die großen Grundbesitzer beherrschten Osten der Monarchie aus.9 8 Vgl. Heinz Duchhardt, Stein. Eine Biographie, Münster 2007; Rudolf v. Gneist, Geschichte und heutige Gestalt der Ämter und des Verwaltungsrechts in England, 2 Bde., Berlin 1866/67; Dieter Langewiesche, Moderner Staat in Deutschland – eine Defizitgeschichte. Hugo Preuß’ radikale Kritik eines deutschen Sonderwegs in die Moderne, in: Florian Grotz (Hg.), Crossing Borders: Constitutional Developments and Internationalization, Berlin 2007, S. 19–39, hier S. 25. 9 Preuß, Junkerfrage, S. 201; Christoph Müller, Zur Grundlegung der Kommunalpolitik bei Hugo Preuß, in: Jahrbuch der Liberalismusforschung 18 (2006), S. 13–44. Vgl. H. Preuß, West-Östliches Preußen, in: Ders., Ges. Schriften, Bd. 1, S. 293–314, wo Preuß
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Den Dichotomien von Stadt und Land, West und Ost entsprach der Gegensatz von Gegenwart und Vergangenheit, Fortschritt und Rückwärtsgewandtheit: „Und diese heterogenen Gruppen sind nicht Bourgeoisie und Proletariat; es zeigt sich, dass dieser Gegensatz, den man so lange für den wesentlichsten der Zeit hielt, verblaßt und zurücktritt vor einem älteren, tieferen, unversöhnlicheren; dass Bourgeoisie und Proletariat, Liberalismus und Sozialdemokratie, die Kinder des modernen Geistes, eine Einheit bilden gegenüber dem Feudalismus und Klerikalismus, den Gespenstern der Vergangenheit.“ Der preußische Staat hatte aus dieser Perspektive zwei Möglichkeiten: Er konnte sich entweder mit der modernen bürgerlichen Gesellschaft verbünden und dem Liberalismus zuwenden oder sich den Kräften des Rückschritts, symbolisiert im Junkertum anbieten. Der Primat der Politik war für Preuß als „political animal“ selbstverständlich, über die wirtschaftliche Situation des ostelbischen Adels oder seine Rolle im preußischen Militär sprach er nicht im Detail. Dabei stand die Rolle des Adels in Wirtschaft und Gesellschaft im Mittelpunkt: Offensichtlich ging Preuß davon aus, dass sich politische und ökonomische Bedeutung gesellschaftlicher Gruppen im Staat kongruent verhalten sollten. Die Lenkung des Blicks auf das Bürgertum machte auffällig, dass die Arbeiter und Unterschichten in diesem Modell weniger Berücksichtigung fanden, und von Frauen sprach Preuß – wie die meisten seiner Gesinnungsfreunde – mit keinem Wort, obwohl ihnen die Forderungen der Frauenbewegung nicht vollständig unbekannt sein konnten. Preuß’ Geschichtsentwurf wurde, wenngleich im Spannungsverhältnis zu kommunaler Selbstorganisation kritisch betrachtet, vom Staat als Agent und Movens gestaltet. Er blickte auf die Staatsspitze, die Monarchie und die leitenden Politiker von Stein über Bismarck zu Herrfurth und Eulenburg.10 Die Geschichte des preußischen Staates im 19. Jahrhundert entwarf sich konventionell, in weiten Teilen als „Geschichte großer Männer“ und ihrer Programme. Die Frage nach politischen Reformprojekten, ihren Erfolgen und ihrem Scheitern, leitet die Darstellung. Preuß’ Leidenschaft gehörte der Verwaltung, der Kommunalverwaltung vor allem. Die Reform der Verwaltung konnte für Preuß zum beherrschenden Paradigma aufsteigen, weil er die Verwaltung als Knotenpunkt von Staat und Gesellschaft überhaupt auffasste. Die vom Linksliberalismus und der Sozialdemokratie angestrebten Reformen die politisch-gesellschaftlichen Fronten zwischen Krone und Junkertum einerseits, der bürgerlichen Gesellschaft andererseits verortet. 10 H. Preuß, Qu’est-ce que le tiers-état? (1900), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 315–22, hier S. 315 f. Zum Desinteresse auch des Linksliberalismus an Frauen und der Frauenbewegung im Kaiserreich vgl. Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, S. 155.
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reichten über die Bürokratie hinaus in das Wahlrecht. Preuß verstand letztlich jede Reform als Ausformung bürgerlicher Selbstverwaltung.11 Aber darin allein ging dieser Entwurf nicht auf: Eingebunden in die Geschichte des Adels wird auch eine Geschichte des Antisemitismus im 19. Jahrhundert erzählt. Ganz im Einklang mit der neueren Forschung, die begründete Zweifel an der klassischen Unterscheidung eines traditionellen Antijudaismus vom giftigen rassistischen, biologisch argumentierenden Antisemitismus der Jahre um 1900 anmeldet, sieht Preuß die Verfestigung antisemitischer Sprachgewohnheiten schon bei Marwitz. Er bemerkt auch die Assoziationen von traditionellem Landleben und den Lastern einer „jüdisch“ geprägten Großstadt, die Ablehnung von Landkauf durch Juden als Motive, die den politischen Diskurs in Preußen früh bestimmt haben. Preuß betont die Gewöhnung an antijüdische Stereotypen im Adel bereits seit dem Beginn des Jahrhunderts, allerdings ohne sich näher mit den vielen bildungsbürgerlichen Autoren zu beschäftigen, die den Antisemitismus im Verlauf des 19. Jahrhunderts entweder als aggressive „Außenseiterideologie“ für Enttäuschte entwarfen oder ihn als Motiv in den Nationalismus einpassten und damit auch im „mainstream“ der Gesellschaft salonfähig machten. Dabei muss deutlich hervorgehoben werden, dass Antisemitismus als Ausdruck von politischer Opposition gegen den egalitären Staat und Protest gegen das Ende der Stände, als Plädoyer für die Moralität der Vergangenheit benutzt wurde. Marwitz’ und Fontanes „zeittypische“ antisemitische Vorurteile entfalteten im 19. Jahrhundert Wirkung „in der Mitte“ der Gesellschaft. Zur Vorgeschichte des Holocaust gehören gerade auch die ambivalenten Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts hinzu, die nicht zum radikalen Antisemitismus zählten.12 Preuß erlebte – ohne es in seiner Schrift zu erwähnen – die Radikalisierung des Antisemitismus in der „Deutschen Adelsgenossenschaft“ des Kaiserreichs. Möglicherweise war ihm klar, dass es sich bei den Aktivisten um Radikale eines deklassierten Kleinadels handelte, und möglicherweise hat er diese Gruppen nicht ernst genommen. Aber die Bedrohung hat Preuß gespürt, und er hat mit einem wenig geeigneten Mittel reagiert. Seine Äußerungen über die Junker sind selber von der biologistischen Sprache beeinflusst, die er bei den 11 H. Preuß, Preußische Reformen (1910), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 372– 76. 12 Vgl. Ewald Frie, Friedrich August Ludwig von der Marwitz, 1777–1837. Biographien eines Preußen, Paderborn 2001, S. 280. Frie erklärt den Marwitzschen „Antijudaismus“ überzeugend als „Antimodernismus“, die Juden als „Symbol der nachständischen Unübersichtlichkeit“. Vgl. Wolfgang Benz, Art. Fontane, Theodor, in: Handbuch des Antisemitismus, Hg. Wolfgang Benz, Berlin 2009, Bd. 2/1, S. 240.
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Antisemiten zu Recht kritisierte: „Das rückständige Junkertum aber ist ein totes, verwesendes Glied am sozialen Körper, und je größer seine Einwirkung auf das Leben dieses Körpers ist, um so notwendiger ist es, dieses brandige Glied zu beseitigen; wenn es nicht anders gelingt, es auszuschneiden und auszubrennen.“13 Preuß dachte von der Stadt her. Bismarcks Orientierung an einer im wesentlichen agrarischen Gesellschaftsordnung und einer noch frühneuzeitlichen Vorstellung vom europäischen Mächtesystem blieb für die Liberalen selbst in der Phase der größten Annäherung fremd.14 Mit Blick auf die soziale Realität des Adels in den deutschen Staaten ist in Erinnerung zu rufen, dass im Unterschied zu anderen europäischen Ländern Adlige, die als Adel hervortraten, eine nicht-städtische Lebensform repräsentierten. Zwar lebten zahlreiche adlige Offiziers- und Beamtenfamilien tatsächlich in der Stadt, aber das war ihrer Abhängigkeit vom Staat und ihrer relativen Armut geschuldet. Während der reiche Adel in London und Wien über großartige Stadtpalais verfügte, verkauften die wenigen preußischen Adligen, die in Berlin ein Palais besaßen, diese Häuser im Kaiserreich, vor allem wegen der hohen Unterhaltskosten, aber auch wegen fehlender Bequemlichkeit. Das Landleben war auch für diejenigen preußischen Adligen wichtig, die nicht über Landbesitz verfügten. In der Adelspublizistik gerierte man sich als „Bekenntnis-Landbewohner“. In jedem Fall orientierten sich große Gruppen des Adels an einem nicht städtischen Lebensentwurf, der das „Land“ als zentrales Element der Identitätsbildung übersteigerte. Preuß aber konnte einer Vorstellung, die das Land als ständische Klammer in einer nicht mehr ständisch organisierten Welt begriff, nur mit Ablehnung begegnen.15
13 Vgl. Langewiesche, Moderner Staat, in: Grotz (Hg.), Crossing Borders, S. 25. Das Zitat: Preuß, Junkerfrage, S. 246. 14 Malinowski/Müller, Gespräch, S. 208. 15 Vgl. Preuß, Junkerfrage, S. 254; zur Bedeutung des Topos des Landlebens für den Adel vgl. Marcus Funck/Stephan Malinowski, Geschichte von oben. Adels-Autobiographien als Quelle einer Sozial- und Kulturgeschichte des deutschen Adels im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Historische Anthropologie 7 (1999), S. 236–70. Bismarcks Landleben in Varzin und Friedrichsruh, deren Rolle in der Bismarckschen Selbststilisierung und das Pilgern der Besucher auf die Güter ist häufig hervorgehoben worden, vgl. Fritz Stern, Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder, München 2008, S. 408–11.
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2. Das Gegenbild: die Junker bei Otto Hintze Auf den ersten Blick scheinen sich die Vergangenheitsbilder Hintzes und Preuß’ zu widersprechen. Während Preuß an der historisch-politischen Verurteilung des Adels gelegen war, bemühte sich der staatsorientiert und monarchisch denkende Hintze um eine Rehabilitation von Königtum und Adel. Sowohl Hintze als auch Preuß wählten die Verfassung als Ausgangspunkt ihrer Darstellung. Für Hintze verkörperte sich die Verfassung im eher frühneuzeitlichen Sinn im Staat, Preuß sah die geschriebene Konstitution als primäre gesellschaftliche Regelungsform der Moderne. Hintze personifizierte den Staat, nicht unbedingt als Obrigkeit, sondern als Verkörperung des „Allgemeinen Besten“. Preuß sah ihn vom liberalen Standpunkt aus als „das unvermeidliche und notwendige Andere“, während er auf kommunaler Ebene mehr städtische Eingriffe gegenüber dem Privateigentum durchaus befürwortete. In einer von der Gesellschaft als Träger gestalteten Selbstverwaltung konkretisierte sich das Idealbild des Staates, in dem durch lokale Autorität der Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft aufgehoben werden konnte.16 Preuß’ adelskritische Motive finden sich bereits in den Memoranden Steins und Hardenbergs. Nicht zuletzt aus diesem Grund eignete sich die Reformzeit als Einstieg für Preuß’ Geschichte des 19. Jahrhunderts. Otto Hintzes Charakterisierung des Verhältnisses der Hohenzollern und des Adels – nicht der Junker – argumentierte „a la longue“ und setzte beide Akteure für die Vorstellung des preußischen Staatsbildungsprozesses ein.17 Hintze schrieb 16 Die Hintze-Konjunktur der 1980er Jahre, in der die vergleichenden Perspektiven einer europäischen Verfassungsgeschichte, wie Hintze sie vortrug, erneut gewürdigt wurden, ist mittlerweile wieder vorbei. Vgl. Winfried Schulze, Otto Hintze und die Geschichtswissenschaft um 1900, in: Ders./Notker Hammerstein (Hg.), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988, S. 323–39; Kritik an Hintzes idealtypischem Verfahren bei Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, München 1999, S. 19. Das nachlassende Interesse an Hintze ist vermutlich einerseits auf den „cultural turn“ mit der Schwerpunktsetzung im Themenfeld Repräsentation, Ritual, Zeremoniell zurückzuführen. Vgl. hier nur Andreas Biefang u.a. (Hg.), Das politische Zeremoniell im Deutschen Kaiserreich 1871–1918, Düsseldorf 2009. Ein zweiter Grund liegt in der Konzentration auf die Rolle der Historiker im Nationalsozialismus. Hintze gab im Zusammenhang der Judenverfolgung wegen der jüdischen Herkunft seiner Ehefrau Hedwig Hintze seine Funktion als Mitherausgeber der „Historischen Zeitschrift“ auf und starb 1940. Vgl. hier nur Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus, Göttingen 2002, vor allem zur aktiven Rolle von Historikern wie Theodor Schieder in der Planung einer „Großraumpolitik“ im Osten. 17 Vgl. Malinowski/Müller, Gespräch, S. 200 zur Kontinuität der Adelskritik seit Stein und Hardenberg.
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selbstverständlich als Hofhistoriograph im Kontext des Hohenzollernjubiläums 1913, und er war sich der gesellschaftlichen Kritik am preußischen Adel durchaus bewusst. Hintze konzentrierte sich auf den preußischen und dann deutschen Staat im europäischen Mächtesystem, seinen Aufstieg und seine aktuelle Gefährdung. Die Debatten um die ökonomische Rolle des preußischen Adels und die ländliche Arbeitsverfassung Ostelbiens, die im Verein für Sozialpolitik, von Max Webers Studien angeleitet, aber auch in den handelspolitischen Auseinandersetzungen um den Protektionismus geführt worden sind, blieben hier weitgehend außer Betracht.18 Hintzes Darstellung beschäftigt sich nicht ausdrücklich mit der Wahrnehmung der Junker durch die Liberalen, und das kann man als deutlichste Niederlage des Liberalismus im Kaiserreich interpretieren. Offensichtlich nahm Hintze die Sozialdemokraten als Gegner wesentlich ernster, und er wünschte sich sehnlich eine Integration der sozialdemokratischen Arbeiterschaft in den Staat. Zu Beginn seines Textes wies er Max Maurenbrechers populäres Buch über die „Hohenzollernlegende“ dezidiert zurück: „Da erscheint das Junkertum der ostelbischen Provinzen geradezu als das böse Prinzip der preußischen Geschichte.“ Hintze hielt Maurenbrecher, der das Selbstbild der Hohenzollernmonarchie als „soziales Königtum“ vehement zurückwies, eine differenziertere Sichtweise entgegen, die einerseits das gruppenegoistische Verhalten des Adels nicht leugnete, andererseits aber die staatsbildenden Leistungen des Zusammenwirkens von Monarchie und Adel in Preußen in den Mittelpunkt stellen wollte.19 Wo Preuß als Oppositioneller nicht an Polemik sparte, bemühte sich Hintze als Vertreter des monarchischen Staates in Anknüpfung an Ranke um einen unvoreingenommenen und leidenschaftslosen Ton. Hintzes Bild des preußischen Adels sollte vor allem von der longue durée-Perspektive getragen und positiv konturiert werden. Mit anderen Worten: Da es auch Hintze schwerfiel, die 18 Vgl. den sehr fruchtbaren Vorschlag eines Preuß-Hintze-Vergleichs: Christoph Müller, Hugo Preuß und Otto Hintze. Versuch der Rekonstruktion eines möglichen Diskurses, in: Ingo Kolboom u.a. (Hg.) Zeit-Geschichten aus Deutschland, Frankreich, Europa und der Welt. Lothar Albertin zu Ehren, Lage 2007, S. 13–42. Max Weber, Die ländliche Arbeitsverfassung, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 1924, S. 444–69; ders., Entwicklungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter, in: Ebd., S. 470–507. 19 Vgl. Max Maurenbrecher, Die Hohenzollern-Legende. Kulturbilder aus der preußischen Geschichte vom 12. bis zum 20. Jahrhundert, Berlin 1905. Vgl. zur politischen Entwicklung Maurenbrechers zwischen Nationalsozialem Verein, Sozialdemokratie und völkischem Antisemitismus Gangolf Hübinger, Maurenbrecher, Max, in: NDB 16.1990, S. 434 f.
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Adelsgeschichte des 19. Jahrhunderts für ein bürgerliches Publikum freundlich erscheinen zu lassen, sollte der Blick auf die vergangenen Jahrhunderte entlastend wirken. Er skizzierte drei Epochen: 1. bis zum Großen Kurfürsten, 2. das 18. Jahrhundert, 3. „die dritte Epoche endlich, in der wir selbst noch leben, ist die des vollendeten Einheitsstaats, der nach dem inneren Gesetz staatlichen Lebens zugleich zum konstitutionellen Verfassungsstaat wird, unter grundsätzlicher Beseitigung der adeligen Privilegien, und mit der Tendenz, das Ideal der staatsbürgerlichen Gleichheit fortschreitend zu verwirklichen. In dieser Epoche genießt der Adel noch die Früchte der engen Verbindung mit dem Thron, die seine Hingabe an den monarchischen Militär- und Beamtenstaat begründet hat, und viele Vorteile, die von seiner alten wirtschaftlich-sozialen Vorzugsstellung übrig geblieben sind; aber die frühere Exklusivität seiner Stellung in Staat und Gesellschaft ist dahin.“20
Im „konstitutionellen Verfassungsstaat“, als Begriff eine Verschmelzung von altem und neuem Verfassungsbegriff, so Hintze, war die staatsbürgerliche Gleichheit im Grunde verwirklicht. In Hintzes Sicht erscheint die zeitgenössische Rolle des Adels als residual. Von Privilegien mochte er nicht mehr sprechen, und ständische Exklusivität sei nicht mehr vorhanden. Die adlig geprägte Umgebung des Monarchen in Gestalt des Hofes nahm Hintze als nicht mehr allzu bedeutsamen Aspekt der Tradition wahr. Für Preuß stellte sich die Sachlage entgegengesetzt dar. Aus dem Bündnis von Monarchie und Adel am Hof und auf dem Land schloss er auf politische Dominanz generell, die wiederum der gesellschaftlichen Realität um 1900 entgegenstand. Hintze positionierte sich deutlich gegen die Vorstellung von der Autonomie der Herrschaftsrechte des Adels. In der Charakterisierung der provinziellen Unterschiede zitierte er die Einschätzung der Monarchen. Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. schätzten ihre „treuen“ Pommern und Märker, und zweifelten am Klevischen und Magdeburgischen Adel. Mit dem Ende der Frühen Neuzeit allerdings verschwanden solche Unterschiede offenbar, oder wurden von den Historikern nicht länger beachtet. Anscheinend ging auch Hintze von einer preußischen Nationalisierung des Adels im 19. Jahrhundert in der Entprivi20 Vgl. Otto Büsch, Das Preußenbild in Otto Hintzes „Die Hohenzollern und ihr Werk“, in: Ders., Otto Hintze und die moderne Geschichtswissenschaft, Berlin 1983, S. 25–42, hier S. 29. Büsch bescheinigt dem Hohenzollernbuch „unterschiedliche Qualität“. Während der frühneuzeitliche Teil durch die Vielfalt der Perspektiven überzeugte, schrieb Hintze für das 19. Jahrhundert nur über „Politik“ in einem engen Sinn. Die gesellschaftliche Perspektive blieb ausgeblendet. Vgl. generell Jürgen Kocka, Otto Hintze, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. 3, Göttingen 1972, S. 275–98.
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legierung aus, denn die Reformen beurteilte er als „insgesamt ungünstig“ für den Adel.21 Wie Preuß sah Hintze die Reformen vor allem im Licht ihrer Programmatik, beschäftigte sich aber wenig mit der Implementation und dem Wandel der preußischen Gesellschaft über das Jahrhundert hinweg. Die Agrarreformen begünstigten schließlich den Land besitzenden Adel ganz eindeutig. Weder Preuß noch Hintze würdigten die Durchsetzung des Agrarkapitalismus in prominenter Weise. Für Preuß kam es schließlich auf die Behauptung des wirtschaftlichen Niedergangs der Junker an. Für die Reformzeit notierte er: „Aus den Feudalherren konnte eine gutsituierte Landgentry werden, wenn die Herren in modernem Geiste, mit der kostspieligeren, aber unendlich wertvolleren freien Arbeit zu wirtschaften gelernt hätten. Jedoch gerade das konnten und wollten sie nicht.“ Unzweifelhaft schloss Preuß aus den zeitgenössisch zahlreichen Berichten über die Verschuldung der Rittergüter vor allem im preußischen Osten. In der Berichterstattung kam jedoch zu kurz, dass der alte und große, mehrheitlich adlige Rittergutsbesitz deutlich besser dastand, als es die Mitteilungen über Zwangsversteigerungen von Rittergütern suggerierten. Hintze dagegen kam es auf die wirtschaftliche Lage der Junker nicht an, er bemühte sich, die Rolle des Rittergutsadels konsequent aus der Perspektive des Staates und einer Monarchie, die im Dienste des Staates stand, zu relativieren: „Adel und Monarchie gehören in gewissem Sinn zusammen. Der niedere Adel, um den es sich hier hauptsächlich handelt, ist geradezu eine Schöpfung des Fürstentums. Er ist ein Dienstadel.“22 Preuß’ Geschichte des 19. Jahrhunderts kommt mit vergleichsweise wenig „Bismarck“ aus. Bismarck, so Preuß, wirkte in der Junkerfrage eher im Hintergrund: „um die Staatsgewalt der ersten Großmacht des Kontinents in die Hände des rückständigen Junkertums zu bringen, hatte es der gewaltigen Erfolge und der vielverschlungenen Staatskunst Bismarcks bedurft“. Bismarck agierte zwar zunächst als „Champion“ des Junkertums, so Preuß, musste aber diesen geraden Weg verlassen, um über den Verfassungskonflikt schließlich in Königgrätz anzukommen. Trotz allem blieb Bismarck für Preuß der Reichsgründer „der ersten Großmacht des Kontinents“, der die Unterstützung der Liberalen für sein Projekt benötigt hatte. Vermutlich wollte Preuß aber nicht so weit gehen wie Sidney Whitman, der Bismarck nicht zu den Junkern rechnete, vor allem, weil er die machiavellistische Modernität der Bismarckschen Politik gerade auch in ihrer Ambivalenz erkannte. Hintze dagegen reklamierte Bismarck umstandslos für das Junkertum: „Nichts hat das 21 Hintze, Hohenzollern, S. 47. 22 Preuß, Junkerfrage, S. 217; Hintze, Hohenzollern, S. 31.
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vielgeschmähte Junkertum Ostelbiens neuerdings so zu Geltung und Ansehen gebracht wie die Tatsache, dass dieser Gewaltige aus seinen Kreisen stammte und sich zu ihm rechnete.“23 Während Preuß keine Differenzierung innerhalb des preußischen Adels erkennen wollte, hätte Hintze auch andere Argumente gewürdigt. Manche Stimmen aus dem Adel selber zogen die Einheitlichkeit eines Landbesitzeradels grundsätzlich in Zweifel. In seinen Erinnerungen schrieb z.B. Fürst Otto zu Stolberg-Wernigerode, der Präsident des Herrenhauses war, sich als Standesherr aber nicht zu den Junkern zählte, über das Herrenhaus: „Viel besser wäre es gewesen, man hätte eine Reform desselben vorgenommen und durch diese dahin gewirkt, dass neben der überzahlreichen Vertretung des kleinen, zuhause sich wenig um Politik bekümmernden Adels auch Elemente regelmäßig hineinkamen, welche mit den treibenden Kräften des Landes Fühlung behalten.“ Diese Äußerung bestätigte freilich nur im Rückblick, dass Teile des Adels den gruppenegoistischen Zug der Junker durchaus kritisch betrachteten. Von innen betrachtet schien selbst der preußische Adel vielfältig und heterogen.24 Hintze konzentrierte sich auf die gesellschaftliche „Stellung“ des Adels, sprach aber nicht über aktuelle politische Erfolge oder den Einfluss des Adels als Stand auf die auswärtige Politik. „Die persönliche Umgebung des Monarchen war ja ohnehin in der Hauptsache adlig geblieben und ist es auch heute noch. Im Offizierskorps, im höheren Beamtentum, ganz besonders in der Diplomatie nimmt der Adel noch eine ebenso bedeutende Stellung ein wie im Grundbesitz, im Herrenhause und in der Selbstverwaltung der Kreise und Provinzen.“ Letztlich interessierte sich Hintze für den Prozess der inneren Staatsbildung, die aus seiner Sicht unvollkommen blieb, solange die Sozialdemokratie ausgegrenzt wurde und sich selber ausgrenzte. Adel, Junker und Bürgertum aber standen in dieser Perspektive bereits auf einer Seite.25 Hintzes Text von 1913 reflektierte eine geopolitische Konstellation, die Preuß 1897 so noch nicht hatte absehen können. Hintze schrieb mit der Vorstellung von der Einkreisung des Deutschen Reiches und vertrat ein allerdings recht bescheidenes Verlangen nach Weltgeltung. „Denn dieser (der Staatsgedanke, M.W.) bedeutet ja doch im Grunde nichts anderes als den Willen und die Macht, unseren Staat und unser Volkstum zu behaupten gegenüber den Gefahren, die unsere geographische Lage in der Mitte des Kontinents zwischen den anderen großen Mittelmächten mit sich bringt, und zugleich (da uns 23 Vgl. Preuß, Junkerfrage, S. 261, 270; Whitman, German Memories, S. 122. 24 Konrad Breitenborn (Hg.), Die Lebenserinnerungen des Fürsten Otto zu Stolberg-Wernigerode (1837–1896), Wernigerode 1996, S. 95. 25 Vgl. den Beleg in Anm. 7.
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zu Lande die Ausdehnung versagt ist) durch Handel und Kolonisation über See die Mittel zu gewinnen, um unsere steigende Bevölkerung zu ernähren.“ Die bittere Bilanz, die Preuß dem Junkertum bezogen auf die Innenpolitik vorhielt, wurde von Hintze relativiert. Hintze gab eher den globalen Bedingungen der Weltpolitik und einer hervorragenden Rolle des Reiches den Vorrang.26
3. Vergleichend-typologische Betrachtung der „Junker“ in globalhistorischer Absicht In europäischer und globaler Perspektive lassen sich die preußischen Junker typologisch in zwei Kategorisierungsschemata einordnen. Als „Adel“ können sie erstens in elitensoziologischer Weise analysiert werden, für die im Folgenden exemplarisch Robert Michels’ Interpretation näher betrachtet werden soll. Zweitens aber können die Junker anhand ihres historisch herausragenden Erkennungsmerkmals identifiziert werden: dem Landbesitz. In typologischer Betrachtungsweise gehören sie damit zu den „Großgrundbesitzern“.27 Vilfredo Pareto hat den Wechsel zwischen den herrschenden Klassen, die Zirkulation der Eliten, in den Mittelpunkt seiner grundsätzlichen Überlegungen gestellt: „Die Aristokratien haben keine Dauer. Was auch die Ursachen davon sein mögen, unbestreitbar ist, dass sie nach einer gewissen Zeit verschwinden. Die Geschichte ist ein Friedhof von Aristokratien.“ Paretos berühmtes Diktum erkannte an, dass sich die Führungsschichten (die Aristokratie als gesellschaftlich-politischer Begriff, in der der Adel nur einen Teilbereich darstellte) durch Assimilation und Integration von „homines novi“ zwar ständig veränderten, aber letztlich doch ihre Position verloren. In diesem Modell standen Aufstieg und Niedergang im Mittelpunkt, und der
26 Hintze, Hohenzollern, S. 53 f. Vgl. zur Charakterisierung der deutschen Gesellschaft im Kaiserreich als fragmentierte Klassengesellschaft Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3, 1849–1914, München 1995, S. 700–847. Zum Motiv der „Einkreisung“ vgl. Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, Stuttgart 1995, S. 236–43. 27 Vgl. Reif, Junker; Reinhold Zilch, „Junker“ als historische Kategorie bei Marx und Engels, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 29 (1981), S. 1140–47, mit dem Großgrundbesitz als wichtigstem Kennzeichen. Die marxistische Debatte kreiste um die Frage, ob die Junker im 19. Jahrhundert eher als ein Residuum der „feudalistischen“ Gesellschaft oder als moderne Agrarkapitalisten beschrieben werden sollten. Nur am Rande bemerkt Zilch, dass sich die Junker-Definition auf die sozialen Beziehungen (Gutsherren-Landarbeiter) auf den Gütern und in den Dörfern beziehen sollte.
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Adel des 19. Jahrhunderts befand sich in Konkurrenz mit der Bourgeoisie jedenfalls eher im Niedergang.28 Sah Pareto in der Aristokratie eine Formation der Herrschenden, die nicht in einzelnen sozialen Gruppen aufging, beschäftigte sich Robert Michels auch mit dem Adel als „Kern“ einer Herrschaftsgruppe. Michels wird heute vor allem als Parteientheoretiker gelesen, der ein Gesetz der Oligarchisierung gerade auch in den demokratischen Parteien zu erkennen glaubte. Sein pessimistischer Blick sah jede Partei den Weg von der Ideologie zur bloßen Machterhaltungspolitik beschreiten. Im Jahr 1914 verfasste Michels eine knappe Abhandlung „Zum Problem der zeitlichen Widerstandsfähigkeit des Adels“, die versuchte, dem Problem der Elitenkontinuität auf die Spur zu kommen. Michels argumentierte in der „longue durée“, er beschrieb Europa, namentlich Schweden und Frankreich. Sein Material entnahm er zeitgenössischen demographischen und genealogischen Studien, um zu zeigen, dass die Aristokratie nach wie vor in Europa zur Elite gehörte, wenn auch unter ständiger „Blutsauffrischung“ aus nichtadligen und jüdischen Quellen. „Wenn wir die Namen der Offiziere der preußischen Garderegimenter in der ‚Rangliste‘ nachlesen, können wir mühelos konstatieren, dass die großen Familien des preußischen Grundbesitzes und der preußischen Beamtenschaft, die zu Zeiten Friedrichs des Großen und der Befreiungskriege an der Spitze des preußischen Volkes standen, noch nahezu vollständig zur Stelle sind. Und zwar ohne dass sie an politischer oder ökonomischer Schwerkraft Einbuße erlitten hätten.“ Michels’ biologistische Sichtweise ist möglicherweise durch seine Bekanntschaft mit Cesare Lombroso zu erklären, dessen physiognomisch-anthropologische Erklärungen der Kriminalität viele Zeitgenossen faszinierten.29 Michels kam es darauf an, eine von ihm beobachtete Kontinuität der Eliten zu erklären. Statt der Auswechslung von Eliten nach politischen Umbrüchen sah er eine Anpassung durch Zustrom „neuer Männer“ in den Adel oder eine Erneuerung altadliger Familien durch die Heirat der Männer mit Frauen aus dem Bürgertum. Während die klassische Annahme die Endogamie der Eliten zwecks Macht- und Statuserhaltung betonte, wollte Michels eher die Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit der traditionellen Führungsgruppen 28 Vgl. allg. Michael Hartmann, Elitesoziologie, Frankfurt a.M. 2008; Vilfredo Pareto, Der Kreislauf der Eliten, hier nach: Marcus Llanque/Herfried Münkler, Politische Theorie und Ideengeschichte, Berlin 2007, S. 213. 29 Robert Michels, Zum Problem der zeitlichen Widerstandsfähigkeit des Adels (1914), in: Ders., Soziale Bewegungen zwischen Dynamik und Erstarrung, Berlin 2008, S. 214–29, das Zitat S. 222. Vgl. Richard Wetzel, Inventing the Criminal. A History of German Criminology, 1880–1945, Chapel Hill 2000.
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erklären. Allerdings fiel Michels’ Erklärung sehr einseitig anthropologischgenetisch aus: „Der Graf Isenplitz (sic) weist heute eine Körperstruktur, eine Nasenlänge, eine Physiognomik und ein Gebärdenspiel auf, die sich von denen – je nachdem – des Herrn Müller oder des Herrn Cohn nicht mehr wesentlich unterscheiden.“ Michels konstatierte eine Elitenpluralität in Europa, in der Adel als „gesellschaftlich differenzierte Klasse“ nur noch ein Element der „Aristokratie“ als Führungsschicht darstellte. Mit „Aristokratie“ meinte Michels dann die politisch tonangebenden Gruppen, die aus einer „alterierten Geburtsaristokratie“, aber auch aus einer „Geldaristokratie, Rangaristokratie oder Geistesaristokratie“ bestanden: „Sie alle zusammen machen die Aristokratie im Sinne der herrschenden Klasse aus.“30 Der elitentheoretische Zugriff, der die Kontinuität in einer Kombination von Kooptation und Einschmelzung neuer Gruppen und Individuen betonte, führte beinahe von selbst zur Vorstellung von der „Feudalisierung“ des Bürgertums: „Im heutigen Deutschland können wir die gleiche Beobachtung (wie in Frankreich, M.W.) machen: es gibt keine gesellschaftlich selbständige, auf sich stolze Bourgeoisie. Die deutsche Bourgeoisie ist in ihren Spitzen nur eine Vorstufe zum Adel. Ihre höchste Aspiration geht dahin, erst vom Adel aufgenommen zu werden, um dann in ihm aufzugehen.“ Michels beobachtete sehr genau, dass der Adel im 19. Jahrhundert „weder Stand noch Klasse“ darstellte. Die Ständegesellschaft verlor mit jedem Verlust eines ständischen Privilegs an Bedeutung, eine Klasse bildete der Adel aber schon wegen des Fehlens einer „allgemeinen wirtschaftlichen Basis“ nicht. Michels sah auch die von der bürgerlichen Adelskritik kaum beachtete Fragmentierung zwischen altem und neuem Adel einerseits, hohen und niederem Adel andererseits. Die innere Differenzierung des Adels resultierte regelmäßig in der Hervorbringung von Adelsreformprojekten, in denen es besonders häufig um die Schaffung eines landbesitzenden Primogenituradels nach englischem Muster ging, eines Adels also, der auf dem großen Grundbesitz als wichtigster Machtressource aufbaute. Michels, der die italienischen Verhältnisse besonders gut kannte, behandelte auch das Thema „Namen und Titel“, er sprach über Stand und Prädikat, und verwies damit auf die Frage der Erkennbarkeit von Adel. Aus der Sicht der Adelsreformer um 1900 kam es darauf an, die innere Differenziertheit des Adels nach außen zu zeigen: „Was vom Adel übrig bliebe, würde in zwei schon dem Namen nach erkenntliche Klassen ge30 Michels, Widerstandsfähigkeit, S. 224. Vgl. Timm Gennett, Einleitung, ebd., S. 41. Michels hat sich in den 20er Jahren zum italienischen Faschismus bekannt, nicht aber dem Antisemitismus genähert. Vgl. die Diskussion der „Geistesaristokratie“ bei Alexandra Gerstner, Neuer Adel: Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus, Darmstadt 2008.
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teilt werden: den alten Adel aus der Zeit, in welcher der Adel noch ein Stand war, den neuen Adel, dessen Adel nur Prädikat ist.“ Michels’ Bilanz formt die Thesen vor, die Arno Mayer in den 1980er Jahren so wirksam vertreten hat. „Aber wir wissen, dass heute der Adel die Aristokratie bestimmt, sich ihrer bemächtigt und sie nach seinem Geiste formt.“31 Michels’ Elitentheorie gestand dem Adel eine große Bedeutung zu. Seine europäische Perspektive unterschied sich sehr von Preuß und Hintze, die von Preußen und dem Deutschen Reich her dachten. In Michels’ Adelsaufsatz geht es daher nicht dezidiert um die preußischen Junker. Trotzdem kann man aus seinen Erläuterungen schließen, dass er Preuß’ Analyse einer politischen Hegemonie des Adels einiges hätte abgewinnen können, während er Hintzes relativierende Feststellungen skeptisch gesehen hätte. Michels’ Elite definierte sich als gesellschaftlich dominierende Kraft, die das tonangebende Kulturmodell europäischer Gesellschaften des fin de siècle vorstellte. Liegt der Schwerpunkt hier auf dem „kulturellen Kapital“, beschäftigen sich die makrosoziologischen Analysen der Großgrundbesitzer vorrangig mit dem Zusammenhang von wirtschaftlichen und politischen Interessen in einem globalhistorischen Kontext. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, welche Rolle die Großgrundbesitzer in einem säkularen Prozess der Demokratisierung gespielt haben. Haben sie als soziale Gruppe die Demokratie verhindert? Generell kann man feststellen, dass große Grundbesitzer von der soziologischmakrohistorischen Forschung der letzten Jahrzehnte nicht als bedeutendster Hemmschuh für eine demokratische Entwicklung angesehen werden. Wenn man so will: Die universalhistorische Perspektive auf das 19. Jahrhundert hat den großen Landbesitzern bzw. dem landbesitzenden Adel eine besondere Rolle als Verhinderer von Parlamentarisierung und Demokratisierung abgesprochen, möglicherweise mit der Ausnahme Russland. Theda Skocpol hat in den 1970er Jahren die preußische Reformpolitik zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Anpassungsleistung „des“ preußischen Adels interpretiert. Die Soziologin fasste die Reformbürokratie und die Junker als eine soziale Gruppe auf. Dabei kam es ihr nicht auf eine Differenzierung zwischen dem einheimischen Landadel und dem Reichsadel Steins oder dem hannoverischen Adel Hardenbergs an, die beide über eine eingebaute „Sympathiebremse“ gegenüber den Junkern verfügten. Selbst die frondierenden Junker seien nicht in der Lage gewesen, politische Initiativen des Staates 31 Michels, Widerstandsfähigkeit, S. 225–28; Arno J. Mayer, Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise der europäischen Gesellschaft 1848–1914, München 1988 (zuerst Princeton 1981), mit der zeitgenössisch provozierenden These, das Ancien Régime mit dem Adel als herrschender Schicht habe bis 1914 gedauert. Mayer, S. 100, sprach von der „sozialen Feudalisierung des deutschen Bürgertums“.
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auf Dauer zu blockieren. Und ganz offensichtlich schätzt Skocpol aus ihrer makrosoziologischen Perspektive die Reformen als letztlich erfolgreich ein, da sie – mit guten Gründen – die Agrarreformen in den Mittelpunkt stellt. Und für die Agrarreformen kann man nicht genug betonen, dass diese die Etablierung einer ländlichen Klassengesellschaft förderten und eine lange Prosperität der Landwirtschaft ermöglichten. Der Staat und die großen Landbesitzer sind eindeutig die Profiteure dieser Reformen gewesen: „Several things are remarkable about the Prussian Reform Movement: first, that the Prussian state survived to implement it at all; second, that the struggles involved remained entirely factional political intrigues within the governing class, ‘the internal affair of the upper ten thousand’, without involving the lower strata except as objects of manipulation; third, that resistance by landed nobles was limited and in considerable part overridden; and fourth, that merely a limited set of changes served so thoroughly to revitalize the Prussian state as to enable it to help defeat Napoleon after 1814, and thereafter to go on to take the lead in the unification of an industrializing Germany.”32
Selbst wenn die Darstellung der Preußischen Reformen als „Reform von oben“ heute in mancher Hinsicht allzu einseitig wirkt, sah Skocpol den preußischen Adel als Dienstadel, der dem Monarchen nicht mehr als eigenständige Korporation entgegentreten konnte. Widerstand von Adligen, z.B. gegen das Gendarmerieedikt, konnte aus Skocpols Perspektive höchstens kurzfristig erfolgreich sein: “All of these reforms could be implemented from above relatively smoothly because the Prussian state was already so very strong within society, and because the Junkers – whose established economic and status interests were somewhat contradicted by the reforms – were nevertheless in no institutional position to block concerted policy initiatives by the state.” Im Vergleich mit dem bourbonischen Frankreich, den letzten Jahrzehnten des kaiserlichen China und der Abschaffung der Leibeigenschaft in Russland 1861 war Preußen als Staat erfolgreich, weil es staatliche Politik auch gegen die (Adels-)Gesellschaft durchsetzte: “Yet the Prussian abolition of serfdom helped to faciliate the modernization and increasing prosperity of Prussian agriculture during the first two thirds of the nineteenth century.” Zwar scheinen aus heutiger Sicht manche der von Skocpol beobachteten Gemeinsamkeiten fraglich: Bei den „Bauern“ handelte es sich im preußischen Fall zwar 32 Theda Skocpol, States and Social Revolutions, Cambridge 1979, S. 105. Vgl. zur Bedeutung von Skocpol im Kontext einer Historischen Soziologie Wilfried Spohn, Neue Historische Soziologie. Charles Tilly, Theda Skocpol, Michael Mann, in: Dirk Kaesler (Hg.), Aktuelle Theorien der Soziologie, München 2005, S. 196–230.
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vielfach um in ihrer persönlichen Freiheit eingeschränkte „Untertänige“, aber in wirtschaftlicher Hinsicht durchaus um eigenständig handelnde Subjekte. Der Schritt in die agrarische Eigentümergesellschaft hatte in Preußen deutlich bessere Voraussetzungen als in Russland.33 George Steinmetz hat versucht, sich der Frage des Landbesitzereinflusses auf die preußische Politik aus einem anderen Blickwinkel zu nähern. Seit 1842 war in Preußen die frühneuzeitliche Bindung von Bedürftigkeitsunterstützung an den Geburtsort aufgehoben. Anrecht auf Unterstützung konnte durch dreijährige Ansässigkeit erworben werden. Auch das Gesetz über den Unterstützungswohnsitz von 1870 änderte diese Regelung nicht, sondern verpflichtete die ländlichen Herkunftsgemeinden zu Übergangszahlungen an die Städte, bis das Unterstützungsrecht auf den neuen Wohnsitz übergegangen war. Wenn man als politisches Ziel der Junker die Einschränkung der Freizügigkeit überhaupt definieren wollte, jedenfalls eine Initiative zur Beendigung der Landflucht, dann muss das Gesetz in der Tat als kontraproduktiv aus der Sicht der Landbesitzer gewertet werden. Auch die Sozialversicherungsgesetzgebung diente nach Steinmetz eher den Interessen der städtischen Arbeitgeber, die an gesünderen Arbeitskräften interessiert waren. Die Gesetzgebung vermied Bedürftigkeitsprüfungen und orientierte sich insgesamt an der Zielvorstellung einer „respektablen“, männlich dominierten und aus gelernter Tätigkeit konstituierten Arbeiterklasse, anstatt das Elend von städtischen und ländlichen Familien, Frauen und Kindern zu thematisieren. Der preußische Staat entschied sich nach Steinmetz dafür, die Interessen des Wirtschaftsbürgertums im Hinblick auf die Arbeitskräfte zu unterstützen. Für das ländliche Elend blieben die Junker auf ihre eigenen Ressourcen, auf Wohltätigkeit und persönliche Initiative angewiesen. Und hier war die gesamte Spannbreite möglich: von sozialpolitischen Musterbeispielen paternalistischer Modellgutsbesitzer mit Kindergarten, Krankenstationen, Wohnsiedlungen und Suppenküchen bis zu vollständiger Vernachlässigung durch die Großgrundbesitzer, die ländliche Slums der übelsten Sorte duldeten.34
33 Skocpol, States, S. 108 f. Zur Bilanz der Reformen im Vergleich vgl. Paul Nolte, Staatsbildung als Gesellschaftsreform. Politische Reformen in Preußen und den süddeutschen Staaten 1800–1820, Frankfurt a.M. 1990. 34 George Steinmetz, The Myth of the Autonomous State. Industrialists, Junkers, and Social Policy in Imperial Germany, in: Geoff Eley (Hg.), Society, Culture, and the State in Germany, 1870–1930, Ann Arbor 1996, 257–318, der argumentiert, die Sozialpolitik im Kaiserreich habe sich mehr an den Interessen des industriellen Bürgertums als an den Junkern orientiert. Zu den Wohnverhältnissen der ländlichen Unterschichten vgl. Clemens Zimmermann, Wohnen als sozialpolische Herausforderung, in: Jürgen
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Charles Kurzman hat kürzlich in einer vergleichenden Analyse der Russischen Revolution 1905, der iranischen Revolution von 1908 und der mexikanischen Revolution von 1910 festgestellt, die Landbesitzer seien für das Gelingen oder Scheitern der Revolutionen nicht primär verantwortlich gewesen. Damit hat er der Annahme Barrington Moores widersprochen, der in seiner klassischen Analyse über den Ursprung von Diktatur und Demokratie mit Blick auf den britisch-preußischen Vergleich davon ausgegangen war, dass ein Zusammenhang von vormodernen Wirtschaftsformen der großen Landbesitzer (in Preußen) und einer Blockierung der Demokratisierung bestehen würde. Großbritannien mit seinem marktkapitalistischen Beschäftigungssystem von „freien“ Arbeitern erschien in Moores Perspektive einmal mehr als Beispiel einer geglückten Modernisierung.35 Barrington Moores Blick auf Großbritannien und Preußen hob die Unterschiede hervor, vor allem zwischen den erfolgreichen britischen Großgrundbesitzern und den wirtschaftlich schwachen Junkern in Preußen. Er sah in Preußen auf die vielfältigen Formen der ländlichen Arbeitsverfassung und interpretierte diese Verhältnisse zumindest als teilweise feudal-repressiv. Heutige vergleichende Betrachtungen werden dagegen auch Gemeinsamkeiten zwischen Großbritannien und Preußen hervorheben. Bei näherer Betrachtung erscheinen die britischen Landarbeiter weniger frei als gemeinhin angenommen: In manchen englischen Grafschaften waren die Landarbeiter an ein Truck-System gebunden, in dem Löhne in Naturalien ausgezahlt wurden. Nur am Rande sei erwähnt, dass in beiden Ländern den Bauern, Farmern und Landarbeitern in der Historiographie heute wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird.36 Kurzmans Analyse des Verhältnisses von Großgrundbesitzern und Demokratisierung kommt zu dem Ergebnis, dass Untergruppen der Landbesitzer zumindest zeitweise mit einem progressiven Wandel der politischen Verfassung sympathisierten. Für Russland 1905 konstatiert Kurzman eine Annäherung zwischen Landbesitzern und progressiven Intellektuellen, die auf eine Entfremdung der Landbesitzer vom autoritären Staat zurückzuführen sei. Die zemstovs, die Provinzvertretungen, wurden vom Landadel als Foren der Opposition gegen die Regierung benutzt. 1904/05 schlossen sie sich den Forderungen nach einer parlamentarischen Vertretung für den Gesamtstaat an. Auch Forderungen nach einer Landreform, freilich gegen Entschädigung, Reulecke (Hg.), Geschichte des Wohnens, Bd. 3. 1800–1918. Das bürgerliche Zeitalter, Stuttgart 1997, S. 562–566. 35 Charles Kurzman, Democracy Denied 1905–1915, Cambridge/Mass. 2008, S. 173–95. 36 Barrington Moore, Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie, Frankfurt a.M. 1974 (engl. 1966), S. 56.
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fanden Unterstützung. Erst das Oktobermanifest und die Bauernunruhen von 1906 beendeten diese Allianz zwischen reformorientierten Intellektuellen und den Landbesitzern. Die Rückbesinnung auf die traditionelle Allianz zwischen dem Zarismus und den großen Grundbesitzern konnte die Revolution letztlich aber nicht verhindern.37 Im Iran der Jahrhundertwende existierte ein Staat jenseits der Kompetenzen der Großgrundbesitzer in rechtlicher, steuerpolitischer und kommerzieller Hinsicht faktisch nicht. Trotzdem bildeten die Landbesitzer kein einheitliches politisches Lager. Sogar Mitglieder der königlichen Familie fanden sich als politische Gegner wieder. Einige Prinzen unterstützten die revolutionären Komitees. Mit dem Staatsstreich von 1908 gewannen die Konservativen die Oberhand, die wiederum 1909 durch eine parlamentarische Regierung entmachtet wurden. Große Landbesitzer, teilweise beeinflusst von europäischen Reformideen, aber auch gegen den zentralistischen Autoritarismus eingestellt, der z.B. die Steuererhebung verstaatlichen wollte, spielten auch im progressiven Lager eine Rolle. Der Staatsstreich von 1911 allerdings fand ohne entscheidende Beteiligung der Landbesitzer statt.38 Die Hacienda-Wirtschaft in Mexiko stattete die großen Landbesitzer weder mit Titeln noch mit besonderen Rechten gegenüber den Peonen/ Kleinbauern aus. Zur Zeit der Revolution von 1910 gab es in Mexiko mehr als 8000 Haciendas mit einer Durchschnittsgröße von 3000 ha. Die Revolution installierte eine demokratische Regierung, die mit den Landbesitzern kooperierte. Eine durchgreifende Landreform kam jedenfalls nicht zustande. Sowohl die Demokratie als auch die ländliche Arbeitsverfassung und ihre Abhängigkeiten bestanden vorerst weiter. Kurzman fast zusammen: “The democratic revolutions of the early 20th century do not appear to have been won or lost in the countryside, as Barrington Moore and Otto Hintze let us to expect.” Sowohl die großen Landbesitzer als auch die Bauern scheinen angesichts des Bedeutungsgewinns der Städte zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr als entscheidende Faktoren.39 Jürgen Osterhammels monumentale „Verwandlung der Welt“ behandelt den Adel im 19. Jahrhundert in globaler Perspektive. Seine „Weltgeschichte“ inter37 Kurzman, Democracy, S. 174–78. Vgl. Manfred Hildermeier, Die russische Revolution 1905–1921, Frankfurt a.M. 1989. 38 Kurzman, Democracy, S. 178–85. Vgl. Nikki R. Keddie, Qajar Iran and the Rise of Reza Khan, 1796–1925, Costa Mesa/CA 1999; dies., Modern Iran: Roots and Results of Revolution, New Haven/CN 2003. 39 Kurzman, Democracy, S. 194. Vgl. Hans W. Tobler, Die mexikanische Revolution, Frankfurt a.M. 1992; Walther L. Bernecker u.a., Eine kleine Geschichte Mexikos, Frankfurt a.M. 2007.
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essiert sich nicht, wie die soziologischen Vergleichsprojekte, primär für typologische Kausalitätsfragen, sondern in einem theoretisch fundierten Historismus um die Verbindung zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen. Für die Adelsgeschichte wählt Osterhammel keinen konsequent elitenhistorischen Ansatz, sondern bemüht sich von vornherein, die Motive von Führungsschicht und Landbesitz in der Dynamik des Niedergangstopos zusammen zu binden. Den europäischen Fallbeispielen Großbritannien, Frankreich und Russland werden Indien, China und Japan gegenübergestellt. Wegen der Einbeziehung der Russischen Revolution endet das 19. Jahrhundert hier allerdings erst um 1920: „In keinem Land Europas hielt sich der Adel zu jener Zeit noch als eine erstrangige politische oder tonangebende kulturelle Kraft. Dieser Abstieg des europäischen Adels war teils eine Folge der Revolutionen des späten 18. und dann wieder des frühen 20. Jahrhunderts, teils ein Resultat der relativen Abwertung von Landbesitz als Quelle von Reichtum und Prestige.“40 Osterhammel bemüht sich, kulturelle und wirtschaftliche Faktoren gleichermaßen zu berücksichtigen. Er beschreibt insgesamt einen „gebremsten Niedergang“ des Adels, charakterisiert aber das Jahrhundert zwischen den großen Revolutionen als „Gute Zeit“ für Adlige, und die individualisierende Formulierung ist sicher kein Zufall. Dabei werden charakteristische Unterschiede deutlich. Osterhammel stellt den französischen Adel als Beispiel für den beinahe kompletten Verlust von politischem und gesellschaftlichem Einfluss im Verlauf des 19. Jahrhunderts vor. Der Bruch der Revolution 1789 blieb unheilbar, auch wenn Napoleon seinen eigenen Adel als Teil eines Elitenprojekts begründete. Bis in das zweite Drittel des 19. Jahrhunderts wurde in Frankreich der Adel als Führungsgruppe durch die „Notabeln“, eine adlig-bürgerliche Mischformation ersetzt, die in der Provinz von den Städten aus den Ton angab. Russland und England stehen in unterschiedlicher Weise als Beispiele für einen starken Adel. Der russische Adel behielt auch nach der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 den Zugriff auf den Grundbesitz, ebenso wie der Landbesitz der englischen Aristokratie durch die Parlamentsreformen und die Erweiterung des Wahlrechts nicht berührt wurde. Allerdings hatte die in beiden Ländern feststellbare wirtschaftliche Stärke des Großgrundbesitzeradels politisch sehr unterschiedliche Folgen. Während sich der britische Adel im Parlamentarismus eingehegt fand und den Prozess der Demokratisierung in Gestalt der Wahlrechtsreformen nicht nur nicht verhinderte, sondern ihn mittrug, destabilisierte die russische Führungsschicht das politische System. Dabei kam dem britischen Adel sicher zugute, dass er mit 40 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 1064–79, hier S. 1064.
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dem „gentleman-ideal“ ein Kulturmodell mit großer europäischer und globaler Ausstrahlungskraft kreiert hatte. Der russische Adel dagegen verfügte über wenig von der Monarchie unabhängiges Selbstbewusstsein.41 In den asiatischen Gesellschaften wurde die Bedeutung des Adels von vornherein durch die nur lose Verbindung von Status und Landbesitz relativiert: „In den vielen verschiedenen asiatischen Ländern, so unterschiedlich die Rechtsverhältnisse auch waren, fand sich selten eine so unerschütterliche, von keinem Souverän anzutastende Verbindung zwischen einem besonderen Boden und einer besonderen Adelsfamilie wie in den meisten Teilen Europas.“ So hatten die Samurai in Japan als ehemaliger Kriegeradel im 19. Jahrhundert weder Zugang zu Land noch eine akzeptierte gesellschaftliche Aufgabe. Auch in Mandarin-China waren der Status der Gelehrtenbeamten als führender Schicht einerseits und Landbesitz andererseits vollständig getrennt. Der Vergleich zwischen europäischen und asiatischen Adelsgruppen zeigt somit die Bedeutung von Genealogie und Erbe als zentrale Charakteristika der Entwicklung in Europa. Nur in dieser Konstellation war eine vergleichsweise große Autonomie des Adels als Führungsschicht überhaupt möglich. Für Preußen und Deutschland weist Osterhammel auf einen „konservativen Nationalismus“ hin, der die Integration des Adels in das Kaiserreich erleichterte und Brücken zumindest zum Nationalliberalismus schlug.42 Insgesamt aber konnten weder der britische noch der russische Adel als die weltweit stärksten Adelsgruppen im 19. Jahrhundert den sozialen und gesellschaftlichen Wandel verhindern oder gar das Ancien Régime wieder aufleben lassen. Für Großbritannien ist immer wieder hervorgehoben worden, dass die Reformpolitik auf der Grundlage vollzogener Parlamentarisierung und zumindest im Vergleich mit dem Deutschen Kaiserreich zögerlicher Demokratisierung die Massenpolitik des 20. Jahrhunderts letztlich nicht aufgehalten hat. Dem russischen Adel, dem Adel Österreich-Ungarns und dem deutschen Adel gelang es jedenfalls nicht, die Revolutionen des frühen 20. Jahrhunderts zu verhindern. Preuß’ Beschäftigung mit den Junkern betonte die Politik. Christopher Clark hat vor kurzem noch einmal hervorgehoben, dass der Junkeradel in Preußen auf einem eigenen, gruppenbezogenen Politikentwurf bestand: „Gerade diese soziogeographischen Unterschiede verhinderten wiederum das Entstehen einer bürgerlich-adeligen ‚Gesamtelite‘, die in den süddeutschen Staaten den Ton angab, und hatten zugleich zur Folge, dass die Politik des 41 Osterhammel, Verwandlung, S. 1066–69; Orientierung an Dominic Lieven, Abschied von Macht und Würden. Der europäische Adel 1815–1914, Frankfurt a.M. 1995. 42 Osterhammel, Verwandlung, S. 1068, 1072–79, 1066.
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Junker-Milieus einen unversöhnlichen und extremistischen Zug annahm.“ Der globalhistorische Blick verdeutlicht einmal mehr, dass die Rolle der Junker im Vergleich relativiert wird. Freilich ist das der zeit- und ortsgebundenen Betrachtung von Preuß nicht vorzuwerfen. Preuß’ historisierender Blick auf das 19. Jahrhundert erfüllte primär eine politische Funktion. Preuß verdichtete die preußische Geschichte auf das Verhältnis zwischen den Junkern und dem Staat. Das Junkermotiv stand für alles, was Preuß entgegengesetzt war: für Konservativismus, für die (groß)agrarische Welt, für das Ländliche und die östlichen Provinzen. In dieser Hinsicht wies die „Junkerfrage“ einmal mehr auf die Gegensätze der preußischen Gesellschaft zwischen ländlicher Welt und städtischen Ballungsräumen hin, die für die Jahrzehnte zwischen 1880 und 1930 besonders charakteristisch waren.43
43 Preuß, West-Östliches Preußen, in: Ders., Gesammelte Schriften Bd. 1, S. 295; Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947, München 2006, S. 642.
WOLFRAM PYTA
Hugo Preuß und die Parlamentarisierung der Monarchie im Ersten Weltkrieg
Die Zielsetzung des folgenden Beitrags ist eine mehrfache: Einmal geht es darum, die verfassungspolitischen Vorstellungen von Hugo Preuß während des Ersten Weltkriegs zu systematisieren und dabei die Leitfrage zu stellen, inwieweit sich der spätere Vater der Weimarer Reichsverfassung für die Parlamentarisierung des Kaiserreichs engagierte. Zweitens gilt das Interesse den Mitteln, mit denen Hugo Preuß in seiner mehrfachen Funktion als Rechtsgelehrter, Politiker und Bürger seine Leitideen zu propagieren und durchzusetzen suchte. Der ihm in mancherlei Hinsicht ähnliche Theodor Heuss hatte das zutiefst politische Wesen von Hugo Preuß treffend erkannt, als er die „dem Tage zugewandte Schriftstellertätigkeit” seines Gesinnungsfreundes nicht zuletzt als Versuch deutete, sich politisch Gehör zu verschaffen: „Preuß stand Jahre, stand Jahrzehnte am Ufer, auf den Ruf der Schiffsleute wartend, daß er ihnen helfe, das Schicksal des Staates zu steuern“.1 Der folgende Beitrag stützt sich dabei im Wesentlichen auf die Gesammelten Schriften von Hugo Preuß, die in der verdienstvollen Edition der Hugo-Preuß-Gesellschaft mittlerweile leicht zugänglich sind.2 Hugo Preuß bediente sich verschiedener Darstellungsformen, um seine verfassungspolitischen Positionen der Öffentlichkeit nahezubringen. An erster Stelle rangiert die gelehrte Abhandlung, in der Preuß, aus einem unerschöpflichen Fundus an verfassungshistorischem Wissen schöpfend, den Leser an den großen Linien der europäischen und deutschen Verfassungsentwicklung teilhaben lässt. Dahinter kommen Reden vor in der Regel akademischem Publikum, die in Druckform gebracht wurden. Ein besonders interessantes Format bilden die Beiträge für Tageszeitungen, weil Preuß hier immer wieder topische Mittel einbrachte, um seine Ausführungen stilistisch zu veredeln. Preuß beherrschte hierin die Kunst, messerscharfe Präzision in der Gedankenführung mit geist1 Theodor Heuss, Führer aus deutscher Not. Fünf politische Porträts, Berlin 1927, Zitate S. 73 und S. 68. 2 Für unsere Fragestellung ist vor allem Bd.1 von Belang: Hugo Preuß, Politik und Gesellschaft im Kaiserreich, hg. und eingeleitet von Lothar Albertin in Zusammenarbeit mit Christoph Müller, Tübingen 2007.
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reichen Metaphern und ausdrucksstarken Stilmitteln zu verschmelzen.3 Die hohe Kunst der Formulierungsgabe lässt den Reichtum an Bildungsgütern erahnen, aus denen der Bürger Hugo Preuß schöpfte, über dessen künstlerische Vorlieben wir aufgrund des schmerzlichen Mangels an Ego-Dokumenten so wenig unterrichtet sind. Wie souverän er sich in der Welt der Kunst bewegte und wie sehr diese Quell der Inspiration und auch seines Weltbürgertums war, blitzt gelegentlich in seinen verfassungspolitischen Abhandlungen auf – beispielsweise in einer Rede anlässlich seines Antritts als Rektor der Berliner Handelshochschule vom 19. Oktober 1918, in welcher Preuß die noch verfeindeten Nationen zur Versöhnung aufrief und dies mit Hinweis auf die übernationalen Kraftquellen der Menschheit untermauerte: „Der Weisheit tiefste Gedanken, die höchsten Blüten der Kunst sind Gemeingut der Menschheit.“4
1. Die Aufwertung des Demos durch den Weltkrieg Will man die Haltung von Hugo Preuß zur Einführung der parlamentarischen Monarchie im Oktober 1918 beleuchten, dann muss man darauf eingehen, welche verfassungspolitischen Konsequenzen Preuß aus dem Ersten Weltkrieg zog. Die historische Forschung hat gerade in den letzten Jahren deutlich gemacht, welch entscheidende Zäsur der Erste Weltkrieg darstellte – zum einen in kultureller Hinsicht, weil er einen aktionistischen Politikstil hervorbrachte5, zum anderen in verfassungspolitischer Hinsicht, weil ungeachtet tiefer politischer Meinungsunterschiede zwischen links und rechts das Volk zu einer zentralen legitimationsstiftenden Quelle erhoben wurde. Die Linke hatte sich ohnehin mehr oder weniger engagiert mit der Vorstellung demokratischer Legitimation von Herrschaft angefreundet; und auf der Rechten gewann, abgesehen vom klassischen Konservatismus, diejenige Strömung die Oberhand, welche die traditionelle Vorstellung monarchischer Legitimation durch Anbindung an die Vorstellung vom Volk als politischer Willensgemeinschaft entwertete. Die beiden in diesem Kontext favorisierten Konzepte – „Volksstaat“ auf der Linken, „Volksgemeinschaft“ auf der Rechten – setzten zwar unterschiedliche Akzente bezüglich der bedeutenden Frage, wie denn der Volkswille zu organisieren wäre und welche Funktion dabei dem Parla3 Vgl. etwa seinen in Briefform gekleideten Beitrag über „Parlamentarisierung“ in der „Frankfurter Zeitung“ vom 4. August 1917, abgedruckt ebd., S. 656–660. 4 Ebd., S. 706–718, Zitat S. 718. 5 Siehe insbesondere Thomas Mergel, Das parlamentarische System von Weimar und die Folgelasten des Ersten Weltkrieges, in: Andreas Wirsching (Hg.), Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie, München 2007, S. 37–59.
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ment zufallen sollte; aber in beiden Fällen spielte der Rekurs auf ein politisch erwachtes, durch Kriegsanstrengungen und das narrativ ausgeschmückte „August“-Erlebnis zu neuer Eintracht zusammengeschweißtes Volk eine zentrale Rolle.6 Auch Hugo Preuß deutete diesen Nationalisierungsschub als Argument, um gerade bei Skeptikern für Vertrauen für seine Vorstellung von Volkssouveränität zu werben. Sollte ein Volk, das sich in diesem Krieg auf allen Gebieten so glänzend geschlagen habe, es nicht verdienen, zum Ausgangspunkt politischer Willensbildung aufzusteigen? Denn nicht der preußisch-deutsche Obrigkeitsstaat, sondern das Volk unter Einschluss bislang von politischer Teilhabe weitgehend ausgeschlossener Gruppen der Linken habe sich in der Stunde der Selbstbehauptung nach außen bewährt: „Nicht der Staat, so wie er war, ist es in Wirklichkeit, der diese unerhörteste Kraftprobe bewundernswert besteht; vielmehr die deutsche Volkskraft in ihrer All-Einheit, die als solche erst durch den Ausbruch des Krieges hervorgetreten ist“.7 Der Begriff „Volksstaat“ sollte dieses Verlangen nach organischer Verbindung von Volkswillen und Staatswillen terminologisch markieren. In seiner im Mai 1915 erschienenen Schrift „Das deutsche Volk und die Politik“ unternahm Preuß den Versuch, auf rund zweihundert Druckseiten dieses verfassungspolitische Ziel in einer überaus gelehrten Abhandlung historisch-systematisch von allen Seiten aus zu beleuchten. Diese Schrift geizt nicht mit profunden verfassungshistorischen Kenntnissen der deutschen und europäischen Geschichte und bindet die deutsche Verfassungsentwicklung souverän in den europäischen Kontext ein. Preuß bemängelt im Kern, dass der Konstitutionalismus preußisch-deutscher Prägung in eine Sackgasse geführt habe, weil er die „verbindungslose Gegensätzlichkeit von Regierung und Parlament“ festgeschrieben und damit „wirkliche staatsmännische Verantwortlichkeit“8 verhindert habe. Diese Entgegensetzung zwischen einer aus Beamten bestehenden Obrigkeitsregierung und dem Volk sei nicht zuletzt durch die extrakonstitutionelle Stellung des Heeres in der preußisch-deut6 Grundlegend hierzu ist Steffen Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003; siehe auch ders., Solidaritätsformel oder politisches Ordnungskonzept? Vom Burgfrieden zur Volksgemeinschaftsidee in Deutschland 1914–1918, in: Wolfram Pyta/Carsten Kretschmann (Hg.), Burgfrieden und Union sacrée. Literarische Deutungen und politische Ordnungsvorstellungen in Deutschland und Frankreich 1914–1933, München 2011, S. 33–50. 7 So Preuß in seinem am 30. November 1915 publizierten Zeitungsbeitrag „Neue Zeit?“, abgedruckt in Preuß, Politik und Gesellschaft, S. 538–542, Zitat S. 540. 8 Hugo Preuß, Das deutsche Volk und die Politik, Jena 1915, beide Zitate S. 9.
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schen Geschichte verursacht worden: Das Heer „steht im Verfassungsstaat wie eine exterritoriale Enklave des alten Obrigkeitsstaates“.9 Politisch unklug ist eine solche Abschottung des Regierungshandelns vom Volkswillen nach Auffassung von Preuß auch deshalb, weil sie einer politischen Ressourcenverschwendung gleichkommt, die sich Deutschland nicht länger leisten könne. Denn damit beraube sich die Exekutive der Möglichkeit, auf politische Führungskräfte zurückzugreifen, die durch demokratische Auswahl heranreiften und ihr Mandat nicht einem der vielen unergründlichen Willensbekundungen von Monarchen verdankten. „Und das ist die schwächste Seite des Obrigkeitssystems, daß es unzertrennlich ist von der ungeheuerlichsten politischen Kraftvergeudung; und daß es zugleich unfähig ist zu einer den modernen Verhältnissen angepaßten Auslese der Geeignetsten und Tüchtigsten für den inneren und äußeren Dienst des Staates“.10 Daraus leitet Preuß den Auftrag ab, durch „Umbildung vom Obrigkeitsstaat zum Volksstaat“11 solche bislang ferngehaltenen Kräfte am politischen Entscheidungsprozess zu beteiligen. Bei der Aufzählung der Antriebskräfte für eine solche Transformation des politischen Systems sollte man auch außenpolitisch motivierte Argumente bei Hugo Preuß nicht aus dem Auge verlieren. Schließlich stand das Deutsche Reich in einem Weltkrieg – und daher war die Frage der innenpolitischen Reformfähigkeit des Reiches aufs engste mit der Frage verknüpft, ob gerade eine innenpolitische Umgestaltung das Deutsche Reich einem Frieden näher rücken konnte. Bei weitblickenden Analytikern jener Jahre waren innere Reformbemühungen immer auch mit dem Ziel der Herstellung eines Friedens verbunden, der dem Deutschen Reich eine halbwegs glimpfliche Beendigung des Krieges ermöglichte. Preuß wusste darum, dass eine auch außenpolitisch motivierte Reform des Reiches ein schwieriger Balanceakt war, weil sich keinesfalls der Eindruck festsetzen durfte, als sei die innere Umgestaltung des Reiches eine von den Gegnern Deutschlands diktierte Bedingung für Friedensgespräche: „Hemmung und Gegenwirkung muß notwendig eintreten, wenn der Eindruck entsteht und geflissentlich genährt wird, daß die Demokratisierung dem deutschen Volke vom feindlichen und unfreundlichen neutralen Auslande gleichsam als Buße seiner politischen Sünden auferlegt werden soll“12. Auf der anderen Seite war Preuß und vielen seiner 9 Ebd., S. 65. 10 So in seinem Vortrag vom 8. April 1916 über „Innere Staatsstruktur und äußere Machtentfaltung“, abgedruckt in Preuß, Politik und Gesellschaft, S. 547–563, Zitat S. 560. 11 Preuß, Das deutsche Volk, S. 164. 12 So in seinem 1917 erschienenen Beitrag „Deutsche Demokratisierung“, abgedruckt in Preuß, Politik und Gesellschaft, S. 665–672, Zitat S. 667.
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Gesinnungsfreunde im Laufe des Weltkriegs mehr als deutlich geworden, wie isoliert das Deutsche Reich und seine Verbündeten in der Weltmeinung dastanden, weil sie sich vom westlichen Modell der Verschränkung von Volks- und Staatswillen abgesetzt und auf einem spezifischen, davon deutlich abgegrenzten Herrschaftstypus bestanden. Bitter beklagte Hugo Preuß die „unsagbar schädigende außenpolitische Abstoßungskraft unsrer innerpolitischen Struktur“.13 Deutschland sei deswegen noch nicht einmal reif für moralische Eroberungen bei den Nachbarvölkern, die ihm sprachlich so nahe stünden wie bei den Flamen, Luxemburgern oder Deutsch-Schweizern.14
2. Parlamentarismus als „Trainingslager“ für künftige Staatsmänner Wie aber sollte der Volkswille organisiert werden, damit das Volk so nah wie möglich an den Staat heranrücken konnte? Wie war es zu bewerkstelligen, daß die Regierung als „organischer Exponent eines starken Volkswillens“15 fungierte? Preuß warf damit zentrale Fragen jeder Demokratietheorie auf; und seine Antworten greifen auf das Repertoire klassisch-liberaler Standpunkte zurück, indem sie im Parlament die dafür am besten geeignete Institution erblickten, da sie zum einen der repräsentativste Ausdruck des Volkswillens sei und zum anderen eine Talentschmiede für politische Führungskräfte in der Exekutive darstelle. Besonders der funktionale Nutzen parlamentarisch-demokratischer Führerauslese spielte in der Argumentation von Preuß während des Weltkriegs eine zentrale Rolle. Denn Preuß registrierte mit Besorgnis, dass der Politik der Primat zu entgleiten drohte, was für ihn gleichbedeutend mit einem Mangel an politischer Führungskraft war, die sich Deutschland im Weltkrieg eigentlich nicht leisten durfte. Die Ursachen dafür lagen zum einen in dem von ihm scharf kritisierten Ausschluss politisch kompetenter Persönlichkeiten von der Regierungsverantwortung, da das konstitutionelle System eine Negativauslese betreibe, indem es blasse Beamtentypen an die Spitze der Exekutive setze und führungsstarke politische Persönlichkeiten aus dem Parlament abweise: „Gerade weil unser Konstitutionalismus nach der Erfahrung so vieler 13 So in seinem am 10. November 1917 publizierten Beitrag „Freiheit und Macht“, ebd., S. 675–678, Zitat S. 677; vgl. auch die Ausführungen bei Lehnert, Verfassungsdemokratie, S. 177–182. 14 Ebd., S. 677 f. 15 Vgl. seinen am 8. April 1916 gehaltenen Vortrag „Innere Staatsstruktur und äußere Machtstellung“, ebd., S. 547–563, Zitat S. 561.
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Jahrzehnte nur die Möglichkeit politischen Redens, nicht aber schöpferischen politischen Handelns gibt, mußte er je länger desto mehr auf wirklich politische Naturen eher abstoßend als anziehend wirken“.16 Dieses klassische Argument aus dem Arsenal seiner Vorhaltungen gegen die Webfehler des Obrigkeitsstaates wurde allerdings ergänzt durch die Befürchtung, dass sich der Ruf nach politischer Führung auch auf plebiszitär-akklamatorische Weise Gehör verschaffen und damit wiederum am Parlament vorbei die Rekrutierung politischen Personals erfolgen könne. Der Weltkrieg hatte die politischen Lebensgeister im deutschen Volke geweckt – eine an sich grundsätzlich von Preuß gutgeheißene Entwicklung, die aber zunehmend mit skeptischem Unterton kommentiert wurde, wenn damit eine Dynamik freigesetzt wurde, in der nationalistisch aufgewühlte Massen politische Mitspracherechte für sich reklamierten. Preuß empfand mehr als nur ein leichtes Unbehagen vor einer solchen „Massensuggestion, die nur die Stimme besinnungsloser Leidenschaft hören will und kann“.17 Und man wird zumindest die Denkmöglichkeit nicht außer acht lassen dürfen, dass Preuß damit auch eine plebiszitär abgestützte Herrschaft der militärischen Führung im Auge gehabt haben könnte, wie sie in der 3. Obersten Heeresleitung im Gespann Hindenburg/Ludendorff seit August 1916 praktiziert wurde.18 Zwar hat Preuß zumindest in seinen öffentlichen Äußerungen mit keinem Wort die politischen Gefahren angesprochen, die von der militärischen Führung des Deutschen Reiches drohten. Weder Hindenburg noch Ludendorff waren Hugo Preuß eine namentliche Erwähnung wert, obgleich zeitgleich zur Parlamentarisierung der Reichsverfassung, am 26. Oktober 1918, Ludendorff von Wilhelm II. entlassen worden war. Man wird aber dennoch die Vermutung wagen können, dass Hugo Preuß durchaus die Gefahren einer plebiszitär abgestützten Herrschaft eines mit Symbolkraft ausgestatteten militärischen Führers erblickt haben dürfte. Denn immer wieder blitzt aus seinen Ausführungen die Vorstellung hervor, dass die vom Weltkrieg entfesselten sozialen Energien und die damit verbundenen neuen Qualitäten der politischen Mobilisierung politisch ambivalent waren. Preuß blieb der in der Wolle gefärbte Liberale, der das bürgerschaftliche Engagement des Volkes uneingeschränkt gut hieß und alle Schichten des Volkes zu politischer Partizipation ermunterte, weil er diesen politischen Willensbildungsprozess des Volkes in die institutionelle Form der parlamentarischen Vertretung des Volkswillens überführen wollte. Diese 16 Preuß, Das deutsche Volk, S. 56. 17 Vgl. seine Rektoratsrede vom 19. Oktober 1918, ebd., Zitat S. 715. 18 Dazu in herrschaftstypologischer Perspektive Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2007.
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schien ihm nach seiner festen politischen Überzeugung der geeignetste Weg zu sein, um Deutschland zu einem gleichwertigen Mitglied der westlichen Völkergemeinschaft zu machen. Ein plebiszitärer, nicht parlamentarisch disziplinierter Stil der Artikulation politischer Interessen war ihm nicht geheuer. Hierin zeigen sich auch generationelle Prägungen einer Altersgruppe, die auf dem Boden des bereits etablierten Kaiserreichs politisch groß wurde und dem aktionistischen Überschwang der im Wilhelminismus geborenen Alterskohorte fremd gegenüberstand.19 Mit Sorge betrachtete Preuß in diesem Zusammenhang, dass mit der „Deutschen Vaterlandspartei“ im Jahre 1917 eine nationalpopulistische Bewegung Fahrt aufnahm, die nicht im klassischen Sinne konservativ genannt werden konnte, weil sie die Volksstimmung in Stellung bringen wollte, um einen zögernden Monarchen in ihre Richtung zu lenken. Preuß diagnostizierte in dem Aufschwung dieser nationalistischen Sammlungsbewegung den unaufhaltsam fortschreitenden Zerfall des alten bürokratischen Obrigkeitsstaates.20 Nur wenn Parlament und Regierung so miteinander verzahnt würden, dass die regierenden Politiker dem Schoße des parlamentarischen Betriebs entsprangen, könnte das Deutsche Reich seine beiden Kardinalprobleme auf einen Schlag lösen: Einmal würde die politische Führung durch unverbrauchte Persönlichkeiten aufgefrischt, die im Parlament ihre politischen Bewährungsproben bestanden hatten. Damit würden zugleich die außerhalb geregelter Verfahren proklamierten Führungsansprüche plebiszitärer Kriegsherren in ihre Schranken gewiesen werden. Zum anderen würde auch der politische Gestaltungsspielraum der Regierenden enorm ausgeweitet, da sie – mit festem Rückhalt im Parlament ausgestattet – nun nicht mehr den Launen des Monarchen und dessen Ratgebern ausgeliefert seien. Eine parlamentarisierte Monarchie würde vor allem die Stellung des Reichskanzlers enorm aufwerten: „Denn die politische Führung als selbständig leitender Staatsmann kann nur der Minister fest in der Hand halten, dessen politische Stellung parlamentarisch verankert ist; aber nicht der Beamte, den jederzeit
19 Vgl. die klugen Beobachtungen von Stefan Meineke, Friedrich Meinecke. Persönlichkeit und politisches Denken bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Berlin 1995, S. 315 f.; allgemein zur Fruchtbarkeit des Generationsansatzes vgl. u.a. Carsten Kretschmann, Generation und politische Kultur in der Weimarer Republik, in: Hans-Peter Becht u.a. (Hg.), Politik, Kommunikation und Kultur in der Weimarer Republik, Ubstadt 2009, S. 11–30. 20 So in seinem im Oktober 1917 erschienenen Beitrag „Die Götterdämmerung des Obrigkeitssystems”, in: Preuß, Politik und Gesellschaft, S. 672–675.
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unerforschliche Ratschlüsse in das politische Nichts zurückschleudern können, aus dem sie ihn überraschend hervorgeholt haben“.21 Preuß’ Plädoyer für eine Aufwertung der Stellung der Regierung durch ihre parlamentarische Verankerung war zugleich mit der Erwartung verbunden, dass auf diese Weise der enorme Bedarf an staatsmännischer Führung abgedeckt werden könnte. Preuß war ein vehementer Befürworter einer kraftvollen und entscheidungsfreudigen politischen Führung, die gerade im Weltkrieg Not tat – und der Seitenblick nach Frankreich und Großbritannien belehrte ihn, dass parlamentarische Regierungsformen kraftvolle Führungspersönlichkeiten im Weltkrieg hervorzubringen vermochten. Geradezu sehnsüchtig klangen seine Rufe nach einem Staatsmann an der Spitze des Reiches, in dem „unser starkes Volk endlich seinen heiß ersehnten starken politischen Führer finden“22 werde. Preuß war dabei sehr wohl bewusst, dass angesichts der fehlenden Einübung sich die im Parlament vertretenen politischen Parteien schwer tun mussten, als Rekrutierungsbasis für Politiker von Format zu fungieren.23 Allerdings stellte er den Parteien, deren Innenleben er aus eigener Anschauung kannte, keinen Freibrief aus, in gewohnten Bahnen weiter zu verfahren, da der Übergang zum Parlamentarismus von den Parteien verlangte, eine neue Kultur der Führungsauslese zu entwickeln. Darin sollten der brave Parteifunktionär und der ebenso blasse wie loyale Parteigänger nicht länger in der Lage sein, in einem Kartell der Mittelmäßigkeit Führungskräften den Weg nach oben zu verbauen; der Typus des „politischen Kleingewerbetreibenden“24 stand nicht hoch im Kurs bei Hugo Preuß. Einen Königsweg zur Parlamentarisierung des Reiches konnte und wollte Preuß aber nicht benennen. Angesichts der durch den Weltkrieg verursachten Unwägbarkeiten hätte sich die Anfertigung einer Art von „Masterplan“ zur Einführung einer parlamentarischen Monarchie schnell als Luftschloss entpuppt. So blieb Preuß ein wacher Beobachter der sich ab 1917 immer stärker verändernden politischen Tektonik, ohne in
21 So die prägnante Formulierung in seinem am 4. August 1917 erschienenen Zeitungsbeitrag „Parlamentarisierung“, ebd., S. 658; vgl. auch Lehnert, Verfassungsdemokratie, S. 276 f. 22 So in der im November 1917 erschienenen Abhandlung „Freiheit und Macht“, ebd., S. 678. 23 Vgl. vor allem die 1917 erschienene Publikation „Deutsche Demokratisierung“, ebd., S. 671. 24 Diese prägnante Formulierung findet sich in seinem Zeitungsbeitrag vom 19. August 1917, ebd., S. 664; hier auch weitere Ausführungen zu diesem Thema.
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schulmeisterlicher Weise fertige Pläne für einen solchen Übergang in der Öffentlichkeit kundzutun.25
3. Der improvisierte Übergang zur parlamentarischen Monarchie Am 26. Oktober 1918 wurden die verfassungspolitischen Hoffnungen von Hugo Preuß wahr. Denn an diesem Tage beschloss der Reichstag ein Gesetz zur Abänderung der Reichsverfassung, das in dürren Worten die Einführung der parlamentarischen Monarchie in Deutschland verfassungsrechtlich verfügte. Herzstück dieser durchgreifenden Verfassungsreform war der neu eingefügte Artikel 15, Absatz 3, der lapidar bestimmte: „Der Reichskanzler bedarf zu seiner Amtsführung des Vertrauens des Reichstags”. Damit war verfassungsrechtlich das vollzogen, was bereits mit der Bildung der Regierung des Prinzen Max von Baden am 3. Oktober 1918 Verfassungspraxis geworden war – nämlich die Übertragung der Regierungsgewalt an eine Regierung, welche sich auf die Unterstützung der Mehrheitsparteien des Reichstags stützen konnte und in der erstmals Parteipolitiker in ihrer Eigenschaft als Repräsentanten einer politischen Richtung vertreten waren. Im Februar 1918 hatte Hugo Preuß in einem Aufsatz als Kernstück parlamentarischen Regierens „Regierung durch führende Politiker anstelle der Beamtenregierung“26 definiert. Im Sinne dieser Definition war das Deutsche Reich seit dem 3. Oktober 1918 eine parlamentarisierte Monarchie; mit dem 26. Oktober 1918 wurde dieser Schritt auch verfassungsrechtlich nachvollzogen. Hugo Preuß registrierte diese Entwicklung als wacher Beobachter von außen, nicht jedoch als Mitglied dieser ersten Reichsregierung im eigentlichen Sinne des Wortes. Trotz seiner parteipolitischen Betätigung für die Linksliberalen und seines politischen Temperaments gehörte Preuß nicht zum engeren Kreis der Politiker aus den Reihen von Liberalen, Sozialdemokraten und Zentrumsleuten, die im Verein mit reformorientierten Fachministern wie dem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Wilhelm Solf, eine schwierige Aufgabe übernommen hatten: innenpolitisch das Reich auf ein neues Fundament zu stellen und zugleich die ihnen von der alten Führung überantwortete Niederlage im Weltkrieg politisch so zu verwalten, dass das geschlagene Deutsche Reich einem halbwegs glimpflichen Frieden entgegensehen konnte. Es sollte erst die revolutionär ins Amt gekommene Regierung 25 Zum Pragmatismus von Preuß vgl. auch Lehnert, Verfassungsdemokratie, S. 280. 26 „Offener Brief an Herrn William Harbutt Dawson“, in: Preuß, Politik und Gesellschaft, S. 697–706, Zitat S. 699.
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des „Rats der Volksbeauftragten” sein, die in Gestalt ihres Spitzenmanns Friedrich Ebert dem liberalen Gelehrten eine gestalterische Aufgabe auf seinem Spezialgebiet Verfassungspolitik offerierte – und hier gleich nicht weniger als die Ausarbeitung eines Entwurfs für die republikanische Verfassung des Deutschen Reichs.27 Möglicherweise war in der Regierung des Prinzen Max von Baden auch das südwestdeutsche Element – vier Minister kamen aus Württemberg, der Reichskanzler selbst aus Baden – so übermächtig, dass für den Berliner Hugo Preuß, der nie ein wirkliches Verhältnis zum südwestdeutschen Liberalismus und zu dessen regionalen Wurzeln gewonnen hatte, in dieser am stärksten schwäbisch und badisch geprägten Regierung28 in der deutschen Geschichte einfach kein Platz frei war. Just an dem Tage, an dem der Reichstag den qualitativen Sprung von der konstitutionellen zur parlamentarischen Monarchie vollzog, also am 26. Oktober 1918, veröffentlichte Hugo Preuß in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung einen Artikel, der mit „Die Improvisierung des Parlamentarismus” überschrieben war. Aus diesem Artikel spricht überdeutlich, dass für ihn eine Hoffnung wahr geworden war, die er in seinen sämtlichen Schriften während des Krieges mehr oder weniger deutlich hatte durchblicken lassen. Bis zum Oktober 1918 hatte Hugo Preuß nicht mehr als einen schrittweisen Übergang zu parlamentarischen Verhältnissen als einzig realistische Option ins Auge gefasst, weil er um die inneren Widerstände gegen ein solches Vorhaben wusste. Doch im Oktober 1918 registrierte er mit ungläubigem Staunen, wie sehr sich die Dinge überschlagen hatten und nun binnen weniger Wochen etwas möglich geworden war, was er sich zuvor kaum zu erträumen gehofft hatte: „Was jetzt hier geschah, das ist … wohl ohne Vorgang in der Geschichte. Die ‚Parlamentarisierung‘ und ‚Demokratisierung‘ eines großen Staatswesens oder, wenn ich meine eigene, viel gescholtene und noch mehr benutzte Formulierung anwenden darf, der Übergang vom Obrigkeitsstaat zum Volksstaat soll von einem Tage datiert werden können!“29
27 Vgl. dazu die Einleitung von Detlef Lehnert, in: Hugo Preuß, Politik und Verfassung in der Weimarer Republik, Tübingen 2008, S. 5 f.; siehe auch Walter Mühlhausen, Friedrich Ebert 1871–1925, Bonn 2006, S. 123 f. 28 Zu dieser gezielt vom Reichskanzler initiierten landsmannschaftlichen Konstellation vgl. Wolfram Pyta, Die Kunst des rechtzeitigen Thronverzichts – Neue Einsichten zur Überlebenschance der parlamentarischen Monarchie in Deutschland im Herbst 1918, in: Patrick Merziger u.a. (Hg.), Geschichte, Kommunikation, Öffentlichkeit. Festschrift für Bernd Sösemann zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2010, S. 363–381, hier S. 369 f. 29 „Die Improvisierung des Parlamentarismus“, in: Preuß, Politik und Gesellschaft, S. 718–720, Zitat S. 718.
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Wie alles Improvisierte musste sich auch die parlamentarische Monarchie in der Praxis bewähren. Doch wer wie Hugo Preuß ein langes historisches Gedächtnis besaß, der konnte den Akt der Einführung des parlamentarischen Regierungssystems durchaus als Krönung eines längeren historischen Prozesses begreifen: „Es fehlt bei alledem nicht völlig an geschichtlichen Anknüpfungspunkten in unserer politischen Entwicklung, die freilich bisher noch nicht zum Ziel geführt werden konnten“.30 Denn die deutsche Verfassungsgeschichte hatte sich schon einmal nahe am Zustand einer parlamentarischen Monarchie bewegt – und eben jenes „Werk der Frankfurter Paulskirche und seine Ausstrahlung“31 hatte Hugo Preuß im Sinn, wenn er an die Traditionslinie des Jahres 1848 anknüpfte, um damit auch die historische Legitimation des Oktobers 1918 zu unterstreichen. Bereits in seinen nur für den internen Gebrauch bestimmten Vorschlägen für eine Verfassungsänderung aus dem Juli 1917 hatte er sich auf das Werk der Paulskirche berufen.32 Und tatsächlich schien es einen Augenblick so, als wären mit der Parlamentarisierung des deutschen Nationalstaats unter einer monarchischen Staatsform im Oktober 1918 die langgehegten verfassungspolitischen Hoffnungen des deutschen Liberalismus in Erfüllung gegangen. Die parlamentarische Monarchie in Deutschland scheiterte nicht zuletzt am Starrsinn des Kaisers, der trotz der von seiner Person ausgehenden Belastung für die Zukunft der Monarchien im Reiche nicht die leisesten Anstalten machte, durch eine Abdikation die Frage der Staatsform zu entschärfen. Dass diese Totalverweigerung Wilhelms II. wesentlich dazu beitrug, eine generelle Unzufriedenheit über die Behandlung des drängendsten politischen Problems – nämlich die Erreichung eines Waffenstillstands – zu erzeugen, die dann jene revolutionären Energien mit gebar, welche am 8. und 9. November 1918 die parlamentarische Monarchie in Deutschland auf den Müllhaufen der Geschichte warfen, ist hinlänglich bekannt.33 Hugo Preuß hat sich öffentlich zur Person des Kaisers nicht in einem Sinne geäußert, wonach in der Person des Kaisers das Haupthindernis für das Fortbestehen der Oktoberreform bestehe. Überhaupt hat er sich mit öffentlichen Stellungnahmen zu Wilhelm II. bis zu dessen Abdankung eher zurückgehalten. Als wacher Beobachter der politischen Szene und als Bewohner der gärenden Reichshauptstadt hat er aber sehr wohl aufmerksam registriert, dass sich im Herbst 1918 die Stimmungslage im Volke so verschlechterte, dass die 30 Ebd., S. 720. 31 Ebd. 32 Vgl. Lehnert, Verfassungsdemokratie, S. 278, dort Anm. 181. 33 Vgl. zuletzt Pyta, Kunst des rechtzeitigen Thronverzichts.
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Möglichkeit eines revolutionären Ausbruchs nicht auszuschließen war. Preuß zählte nicht zu jenen Ordnungsfanatikern, für die eine Revolution an sich ein Verstoß gegen die natürliche Ordnung und damit politischer Frevel war. Dazu war er historisch zu sehr geschult an den aus seiner Sicht positiven Vorbildern der Revolutionen von 1789 und 1848. Aber vor dem Hintergrund einer durchgreifenden Reform von oben konnte der ungezügelte Ausbruch revolutionärer Energien von unten alle bisher erreichten verfassungspolitischen Fortschritte mit einem Schlag zunichte machen: „Wenn es aber gelingt, im Ausbranden des Weltkrieges hier auf innerfriedlichem Wege einer Entwicklung Bahn zu brechen, die überall sonst nur nach gewaltsamen Ausbrüchen von unten emporkam, so wäre das gerade unter heutigen Verhältnissen ein Segen und Glück ohnegleichen. Man braucht wahrlich kein Ordnungsphilister und ‚Machtbürger’ zu sein, um die Furchtbarkeit einer heutigen Revolution zu begreifen, die mit dem, was man früher Revolution nannte, noch weniger Ähnlichkeit haben kann als der jetzige Krieg mit früheren Kriegen“.34 Preuß war kein Verfassungstheoretiker und Verfassungspolitiker, der allein von den Institutionen her dachte und den kulturellen Nährboden einer parlamentarisch-demokratischen Regierungsform in seinen Analysen vernachlässigte. Allein seine exzellente Kenntnis der englischen Verfassungsgeschichte machte ihn für den Grundsatz empfänglich, dass die Idee des parlamentarischen Regierens erst dann eine stabile Grundlage besaß, wenn sie in dem verankert war, was man in Anlehnung an den Historiker und Politikwissenschaftler Karl Rohe als „politische Kultur” bezeichnen könnte: die Verwurzelung politischer Grundanschauungen in sozio-kulturellen Dispositionen.35 Hugo Preuß meinte im Kern „politische Kultur“, wenn er von „Volksbewußtsein“, „Volksseele“ oder „Volksgeist“ sprach und dabei auf Begriffe rekurrierte, die in der deutschen Staatsphilosophie der damaligen Zeit als beschreibende Kategorien für das Politisch-Kulturelle etabliert waren. Großbritannien besaß den einzigartigen Vorzug, dass hier in einem evolutionären Prozess Parlamentarisierung und Demokratisierung – zwei nicht zwangsläufig parallel laufende Entwicklungen – zur Deckung gebracht worden waren. Gerade weil der Parlamentarismus in Großbritannien zunächst eine ausgesprochen aristokratische Angelegenheit gewesen war, konnte die politische Elite des Inselstaates im Laufe des 19. Jahrhunderts durch diverse Wahlrechtsreformen den Kreis der Wahlberechtigten ausweiten und damit 34 Preuß, Die Improvisierung des Parlamentarismus, in: Preuß, Politik und Gesellschaft, S. 718 f.; ähnlich akzentuierte Warnungen vor einer Revolution auch in seinem „Offenen Brief an Herrn William Harbutt Dawson“ vom Februar 1918, ebd., S. 705. 35 Grundlegend ist immer noch Karl Rohe, Politische Kultur und ihre Analyse, in: Historische Zeitschrift 250 (1990), S. 321–346.
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die Zugehörigkeit zur politischen Führungsschicht des Landes demokratisieren, indem politischer Aufstieg über Bewährung im „House of Commons“ zum Königsweg avancierte. Die traditionelle politische Führungsschicht trug diese Entwicklung letztlich konstruktiv mit, weil sie – ebenso wie diejenigen Volkskreise, denen auf diese Weise demokratische Partizipationsrechte gewährt wurden – die Vorstellung parlamentarischer Verfahren internalisiert hatte; diese waren – in den Worten von Preuß – ins „Volksbewußtsein“ eingesickert: „Als dann die moderne soziale Entwicklung die Herrschaft jener oligarchischen Schicht mehr und mehr schwächte, und die zunehmende Demokratisierung des Parlamentarismus erzwang, ging dies gewiß nicht ohne starke Reibungen und Erschütterungen vonstatten; jedoch waren die politischen Grundlagen des parlamentarischen Wesens bereits so fest gefügt und im Volksbewußtsein verankert, daß ihre Umbildung und Erweiterung zur Aufnahme der neu emporgekommenen Volksteile immerhin möglich war“.36 Die Internalisierung der Idee des Volksstaates – von Preuß mit Begriffen wie „allgemeines Staatsbürgerbewußtsein“ als Gegenpol zum „sozialen Klassenbewußtsein“37 belegt – erschien Preuß im deutschen Falle aufgrund der historischen Belastungen kein leichtes Unterfangen. Denn die günstigen englischen Voraussetzungen „fehlen in Deutschland durchaus“ 38, so dass die Überführung der Idee des Parlamentarismus in eine korrespondierende politisch-kulturelle Lebensform in Deutschland als schwieriger Prozess eingeschätzt wurde, in dem die Reife des deutschen Volkes auf eine harte Bewährungsprobe gestellt werden würde. Aus den Publikationen von Preuß ist durchaus Skepsis herauszulesen, ob das deutsche Volk angesichts der geschichtlichen Vorprägungen disponiert sei, um die durch den Weltkrieg freigesetzten politischen und sozialen Energien zur lebensweltlichen Aneignung des Parlamentarismus zu nutzen.
4. Das Preußentum von Hugo Preuß Die Einordnung des Denkers und Akteurs Hugo Preuß wäre freilich unvollständig, wenn man sein Verhältnis zu Preußen nicht einer zumindest kursorischen Betrachtung unterzöge. Hugo Preuß und Preußen – dies passt nur auf den ersten Blick perfekt zusammen. Zwar hat Hugo Preuß sein gesamtes 36 So Preuß in seinem 1917 erschienenen Beitrag „Deutsche Demokratisierung“, in: Preuß, Politik und Gesellschaft, S. 670. 37 So Preuß in seiner im März 1917 geschriebenen Abhandlung „Weltkrieg, Demokratie und Deutschlands Erneuerung“, ebd., S. 642. 38 Preuß, „Deutsche Demokratisierung“, ebd., S. 670 f.
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persönliches und berufliches Leben in Preußen zugebracht und seiner Heimatstadt Berlin immer die Treue gehalten. Daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, Preuß habe in seinen verfassungspolitischen Abhandlungen borussophile Ziele verfolgt, ist allerdings verfehlt. Im Gegenteil: Preuß scheute nicht vor harter Kritik an der Rolle Preußens in der deutschen Geschichte zurück; nichts lag ihm ferner als borussische Traditionspflege. Die Gründe für diese ausgeprägte Distanz zu Preußen waren in seinem demokratischen Liberalismus verankert: Als liberaler Demokrat war Preuß entschiedener Unitarier, für den die deutsche Nation turmhoch über Preußen rangierte. Daher witterte er in der Vertretung preußischer Sonderinteressen stets Obstruktion gegen die Parlamentarisierung des Reiches – und die Rolle der preußischen Staatsregierung und der beiden Häuser des preußischen Parlaments während des Weltkriegs bestärkten ihn in dieser Auffassung. Hugo Preuß wollte Preußen endgültig in Deutschland aufgehen lassen und damit den als verhängnisvoll angesehenen preußischen Einfluss eliminieren: „Ist die preußische Macht nicht die starke Dienerin der Reichsmacht, so muß sie deren übermächtige Beherrscherin sein. Das aber ist die Verewigung des Partikularismus, das Hemmnis einer politischen Ausgestaltung unseres nationalen Lebens, ohne die die gewaltigen Lasten der Gegenwart und nächsten Zukunft materiell und ideell schlichtweg nicht zu tragen sind“.39 Gewiß stand Preußen deswegen im Fadenkreuz der Preußschen Kritik, weil Preußen vermittels seiner Stellung im Bundesrat Reformbemühungen auf Reichsebene blockieren konnte und in der Vergangenheit immer wieder abgewehrt hatte. Hier übte er prinzipielle Kritik am Aufbau des von Bismarck geschaffenen Reiches und dessen Webfehler, „der Hegemonie der preußischen Regierung und der sie zugleich ermöglichenden und verdeckenden Konstruktion des Bundesrats“.40 Zudem war Preußen durch die extrakonstitutionelle Stellung des Militärs ein besonders ungünstiger Ort zur Durchsetzung zivilgesellschaftlicher Vorstellungen41; und auch der beträchtliche politische Einfluss des Landadels war dem preußischen Schuldbuchkonto anzulasten. Das wirksamste Rezept zur Neutralisierung der preußischen Gegenkräfte war gemäß Preuß eine Verreichlichung Preußens dergestalt, dass der Reichskanzler Preußen disziplinierte, indem er die politische Führung in Preußen übernahm. Dies erforderte eine Abkehr vom Prinzip der Kollegialregierung 39 So in seiner am 28. April 1917 veröffentlichten Abhandlung „Des Reiches bundesstaatlicher Charakter in Gefahr?“, ebd., S. 651–656, Zitat S. 654 f. 40 So in seinem Beitrag über „Parlamentarisierung“ vom 4. August 1917, ebd., S. 659. 41 Vgl. die Ausführungen vor einem österreichischen Publikum in seinem am 6. April 1916 gehaltenen Vortrag „Innere Staatsstruktur und äußere Machtstellung“, ebd., S. 547–563, vor allem S. 555 f.
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des preußischen Staatsministeriums und damit eine Wiederbelebung des ehemaligen Amtes des preußischen Staatskanzlers, die „Wiederherstellung des preußischen Staatskanzleramts in Realunion mit dem Amte des Reichskanzlers“.42 Auf diese Weise hoffte Preuß, dass eine Entkoppelung Preußens von den verfassungspolitischen Fortschritten auf Reichsebene nicht mehr länger möglich sein werde. Als eingefleischter Unitarier nahm Preuß aber auch die übrigen Bundesstaaten aufs Korn, deren politische Existenzberechtigung er schon während des Weltkriegs in Frage stellte, indem er ihre historischen Traditionen in Zweifel zog: „Die Einzelstaaten entsprechen in keiner Weise der natürlichen Verschiedenheit der deutschen Stämme, sondern sind in dieser Hinsicht willkürliche oder zufällige Bildungen“.43 Damit konnte sein Bannstrahl auch andere Staaten außer Preußen treffen, wenn diese die eigenen Sonderinteressen nach dem Eindruck von Preuß zu sehr auf Kosten des Reiches pflegten. Da Preuß aber die deutsche Geschichte von 1815 bis 1866 auf den preußisch-österreichischen Dualismus reduzierte, spielten die anderen deutschen Königreiche Bayern, Sachsen oder Württemberg in seinen Augen keine eigenständige Rolle. Dies mag dazu beigetragen haben, dass Preuß die nicht unbeträchtlichen verfassungspolitischen Innovationen des „Dritten Deutschland“, speziell die eigenständigen konstitutionellen Traditionen Bayerns, Badens und Württembergs, überhaupt nicht würdigte. Preuß fehlte wohl auch aufgrund seiner mangelnden lebensweltlichen Vertrautheit mit Süddeutschland ein vertieftes Verständnis für Impulse, welche diese historisch so reiche Kulturlandschaft für eine demokratische Entwicklung des Reiches einzubringen vermochte. Österreich hingegen befand sich für ihn auf gleicher Augenhöhe mit Preußen – und hier ließ er durchblicken, dass großdeutsche Gedankenspiele ihm nicht fremd waren. Fast schon als Provokation gegenüber der Inbesitznahme des Freiherrn vom Stein durch die borussische Geschichtsschreibung44 wies er nüchtern darauf hin, Stein habe „sich niemals als Preuße gefühlt” und adelte Stein wenige Sätze später als „idealen Großdeutschen“.45 Solche Akzente waren bewusst gesetzt, da Preuß seine Rede am 8. April 1916 vor der Vereinigung deutscher Hochschullehrer in Wien, in der die zitierten Worte fielen, gezielt 42 Beitrag „Des Reiches bundesstaatlicher Charakter in Gefahr?“ vom 28. April 1917, ebd., S. 655. 43 Beitrag vom 28. April 1917, ebd., S. 656. 44 Zu Stein vgl. jetzt Heinz Duchhardt, Freiherr vom Stein, München 2009, der auf S. 7 auch auf die Würdigung Steins durch Preuß eingeht. 45 In einem am 8. April 1916 in Wien gehaltenen Vortrag über „Großdeutsch, Kleindeutsch und die Idee des nationalen Staates“, in: Preuß, Politik und Gesellschaft, S. 563–582, Zitat S. 568.
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als politische Botschaft konzipiert hatte46, natürlich in den für Preuß geltenden Formen einer nicht aufdringlichen Darbietung. Unter unitarischen Aspekten hatte der Krieg durchaus segensreich gewirkt, da der durch ihn verursachte Nationalisierungsschub das eifersüchtige Pochen auf einzelstaatliche Interessen zumindest bei breiten Schichten des Volkes diskreditiert hatte. „Niemals im ganzen Verlauf der deutschen Geschichte war die Einheit des deutschen Staatsvolkes in der großen Politik und seiner kriegerischen Kraft so vollkommen wie in der Weltkrise unserer Tage; niemals, auch im Volksgeiste die partikularistische von der nationalen Stimmung so restlos aufgesaugt“.47
5. Preuß als verfassungspolitischer Akteur im Weltkrieg Dass die Mitarbeit von Hugo Preuß in der ersten und einzigen parlamentarisch gestützten Regierung des Deutschen Kaiserreichs nicht gefragt war, bedeutet nicht, dass Preuß als verfassungspolitischer Akteur im Weltkrieg keine Rolle spielte. Preuß begnügte sich nicht mit seiner Funktion als Gelehrter, dessen Stimme in der politischen Öffentlichkeit jedenfalls innerhalb liberaler und reformorientierter Kreise einen guten Klang besaß. Der Weltkrieg bewirkte beim Privatmann und Familienmenschen Hugo Preuß zu viele existenzielle Auswirkungen, als dass er sich damit zufrieden gegeben hätte, vom Katheder oder von der Tribüne der Zeitungen aus dem deutschen Volk und seiner politischen Führung Orientierungshilfen zu predigen. Wir können aufgrund der schlechten Quellenlage, die uns nur in seltenen Fällen in das Innerste des Menschen Hugo Preuß blicken lässt, nur erahnen, wie sehr ihn der Krieg auch menschlich aufwühlte. Denn drei seiner vier Söhne standen im Feld – und in einem dieser wenigen Zeugnisse lässt er anklingen, wie er täglich damit rechnete, die Nachricht vom Tode eines seiner Kinder auf dem Schlachtfeld zu erhalten und sich daher bei auswärtigen Terminen stets die Möglichkeit „plötzlicher Rückreise“48 zu seiner Frau nach Berlin offenhielt. Wenn er bei 46 Vgl. zu den Absichten dieser Auftritte in Wien sein Schreiben an Friedrich Naumann vom 19. März 1916, Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Friedrich Naumann (N 3001), Bd. 9, Bl. 61 f. 47 Vgl. seinen Ende 1916 erschienenen Beitrag „Neuorientierung der inneren Verwaltung“, in: Preuß, Politik und Gesellschaft, S. 604–616, Zitat S. 611; siehe auch seine am 27. Januar 1917 in Berlin gehaltenen Rede „Die Wandlungen des deutschen Kaisergedankens“, ebd., S. 616–627, vor allem S. 627. 48 Preuß an Friedrich Naumann, 19. März 1916, Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Naumann, N 3001, Bd. 9, Bl. 61 Rückseite.
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einem seiner öffentlichen Auftritte auf Nachrichten vom Felde verwies – „Wir hören von unseren Kriegern draußen ...“49 –, dann ist zu vermuten, dass darin auch Informationen eingeschlossen waren, die er auf direktem Wege von seinen Söhnen erhielt. Welche Kanäle aber standen Preuß offen, um hinter den Kulissen zu wirken und seine verfassungspolitischen Vorstellungen an politische Entscheidungsträger heranzubringen? Es war nicht seine Mitwirkung in der liberalen „Fortschrittlichen Volkspartei“, die ihm diese Möglichkeit eröffnete; als Parteipolitiker hat Preuß bis zu seiner „Entdeckung“ durch Ebert keine bedeutende Rolle auf Reichsebene gespielt. Preuß konnte eine Zeitlang deswegen in die Rolle eines politischen Ratgebers schlüpfen, weil er Mitglied eines Netzwerks von Gelehrten, Journalisten und Wirtschaftsführern war, die in sich überlappenden sozialen Verkehrskreisen über die Notwendigkeit tiefgreifender innerer Reformen im Weltkrieg reflektierten und diese Vorstellungen nicht für sich behielten, sondern an einflussreiche Kreise weiterleiteten. Die Reichshauptstadt Berlin war mit einer Vielzahl derartiger Zirkel gesegnet, in denen sich zumeist Wissenschaftler und hohe Beamte begegneten.50 Der Weltkrieg verursachte einen weiteren Schub, da das Bedürfnis nach vertraulicher Aussprache im kleinen Kreis und in parteiübergreifender Runde gerade unter den Bedingungen des Burgfriedens enorm angewachsen war.51 Eine systematische Analyse dieser informellen Vergesellschaftungsformen, die durchaus mit Hilfe des Netzwerk-Ansatzes52 unter die Lupe genommen werden könnten, steht jedoch noch aus. Der vielleicht einflussreichste dieser Zirkel war der nach dem Berliner Privatbankier benannte Witting-Kreis. Richard Witting, eine zu ihrer Zeit einflussreiche, aber von der Historie praktisch vergessene Persönlichkeit53, 49 Preuß, Innere Staatsstruktur und äußere Machtstellung, Vortrag in Wien am 6. April 1916, in: Preuß, Politik und Gesellschaft, S. 548. 50 Die bekannteste dieser Vereinigungen war die Mittwochs-Gesellschaft, deren Protokolle sich erhalten haben: Gerhard Besier (Hg.), Die Mittwochs-Gesellschaft im Kaiserreich, Berlin 1990; ähnlich ausgerichtet war auch der Montagsklub, vgl. Der Montagsklub in Berlin 1899 bis 1955, Berlin 1955. 51 Zu diesen Neugründungen zählte etwa die vom nationalliberalen Parteiführer Ernst Bassermann ins Leben gerufene „Mittwoch-Gesellschaft“, dazu siehe Ludwig Stein, Aus dem Leben eines Optimisten, Berlin 1930. 52 Vgl. hierzu u.a. Hartmut Böhme, Netzwerke, Zur Theorie und Geschichte einer Konstruktion, in: Jürgen Barkhoff u.a. (Hg.), Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne, Köln 2004, S. 17–36. 53 Die eingehendste biographische Würdigung Wittings stammt aus dem Jahre 1923: Arthur Kronthal, Artikel „Witting, Richard“, in: Deutsches Biographisches Jahrbuch 5 (1923), S. 318–330.
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versammelte in seinem Haus am Berliner Tiergarten einen Kreis von Intellektuellen und kunstsinnigen Wirtschaftsführern, die über parteipolitische Grenzen hinweg eine Kultur des freimütigen geistigen Austausches pflegten. Witting konnte dank seiner glänzenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Vernetzung die in diesem Kreis vertieften Gedanken auch politischen Entscheidungsträgern nahebringen. Als Präsident des „Demokratischen Klubs“ stand er an der Spitze einer wohl nach englischem Vorbild gebildeten Form politischer Vergesellschaftung, die aktive Politiker, politische Beobachter und politisch engagierte Analytiker wie Hugo Preuß zu freimütigem Meinungsaustausch zusammenführte.54 Politisch anschlussfähige Überlegungen des Witting-Kreises blieben also keine bloß geistreichen, aber politisch folgenlosen Räsonnements, sondern wurden über den spiritus rector dieses Zirkels an Entscheidungsträger herangetragen, in deren Verfügungsgewalt es lag, von solchen Ratschlägen Gebrauch zu machen oder nicht. Hugo Preuß war allem Anschein nach nicht nur Mitglied des WittingKreises, sondern auch mit Witting befreundet. Aus diesem Grunde lag es nahe, dass Witting im Juni 1917 an Hugo Preuß mit einer Anfrage herantrat, die Preuß nicht ausschlagen konnte. Denn es ging um nicht mehr und nicht weniger als den Versuch, die 3. Oberste Heeresleitung mit Vorschlägen zu einer Verfassungsreform im Weltkriege zu versorgen. Allem Anschein nach ist dieser Wunsch von der Umgebung Ludendorffs an Witting herangetragen worden.55 Aufgrund des lückenhaften Wissens um die Reichweite der politischen Beziehungen des umtriebigen Witting können wir nur darüber spekulieren, ob und inwieweit Ludendorff selbst hinter einer solchen denkbaren Initiative stand – derjenige des Gespanns Hindenburg/Ludendorff, der sich am meisten für die komplexe Materie der Verfassungspolitik interessierte und als Technokrat verfassungspolitische Fragen weniger von einem grundsätzlichen Standpunkt aus betrachtete als der jedem Parlamentarismus abholde Hindenburg. Da Ludendorff entgegen aller späteren Feindseligkeit im Weltkrieg eine Zeitlang pragmatische Beziehungen zu Wittings Bruder, dem Enthüllungsjournalisten Maximilian Harden unterhielt, ist es zumindest nicht ganz unwahrscheinlich, dass auch Maximilian Harden in eine solche konzer54 Einen Einblick in die Bedeutung Wittings und Preuß’ für den „Demokratischen Klub“ vermitteln die Tagebücher des Chefredakteurs des „Berliner Tageblatt“, Theodor Wolff, vgl. dessen Tagebuch-Edition: Bernd Sösemann (Hg.), Theodor Wolff. Tagebücher 1914– 1919, 2 Bde., Boppard a.Rh. 1984, vor allem S. 174 f., S. 181 f., S. 362 f., S. 415 f. und S. 578. 55 Lothar Albertin, Einleitung, in: Preuß, Politik und Gesellschaft, S. 1–65, hier S. 56 f.; siehe auch Ernst Feder, Hugo Preuß. Ein Lebensbild, Berlin 1926, S. 18 f.
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tierte Aktion eingebunden war, die dem Zweck diente, den als starken Mann angesehenen Ludendorff für verfassungspolitische Reformen zumindest zu interessieren.56 Jedenfalls bekam Hugo Preuß von Witting vermutlich am 19. Juni 1917 den Auftrag, eine Art Denkschrift darüber zu erstellen, wie die Verfassungen des Reiches und Preußens so abgeändert werden könnten, dass dadurch der qualitative Übergang vom Obrigkeitsstaat zum Volksstaat erreicht würde. Nicht zuletzt aus außenpolitischen Notwendigkeiten, gewissermaßen als unerlässliche Voraussetzung für einen „baldigen Frieden“57, erschien ein solcher Regimewechsel zwingend erforderlich. Preuß und Witting nahmen damit eine Aktion vorweg, die unter den viel ungünstigeren Bedingungen der dann eingetretenen Kriegsniederlage im Oktober 1918 nachgeholt wurde, als die Reichsleitung längst kein autonomer Akteur mehr war, sondern Getriebene einer immer mehr aus dem Ruder laufenden Entwicklung. Preuß fertigte seine Denkschrift Anfang Juli an und damit noch vor dem Sturz des Reichskanzlers Bethmann Hollweg, der für Reformbemühungen immerhin aufgeschlossen war, wenngleich er dabei eine politische Gratwanderung auf sich nahm, da er auch die traditionellen Kräfte im Reich wie in Preußen nicht gänzlich verprellen wollte. Seine Vorschläge zeugen vom Scharfsinn eines Staatsrechtlers, der genau einzuschätzen vermag, mit welchen feinen Änderungen im institutionellen Geflecht er ein Maximum an Wirkung zu erzielen vermag. So ließ er keinen Zweifel daran aufkommen, dass seine Vorschläge auf einen qualitativen Übergang zu einem parlamentarischen System hinausliefen: „Jetzt kann es sich nur noch um einen fundamentalen Systemwechsel handeln, der sich in unzweideutigen und unzweifelhaften aller Welt drinnen und draußen klar in die Augen springenden Staatshandlungen bekundet“.58 Aber er setzte auf eine geschmeidige und möglichst geräuschlose Transformation, weil er zum einen die konservativen Gegenkräfte nicht allzu sehr provozieren wollte und da er zum anderen in realistischer Einsicht des Entwicklungsrückstands des deutschen Parlamentarismus den Reichstag noch nicht für reif hielt, als Zentralorgan der Regierungsbildung zu fungieren. Preuß wollte mithin „den Reichstag von der Regierungsbildung weitgehend 56 Darauf deutet zumindest der Briefwechsel zwischen Harden und Walther Rathenau hin, der ebenfalls mit Witting gut bekannt war, vgl. Hans Dieter Hellige (Hg.), Walther Rathenau – Maximilan Harden, München 1983, vor allem S. 736–739. 57 Witting an Preuß, 19. Juni 1917, abgedruckt ebd., S. 737, dort Anm. 1. 58 Hugo Preuß, Vorschläge zur Abänderung der Reichsverfassung und der preußischen Verfassung, nebst Begründung, in: Hugo Preuß, Staat, Recht und Freiheit, Hildesheim 1964, S. 290–335, Zitat S. 290.
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entlasten“59, weil die politischen Parteien erst allmählich an die Aufgabe heranzuführen seien, politische Verantwortung für Regierungshandeln zu übernehmen. Um diesen Lernprozess einzuleiten, genüge es vorerst, wenn die Initiative der Regierungsbildung zwar weiterhin beim Kaiser verbleibe, der aber nur eine solche Regierung ernennen dürfe, die keiner negativen Mehrheit im Reichstag gegenüber stünde. Insofern bildete das Misstrauensvotum des Reichstags mit dem daran gekoppelten Rücktritt einer derart beschädigten Regierung60 das Herzstück der verfassungsrechtlichen Konstruktion von Preuß, zumindest einem negativ artikulierten Volkswillen verfassungsrechtliche Bindungswirkung zuzuerkennen: „Ein noch nicht entwickeltes Parlament kann aus sich heraus keine Regierung bilden; aber es kann sich darüber klar werden, daß es eine bestimmte Regierung nicht will. Wird einem solchen ausgesprochenen Nichtwollen verfassungsrechtlich zwingende Kraft gegeben, so wird dadurch die Entwicklung auch eines positiven Wollens vorbereitet und gefördert“.61 Eine solche geräuscharme Parlamentarisierung konnte – dies war immer schon das Credo von Preuß gewesen – nur gelingen, wenn Preußen nicht weiterhin mit Hilfe des Bundesrats und vom Reich abgekoppelter Ministerien Obstruktion betrieb. Insofern musste Preußen unter das Joch des Reiches gezwungen werden dadurch, dass der Reichskanzler zugleich als preußischer Staatskanzler fungierte und der Bundesrat zu einer Art Senat umgebildet wurde. Zudem sollte die Parlamentarisierung auf Preußen analog zum Reiche ausgedehnt werden, indem das preußische Abgeordnetenhaus jeden preußischen Staatsminister durch ein Misstrauensvotum zur Demission zwingen konnte.62 Damit wollte Preuß ein Obrigkeitssystem aushebeln, „das letzten Endes in der kunstreich von der Verfassung konstruierten und zugleich verdeckten Herrschaft der preußischen Obrigkeitsregierung über das Reich verankert ist. Hier gründlich durchzugreifen, ist die praktisch wichtigste Aufgabe jeder Verfassungsänderung“.63 Per Saldo fällt auf, wie sehr der Entwurf in Hinsicht auf das Verhältnis von Parlament und Reichsregierung der Reichsverfassung der ersten deut59 Dieter Grosser, Vom monarchischen Konstitutionalismus zur parlamentarischen Demokratie, Den Haag 1970, S. 143. 60 So sah Preuß für den Artikel 11 einer neuen Reichsverfassung folgenden Passus vor: „Der Reichskanzler und jeder Reichsminister muß seine Entlassung nehmen, wenn der Reichstag durch einen gegen ihn gerichteten Mehrheitsbeschluß ihm sein Mißtrauen ausspricht“, in: Preuß, Staat, Recht und Freiheit, S. 311. 61 Ebd., S. 297. 62 So sein Vorschlag zu Artikel 45 einer neuen preußischen Verfassung, ebd., S. 326. 63 Ebd., S. 298.
Hugo Preuß und die Parlamentarisierung der Monarchie im Ersten Weltkrieg
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schen Demokratie, der Republik von Weimar, glich. Dieser Befund ist wenig erstaunlich, da er auf der Einschätzung mangelnder Erfahrung des Reichstags in Hinblick auf seine gestalterische Rolle bei der Regierungsbildung basierte und daher auch auf den Reichstag einer Republik zutreffen musste. Das genaue Schicksal dieses Entwurfs ist insofern unklar, als bislang keine exakten Informationen darüber vorliegen, ob er Entscheidungsträger wie Ludendorff überhaupt erreichte. Ungeachtet dessen wird man gewiss konstatieren dürfen, dass die Einführung parlamentarischer Strukturen nach dem nicht zuletzt von der 3. Obersten Heeresleitung betriebenen Sturz des Reichskanzlers Bethmann Hollweg praktisch hinfällig geworden war. Preuß beschränkte sich aber nicht allein darauf, in exklusiven Zirkeln zu debattieren und dank der daraus erwachsenen Kontakte herrschaftsnahen Kreisen seinen verfassungspolitischen Sachverstand zur Verfügung zu stellen. Er engagierte sich auch in originär politischen Vereinigungen, die das Ziel verfolgten, eine parteiübergreifende Plattform für alle jene Kräfte zu bilden, denen an einer Reform der inneren Struktur des Reiches in einem parlamentarismusförderlichen Sinne gelegen war. Hierzu zählte vor allem die vom nationalliberalen Politiker Wilhelm Kahl 1915 ins Leben gerufene „Freie Vaterländische Vereinigung“64, die in gewisser Weise den „interfraktionellen Ausschuß” des Reichstags vorbereitete, weil sich hier erstmals Sozialdemokraten, Linksliberale, Zentrumspolitiker und reformorientierte Nationalliberale zu gemeinsamer Sacharbeit eine Organisation geschaffen hatten. Insofern kann es nicht verwundern, dass Hugo Preuß ebenfalls dieser Gruppe angehörte und noch im Dezember 1917 dort seine Gedanken zur preußischen Wahlrechtsfrage vortrug.65 Insgesamt kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass Preuß ein leidenschaftlicher Politiker war, der sich nicht auf eine nüchterne Analyse in systematischer und historischer Hinsicht beschränken wollte, sondern der einen politischen Gestaltungsdrang besaß, der aber erst in der Republik zur vollen Entfaltung gelangen konnte.
64 Zu dieser von der Forschung viel zu wenig beachteten Organisation vgl. Wilhelm Kahl, Die Freie Vaterländische Vereinigung. Urkunden ihrer Gründung und Entwicklung, Berlin 1915. 65 Preuß, Der Kernpunkt der preußischen Wahlrechtsfrage, in: Preuß, Politik und Gesellschaft, S. 683–688.
MICHAEL DREYER
Der Preußsche Neugliederungsplan von 1919 und sein Scheitern
Reformpläne hat es in der preußischen Geschichte immer wieder gegeben, und eine erstaunliche Zahl von ihnen ist tatsächlich auch umgesetzt worden, oder zumindest in Ansätzen umzusetzen versucht worden. Die umfangreichsten dieser Pläne, wie etwa die große, aus der Not geborene Reformära nach der Katastrophe von Jena, planten nicht weniger als eine Erneuerung der preußischen Monarchie an Haupt und Gliedern. Aber keiner der Pläne im 19. Jahrhundert ging so weit, wie ein anderer, gleichfalls aus der Not militärischer und politischer Niederlage heraus geborener Plan: die Erneuerung Preußens und Deutschlands durch die Aufteilung und Auflösung des alten Staates. Keine Reform und Verbesserung des status quo, sondern ein radikaler Neubeginn. Genau das war der Plan, der mit dem Namen Hugo Preuß und der Verfassunggebung von Weimar verbunden ist.
1. Zum modernen Preußen durch die Aufteilung Preußens? Am 24. Februar 1919 trat Hugo Preuß, der verantwortliche Leiter des Reichsamts des Inneren, an das Rednerpult der 14. Sitzung der Nationalversammlung, um in einer großen Rede die geplante neue Verfassung einzuführen. Die Zeit hatte für eine ausführliche schriftliche Begründung nicht gereicht, und so musste Preuß den Verfassungsentwurf mündlich begründen. Wenn man die Rede heute in normalem Layout druckt, dann füllt sie 15 einzeilig bedruckte Seiten1. Die Sitzung selbst, die außer der Preußschen Rede nur wenige kurze 1 Die Rede ist abgedruckt in Michael Dreyer, ‚Lebhafter Widerspruch rechts‘. Die Weimarer Nationalversammlung als Rednertribüne. Reden von Friedrich Ebert, Wilhelm Pfannkuch und Hugo Preuß, in: Justus H. Ulbricht (Hg.), Weimar 1919. Chancen einer Republik, Köln 2009, S. 113–140. Der amtliche Abdruck der Rede ist: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 326, Berlin 1920, S. 284–292; auch zugänglich im Internet unter http://mdz1.bib-bvb.de/cocoon/rtb2/ start.html. Der Bd. 3 der „Gesammelten Schriften“ von Preuß, der die Rede enthalten wird, ist noch nicht erschienen.
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Meldungen zur Geschäftsordnung umfasste, dauerte zwei Stunden und fünf Minuten. Diese lange und den Umständen geschuldet für Preuß atypisch trockene Rede lockert er an lediglich vier Stellen dadurch auf, dass er sich nicht auf Artikel des Verfassungsentwurfs bezieht, sondern auf andere Autoren. Das ist einmal, am Anfang, ein Epigramm von Schiller über das vermeintlich nicht zur Nation geeignete Deutschland. Übrigens wird Schiller namentlich nicht erwähnt; offenbar ging Preuß davon aus, dass jeder seiner Zuhörer das Epigramm ohnehin kenne und zuordnen könne. Das ist zum zweiten, am Ende und zum Abschluss der Rede, der bekannte Satz von Preuß’ innenpolitischem Helden, dem Freiherrn vom Stein, über das Vaterland, das da Deutschland heiße. Das ist zum dritten ein kurzer, humorvoller Austausch aus dem Paulskirchenparlament – eine von fünf Stellen in der Rede Preuß’, an der das Protokoll „Heiterkeit“ verzeichnet. Und die vierte und letzte namentlich zugeordnete rhetorische Entlehnung von Preuß findet sich in folgender Stelle: „Ein politischer Schriftsteller, der im übrigen den Herren von der Rechten politisch weit näher steht als mir, der auch durchaus nicht unitarisch, sondern in gewissem Sinne sehr partikularistisch gesinnt war, Konstantin Frantz, ein guter Großdeutscher, der jedenfalls das Verdienst hatte, schon zur Zeit der höchsten Macht des Bismarckschen Regimes die kleindeutsche Lösung nicht als die endgültige für Deutschland anzuerkennen, spricht einmal davon: in der alten Bundeszeit hätte es ein österreichisches Deutschland gegeben; das kleindeutsche Reich sei ein preußisches Deutschland gewesen, das Deutschland der Zukunft müsse ein deutsches Deutschland sein. Und dieses deutsche Deutschland, frei von österreichischer wie von preußischer Hegemonie, mit seiner selbständigen Zentralgewalt über allen Gliedstaaten, zu organisieren, das ist die Aufgabe der Verfassung.“2
Schiller, Stein, einen politischen Scherz – das erwartet man, das findet man auch an anderen Stellen so oder so ähnlich bei Preuß. Aber Constantin Frantz? Einen 1891 in völliger Vergessenheit in Blasewitz bei Dresden gestorbenen Privatgelehrten mit verschrobenen Ansichten, einen Bismarck-Kritiker, Russland-Hasser und Antisemiten? Das ist ein ungewöhnlicher Gewährsmann für Preuß, und deshalb sollte sich die Preuß-Forschung auch mit Frantz beschäftigen. Genau dies werde ich im zweiten Schritt dieser Ausführungen tun, wenn es gilt, die Verbindung des Frantzschen Föderalismusverständnisses zu den Reformvorstellungen von Preuß herauszuarbeiten. Ein dritter Schritt wird sich mit dem Problem „autonomer Selbstverwaltungskörper“ beschäf2 Verhandlungen, Bd. 326, S. 285 f.
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tigen, und sich somit erneut auf einem Umweg dem föderativen Gedanken bei Hugo Preuß nähern. Zunächst aber muss eine Betrachtung der Reformpläne zur Neugliederung des Reichsgebiets und des preußischen Staates in der Umbruchsituation 1918/19 geliefert werden.
2. Neugliederungspläne, Staatenhaus und Dualismus Die Neugliederungspläne für das Reichsgebiet sind sicherlich einer der interessantesten Aspekte der Verfassungsberatungen von Weimar. Sie ähneln in vielem, wie wir noch sehen werden, der heutigen Aufteilung der Bundesländer in der Bundesrepublik. Und es ist fraglos, dass die Orientierung an ungefähr gleichgroßen, funktional stimmigen Ländern im Preußschen Entwurf bemerkenswert gut gelungen ist. Es gibt nur ein Problem mit dem Entwurf, sowohl aus heutiger akademischer wie aus damaliger politischer Perspektive: er hatte nur sehr geringe Chancen, verwirklicht zu werden, und das war vermutlich allen Akteuren des Jahres 1919, inklusive des Autors des Entwurfes, durchaus bewusst. Das heißt nicht, dass es bei Preuß nicht Hoffnungen für sein Modell gegeben haben mag. Aber diese Hoffnung muss sehr schnell geschwunden sein, als die tatsächlichen Verfassungsberatungen sich entwickelten. Der Neugliederungsplan für das Reichsgebiet, und vor allem die damit verbundene Aufgliederung des übermächtigen Preußen in einzelne Länder regulärer Größe, ist heute einer der bekanntesten Aspekte des Preußschen Verfassungsentwurfes. Dafür gibt es eine Vielzahl von Gründen. Zum einen haben die Umänderung der Ländergrenzen und vor allem die Aufteilung Preußens inzwischen tatsächlich stattgefunden, und zwar unmittelbar nach der Katastrophe eines weiteren Weltkriegs. Es konnte nicht ausbleiben, dass man sich der Pläne bewusst wurde, die nach dem ersten Weltkrieg bestanden hatten. Zum zweiten haben wir bis heute sporadisch immer wieder Debatten auch um eine Neugliederung des Bundesgebietes. Diese Debatten haben sich bislang zwar als ähnlich fruchtlos erwiesen wie seinerzeit der Preußsche Entwurf, aber das hat Neugliederungsenthusiasten nicht daran gehindert, sie in regelmäßigen Abständen immer wieder von neuem zu entfachen3, und in diesem Kontext erinnert man sich zwanglos auch wieder der Vorläufer. Nur am Rande sei vermerkt, dass es heutigen Neugliederern vorzugsweise um die 3 Vgl. Reinhard Schiffers, Weniger Länder – mehr Föderalismus? Die Neugliederung des Bundesgebietes im Widerstreit der Meinungen 1948/49–1990. Eine Dokumentation, Düsseldorf 1996; Peter Burg, Die Neugliederung deutscher Länder. Grundzüge der Diskussion in Politik und Wissenschaft (1918 bis 1996), Münster 1996.
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Zusammenlegung von vermeintlich zu kleinen Bundesländern zu größeren Einheiten geht, während der Kern des Preußschen Plans die Aufteilung eines zu großen Landes war. Und zum dritten wird Preußen gern als Kernland des deutschen Militarismus gesehen, was zumindest für das sozialdemokratisch dominierte Preußen der Weimarer Republik, das sich entgegen den Befürchtungen von Preuß als wichtigstes Bollwerk der Demokratie herausstellte, nicht galt. Gleichwohl, berechtigt oder unberechtigt hat sich dieser Ruf gehalten, und so konnte man in Preuß und seinem Neugliederungsplan auch jemanden sehen, der das von den Alliierten 1945 vorgenommene Ende Preußens schon eine Generation zuvor als notwendig erkannt hat – auch wenn Preuß dabei vollkommen andere Motive geleitet haben. Auch aus zeitgenössischer Sicht lässt es sich nicht leugnen, dass der Entwurf von Preuß eine Unmenge von überwiegend feindlichen Reaktionen und Gegenplänen hervorrief. Die Länder, in erster Linie natürlich Preußen, wehrten sich sofort und vehement gegen den Plan, die Verteidiger der Länder in der Nationalversammlung ließen kein gutes Haar an den Plänen, und das Presseecho war ebenso umfassend wie überwiegend negativ. Aber so verständlich die erhitzte Diskussion im Januar und Februar 1919 gewesen sein mag, verkennt sie doch die wirklichen Gewichte der Preußschen Verfassungsarbeit. Die Neugliederungspläne und generell die Föderalismusvorstellungen haben jedenfalls bei der Berufung von Hugo Preuß in das Staatssekretariat des Innern im November 1918 keine Rolle gespielt. Hierfür waren vielmehr ganz andere Gründe ausschlaggebend: – Zunächst einmal spielte die lange Zusammenarbeit mit den Berliner Sozialdemokraten in der Kommunalpolitik eine zentrale Rolle. Preuß war zwar ein bürgerlicher Jurist, aber trotzdem (anders als beispielsweise Max Weber) keine politisch unbekannte Größe für führende Sozialdemokraten. Mehrere SPD-Mitglieder der Stadtverordnetenversammlung zu Berlin hatten zugleich wichtige Positionen im Reichstag inne; etwa der langjährige, 1911 verstorbene Fraktionsvorsitzende Paul Singer, oder der Alterspräsident der Nationalversammlung, Wilhelm Pfannkuch. 1910 war Preuß in Berlin mit den Stimmen der SPD zum Stadtrat gewählt worden, und zwar in einer Kampfabstimmung gegen den bisherigen Amtsinhaber. Man wusste also sehr genau, wen man mit Preuß bekam. – Akademisch hatte sich der zum Zeitpunkt der Revolution bereits 58 Jahre alte Preuß eine ausgezeichnete Reputation als Staatsrechtler mit politischem Interesse und Gespür aufgebaut, der auch zu Zeiten, als er davon nur Nachteile erwarten konnte, für Demokratie und staatsbürgerliche Gleichheit eingetreten war und der kaum eine Gelegenheit ausgelassen hatte, das Kaiserreich zu kritisieren. Preuß war in dieser Hinsicht praktisch
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einzigartig in der Zunft der deutschen Staatsrechtler, die ansonsten – nicht sehr verwunderlich – ausgesprochen staatsnah und staatstreu gewesen war. – Ebert und andere gemäßigte Sozialdemokraten hatten ohnehin bereits den Wunsch nach Einbeziehung des linksliberalen Bürgertums, um die Basis der Revolution zu erweitern und zugleich ein weiteres Gegengewicht gegen die radikaleren Elemente der Revolution herzustellen. Das russische Negativbeispiel lag gerade ein Jahr zurück, und da bot Preuß eine Brücke hin zu einer Klientel, deren Kooperation für den Übergang zu einem sozialen, demokratischen und republikanischen, aber eben nicht bolschewistischen Deutschland essentiell war. – Preuß war, wiederum im Gegensatz zu Max Weber, unmittelbar verfügbar in Berlin. Zu einem Zeitpunkt, in dem niemand wusste, wie sich die revolutionären Gegebenheiten von Tag zu Tag oder sogar von Stunde zu Stunde entwickeln würden, war auch dies ein zwar nebensächlich erscheinender, aber trotzdem wichtiger Aspekt. Preuß konnte mit der Arbeit nicht nur im übertragenen Sinne, sondern im Wortsinne von heute auf morgen beginnen, und genau so geschah es auch. – Die ersten vier Punkte sind die wesentlichen strukturellen Gründe, die zur Berufung von Preuß geführt haben. Aber neben strukturellen Ursachen bedarf es in der Regel auch eines konkreten Anlasses, um sie zum Tragen zu bringen. Diesen Anlass bot ein von Preuß geschriebener Artikel in der Morgenausgabe des Berliner Tageblatts vom 14. November unter dem Titel „Volksstaat oder verkehrter Obrigkeitsstaat?“4 Preuß argumentierte hier, dass die Revolution noch nicht die staatsbürgerliche Freiheit gebracht habe, sondern lediglich einen neuen Obrigkeitsstaat, in dem zwar jetzt die bisher unterdrückten Arbeiterführer das Sagen hätten, der aber ansonsten teilweise noch bedrückender sei als das bisherige Regime. Preuß verlangte die Einberufung einer freiheitlich gewählten Nationalversammlung, und da dies ohnehin auch Eberts Wunsch war, rannte Preuß mit seinem mutigen Artikel ohne es zu wissen in Wirklichkeit weit geöffnete Türen ein. Die Kombination dieser Faktoren ist die Ursache dafür, dass Preuß und nicht etwa Weber (wie es manche Weber-Biographen gerne hätten) an die Spitze des Reichsamts des Innern berufen wurde. Dort waren seine unmittelbaren Aufgaben zwar von enormer Bedeutung, aber wiederum weit von allen Neugliederungsplänen entfernt. Priorität hatte die Organisation der Wahlen zur 4 Hugo Preuß, Volksstaat oder verkehrter Obrigkeitsstaat?, Berliner Tageblatt, Nr. 583 (14.11.1918 M), auch abgedruckt in den „Gesammelten Schriften“, Bd. 4 (Hg. Detlef Lehnert), Tübingen 2008, S. 73–75.
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Nationalversammlung, für die nach übereinstimmender Meinung von Preuß und Ebert das „modernere“ Verhältniswahlrecht anstatt des im Kaiserreich geltenden Mehrheitswahlrechts mit Stichwahl gelten sollte. Wenn man bedenkt, dass Deutschland gerade einen Weltkrieg verloren hatte, sich mitten in einer Revolution befand und bei fortdauernder britischer Blockade der Meere unter einem weiteren Hungerswinter litt, dann ist die Aufgabe, binnen weniger Wochen (als Wahltag war nach einigem Hin und Her der 19. Januar festgelegt) eine demokratische Wahl zu organisieren, schwierig genug. Es wurde auch nicht dadurch einfacher, dass die letzte Wahl schon jahrelang zurücklag (1912), dass die Wählerschaft sich durch die Einführung des Frauenstimmrechts und die Herabsetzung des Wahlalters mehr als verdoppelt hatte, dass neue Wahlkreise eingerichtet werden mussten und dass das bestehende Parteiensystem teilweise zusammengebrochen war. Daneben stand die zweite Aufgabe, die unmittelbar etwas weniger dringend erschien, langfristig aber von noch größerer Tragweite war: der Entwurf einer neuen Verfassung. Auf die hierfür notwendige Folge von Beratungen, Konferenzen und Vereinbarungen kann an dieser Stelle nicht detailliert eingegangen werden.5 Aber es ist auch so einsichtig, dass der Entwurf der Verfassung für eine demokratische Republik ohne Präzedenzfall in Deutschland selbst unter den bestmöglichen Bedingungen größte Schwierigkeiten bereiten musste. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass kaum jemand in Deutschlands politischer Klasse die Überzeugung Preuß’ von der vordringlichen Notwendigkeit einer Neugliederung des Reichsgebietes und vor allem Preußens teilte. Das ist auch im Kern bereits der zentrale Grund, aus dem diese Pläne in der Weimarer Nationalversammlung scheitern sollten bzw. kaum eine ernsthafte Chance erhielten. Es fehlte die politische Unterstützung durch eine starke Partei. Zustimmung konnte Preuß vor allem von regionalen Politikern erwarten, vor allem in Hannover und im Rheinland. Auch im katholischen Zentrum gab es Sympathien für eine Neugliederung, hätte dies doch die Befreiung der Katholiken aus der Minderheitenposition bedeutet, der sie im protestantischen Preußen nicht entkommen konnten. Aber auf dieser Basis konnte man keine Mehrheiten für weitreichende Pläne herleiten. In der Sozialdemokratie, die wenigstens theoretisch am Einheitsstaat ohne föderative Untergliederung hing, war kein Interesse für eine Neugliederung vorhanden. Mehr noch, nachdem die Revolutionen in den bisherigen Residenzen neue, von der SPD geführte Regierungen hatten entstehen lassen, orientierte sich die Partei neben dem Einheitsstaat in ihren regionalen Gliederungen 5 Dies wird ausführlich untersucht in Michael Dreyer, Hugo Preuß (1860–1925). Biographie eines Demokraten, i.E. (Darmstadt 2011).
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an der Beibehaltung des territorialen status quo, aber nicht an einer neuen föderativen Aufteilung ohne Rücksicht auf politische Besitzstände. Auch Preuß’ eigene Partei, die neugegründete Deutsche Demokratische Partei, ließ neben einem theoretischen Bekenntnis zum Einheitsstaat wenig konkreten Reformeifer erkennen. Im Gegenteil; gerade in der Treue zum preußischen Staat wollte man sich von den bürgerlichen Konkurrenten in der DVP und der DNVP nicht überholen lassen, und da kamen die radikalen Pläne des auch ansonsten in der DDP kaum beliebten neuen Innenministers ausgesprochen ungelegen. Berücksichtigen muss man auch, dass es sogar bei Preuß’ selber bis zu seiner Berufung ins Reichsinnenamt keine Pläne für eine föderative Neuordnung gegeben hatte. Als Staatsrechtler wie als Publizist und Politiker hatte Preuß sich immer wieder in einer Flut von Büchern, wissenschaftlichen und publizistischen Aufsätzen, tagespolitischen Artikeln in der linksliberalen Presse und Reden kritisch mit der politischen und Verfassungsstruktur des Kaiserreiches auseinandergesetzt, und 1917 hatte er auf Ersuchen der Obersten Heeresleitung, das ihn auf Umwegen erreicht hatte, sogar einen umfassenden Verfassungsreformplan für das Reich und für Preußen entworfen6. An keiner Stelle gibt es einen Plan zur Aufgliederung Preußens. Der Grund dafür ist natürlich einfach gefunden: solche Pläne wären im Kaiserreich vollkommen utopisch gewesen, und der demokratische Realist Preuß gab sich nicht mit fruchtlosen Utopien ab. Viel mehr als eine visionäre Idee ist es aber auch nicht gewesen, wenn Preuß im Winter 1918/19 geglaubt haben sollte, dass die Zeit für eine sinnvolle Neugliederung Preußens und Deutschlands nun gekommen sei. Preuß war weitgehend auf sich allein gestellt, ohne nennenswerte politische Unterstützung bei den neuen Parteien der Weimarer Koalition, geschweige denn bei den alten konservativen Parteigängern des Kaiserreiches oder den Adepten der bolschewistischen Revolution. Wenn irgendwo eine Schwäche des Politikers Hugo Preuß liegt, dann in der Unterschätzung, mit der der akademische Intellektuelle die Erfordernisse des politischen Alltags betrachtete. Preuß vertraute auf die aufklärerische Werbekraft der guten Idee, auf die Durchsetzung dessen, was er mit guten Gründen als notwendig erkannt hatte: Nach Beendigung der erstickenden Atmosphäre des Kaiserreiches würden sich intelligente und einsichtsfähige Politiker nicht den Erfordernissen der 6 Hugo Preuß, Vorschläge zur Abänderung der Reichsverfassung und der preußischen Verfassung, nebst Begründung, in: Staat, Recht und Freiheit (Hg. Theodor Heuss), Tübingen 1926, S. 290–335 (erstmals als Manuskript gedruckt 1917); wird auch in den „Gesammelten Schriften“, Bd. 3, erscheinen.
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föderativen Demokratie in den Weg stellen, und damit müsste der Weg für die vernünftige Neugliederung geebnet sein. Eine solche Haltung wird sehr schnell das Schicksal der Titanic teilen. So erging es Preuß; er blieb ohne politische Hausmacht (und ohne Mandat in der Nationalversammlung), was seine Position trotz Ministerrang auch in anderen Verhandlungen schwächte. Eine weitere politisch wichtige Forderung war für Preuß die Umwandlung der Flagge von Schwarz-weiß-rot auf Schwarz-rotgold, und auch in dieser Frage wäre er beinahe gescheitert. Dieser zwar nicht realpolitisch, wohl aber symbolisch zentrale Akt fand in Preuß’ DDP relativ wenig Unterstützung, und letztlich waren es Sozialdemokraten und Zentrum, die die neue demokratische Fahne des Reiches durchsetzten. Übrigens liegt hier auch eine Parallele zu späteren Reichsreformplänen, die in den zwanziger Jahren mehrfach mit großem politischen Aufwand und ohne praktisches Ergebnis aufgegriffen wurden. 1920 formierte sich eine „Zentralstelle für die Gliederung des Deutschen Reiches“, und 1928 versuchte eine Länderkonferenz, die Probleme der föderativen Ordnung zu lösen. Denn inhaltlich hatte Preuß ja unbestritten recht: die Existenz des Großstaates Preußen, der allein fast zwei Drittel von Fläche und Bevölkerung des Reiches stellte, machte jeden Föderalismus ebenso unmöglich wie eine einheitliche und starke Linie der Reichspolitik. Auch in den 1920ern war es wieder nur der Enthusiasmus weniger Politiker, der die müde Flamme der Reichsreform am Leben hielt. Vor allem der DDP-Fraktionsvorsitzende, Reichsinnen- und spätere Reichsjustizminister Erich Koch-Weser glaubte an die Reichsreform ebenso sehr wie daran, dass ihm dieses Thema den Weg zur erhofften Kanzlerschaft ebnen werde7. Es ist eigentümlich, dass ausgerechnet der Deutschdemokrat Koch-Weser diesen Preußschen Gedanken aufgriff, und dies angesichts von ansonsten weitgehender Apathie oder Gegnerschaft gegenüber der Thematik. Als Preuß selbst als Innenminister die Neugliederung verfolgt hatte, war Koch-Weser kaum durch intensive Unterstützung von Preuß hervorgetreten; vielleicht auch einfach deshalb, weil Preuß dem ehrgeizigen Parteifreund im Weg stand. Koch-Weser fuhr mit der Reichsreform politisch und gar karrierebezogen nicht besser als vor ihm Preuß. Im April 1929 schied er aus der Regierung Müller II aus, und damit war seine politische Karriere praktisch beendet, und erst recht alle Träume von der Reichskanzlerschaft. 7 Zu Kochs ungewöhnlich ausgeprägter Konzentration auf Einheitsstaat und Reichsreform vgl. seine Tagebücher im Nachlass; NL Koch-Weser, Bundesarchiv Koblenz, Nr. 188–199. Zu seinen Ambitionen auf das Reichskanzleramt Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, Frankfurt a.M. 1977, S. 474.
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Zurück zu den ursprünglichen Reformplänen von Preuß. Man muss den ganzen Komplex in drei voneinander getrennt zu betrachtende Teilaspekte gliedern, die nicht unbedingt miteinander verbunden sind, die aber zusammen die Bandbreite des diesbezüglichen Denkens von Preuß darstellen: a) Die eigentlichen Neugliederungspläne, die tatsächlich die Grenzen der Länder verändert hätten und die vor allem Preußen zu einem Land vergleichbarer Größe reduziert hätten. b) Die Einrichtung eines Staatenhauses als zweite Kammer an Stelle des bisherigen Bundesrates. c) Die Bildung von „Wahlkreisverbänden“ zur Reichstagswahl (seit 1920). Kurioserweise ist dieser letzte Punkt am einfachsten abgehandelt, und dies, obwohl er als einziger tatsächlich in die Tat umgesetzt wurde.8 Die Wahlkreisverbände blieben für die Reichstagswahlen von 1920 bis 1933 unverändert bestehen; sie nahmen keine Rücksicht auf Ländergrenzen. Eingerichtet wurden sie, um die Verrechnung überschüssiger Stimmen zu ermöglichen, die den Parteien in den einzelnen Wahlkreisen verblieben waren, dort aber nicht für ein Mandat ausreichten. Die Wahl zur Nationalversammlung hatte diese Wahlkreisverbände noch nicht gekannt, was sich zum Nachteil der DDP auswirkte. Die geographische Zusammenstellung der Wahlkreisverbände ist bemerkenswert und hätte die Basis für eine Neugliederung des Reiches abgeben können. Dies geschah jedoch nicht, obwohl hier der einzige Teil der Reichsreform vorlag, der tatsächlich praktische Auswirkungen hatte. Aber es fehlte die Sogwirkung über den unmittelbaren Anlass hinaus. Die Wahlkreisverbände erfüllten ihren Zweck und führten die in den Wahlkreisen verbleibenden Stimmen zur Vergabe weiterer Mandate zusammen. Aber jenseits der Reichstagswahlen spielten sie keine politische Rolle. Damit verbleiben noch die anderen beiden Elemente der Preußschen Reformpläne. Diese hätten zweifellos erhebliche Auswirkungen gehabt, wenn sie denn umgesetzt worden wären. Dass dies nicht geschah, ist bereits gezeigt worden. Trotzdem lohnt es sich, auch diese Pläne näher zu betrachten.9 8 Zu den Wahlkreisen vgl. die Übersicht bei Jürgen W. Falter u.a., Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik, München 1986, S. 61 ff., zum Wahlrecht: S. 23 f. 9 Eine zeitgenössische reproduktionsfähige Neugliederungskarte ist nicht bekannt. Daher wird Plan 1 des Anhangs von Werner Münchheimer, Die Neugliederung Deutschlands, Frankfurt a.M. 1949, verwendet. Dort wurde auf die in der textlichen Fassung des Erstentwurfs Preuß noch enthaltene Einbeziehung Österreichs verzichtet. Hier muss es zugunsten der Lesbarkeit genügen, den Kartenausschnitt auf heutigen Gebietsumriss zu begrenzen. Jenseits von Oder/Neiße sind auf Plan 1 noch „Preußen“ und „Schlesien“ verzeichnet. Das Gebiet Preußens in den 1920er Jahren ist auf S. 186 zu finden.
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2.1. Der Neugliederungsplan Im technischen Sinne muss man zugestehen, dass der Neugliederungsplan von Preuß überhaupt keine Neugliederung des Reichsgebietes vorsah. Das liegt wesentlich daran, dass dem Plan in dem Moment, in dem er an die Öffent-
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lichkeit trat, bereits seine wichtigsten Bestandteile genommen waren. Aber es kann umgekehrt kein Zweifel daran bestehen, dass Preuß diesen Plan mit dem tatsächlichen Ziel einer Neugliederung nicht allein zum untergeordneten Zweck einer Wahl, sondern auch im Hinblick auf die staatsrechtliche Neugestaltung der Länder entwickelt hatte. Der Zuschnitt der geplanten Gebietseinheiten wird dem heutigen Betrachter bekannt vorkommen (S. 288 u. Anm. 9). In der Tat lässt sich eine gewisse Ähnlichkeit der Preußschen „autonome[n] Selbstverwaltungskörper“10 mit den heutigen Ländern nicht verkennen. Man kann dies als Beleg der Weitsicht von Preuß interpretieren, der hier Gestaltungen vorweg genommen hatte, die später, als die politischen Hindernisse weggefallen waren, tatsächlich umgesetzt wurden. Die Lebensfähigkeit der Ideen Preuß’ wird auch dann augenfällig, wenn man sie mit den zum Teil abenteuerlichen Neugliederungsplänen vergleicht, die in der späteren Weimarer Republik von anderen Autoren vorgeschlagen wurden11. Aber das ist weit in die Zukunft gedacht; die Realität 1918/19 sah anders aus. Es hat sich eingebürgert, im Anschluss an die zeitgenössische Darstellung des Staatsrechtlers Heinrich Triepel12 die verschiedenen Entwürfe im Vorfeld der Weimarer Verfassunggebung durchzunummerieren. Im Überblick lassen sich diese Entwürfe wie folgt darstellen: Übersicht über die Entwürfe zur Weimarer Reichsverfassung Verhandlung Resultat Entwurf I Expertentagung 9.–12. Dezember 1918 Beratungen im Reichsamt Entwurf II des Innern 1. Lesung im Staatenaus- Entwurf III schuss
Vorgelegt am 3. Januar 1919 20. Januar 1919 17. Februar 1919
Fortgang Unveröffentlicht; interne Beratungsvorlage Veröffentlicht, mit Denkschrift vom 3.1. Vorlage für 2. Lesung im Staatenausschuss
10 Hugo Preuß, Deutschlands Republikanische Reichsverfassung, 2. Aufl. Berlin 1923, S. 43 (auch „Gesammelte Schriften“, Bd. 4, S. 307–363, hier S. 327). Und ebd., S. 42 f. (S. 327), zum Unterschied vom Gliedstaat im Bundesstaat zum Selbstverwaltungskörper: „Aber gerade auf diese entscheidende Frage hat die fleißige und oft tiefschürfende Arbeit fast aller deutschen Staatsrechtler dreier Generationen keine haltbare und befriedigende Antwort zu finden vermocht. Denn: wo nichts ist, kann auch der Scharfsinn deutscher Gelehrsamkeit nichts finden.“ 11 Vgl. Jürgen John, Die Reichsreformdiskussion in der Weimarer Republik, in: Jochen Huhn/Peter-Christian Witt (Hg.), Föderalismus in Deutschland. Traditionen und gegenwärtige Probleme, Baden-Baden 1992, S. 101–126. 12 Heinrich Triepel, Quellensammlung zum Deutschen Reichsstaatsrecht, 3. Aufl. Tübingen 1922.
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Übersicht über die Entwürfe zur Weimarer Reichsverfassung Verhandlung Verfassungsausschuss der Nationalversammlung 2. Lesung im Plenum der Nationalversammlung 3. Lesung im Plenum der Nationalversammlung
Resultat Entwurf V
Vorgelegt am 18. Juni 1919
Entwurf VI
15. Juli 1919
Weimarer Reichsverfassung
31. Juli (Abstimmung) 11. Aug. 1919 (in Kraft)
Fortgang Vorlage für die 2. Lesung der Nationalversammlung Vorlage für die 3. Lesung der Nationalversammlung Verfassung für das Deutsche Reich
Quelle: Eigene Darstellung nach Heinrich Triepel
Der „Neugliederungsplan“ tauchte erstmals im „Entwurf I“ auf, dem Resultat der Expertentagung im Reichsamt des Inneren im Dezember 1918. Allerdings legte der § 29 im Entwurf I lediglich Gebiete fest, die Abgeordnete ins Staatenhaus entsenden können. Die hier geplanten Wahlkreise sollten Bestand haben, „(b)is sich die neuen Freistaaten gebildet haben“13. Soweit hatte Preuß also seine Ideen bereits für die erste, nur intern und vertraulich durchgeführte Expertentagung heruntergenommen. Aber auch so war es deutlich, dass Preuß damit weiterreichende Pläne verfolgte und dass es nicht bei der bloßen Wahlkreisfestlegung für das Staatenhaus bleiben sollte. Die politische Wirkung ging darüber hinaus, und man geht nicht fehl, in diesen Gebietsgliederungen die Grundform neuer Staaten zu erblicken. Das ist auch exakt der Grund für das Scheitern des Plans. Weder im Vorfeld noch auf der Expertentagung selbst hat Preuß wesentliche Zustimmung erfahren. Offenkundig hinderte diese fehlende Unterstützung Preuß aber nicht daran, an seinen Ideen festzuhalten und sie in den internen, nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Entwurf I vom 3. Januar 1919 aufzunehmen. Nebenbei sei bemerkt, dass dies gewisse Zweifel an der Bedeutung der Expertentagung erlaubt. Es sieht so aus, als habe Preuß die Vorschläge der Experten aufgegriffen, wenn sie sich mit seinen eigenen Vorstellungen deckten und ignoriert, wenn dies nicht der Fall war.14 In jedem Fall zeigt sich die Stichhaltigkeit seiner Überlegungen auch darin, dass die grundlegende Substanz seines Plans in vielen Schriften und Neugliederungsplänen der 1920er Jahre erneut wieder 13 § 29 in Entwurf I, abgedruckt bei Triepel 1922, Nr. 7. Die begleitende Denkschrift von Hugo Preuß vom 3. Januar ist einfach zugänglich in Preuß, Staat, 1926, S. 368–394. 14 Überschätzt wird oft die Rolle, die Max Weber bei der Gestaltung des Reichspräsidenten hatte; vgl. Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, 2. Aufl. Tübingen 1974, S. 382 f.
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auftaucht. Die Probleme der bestehenden Ordnung ließen sich nicht übersehen, auch wenn die Lösung keinen Schritt näher gerückt war. Der Entwurf I vom 3. Januar ist er einzige Entwurf, der tatsächlich weitgehend nach den Vorstellungen von Preuß gestaltet ist. Im Entwurf II ist der Neugliederungsplan nicht mehr vorhanden – er wurde also bereits nach den internen Beratungen in der Reichsregierung entfernt, noch bevor der Staatenausschuss im Februar 1919 tagte. Offenbar hatten die politischen Schwergewichte in der Regierung erkannt, dass dieser Plan keinerlei Verwirklichungschancen besaß. Der Entwurf II kennzeichnet den ersten Rückzug von den Ideen Preuß’, aber auch dieser Entwurf, der als erster der Öffentlichkeit bekannt gegeben wurde, nimmt den kleinen Staaten zwar nicht ihre Existenz, wohl aber das politisch entscheidende eigengewichtige Vertretungsrecht für das Staatenhaus. So ist es folgerichtig, dass diese Bestimmung die nächste Rückzugslinie der Reichsregierung gegenüber den wiedererstarkten Staaten darstellte. In den Entwürfen III und IV, die die Beratungen innerhalb des Staatenausschusses und die daraus resultierenden Kompromisse widerspiegeln, ist den kleinen Staaten oder Ländern nicht nur ihr Stimmrecht wiedergegeben, sondern die ganze Institution des Staatenhauses durch einen Reichsrat ersetzt, der im Zuschnitt weitgehend dem alten Bundesrat entspricht. Dies alles geschah noch vor dem Beginn der Beratungen in der Nationalversammlung, und schuf damit vollendete Tatsachen, bevor sich die souveräne, gewählte Versammlung des deutschen Volkes überhaupt damit befassen konnte. In vielen Details hat der Staatenausschuss seine Karten überreizt (etwa mit der Wiederbelebung der Sonderrechte für die süddeutschen Staaten), was später von der Nationalversammlung rückgängig gemacht wurde. In der grundlegenden Revision der Ersetzung des demokratischen Staatenhauses durch einen die Länderregierungen repräsentierenden Reichsrat konnten sich die Staaten/Länder jedoch durchsetzen, und der Kompromiss der Staatenausschusssitzungen wurde zwar noch angezweifelt, aber nicht mehr im Kern geändert. Bemerkt werden muss noch, dass die Veröffentlichung des Entwurfs II von der Denkschrift zum Entwurf I vom 3. Januar begleitet war. Das heißt, dass der Text des Entwurfes am 20. Januar den Neugliederungsplan nicht mehr enthielt, dass aber die begleitende Denkschrift von dessen Existenz ausging. Es muss offen bleiben, ob dies ein schlichtes (dann aber erhebliches und folgenreiches) Übersehen war oder ob Preuß bewusst diese Passagen der Denkschrift unverändert gelassen hatte, um so einen politischen Versuchsballon zu starten. Wenn letzteres der Beweggrund gewesen sein sollte, dann hatte Preuß die politische Stimmung vollkommen falsch eingeschätzt. Das Echo war vor allem in
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Preußen, aber auch darüber hinaus verheerend. Der Neugliederungsplan war am Tag nach der Wahl zur Nationalversammlung endgültig zu Grabe getragen. Preuß selbst muss eingesehen haben, dass damit die politische Entscheidung über seinen wichtigsten Plan gefällt worden war, denn er kommt im weiteren Verlauf der Beratungen nicht mehr darauf zurück. Die theoretische Möglichkeit, mit der revolutionären Umwälzung auch eine Bereinigung des Ungleichgewichts der deutschen Staaten zu erreichen, war damit von der Tagesordnung genommen. Die späteren Kompromisse um den Art. 18 der Reichsverfassung, den sogenannten Reichsneugliederungsparagraphen, sollen hier unbeachtet bleiben. Die Reformdiskussionen der 1920er Jahre haben demonstriert, dass dieser Verfassungsartikel kein geeignetes Vehikel für eine Reichsreform darstellte. Preuß hat sich später in den verfassungspolitischen Debatten in der Weimarer Republik schützend vor den Art. 18 gestellt15. Ein wahrer Ersatz für den versäumten großen Wurf war er aber nicht. Das ließ das Schicksal des zweiten wichtigen Bestandteils der Ideen Preuß’ offen, nämlich der Umwandlung des Bundesrates in ein Staatenhaus.
2.2. Das Staatenhaus Beim „Staatenhaus“ war Preuß scheinbar auf soliderem Grunde als bei seinen Vorstellungen von einer Neugliederung des Reichsgebietes. Immerhin konnte er sich hier auf eine Vielzahl von Vorbildern und zudem auf die deutsche Geschichte berufen: die einzige demokratisch als Vorläufer der Weimarer Beratungen anzusehende deutsche Verfassung, das Werk der Paulskirche, hatte ein ganz ähnlich strukturiertes Verfassungsorgan vorgesehen, und auch den Namen selbst hatte Preuß natürlich von diesem Vorbild übernommen. Neben der Paulskirche gab es ähnlich strukturierte föderative Kammern auch in den USA und in der Schweiz, und in fast allen anderen föderativen politischen Systemen. Der Grundgedanke eines Staatenhauses ist einfach: neben die demokratisch legitimierte parlamentarische Vertretung des Volkes wird als föderative Kammer eine gleichfalls demokratisch durch Wahlen legitimierte Körperschaft gestellt, die aber nicht auf der Basis der Bevölkerungszahl zusammengestellt wird, sondern gemäß den territorialen Untergliederungen des Gesamtstaates. Das Staatenhaus hing zwar nicht theoretisch, wohl aber praktisch mit dem „Problem Preußen“ zusammen. Während es auch zwischen den Kantonen 15 Hugo Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung. Seine Entstehung und Bedeutung, Berlin 1922.
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Zürich und Uri oder den Bundesstaaten Kalifornien und Wyoming erhebliche Bevölkerungsunterschiede gibt, waren diese Unterschiede doch relativ gering gegenüber den im Deutschen Reich bestehenden. Es wäre absurd gewesen, Preußen und Reuß ältere Linie oder Waldeck ohne Ansehen der politischen Realitäten die gleiche Zahl von Staatenhausvertretern zu geben. Eine Orientierung an den Bevölkerungszahlen wäre allerdings gleichfalls absurd gewesen, denn dann hätten sich die Abgeordneten der anderen deutschen Länder die Reisekosten sparen können, da Preußen eine dominierende Übermacht gehabt hätte. Die Einrichtung eines Staatenhauses stand und fiel also mit der Aufgliederung Preußens, jedenfalls zum Zweck der Wahlen für das Staatenhaus. Die zentrale Stellung des Staatenhauses für den Verfassungsentwurf wurde bereits bei der Expertentagung im Dezember 1918 deutlich. Die Aufnahme war ausgesprochen kühl, und Preuß stellte fest „daß eine geschlossene Mehrheit für das Staatenhaus sich nicht herausgestellt habe, daß er aber diese Lösung für das kleinere Übel gegenüber den sonstigen vorgeschlagenen Lösungen halten müsse“16. Mit anderen Worten: er hielt auch hier an seinen eigenen Plänen unbeeindruckt vom Votum anderer Experten fest. Aber ebenso wie bei der Neugliederung Preußens verschafften sich die politischen Machtverhältnisse schnell Gehör. Unabhängig von der Größe der bestehenden deutschen Länder konnte man bei keinem von ihnen Zustimmung für eine föderative Kammer erwarten, die im Effekt die Landesregierungen entmachtet und sie der bisherigen Mitwirkung an der Gestaltung der Reichspolitik beraubt hätte. Dementsprechend einhellig war die Ablehnung, und bei der Einführung der Verfassung in die Beratungen der Nationalversammlung war auch das Staatenhaus bereits aus dem Entwurf wieder verschwunden. Preuß hatte sich mit dem Ende seiner Neugliederungspläne inzwischen weitgehend abgefunden, aber dem Staatenhaus trauerte er doch noch nach, zum Beispiel in seiner Rede zur Begründung des Entwurfs der Reichsverfassung am 24. Februar 1919: „Die Frage, ob Reichsrat oder Staatenhaus, ist ja in den Vorerörterungen viel umstritten worden. Ich für meine Person würde heute noch dem Staatenhaus des ersten Entwurfs aus mancherlei Gründen, nicht zuletzt im wohlverstandenen Interesse der Gliedstaaten selbst, den Vorzug geben. Übrigens würden in einem Staatenhaus die Mitglieder nach freier Überzeugung stimmen, und wenn die Mitglieder des Staatenhauses von den Parlamenten der Einzelstaaten nach dem Verhältniswahlrecht gewählt würden, wäre 16 Aufzeichnungen über die Verhandlungen, Nachlass Payer, Bundesarchiv Koblenz, Nr. 11, S. 24. Die Aufzeichnungen werden im Bd. 3 der Gesammelten Schriften erscheinen.
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vielleicht auch die Frage des Stimmrechts Preußens leichter zu lösen, weil dann eben Preußen nicht als Ganzes mit seinem Schwergewicht stimmte. Indessen, wie dem auch sei: es war nicht zu verkennen, daß die Idee des Staatenhauses auf keinen Beifall zu rechnen hatte, und zwar nach verschiedenen Seiten hin. Es kam dazu die Abneigung gegen das Zweikammersystem usw. Also Reichsrat! Gewiß, es geht auch so, allerdings unter der Voraussetzung, daß der Reichsrat nicht ein dem Reichstag gleichberechtigter Faktor der Gesetzgebung sein kann, wie es der Bundesrat früher gewesen ist, und diese Hauptbedingung ist denn auch im Entwurf durchgeführt.“17
Gelegentlich tauchte das Staatenhaus in den Beratungen im Plenum und im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung wieder auf; vor allem dann, wenn sich Schwierigkeiten mit der „clausula antiborussica“ ergaben18. Die systemfremde Vertretung der Provinzen im Reichsrat durch direkt gewählte Politiker dieser Provinzen ist ein letztes Überbleibsel der Staatenhaus-Idee, das die praktischen Schwierigkeiten des Problems Preußen widerspiegelt, zugleich aber auch eine wenig durchdachte Vermischung zweier Repräsentationssysteme darstellt. Im Nachhinein betrachtet kann man feststellen, dass eine ganze Reihe guter Gründe für die Preußsche Idee des Staatenhauses sprachen: – Demokratietheoretische Überlegungen; ein Staatenhaus hätte direkte demokratische Legitimation besessen und nicht nur die indirekte Legitimation der Länderregierungen im Reichsrat. – Föderalismus- und pluralismustheoretische Überlegungen; ein Staatenhaus hätte die praktische Beteiligung „autonomer Selbstverwaltungskörper“ an der politischen Willensbildung ermöglicht und den überkommenen Begriff des „Staates“ aufgegeben19. – Das Modell hätte eine sehr elegante und praktische Umgehung des Dualismus’ zwischen dem Reich und Preußen ermöglicht, indem die preußischen Provinzen oder ähnliche Gebilde die territoriale Grundlage abgegeben hätten. Dagegen sprachen zwar vielleicht weniger überzeugende, dafür aber politisch schlagkräftige Gründe. Die deutsche Verfassungstradition hatte, trotz Paulskirche, niemals eine solche föderative Vertretung gekannt; die Vorläufer des Bundes-/Reichsrates finden sich dagegen bereits im Reichstag des Heiligen 17 Verhandlungen, Bd. 326, S. 289 f. 18 Vgl. Verhandlungen, Bd. 328, S. 2113; Bd. 336, S. 445 f. 19 Die Skepsis gegenüber dem Staatsbegriff findet sich bereits sehr früh bei Preuß; vgl. Hugo Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, Berlin 1889, S. 92 f.
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Römischen Reiches. Darüber hinaus war die Realität der Auftragsverwaltung, die Länder- und Kommunalbeamten für das Reich vornahmen, im deutschen Verbundföderalismus nicht zu übersehen. Kaum erwähnt werden muss das politische Machtkalkül der deutschen Regierungen, die übereinstimmend das Staatenhaus von Anfang an ablehnten. Auf nationaler Ebene sah es kaum besser aus; das Staatenhaus wurde durch keine der Parteien in der Nationalversammlung unterstützt. Wieder einmal zeigte sich, dass Preuß ein Minister ohne politische Hausmacht war. Politische Chancen für eine Neugliederung des Reiches und Preußens hat es, wenn überhaupt, nur in den Revolutionswochen gegeben. Bei nüchterner Betrachtung muss man feststellen, dass allen Plänen von Preuß zum Trotz diese Chance vermutlich schon vertan war, als sich im Dezember 1918 die Experten zu ihrer Tagung in Berlin trafen. Seine Pläne mögen sinnvoll gewesen sein, politisch durchsetzbar waren sie nicht mehr. Wahrscheinlich lag das Ende jeder erfolgversprechenden Neugliederungsdebatte schon in den ersten Tagen der Revolution. Am 10. November bildet sich der Rat der Volksbeauftragten, aber am 14. November konstituiert sich daneben der Rat der Volksbeauftragten Preußens. Damit ist der Dualismus zwischen Preußen und dem Reich bereits in die Geburtsstunde der Revolution gelegt. Die föderativen Ideen von Preuß waren 1918/19 zu radikal für die politische Gestaltung, selbst in Zeiten der Revolution. Nur am Rande sei darauf verwiesen, dass das Preußsche Staatenhaus nicht nur in Weimar gescheitert ist, sondern bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates eine Generation und einen Weltkrieg später, als „Senatslösung“ an ganz ähnlichen Konstellationen erneut erfolglos blieb. Wer weiß, vielleicht hätte sich auch Preußen wiederum als widerstandsfähig erwiesen, wenn nicht wenigstens in dieser Frage die Alliierten den besiegten Deutschen die Entscheidung abgenommen hätten. Wenn auch Preuß’ Föderalismus in Weimar reine Theorie bleiben musste, ist doch die Frage wichtig, woher diese föderativen Ideen kamen. Vielleicht erklären die Quellen und Herleitungen zugleich auch, warum sie in Weimar keine Realisierungschance haben konnten. In diesem Kontext müssen zwei sehr unterschiedliche Einflüsse betrachtet werden. Zum einen das englischamerikanisch geprägte Verständnis des Pluralismus bei Preuß, zum anderen aber auch die Ideen des Außenseiters der deutschen Staatstheorie und des Föderalismus im 19. Jahrhundert, Constantin Frantz.
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3. Constantin Frantz und Hugo Preuß Eine persönliche Bekanntschaft zwischen Frantz und Preuß wäre möglich gewesen; der 1817 geborene Frantz starb erst 1891, zu einem Zeitpunkt also, als Preuß bereits habilitiert war und auch als politischer Publizist bereits seine ersten Wege gefunden hatte. Aber eine solche Bekanntschaft ist nicht zustande gekommen; vermutlich hätte es auch nur wenige Verbindungen zwischen dem urbanen jüdischen Großbürger und Intellektuellen und dem die Moderne verachtenden antisemitischen Einsiedler von Blasewitz bei Dresden gegeben. Frantz muss ein schwieriger Mensch gewesen sein; als politischer Geist wurde er rückhaltlos bewundert von Richard Wagner. Aber die einzige persönliche Begegnung der beiden ist nur knapp an einem Desaster vorbeigesteuert. Danach reduzierte man die wechselseitige Bewunderung klugerweise wieder auf Briefe und verzichtete auf weitere Treffen20. Aber immerhin war Wagner, wie seine Gespräche, Tagebücher und Briefe offenbaren, ein guter Kenner des umfangreichen Werkes von Frantz. Wie gut war demgegenüber Preuß im Frantzschen Denken zuhause? Das lässt sich kaum beantworten, denn es ist letzten Endes immer nur der gleiche Satz von Frantz, den Preuß in föderativer Absicht zitiert: „Der Löwe und die Maus können sich nicht conföderiren.“ Diese Sentenz stammt aus dem Hauptwerk von Constantin Frantz, das den imposanten Titel trägt „Der Föderalismus als das leitende Princip für die sociale, staatliche und internationale Organisation, unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland, kritisch nachgewiesen und constructiv dargestellt“ 21. Im Grunde ist es etwas gewagt, hier von einem „Hauptwerk“ zu sprechen, denn dieser Band enthält nur wenig neue Ideen, die nicht zuvor anderswo von Frantz bereits ausgedrückt worden wären. Aber er fasst die ca. 70 Bücher und 30 Aufsätze von Frantz noch einmal gut zusammen und ermöglicht damit tatsächlich einen guten Überblick über das Gesamtwerk des heute wenig bekannten Denkers. Die Beschäftigung mit dem Werk von Frantz verlangt vom Leser Geduld und Hartnäckigkeit. Nicht nur werden viele Gedanken in jedem neuen Buch ad nauseam wiederholt, sondern man sieht sich auch mit einem ungeordneten Nebeneinander von klugen Beobachtungen, analytisch-strukturellen Einsichten und völligem Unsinn konfrontiert. Eines haben alle Bücher 20 Zur Verbindung von Richard Wagner und Constantin Frantz vgl. Michael Dreyer, Constantin Frantz: der Außenseiter des Antisemitismus, in: Werner Bergmann und Ulrich Sieg (Hg.), Antisemitische Geschichtsbilder, Essen 2009, S. 39–59. 21 Erschienen Mainz 1879; das Zitat S. 232.
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von Frantz gemeinsam: sie versuchen, den Föderalismus als allumfassende Methode der Staatswissenschaft zu entwickeln und anzubieten. Frantz, von Haus aus promovierter Mathematiker und Philosoph, beginnt seine publizistische Karriere als preußischer Staatsdenker (1840er Jahre), greift dann die deutsche Frage im europäischen Kontext und die Analyse des modernen Staates auf (1850er), widmet sich der Reform des Deutschen Bundes (1860er), übt Kritik an Bismarck, der Reichsgründung und dem deutschen Militarismus (1870er) und propagiert endlich den Föderalismus als Weltaufgabe und Weltlösung aller Probleme der Menschheit (1880er). Dies alles wird begleitet von einer fast völligen Ablehnung der Moderne, und damit einhergehend der Romantisierung von Mittelalter und Ständestaat. Frantz denkt weitgehend anti-industriell und agrarisch. Als abschließendes Element in seinem eigentümlichen Denkgebäude gebührt ihm der zweifelhafte Ruhm, schon 1844 einer der ersten Vordenker des rassischen Antisemitismus zu sein22. In dieser bisherigen Aufzählung gibt es nichts, was einen theoretischen Denker wie Preuß interessiert haben könnte. Das wirft die Frage auf, was ihn denn eigentlich an Frantz angesprochen hat und warum er ihn immer wieder zitiert hat. Frantz ist, ebenso wie Preuß und deutlich vor ihm, ein scharfsichtiger Kritiker der inneren Struktur des Bismarck-Reiches. Vor allem die Verbindung von Militarismus und politischer Struktur wird nach Frantz zwangsläufig zum Desaster führen. Nicht für einen Moment hat sich Frantz von der glänzenden Fassade des neuen Reiches blenden lassen. So heißt es im „Föderalismus als das leitende Princip“: „Und worin besteht also das Wesen dieser Reichsverfassung? Kurz gesagt: in nicht viel mehr, als daß sie die thatsächliche Militärherrschaft mit parlamentarischen Decorationen umgibt.“23 Das ist immerhin bereits 1879 geschrieben, also sechs Jahre, bevor der erste verfassungskritische Aufsatz von Preuß in der „Nation“ erscheinen wird24. Frantz’ Föderalismus ist umfassend gedacht, und gerade deshalb ist er nicht interessiert am Konzept des Bundesstaates. Die ganze Frage ist für Frantz falsch gestellt, da der Staat eine ephemere historische Erscheinung ist. Statt dessen plädiert Frantz für den Begriff des Reiches, mit dem er an die föderative Gestaltung des Mittelalters anknüpfen will. Das heißt für ihn auch, dass es keinen prinzipiellen und begrifflichen Unterschied zwischen Staaten 22 Constantin Frantz, Ahasverus oder die Judenfrage, Berlin 1844 (Nachdruck Siegburg 1994). 23 Frantz 1879, S. 265. 24 Hugo Preuß, Kolonialpolitik und Reichsverfassung, in: Die Nation 2 (1884/85), Nr. 16, S. 214–217.
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und anderen politischen Einheiten gibt: „Innerhalb ihrer Competenz und für ihre besonderen Interessen sind … Gemeinden, Kreise und Landschaften wie kleine Staaten.“25 Damit steht Frantz vollkommen jenseits aller staatsrechtlichjuristischen Debatten, die im Kaiserreich um die „Kompetenz-Kompetenz“, das Wesen des nicht-souveränen Staates und seines Unterschieds von der Kommune, die nationalen Interessen des Staates oder die lokalen Interessen der Gemeinde oder ähnliche Themen geführt wurden. Die Idee des Löwen und der Maus, wenn auch noch nicht die Formulierung, taucht bereits 1865 bei Frantz auf: „[E]s ist keine wahre Föderation denkbar, wo ein Glied alle andern aufwiegt und an Militairkraft sogar übertrifft.“26 Eine Föderation muss für Frantz nicht aus gleichgroßen Gliedern bestehen, aber jedes Glied muss für sich alleine lebensfähig sein. Und das ist eben im kleindeutschen Kaiserreich nicht der Fall; vor allem die norddeutschen Kleinstaaten seien nicht mehr als „Sandbänke in dem preußischen Ozean“27. Frantz’ Ausgangspunkt, seine methodische Vorgehensweise und seine politischen Ziele sind vollkommen verschieden von denen Preuß’, aber alle diese zuletzt referierten Gedanken sind auch typische Bestandteile des Preußschen Föderalismus. Frantz’ strukturelle Beobachtungen der Defizite des Kaiserreiches und Preußens sind mit dem scharfen Auge des grundsätzlichen Gegners zusammengestellt, aber sie enthalten viel, was später auch Preuß auffallen sollte. Gerade im Weltkrieg verzweifelte Preuß an der Unfähigkeit des preußischen Militarismus zu politischen Reformen, und damit an der strukturellen Friedensunfähigkeit des Staates, der die ganze Nation in den Untergang zu reißen drohte. Frantz wäre von den politischen Entwicklungen ab 1914 nicht überrascht worden. Preuß hat in diesen Gedanken von Frantz verwandte Überlegungen gefunden, die seine föderativen Analysen und sogar seine Neugliederungspläne bestärkten. Soweit, aber auch nicht weiter, geht das Interesse Preuß’. Er hatte sicherlich nicht solche Gedanken zu verschwenden auf das mittelalterliche Reich oder den „Beruf“ Preußens oder Österreichs in Deutschland und Europa.28 Es gibt intellektuelle Verbindungen von Preuß zum Frantzschen Föderalismus, 25 Frantz 1879, S. 135. 26 Constantin Frantz, Die Wiederherstellung Deutschlands, Berlin 1865, S. 193 und ähnlich noch an vielen weiteren Stellen; vgl. Michael Dreyer, Föderalismus als ordnungspolitisches und normatives Prinzip. Das föderative Denken der Deutschen im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1987, S. 446, Fn. 522. 27 Frantz 1879, S. 232. 28 Preuß war nicht interessiert an der „johanneischen“ Föderation der christlichen Kirchen, am Bündnis mit Polen und dem anzustrebenden Krieg mit dem barbarischen Russland oder an der militärischen Eroberung Jerusalems – alles Gedanken, die Frantz im-
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aber sie sind auf wenige Aspekte begrenzt. Diese Einschränkung gilt nicht für die Kombination der Frantzschen Strukturgedanken mit der englisch-amerikanischen föderativen und pluralistischen Praxis, die Preuß für sich vornahm.
4. Was ist ein „autonomer Selbstverwaltungskörper“? 1924, im fünften Jahr der Weimarer Republik und ein Jahr vor dem Tod von Preuß wurde in Jena die Tagung der deutschen Staatsrechtler gehalten, die berühmt werden sollte durch Carl Schmitts Referat über die „Diktaturgewalt des Reichspräsidenten“. Aber die gleiche Tagung enthielt auch Referate von Gerhard Anschütz und Karl Bilfinger über den Föderalismus, die heute weniger beachtet werden, die aber nicht minder aufschlussreich sind. Anschütz konstatierte: „Konstruktive Untersuchungen über den Begriff ‚Föderalismus‘ sind nutzlos, wenn man dabei nicht stets zugleich auch den Gegenbegriff, den des Unitarismus, im Auge behält. Nur auf der Folie dieses Gegenbegriffes läßt sich der Begriff Föderalismus klarstellen und umgekehrt. Bei stärkster Vereinfachung der beiden Begriffe läßt sich sagen: 1. Beide Begriffe setzen den Oberbegriff des Bundesstaates voraus; 2. Föderalismus und Unitarismus sind Gestaltungsmöglichkeiten, Gestaltungstypen des Bundesstaats.“29 Die Umkehr binnen eines guten Jahrhunderts ist bemerkenswert: Der Begriff des Bundesstaates wird erstmals in der deutschen politischen und Rechtssprache im Rheinbund und kurz danach verwendet, um eine spezifische Form des Föderalismus zu beschreiben. Bei Anschütz kam es jetzt umgekehrt dazu, den Föderalismus nur noch als eine Unterform des Bundesstaates zu verstehen. Demgegenüber ist das Föderalismusverständnis von Preuß gänzlich anders gestaltet. Er fällt mit seinen Gedanken aus dem Schema heraus, und so greift es zu kurz, Preuß in Weimar schlicht als Unitaristen zu bezeichnen, da sein Denken über Anschütz’ Staatsrecht hinausgeht. Statt dessen muss man das umfassende Föderalismusverständnis bei Preuß als eine Form des politischen Pluralismus verstehen. Preuß ist ein demokratischer Pluralist, für den der Pluralismus eine horizontale, aber auch eine vertikale Ordnungsstruktur impliziert. Dieser Gedanke ist nicht neu; er mer wieder mit der gleichen Überzeugung vorstellte wie seine klugen Bemerkungen zu den Defiziten des Bismarck-Reiches. 29 Gerhard Anschütz/Karl Bilfinger, Der deutsche Föderalismus in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Berichte auf der Tagung der deutschen Staatsrechtler zu Jena am 14. und 15. April 1924 (Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, H. 1), Berlin 1924, S. 11.
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ist schon wiederholt formuliert worden30, so dass hier auf eine detaillierte Beweisführung verzichtet werden kann. Wenn Preuß die Länder als „höchstpotenzierte Selbstverwaltungskörperschaften“ ansieht, degradiert er sie nicht zu Verwaltungseinheiten in einem unitarischen Staat, sondern ordnet sie in eine organisch aufsteigende Reihe von „local selfgovernment“ über Zwischenstufen zum „national selfgovernment“ ein. Preuß und Frantz sind beide fasziniert gewesen vom Potential des amerikanischen Föderalismus, das exakt diesen Gedanken als horizontalen und vertikalen Pluralismus aufgreift. Anders als der alteuropäisch verhaftete Frantz erkannte Preuß hierin aber zugleich ein natürliches politisches Organisationsprinzip des Pluralismus. Der vertikale Pluralismus klebt nicht an bestimmten historischen Ländergrenzen, sondern an einem stringenten Selbstregierungsgedanken jeder Einheit, die zugleich als einander prinzipiell gleichwertig betrachtet werden – mit unterschiedlichen Kompetenzen, aber gleichwertig. Auch unabhängig von der politischen Unterstützung bzw. Nicht-Unterstützung der Preußschen Neugliederungspläne war die Chance, dass dieses Föderalismusverständnis sich 1919 hätte durchsetzen können, von Anfang an gleich Null. Um so moderner mutet es in der Ära der „glocalization“ an, der Verbindung von lokalen und globalen Politikebenen. Um so moderner mutet es zugleich in einem politischen Mehrebenensystem wie der EU an. Aber daran, dass Preuß seiner Zeit visionär voraus war, dass er in seiner Zeit nicht gewürdigt wurde und dass auch heute die bahnbrechende Modernität seines politisch-strukturellen Denkens noch kaum erkannt wird, sind Preuß-Forscher gewöhnt.
30 Detlef Lehnert, Hugo Preuß als moderner Klassiker einer kritischen Theorie der „verfaßten“ Politik. Vom Souveränitätsproblem zum demokratischen Pluralismus, in: PVS 33 (1992), S. 33–54; Michael Dreyer, German Roots of the Theory of Pluralism, in: Constitutional Political Economy 4 (1993), S. 7–39.
FELIX ESCHER
Hugo Preuß und der steinige Weg zu einem Groß-Berlin
„Würde ihn nicht der Gang der Geschichte auf die Bühne des großen Handelns gerissen haben, so würde der Name Hugo Preuß eine ehrenvolle Auszeichnung in der Geschichte der Verwaltungswissenschaft und ein Vermerk in der Berliner Lokalhistorie geblieben sein.“1 Mit diesen Worten versuchte Theodor Heuss, im Geleitwort zu der zuerst 1926 erschienenen und dann mehrfach nachgedruckten Aufsatzsammlung „Staat, Recht und Freiheit. Aus vierzig Jahren deutscher Politik und Geschichte“, einige Hauptfelder des Wirkens von Hugo Preuß wertend zu umschreiben. Seiner Tätigkeit für die Heimatstadt Berlin gebührte nach Heuß also nur ein – immerhin ehrenvoller – Vermerk. Dieses lapidare Urteil soll hier näher untersucht werden. In dem in einer ungewöhnlichen Weise von theoretischer Durchdringung und praktischer Betätigung geprägten Leben von Hugo Preuß nimmt sein Wirken in der Selbstverwaltung der preußischen und Reichshauptstadt Berlin einen ganz besonderen Raum ein. Von 1895 bis 1918, mithin fast ein Vierteljahrhundert, hat er der Berliner Stadtverordnetenversammlung angehört. Von seiner Wahl im Herbst 1910 bis 1918 hat er als unbesoldeter Stadtrat das Dezernat für das Verkehrswesen geführt. Eine derartige lange und intensive Betätigung in den Niederungen der kommunalen Angelegenheiten scheint auf den ersten Blick eher als eine Zeitverschwendung für einen auf dem Felde der Staats- und Verwaltungslehre tätigen Gelehrten. Einen sicher wichtigen Grund nennt Heuss im bereits zitierten Geleitwort: „Manche mögen darin den Ersatz einer Resignation sehen, da ihm das Tor des Parlaments, an das er in wiederholten Kandidaturen pochte, verschlossen geblieben war....“2 Doch für Preuß – wie für Heuss als 1 Theodor Heuss, Hugo Preuß, in: Hugo Preuß, Staat, Recht und Freiheit, Tübingen 1926, S. 9 (Neudruck Hildesheim 2006). 2 Ebd.; eine Durchsicht von Protokollen der Stadtverordneten-Versammlung bestätigt, dass es außerhalb weltanschaulicher Konflikte, wie z.B. hinsichtlich der Konfessionalität des Schulwesens, des Wahlrechts und den mit Gestaltungsfragen zu einem neu zu schaffenden erweiterten Stadtraum (Groß-Berlin), dort nur wenig Chancen für Preuß gab, sich dezidiert politisch zu profilieren. Zur Groß-Berlin-Frage gehört die Regelung der Verkehrsangelegenheiten.
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Schöneberger Stadtverordneten zur gleichen Zeit – lag weitaus mehr in dieser Herausforderung, nämlich die Verbindung von Theorie und Praxis. „Seine eigentliche Aufgabe war es aber, in jenen nicht abreißenden Konflikten mit der staatlichen Aufsichtsbehörde, der damals die Weltstadtentwicklung Berlins zur grausenden Sorge wurde, der Sprecher der Grundgedanken der Selbstverwaltung zu werden“3, skizziert Heuss gleichermaßen die zu überwindende Gegnerschaft und die schließlich ihm in dem Kampf zugefallene Rolle. Preuß war keineswegs der einzige bedeutende Politiker in der Berliner Stadtverordnetenversammlung. Auch der Sozialdemokrat Paul Singer und – was für Preuß sicher noch wichtiger war – der Linksliberale Theodor Barth als sein politischer Mentor nahmen neben ihren Reichstagsmandaten das eines Berliner Stadtverordneten aktiv wahr.
1. Als Kommunalpolitiker in der Berliner Stadtverordnetenversammlung Die Bedeutung der städtischen Selbstverwaltung im Kaiserreich wird kontrovers diskutiert und im Falle der Hauptstadt Preußens, Berlin, häufig – wenn sie nicht fast gänzlich negiert wird – eher negativ gesehen. Sicher eine Extremposition ist die am Material der kaiserzeitlichen Selbstverwaltungen des Berliner Raumes entwickelte Auffassung, dass die Selbstverwaltung der Gemeinden ein reines Wunschdenken liberaler Staatstheoretiker sei. Die Kommunen wären nicht in erster Linie eigenständige politische Körperschaften, sondern müssten als verlängerter Arm der preußischen Staatsverwaltung angesehen werden. Hinsichtlich ihrer Fähigkeit, Modernisierungen voranzubringen, etwa das bis 1918 geltende Dreiklassenwahlrecht zu demokratisieren, fällt das Urteil noch härter aus. Die Politisierung der kommunalen Selbstverwaltungsorgane und die bürgerliche Machtpartizipation im Kampf gegen den Staat wären nebensächlich. Wichtiger war, dass sie sich als Verhinderer der zeitgemäßen Entwicklungen gezeigt hätten.4 Doch war es neben dem Reichstag gerade die kommunale Selbstverwaltung, in der eine politische Elite der Weimarer Zeit ihre ersten politischen Erfahrungen gesammelt hatte.5 Im Schaffen von Hugo Preuß nimmt die städtische 3 Ebd., S.10. 4 Dazu etwa Berthold Grzywatz, Stadt, Bürgertum und Staat im 19.Jahrhundert. Selbstverwaltung, Partizipation und Repräsentation in Berlin und Preußen 1806 bis 1918, Berlin 2003, S. 1085 ff. 5 Exemplarisch: Wolfgang Hofmann, Zwischen Rathaus und Reichskanzlei. Die Oberbürgermeister in der Kommunal- und Staatspolitik des Deutschen Reiches von 1890 bis 1933, Stuttgart 1974.
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Eigenorganisation, deren Wurzeln Preuß bis ins Mittelalter zurückprojizierte,6 einen kaum unterschätzbaren Rang ein. Den dezidiert kommunalen Ansatz, der weit über den seines Lehrers Gneist hinausging, haben andere Berufenere charakterisiert. Selbstverständlich hielt er die „urbane“ Organisationsform,7 der seine volle Sympathie gehörte, für reformierbar. Die Wege und Möglichkeiten erprobte er selbst in der zu seinem Laboratorium gewordenen Stadtverordnetenversammlung. Als Preuß seine Kommunalkarriere begann, war die hauptstädtische Stadtverordnetenversammlung politisch durch fünf Fraktionen geprägt. Von ihnen hatten allein die Sozialdemokraten eine gleichartige Entsprechung auf der Reichsebene. Die durch das Dreiklassenwahlrecht deutlich begünstigten Liberalen zeigten sich hier stärker zersplittert als im Reichstag: Der Kommunalfreisinn hatte sich 1892 in die Gruppierungen „Alte“ und „Neue Linke“ aufgespalten. Daneben gab es die ebenfalls liberale „Freie Fraktion“ um den Bankdirektor Mommsen. Der Mediziner Rudolf Virchow, der zuvor über Jahrzehnte dem Berliner kommunalen Liberalismus das Gesicht gegeben hatte, fand sich unter den fraktionslosen „Wilden“ wieder. 1904 spaltete sich unter der Führung von Theodor Barth die „Sozialfortschrittliche Fraktion“ von den „Neuen Linken“ ab.8 Hugo Preuß gehörte ebenfalls dieser Gruppierung an. Außer der letztgenannten, entschieden linksliberalen bis sozialliberalen Fraktion waren die programmatischen Unterschiede zwischen den anderen liberalen Gruppierungen gering und selbst für Eingeweihte kaum bemerkbar9. Den Fraktionsstatus hatten die Antisemiten, die zunächst noch zwei, aber bald nach der Jahrhundertwende keine Vertreter mehr in der 6 Vgl. Hugo Preuß, Die Entwicklung des deutschen Städtewesens, Leipzig 1906; zum Ansatz: Detlef Lehnert/Christoph Müller (Hg.), Vom Untertanenverband zur Bürgergenossenschaft. Symposion zum 75. Todestag von Hugo Preuß am 9. Oktober 2000, Baden-Baden 2003. 7 Siegfried Grassmann, Hugo Preuß und die deutsche Selbstverwaltung, Lübeck 1965, S. 34, s. auch Gustav Schmidt, Hugo Preuß, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. VII, Göttingen 1980, S. 55–68. 8 Zu den politischen Gruppierungen in der Berliner Stadtverordnetenversammlung: Ursula Reuter, Paul Singer (1844–1911). Eine politische Biographie, 2. Aufl. Düsseldorf 2006, S. 507–511. 9 Distanziert dazu der Oberbürgermeister ab 1912: „Es kann nicht an dem Mangel parlamentarischer Schulung gelegen haben, wenn ich bis zum Ende zu unterscheiden außerstande war, welche sachlichen Gegensätze die beiden großen bürgerlichen Fraktionen unter der Führung Cassels und Mommsens voneinander trennten. Beide trugen die Aufschrift des Freisinns…“; zitiert nach Adolf Wermuth, Ein Beamtenleben, Berlin 1922, S. 331.
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Stadtverordnetenversammlung besaßen und so in der Kommunalpolitik Berlins gänzlich bedeutungslos wurden, verloren. Einen jüdischen Hintergrund wie Preuß hatten nicht wenige andere führende Kommunalpolitiker; zeitweilig gehörten vier der fünf Fraktionsvorsitzenden, darunter jener der „Alten Linken“, Oskar Cassel, ebenso wie der Sozialdemokrat Paul Singer dazu. Die Zahl der jüdischen Stadtverordneten in Berlin erreichte für das letzte Vierteljahrhundert die stattliche Zahl von über 100.10 Preuß wurde im vornehmen Stadtviertel Südlicher Tiergarten von der ersten Klasse zur Stadtverordnetenversammlung aufgestellt und gewählt. Man kann davon ausgehen, dass die durch das ungleiche Wahlrecht über ein erhebliches Stimmpotential verfügenden Wähler in Hugo Preuß keinen Vertreter der eigenen Interessen, sondern einen profilierten Reformer der kommunalen Verhältnisse als ihren Stadtverordneten wünschten.11 Die Überwindung des von ihm als unzeitgemäß angesehenen Dreiklassenwahlrechts zugunsten eines gleichen und geheimen Wahlrechts gehörte zu seinem Programm. Freilich erschien ihm die von sozialdemokratischer Seite geforderte vollständige Übernahme des Reichstagswahlrechts hinsichtlich eines gewünschten Mindestzeitraums des Aufenthalts in der Gemeinde noch als zu weitgehend.12
2. Strukturprobleme der expandierenden Millionenstadt Berlin Die Stadt Berlin wuchs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die Reihe der europäischen Metropolen hinein. Anfang der 1860er Jahre war es
10 Ernest Hamburger, Juden im öffentlichen Leben Deutschlands. Regierungsmitglieder, Beamte und Parlamentarier in der monarchischen Zeit 1948–1918, Tübingen 1968, S. 549; U. Reuter, Singer (wie Anm. 9), S. 528 f. 11 Lothar Albertin, Einleitung in: Lothar Albertin/Christoph Müller (Hg.), Hugo Preuß, Gesammelte Schriften, Bd. 1: Politik und Gesellschaft im Kaiserreich, Tübingen 2007, S. 1. Vielleicht hatte Hellmut von Gerlach an die Nominierung von Preuß gedacht, als Gerlach 1909 sarkastisch zu der Frage: Wie wird man am besten Berliner Stadtverordneter? über die Zusammenhänge von Hausbesitz, Vereinsmitgliedschaft und Logenzugehörigkeit im Dreiklassenwahlrecht schrieb: „Nur hier und da führt gerade in der ersten Abteilung die Übergröße des Geldbeutels zur Emanzipation vom Klüngel. Wer reich ist, hält es manchmal für eine Anstandspflicht, dem sozialen Gedanken Konzessionen zu machen“; zitiert nach Reuter, Singer (wie Anm. 9), S. 508 f. 12 Rede Preuß in der Sitzung vom 13. Dezember 1908, Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordneten-Versammlung der Haupt- und Residenzstadt Berlin, S. 472 f.
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zu einer letzten großen Eingemeindung gekommen.13 Doch bereits der zeitgleich im Auftrag des Berliner Polizeipräsidenten durch den Tiefbaufachmann James Hobrecht entworfene Bebauungsplan, der die Fluchtlinien zukünftiger innerstädtischer Bebauung festlegte, griff über das damalige Stadtgebiet in die selbständigen Gemeinden Charlottenburg, (Deutsch-)Wilmersdorf, Schöneberg und Rixdorf hinaus. Von der um 1875 angestrebten Bildung einer Provinz Berlin wurde nur eine – unvollständige – Loslösung der städtischen Administration von der Provinz Brandenburg erreicht.14 Das Problem der verwaltungsmäßigen Neugliederung des um die Kernstadt Berlin herum verstädterten Raumes – auch heute würden wir von einer „modernen großstädtischen Agglomeration“ sprechen15 – erhielt um 1890 eine neue Qualität. Das Bevölkerungswachstum der damals bereits fast 2 Millionen Einwohner beherbergenden Kernstadt nahm stark zugunsten der Vororte ab. 1893 hatte die Zuwachsrate der Vororte die Berlins übertroffen. In dem nach heftigen Kämpfen 1891 eingeführten Vororttarif wurden als äußerer Rand der hauptstädtischen Siedlungsentwicklung die Städte und stadtartigen Siedlungen Oranienburg, Bernau, Werneuchen, Alt-Landsberg, Strausberg, Erkner, Königs Wusterhausen, Zossen, Trebbin, Werder und Nauen festgelegt. Innerhalb dieses Bereiches konnten drei Landkreise und jede Gemeinde einzeln – oft in Konkurrenz zum Nachbarn – über eigene Straßenanlagen nebst Fluchtlinien- und Bebauungspläne, Schulen und andere Infrastruktureinrichtungen zur Daseinsvorsorge, z. B. Krankenhäuser und Anlagen zur Be- und Entwässerung, Beleuchtung, Erhaltung und Anlage von Freiflächen entscheiden. Die planlose Zersiedlung eines großen Gebietes um die Stadt hatte begonnen.16 Die Steuerkraft sowie die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung der Einzelgemeinden unterschieden sich immer stärker voneinander. Vor allem im Westen und Südwesten, Grunewald, Charlottenburg, Wilmersdorf, Schöneberg, Friedenau, aber auch Pankow und Weißensee ließen sich gut 13 Vgl. dazu Ernst Kaeber, Das Weichbild der Stadt Berlin seit der Steinschen Städteordnung (1927/1937), Wiederabdruck in: Werner Vogel (Hg.), Ernst Kaeber, Beiträge zur Berliner Geschichte. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1964, S. 234–376, hier S. 271–273. 14 Wolfgang Hofmann, Wachsen Berlins im Industriezeitalter. Siedlungsstruktur und Verwaltungsgrenzen, in: Helmut Jäger (Hg.), Probleme des Städtewesens im industriellen Zeitalter, Köln 1978, S. 159–177; Felix Escher, Provinz Brandenburg und Berlin, in: Gerd Heinrich u.a. (Hg.), Verwaltungsgeschichte Ostdeutschlands 1815–1945, Stuttgart 1992, S. 737–756, S. 740 f. 15 So Preuß, Entwicklung (wie Anm. 6), S. 379. 16 Felix Escher, Berlin und sein Umland. Zur Genese der Berliner Stadtlandschaft bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 1985, S. 245 ff., dort weitere Literatur.
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situierte Bürger nieder. Die Gemeindesteuern flossen dort auch dann reichlich, wenn die zumeist an die Höhe der Staatssteuern gekoppelten Zuschläge für die Steuerpflichtigen niedrig waren. Ein Hauptgrund war, dass diese Gemeinden auf Grund ihrer Sozialstruktur geringe Armen- und Schullasten tragen mussten. Völlig anders war die Situation in den Arbeitervororten des Nordens (Reinickendorf), Ostens (Lichtenberg) und Südostens (Oberund Niederschöneweide, Rixdorf, Britz). Zu hohen Schullasten wegen der zahlreichen Kinder kamen Aufwendungen wegen saisonaler und konjunktureller Arbeitslosigkeit, damals als Armenlast gewertet. Den wegen der Einkommenssituation ohnehin geringeren Einnahmen aus den Kommunalsteuern musste mit höheren Zuschlägen auf die Staatsteuer begegnet werden. Dies aber schreckte die Besserverdienenden von einem Zuzug in diese Gemeinden ab. Eine Spirale nach oben und unten war entstanden, die das Auseinanderdriften der einzelnen Vororte hinsichtlich ihrer sozialen Zusammensetzung beschleunigte.17 Die Verbindung der Agglomeration zu einem großen Kommunalkörper hätte diese Entwicklung aufhalten können. Eine Eingemeindung der verstädterten Gebiete innerhalb der Ringbahn, die Anfang der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts von der preußischen Staatsregierung unter der Leitung des Innenministers Ernst Ludwig Herrfurth, dem Schöpfer der preußischen Landgemeindeordnung von 1892, gefordert wurde, erhielt zwar in der Stadtverordnetenversammlung eine sehr knappe Mehrheit. Doch wurde die von dem liberalen Oberbürgermeister Max von Forckenbeck unterstützte Vorlage von seinem Nachfolger im Amt ab 1892, Robert Zelle, ebenfalls einem Mann des Kommunalfreisinns, dilatorisch behandelt. Wichtigster Grund des kommunalen Widerstandes gegen die Eingemeindung waren die Ängste der liberalen Administration und Legislative vor unvorhersehbaren Ausgaben in den Arbeitervororten. Auch der Führer der Alten Linken, Oskar Cassel, war nicht gewillt gewesen, bei den Eingemeindungen „in faule Äpfel zu beißen“.18 Mit dem Sturz Herrfurths änderte sich zugleich die Ausrichtung der preußischen Staatsregierung in der Eingemeindungsfrage. Eine weitere Stärkung der liberalen Hochburg Berlin war nun nicht mehr vorgesehen. Die Kernstadt 17 Vgl. Felix Escher, Die Festsetzung des Kommunalzuschlags der Staatseinkommensteuer und des Gewerbesteuersatzes in der Kaiserzeit. Regionale und strukturelle Unterschiede in der Provinz Brandenburg, in: Klaus Neitmann (Hg.), Das brandenburgische Städtewesen im Übergang zur Moderne. Stadtbürgertum, kommunale Selbstverwaltung und Standortfaktoren vom preußischen Absolutismus bis zur Weimarer Republik, Berlin 2001, S. 247–254. 18 Sitzung 7. Feb. 1895, Stenographische Berichte (wie Anm. 12) , S. 58, dazu Hans Nowack, Das Werden von Groß-Berlin (1890–1920), Diss. FU Berlin 1953, S. 44.
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sollte vielmehr durch einen „Kranz blühender Vororte“ gleichsam „in Schach gehalten“ werden. Schöneberg erhielt 1898 und Rixdorf 1899 Stadtrechte, später trat noch Lichtenberg dazu.19 Die beiden neuen Städte im Südwesten und Süden der Agglomeration erhielten 1899 zusätzlich den Rang der Kreisfreiheit. Wie die Staatsregierung änderte nun auch der Magistrat unter dem ab 1898 amtierenden neuen Oberbürgermeister Martin Kirschner seine Meinung zur Eingemeindungsfrage. Kirschner bedauerte, dass die von der Staatsregierung vor seinem Amtsantritt im Jahre 1898 gebotene Chance zu Eingemeindungsverhandlungen nicht ergriffen worden war; doch war er aus taktischen Gründen nicht bereit, einen klaren Kurs auf diesem Gebiet zu fahren.20 Nun aber blieb jeder Eingemeindungsversuch z.B. von Treptow, einem Ort, in dem die Kämmereiverwaltung Berlins seit Jahrhunderten über erheblichen Grundbesitz verfügte, vergeblich.
3. Preuß als politischer Impulsgeber auf dem Weg zu einem Groß-Berlin Bis auf die Sozialfortschrittliche Fraktion und die Sozialdemokraten hatten sich die anderen Gruppierungen der Stadtverordnetenversammlung von dem Gedanken eines größeren Stadtgebietes verabschiedet, und auch die Sozialdemokraten unternahmen keine weiteren Schritte, um dem Ziel näher zu kommen. Es war der Stadtverordnete Hugo Preuß, der seit seiner Wahl 1895 ein Verfechter der Eingemeindung war und den Gedanken auch weiterhin am Leben halten wollte. Selbstverständlich war ihm bewusst, dass die Staatsregierung einer großen administrativen Lösung keinesfalls zustimmen würde. So stellte er am 24. September 1903 in der Berliner Stadtverordnetenversammlung den Antrag, „den Magistrat zu ersuchen, mit den benachbarten Stadt- und Landgemeinden in Verbindung zu treten, um gemeinsame Einrichtungen für die Wahrnehmung und den Ausgleich kommunaler Interessen dieses Verwaltungsbezirks vorzubereiten“.21 Der Antrag gilt als der Beginn der 19 Kaeber, Weichbild (wie Anm. 13), S. 335. 20 Kennzeichnend dafür: Bericht des Oberbürgermeisters Kirschner an den Minister des Innern vom 3. September 1906, Berlin 1906; dazu: Kaeber, Weichbild (wie Anm. 13), S. 341 f.; Daniel S. Mattern, Martin Kirschner, in: Wolfgang Ribbe (Hg.), Stadtoberhäupter. Biographien Berliner Bürgermeister im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1992, S. 157–166, hier S. 161. 21 Vorlagen für die Stadtverordneten-Versammlung zu Berlin 1903, Nr. 747. Dazu: Vorlagen für die Stadtverordneten-Versammlung zu Berlin 1904, Nr. 360: Protokolle des Ausschusses zur Vorbereitung des Antrages des Stadtverordneten Preuß und Genos-
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Entwicklung zum Zweckverband Groß-Berlin von 1911/1222 und schließlich der Einheitsgemeinde Berlin von 1920, wie sie heute noch fast im gleichen Umfang und trotz geänderter innerstädtischer Bezirksgrenzen in ihren grundsätzlichen Strukturen fortbesteht. Für den 1904 zur Beratung der Vorlage gebildeten Ausschuss stellte sich die Sachlage ganz anders dar: Der zum Vorsitzenden des Ausschusses gewählte Stadtverordnete Wallach betonte spitz in der ersten Sitzung, dass der Antrag kein Novum sei. Derartiges sei bereits zweimal vorgekommen, zwar nicht der Form, aber dem Inhalt nach. Zum einen hatte der Stadtverordnete Langerhans bereits im Oktober 1891 einen Antrag gestellt, die damals bestehende besondere Deputation für Eingemeindungsfragen „möge sich dahin erklären, daß von einer eigentlichen Inkommunalisierung der Vororte abzusehen sei, dass es dagegen wünschenswert erscheine, die Vororte mit der Stadt Berlin für die Erfüllung näher bestimmter kommunalen Zwecke nach Analogie der neuen Landgemeindeordnung zugelassene Zweckverbände zu vereinigen“. 1892 wurde dieser Antrag mit großer Mehrheit abgelehnt. Das gleiche Schicksal erlitt der zweite Antrag, der im Oktober 1894 eingebracht worden war. Er sah die Zurückweisung der in der Stadtverordnetenversammlung diskutierten Eingemeindung in erweitertem Umfang vor und ersucht die Vorortgemeinden, mit den Staatsbehörden in Verbindung zu treten „behufs Schaffung eines größeren Kommunalverbandes Berlin mit den umliegenden Gemeinden, bei welcher die Selbständigkeit der einzelnen Gemeinden möglichst aufrecht erhalten wird“. Beide Anträge waren seinerzeit – wie aus dem Gesagten zu erkennen ist – zur Verhinderung der von der Staatsseite gewünschten Eingemeindung gestellt worden. Deshalb war, und dies vergaß der an den damaligen Anträgen nicht ganz unschuldige Vorsitzende nicht zu erwähnen, der letztgenannte Antrag von dem jetzigen Antragsteller abgelehnt worden.23 Der so angesprochene Hugo Preuß präzisierte darauf seine Auffassung und führte aus, „dass er auch heute noch [1904] nach wie vor auf dem Standpunkte stehe, dass das einzig Richtige die Eingemeindung und zwar die Eingemeindung im größeren Stiele [!]...“ sei.24 Preuß hatte seine Position von 1895 nicht geändert; lediglich die Einsicht, dass eine Eingemeindung in absehbarer Zeit keine Aussicht auf Verwirklichung hätte, habe ihn dazu gebracht, den Umweg über einen Zweckverband zu wählen. Auf der anderen sen, den Magistrat zu ersuchen, mit den benachbarten Stadt- und Landgemeinden in Verbindung zu treten, um gemeinsame Einrichtungen für die Wahrnehmung und den Ausgleich kommunaler Interessen dieses Verwaltungsbezirks vorzubereiten (Nr. 747). 22 Nowack, Werden (wie Anm. 18), S. 105. 23 Vorlagen für die Stadtverordneten-Versammlung zu Berlin 1904, Nr. 360 (wie Anm. 21). 24 Ebd.
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Seite wären aber die Unzuträglichkeiten und die schweren Missstände der kommunalen Zersplitterung im Gemeindegebiet Berlin so klar, dass dies eine besondere, für die Bevölkerung schwere Belastung zur Folge hätte. Der neue Antrag wurde – wie vom Ausschuss und persönlich von Oberbürgermeister Kirschner gewünscht – von Preuß überarbeitet und lag in neuer Form am 12. April 1904 vor.25 Darin war nun die Bildung eines Ausschusses vorgesehen, der von Mitgliedern aller beteiligten Gemeindevertretungen und Gemeindevorstände besetzt werden sollte. Folgende Aufgabengebiete sollten wahrgenommen werden: Gutachter des Ausschusses sollten bei kommunalen Streitigkeiten, Verhandlungen mit Reichs-, Staats- und Provinzialbehörden, wenn mehr als eine Gemeinde betroffen wäre und bei allen Verträgen, wenn mehr als eine Gemeinde betroffen wäre, tätig werden. Ferner sollte der Ausschuss befugt sein, den beteiligten Gemeinden gutachterliche Vorschläge zu erteilen: a) zum Verkehrswesen; b) über gemeinsame Einrichtungen im Steuer- und Armenwesen, Krankenhäusern und im Schulwesen; c) über gemeinsame Grundsätze des Bebauungsplanes; d) über die Organisation von Groß-Berlin. Die von den kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften beschickte Verbandsversammlung als Leitungsorgan war hier ebenso wie die Bündelung wichtiger Aufgaben angelegt. Doch Oberbürgermeister Kirschner ging nun eine derartige Konstruktion, in der er eine versteckte Eingemeindung erkannte, zu weit. Der Antrag Preuß wurde abgelehnt. Trotz dieses Rückschlages blieb Preuß diesem Thema treu. Als das preußische Kriegsministerium ab 1905 einen Teil des nun nicht mehr für militärische Zwecke genutzten Tempelhofer Feldes verkaufen wollte, war die Stadt Berlin am Ankauf interessiert; doch wurden die Kaufverhandlungen nicht mit Berlin, sondern der Gemeinde Tempelhof, die zu einer derartigen Transaktion weder finanziell noch personell in der Lage war, geführt. Dies einte in Berlin vorher so zerstrittene Fraktionen. Hugo Preuß hatte in einer Rede den Stadtverordneten den Ernst der Lage drastisch vor Augen geführt: „Begreifen wir doch endlich meine Herren, es handelt sich um einen Kriegszustand. Wenn man das einmal voll erfasst hat, dann wird man schließlich der Staatsregierung ihre Haltung in der ganzen Frage Groß-Berlin, in der Eingemeindungsfrage und manch
25 Vorlagen für die Stadtverordneten-Versammlung zu Berlin 1904, Nr. 36a, nicht im Exemplar des Landesarchivs Berlin vorhanden.
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anderen nicht allzu sehr verargen. Á la guerre comme á la guerre.“26 Heuss, der die damalige Situation aus der eigenen Erfahrung eines Stadtverordneten der selbständigen Großstadt Schöneberg kannte, hatte in seinem oben zitierten Geleitwort nicht ohne Bedacht den eher mit Krieg als mit Verwaltungshandeln zu assoziierenden Begriff „Grausen“ verwandt.27
4. Die Zwischenlösung des Zweckverbandes 1911/12 – Erfolge und Grenzen Die harte Haltung des Preußischen Staates in der Eingemeindungsfrage sorgte allerdings auch zur Verhärtung auf der anderen Seite. Sogar Cassel bekannte sich nun (ab 1905) zum Zweckverband.28 Eine Lösung nach dem Vorbild der Grafschaft London schwebte ihm vor. Eine Steuervereinheitlichung aber führe nach den Worten des Fraktionsführers der „Alten Linken“ letztlich „zum Kommunismus“.29 Für die Sozialdemokraten schien ebenfalls die Verbandsvariante geeignet zu sein, so lange das Groß-Berlin Problem nicht anders zu lösen war.30 Neben dem Verkehrswesen sollten nach ihrer Auffassung die Schul-, Armen- und Krankenlasten durch den Verband geregelt werden. Die Vereinheitlichung durch kommunalen Zusammenschluss blieb für Preuß stets die beste Lösung, wenn er auch Zwischenschritte akzeptierte, wie er es z.B. bei der Debatte über die Tunnelprojekte der Großen Berliner Straßenbahn-Gesellschaft 1905 kund tat: „Zur Einheit drängt die Entwicklung nicht nur in Bezug auf die Vereinigung aller öffentlichen Verkehrsmittel, auch die große wirtschaftliche und soziale Einheit Berlins drängt unabweisbar zur Konzentration. ... Wie groß auch die Schwierigkeiten sein mögen, sie müssen überwunden werden; Berlin muß zu einer festen Verständigung mit den Vororten über die Ordnung des gesamten Verkehrs kommen.“31 26 Dazu Nowack, Werden (wie Anm. 18), S. 99. Preuß verfasste 1910 zwei Aufsätze zu dem Thema: „Der Tempelhofer Feldzug“ und „Die wahre Bedeutung des Tempelhofer Streites.“ Die darin enthaltenen Analysen hat Werner Hegemann ebenfalls im „Steinernen Berlin“ verarbeitet. 27 Siehe oben Anm. 1. 28 Nowack, Werden (wie Anm. 18), S. 169. 29 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislatur-Periode II. Session 1908/09, Sp. 3250; Nowack, Werden (wie Anm. 18), S. 124. 30 Nowack, Werden (wie Anm. 18), S. 112. 31 Sitzung vom 26. Okt. 1905, Stenographische Berichte (wie Anm. 12), S. 373; 1905 stritt die Stadt Berlin mit der Monopolgesellschaft „Große Berliner Straßenbahn-Ge-
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So war der Zweckverband für Preuß stets nur die zweitbeste Lösung – annehmbar, wenn die bessere nicht erreichbar schien. Der Gesetzentwurf, für den Preuß die Grundlagen geschaffen hatte, wurde schließlich im preußischen Innenministerium ausgearbeitet. Als „Zweckverbandsgesetz für GroßBerlin“ vom 19. Juli 1911 trat es am 1. April 1912 in Kraft. In dem Verband wurden die kreisfreien Städte Berlin, Charlottenburg, Deutsch-Wilmersdorf, Lichtenberg, Neukölln, Schöneberg und Spandau sowie die Landkreise Niederbarnim und Teltow mit zusammen 4,2 Millionen Einwohnern auf rund 3500 Quadratkilometern Fläche vereint. Der neue Verband blieb allerdings jetzt nur noch auf drei Aufgaben beschränkt: 1. Regelung des Verhältnisses zu öffentlichen Staatseisenbahnen; 2. Beteiligung an der Feststellung der Fluchtlinien und Bebauungspläne für das Verbandsgebiet und Mitwirkung an dem Erlasse von Baupolizeiverordnungen; 3. Erwerbung und Erhaltung größerer von der Bebauung freizuhaltender Flächen (Wälder, Parks, Wiesen, Seen, Schmuck-, Spiel-, Sportplätze usw.). Der Zweckverband verfügte über eigene Organe, jedoch nicht über entsprechende Dotationen und administrative Kompetenzen. Um die Kernstadt Berlin nicht weiter zu stärken, war in den Verbandsorganen, besonders der Verbandsversammlung, stets eine Mehrheit außerhalb Berlins gesichert.32 Ein großer Erfolg des Verbandes, zu dem allein 16 Straßenbahnverwaltungen gehörten, war die 1918 erreichte Vereinheitlichung der Tarife.33 Preuß selbst war im Herbst 1910 von einer aus Sozialdemokraten und entschiedenen Linksliberalen bestehenden Stadtverordnetenmehrheit zum unbesoldeten Stadtrat für Verkehrswesen gewählt worden und wechselte so in ein Schlüsselressort, das enge Verbindung zum Zweckverband halten musste. Oberbürgermeister Kirschner als gewiegter Taktiker hatte so den jetzt von vielen Seiten anerkannten Stadtverordneten für sehr weit – und Kirschner manchmal zu weit – gehende Reformen von der Legislative auf die Seite der Exekutive gezogen. Die Einrichtung der unbesoldeten Stadträte hatte Preuß als notwendig angesehen. Er sah in ihnen ein Gegenstück zu der wachsenden Macht der aus Fachleuten zusammengesetzten Magistratsbürokratie.34 Nach sellschaft“: Hugo Preuß, Die Stadt Berlin und die Straßenbahn (1905), zum Engagement von Preuß: Walter Schneider, Der städtische Berliner öffentliche Nahverkehr (Typoskript), 12 Bde., (Berlin 1978), Bd. 6, S. 57. 32 Escher, Berlin (wie Anm. 16), S. 318 ff. 33 Verband Groß Berlin: Verwaltungsbericht für die Zeit des Bestehens des Verbandes vom 1. April 1912 bis 30. September 1920, Berlin 1921. 34 Grassmann, Hugo Preuß (wie Anm. 7), S. 45 f.
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1918 erkannte er aber dieses Ehrenamt durch die sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen als nicht mehr zeitgemäß an.35 Als Schwerpunkt der ihm in der neuen Funktion gestellten Aufgabe erkannte Preuß die Beseitigung der sich in dieser Zeit entwickelten Disparitäten. In einem Referat zur kommunalen Sozialpolitik wies er auf die ungeheure Zusammenballung der Wohnbevölkerung des damals kleinen Stadtraumes Berlin hin. Es waren 2,1 Millionen auf 6000 ha. Damit wäre, so postulierte er, Berlin die „kleinste Millionenstadt der Welt“, eine Stadt, in der die Menschen in der ungesunden Wohnform der „Mietskaserne“ zusammengepfercht wären.36 Die Verkehrspolitik, sein Ressort, hätte die Aufgabe der Aufschließung der Räume um die Stadt zur Besiedlung, um diesen Missstand zu beenden: „Eine kommunale Bodenpolitik, Wohnungspolitik, Ansiedlungspolitik ist durchaus bedingt von der Gestaltung des kommunalen Verkehrswesens, von der Möglichkeit kommunaler Verkehrspolitik, von dem Vorhandensein einer sozialpolitisch durchdachten und geleiteten Organisation, eines Netzes von ineinandergreifenden Verkehrsmitteln, Vorortbahnen, unterirdischen und oberirdischen Schnellbahnen, Straßenbahnen usw. Nur wenn sie die Leitung einer solchen Organisation in der Hand hat, gewinnt die Kommunalverwaltung auch den Einfluß, der gerade für die Gestaltung der modernen Großstadt unentbehrlich ist, den entscheidenden Einfluss auf die räumliche Gruppierung der Klassen; die räumliche Gruppierung der Industrie im Zusammenhang mit den Einrichtungen für den Güter- und Fernverkehr, die Niederlassungen des Handels, der freien Berufe mit all den gar nicht hoch genug zu bewertenden Folgen für das kommunale Steuerwesen, Schulwesen, Armenwesen usw.“37
Der Publizist Werner Hegemann, der an dieser Vortragsreihe mit einem Referat „Die Entwicklung des städtebaulichen Gedankens in Groß-Berlin seit 1848“ ebenfalls beteiligt war,38 sollte dies zu einer Kernaussage seines wohl bedeutendsten Werkes „Das steinerne Berlin. Geschichte der größten Mietskasernenstadt der Welt“39 machen. Der Autor setzte dem Buch eine zweisei-
35 Ebd., S. 48. 36 Hugo Preuß, Sozialpolitik im Berliner Verkehr, in: Fragen der kommunalen Sozialpolitik in Groß-Berlin. Fünf Vorträge, H. I u. II, Jena 1911 u. 1912, H. I, S. 1–26, hier S. 14. 37 Ebd., S. 15. 38 Fragen der kommunalen Sozialpolitik (wie Anm. 36), H. II, S. 98–124. 39 Werner Hegemann, Das steinerne Berlin. Geschichte der größten Mietskasernenstadt der Welt (1930), 2. unveränderte (Neu-)Auflage Braunschweig 1972.
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tige Widmung an Hugo Preuß voran, in der er bekannte, wie wesentlich er durch Preuß beeinflusst war.40 Die Kommunalisierung der Verkehrsträger wie auch der Versorgungsunternehmen wurde unter der Leitung des unbesoldeten Stadtrats Preuß vorangebracht, der dies bereits vor der Bildung des Zweckverbandes als kommunale Aufgabe gesehen hatte und hier mit den jetzt zuständigen Organen des Zweckverbandes zusammenarbeitete.41
5. Ausblick: Vollendung des Projekts Groß-Berlin unter Oberbürgermeister Wermuth Enger noch als mit Kirschner gestaltete sich die Zusammenarbeit mit dessen Nachfolger ab 1912, Adolf Wermuth, der sozialpolitisch engagierter als seine liberalen Vorgänger war.42 Preuß gelangte nun in den engsten Führungszirkel der Reichshauptstadt. Gemeinsam mit Preuß und Bürgermeister Reicke suchte der Oberbürgermeister die zukünftige Organisation Berlins zu gestalten. Der Erste Weltkrieg machte weitere neue Organisationen, etwa die Groß-Berliner Brotkartengemeinschaft notwendig. Der Ruf nach einer kommunalen Neuordnung wurde lauter, doch die rechtliche Gestalt der Riesenstadt blieb noch unklar. Ein wesentlicher Punkt war das Verhältnis der Kernstadt zu den neu einzugemeindenden Bereichen. In seinen Memoiren bekannte der damalige Oberbürgermeister: „Stadtrat Preuß ist es gewesen, der den Berliner Gedanken zum Aufbau der neuen Großstadt die Form gab. Unser Vorschlag ging dahin, daß ganz Groß-Berlin ohne das bisherige Zwischenglied der Einzelgemeinden sich seine Vertretung wähle, aus der wiederum der Magistrat für Gesamt-Berlin hervorgehen sollte. Jetzt erscheint dieser Grundriß einfach und selbstverständlich. Im ersten Abschnitt des Kampfes galt er als umstürzlerisch.“43 Das 40 Ebd. S. 7 f.; die Widmung gilt „Dem Andenken von Hugo Preuß“. Die von Preuß zitierten Gedanken erscheinen bei Hegemann im „Steinernen Berlin“ im Kapitel „Verkehrsanlagen in London, New York, Paris und die fehlende Schnellbahn-Milliarde Berlins.“ Zu Preuß als Vorbild und Vordenker für Hegemann siehe Caroline Flick, Werner Hegemann (1881–1936). Stadtplanung, Architektur, Politik. Ein Arbeitsleben in Europa und den USA, 2 Teile, München 2005, Teil I, S. 337 ff. 41 Schneider, Der städtische Nahverkehr (wie Anm. 31), S. 57. 42 Zu Wermuth: Andreas Splanemann, Adolf Wermuth, in: Stadtoberhäupter (wie Anm. 20), S.166–183, eine umfassende Biographie dieser für den Ausgang der wilhelminischen Zeit in Berlin wichtigen Persönlichkeit steht noch aus. Zum (noch nicht veränderten) Forschungsstand: Ebd., S. 166. 43 Wermuth, Beamtenleben (wie Anm. 9), S. 386.
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Konzept der Einheitsgemeinde Berlin war geboren. Der Umsturz von 1918 beendete endgültig den Widerstand der Staatsbürokratie. Der die von Preuß entwickelten Gedanken als Grundlage einbeziehende Gesetzentwurf wurde dann im preußischen Innenministerium ausgearbeitet und trat 1920 in Kraft. Die Idee der Einheitsgemeinde ist bis heute eine Verfassungsgrundlage der zu einem Bundesland gewordenen Stadt Berlin. Theodor Heuss hatte sich 1926 bei allem Wohlwollen für seinen zeitweiligen Weggefährten geirrt. Preuß gebührt in der neueren Geschichte Berlins mehr als nur ein Vermerk.
FABIAN WITTRECK
Verfassunggebende Landesversammlung und Preußische Verfassung von 1920*
Hugo Preuß wird gern als „Vater der Weimarer Reichsverfassung“ apostrophiert1 – bildmächtig zuletzt auf den Plakaten zur Festveranstaltung aus Anlass seines 150. Geburtstages2. Zum Schluss des ersten Tages des sich anschließenden Symposiums zu seinen Ehren soll daran erinnert werden, dass er auch die erste demokratische Preußische Verfassung mit aus der Taufe gehoben hat. Ihn als Vater dieses gesamten Verfassungswerks zu bezeichnen, wäre nun allerdings verfehlt. Gleicht man aber Preuß’ mit sichtlicher Wonne vorgetragene Kritik am ersten Entwurf der Verfassung aus dem Innenministerium mit dem Endergebnis nach der dritten Lesung ab, so wird deutlich, dass er für zentrale Weichenstellungen der Verfassung genau die „zärtliche[n] Vatergefühle“ hegen darf, die er dem Innenminister für den Entwurf aus dessen Hause noch unter „Heiterkeit“ absprechen konnte3. Das soll im Folgenden in drei Schritten erläutert werden. Der erste gilt der Verfassunggebenden Landesversammlung wie der Rolle, die Hugo Preuß in ihren Beratungen gespielt hat (1.). Der zweite rückt das Verfassungswerk selbst in das Zentrum, das – wie alle Landesverfassungen der Zwischenkriegszeit – * Überarbeitete und mit Anmerkungen versehene Fassung des Vortrags auf dem Symposium der Hugo-Preuß-Stiftung am 29. und 30. Oktober 2010 in Berlin. Den Teilnehmern der Veranstaltung schulde ich Dank für zahlreiche Hinweise und Anregungen, die in die vorliegende Endfassung eingegangen sind. 1 Zu solchen Stimmen, die erstmals nach dem Tode des so Geehrten auftauchen, statt aller D. Lehnert, Einleitung, in: ders. (Hg.), Hugo Preuß, Politik und Verfassung in der Weimarer Republik (Gesammelte Schriften, Bd. 4), 2008, S. 1 (1). – Zu Hugo Preuß vgl. zuletzt K. Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, 2010, S. 19 ff. (treffend überschrieben mit „Ein Grenzgänger und Außenseiter“), 203 ff., 257 ff., 304 ff., 479 ff. (jeweils m.w.N.) sowie J. Kersten, JZ 2010, 1062 f. 2 Siehe den Festvortrag: A. Voßkuhle, Hugo Preuß als Vordenker einer Verfassungstheorie des Pluralismus, in: J. Kocka/G. Stock (Hg.), Hugo Preuß: Vordenker der Pluralismustheorie. Vorträge und Diskussion zum 150. Geburtstag des „Vaters der Weimarer Reichsverfassung“, 2011, S. 23–42. 3 Sitzungsberichte der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung, Tagung 1921, Bd. 9, 1921, Sp. 11110; auch in: Lehnert, Politik und Verfassung (Fn. 1), S. 119 (119).
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in der heutigen öffentlichen Wahrnehmung am äußersten Rande angesiedelt ist (2.). Am Ende steht die Frage, ob und in welchem Umfang die Verfassung von 1920 für die demokratische Stabilität verantwortlich zeichnet, die Preußen länger als andere Gliedstaaten und das Reich bewahren konnte (3.). Hugo Preuß – soviel vorweg – hat sich hierzu nachgerade prophetisch (und skeptisch) geäußert.
1. „Ich möchte Preußen lieber morgen als heute abschaffen“4: Hugo Preuß und die Verfassunggebende Landesversammlung Die Verfassunggebende Preußische Landesversammlung konstituiert sich am 13. März 1919 in Berlin5 und beginnt sogleich mit der Beratung eines Gesetzes zur vorläufigen Ordnung der Staatsgewalt in Preußen, das eine Woche später in Kraft tritt6. Dem rasanten Auftakt folgt ein Hiat, der dafür sorgt, dass die endgültige Preußische Verfassung erst am 30. Dezember 1920 geltendes Recht wird – sie bildet damit übrigens keineswegs das Schlusslicht der Landesverfassunggebung nach der Revolution. Die rote Laterne trägt Schaumburg-Lippe (Februar 1922)7, dicht gefolgt von Braunschweig (Januar 1922); auch Hamburg (Januar 1921), Lippe (Dezember 1920), Lübeck (Mai 1920), Mecklenburg-Schwerin (Mai 1920) und Thüringen (März 1921) erweisen sich als Spätentwickler. 4 H. Preuß, in: Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 13379 (Hervorhebung i.O., F.W.). 5 Vgl. H. Preuß, JöR 10 (1921), 222 (223; neben dem 13. März begegnet in der Literatur auch der 5. März, was darauf zurückzuführen sein dürfte, dass die Versammlung zunächst zu diesem Termin einberufen worden war). – Allgemein zur Verfassunggebung in Preußen L. Waldecker, Die Verfassung des Freistaates Preußen, 1921, S. 9 ff.; A. Arndt, Die Verfassung des Freistaats Preußen, 1921, S. 36 ff.; F. Stier-Somlo, Kommentar zur Verfassung des Freistaats Preußen, 1921, S. 9 ff.; ders., Das Preußische Verfassungsrecht, 1922, S. 30 ff.; R. Huber, Die Verfassung des Freistaats Preußen, 1921, S. 1 ff.; F. Giese/E. Volkmann, Die Preußische Verfassung, 2. Aufl. 1926, S. 11 ff.; [B.] Drews, Systematische Einleitung, in: Die Verfassung des Freistaats Preußen vom 30. November 1920, 1933, S. I (IV ff.); neuere Darstellung von S. Gurt, Die Entstehung der preußischen Verfassung vom 30. November 1920, Magisterarbeit TU Berlin 1983, S. 31 ff. 6 Gesetz zur vorläufigen Ordnung der Staatsgewalt in Preußen vom 20. März 1919 (GS Nr. 17 v. 22.3.1919, S. 53); abgedruckt in: H. Preuß, JöR 10 (1921), 222 (225 f.) sowie in: F. Wittreck (Hg.), Weimarer Landesverfassungen, 2004, S. 464 ff. 7 Die erwähnten Texte sind (in der Reihenfolge der Aufzählung im Text) abgedruckt in Wittreck, Landesverfassungen (Fn. 6), S. 534 ff., 153 ff., 225 ff., 276 ff., 340 ff., 387 ff. und 641 ff.
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Verantwortlich zeichnen neben dem Bestreben, zunächst die Entwicklung auf Reichsebene und ihre möglichen Vorgaben für Preußen abzuwarten8, der Versuch der Regierung, vorab mit den Mehrheitsfraktionen von SPD, Zentrum und DDP eine Verständigung über zentrale Fragen zu erzielen9, sowie äußere Hemmnisse, an erster Stelle der Kapp-Putsch10. Auch ein allgemein als unzulänglich empfundener Regierungsentwurf11, der erst im Verfassungsausschuss nach und nach die endgültige Form annimmt12, verzögert die Beratungen zusätzlich. Am Ende wird die Verfassung mit 280 gegen 60 Stimmen (sie stammen von DNVP und USPD) angenommen13.
1.1. Generalthemen der Weimarer Landesverfassungsdebatte: Religion, Staatspräsident und zweite Kammer Wählt man als Kriterium für wirklich umstrittene Fragen nicht Wortmeldungen – selbstverständlich polemisiert die USPD für die Revolution14, die DNVP trauert der Monarchie nach15 –, sondern ernstgemeinte und daher mit 8 So ausdrücklich H. Preuß, JöR 10 (1921), 222 (226 f.). – Zum Verhältnis Reich/Preußen in der Zwischenkriegszeit vgl. nur E. Eimers, Das Verhältnis von Preußen und Reich in den ersten Jahren der Weimarer Republik (1918–1923), 1969. 9 Nochmals H. Preuß, JöR 10 (1921), 222 (227). 10 In diesem Sinne H. Preuß, JöR 10 (1921), 222 (232); Gurt, Entstehung (Fn. 5), S. 32. 11 Diese Einschätzung bei H. Preuß, JöR 10 (1921), 222 (232); vgl. auch den Kommentar von Holtz, DJZ 1920, 333 ff. 12 Verhandlungen und Ergebnisse des Ausschusses sind wie folgt dokumentiert: Der Bericht des Verfassungsausschusses findet sich als Drucksache Nr. 3120 A, in: Sammlung der Drucksachen der verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung, Tagung 1919/21, Bd. 10, 1921, S. 5213 ff.; die wörtliche Niederschrift firmiert als Drucksache Nr. 3120 B (ebd., S. 5224 ff.), woran sich die Zusammenstellung der Beschlüsse anschließt (Drucksache Nr. 3120 C, ebd., S. 5383 ff. – Vgl. die Besprechung von W. Rochlitz, Deutsche Stimmen 32 (1920), 550 ff.; siehe auch H. Preuß, JöR 10 (1921), 222 (233 f.). 13 Abstimmung in: Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 14316. – Text in: H. Preuß, JöR 10 (1921), 222 (235 ff.) sowie Wittreck, Landesverfassungen (Fn. 6), S. 466 ff. 14 Etwa Abg. Stoecker (USPD), in: Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 11025: „Also wir beten den Fetisch der bürgerlichen Demokratie nicht an, den Sie uns als allein seligmachend hier anpreisen, sondern wir treten ein für die proletarische Diktatur“ (Hervorhebung i.O., F.W.). 15 Etwa Abg. v. Kries (DNVP), in: Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 11016: „Wir sind nach wie vor der Überzeugung, daß nach dem preußisch-deutschen Nationalcharakter und nach der historischen Entwicklung die Monarchie für Preußen und Deutschland die beste Staatsform ist.“
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Mühe verbundene Änderungsanträge, so kristallisieren sich drei kontroverse Themenfelder heraus, die Preußen mit einer Vielzahl der übrigen Länder – mit Abstufungen im Detail – gemeinsam hat16. Zunächst unternehmen DVP und DNVP mehrere Anläufe, einen eigenen Abschnitt über „Religion und Schule“ aufzunehmen, der Glaubens-, Kunstund Wissenschaftsfreiheit gewährleistet und Detailregelungen zur religiösen Erziehung, zum Patronats- und Friedhofsrecht vorsieht17. Vom Zentrum werden sie hierbei eher halbherzig unterstützt18. Das Ergebnis ist denn auch mager. Nach zwei vergeblichen Anläufen im Verfassungsausschuss gelangen im Plenum schließlich nur drei staatskirchenrechtliche Bestimmungen in die Verfassung: Der irreführend mit „Die Religionsgesellschaften“ überschriebene Abschnitt IX besteht einzig und allein aus einer Regelung zum Kirchenaustritt (Art. 76 PreußVerf.) – nicht eben das Kernanliegen der Rechten19. Für regelungsbedürftig hält die Landesversammlung auf entsprechenden Vortrag der evangelischen Kirche ferner die Aufhebung der Patronate (Art. 83 PreußVerf.) 20. Ebenfalls in die Übergangsbestimmungen schafft es das bereits aus der vorläufigen 16 Im Überblick zur Landesverfassunggebung in Weimar F. Wittreck, Zur Einleitung: Verfassungsentwicklung zwischen Novemberrevolution und Gleichschaltung, in: ders., Landesverfassungen (Fn. 6), S. 1 (6 ff.). – Speziell zur Debatte über religionsverfassungsrechtliche Bestimmungen F. Wittreck, Bonn ist doch Weimar. Die Religionsfreiheit im Grundgesetz als Resultat von Konflikt und Kontroverse, in: A. Reuter/H.G. Kippenberg (Hg.), Religionskonflikte im Verfassungsstaat, 2010, S. 66 (70 ff.). 17 Erster Antrag (Verfassungsausschuss, erste Lesung): Drucksachen (Fn. 12), S. 5337 f. – Zweiter Antrag (Verfassungsausschuss, zweite Lesung): Ebd., S. 5369 ff. Dritter Antrag (Plenum, Zweite Lesung): Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 13569 ff. (Abstimmung: Sp. 13584 ff.). Vgl. auch den Bericht des Verfassungsausschusses, in: Drucksachen (Fn. 12), S. 5222 f. 18 Was sich etwa darin äußert, dass der Abg. Wildermann sehr abstrakt davor warnt, selektiv Bestimmungen der Reichsverfassung in die Preußische Verfassungsurkunde aufzunehmen: Drucksachen (Fn. 12), S. 5338. Im Plenum bekundet der Abg. Oppenhoff nochmals Sympathie („Meine Partei kommt ganz gewiß nicht in den Verdacht, daß wir für den Schutz von Religion und Schule nicht zu haben wären.“), warnt aber vor der Wiederholung von Inhalten der Reichsverfassung: Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 13577. 19 Aber immerhin ein Mitanliegen: Im Hintergrund steht die Sorge, der einfache Gesetzgeber könne nach dem Vorbild der Revolutionstage den Kirchenaustritt nochmals vereinfachen oder dazu ermuntern: Abg. Koch (DNVP), in: Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 13573. 20 Die kirchliche Bittschrift ist verzeichnet in: Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 13571, 13576 f. sowie im Bericht des Verfassungsausschusses, in: Drucksachen (Fn. 12), S. 5223; vgl. noch die abermalige Debatte in der dritten Lesung: Sitzungsberichte, ebd., Sp. 14270 f.
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Verfassung vertraute Dreigestirn von Ministern evangelischen Glaubens, die als Nachfolger des Königs in seiner Eigenschaft als Träger des landesherrlichen Kirchenregiments fungieren sollen (Art. 82 Abs. 2 PreußVerf.). Intensiver wird über zwei Fragen gestritten, die charakteristischerweise die Landesverfassungsdebatten nach dem Ersten wie nach dem Zweiten Weltkrieg prägen: Denn beides Mal begegnen als typische Forderungen der politischen Rechten eine zweite und wohlgemerkt berufsständisch geprägte Kammer21 sowie ein Staatspräsident22. Charakteristisch ist auch der doppelte Misserfolg auf der ganzen Linie: „Staatspräsidenten“ amtieren in der Zwischenkriegszeit zwar in Baden, Hessen und Württemberg23, doch handelt es sich bei genauerem Hinsehen nur um den unter falscher Flagge segelnden Ministerpräsidenten, nicht um das unmittelbar vom Volk gewählte Gegengewicht zum ungeliebten Parlament24. Für eine zweite Kammer mit zumindest stark berufsständischer Anmutung entscheidet sich schließlich 1946 Bayern; ihr Schicksal ist bekannt25. In der Landesversammlung bringt Hugo Preuß früh auf den Punkt, dass ein preußischer Staatspräsident, der in Berlin in Rufweite zum Reichspräsidenten residiert, „politisch unmöglich“26 sei und als hegemoniale Anmaßung das ohnehin prekäre Verhältnis zum Reich zerrütten müsste27. Gleichwohl halten DVP und DNVP das Thema bis zuletzt auf ihrer Agenda und müssen jeweils
21 Aufschlussreich H. Möller, Parlamentarismus in Preußen 1919–1932, 1985, S. 151 ff. 22 Im Überblick Wittreck, Einleitung (Fn. 16), S. 10 ff. sowie F.R. Pfetsch, Ursprünge der Zweiten Republik, 1990, S. 298 ff., 313 ff.; speziell zum „Staatspräsidentenstreit“ in Bayern nach 1945 B. Fait, Demokratische Erneuerung unter dem Sternenbanner, 2. Aufl. 1998, S. 288 ff. 23 Näher § 52 Abs. 1 S. 3 BadVerf. 1919; Art. 37 Abs. 1 S. 2 HessVerf. 1919; § 26 Abs. 1 S. 2 WürttVerf. 1919 (alle in Wittreck, Landesverfassungen [Fn. 6], S. 79 [89], 252 [258], 710 [714]). 24 Monographisch M. Raab, Die Stellung des Ministerpräsidenten von Bayern und der Staatspräsidenten von Württemberg, Baden und Hessen, Diss. iur. Erlangen 1928. 25 Zum bayerischen Senat (bis 1. Januar 2000 Art. 32–42 BayVerf. a.F.) P.C. Cornelius Mayer-Tasch, Struktur und Funktion des Bayerischen Senats, in: R.L. Bocklet (Hg.), Das Regierungssystem des Freistaates Bayern, 1977, Bd. II, S. 197 ff. sowie knapp bilanzierend M. Möstl, in: J.F. Lindner u.a., Verfassung des Freistaates Bayern, 2009, Art. 34–42 (S. 262 f.). 26 H. Preuß, in: Stenographische Berichte (Fn. 3), Sp. 11125. Prägnanter ders., DJZ 1920, 793 (797): „Er würde neben dem Reichspräsidenten jene Antithese von Reich und Preußen personifizieren.“ 27 Die Frage wird nochmals erörtert von R. v. Campe, Preußische Jahrbücher 203 (1926), 141 ff.
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überstimmt werden28. Gleiches gilt für ihre Versuche, entweder eine berufsständische zweite Kammer zu installieren oder wenigstens den sogleich zu erörternden Staatsrat um bis zu hundert Vertreter zu ergänzen, die von den verschiedenen Berufsgruppen entsandt werden29. Preuß hält dem schlicht die „Erfahrungen mit dem Herrenhause“30 entgegen, und kann damit in der Versammlung offenbar historische Evidenz reklamieren31.
1.2. Specifica Borussica: Hohenzollern, Provinzialverwaltung und Staatsrat Während wir es bislang mit vergleichsweise klaren Frontstellungen zu tun hatten, also cum grano salis eine numerisch marginalisierte Rechte gegen die Regierungskoalition stand32, zeichnen sich die preußenspezifischen Streitigkeiten auch dadurch aus, dass hier Risse innerhalb der Regierungskoalition zu verzeichnen sind33. Beginnen wir mit den Hohenzollern. Der endgültige Text beschränkt sich nüchtern auf die Feststellung, auf wen die Befugnisse des Königs übergehen (Art. 82 PreußVerf.)34; er lässt damit kaum mehr die Auseinandersetzungen um Anträge der äußersten Linken erahnen, das ehemalige Königshaus nicht nur entschädigungslos zu enteignen, sondern nach österreichischem Muster auch
28 Vgl. den Antrag in der zweiten Lesung im Plenum (Sitzungsberichte [Fn. 3], Sp. 13312 ff.); letzte Abstimmung in dritter Lesung: ebd., Sp. 14053 ff. Zu frühen Versuchen der Rechtsparteien, den Staatspräsidenten schon in die vorläufige Verfassung aufzunehmen, siehe den Hinweis von H. Preuß, JöR 10 (1921), 222 (224). 29 Letzter Versuch in der dritten Lesung: Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 14063 ff. 30 H. Preuß, in: Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 11124. 31 Betont wird dies auch von O. Meyer, Recht und Wirtschaft 10 (1921), 11 (12). – Näher zur Rolle des Herrenhauses unter der Verfassung von 1850 H. Spenkuch, Das Preußische Herrenhaus, 1998, insbes. S. 110 ff., 441 ff.; prägnante Zusammenfassung seiner Rolle als retardierendes Element bei C. Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang, 1600–1947, 2007, S. 640. 32 Die Sitzverteilung in der Verfassunggebenden Landesversammlung präsentiert sich wie folgt: SPD: 145; USPD: 24; DDP: 66; Zentrum: 94; DVP: 21; DNVP: 50; DHP [Deutsch-Hannoverische Partei]: 2 (Quelle: Huber, Verfassung [Fn. 5], S. 7 f.). 33 Instruktiv H. Preuß, JöR 10 (1921), 222 (231). 34 Dazu nur K. Fischer, Der Übergang der Befugnisse des Königs auf das Staatsministerium nach Art. 82 der Verfassung des Freistaates Preußen vom 30. Nov. 1920, Diss. iur. Breslau 1922.
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des Landes zu verweisen35. Der Antrag scheitert im Kern an dem Einwand, dies stelle ein Sondergesetz dar36. Deutlich mehr Raum nimmt die Auseinandersetzung um die Selbstverwaltung der Provinzen ein. Hier stoßen unterschiedliche Positionen im Regierungslager sowie erhebliche Beharrungskräfte der bisherigen Funktionsträger in unübersichtlicher Frontlinie aufeinander; eine völlig einheitliche Position vertritt praktisch nur die streng zentralistisch gestimmte DNVP. Das Endergebnis ist ein dilatorischer Kompromiss; die Provinzen erhalten im VIII. Abschnitt zur „Selbstverwaltung“ konkret nur die Kompetenz zur Regelung der Amts- und Unterrichtssprache (Art. 73 PreußVerf.)37; ein Gesetzgebungsauftrag in Art. 72 Abs. 2 PreußVerf. verpflichtet den Zentralstaat, weitere Aufgaben zu übertragen38. Die besonders intensiv debattierte Frage, ob die Ober- und Regierungspräsidenten weiter von Berlin ernannt (Preuß scheut nicht vor dem impliziten Vergleich mit dem Landvogt Geßler zurück39) oder von den Provinziallandtagen gewählt werden, wird in den Übergangsbestimmungen dahingehend entschärft, dass bis zur Erfüllung des gerade genannten Auftrags die Ernennung des Einvernehmens des Provinzialausschusses bedarf (Art. 86 PreußVerf.)40. Es bleibt der Staatsrat als eigentliches Spezifikum der Preußischen Verfassung. In der Auseinandersetzung um diese Institution bündeln sich zahlreiche Debatten mit wiederum unübersichtlichen Meinungsbildern. Belastet wird der Staatsrat durch konfligierende Vorstellungen und Wünsche: Neben der Beteiligung der Provinzen an der Gesetzgebung soll er den Landtag durch ein Auflösungsrecht sowie das Recht zur Anrufung des Volksentscheids kontrollieren, bei der Ernennung der Regierung den fehlenden Staatspräsidenten 35 Näher die Anträge des Abg. Rosenfeld (USPD), in: Drucksachen (Fn. 12), S. 5225; vgl. dazu knapp F. Stier-Somlo, Staats- und Selbstverwaltung 2 (1920/21), 126 (126). – Siehe als entscheidendes Vorbild das Gesetz vom 3. April 1919, betreffend die Landesverweisung und die Übernahme des Vermögens des Hauses Habsburg-Lothringen (StGBl. 1919 Nr. 71 v. 10.4.1919, S. 513); vgl. auch H. Kelsen (Hg.), Die Verfassungsgesetze der Republik Deutschösterreich, Bd. III, 1919, S. 161 ff. 36 Siehe statt aller den Abg. Scholich (SPD), in: Drucksachen (Fn. 12), S. 5225: das „klinge wie ein Ausnahmegesetz gegen die Hohenzollern“. 37 Dies als gerade in den östlichen Provinzen naheliegende Ausnahme zur Regelung des Art. 1 Abs. 4, der Deutsch als Geschäfts- und Verhandlungssprache festlegt (vgl. unten bei und in Fn. 80). 38 Dieses Gesetz ist nie ergangen; siehe nur Drews, Einleitung (Fn. 5), S. LXXXVIII; weitere Literatur in Fn. 73. 39 H. Preuß, in: Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 11119. 40 Näher Delius, PrVBl. 42 (1922/23), 141 (141); Giese/Volkmann, Verfassung (Fn. 5), Art. 86 Anm. 1 f.
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wettmachen und schließlich die Haushaltsdisziplin überwachen – die Liste ließe sich verlängern. Zum Kompromiss innerhalb der Regierungskoalition kommt es im Verfassungsausschuss letztlich nur um den Preis, dass dieses durchaus spannungsvolle Aufgabentableau tatsächlich weitgehend Gesetz wird.
1.3. Preuß als Akteur in der Landesversammlung Für was von alledem zeichnet Hugo Preuß verantwortlich? Er ist unzweifelhaft eine beherrschende Figur der preußischen Konstituante. In erster wie zweiter Lesung gibt er das offizielle Gesamtvotum seiner Partei ab41, fungiert im Verfassungsausschuss gemeinsam mit Oscar Meyer als deren Wortführer42 und interveniert noch mehrfach prominent im Plenum43; lediglich in der dritten Lesung sind keine Beiträge mehr verzeichnet. Das Gewicht seiner Wortmeldungen speist sich aus überlegener Sachkenntnis, rhetorischer Brillanz und der steten spürbaren Bereitschaft zum Kompromiss; gerade im Verfassungsausschuss beeinflusst Preuß mehrfach Entscheidungen durch den sachlich vorgetragenen erläuternden Hinweis auf die Handhabung oder die Sichtweise der Weimarer Nationalversammlung44. Ganz im Zentrum seiner Aufmerksamkeit stehen dabei die beiden Fragen, die für ihn schlechthin unabdingbare Voraussetzungen für die Einpassung der preußischen Republik in den Reichsverband sind: Die Dezentralisation des preußischen Einheitsstaates durch Stärkung der Provinzen und deren Vertretung im Staatsrat, der ein Gegengewicht zum Landtag bilden soll. Auffällig ist hingegen, dass Preuß weder in der Versammlung noch im Ausschuss das Wort zur Gretchenfrage der Religion erhebt (gleiches gilt für die Hohenzollern). Zunächst zur demokratischen Dezentralisation und Selbstverwaltung: Das Werk von Hugo Preuß mag nicht frei von Widersprüchen, Brüchen und Neuorientierungen sein45. Wenn es aber einen unzweifelhaft roten Faden gibt, 41 Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 11110 ff., 13252 ff. 42 Vgl. allein die Zahl der Stellungnahmen beider in: Drucksachen (Fn. 12), S. 5224 ff. Von den übrigen DDP-Abgeordneten spielt nur noch der Berichterstatter Berndt (Stettin) eine nennenswerte Rolle. 43 Siehe H. Preuß, Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 13377 ff. (zum Staatsrat); Sp. 13497 ff. (zur Autonomie der Provinzen); Sp. 13531 (dito). 44 Nur ein Beispiel: H. Preuß, in: Drucksachen (Fn. 12), S. 5225 („Freistaat“ oder „Republik“). 45 Prononciert Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer (Fn. 1), S. 19: „Wähnt man, seinen Ansatz gefunden zu haben, reißt die nächste sprachliche Wendung ihn fort.“
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dann liegt er im Gleichklang von „demokratische[r] Dezentralisation und Selbstverwaltung“46. Nunmehr kann Preuß darangehen, in der Tradition des Freiherrn vom Stein wie seines Lehrers Gneist seine Vision eines wahrhaft demokratischen Staatsaufbaus in Gestalt von gestuften Selbstverwaltungskörpern in die Tat umzusetzen. Er zielt im Kern auf die Provinzen als das aus seiner Sicht noch fehlende Bindeglied zwischen der Ebene der kommunalen Selbstverwaltung und dem republikanischen Gesamtstaat. Preuß spricht in Bezug auf diese Provinzen pointiert vom „Verhältnis des Landes Preußen zu den Ländern, die in Preußen eingegliedert sind“47. Zugleich muss für ihn mit der Selbstverwaltung notwendig die Übertragung von Kompetenzen der Zentrale auf die Provinzen einhergehen; Autonomie bedingt in diesem Sinne Dezentralisation: „Deshalb muß unsere organische Demokratisierung der Verwaltung Dezentralisation durch Selbstverwaltung auf demokratischer Grundlage von unten herauf sein.“48 Dieses Konzept ist für Preuß aber nicht nur theoretisch konsequent, sondern dient einmal mehr praktischen politischen Zwecken; ausweislich seiner Stellungnahmen in der Landesversammlung sind dies wenigstens drei: Der aktuellen Situation der Verfassunggebung geschuldet ist zunächst seine Überzeugung, nur durch ein Entgegenkommen in Gestalt der Dezentralisation den zentrifugalen Tendenzen steuern zu können, die nicht nur im Rheinland und in Hannover unübersehbar sind49. Mittelfristig glaubt er an die förderliche Wirkung der Aktivierung der Bürgerschaft für die Republik, wenn sie nur auf allen Ebenen des Staatsaufbaus einbezogen und zur Selbstgesetzgebung animiert wird50. Langfristig schließlich scheint doch wieder der Gedanke der Reichseinheit auf: Die autonomen Provinzen sind letztlich Vorformen (und praktisch-politisches Übungsgelände) der Länder, die in einem neugestalteten und -gegliederten Reich an die Seite der süddeutschen Staaten und an die Stelle 46 H. Preuß, in: Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 11127; gleichsinnig ders., ebd., Sp. 11121. Luzide Analyse seiner diesbezüglichen Vorarbeiten aus der Kaiserzeit bei D. Schefold, Einleitung, in: ders. (Hg.), Hugo Preuß, Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie im Kaiserreich (Gesammelte Schriften, Bd. 2), 2009, S. 1 (17 ff., 35 ff., 59 ff.). 47 H. Preuß, in: Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 13255. 48 H. Preuß, in: Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 11121; ähnlich ders., ebd., Sp. 13531: „Gedanke des demokratischen Aufbaus von unten nach oben“. 49 Deutlich H. Preuß, in: Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 11118, 11123; vgl. noch dens., Drucksachen (Fn. 12), S. 5248. – Zu den anfangs zu beobachtenden „Los von Preußen“Bestrebungen nur K. Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland, 1987, S. 30 ff., 101 ff. 50 Nochmals H. Preuß, in: Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 11120.
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Preußens treten sollen. In diesem Sinne ist wohl eine weitere Verbeugung vor dem großen Vorbild zu verstehen51, es sei „die Dezentralisation Preußens, die Fortführung des Gedankens des Freiherrn vom Stein auf die Provinzen und die großen Verbände etwas im Reichsinteresse absolut notwendiges.“ Nun zum Staatsrat: Auch Preuß will mehr als die bloße Vertretung der Provinzen, deren Selbstverwaltung ihm so am Herzen liegt52; möglicherweise will er damit zu viel. Ihm ist der Staatsrat Garant gegen „den schrankenlosen Parlamentsabsolutismus“53 und die „selbständige politische Potenz“54, die er neben dem Landtag errichtet wissen will. Im Grunde genommen dient der Staatsrat als Ersatz für den von Preuß so vehement abgelehnten Staatspräsidenten. Deshalb auch seine beißende Kritik an dem im Regierungsentwurf vorgesehenen „Finanzrat“, den er ob seines schmalen Aufgabenzuschnitts als „höchst unzulängliches Verlegenheitsgeschöpf“ geißelt55. Warum diese Suche nach einer zweiten Kraft, die keineswegs vorschnell als fehlende Vertrautheit mit dem parlamentarischen System gedeutet werden darf? Preuß ist zum einen nicht völlig frei von taktischem Kalkül: Ein zweites Machtzentrum neben dem Parlament ist für den bürgerlichen Demokraten auch ein Garant gegen die Auswirkungen einer nach wie vor als reale Möglichkeit erscheinenden absoluten Mehrheit der Sozialdemokratie56. Die ist denn auch in der Koalition anfangs ein klarer Gegner des Konzepts, während das Zentrum einige Sympathie signalisiert und auch die Rechte den Gedanken für anschlussfähig hält (zumindest dann, wenn man ihn berufsständisch reformuliert). Wichtiger noch dürfte die zeitbedingte communis opinio sein, dass der reine Parlamentarismus der Einhegung oder eben der Ergänzung durch ein 51 H. Preuß, in: Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 13499. Vgl. dens., DJZ 1920, 793 (796 f.). 52 Der Staatsrat ist ihm (Sitzungsberichte [Fn. 3], Sp. 13382) „eine Milderung des Bandes, das Preußen um seine Provinzen schlingt“. 53 H. Preuß, in: Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 11124; gleichsinnig ders., Drucksachen (Fn. 12), S. 5247. – Interessanterweise räumt Preuß an anderer Stelle ein, bei der Erarbeitung der Reichsverfassung „sei plötzlich eine Welle des Mißtrauens auch gegen eine parlamentarische Regierung gekommen“ (Drucksachen [Fn. 12], S. 5282). 54 H. Preuß, in: Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 11126; ähnlich ders., Drucksachen (Fn. 12), S. 5247: „einen irgendwie selbständigen Faktor“. 55 H. Preuß, in: Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 11123. 56 Deutliche Hinweise in dieser Richtung finden sich in den Fraktionsberatungen der DDP: Siehe V. Stalmann (Hg.), Linksliberalismus in Preußen. Die Sitzungsprotokolle der preußischen Landtagsfraktion der DDP und DStP 1919–1932, Teilbd. 1, 2009, S. 223 ff.; vgl. zusammenfassend zum Verhältnis in der Koalition dens., Einleitung, ebd., S. I (C ff.).
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„retardierendes Moment“57 bedarf, um sicherzustellen, dass der „wahre“ Volkswille zum Ausdruck kommt58. Stellt man dies in Rechnung, dann erlaubt die Preußische Verfassung von 1920 (präziser: Preuß’ Blaupause von ihr, die aber hier weitgehend deckungsgleich mit dem Endergebnis ist) einen unverstellteren Blick auf die verfassungspolitischen bzw. verfassungstheoretischen Vorstellungen des demokratischen Denkers als seine Stellungnahmen zur Reichsverfassung. Denn hier ist der Reichspräsident maßgeblich externen Einflüssen geschuldet, die es in Preußen nicht gibt59. Dass Preuß auch auf Landesebene nicht ohne einen zweiten und eigenständig demokratisch legitimierten Faktor auszukommen glaubt60, belegt deutlich die Bedeutung der Gleichgewichtskonzeption für sein Denken61.
2. „Wir sind zweifellos besser als unser Ruf“62: Die Preußische Verfassung von 1920 Wenden wir uns nunmehr dem fertigen Werk zu. Nach einer knappen Vorstellung der Verfassungsurkunde (2.1.) sind ihr Verhältnis zur Reichsverfassung wie ihre Stellung zu den Verfassungsurkunden der übrigen Länder zu beleuchten (2.2.). Es schließen sich ein Abriss zur Entwicklung (2.3.) sowie ein Versuch einer Würdigung an (2.4.).
57 H. Preuß, in: Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 11123. 58 Dazu eingehend und m.w.N. C. Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat, 1997, S. 382 ff.; er weist insbesondere auf die einflussreiche Schrift von R. Redslob, Die parlamentarische Regierung in ihrer wahren und in ihrer unechten Form, 1918, hin (vgl. ebd., S. 1 ff.). 59 Näher zur Konstruktion wie Preuß’ Rolle bei ihrem Zustandekommen C. Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 63 ff.; Lehnert, Einleitung (Fn. 1), S. 13 ff.; zuletzt Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer (Fn. 1), S. 327 ff. 60 H. Preuß, DJZ 1920, 793 (799): „Das parlamentarische System erscheint hier also nur in sehr gebrochener Form; doch ist seine reine Durchführung für eine Landesverfassung innerhalb des Reiches nicht notwendig, vielleicht nicht einmal zweckmäßig.“ – Vgl. dens., Drucksachen (Fn. 12), S. 5247. 61 Nochmals instruktiv zur Grundlegung dieser Positionen Schefold, Einleitung (Fn. 46), S. 27 ff. 62 H. Preuß, in: Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 11131 (es handelt sich um einen Zwischenruf in Reaktion auf die Ansprache des Abg. Leidig [DVP]).
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2.1. Grundzüge der Verfassungsurkunde Mit ihren 88 Artikeln zählt die Preußische Verfassung von 1920 zu den längeren Weimarer Landesverfassungen. Sie gliedert sich in elf Abschnitte (Staat – Staatsgewalt – Landtag – Staatsrat – Staatsministerium – Gesetzgebung – Finanzwesen – Selbstverwaltung – Religionsgesellschaften – Staatsbeamte – Übergangsund Schlussbestimmungen)63. Zentrales Organ ist der auf vier Jahre gewählte Landtag (Art. 9–30 PreußVerf.); er wählt ohne Aussprache den Ministerpräsidenten (Art. 45 S. 1 PreußVerf.), der wiederum die übrigen Staatsminister ernennt (Art. 45 S. 2 PreußVerf.)64; ausweislich seiner Richtlinienkompetenz ist er als echter Premierminister anzusehen (Art. 46 PreußVerf.). Daneben tritt das Volk selbst als Staatsorgan in Erscheinung (dies im parteiübergreifenden Konsens in der Landesversammlung65); Volksbegehren und Volksentscheid richten sich auf Gesetze, die Verfassung und die Auflösung des Landtags (Art. 6 Abs. 1 Nr. 1–3 PreußVerf.)66; hinzu kommen Stichentscheide zwischen den übrigen Staatsorganen (Art. 14 Abs. 1 S. 2, 42 Abs. 3 S. 3 PreußVerf.)67. Aus dem bis hierhin geläufigen Schema fallen der Staatsrat als Vertreter der Provinzen auf der Ebene des Gesamtstaats (Art. 31–43 PreußVerf.)68 sowie die Provinziallandtage (Art. 73–75 PreußVerf.) heraus69. 63 Vgl. zum Folgenden außer den Kommentaren und Lehrbüchern zur Preußischen Verfassung (unten Fn. 109) noch die ersten Überblicksdarstellungen: H. Preuß, JöR 10 (1921), 222 (255 ff.); [F.] Stier-Somlo, Staats- und Selbstverwaltung 2 (1920/21), 126 ff., 148 ff., 170 ff.; R. Piloty, AöR 40 (1921), 87 ff.; O. Meyer, Recht und Wirtschaft 10 (1921), 11 ff. 64 Näher zum Preußischen Staatsministerium aus der reichhaltigen zeitgenössischen Dissertationsliteratur statt aller G. Krebs, Das Staatsministerium nach der preußischen Verfassung vom 30. November 1920, Diss. iur. Göttingen 1921. 65 Siehe die Voten der DNVP einer- und der USPD andererseits: Abg. v. Kries, in: Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 11018, Abg. Stoecker, ebd., Sp. 11036; dazu statt aller Drews, Einleitung (Fn. 5), S. XVII ff. 66 Speziell dazu näher die Kommentierungen zu Art. 6 u. 14 Abs. 1 PreußVerf. sowie G. Kaisenberg, RPrVBl. 1931, 261 ff.; instruktiv zur Preuß’schen Konzeption des Volkes als „Appellationsinstanz“ Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer (Fn. 1), S. 321 ff. 67 Zusammenfassend H. Keiser, Das Referendum in der neuen deutschen Reichsverfassung und in der Verfassung des Freistaates Preußen, Diss. iur. Marburg 1923, hier: 1922 (Auszug), S. 3. 68 Der Staatsrat ist das mit weitem Abstand am intensivsten behandelte Thema zur Preußischen Verfassung von 1920 in zeitgenössischen juristischen Dissertationen; hier nur zusammenfassend F. Stier-Somlo, Der Preußische Staatsrat, in: G. Anschütz/R. Thoma (Hg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, 1930, § 56 (S. 652 ff.); eine neuere Interpretation hat H.-D. Bayer, Der Staatsrat des Freistaates Preußen, 1992 vorgelegt. 69 Wie hier R. Piloty, AöR 40 (1921), 87 (93) sowie Gurt, Entstehung (Fn. 5), S. 44.
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Auffällig ist neben dem Staatsrat als solchem die komplexe Architektur seines Zusammenspiels mit den anderen Staatsorganen. Ihr Gipfel ist die Regelung, wonach ein Ausschuss aus dem Ministerpräsidenten und den Präsidenten von Staatsrat und Landtag die Auflösung des Landtags beschließen kann70 – Art. 14 Abs. 1 S. 1 PreußVerf. ist dabei typologisches Rudiment des früh verabschiedeten Staatspräsidenten wie der in der Übergangsverfassung enthaltenen Rechte des Parlamentspräsidenten71 zugleich. Auch im Zusammenwirken mit dem Volk kann der Staatsrat den Landtag auflösen (Art. 14 Abs. 1 S. 2 PreußVerf.: Beschluss und anschließender Volksentscheid72); mehrfach gestuft ist ferner das Zusammenwirken in der Gesetzgebung: Den Einspruch des Staatsrats kann der Landtag entweder mit Zweidrittelmehrheit überstimmen oder nun seinerseits das Volk anrufen (Art. 42 Abs. 3 PreußVerf.). Die Provinziallandtage setzen die von Reichs wegen für die Länder verpflichtende Demokratisierung und Parlamentarisierung nach unten auf der Provinzebene fort; sie sind insofern einzigartig, aber unvollendet73. Denn da das bereits erwähnte Ausführungsgesetz zur Kompetenzverlagerung bzw. Dezentralisierung nie ergangen ist74, entsprechen der direkten demokratischen Legitimation der Provinziallandtage keine Kompetenzen, die es rechtfertigten, von einem Gleichauf von Legitimation und Kompetenzausstattung zu sprechen – die Provinziallandtage wirken ähnlich „überladen“ wie ein volksgewählter Bundespräsident unter dem Grundgesetz75. Ebenfalls uner-
70 Mokant O. Meyer, Recht und Wirtschaft 10 (1921), 11 (12): „Staatspräsidentenersatz ganz unbestreitbarer Minderwertigkeit“. 71 Nach § 3 des Gesetzes zur vorläufigen Ordnung der Staatsgewalt (Fn. 6) berief der Präsident der verfassunggebenden Landesversammlung die Staatsregierung. Die staatsrechtliche Position des späteren Landtagspräsidenten bespricht knapp A. Karger, PrVBl. 46 (1924/25), 465 f.; monographisch E.O. Rasch, Die verfassungsrechtliche Stellung des preußischen Landtagspräsidenten, Diss. iur. Leipzig 1925. – Im Prozess der Verfassunggebung sind noch eher bizarre Versuche zu verzeichnen, mit dieser Aufgabe den Präsidenten der Oberrechnungskammer oder des Oberverwaltungsgerichts zu betrauen; dazu sardonisch H. Preuß, in: Drucksachen (Fn. 12), S. 5291. 72 Aufschlussreiche Anregung von H. Preuß in diese Richtung in: Drucksachen (Fn. 12), S. 5322. 73 Aus der Literatur: Delius, PrVBl. 42 (1920/21), 409 ff.; ders., PrVBl. 44 (1922/23), 141 ff. 74 Vgl. oben Fn. 38. 75 Zu diesem zentralen Argument gegen eine Direktwahl des Bundespräsidenten statt aller M. Nettesheim, Amt und Stellung des Bundespräsidenten, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 3. Aufl. 2005, § 61 Rn. 30 (S. 1048 f.).
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füllt bleibt das Verfassungsversprechen eines Staatsgerichtshofs, den Art. 87 PreußVerf. verheißt76. Zu verzeichnen sind schließlich noch zwei auffällige Bestimmungen, die sich nur als Konzessionen an die politische Rechte verstehen lassen77: Art. 1 Abs. 3 PreußVerf. bestimmt – durchaus nach dem Vorbild anderer Landesverfassungen78 – schwarz-weiß zu Landesfarben79. Art. 1 Abs. 4 PreußVerf. ordnet ferner an, dass die deutsche Sprache als „Geschäfts- und Verhandlungssprache im öffentlichen Dienste“ fungiert80; die Norm wirkt wie ein schattenhafter Vorläufer aktueller Debatten81.
2.2. Der Kontext von Reichsverfassung und Landesverfassungen Die Reichsverfassung von 1919 steckt die Länder in ein ungleich rigideres Konzept als Bonner Grundgesetz oder Bismarckverfassung 82 – sie ist insofern durchaus Erbe der frühen einheitsstaatlichen Tendenzen von Hugo Preuß, denen er in der Preußischen Landesversammlung übrigens regelrecht 76 Konkrete Pläne zu seiner Einrichtung sind nicht verzeichnet. Gem. Art. 19 i.V.m. Art. 172 RVerf. fungierte daher der Staatsgerichtshof für das deutsche Reich bzw. der als solcher fungierende Senat des Reichsgerichts als Landes-Staatsgerichtshof: Waldecker, Verfassung (Fn. 5), Art. 87 Anm. 2 (S. 157); Giese/Volkmann, Verfassung (Fn. 5), Art. 87 Anm. 2 (S. 253); zusammenfassend W. Eiswaldt, Annalen des Deutschen Reiches für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 59 (1926), 299 ff. 77 Beide Bestimmungen fehlen im Entwurf des Verfassungsausschusses und gelangen erst in der zweiten (Farben) bzw. dritten Lesung (Sprache) in den Text (vgl. Sitzungsberichte [Fn. 3], Sp. 13248, 14050). Zur Motivation überdeutlich H. Preuß, ebd., Sp. 13259: „Aber meine Herren (nach rechts), Hand aufs Herz, Sie stellen diesen Antrag, weil Sie glauben, mit der Farbenfrage im Reich ausgezeichnete Geschäfte gemacht zu haben.“ 78 Vgl. etwa § 1 Abs. 2 AnhVerf. 1919; § 1 Abs. 2 BayVerf. 1919; Art. 1 Abs. 2 S. 1 BraunschwVerf. 1922 sowie § 2 S. 3 Meckl.-SchwVerf. 1920; die Liste ließe sich verlängern (alle in Wittreck, Landesverfassungen [Fn. 6], S. 59 [59], 106 [106], 153 [154], 387 [387]). 79 Dazu zeitgenössisch H. v. Seidlitz, Die rechtliche Bedeutung der Landesfarben, Diss. iur. Breslau 1929. 80 Vgl. statt aller [F.] Stier-Somlo, Staats- und Selbstverwaltung 2 (1920/21), 126 (127). 81 Aus der aktuellen Debatte um „Deutsch als Staatssprache“ nur P. Kirchhof, Sprache und Recht, in: W.F. Ebke u.a. (Hg.), Sprache und Recht – Recht und Sprache, 2009, S. 27 ff. 82 Statt aller Gusy, Weimarer Reichsverfassung (Fn. 59), S. 224 ff. sowie Wittreck, Einleitung (Fn. 16), S. 4 f.; zeitgenössisch M. Wenzel, Die reichsrechtlichen Grundlagen des Landesverfassungsrechtes, in: Anschütz/Thoma, Handbuch I (Fn. 68), § 52 (S. 604 ff.).
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abschwört83. Das betrifft namentlich Preußen: Die überkommene „clausula antiborussica“ des Art. 61 Abs. 1 der Reichsverfassung84, der die Stimmen im Reichsrat zwar an die Einwohnerzahl bindet, ohne namentliche Erwähnung Preußens dessen Stimmen aber dadurch deckelt, dass kein Land mehr als zwei Fünftel der Stimmen führen darf85, wird nun nochmals verschärft: Denn Art. 63 Abs. 1 S. 2 WRV bestimmt weiter, dass die Hälfte dieser ohnehin schon kupierten Stimmanteile von den Provinzialverwaltungen bestimmt werden sollen86. Damit ist Preußen von Reichsverfassung wegen bereits auf ein Mindestmaß an Binnenföderalismus festgelegt87. Wichtiger als diese reichsrechtlichen Vorgaben dürfte aber das mit Händen zu greifende Bestreben der Landesversammlung sein, in der Preußischen Verfassung jeden auch nur denkbaren Konflikt mit der Reichsverfassung zu antizipieren und zu vermeiden88. Hier sind Details wichtig: Art. 1 Abs. 1 weist Preußen als Republik und „Glied“ des Deutschen Reiches aus – dies in gewollter Abgrenzung von Ländern wie Bayern, deren „Mit-Gliedschaft“ die Freiwilligkeit der Zugehörigkeit zum Reichsverband unterstreicht und ein Sezessionsrecht impliziert89. Aussagekräftig ist auch die Neigung der Landesversammlung, sich unmittelbar am Wortlaut der Reichsverfassung zu orientieren90. 83 H. Preuß, in: Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 11114: „Ich lehne es ab, dieses Bekenntnis in der jetzigen Lage noch abzulegen.“ – Das Protokoll verzeichnet „(Hört, hört! rechts)“. 84 Zur Vorgängerbestimmung des Art. 6 der Reichsverfassung von 1871 siehe P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 5. Aufl., Bd. I, 1911, S. 240. 85 Dazu statt aller C. Bilfinger, Bedeutung und Zusammensetzung, in: Anschütz/Thoma, Handbuch I (Fn. 68), § 46 Anm. 5 (S. 553 ff.). 86 Näher aus der umfangreichen zeitgenössischen Literatur [H.-H.] Lammers, PrVBl. 44 (1922/23), 1 ff.; Bredt, VerwArch. 31 (1926), 298 ff.; G. Düesberg, AöR 51/N.F. 12 (1927), 321 ff.; F. Hummel, Preußen und seine Provinzen im Reichsrat, 1928. – Hugo Preuß äußert sich zu dieser Regelung in der Landesversammlung kritisch: ders., Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 11123: „Diese Konstruktion ist technisch nicht gut – das habe ich schon im Verfassungsausschuß in Weimar betont“. Positiver aber ders., JöR 10 (1921), 222 (229). 87 Vgl. zeitgenössisch H. Reimer, Die Stellung Preußens im Deutschen Reiche nach der Verfassung vom 11. Aug. 1919, Diss. iur. Königsberg 1921. 88 Einhellige Auffassung; besonders pointiert Drews, Einleitung (Fn. 5), S. XII. 89 So namentlich Abg. Berndt, in: Drucksachen (Fn. 12), S. 5225. Vgl. dazu H. Preuß, JöR 10 (1921), 222 (258); Giese/Volkmann, Verfassung (Fn. 5), Art. 1 Anm. 3 (S. 40 f.) sowie (aus bayerischer Sicht) H. Nawiasky, Bayerisches Verfassungsrecht, 1923, S. 49 ff. 90 So ausdrücklich H. Preuß, DJZ 1920, 793 (794 f.); ders., JöR 10 (1921), 222 (256); prominentes Beispiel ist Art. 46 PreußVerf. (Richtlinienkompetenz des Ministerpräsidenten), der sich eng an Art. 56 WRV anlehnt. Hingegen ist die in der Zwischenkriegszeit häufige Orientierung an anderen Landesverfassungen nicht zu beobachten.
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Vergleicht man die Preußische Verfassung mit anderen Landesverfassungen der Zeit, so wird der zuletzt genannte Befund eindrucksvoll bestätigt. Während zahlreiche Staaten wenigstens einzelne Bestimmungen aufrechterhalten, die nach herrschender Lehre der Weimarer Zeit mit dem weit verstandenen Vorrang des Reichsrechts in Konflikt geraten können91, sucht man solche in Preußen vergebens: Überbleibsel der andernorts zu verzeichnenden Grundrechtskataloge ist das bereits erwähnte Kirchenaustrittsrecht in Art. 76 PreußVerf.; auch sonst finden sich keine Experimente oder Innovationen92.
2.3. Verfassungsentwicklung und Verfassungskonflikte Die preußische Verfassung von 1920 ist vergleichsweise leicht zu ändern (Artikel 30 sieht eine Zweidrittelmehrheit vor, lässt aber die Anwesenheit von zwei Dritteln der Mitglieder ausreichen, so dass im Ergebnis knapp über 40 Prozent reichen)93. Gleichwohl zählt die Verfassung nur zwei demokratisch bewirkte ausdrückliche Änderungen, die noch dazu Marginalien betreffen94. Tiefe Einschnitte erfolgen dann gegen Ende nicht mehr im Wege der verfassungsändernden Gesetzgebung, sondern durch Notverordnungen des Reichs-
91 Nachweise bei Wittreck, Einleitung (Fn. 16), S. 4 f., 8 ff. 92 Selbstverständlich immer unter Absehung von Staatsrat und Provinziallandtagen (s.o. 2.1). 93 Pointiert kritisch Drews, Einleitung (Fn. 5), S. XLIII f. – Vgl. auch die eher skeptischen Darstellungen von A. Vogels, Die Preußische Verfassung, 2. Aufl. 1927, Art. 30 Anm. III (S. 80) sowie von Giese/Volkmann, Verfassung (Fn. 5), Art. 30 Anm. 6 (S. 105). – Über die weitere Entwicklung der Preußischen Verfassung orientieren neben Drews noch H. Helfritz, JöR 14 (1926), 232 (234 ff., 239 ff.); F. Stier-Somlo, Die verfassungsrechtliche Entwicklung in Preußen seit dem Jahre 1918, in: B. Harms (Hg.), Recht und Staat im neuen Deutschland, 1929, Bd. 1, S. 249 ff. sowie A. Köttgen, JöR 18 (1930), 1 (2 ff., 43 ff. u. passim). 94 Näher das Gesetz, betreffend vorläufige Wahlen zum Staatsrat in der Provinz Oberschlesien und Abänderung des Artikel 88 der Verfassung des Freistaats Preußen vom 30. November 1920 vom 7. April 1921 (GS Nr. 31 v. 25.4.1921, S. 353) und das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Prüfung der Wahlen zum Preußischen Landtag und das Wahlprüfungsgericht vom 3. Februar 1922 und der Verfassung des Freistaats Preußen vom 30. November 1920 vom 27. Oktober 1924 (GS Nr. 54 v. 31.10.1924, S. 670); beide abgedruckt bei Wittreck, Landesverfassungen (Fn. 6), S. 481 f., 482 f. – Vgl. aber auch den (kritischen) Hinweis von Drews, Einleitung (Fn. 5), S. XLIV f., wonach die Preußische Verfassung von 1920 im Wege der Verfassungsdurchbrechung auch ohne Eingriff in die Verfassungsurkunde geändert werden konnte.
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präsidenten (als Stichwort möge der „Preußenschlag“ genügen)95 sowie ein eigenes „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Land“ vom 1. Juni 193396. Auffällig ist die nachgerade hektische Aktivität des Staatsministeriums unter Göring, das die Preußische Verfassung nicht einfach absterben lässt – so die Handhabung in den meisten Ländern97 –, sondern im Jahr 1933 noch zahlreiche punktuelle Eingriffe vornimmt98, etwa einen Staatsrat neuen Typs kreiert99, dem neben zahlreichen NS-Granden dann auch Carl Schmitt angehören wird100. Verfassungskonflikte sind vor dem „Preußenschlag“ – der ja im Kern kein Landesverfassungskonflikt ist und hier außer Betracht bleiben soll – rar, zumal größere. Zwar dürfte Preußen das Land sein, das mit über 30 Entscheidungen den Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich am häufigsten beschäftigt hat101. Doch geht es regelmäßig um Detailfragen. Erwähnung verdient hingegen ein über die Grenzen Preußens hinaus von der Fachöffentlichkeit verfolgter Streit aus dem Jahre 1925; dies gilt um so mehr, als Hugo Preuß hier kurz vor seinem Tode noch einmal Partei ergreift (und sich im Ergebnis durchsetzt)102. Art. 45 PreußVerf. sieht die Wahl des Ministerpräsidenten durch den Landtag vor, enthält aber weder eine Befristung seiner Amtszeit noch seine Verpflichtung, dem neugewählten Landtag das Amt zur Verfügung zu stellen103. Dies führt zum Streit, als die Weimarer Koalition unter Otto Braun nach der Wahl 1924 mit 222 von 450 Stimmen über keine Mehrheit mehr verfügt und mithin keine Neuwahl erfolgen kann. Während vergleichsweise schnell Einigkeit dahingehend erzielt wird, dass Art. 45 PreußVerf. eine solche Pflicht zum Rücktritt nicht 95 Staatsgerichtshof RPrVBl. 1932, 770 – Preußenschlag/Einstweilige Verfügung; RPrVBl. 1932, 1012 – Preußenschlag. – Aus der reichhaltigen zeitgenössischen Literatur dazu nur W. Jellinek, RPrVBl. 1932, 681 ff.; C. Schmitt, DJZ 1932, 953 ff.; [E.] Friesenhahn, DJZ 1932, 1193 ff.; [F.] Poetzsch-Heffter, DJZ 1932, 1373 ff.; H. Triepel, DJZ 1932, 1501 ff.; L. Waldecker, Die Justiz VIII (1932), 22 ff. – Moderne Gesamtdarstellung von G. Seibert, Anwalt des Reiches. Carl Schmitt und der Prozess „Preußen contra Reich“ vor dem Staatsgerichtshof, 2001. 96 Text in: Wittreck, Landesverfassungen (Fn. 6), S. 485 f. 97 Zusammenfassend Wittreck, Einleitung (Fn. 16), S. 30 ff. 98 Abgedruckt bei Wittreck, Landesverfassungen (Fn. 6), S. 486 ff. 99 Dazu zeitgenössisch Bollert, PrVBl. 1933, 601 ff. 100 R. Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, 2009, S. 330, 333. 101 Siehe die Übersicht bei Wittreck, Landesverfassungen (Fn. 6), S. 493 f. 102 [H.] Preuß, DJZ 1925, 173 f. 103 Die Rechte rekurriert im Verfassungsstreit auf die Übung unter der revidierten Verfassung von 1850, dem neuen König das Amt zur Verfügung zu stellen: pointiert kritisch dazu [H.] Preuß, DJZ 1925, 173 (174).
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normiert104, verlagert sich der Streit auf Art. 59 Abs. 2 PreußVerf., der ein zurückgetretenes Staatsministerium mit der Führung der „laufenden Geschäfte“ betraut105. Nunmehr versucht die Rechte, die Kompetenzen der inzwischen demissionierten Regierung möglichst zu beschneiden, indem der Begriff der „laufenden Geschäfte“ eng ausgelegt wird; auch dieses Unterfangen kann sich nicht durchsetzen106. Im Zusammenspiel ermöglichen es jedenfalls beide Normen, dass eine an sich abgewählte Regierung ad infinitum im Amt und im Besitz der staatlichen Machtmittel bleibt107. Das mag man in der konkreten historischen Situation angesichts der Alternativen begrüßen; der unbestreitbare demokratische Makel dieser Perpetuierung hat in der Spätphase der Weimarer Republik gerade unter Hinweis auf die preußische Situation zu ersten Überlegungen in Richtung des späteren konstruktiven Misstrauensvotums (Art. 67 Abs. 1 S. 1 GG) geführt108.
2.4. Zeitgenössische Würdigung und historisches Urteil Heute dürfte es selbst verfassungsgeschichtlich interessierten Staatsrechtslehrern schwerfallen, über die Institution des Staatsrats hinaus eine Besonderheit der Preußischen Verfassung von 1920 zu nennen. Dabei ist sie neben der Bayerischen Verfassung von 1919 die einzige Landesverfassung der Zwischenkriegszeit, mit der es eine ernstzunehmende literarische Auseinanderset104 Vgl. zunächst das Gutachten des Preuß. Justizministers zu Art. 45 der Preuß. Verfassung, JR 1925, 122 ff.; siehe aus der zeitgenössischen Literatur ferner Hachenburg, DJZ 1925, 232 (234); [O.] Koellreutter, DJZ 1925, 243 f.; Lukas, JR 1925, 516 ff.; O. Loening, PrVBl. 46 (1924/25), 190 ff.; H. Feuerstein, Muß einem neugewählten Landtage das bisherige Staatsministerium nach der preußischen Verfassung von Rechts wegen sein Amt zur Verfügung stellen?, Diss. iur. Breslau 1932; Westarp, DJZ 1932, 574 ff. – Knappe Zusammenfassung des Meinungsstandes bei Giese/Volkmann, Verfassung (Fn. 5), Art. 45 Anm. 1 (S. 155). 105 Aus der zeitgenössischen Literatur: H. Preuß, Auch noch Verfassungskonflikt in Preußen? (1925), in: Lehnert, Politik und Verfassung (Fn. 1), S. 568 ff.; V. Czernik, Die Pflicht des Preußischen Staatsministeriums zur Fortführung der Geschäfte nach seinem Rücktritt, Diss. iur. Breslau 1930; K. Wegner, Ist Art. 59 Abs. 2 der preußischen Verfassung vom 30. Novbr. 1920 Zwangsnorm?, Diss. iur. Breslau 1930; Braatz, DJZ 1932, 978 ff. 106 Zusammenfassend F. Stier-Somlo, AöR 48/N.F. 9 (1925), 211 ff. 107 Die Literatur merkt zu recht an, dass sich hier der fehlende Staatspräsident auswirkt, der immerhin eine andere Regierung berufen könnte: Giese/Volkmann, Verfassung (Fn. 5), Art. 59 Anm. 4 (S. 187). 108 Drews, Einleitung (Fn. 5), S. LXIV ff.
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zung gegeben hat109 – was im einen Fall mehr durch eine kulturell induzierte Resilienz, im anderen durch die schiere Größe und die Zahl der öffentlichrechtlichen Lehrstühle im Land zu erklären sein dürfte110. Die zeitgenössischen Würdigungen der Verfassung ähneln ihr nun wie Herr und Hund111: Mit schöner Regelmäßigkeit stellen sie bemerkenswert nüchtern fest, dass man es mit einem bemerkenswert nüchternen Text zu tun habe, der sachorientiert die ihm gestellten Aufgaben abarbeitet112. Aus dem Rahmen fallen nur einige kritische Einschätzungen, die dem Werk der Landesversammlung „den Stempel des Unfertigen und Lückenhaften“113 aufdrücken oder gar „Verfassungs-Müdigkeit“ orten114. Preuß selbst hat sich gleich mehrfach zur Preußischen Verfassung geäußert. Hervorzuheben sind prominente Würdigungen in der renommierten „Deutschen Juristen-Zeitung“115 sowie dem nicht weniger angesehenen „Jahrbuch des öffentlichen Rechts“116. Er betont die enge Anlehnung an die Reichsverfassung117, würdigt die Rolle seiner Partei (und damit implizit seiner Person)118, hält sich ansonsten aber mit Wertungen weitgehend zurück. Vielleicht ist das angemessen. In der Tat ist die Preußische Verfassung eine 109 Vgl. die Literaturverzeichnisse bei Wittreck, Landesverfassungen (Fn. 6), S. 135 ff. sowie 494 ff. – Regelrechte Kommentare zur Preußischen Verfassung haben vorgelegt: Arndt, Verfassung (Fn. 5); C. Bornhak, Die Verfassung des Freistaats Preußen vom 30. November 1920, 1921; Waldecker, Verfassung (Fn. 5); Huber, Verfassung (Fn. 5); Stier-Somlo, Verfassung (Fn. 5); Giese/Volkmann, Verfassung (Fn. 5); Vogels, Verfassung (Fn. 93). – Zu erwähnen sind ferner die Lehrwerke von F. Stier-Somlo, Das Preußische Verfassungsrecht. Auf der Grundlage der Verfassung des Freistaats Preußen systematisch dargestellt, 1922, und J. Hatschek, Das preußische Verfassungsrecht, 1924 (vergleichend schließlich ders., Deutsches und preußisches Staatsrecht, 2 Bde., 1922/23). 110 Vgl. M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, 1999, S. 128 ff. 111 Vgl. zu den ersten Besprechungen – außer denen aus der Feder von Hugo Preuß (sogleich Fn. 115 f.) oben Fn. 63. 112 In diese Richtung statt aller das Votum von O. Meyer, Recht und Wirtschaft 10 (1921), 11 (13: „Die Schöpfer der preußischen Verfassung werden zufrieden sein dürfen, wenn man ihnen später nachsagt, daß sie die großen Gebote ihrer Zeit nicht verkannt haben.“). 113 So [F.] Stier-Somlo, Staats- und Selbstverwaltung 2 (1920/21), 170 (172). 114 Drews, Einleitung (Fn. 5), S. LXXXI. 115 H. Preuß, DJZ 1920, 793 ff. 116 H. Preuß, JöR 10 (1921), 222 ff. 117 H. Preuß, DJZ 1920, 793 (794); ders., JöR 10 (1921), 222 (226 f. u.ö.). 118 Etwa H. Preuß, JöR 10 (1921), 222 (233): „Dagegen sahen Demokratie und Zentrum …“ – was folgt, ist die Paraphrase seiner Rede in der ersten Lesung (oben Fn. 41).
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Arbeitsverfassung ohne jedes Pathos, die nicht einmal den Versuch unternimmt, für sich selbst auf emotionaler Ebene zu werben119. Die Nestwärme des verfassungspatriotischen Lagerfeuers will sie nicht recht aufglimmen lassen. Möglicherweise ist das aber kein so schlechter Duktus für die Verfassung eines Staates, dessen inoffizielles Motto „Mehr Sein als Scheinen“ lautete120.
3. Schluss: Preußen als „Hort der Revolution“? Bekanntlich zählt Preußen unter Otto Braun zu den Ländern der Weimarer Republik, die am längsten wenigstens vergleichsweise stabile demokratische Verhältnisse wahren konnten – und dass der „Preußenschlag“ die Stabilität, die er im Namen führt, weder gewährleisten konnte noch wollte, dürfte mittlerweile unstrittig sein121. Das legt die Frage nahe, ob die Preußische Verfassung Vorkehrungen enthält, die diese überdurchschnittliche Stabilität verursacht oder wenigstens befördert haben. Diese Frage begegnet aus Sicht des Verfassers größter Skepsis. Richtig ist, dass in einer konkreten Konfliktsituation die – demokratisch gesinnte, aber eben nicht mehr demokratisch legitimierte – Regierung dank der an sich eher lückenhaften und daher missglückten Vorschriften der Art. 45 und 59 Abs. 2 PreußVerf. an der Macht bleiben konnte122. Als Vorbild qualifiziert der Vorgang die Preußische Verfassung kaum. Viel grundsätzlicher lehrt jede Beschäftigung mit der Rechtssoziologie im Sinne einer Forschung über die Wirkung des Rechts den Staatsrechtslehrer Demut, was die Fähigkeiten einer Verfassung anbelangt, einer Krise oder in extremis dem Bösen zu trotzen. Die Preußische Verfassung ist mit anderen Worten weder für die lange Amtszeit von Otto Braun noch für den Preußenschlag wirklich verantwortlich. Dabei gab es gerade in der 119 Die Präambel – locus classicus für Narrative, die das Verfassungswerk legitimieren und die Bürger „mitnehmen“ sollen – lautet lapidar: „Das preußische Volk hat sich durch die verfassunggebende Landesversammlung folgende Verfassung gegeben, die hiermit verkündet wird.“ 120 Zu dieser Wendung (wie zu einem ihrer wahrscheinlichen Urheber) vgl. auch den Titel der Schrift von F. v. Boetticher, Schlieffen: Viel leisten, wenig hervortreten – mehr sein als scheinen, 2. Aufl. 1973. 121 Siehe aus der (verfassungs)historischen Literatur K.D. Bracher, Dualismus oder Gleichschaltung: Der Faktor Preußen in der Weimarer Republik, in: ders./M. Funke/H.A. Jacobsen (Hg.), Die Weimarer Republik 1918–1933, 3. Aufl. 1998, S. 535 (540 ff.); Clark, Preußen (Fn. 31), S. 728 ff.; D. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 6. Aufl. 2009, § 38 V 2 (S. 305). 122 Vgl. oben 2.3.
Landesversammlung und Preußische Verfassung von 1920
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Sozialdemokratie in der Landesversammlung Bestrebungen, Preußen angesichts der ersten Bewährungsproben der jungen Republik bewusst zum Bollwerk der neuen Ordnung auszubauen und nach entsprechenden normativen Sets zu fahnden123. Hugo Preuß hat dem mit nachgerade prophetischen Worten eine ebenso denk- wie bedenkenswürdige Absage erteilt124: „Meine Herren, seien Sie nicht zu selbstsicher in dieser Beziehung. Die Dinge können sich ändern und wenden. Das Entscheidende ist, das ganze Deutschland mit demokratischem Geiste zu erfüllen und nicht darauf zu setzen, daß ein Partikularstaat der Träger und Halt dafür sein soll. Die Sozialdemokratie hat sich allzusehr von dem Gedanken leiten lassen: zurzeit haben wir die Macht in der preußischen Zentrale, deshalb wollen wir die preußische Zentrale ungeschwächt erhalten. Meine Herren, das ist die altpreußische konservative Politik mit verändertem Vorzeichen.“ Der Schlusssatz zeigt, wie schwer eine Genealogie des modernen Preußen fällt.
123 Vgl. namentlich den Abg. Heilmann, in: Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 13369 ff. (Plädoyer gegen die „Zerstückelung“ Preußens durch Staatsrat und Provinzialautonomie; ebd., Sp. 13377 auch das Zitat in der Überschrift des Abschnitts). 124 H. Preuß, in: Sitzungsberichte (Fn. 3), Sp. 13380.
VOLKER STALMANN
Der unbekannte Preuß Hugo Preuß als preußischer Landtagsabgeordneter der DDP (1919–1925)
Das Interesse an der Person des Staatsrechtlers und Politikers Hugo Preuß hat in letzter Zeit deutlich zugenommen. Während seine Rolle bei der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung als relativ gut erforscht gelten mag, wissen wir wenig über sein politisches Wirken, insbesondere über seine Abgeordnetentätigkeit in der Preußischen Landesversammlung und im Preußischen Landtag von 1919 bis 1925.
1. Zwischen Reichstag und preußischem Landtag Es überrascht, dass Preuß zwar seit 1895 der Berliner Stadtverordnetenversammlung und später dem preußischen Landesparlament angehörte, aber im Reichstag nicht vertreten war, obgleich er seit dem 15. November 1918 als Staatssekretär des Reichsamtes des Innern für die Ausarbeitung der Reichsverfassung zuständig war und eine führende Rolle in der deutschen Politik spielte. Aber seinen Versuchen, ein Reichstagsmandat zu erlangen, war kein Erfolg beschieden. Preuß war letztlich zu umstritten, seine auf einen dezentralisierten Einheitsstaat abzielenden verfassungspolitischen Neuordnungspläne zu strittig. Die von Preuß intendierte Aufteilung Preußens und die Neugliederung des Reichs nach Einbeziehung Österreichs in 16 „Gebiete“ bot zwar eine Lösung des verfassungsrechtlichen Problems des hegemonialen Föderalismus und des Dualismus von Reich und Preußen.1 Aber in Hugo Preuß’ Partei, der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), stieß dieser radikale Lösungsansatz auf scharfe Kritik, die die Vorlage des Verfassungsentwurfs zu einem „Fall Preuß“ werden ließ.2 So wurde Preuß für die Wahlen zur Nationalversammlung nicht als Kandidat ins Rennen geschickt. Auch später, 1920 und 1924, 1 Vgl. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1798. Bd. 5: Weltkrieg, Revolution und Reichserneuerung 1914–1919, Stuttgart 1978, S. 1178–1181. 2 So der Titel eines Artikels in der Vossischen Zeitung, Nr. 52 vom 29.1.1919: „Der Fall Preuß.“
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wusste man geschickt eine Kandidatur des Staatsrechtlers zum Reichstag zu hintertreiben. Preuß’ Verbitterung über die gegen ihn herrschende Opposition in der Partei war groß, als die Parteispitze sich weigerte, ihm auf der demokratischen Reichsliste für die Reichstagswahlen im Mai 1924 einen vorderen Listenplatz einzuräumen. Er, so teilte Preuß daraufhin dem Parteivorstand mit, könne „bei der Wahlbewegung nur noch unter der Voraussetzung tätig sein“, „dass mir der Parteivorstand nicht bloss einen unbedingt sicheren, sondern auch einen anständigen und mir angemessenen Platz auf der Reichsliste biete. Zunächst hielt man es aber für wichtiger, sechs Vertreter von allerlei Berufsgruppen sicher zu stellen. Dann erhielt ich allerdings in der Stichwahl mit Herrn Rechtsanwalt Frankfurter eine ganze Stimme Mehrheit; worauf ich sofort eine so zustande gekommene Kandidatur dankend ablehnte und die Flöte auf den Tisch legte. Jetzt scheinen nun gewisse Ausgleichs- und Vermittlungsbestrebungen ohne mein Zutun im Gange zu sein, auf deren Erfolglosigkeit ich hoffe. Denn wie die Dinge mal liegen, ist während der bevorstehenden ziellosen Kämpfe der Platz des zürnenden Achill bei den Zelten gar nicht übel.“3 Preuß blieb nichts anderes übrig. Im Reich war er unerwünscht. Selbst gegen seine Kandidatur für die Preußische Landesversammlung im Januar 1919 machte die Parteispitze mobil. Offen distanzierte sie sich von dem Verfassungsentwurf, den Preuß in seiner Eigenschaft als Staatssekretär des Reichsamts des Innern Anfang Januar 1919 vorgelegt hatte. So beschloss der zusammen mit Vertretern der preußischen Parteiorganisation und einigen Spitzenkandidaten tagende Geschäftsführende Ausschuss am 17. Januar 1919, im Aufruf für die Wahlen zur preußischen Landesversammlung „einen Passus aufzunehmen, der sich für die Aufrechterhaltung eines ungeteilten Preußens“ aussprach.4 Wenige Tage später, am 21. Januar, sprach sich der Geschäftsführende Ausschuss erneut „mit allem Nachdruck für die Unteilbarkeit und Unversehrtheit Preußens“ aus und versuchte damit der im Lande herrschenden Stimmung gerecht zu werden. Darüber hinaus forderte er die Berliner Parteiorganisation, die Preuß auf ihre Kandidatenliste gesetzt hatte, dazu auf, sich in gleichem Sinne zu äußern, und Preuß nahezulegen, „aus der dadurch geschaffenen Sachlage als Kandidat seine Konsequenzen zu 3 Hugo Preuß an Konrad Haenisch, Berlin, 27.3.1924, in: BA Berlin, Nachlass Konrad Haenisch, N 2104, Nr. 301, Bl. 12, über die Vorgänge berichtend. 4 Vgl. die Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses gemeinsam mit Vertretern der preußischen Organisation in Groß-Berlin am 17.1.1919, in: Lothar Albertin (Hg.): Linksliberalismus in der Weimarer Republik. Die Führungsgremien der Deutschen Demokratischen Partei und der Deutschen Staatspartei 1918–1933, Düsseldorf 1980, Nr. 11, S. 22 f., hier S. 22.
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ziehen“.5 Der Berliner Bezirksverband gab dann auch wenig später öffentlich bekannt, dass seine „Obmänner“ einen Verzicht Preuß’ auf sein Mandat im Falle seiner Wahl erwarteten.6 Doch Preuß zeigte sich unbeeindruckt. Bei den preußischen Landtagswahlen am 26. Januar 1919 wurde er schließlich gewählt und nahm ungeachtet des innerparteilichen Widerstandes sein Mandat nach der Wahl an.7 Es ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass dieser „Fall Preuß“ und die damit zusammenhängenden innerparteilichen Auseinandersetzungen einer der Gründe für den bei den preußischen Landtagswahlen zu beobachtenden Stimmenrückgang gewesen sein dürften. Hatte die Partei bei den Reichstagswahlen noch 18,5 Prozent erhalten, so fiel sie eine Woche später, am 26. Januar 1919 bei den preußischen Landtagswahlen, auf 16,2 Prozent zurück.8 Wenige Tage nach der preußischen Landtagswahl nahm die „Vossische Zeitung“ resümierend Stellung zum „Fall Preuß“ und bezeichnete es als ein „in der politischen Geschichte wohl beispiellose[s] Verfahren“, „daß ein Vorstand den eigenen Kandidaten mitten in den Wahlvorbereitungen auf das schwerste diskreditiert“. Der Verfasser des Leitartikels glaubte in derartigen Praktiken einen Mangel innerparteilicher Demokratie zu erkennen, wie man ihn von der früheren Fortschrittlichen Volkspartei gekannt hatte. Die Partei täte gut daran, diese grundsätzliche Frage einmal in Ruhe im Rahmen ihres Programms zu klären, als sich das Gesetz des Handelns von der gegnerischen Wahlagitation diktieren zu lassen.9 Die Partei versuchte nun einzulenken. Als der Hauptvorstand und die Reichstagsfraktion am 4. Februar zu einer gemeinschaftlichen Sitzung zusammenkamen und bei dieser Gelegenheit auch den Preußschen Verfassungsentwurf diskutierten, fanden die dem Neuordnungsplan zugrunde liegenden Motive, unbeschadet der auch weiterhin an der Aufteilung Preußens artikulierten Kritik, bei mehreren Teilnehmern Anerkennung.10 Carl Petersen, 5 Vgl. die Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses am 21.1.1919, in: Albertin, Linksliberalismus (wie Anm. 4), Nr. 12, S. 23 f., hier S. 23. 6 Vossische Zeitung, Nr. 44, 24.1.1919: „Die Deutsche Demokratische Partei gegen Staatssekretär Preuß.“ 7 Vgl. Vossische Zeitung, Nr. 52, 29.1.1919: „Der Fall Preuß.“ 8 Vgl. Joachim Stang, Die Deutsche Demokratische Partei in Preußen 1918–1933, Düsseldorf 1994, S. 380; Lothar Albertin, Liberalismus und Demokratie am Anfang der Weimarer Republik, Düsseldorf 1972, S. 283, zum „Fall Preuß“ S. 281–285. 9 Vossische Zeitung, Nr. 52, 29.1.1919: „Der Fall Preuß.“ 10 Vgl. die Sitzung des Hauptvorstandes am 4.2.1919, in: Albertin, Linksliberalismus (wie Anm. 4), Nr. 15, S. 25–38.
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der im Dezember 1919 zum Nachfolger des verstorbenen Friedrich Naumann zum Parteivorsitzenden gewählt werden sollte, sprach im Auftrage seiner Hamburger Organisation offen seine „Missbilligung“ über das provozierende Vorgehen des Geschäftsführenden Ausschusses aus.11
2. Die preußische Landtagsfraktion der DDP – die soziale Zusammensetzung Als Preuß am 7. März 1919 zur konstituierenden Sitzung der Preußenfraktion der DDP kam, zählte die Fraktion nicht weniger als 65 Abgeordnete und war damit die nach SPD und Zentrum drittstärkste Fraktion der Preußischen Landesversammlung.12 Die Fraktion der Landesversammlung war wie auch jene der späteren Landtage in erster Linie ein Vertretungsforum des gehobenen Bildungsbürgertums. Von nicht geringem Einfluss waren die Hochschullehrer, die 1919 mit 7 von 65 Abgeordneten einen Anteil von 10,6 Prozent erreichten. Zu den demokratischen Professoren zählten neben Preuß der Jurist Hans Crüger (Halle), die Theologen Rudolf Otto (Marburg), Martin Rade (Marburg) und Ernst Troeltsch (Berlin) sowie die Mediziner Emil Abderhalden (Halle) und Arthur Schloßmann (Düsseldorf). Den Professorentitel trug auch Robert Friedberg, der erste Fraktionsvorsitzende der preußischen DDP. Die Hochschullehrer verschwanden nach 1921 mit Ausnahme von Preuß aus der verkleinerten Fraktion.13 In konfessioneller Hinsicht präsentierte sich die demokratische Landtagsfraktion als eindeutig protestantische Kraft. So lag der Anteil der Protestanten an der Gesamtheit der demokratischen Abgeordneten zwischen 1919 und 1932 bei 80,6 Prozent, während die Katholiken mit 9,6 Prozent im Mittel nur eine unbedeutende Minderheit stellten. Bemerkenswert ist der relativ hohe Anteil jüdischer Abgeordneter von 8,2 Prozent. Immerhin war die DDP die einzige bürgerliche Fraktion, in der Abgeordnete jüdischen Glaubens vertreten waren. Nur in den Fraktionen von SPD und USPD fanden sich noch jüdische Abgeordnete. Allerdings verlor die DDP in dem Maße, in dem sie zu einer Splitterpartei absank, auch unter den jüdischen 11 Vgl. die Aufzeichnungen Carl Petersens zum 4.2.1919, in: StA Hamburg, NL Carl Petersen, 622-1/80, Nr. L 62, S. 3–11, hier S. 11. Die Sitzung des Hauptvorstandes am 4.2.1919, in: Albertin, Linksliberalismus (wie Anm. 4), Nr. 15, S. 25–38; Albertin, Liberalismus (wie Anm. 8), S. 284. 12 Horst Möller, Parlamentarismus in Preußen 1919–1932, Düsseldorf 1985, S. 601. 13 Vgl. Stang (wie Anm. 8), S. 123 f., 132–135; Volker Stalmann (Hg.), Linksliberalismus in Preußen. Die Sitzungsprotokolle der preußischen Landtagsfraktion der DDP und DStP 1919–1932, 2 Bde., Düsseldorf 2009, hier Bd. 1, S. XIV f.
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Wählern an Attraktivität. Auch das „Panikbündnis“14 mit dem latent antisemitischen Jungdeutschen Orden wirkte in diese Richtung. So gehörte der Fraktion in der dritten Wahlperiode 1928–1932 mit dem Fraktionsvorsitzenden Bernhard Falk nur noch ein jüdisches Mitglied an (was einem Anteil von 4,8 Prozent entsprach).15 Innerhalb der DDP bekleideten jüdische Deutsche oder Deutsche jüdischer Herkunft führende Positionen. So standen zwischen 1920 und 1930 Carl Petersen und Erich Koch-Weser, die beide jüdische Mütter hatten, der Partei als Vorsitzende vor. Liberale jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft waren, wie Georg Gothein, Erich Koch-Weser, Hugo Preuß, Walther Rathenau oder Eugen Schiffer, Reichsminister gewesen. Auch im Reichstag spielten Juden in der DDP eine wichtige und herausgehobene Rolle. So schwankte der jüdische Anteil unter den demokratischen Reichstagsabgeordneten in den dreizehn Jahren der Weimarer Republik zwischen 12 und 25 Prozent, so dass der jüdische Bevölkerungsanteil, der nicht einmal ein Prozent betrug, in der DDP/DStP deutlich überrepräsentiert war.16 Auch die Fraktionsführungen in den parlamentarischen Körperschaften des Reichs und Preußens lagen teilweise in den Händen jüdischer Demokraten oder Demokraten jüdischer Herkunft. So wurde die Reichstagsfraktion lange Jahre von Eugen Schiffer, Carl Petersen und Ludwig Haas angeführt, während die Führung der preußischen Landtagsfraktion von 1928 bis 1930 Bernhard Falk oblag. Auch der erste Vorsitzende der Preußenfraktion, Robert Friedberg, war jüdischer Herkunft, allerdings 1884 zum protestantischen Glauben übergetreten.17 Berührungspunkte zwischen Juden und Liberalen bildeten darüber hinaus der „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, dessen Vorstand Ludwig Haas angehörte, und der „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“, der unter dem Vorsitz Georg Gotheins stand. Enge Verbindungen bestanden auch zur demokratischen Presse, die sich in der Hand namhafter jüdischer Verleger befand. Die Verlage Mosse und Ullstein 14 Jürgen C. Hess, Die Desintegration des Liberalismus in der Weimarer Republik, in: Hans Vorländer (Hg.), Verfall oder Renaissance des Liberalismus? Beiträge zum deutschen und internationalen Liberalismus, München 1987, S. 91–116, hier S. 101. 15 Vgl. Stang (wie Anm. 8), S. 135 f.; Stalmann, Linksliberalismus (wie Anm. 13), Bd. 1, S. XVI f.; Bruce B. Frye, The German Democratic Party and the „Jewish problem“ in the Weimar Republic, in: Leo Baeck Institute, Year Book XXI (1976), S. 143–172, hier S. 149. 16 Vgl. Frye, „Jewish problem“ (wie Anm. 15), hier S. 149. 17 Vgl. ebd.; Philip Bernard Wiener, Die Parteien der Mitte, in: Werner E. Mosse (Hg.): Entscheidungsjahr 1932. Zur Judenfrage in der Endphase der Weimarer Republik, Tübingen 1965, S. 289–321, hier S. 289–306.
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in Berlin sowie der Simons-Sonnemann-Zeitungskonzern in Frankfurt a.M. vertraten mit ihren Flaggschiffen, dem „Berliner Tageblatt“, der „Vossischen Zeitung“ und der „Frankfurter Zeitung“, weitgehend die politische Linie der Partei. Es mag somit nicht überraschen, dass zumal anfangs Deutsche jüdischen Glaubens bevorzugt diese Partei wählten. Dadurch gerieten die Demokraten allerdings auch in das agitatorische Schussfeld der Antisemiten, die die Partei als „Judenpartei“ diffamierten.18 Unter den damals an Heftigkeit gewinnenden antisemitischen Ausfällen und Beschimpfungen litt Preuß wie viele seiner Glaubensgenossen. Vergeblich bemühte er sich, seine Parteifreunde für ein gesetzgeberisches Vorgehen in dieser Frage zu gewinnen. Im August 1919 musste der Vorsitzende der Reichstagsfraktion, Eugen Schiffer, Preuß mitteilen, dass der Fraktionsvorstand zu dem „einstimmigen Ergebnis gelangt“ sei, „dass sich ein Weg zur parlamentarischen Behandlung der Angelegenheit kaum mit Aussicht auf Erfolg beschreiten lässt. Es fehlt an konkretem Material, um etwa der Regierung den Vorwurf unangebrachter Duldung oder gar der Begünstigung machen zu können. Soweit sich die Agitation aber vollzieht, ohne die Bahn der Gesetzlichkeit zu verlassen, lässt sie sich nur im freien Wettbewerb mit geistigen Waffen bekämpfen. Ich wüsste wirklich nicht, was etwa eine kleine Anfrage nützen könnte; und zu einer Interpellation reicht es noch weniger.“19 Auch der von der antisemitischen Hetze ebenfalls betroffene, spätere Reichsaußenminister Walther Rathenau meinte damals, dass es „wenig Sinn“ habe, „ein paar harmlose Kolporteure auf der Strasse zu packen, zu verurteilen und sie von der Strasse zu verbannen. … Auf diese Weise würde wohl nichts genützt werden, aber von ausserordentlicher und einschneidender Bedeutung würde es sein, wenn es gelänge festzustellen, woher der starke Geldstrom kommt, der die Kassen der Antisemiten füllt. … Würde es gelingen, diese Machenschaften aufzudecken, so könnte das von sehr
18 Vgl. Frye, „Jewish problem“ (wie Anm. 15), hier S. 145 f. und passim; Ernest Hamburger/Peter Pulzer, Jews as Voters in the Weimar Republic, in: Leo Baeck Institute, Year Book XXX (1985), S. 3–66, bes. S. 9–14. Auch nicht-jüdische Demokraten wie Max Weber beklagten sich darüber, dass jüdische Parteimitglieder an herausragende Stellen gesetzt und damit zur Zielscheibe antisemitischer Hetze würden. Vgl. das Schreiben von Max Weber an Carl Petersen, 14.4.1920, in: StA Hamburg, NL Carl Petersen, 622– 1/80, Nr. L 53. Auch abgedruckt in Bruce B. Frye, A Letter from Max Weber, in: The Journal of Modern History, 39/2 (1967), S. 119–125. 19 Eugen Schiffer an Hugo Preuß, Weimar, 8.8.1919, in: BA Berlin, NL Hugo Preuß, N 2230, Nr. 1, Bl. 122.
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grossem politischen Nutzen sein. … Ich glaube, es könnte ein schwerer Schlag geführt werden, wenn es gelänge, diese Elemente an den Pranger zu stellen.“20
Diese sträfliche Unterschätzung der antisemitischen Agitation sollte sich später bitter rächen. Letztlich sollte Preuß recht behalten, wenn er meinte, dass „die deutsche Republik durch die Schwäche und Halbheit ihrer Verteidiger viel ärger geschädigt worden [sei] als durch die Kraft ihrer Angreifer“.21 In seiner Trauerrede für Hugo Preuß brachte Paul Nathan das damalige Problem auf den Punkt. „Ein deutscher Jude sein heisst im allgemeinen als ein minderwertiges Subjekt – wenigstens von gewissen Seiten der deutschen Bevölkerung – betrachtet zu werden, und dieser Mann, der Deutschland die Grundlagen seiner politischen Fortentwicklung geschaffen hat, er hat auch diese Empfindung der Zurückgesetztheit, des Zurückgedrängtwerdens in seinem Leben oft und tief gespürt, aber er hat sie immer überwunden oder zu überwinden versucht.“22
3. Die Arbeit in der Fraktion Die demokratische Fraktion stellte eine Ansammlung selbstbewusster Individualisten dar, einer geistigen Elite zumal, deren Einbindung die Fraktionsführung vor eine schwierige Aufgabe stellen musste. Ein Hauptproblem war die sinkende Bereitschaft zu gemeinsamer Arbeit in der Fraktion und im Parlament. So nahm die Sitzungsintensität der Fraktion mit den Jahren signifikant ab. Kamen die demokratischen Abgeordneten 1919 noch zu 113 Sitzungen zusammen, so fanden 1931 nur mehr 41 Fraktionssitzungen statt.23 Auch ließ die Beteiligung der Abgeordneten an den Sitzungen der Fraktion zu wünschen übrig. Bei den fünf Sitzungen, für die in den im Bundesarchiv Koblenz überlieferten Sitzungsprotokollen Anwesenheitslisten vorliegen oder anhand der fraktionsinternen Abstimmungen Aussagen über die Zahl der anwesenden 20 Walther Rathenau an Hugo Preuß, 13.8.1919, in: BA Berlin, NL Hugo Preuß, N 2230, Nr. 1, Bl. 143–147, hier Bl. 146 f. 21 Hugo Preuß an Konrad Haenisch, Berlin, 27.3.1924, in: BA Berlin, NL Konrad Haenisch, N 2104, Nr. 301, Bl. 12. 22 Leichenfeier für Hugo Preuß. Rede von Dr. Paul Nathan, im Krematorium Gerichtsstrasse am 13.10.1925 gehalten, in: BA Berlin, NL Paul Nathan, N 2207, Nr. 13, Bl. 18– 23, hier Bl. 21. 23 Vgl. Stalmann, Linksliberalismus (wie Anm. 13), Bd. 1, Nr. 1–115, S. 3–223, sowie Bd. 2, Nr. 784–824, S. 1158–1206. Von den Sitzungen des Fraktionsvorstands im Jahre 1919 sind zwei Protokolle überliefert. Vgl. ebd., Nr. 21, S. 54, und Nr. 25, S. 59.
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Fraktionsmitglieder gemacht werden können, schwankte der Anteil der Teilnehmer an der Gesamtzahl der Mitglieder zwischen 43,9 und 84,8 Prozent.24 Die schwache Sitzungsbeteiligung wurde in den Fraktionssitzungen wiederholt moniert. Bereits im Mai 1919 beklagte sich Arthur Schloßmann über den „üblichen schwachen Besuch der Fraktion“, der den Einfluss der Demokraten im Parlament schwächen würde. Seine Forderung nach „Auslegen einer Anwesendenliste in den Fraktionssitzungen, um auf besseren Besuch hinzuwirken“, stieß allerdings bei seinen Kollegen auf wenig Sympathie. Die Führung von Anwesenheitslisten unterblieb.25 Ungeachtet der Schwierigkeiten und Probleme, die die Fraktionsführung hatte, die unabhängigen und selbstbewussten Abgeordneten für die parlamentarischen Aufgaben der Partei zu interessieren, überrascht es doch, dass die Fraktion im Parlament relativ geschlossen aufzutreten vermochte.26 Das relativ hohe Maß an Geschlossenheit zeigt deutlich, wie groß die Einsicht der Abgeordneten in die Notwendigkeit eines einheitlichen Auftretens und letztlich auch das Durchsetzungsvermögen der Fraktionsführung waren. Zum ersten Fraktionsvorsitzenden wurde 1919 der 68-jährige Robert Friedberg gewählt, der aufgrund seiner parlamentarischen und gouvernementalen Erfahrungen eine nahezu unumstrittene Stellung in der Fraktion genoss und einen Fluchtpunkt der Orientierung und der Integration bildete. Seine Erfahrung als langjähriger Parlamentarier und letzter Parteivorsitzender und preußischer Fraktionsführer der Nationalliberalen Partei sowie als ehemaliger Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums (November 1917 bis November 1918) prädestinierten ihn zum Führer der preußischen DDP.27 24 Vgl. die Fraktionssitzungen vom 7.3.1919, 8.3.1919, 12.3.1919, 13.3.1919 und 5.9.1931, in: Stalmann, Linksliberalismus (wie Anm. 13), Bd. 1, Nr. 1, S. 3–6, hier S. 3, Nr. 2, S. 7–11, hier S. 7, Nr. 3, S. 11–13, hier S. 11, Nr. 4, S. 13–15, hier S. 13, Bd. 2, Nr. 809, S. 1181 f. 25 Vgl. die Fraktionssitzung vom 23.5.1919, in: Stalmann, Linksliberalismus (wie Anm. 13), Bd. 1, Nr. 32, S. 71–73, Zitate S. 71 f. An dem schwachen Besuch der Fraktionszusammenkünfte änderte sich wenig. So monierte der Fraktionsvorsitzende Bernhard Falk noch im Februar 1931, dass „einige Fraktionsmitglieder es derartig an Interesse für die Arbeit fehlen lassen“, dass die „Durchführung“ der Fraktionssitzungen „ernstlich gefährdet“ sei. Vgl. die Fraktionssitzung vom 25.2.1931, in: ebd., Bd. 2, Nr. 788, S. 1160–1162, hier S. 1160. 26 Vgl. Stang (wie Anm. 8), S. 142–175. 27 Vgl. Werner Stephan, Aufstieg und Verfall des Linksliberalismus 1918–1933. Geschichte der Deutschen Demokratischen Partei, Göttingen 1973, S. 26, ferner auch S. 126. Zu Friedbergs Zeit als nationalliberaler Fraktions- und Parteivorsitzender vgl. auch Hartwig Thieme, Nationaler Liberalismus in der Krise: die nationalliberale Fraktion des Preußischen Abgeordnetenhauses 1914–1918, Boppard a. Rh. 1963.
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Sein früher Tod im Juni 1920 war, wie der Friedrich Naumanns im August 1919, für die Partei ein schwerer Schlag, da sie mit ihm eine wichtige Führungspersönlichkeit verlor, die „Hochachtung und Autorität weit über die eigenen Reihen hinaus“ besaß.28 Die nachfolgenden Fraktionsvorsitzenden waren von anderem Format, verfügten zumindest nicht in ähnlichem Maße wie Friedberg über politische Erfahrung und Autorität. Dies gilt für Friedbergs unmittelbaren Nachfolger, Alexander Dominicus, seit 1911 Oberbürgermeister von Schöneberg, der der Fraktion nur wenige Monate von Juli 1920 bis Mai 1921 vorstand, da er im April 1921 als preußischer Innenminister ins Minderheitskabinett Stegerwald wechseln sollte.29 Dies gilt aber auch für Rudolf Oeser, preußischer Minister für öffentliche Arbeiten von 1919 bis 1921, der nur kurze Zeit bis zu seiner Ernennung zum Reichsinnenminister im November 1922 an der Spitze der Fraktion stand.30 Sein Amt übernahm fortan Walther Schreiber31, der spätere Regierende Bürgermeister West-Berlins (1953–1955), der mit seiner Ernennung zum preußischen Handelsminister im Januar 1925 den Stab an den Kölner Rechtsanwalt Bernhard Falk weitergab. Falk, der offiziell erst 1928 zum Fraktionsvorsitzenden bestimmt wurde, sollte dieses Amt bis 1932 innehaben.32
4. Die Regierungsbildungen Die Bildung der Weimarer Koalition nach den preußischen Landtagswahlen vom 26. Januar 1919 war von einer gewissen Folgerichtigkeit. Da die Sozialdemokraten die absolute Mehrheit verfehlt hatten, lag eine Zusammenar28 Stephan, Aufstieg (Anm. 27), S. 495. Vgl. auch ebd., S. 166. 29 Vgl. Werner Stephan, Acht Jahrzehnte erlebtes Deutschland. Ein Liberaler in vier Epochen, Düsseldorf 1983, S. 136. Zu Dominicus vgl. auch Albert Grzesinski, Im Kampf um die deutsche Republik. Erinnerungen eines Sozialdemokraten. Hg. Eberhard Kolb, München 2001, S. 180. Zu Dominicus vgl. Paul Müller, Alexander Dominicus. Ein Lebensbild, Berlin 1957; Karl Brossmer, Alexander Dominicus (1873–1945). Oberbürgermeister, Vorkämpfer der Leibesübungen, Staatsminister, Karlsruhe 1952. 30 Vgl. auch Stephan, Acht Jahrzehnte (wie Anm. 29), S. 111 f.; vgl. auch Der Demokrat 12, 17.6.1926, S. 248; vgl. auch Hellmuth St. Seidenfus, Eisenbahnwesen, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte. Hg. Kurt G. A. Jeserich, Bd. 4, Stuttgart 1985, S. 273–296. 31 Zu Schreiber vgl. Felix Escher, Walther Schreiber, in: Stadtoberhäupter. Biographien Berliner Bürgermeister im 19. und 20. Jahrhundert, Hg. Wolfgang Ribbe, Berlin 1992, S. 443–463. 32 Vgl. Stalmann, Linksliberalismus (wie Anm. 13), Bd. 1, S. XXXV–XL. Die vom Verfasser bearbeiteten Lebenserinnerungen Bernhard Falks werden voraussichtlich 2012 erscheinen.
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beit jener Parteien nahe, die bereits seit 1917 im Interfraktionellen Ausschuss kooperiert hatten und nach den Wahlen zur Nationalversammlung auch im Reich die Regierung stellten. Die Weimarer Koalition aus SPD, Zentrum und Demokraten sollte mit Ausnahme der beiden kurzen, von Zentrum und DDP unterstützten Minderheitskabinette der Jahre 1921 und 1925 im Grunde bis 1932 Bestand haben und konnte zwischen 1921 und 1924 sogar um die DVP zur großen Koalition erweitert werden.33 Preuß hatte sich seit 1919 für die Weimarer Koalition und die Zusammenarbeit mit der SPD stark gemacht. Auch als die preußischen Landtagswahlen vom 20. Februar 1921 den Regierungsparteien herbe Verluste brachten, hielt er an der Koalition fest. SPD, Zentrum und DDP verfügten zwar mit 224 der 428 Mandate über eine absolute Mehrheit, aber Zentrum und DDP waren aus Sorge vor einer weiteren Wählerabwanderung bemüht, den Wahlgewinner DVP in die Verantwortung zu nehmen und damit auch den rechten Flügel der Koalition gegenüber der SPD zu stärken. Die Bemühungen um Einbindung der DVP führten kurzzeitig zur Bildung eines Minderheitskabinetts aus Zentrum und DDP unter dem Zentrumspolitiker Adam Stegerwald. Erst im November 1921 konnte die Große Koalition unter Otto Braun (SPD) umgesetzt werden.34 Preuß hatte damals wiederholt die Haltung der DDP-Führung kritisiert und beklagt, dass die Demokraten anstatt „mit Freude eine starke demokratische Politik zu betreiben, dauernd auf [den] Eintritt der DVP hinwirken“ würden und die Politik der demokratischen Fraktion letztlich allein von der Taktik bestimmt sei.35 Zugleich hatte er entschieden vor der Etablierung einer Rechtsregierung in Preußen gewarnt, da sie zu einer Festigung der Reaktion führen würde. Auch einer Minderheitsregierung mit Zentrum und DVP konnte er nichts abgewinnen, da diese, wie er im Parteiausschuss am 12. März 1921 deutlich zu machen versuchte, rasch durch die SPD gestürzt werden und letztlich nur zur Bildung einer Bürgerblockregierung führen würde. Deshalb erschien ihm die Fortsetzung der Weimarer Koalition als die einzig sinnvolle und plausibelste Lösung.36 Die Bildung eines Bürgerblocks lehnte er auch 33 Vgl. Möller, Parlamentarismus (wie Anm. 12), S. 324–393; Stang (wie Anm. 8), S. 206–327. 34 Vgl. auch die Tagebucheintragungen von Alexander Dominicus, des Innenministers im Minderheitskabinett Stegerwald, zum „Schlussakt der Ministerherrlichkeit“, in: Landesarchiv Berlin, NL Alexander Dominicus, E. Rep. 200-41, Nr. 26, S. 92–96. 35 In der Sitzung der preußischen Landtagsfraktion der DDP vom 1.6.1921, in: Stalmann, Linksliberalismus (wie Anm. 13), Bd. 1, Nr. 245, S. 453–458, hier S. 458. 36 In der Sitzung des Parteiausschusses vom 12.3.1921, in: Albertin, Linksliberalismus (wie Anm. 4), Nr. 75 a, S. 166–171, hier S. 171. Vgl. auch die Vorstandssitzung vom 13.6.1921, in: ebd., Nr. 81, S. 183–185, hier S. 184 f. Angesichts der erheblichen Schwie-
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im Reich ab. Die im Juli 1922 im Reichstag gebildete „Arbeitsgemeinschaft der verfassungstreuen Mitte“ aus Zentrum, DVP und DDP stieß bei ihm denn auch auf wenig Gegenliebe.37 Eine bereits damals diskutierte Fusion der beiden liberalen Parteien lehnte er entschieden ab.38 Eine Fortsetzung der großen Koalition nach den preußischen Landtagswahlen vom 7. Dezember 1924 gelang nicht. Denn die DVP, die bei den Wahlen deutliche Stimmenverluste zu verzeichnen hatte, scherte aus der Regierung aus und arbeitete fortan auf eine Rechtsregierung unter Einschluss der DNVP hin. Formell begründete sie den Rücktritt ihrer Minister mit Verweis auf Artikel 45 der preußischen Verfassung, nach der die Neuwahl des Landtags auch eine Neuwahl des Ministerpräsidenten erforderlich machen würde.39 Der Rechtsschwenk der DVP stieß in der demokratischen Fraktion auf Unverständnis und Kritik. Preuß wies die Argumentation der DVP entschieden zurück und bestritt die verfassungspolitische Notwendigkeit eines besonderen Vertrauensvotums.40 Es sei doch „etwas peinlich“, so führte er im Landtag aus, „einer Politik das Mißtrauen zu erklären, die man drei Jahre lang mitgemacht“ habe „und „zwar deshalb das Mißtrauen zu erklären, weil sie fortgesetzt werden soll“. Der von der DVP angestrebte Sturz der Regierung sei letztlich das „Schlachtopfer der neuen reaktionären Verbrüderung“ von DVP und DNVP. „Ich fühle mich“, so Preuß, „ständig im Kampfe gegen die rigkeiten bei der Koalitionsbildung glaubte er zwischenzeitlich auch ein „volles Fiasko des Parlamentarismus“ erkennen zu können. So in der Sitzung der preußischen Landtagsfraktion der DDP vom 8.4.1921, in: Stalmann, Linksliberalismus (wie Anm. 13), Bd. 1, Nr. 225, S. 413–416, hier S. 416. Vgl. auch die Fraktionssitzungen vom 8.3.1921, in: ebd., Nr. 218, S. 400–402, hier S. 401; vom 6.4.1921, in: ebd., Nr. 223, S. 411 f., hier S. 411; vom 14.4.1921, in: ebd., Nr. 228, S. 421–423, hier S. 421; vom 18.4.1921, in: ebd., Nr. 231, S. 426–428, hier S. 428; vom 19.4.1921, in: ebd., Nr. 232, S. 429 f., hier S. 430; vom 30.9.1921, in: ebd., Nr. 266, S. 497 f., hier S. 497; vom 19.10.1921, in: ebd., Nr. 273, S. 506–508, hier S. 508; vom 3.11.1921, in: ebd., Nr. 277, S. 512. 37 Vgl. die Vorstandssitzung vom 19.7.1922, in: Albertin, Linksliberalismus (wie Anm. 4), Nr. 97, S. 268–273, hier S. 271; sowie die Vorstandssitzung vom 27.9.1922, in: ebd., Nr. 98, S. 273 f., hier S. 274. 38 Vgl. die Vorstandssitzung vom 11.11.1923, in: ebd., Nr. 110, S. 302 f., hier S. 303. 39 Artikel 45 der Preußischen Verfassung von 1920 lautete: „Der Landtag wählt ohne Aussprache den Ministerpräsidenten. Der Ministerpräsident ernennt die übrigen Staatsminister.“ Die Preußische Verfassung. Erläutert von Alois Vogels, Berlin 21927, S. 116 f. Ferner Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung. Eine Biographie, Frankfurt a.M. 1977, S. 464 f.; Möller, Parlamentarismus (wie Anm. 12), S. 356 f., 601. 40 In der Fraktionssitzung vom 5.1.1925, in: Stalmann, Linksliberalismus (wie Anm. 13), Bd. 2, Nr. 448, S. 764 f., hier S. 764.
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Rechte; aber etwas erkenne ich mit Bewunderung und nicht frei von Neid an. Nicht Ihren Verstand (Heiterkeit), nicht Ihre Gesinnung, aber die zähe Kraft Ihres Willens, und die bedeutet in der Politik ungeheuer viel.“ „Gelingt es uns, hier mit Zähigkeit durchzuhalten, gelingt es uns, eine Rechtsregierung in Preußen unmöglich zu machen, dann wird auch der Spuk“ der von DVP und DNVP angestrebten „reaktionären Reichsregierung sehr bald verflogen sein.“41 Nachdem Anfang Februar 1925 die Regierung Braun zurückgetreten war und einem Minderheitskabinett aus Zentrum und DDP unter dem Zentrumspolitiker Wilhelm Marx Platz gemacht hatte, wurden kurzzeitig verschiedene politische Optionen durchgespielt, so die einer Beamtenregierung oder einer „Volksgemeinschaft“ von SPD bis zur DNVP. Gegen derartige Spielereien machte Preuß rasch Front und warnte vor einer „unpolitische[n] Handlungsweise“.42 Diese Regierungsoptionen seien, so Preuß, „Unsinn“. Man täte vielmehr gut daran, an der Weimarer Koalition unter Braun festzuhalten.43 Braun wurde schließlich auch am 3. April 1925 wieder zum Ministerpräsidenten gewählt. Obwohl den Verhandlungen über eine Verbreiterung der Koalition kein Erfolg beschieden war, konnte sich die Weimarer Koalition unter Braun bis zum Ende der Legislaturperiode behaupten. Da Braun die Minister des Kabinetts Marx übernahm, war die DDP neben dem der Partei nahestehenden Kultusminister Becker mit Finanzminister Höpker Aschoff und Handelsminister Schreiber im Kabinett vertreten und verfügte somit auf der Regierungsebene über einen ihren Mandatsanteil von 6 Prozent (Stimmenanteil 5,9 Prozent) weit übersteigenden Einfluss.44 Die Furcht der oppositionellen Parteien vor Neuwahlen, aber auch die beständig wiederholte Zusicherung, auf eine Verbreiterung der Regierung hinarbeiten zu wollen, half der Regierung über die Runden.45 Preuß hatte sich in all den Jahren für eine Fortsetzung der Weimarer Koalition ausgesprochen. Die auf eine Rechtserweiterung der Koalition abzielenden Bestrebungen des rechten Flügels der DDP verfolgte er deshalb mit wenig Sympathie, obwohl er in der Vergangenheit sich wiederholt für eine 41 Preuß in der 7. Sitzung am 21.1.1925, in: SBpLT 1925/28, Bd. 1, Sp. 299–308, hier Sp. 299 und 308. Entscheidend war Preuß und dem von ihm repräsentierten linken Flügel der Partei, die „Reaktion in Preußen nicht ans Ruder kommen zu lassen.“ So Preuß in der Fraktionssitzung vom 3.4.1925, in: Stalmann, Linksliberalismus (wie Anm. 13), Bd. 2, Nr. 478, S. 798–801, hier S. 800. 42 So in der Fraktionssitzung vom 2.4.1925, in: ebd., Nr. 477, S. 797 f., hier S. 798. 43 In der Fraktionssitzung vom 8.5.1925, in: ebd., Nr. 482, S. 804 f., hier S. 804. 44 Zum Kabinett Braun vgl. auch Schulze, Braun (wie Anm. 39), S. 477–479. 45 Vgl. auch Otto Braun, Von Weimar zu Hitler, Hildesheim 31979, S. 174–176.
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engere Zusammenarbeit der beiden liberalen Parteien stark gemacht und die liberalen Bruderkämpfe heftig beklagt hatte. „Ich empfinde“, so Preuß im Juli 1912 gegenüber Martin Rade, „wahrlich nichts von Rachegefühlen, vielmehr wehmütige Resignation bei dem alten Verhängniß unseres Liberalismus, seine Hauptkraft immer wieder im Brudermord betätigen zu müssen.“46 Aber Preuß erkannte nach 1918 auch die deutlich zutage tretenden Differenzen zwischen beiden Parteien und letztlich die Gefahren einer rechtsgerichteten Regierung für Preußen und das Reich. Seine Aufgabe sah er deshalb darin, die Grundlage der Weimarer Republik, die in der Zusammenarbeit zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft bestand, zu stärken und zu verteidigen.
5. Die preußische Landespolitik Die DDP spielte in der preußischen Landespolitik eine zentrale Rolle, da sie von 1919 bis 1932 in sämtlichen preußischen Regierungen vertreten war und dadurch einen bedeutenden Einfluss im Gesetzgebungsprozess des größten deutschen Landes ausüben konnte. Sie stellte mit Otto Fischbeck (1918–1921) und Walther Schreiber (1925–1933) den Handelsminister, mit Rudolf Oeser den Minister für öffentliche Arbeiten (1919–1921), mit Alexander Dominicus den Innenminister (1921), mit Hugo Wendorff den Landwirtschaftsminister (1925–1928) und mit Höpker Aschoff den Finanzminister (1925–1931). Auch stand ihr der parteilose Kultusminister Carl Heinrich Becker (1921, 1925– 1930) nahe. Damit unterlagen wichtige Politikfelder, die Verfassungsgebung, die Frage der Verwaltungsreform, die Bildungs- und Kirchenpolitik wie auch die Finanz- und Wirtschaftspolitik, dem Gestaltungswillen der Partei. Als Staatsrechtler und Hochschullehrer empfahl sich Preuß der Fraktion für verfassungs- und verwaltungsrechtliche sowie hochschulpolitische Themenfelder. Es mag denn auch nicht verwundern, dass er bei der Beratung dieser Fragen mit der Vertretung der Fraktion im Parlament beauftragt wurde. Besonders nahm sich Preuß dabei dem Problem der Verwaltungsreform und der Beamtenpolitik an. Die Personalpolitik und die ihr zugrunde liegende Forderung nach Demokratisierung des Verwaltungsapparats spielten auch in seinen Reden als hochschulpolitischer Sprecher der Fraktion eine herausragende Rolle. Die beiden Themenkomplexe, die Verwaltungsreform und die Personalpolitik, sollen deshalb im Folgenden kurz erläutert werden.
46 Preuß an Martin Rade, Wannsee, 28.7.1912, in: Universitätsbibliothek Marburg, NL Martin Rade, Ms. 839. Hugo Preuß.
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6. Die Verwaltungsreform Ein dringendes Anliegen der preußischen Landespolitik stellte die Reform der preußischen Verwaltung dar. Es ging um die Demokratisierung, Vereinheitlichung und Modernisierung der überkommenen Verwaltungsstrukturen, d.h. um die Reform der Städte- und Gemeindeordnung und eine Neugliederung der provinzialen Verwaltung. Die Vielzahl der in Preußen existierenden Städteordnungen, deren wichtigsten die ostelbische Magistratsverfassung und die rheinische Bürgermeisterverfassung waren, sowie die zahlreichen, regional voneinander abweichenden Landgemeindeordnungen legten die Einführung einheitlicher Strukturen nahe. Ungeachtet der verschiedenen Reformanläufe, die in der Folgezeit unternommen wurden, sollten während der Weimarer Republik nur partielle Lösungen, die die Demokratisierung und Vereinfachung einzelner Verwaltungsbereiche betrafen, ihre Umsetzung finden. An Lösungsvorschlägen hatte es nicht gefehlt. Bereits der letzte königlich-preußische Innenminister Wilhelm (Bill) Drews hatte in seiner Funktion als Preußischer Staatskommissar für die Vorbereitung der Verwaltungsreform entsprechende Entwürfe vorgelegt, die sich für den Ausbau der lokalen und regionalen Selbstverwaltung und die Abschaffung der behördlichen Mittelinstanzen, der Regierungspräsidien, aussprachen. Da sie dem Staatsministerium jedoch zu radikal erschienen, verschwanden sie bald wieder in der Schublade.47 Eine erste wichtige Maßnahme stellte das im Juli 1919 verabschiedete Gesetz zur vorläufigen Regelung verschiedener Punkte des Gemeindeverfassungsrechts dar. Durch das Gesetz wurden das kommunale Wahlrecht und die Zusammensetzung der Magistrate demokratisiert und den gewandelten Verhältnissen angepasst, darüber hinaus Bestimmungen über die Neuwahl der Amtsvorsteher, Deputationen und Kommissionen in den Kreisen und Gemeinden erlassen.48 Die preußische Verfassung vom November 1920 sorgte dafür, dass das Thema weiter auf der Tagesordnung blieb. Denn in ihren Artikeln 70 bis 75 stellte sie eine umfassende Neuregelung der kommunalen und regi47 Zu Drews vgl. Enno Eimers, Das Verhältnis von Preußen und Reich in den ersten Jahren der Weimarer Republik (1918–1923), Berlin 1969, S. 119–121; Gerhard Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur: Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik. Bd. 1: Die Periode der Konsolidierung und der Revision des Bismarckschen Reichsaufbaus 1919–1930, Berlin 21987, S. 257–262; Heinz Rudolf Fraenkel, Der gegenwärtige Stand der preußischen Verwaltungsreform, Diss. jur., Breslau 1930, S. 21 f. 48 Vgl. Möller, Parlamentarismus (wie Anm. 12), S. 475 f.
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onalen Selbstverwaltung in Aussicht.49 Doch die Reform ließ auf sich warten. Erst im März 1922 legte die Regierung dem Landtag zwei Gesetzentwürfe über eine Preußische Städteordnung und eine Landgemeindeordnung vor, die mit der Neuregelung der lokalen Selbstverwaltung zwar einige Aspekte der geforderten Verwaltungsreform aufgriff, aber zahlreiche Fragen, wie die der regionalen Selbstverwaltung oder der behördlichen Mittelinstanzen, ausklammerte und damit keine einheitliche Lösung darstellte. Die Regierungsvorlagen zielten auf eine Vereinheitlichung der kommunalen Verfassungsbestimmungen, die Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung, die Auflösung der Gutsbezirke und die Bildung leistungsfähiger Landbürgermeistereien durch die Zusammenlegung mehrerer leistungsschwacher Gemeinden.50 Preuß missfiel diese Vorgehensweise. Der Landtag, so forderte er in einer Fraktionssitzung im Oktober 1922, „solle den Versuch machen, eine Reform im Ganzen zu machen. Sonst würde Flickwerk entstehen. Staats- und Selbstverwaltung müßten zusammen geregelt werden.“ Preuß konnte schließlich die Fraktion von der Notwendigkeit einer einheitlichen Verwaltungsreform überzeugen.51 Wenn „der Druck der augenblicklichen Lage, der äußeren und inneren Verhältnisse“, so führte Preuß wenige Tage nach dem Einmarsch der Franzosen und Belgier in das Ruhrgebiet, im Januar 1923, im Landtag aus, „es nicht gestattet, an das große Werk der preußischen Verwaltungsreform als an ein einheitliches, in sich geschlossenes Werk heranzugehen, dann ist es unendlich viel besser, das ganze Werk zu verschieben, als seiner innerlich notwendigen Entwicklung zu präjudizieren, indem man hier mit einer Gesetzgebung vorgeht, die notwendig nur Teilund Stückwerk sein kann, und die doch in manchen ihrer einzelnen Bestimmungen dem Geiste, in dem das ganze Reformwerk nachher zu gestalten ist, präjudizieren würde.“ Da man bei der Regelung der Gemeindeordnungen den „landschaftlichen Besonderheiten Spielraum lassen“ sollte, sei es zudem besser, die Autonomiefrage der Provinzen mit diesem Punkt in Zusammenhang zu bringen. Die Frage der Städte- und Landgemeindeordnungen sei letztlich eng mit der der Kreis- und Provinzialordnungen verbunden. „Wir wollen alle“, so Preuß, „unser Bemühen darauf richten, daß mög49 Vgl. Abschnitt VIII der Preußischen Verfassung von 1920 über die Selbstverwaltung. Vgl. Die Preußische Verfassung (wie Anm. 39), S. 174–182. 50 Vgl. SBpLT 1921/24, Anlagen, Bd. 7, Nr. 4040, S. 4732–4781; Nr. 4041, S. 4782– 4812, sowie die Übersicht über die kommunale Verwaltungsreform in Preußen, in: ebd., Nr. 4042, S. 4813–4822. 51 Preuß in der Fraktionssitzung vom 19.10.1922, in: Stalmann, Linksliberalismus (wie Anm. 13), Bd. 1, Nr. 336, S. 600 f., hier S. 600, H.i.O. Vgl. auch die Fraktionssitzung vom 6.7.1921, in: ebd., Nr. 256, S. 476–478, hier S. 478.
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lichst ein einheitliches ganzes Verwaltungsreformwerk zustande kommt und daß namentlich nicht unter den Nöten und Ängsten des Tages in diese Gemeindeordnungen Bestimmungen hineinkommen, die den demokratischen Gesichtspunkten und der Natur dieses inneren Aufbaues nicht entsprechen.“
An Stelle einer Teilreform sollte zu einem späteren Zeitpunkt eine einheitliche Verwaltungsreform, die neben einer Reform der Städte- und Landgemeindeordnung auch eine Neuordnung der Kreis- und Provinzialordnung und eine Neugliederung der staatlichen Verwaltungsorganisation umfassen sollte, durchgeführt werden.52 Die Beratungen des Landtags im Januar 1923 zeigten deutlich, dass selbst für eine Teilreform keine Mehrheit im Parlament vorhanden war. Die Arbeiten des mit der Beratung der Regierungsvorlagen betrauten 22. Landtagsausschusses begleitete die Fraktion in der Folgezeit sehr kritisch. Wiederholt wurde die Notwendigkeit der Vorwegnahme einer umfassenden Verwaltungsreform betont.53 Zu einer zweiten Lesung sollte es in der laufenden Legislaturperiode nicht mehr kommen. Das Thema blieb jedoch auch nach den Landtagswahlen auf der Tagesordnung. Dafür sorgte das Zentrum, das mit entsprechenden Uranträgen eine Reform der Städte- und Landgemeindeordnung im Parlament erneut zur Diskussion stellte.54 Die Anträge wurden im Mai 1925 in erster Lesung beraten. Bei Preuß stieß die Initiative des Zentrums jedoch auf Ablehnung: Eine „im Zusammenhang stehende, ineinander greifende und wirklich fruchtbare Verwaltungsreform“ könne „kaum in Gestalt von Initiativanträgen aus dem Parlament heraus gemacht werden, sondern bedarf der zusammenfassenden Führung von seiten der verantwortlichen Regierung.“ Er hätte sich deshalb „gewünscht, daß an Stelle des Zentrumsantrages, der einfach diese beiden Gemeindeordnungen wieder vorlegt, ein Initiativantrag aus dem Hause gekommen wäre, der die Regierung ersucht hätte, das Programm der gesamten Verwaltungsreform dem Hause zu unterbreiten. Da das nicht
52 Preuß in der 198. Sitzung am 19. Januar 1923, in: SBpLT 1921/24, Bd. 10, Sp. 14144– 14155. 53 Vgl. die Fraktionssitzung vom 20.2.1924, in: Stalmann, Linksliberalismus (wie Anm. 13), Bd. 2, Nr. 416, S. 720–722, hier S. 722; auch die Fraktionssitzung vom 2.7.1924, in: ebd., Nr. 431, S. 743 f. 54 Die Uranträge der Abg. Herold und Genossen (Z) auf Annahme a) eines Entwurfs für eine Preußische Städteordnung, SBpLT 1925/28, Anlagen, Bd. 1, Nr. 99, S. 131–146, und b) eines Entwurfs für eine Preußische Landgemeindeordnung, ebd., Nr. 100, S. 147–166, wurden in der 42. Sitzung am 14. Mai 1925 in erster Lesung beraten. Die Anträge wurden dem 21. Ausschuss überwiesen.
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geschehen ist, wird es Aufgabe des jetzt zu bestimmenden Ausschusses sein, möglichst nach dieser Richtung hin zu wirken.“55
Die Anträge wurden zwar einem Ausschuss überwiesen, blieben jedoch auch in dieser Legislaturperiode unerledigt.56 Nachdem selbst eine Reform des kommunalen Verfassungsrechts nicht durchsetzbar war, beschränkte man sich in der Folgezeit auf die Beseitigung der dringendsten Übelstände. Bereits im Sommer 1924 hatte die DDP-Fraktion eine Vereinfachung der preußischen Landesverwaltung eingefordert. Dabei dachte Preuß vor allem an die Beseitigung der Regierungsbezirke, die Träger einer „scharfen obrigkeitsstaatlichen Struktur von oben nach unten“ seien. Diese „überlebten und überalteten bürokratischen Mechanismen der Regierungsbezirke“ seien nicht mehr zeitgemäß. Die von Preuß geforderte „klare Vereinfachung“ der Verwaltungsstrukturen blieb jedoch aus und wurde von der Regierung als noch nicht spruchreif angesehen.57 Immerhin konnte im Oktober 1925 das Wahlrecht für die Provinziallandtage und Kreistage neu geregelt58 und im Dezember 1927 schließlich auch die Auflösung der Gutsbezirke, der letzten feudalen Bastionen, beschlossen werden.59 Diese führte neben einem Demokratisierungsschub auch zu einer Vereinheitlichung und Rationalisierung der Verwaltungsstrukturen. Dieser Gesichtspunkt stand auch bei der kommunalen Neuordnung des rheinischwestfälischen Industriebezirks und des Rhein-Main-Gebiets sowie der Neugestaltung des Eingemeindungsrechts und der Vereinheitlichung des
55 Preuß in der 42. Sitzung am 14. Mai 1925, in: SBpLT 1925/28, Bd. 2, Sp. 1952–1954, Zitate Sp. 1952 f. 56 Vgl. Möller, Parlamentarismus (wie Anm. 12), S. 482–486. 57 Preuß in der 324. Sitzung am 2. Juli 1924, in: SBpLT 1921/24, Bd. 16, Sp. 22960– 22967, Zitate Sp. 22965 f. 58 Vgl. Möller, Parlamentarismus (wie Anm. 12), S. 476. 59 Der von den Regierungsparteien eingebrachte Urantrag der Abg. Haas (Köln), Schüling, Schmiljan und Genossen (SPD, Z, DDP) auf Annahme eines Gesetzentwurfs über die Regelung verschiedener Punkte des Gemeindeverfassungsrechts, SBpLT 1925/28, Anlagen, Bd. 14, Nr. 7307, S. 8199–8201, wurde in der 321. Sitzung am 6. Dezember 1927 in erster Lesung beraten und dem 21. Ausschuss überwiesen. Kern der Vorlage war die Auflösung der Gutsbezirke (§ 11). Der Antrag wurde in der 323. Sitzung am 12. Dezember 1927 in zweiter und dritter Lesung nach den Ausschussbeschlüssen angenommen. Vgl. auch die Fraktionssitzung vom 2.12.1927, in: Stalmann, Linksliberalismus (wie Anm. 13), Bd. 2, Nr. 631, S. 970 f., hier S. 971.
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Verwaltungs- und Polizeiverwaltungsrechts im Vordergrund.60 Auch das Groß-Berlin-Gesetz von 1920 ist in diesem Zusammenhang zu sehen.61
7. Die Personalpolitik Zur Verwaltungsreform zählte auch das Problem der Republikanisierung und Demokratisierung des überkommenen Beamtenapparats, somit die Personalpolitik, die im Parlament und in den Fraktionssitzungen der Partei eine herausragende Rolle einnahm. Während die Republikanisierung sich auf die politische Zusammensetzung der Verwaltung bezog, richtete sich die Forderung nach Demokratisierung gegen das im höheren Verwaltungsdienst geltende Juristenmonopol, das Bewerber höherer sozialer Schichten bevorzugte. Durch die Berücksichtigung nicht juristisch vorgebildeter Kandidaten sollte Angehörigen aus unteren oder mittleren Gesellschaftsschichten die Möglichkeit des Aufstiegs eingeräumt werden.62 Die Republikanisierung des monarchisch-konservativen höheren Verwaltungsapparats war für die junge Republik ein dringendes Erfordernis, da sie bei der demokratischen Ausgestaltung des Landes auf ein zuverlässiges Machtinstrument angewiesen war. Dieser Zielsetzung war die Verordnung der preußischen Regierung vom 26. Februar 1919 über die einstweilige Versetzung der unmittelbaren Staatsbeamten in den Ruhestand verpflichtet. Sie bot den unmittelbaren, insbesondere den der Regierung direkt unterstellten politischen Beamten, die „dem Staat in seiner neuen Form nicht mehr dienen“ wollten, die Möglichkeit, nach Vollendung des zehnten Dienstjahres bis zum 60 Vgl. Schulze, Braun (wie Anm. 39), S. 578; Möller, Parlamentarismus (wie Anm. 12), S. 491–493; Horst Möller, Die Verwaltung in den Ländern des Reiches – Preußen, in: Kurt G. A. Jeserich u.a. (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte. Bd. 4: Das Reich als Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1985, S. 540–557, hier S. 556. 61 Zum Groß-Berlin-Gesetz vgl. Henning Köhler, Berlin in der Weimarer Republik (1918– 1932), in: Wolfgang Ribbe (Hg.), Geschichte Berlins. Bd. 2: Von der Märzrevolution bis zur Gegenwart, München 1987, S. 795–923, hier S. 814–824. Ferner die Fraktionssitzungen vom 4., 8. und 27.11., 1. und 2.12.1919, 27.1., 22.–24. und 27.4.1920, in: Stalmann, Linksliberalismus (wie Anm. 13), Bd. 1, Nr. 86, S. 180 f., Nr. 90, S. 187–189, Nr. 99, S. 202 f., Nr. 101 und 102, S. 204–207, Nr. 121, S. 234 f., Nr. 154–157, S. 287– 293. 62 Vgl. Wolfgang Runge, Politik und Beamtentum im Parteienstaat. Die Demokratisierung der politischen Beamten in Preußen zwischen 1918 und 1933, Stuttgart 1965, S. 16–99; Bernd Wunder, Geschichte der Bürokratie in Deutschland, Frankfurt a.M. 1986, S. 110–124.
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31. Dezember 1920 in den Ruhestand zu treten.63 Von dieser Option machten indes nur wenige Beamte Gebrauch.64 Der Republikanisierung der Verwaltung waren allerdings auch durch die Reichsverfassung enge Grenzen gezogen. So wurden den Beamten in Artikel 129 ihre „wohlerworbenen Rechte“ garantiert, d.h. die Anstellung auf Lebenszeit und der Schutz vor willkürlicher Entlassung, während ihnen Artikel 130 Meinungs- und Koalitionsfreiheit zusicherte. Eine Ausnahme stellten die der Regierung unmittelbar unterstellten politischen Beamten dar, die jederzeit in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden konnten. Zu den politischen Beamten zählten die Ober-, Regierungs- und Polizeipräsidenten, die Polizeidirektoren, die Landräte und die Vizepräsidenten bei Ober- und Regierungspräsidien.65 Die DDP war von der Notwendigkeit eines republikanischen und demokratischen Umbaus der Verwaltung überzeugt. Angesichts der einseitigen Personalpolitik des Kaiserreichs und der politisch und konfessionell einseitigen Zusammensetzung des überkommenen Beamtenkörpers hielt sie eine stärkere Berücksichtigung nicht juristisch ausgebildeter Bewerber und Außenseiter bei der Besetzung der höheren Verwaltung für notwendig.66 Zwar konnten die Demokraten auf ausgebildete Juristen, auf Rechtsanwälte oder Kommunalbeamte, zurückgreifen, doch war die Zahl der der Partei nahestehenden Beamten in der allgemeinen Staatsverwaltung gering. Denn die meist in Opposition zur Regierung stehenden Linksliberalen hatten ebenso wie die im Kaiserreich als verfassungsfeindlich geltenden Sozialdemokraten und die als national unzuverlässig angesehenen Katholiken bei der Besetzung der höheren Verwaltungspositionen keine bzw. kaum Berücksichtigung gefunden. Eine Reform der überkommenen Einstellungskriterien war mithin ein Gebot
63 Vgl. die Verordnung betr. die einstweilige Versetzung der unmittelbaren Staatsbeamten in den Ruhestand vom 26.2.1919, GS, S. 33; ferner die Ausführungsanweisung der Preußischen Staatsregierung vom 21.6.1919, in: Ministerial-Blatt für die Preußische innere Verwaltung, Nr. 9 vom 28.8.1919, S. 353. 64 Vgl. Runge (wie Anm. 62), S. 57 f. 65 Vgl. Stang (wie Anm. 8), S. 330–333, zur preußischen Personalpolitik und zum Gewicht der DDP in der preußischen Verwaltung S. 328–352. In seiner Personalauswahl waren dem Innenminister durch die Preußische Verfassung enge Grenzen gesetzt. So gewährte Artikel 86 den Provinzen bei der Besetzung der Oberpräsidien, der Regierungspräsidien und der Präsidien der Provinzialschulkollegien ein Mitspracherecht. 66 Vgl. die Fraktionssitzung vom 22.3.1919, in: Stalmann, Linksliberalismus (wie Anm. 13), Bd. 1, Nr. 11, S. 33–36, hier S. 34. So billigte Rudolf Oeser zwar „den Grundsatz straffer Demokratisierung“, warnte jedoch vor der „Durchsetzung [der inneren Verwaltung] mit ungeeigneten Persönlichkeiten“.
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der Stunde. In dieser Frage waren sich die Weimarer Koalitionsparteien, DDP, Zentrum und Sozialdemokraten einig.67 An der am 8. Juli 1920 verabschiedeten Gesetzesnovelle über die Befähigung zum höheren Justizdienst hatte die DDP wesentlichen Anteil. Auf Initiative der Partei wurden fortan auch juristisch nicht vorgebildete Personen, die nach ihrer fachlichen Vorbildung und mindestens dreijähriger Tätigkeit in einem öffentlichen Verwaltungsdienst besonders geeignet erschienen, in die höhere Verwaltung aufgenommen.68 Neben Gerichtsassessoren und Landräten mit mindestens fünfjähriger Amtszeit konnten nun auch Partei- und Gewerkschaftssekretäre, Volksschullehrer oder mittlere Beamten in höhere Verwaltungspositionen berufen werden.69 Einen Beitrag zur Republikanisierung der Verwaltung vermochte cum grano salis auch das Gesetz vom 15. Dezember 1920 über die Einführung einer Altersgrenze für Staatsbeamte zu leisten. Danach sollten unmittelbare Beamte und Volksschullehrer, einschließlich der richterlichen Beamten, mit dem vollendeten 65. bzw. 68. Lebensjahr in den Ruhestand treten dürfen. Mit dem Gesetz sollte der Überalterung der Beamtenschaft entgegengewirkt und den Wartegeldempfängern aus den Abtretungsgebieten sowie jungen Stellenanwärtern berufliche Chancen eröffnet werden. Das Gesetz bot eine Handhabe, die älteren monarchistisch gesinnten Beamten, die von der durch die Verordnung vom Februar 1919 eröffneten Möglichkeit, in den Ruhestand zu treten, keinen Gebrauch gemacht hatten, zu pensionieren. Bis Ende 1922 wurden auf Grund des Gesetzes insgesamt 2631, darunter 800 höhere Beamte, zwangsweise in den Ruhestand versetzt.70 67 Vgl. Wunder, Geschichte (wie Anm. 62), S. 93. 68 Antrag der Abg. Meyer (Frankfurt) und Genossen (DDP) zur zweiten Beratung des Gesetzentwurfs über die Abänderung des § 10 des Gesetzes über die Befähigung zum höheren Verwaltungsdienste vom 10. August 1906 (Gesetzsamml. S. 378) Nr. 2480, in: SBpLV 1919/21, Anlagen, Bd. 8, Nr. 2548, S. 4226. 69 Vgl. Runge (wie Anm. 62), S. 58; Eberhard Pikart, Preußische Beamtenpolitik 1918– 1933, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 6 (1958), S. 119–137, hier S. 126 f. Vgl. auch die Fraktionssitzung vom 23.6.1920, in: Stalmann, Linksliberalismus (wie Anm. 13), Bd. 1, Nr. 163, S. 300–302, hier S. 301; ferner die Rede des Abg. Oscar Meyer in der 145. Sitzung am 23. Juni 1920, in: SBpLV 1919/21, Bd. 9, Sp. 11487 f. 70 Runge (wie Anm. 62), S. 58; Gerhard Schulze (Hg.): Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817–1934/38, Bd. 11/I (14. November 1918 bis 31. März 1925), Hildesheim 2002, S. 10. Vgl. auch die Rede des Abg. Adam Barteld in der 178. Sitzung am 24. November 1920, in: SBpLV 1919/21, Bd. 11, Sp. 13815–13819. Ferner die Fraktionssitzung vom 23.11.1920, in: Stalmann, Linksliberalismus (wie Anm. 13), Bd. 1, Nr. 196, S. 362–367, hier S. 365 f.
Hugo Preuß als Landtagsabgeordneter der DDP 1919–1925
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Von der Notwendigkeit der Demokratisierung der Verwaltung war Hugo Preuß überzeugt. „Wir müssen unbedingt für einen Teil der Beamten, vor allen Dingen der politisch leitenden Beamten und der Einfluß auf die Personalverhältnisse übenden Beamten verlangen, daß sie vorbehaltlos und ehrlich auf dem Boden der neuen Staatsordnung stehen“, so erklärte Preuß im Preußischen Landtag am 22. Juni 1922. Es sei sicherlich wünschenswert, wenn in der Personalpolitik weiterhin „gemäßigt vorgegangen“ und es vermieden werden könnte, „in unser System des Berufsbeamtentums das Beutesystem einer Verteilung der Amtsstellen auf die Fraktionen hineinbringen zu wollen“. „Die Zugehörigkeit zu den einzelnen Fraktionen muß gleichgültig sein, wenn wir nur die Sicherheit haben, daß wir es mit ehrlichen und aufrichtigen Demokraten und Republikanern in diesen Stellungen zu tun haben“. In diesem Sinne müsse ein besonderes Augenmerk auf die Besetzung der Personalreferate in den einzelnen Ministerien gelegt werden.71 Die Ermordung Walther Rathenaus hat Preuß in der Überzeugung bestärkt, dass die Republik eines Schutzes bedürfe und sich auf einen zuverlässigen demokratischen Beamtenapparat stützen müsse. So „schutzlos, waffenlos, harmlos wie bisher darf die Republik ihren Feinden und den verkündeten Gewalttaten gegen ihre Träger und Vertreter nicht mehr gegenüberstehen“, appellierte Preuß damals emphatisch im Landtag.72 Anlässlich der Beratung der Republikschutzgesetze im Landtag im Juli 1922 erklärte er, dass es sich doch von selbst verstünde, „daß Beamte der Republik nicht in gehässiger oder aufreizender Weise gegen die Republik agitieren dürfen“. Das sei eine Selbstverständlichkeit und, wie die Rechte behaupten würde, ein Verstoß gegen die Meinungsfreiheit der Beamten und damit gegen die Grundrechte der Reichsverfassung. „Wenn die Preußische Regierung auch nicht zur Führung ganz Deutschlands berufen ist“, so Preuß, so könne sie doch durch diese Politik „der Reichsregierung eine sehr wertvolle Rückenstärkung geben“.73 Als hochschulpolitischer Sprecher der Fraktion, der alljährlich bei der Beratung des Kultusetats das Wort ergriff, nahm Preuß sich auch der Entwicklung an den Universitäten an. Wiederholt kritisierte er die Personalpolitik des Kultusministers. So würde die Lehre des neuen Staatsrechts, so der Staatsrechtler im Dezember 1921, noch immer im wesentlichen „in Händen von Männern“ liegen, die „nicht mit Leib und Seele in diesem neuen Staatsrecht 71 Preuß in der 153. Sitzung am 22.6.1922, in: SBpLT 1921/24, Bd. 8, Sp. 11135–11144, Zitate Sp. 11140. 72 Preuß in der 155. Sitzung am 24. Juni 1922, in: SBpLT 1921/24, Bd. 8, Sp. 11280 f., hier Sp. 11281. 73 Preuß in der 161. Sitzung am 6. Juli 1922, in: SBpLT 1921/24, Bd. 8, Sp. 11708–11717, Zitate Sp. 11714 f. und 11717.
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leben“. Den Verweis der Regierung auf den fehlenden Nachwuchs ließ Preuß nicht gelten. Denn es frage sich doch, „ob dieser Nachwuchs nicht auch etwas künstlich abgesperrt“ werde. „Es ist mir manches zu Ohren gekommen, was in mir den Zweifel aufsteigen läßt, ob ich, wenn ich heute versuchen wollte, mich an einer preußischen Universität zu habilitieren, wie es mir vor 32 Jahren anstandslos gelungen ist, heute nicht auf viel größere Schwierigkeiten stoßen würde.“ Das sei „doch ein Zustand, der in einer Demokratie und in einer Republik von regierungswegen auch bei aller Hochachtung vor der akademischen Selbstverwaltung nicht auf die Dauer geduldet werden“ könne.74 Die von den Sozialdemokraten Severing und Grzesinski in der Folgezeit forciert betriebene und von den Demokraten unterstützte Neubesetzung der höheren Verwaltung stellte ohne Frage einen wichtigen Beitrag zur demokratischen Ausgestaltung Preußens dar. Vor der Absetzung der preußischen Regierung Braun durch Reichskanzler v. Papen im Juli 1932 waren alle Ober-, Regierungs- und Polizeipräsidien und ein Großteil der Landratsämter neu besetzt. Der von den Rechtsparteien wiederholt erhobene Vorwurf des „Beutesystems“ (Preuß), der „Futterkrippenwirtschaft“ und der „Parteibuchbeamten“ war gleichwohl weit überzogen und traf nicht die Realität, da gerade einmal die Hälfte aller politischen Beamten den Weimarer Koalitionsparteien zugerechnet werden konnte.75 Insgesamt vermochte die von der preußischen Regierung und das heißt auch von den Demokraten be-
74 Preuß in der 82. Sitzung am 13.12.1921, in: SBpLT 1921/24, Bd. 4, Sp. 5814–5819, hier 5818 f. – Im Juni 1923 stellte die DDP den Antrag Preuß, durch den das Staatsministerium ersucht wurde, bei der Besetzung von volkswirtschaftlichen, soziologischen, staatsrechtlichen und geschichtswissenschaftlichen Lehrstühlen „die Vertreter der bisher akademisch nicht genügend zur Geltung kommenden Anschauungen gebührend zu berücksichtigen.“ Vgl. den Antrag der Abg. Preuß und Genossen (DDP) zur dritten Beratung des Haushalts des Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung für 1923, in: SBpLT 1921/24, Anlagen, Bd. 11, Nr. 6201, S. 6784. Der Antrag wurde angenommen. Vgl. auch die Fraktionssitzung vom 21.6.1923, in: Stalmann, Linksliberalismus (wie Anm. 13), Bd. 2, Nr. 388, S. 678 f., hier S. 678. – Im Januar 1925 forderte Preuß die Entfernung eines konservativen Professors Roethe in Allenstein (Ostpreußen), der sich in einer Rede scharf gegen die „Revolutionsmachthaber“ und die „Herostraten von Anno 1918“ gewandt hatte. Vgl. die Kleine Anfrage der Abg. Dr. Schreiber (Halle) und Genossen (DDP) über eine von Professor Roethe in Allenstein gehaltene Rede, in: SBpLT 1925/28, Anlagen, Bd. 1, Nr. 112 A, S. 170. Vgl. auch die Sitzung der DDP-Fraktion vom 15.1.1925, in: Stalmann, Linksliberalismus (wie Anm. 13), Bd. 2, Nr. 455, S. 772 f., hier S. 773. 75 Vgl. Schulze, Braun (wie Anm. 39), S. 564–572; Runge (wie Anm. 62), S. 100–156.
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triebene Personalpolitik Preußen und dem Reich ein stabiles demokratisches Fundament zu geben.76
8. Schluss Als Hugo Preuß am 9. Oktober 1925 starb, verlor nicht nur die DDP, sondern auch Preußen einen herausragenden Politiker. Entschieden hatte er sich für die parlamentarische Demokratie eingesetzt und für das in der Weimarer Koalition zum Tragen kommende Bündnis von Arbeiterbewegung und Bürgertum gestritten. Im preußischen Landtag hatte er sich vor allem der Verwaltungsreform und der Frage der Personalpolitik angenommen, die ihm als Staatsrechtler und hochschulpolitischem Sprecher der Fraktion besonders am Herzen lagen. Seine Reden offenbaren nicht nur die Einsicht in die prekäre Statik der 1918 gegründeten Republik, sondern auch die tiefe Überzeugung von der Notwendigkeit, das demokratische Fundament der 1918 gegründeten Republik zu erweitern und zu vertiefen. Preußen, so führte der preußische Innenminister Carl Severing in seinem Kondolenzschreiben im Oktober 1925 aus, sei Preuß „für sein rastloses Mühen um das Zustandekommen der preußischen Verfassung Dank schuldig. Bis zum letzten Tage seines erfolgreichen Lebens stritt er um wichtige staatsrechtliche Aufgaben, deren Lösung das von mir geleitete Ministerium vorzubereiten hat, mit unermüdlicher Zähigkeit und doch in Formen, die ihn stets als den lauteren, guten Menschen erkennen ließen.“77
76 „Preußens Leistung auf dem Gebiete der Aufrechterhaltung der Ordnung“, so hob Handelsminister Walther Schreiber auf der Sitzung des Gesamtvorstandes am 5. April 1932 hervor, „wäre nicht möglich gewesen ohne zielklare und scharfe Personalpolitik.“ Albertin, Linksliberalismus (wie Anm. 4), Nr. 193, S. 698–703, hier S. 700. 77 Der preußische Innenminister Severing an Frau Preuß, Berlin, 10.10.1925, in: BA Berlin, NL Hugo Preuß, N 2230, Nr. 2, Bl. 105.
Autorenverzeichnis Dr. Lothar Albertin, em. Professor für Politikwissenschaft und Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld Dr. Peter Brandt, Professor für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte an der Fernuniversität Hagen, Direktor des Dimitris-Tsatsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften Dr. Michael Dreyer, Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Jena Dr. Felix Escher, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Technischen Universität Berlin Dr. Ewald Grothe, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Wuppertal und Leiter des Archivs des Liberalismus der FriedrichNaumann-Stiftung für die Freiheit Dr. Detlef Lehnert, Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, Präsident der Hugo-Preuß-Stiftung und Vorstandsvorsitzender der Paul-Löbe-Stiftung Dr. Marcus Llanque, Professor für Politische Theorie an der Universität Augsburg Dr. Christoph Müller, em. Professor für Staatsrecht und Politik an der Freien Universität Berlin, Vorsitzender der Hugo-Preuß-Gesellschaft e.V. Dr. Wolfram Pyta, Professor und Leiter der Abteilung für Neuere Geschichte am Historischen Institut der Universität Stuttgart, Direktor der Forschungsstelle Ludwigsburg Dr. Dian Schefold, Professor (i.R.) für Öffentliches Recht, einschl. allgemeine Staatslehre und neuere Verfassungsgeschichte mit dem Schwerpunkt Verwaltungsrecht an der Universität Bremen
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Autorenverzeichnis
Dr. Volker Stalmann, Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien in Berlin Dr. Monika Wienfort, Professorin für Neuere Geschichte an der Technischen Universität Berlin Dr. Fabian Wittreck, Professor für Öffentliches Recht, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie an der Universität Münster
André Schlüter
Moeller vAn den Bruck leBen und Werk
Moeller van den Bruck (1876–1925), Kulturhistoriker, Staatstheoretiker und völkisch-nationaler Publizist, gilt heute als zentrale Figur der Konservativen Revolution in der Zeit der Weimarer Republik. Mit seinem 1923 erschienenen Hauptwerk »Das dritte Reich« wurde er zum Stichwortgeber der Nationalsozialisten, mit denen er den Hass auf die demokratischen Parteien und den Parlamentarismus teilte. Er bekämpfte die politischen Institutionen der Republik und glaubte, die nationale Identität durch Ausgestaltung einer nationalen Stileinheit befördern zu können. Bemerkenswert ist, dass diese konservative Programmatik Sympathien für moderne Kunst keineswegs ausschloss und Moeller van den Bruck zuweilen zu deren innovativsten Agitatoren gehörte. 1925 beging er nach einem Nervenzusammenbruch in Berlin Selbstmord. Den zum Teil erstaunlichen Wandlungen seines Lebens und Werks geht André Schlüter in diesem Buch nach.
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Eckhard JEssE
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Der bekannte und streitbare Politikwissenschaftler Eckhard Jesse legt mit dieser pointierten Untersuchung die Synthese seiner Forschungsarbeit zur deutschen politischen Geschichte im 20. Jahrhundert vor, wie es sie mit dieser Akzentsetzung bislang nicht gibt. Eckhard Jesse […] schreckt nicht davor zurück, unbequeme Wahrheiten auszusprechen […] mit Gewinn vom allgemeinen Publikum, Schülern und Studenten und auch von den Fachkollegen zu lesen. Rheinischer Merkur Souverän und nachvollziehbar erklärt Jesse Ursachen und Wirkungen […] das alles nie trocken, sondern mit zahlreichen Pointen und Zitaten angereichert. Aachener Zeitung 2., durchgesehene AuflAge 2011. 280 s. gb. 135 x 210 mm. Isbn 978-3-412-20803-5
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Detlef lehnert (hg.)
Demokr atiekultur in europa politische repr äsentation im 19. unD 20. JahrhunDert (historische Demokr atieforschung, BanD 1)
»Mehr Demokratie wagen« könnte das Motto jenes Umbruchs in Europa gewesen sein, der im späten 19. Jahrhundert begann und im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts viele Länder erfasste, bevor aus Krisen auch Diktaturen hervorgingen. Dieser Band präsentiert historisch-sozialwissenschaftliche Konzepte der Analyse von Demokratiekultur. Dabei wird zugleich wesentlich nach der Bedeutung politischer Repräsentation in modernen Gesellschaften gefragt, die weltanschaulich differenziert und von Interessengegensätzen entscheidend geprägt sind. Mit der Gegenüberstellung und dem Vergleich der Entwicklungen in zahlreichen Staaten West-, Nord- und Mitteleuropas wird ein Beitrag zur Historischen Demokratie forschung geleistet. 2011. 304 S. Mit einigen S/w-Abb. gb. 155 x 230 MM. iSbn 978-3-412-20713-7
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