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German Pages 208 [211] Year 1929
HOMERS ILIAS VERSUCH EINER WIEDERHERSTELLUNG D E S U R G E D I C H T E S VOM
ZORN DES ACHILLEUS IN DEUTSCHER PROSA VON HEINRICH RÜTER
VERLAG RICHARD U H D E MÜNCHEN-GRÄFELFING 19 2 9
SATZ UND DRUCK VON DR. C. WOLF * SOHN, MÜNCHEN
WILHELM
D Ö R P F E
LD
dem bahnbrechenden H o m e r f o r s c h e r in V e r e h r u n g
und
gewidmet
Dankbarkeit
VORWORT Die Frage nach dem Urgedicht der Ilias Homers ist gerade in den letzten Jahrzehnten oft gestellt und meist dahin beantwortet worden, daß „das Lied vom Zorn des Achilleus" den Kern des homerischen Epos gebildet habe, und daß trotz mancher Zusätze zu diesem Kern und trotz vieler Änderungen das ursprüngliche Lied sich aus der Gesamtdichtung noch herausschälen lasse. In der Tat scheint für die Nachdichter der Ilias die Unterordnung des Epos unter das ursprüngliche Zornlied maßgebend gewesen zu sein. Hierüber sind sich die Homerkritiker einig. Gestritten wird über den Umfang des Urgedichts und die in den echten Teilen später eingetretenen Veränderungen. Je nachdem bei der Beweisführung sprachliche oder sachliche oder künstlerische Erwägungen überwiegen, gehen die Ansichten auseinander; eine volle Übereinstimmung wird sich nicht erzielen lassen. Wegweiser bei der Beurteilung der Frage sind aus neuer Zeit: v. WilamowitzMoellendorf: „Die Ilias und Homer", 2. Auflage, 1920; Eduard Schwartz: „Zur Entstehung der Ilias", 1 9 1 8 ; Stephan Gruß: „Das Lied vom Zorn des Achilleus", rekonstruiert und übersetzt 1 9 1 0 ; Eugen Petersen: „Homers Zorn des Achilleus und der Hörnenden Ilias" 1920; E. Wendling: „Das Gesetz der Einschaltung und die Ilias-Schichten", 1925. Für meine Festlegung des Zornliedes sind außer sprachlichen und sachlichen Gründen besonders solche des künstlerischen Aufbaues und der inneren Wahrscheinlichkeit maßgebend gewesen. Sie will nur als mutmaßliche gelten, wie ja überhaupt eine wirklich getreue Wiederherstellung des ursprünglichen Kernes der Dias unmöglich scheint. Zum „Lied vom Zorn des Achilleus" gehören meines Erachtens: 1. Nach dem Vorgesang der Streit Achills und Agamemnons, der Raub der Briseis, das Gespräch Achills mit Thetis, die Fahrt des Odysseus nach Chryse und das Sühn-
VORWORT
vn
opfer für ApoIIon, die erfolgreiche Bitte der Thetis an Zeus um Rache für die Beschimpfung Achills. 2. Das Eingreifen des Zeus und der Beginn des Kampfes zwischen Achäern und Troern, .der anfangs für Agamemnon günstig verläuft. 3. Hektars Gang in die Stadt, um ein Sühnopfer für Athena zu veranlassen. Seine Begegnung mit Hekabe, Helena und Andromache. Die Fortsetzung des Kampfes und die Flucht der Achäer. Das Feldlager der Troer. Der vergebliche Versuch Agamemnons, Achill durch eine Gesandtschaft zu versöhnen. 5. Der zweite Sieg der Troer. Die Teilnahme des Patroklos am Kampf und sein Tod. 6. Die Bergung der Leiche des Patroklos. Achills Begegnung mit Thetis. Sein Entschluß, den Freund an Hektor zu rächen. Neue Waffen durch Hephaistos. 7. Die Aussöhnung Achills mit Agamemnon. Vorbereitungen zum dritten Kampf und Beginn der Schlacht 8. Die Niederlage der Troer, Hektors Tod. 9. Die Bestattung des Patroklos. 10. Die Auslösung der Leiche Hektors durch Priamos und die Totenfeier in Troia. Diese Handlung des Zornliedes verläuft zwanglos in zehn Gesängen, die zwar von ungleicher Länge, aber sachlich eng verbunden sind und sich über eine Zeit von zehn Tagen erstracken. Der gewaltige Stoff der Gesamtilias von rund 15 600 Hexametern ist in ihnen auf rund 43oo Verse zurückgeführt Alle Auslassungen und Änderungen sind im Anhang genannt und zum größten Teil begründet; desgleichen ist dort der Aufbau der aus vierundzwanzig Büchern der Dias gewonnenen zehn Gesänge des Zornliedes dargelegt. Zweckmäßig erschien es, aus der großen Zahl der späterem Zusätze zum Urgedicht einige wenige zu verdeutschen und im Anhang mitzuteilen, weil sie besonderen sachlichen Wert haben. Hierfür kamen in Betracht: 1. Der Streit des Zeus und der Hera. 2. Der mißlungene Anschlag Agamemnons und die Bestrafung des Thersites durch Odysseus. 3. Die Vorbereitimg des Vertrages
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VORWORT
zwischen Troern und Achäern. 4» Die Mauerschau. 5. Der Zweikampf des Paris und Menelaos. 6. Der Bruch des Vertrages durch Pandaros. 7. Die Begegnung des Glaukos und Diomedes. 8. Der Streit des Hektor und Pulydamas. — Ganz in Wegfall durften kommen: 1. Die Aufzählung der Streitkräfte und die Musterung durch Agamemnon. 2. Die Taten des Diomedes. 3. Der Zweikampf des Hektor und Aias. 4- Die Bestattung der Toten und die Lagerbefestigung. 5. Die Taten des Odysseus im Bunde mit Diomedes und die Taten Agamemnons. 6. Die Überlistung des Zeus durch Hera. 7. Der größte Teil des Mauerkampfes. 8. Der größte Teil des Kampfes bei den Schiffen. 9. Der größte Teil des Kampfes am Fluß und der Götterkampf. 10. Die Leichenspiele für Patroklos. Für die Frage nach der Entstehungszeit und dem Entstehungsort des Zornliedes sei auf Dörpfeld-Rüter : „Homers Odyssee in ihrer ursprünglichen Gestalt", Bandi, 1—14 verwiesen. Hinsichtlich der Sprache Homers, die bisher von vielen als Hinderungsgrund für eine frühe An setzung der Epen angesehen wurde, scheint neuerdings eine andere Auffassung Platz greifen zu wollen. Nachdem schon Inama (Omero nell' età micenea 1913) die Epen wegen ihrer Sprache dem 1 2. Jahrhundert zugewiesen hat, vermutet jetzt G. Mahlow in seinem bedeutsamen Werk: „Neue Wege durch die griechische Sprache und Dichtung 1936", daß die Ioner des mittleren und südlichen Griechenlands von Anfang an Träger der Heroensagen waren und deren thessaiische und peloponnesische Bestandteile verschmolzen haben. Er folgert es aus der Sprache der Ilias und Odyssee, die, wie er scharfsinnig beweist, nicht erst in Smyrna bezw. im ionischen Kleinasien gesprochen ist, sondern lange vor der ionischen Auswanderung bei den Ionern des Stammlandes. Ihr Dialekt hatte nur deshalb mit dem äolischen manches gemeinsam, weil Ioner und Äoler in grauer Vorzeit Nachbarn waren. Auch für Mahlow rückt dem-
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VORWORT
nach die Sprache der Epen um Jahrhunderte höher hinauf, als bis jetzt meist angenommen wurde. Die Wahl der Prosa für die Obersetzung des Liedes vom Zorn des Achilleus ist aus denselben Gründen erfolgt, wie sie im Vorwort zur obenerwähnten Odyssee S. X und XI entwickelt sind. Aus manchen Anzeichen ist ersichtlich, daß wir einer neuen Blüte des Studiums der Antike entgegengehen; sie wird vielleicht tiefer begriffen werden und einen stärkeren Einfluß auf die Menschen ausüben als bisher. Sie wird es umsomehr, wenn die Quellen, aus denen schon Jahrtausende schöpfen, der Jugend und breiteren Volksschichten in einer gegenwartsnahen Verdeutschung übermittelt werden. Dias und Odyssee, einst Volksbücher der Griechen und in des Wortes bester Bedeutung an der Erziehung nicht nur der Werdenden, sondern auch der Erwachsenen beteiligt, kommen hierfür in erster Linie in Betracht. Sie bringen besonders in ihrem Kern, dem „Zornlied" und dem „Heimkehrlied", Urbilder alles menschlichen Lebens, besitzen in ihrer Natürlichkeit und Ursprünglichkeit ewige Jugend und erfreuen heute so wie vor Jahrtausenden. H a l b e r s t a d t , im Herbst 1929. HEINRICH
RÜTER.
INHALTSVERZEICHNIS E r s t e r G e l a n g (1. und 2. Tag) Vorgesang: Anrufung der Muse (II. 1. 1—7)
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Vorgeschichte: Chryseis, die Tochter des Apollonpriesters, ist auf einem der achiischen Beutezüge gefangen genommen und bei der Verteilung der Beute dem Agamemnon als Ehrengeschenk überwiesen worden. Als der Vater in das Lager kommt, um sie auszulösen, jagt Agamemnon ihn mit hochfahrenden und beleidigenden Worten davon. Sofort läßt Apollon, um seinen Priester zu rächen, eine Seuche im Heere ausbrechen, die neun Tage unter Menschen und Tieren wütet (1. 8—52) In dieser Not beruft Achill eine Heeresversammlung. Als auf seinen Wunsch der Seher Kalchas den Grund der Pest aufdeckt, will der darüber erzürnte Agamemnon zwar die Chryseis zurückgeben, verlangt aber sofort eine andere Ehrengabe. Achill tadelt die Habgier des obersten Führers und verspricht Ersatz f ü r die Zukunft. Doch Agamemnon beharrt bei seiner Forderung. Im Verlauf des Streites beschimpft der durch Achill gereizte Agamemnon den ersten Helden des Heeres durch den Vorwurf der Heuchelei, des Hochmutes und der Streitsucht und droht schließlich, daß er sich an der Ehrengabe Achills, der in Lyrnessos gefangenen Briseis, schadlos halten werde. Achills maßlose Wut darüber wird durch Athena besänftigt. Nestor versucht vergeblich einen Ausgleich. Der von den Fürsten und Mannen im Stich gelassene Achill, der schon während des Streites dem Oberkönig die Gefolgschaft aufsagt, will zwar gegen den angedrohten Raub der Briseis nichts unternehmen, seinen sonstigen Besitz aber gegen Agamemnon
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verteidigen (1. 63—307) Agamemnon beauftragt Odysseus, die Tochter des Priesters zu Schiff nach Chryse zu bringen und Apollon zu versöhnen. Dann sendet er seine Herolde zur Hütte Achills, um Briseis zu holen. Patroklos liefert sie aus (1. 308—348) Der tief beleidigte Göttersohn bittet seine Mutter Thetis, ihm durch Zeus Genugtuung zu verschaffen: der höchste Gott soll den Troern Siege verleihn und durch gewaltige Niederlagen der Achäer den undankbaren, verblendeten König zur Erkenntnis seiner Torheit zwingen. Thetis gewährt die Bitte und fordert ihren Sohn ausdrücklich auf, sich während der Kampftage jeder Beteiligung zu enthalten (1. 348- -395;
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408—422; 428—430, 1. Hälfte) Die Fahrt des Odysseus nach Chryse bringt vollen Erfolg; der Gott wird versöhnt. Am zweiten Tage der Handlung kehrt Odysseus mit den Gefährten in das Lager zurück (1. 430, 2. Hälfte bis 487) . .
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Auch Thetis' Gang zum Olymp an demselben Tage hat Erfolg. Ihre Bitte an Zeus, den Troern solange die Obermacht zu verschaffen, bis des Sohnes Ehre wieder hergestellt sei, findet Gehör, obschon der Kronide weiß, daß Hera ihn deshalb tadeln wird (1. 495, 2. Hälfte bis 533, 1. Hälfte) Zweiter
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(3. Tag)
Am frühen Morgen des nächsten Tages erfüllt Zeus sein Versprechen. Er sendet dem Agamemnon einen Trugtraum, der ihm Sieg und die Eroberung Troias verheißt. Nach dem Erwachen beschließt der König sofortigen Kampf. Während er mit den Fürsten um die Wappnung der Mannen bemüht ist, sendet Zeus die Götterbotin Iris zu den Troern. Sie meldet dem Priamos das Nahen der Feinde. Auch die Troer und Bundesgenossen rüsten sich unter Hektors Oberbefehl (2. 1—50; 443—452; 786—815) Die Achäer ziehen schweigend in den Kampf; Athena feuert sie an. Die Troer erheben ein großes Geschrei; Ares steht ihnen bei. Die Schlacht beginnt mit Einzelgefechten der Vorkämpfer. Auf achäischer Seite tun sich Antilochos, Nestors Sohn, Odysseus, Diomedes und der Telamonier Aias hervor. Die Achäer sind im Vorteil und drängen die Troer mehr und mehr aus der Ebene zur Stadt zurück (4. 422—538; 6. 2—8; 12—28; 37—72) Der troische Seher Helenos erkennt, daß die Achäer ihre Erfolge der Göttin Athena verdanken. Auf seinen Rat bringt Heklor die Troer vor den Toren zum Stehen und geht dann in die Stadt, um seine Mutter Hekabe und die andern Troerinnen zu Opfern und Gebeten an Athena zu veranlassen (6. 73—95; 102—118) Dritter
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Hektor begegnet der Mutter, die zärtlich um ihn besorgt ist, und bittet sie, der Göttin Athena das köstlichste ihrer Gewänder und andere Opfer zu weihen. Er selbst geht, um Paris zu holen, der sich bis dahin aus nichtigen Gründen vom Kampfe ferngehalten. Er trifft ihn schon mit den Waffen beschäftigt und, von Helena unterstützt, treibt er ihn mit tadelnden Worten zur Eile an. Helenas freundliche Bitte, doch zu verweilen, lehnt er ab und begründet die Ablehnung mit der Not der Stunde (6. 237—242; 251—368) Dann geht er, um Gattin und Sohn zu begrüßen. Nach einem vergeblichen Gange in sein Haus trifft er beide mit der Dienerin am akäischen Tor. In Vorahnung ihres Schicksals, das ihr den allzu kühnen Gatten rauben wird, bittet Andromache, daß Hektor um
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des Sohnes und um ihretwillen die offene Feldschlacht meiden möge. E r kann ihr nicht willfahren, doch findet er in einem hoffnungsfreudigen Gebet zu Zeus für die zukünftige Größe des geliebten Sohnes den rechten Trost fflr die Gattin. Sie nehmen Abschied voneinander (6. 369—432; 440—446; 466—502)
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Mit dem Erscheinen von Paris und Hektor beginnen die Troer wieder den Vormarsch. Der Kampf wogt hin und her. Zeus befragt mittags das Schicksal; die Schalc der Achäer sinkt; sie fliehen, als Blitz und Donner sie erschrecken. Nestor gerät in große Gefahr und wird durch Diomedes gerettet. Als dieser sich gegen Hektor wendet und seinen Wagenlenker tötet, wird auch er durch den blitzumflammlen Zeus zurückgescheuchl. Hektor fordert zum Sturm auf das Lager auf und drängt die Achäer über Wall und Graben hinüber (6. 603—529; 7. 1—16; 8. 66—197; 335—349) Die schnell hereinbrechende Nacht macht dem Kampf ein Ende. Hektor führt die Troer zum Skamander zurück, um daselbst zu biwakieren; in der Stadt soll man wachen und die Mauern beziehen. Für den folgenden Tag erhofft er die Eroberung des Lagers und die Vernichtung der Achäer (8. 485—565) V i e r t e r G e s a n g (Nacht vom 3. zum 4. Tage)
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In einer am späten Abend von Agamemnon berufenen Versammlung der Fürsten erteilt Nestor dem Oberfeldherrn den Rat, Achill zu versöhnen. Agamemnon ist dazu bereit; er will Briseis zurückgeben und viele Geschenke hinzufügen. Auf Nestors Vorschlag werden Odysseus und Aias, Telamons Sohn, mit zwei Herolden zu Achill geschickt; Phoinix, Achills Lehrer und Freund, begleitet sie (9. 1—8; 89—148; 157—181) Achill empfingt die Gesandten freundlich (9. 182—221). Nach dem Mahle bittet Odysseus ihn, wieder am Kampfe teilzunehmen, und begründet die Bitte: Die Troer würden sonst am nächsten Tage Heer und Flotte vernichten, und Achill würde dann Reue darüber empfinden, daß er, den Mahnungen seines Vaters Peleus zuwider, seine Leidenschaft nicht gebändigt habe (9. 222—260). Agamemnon biete Genugtuung (9. 260—290; 299). Wenn Achill sie nicht möge, solle er sich wenigstens der Achäer erbarmen und Hektors Obermut züchtigen (9. 300—306). Achill lehnt die Bitte mit der Begründung ab, daß seine Taten ihm immer nur geringen Beuteanteil gebracht haben, und daß Briseis, seine Ehrengabe, ihm von Agamemnon geraubt worden ist, obwohl die Achäer den Atriden zuliebe wegen eines Frauenraubes im Felde liegen. Die Genugtuung vermag ihn nicht zu versöhnen.
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Er zieht vor, nach Phthia zurückzukehren, und fordert Phoinix auf, ihn zu begleiten (9. 307—347; 357—429) Dieser mahnt Achill zur Versöhnlichkeit und zur Ehrfurcht vor den Bittgöttinnen, weil er sonst der Ate, der Schuldgöttin, verfalle. Agamemnon habe sein Unrecht erkannt; das solle Achill berücksichtigen (9. 430—448; 479—522; 603). Achill hingegen verharrt bei der Ablehnung und warnt Phoinix, der zugunsten seines Feindes rede; er erklärt, daß sie am nächsten Morgen über die Heimkehr beraten wollen (9. 606—619) Als dritter spricht Aias. Er verlangt Nachgiebigkeit von Achill, weil seine liebsten Freunde als Schutzflehende bei ihm weilen (9. 620 bis 642). Achill erkennt die Forderung als berechtigt an, doch ist sein Groll gegen Agamemnon zu groß, als daß er ihm verzeihen könnte. Er will erst dann wieder kämpfen, wenn Hektor die Schiffe in Brand steckt und in das Lager der Myrmidonen eindringt (9. 643—668) . . Odysseus überbringt der Ratsversammlung die Botschaft. Diomedes rät, Achill nicht weiter zu beachten und am nächsten Tage auch ohne ihn den Kampf fortzusetzen (9. 669—713) F ü n f t e r G e s a n g (4. Tag) Die Heere nehmen Aufstellung: die Achäer vor dem Graben, die Troer in der ansteigenden Ebene am linken Ufer des Skamander (11. 1—16; 47—60; 62—71). Gleich bei Beginn des Kampfes werden Diomedes, Agamemnon und Odysseus verwundet. Der durch Paris verletzte Arzt Machaon, Sohn des Asklepios, wird von Nestor in das Lager zurückgebracht. Aias, der Telamonier, sieht sich durch Hektor und die Troer zum langsamen Rückzug gezwungen. Eurypylos, der ihm zu Hilfe eilt, wird von Paris verwundet (11. 489—547; 575—595). Achill hat Nestor in das Lager zurückkehren sehen und sendet Patroklos zu ihm, um nach dem Verwundeten zu fragen (11. 596—617). Nestor mahnt Patroklos, daß er als Älterer den Freund zur Versöhnung umstimmen und, wenn er das nicht erreiche, in Achills Rüstung am Kampf teilnehmen und die Achäer retten solle. Auf dem Heimweg nimmt Patroklos sich des verwundeten Eurypylos an (11. 618 bis 661; 663—668 1. Hälfte; 763 2. Hälfte bis 768; 785—801; 804—848) Inzwischen sind die Troer bis zur Umwallung vorgedrungen. Hektor sprengt das Haupttor, und die Troer stürmen teils über den Wall teils mit den Wagen durch das Tor in das achäische Lager (12. 1—4; 445—449; 451—471). Die Achäer werden hinter die erste Schiffsreihe zurückgedrängt. Nur der Telamonier Aias springt von einem
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Schiff auf das andere und verteidigt zuletzt da* des Protesilaos gegen Hektor und die FeuerbrSnde der Troer (15. 592—600; 655—667; 674—731) Patroklos berichtet dem Freunde weinend von der Verwundung zahlreicher achäischer Helden, macht ihm Vorwürfe wegen seines unnachgiebigen Grolls und bittet, mit den Myrmidonen und in Achills Rfistung den Achäern helfen zu dürfen. Achill erteilt ihm die Erlaubnis, doch soll Patroklos die Troer nur aus dem Lager verjagen und sich nicht etwa aus Ruhmbegierde zu weiterer Verfolgung fortreißen lassen (16. 1—54; 60—63; 80—83; 87—96) Während dieses Gesprächs wird der mit Hektor kämpfende Aias durch den Gegner wehrlos gemacht, kann das Schiff nicht mehr verteidigen und muß dulden, daß die Troer Feuerbrände hineinwerfen (16. 101—111; 114—123). Jetzt mahnt Achill selbst den Patroklos zu eiligster Rüstung der Myrmidonen; für den Freund um Sieg und Rückkehr betend, bringt er dem Zeus ein Trankopfer dar aus heiligem Becher (16. 124—139; 145—147; 155; 212—256) Die Troer, die sich von Achill angegriffen glauben, geraten beim Nahen des Patroklos und der Myrmidonen ins Wanken und weichen von den Schiffen zurück. Das Feuer wird gelöscht. Die Troer werden auch aus dem Lager vertrieben und zum Teil mit ihren Wagen in den Graben gestürzt. Hektor, besonders von Aias angegriffen, entkommt mit seinem Gespann. Patroklos stürmt, dem Gebot des Freundes zuwider, den Troern in die Ebene nach (16. 257—260; 262—275; 278—305; 358—377; 378 1. Hälfte; 382 2. Hälfte bis 383). Auf Geheiß Apollons stellt Hektor sich dem Patroklos. Er verliert durch diesen seinen Wagenlenker. Im Kampf um den Getöteten wütet Patroklos unter den Troern, bis Apollon ihn betäubt und Euphorbos ihn verwundet. Als er sich zurückziehen will, ereilt Hektor ihn und nimmt ihm das Leben. Sterbend weissagt Patroklos auch dem Hektor seinen baldigen Tod durch Achilleus (16. 712—761; 765—776; 783 bis 792; 805—813 ; 816—845; 847—867) S e c h s t e r G e s a n g (4. Tag und Nacht zum 5. Tag) Hektor hat Patroklos der Waffen beraubt. Als er ihm das Haupt vom Rumpfe trennen will, wird er vom herbeieilenden Telamonier Aias daran gehindert und muß sich zu den Gefährten zurückziehn. In Achills Waffen erscheint er wieder; nun eilen, auf Geheiß des Telamoniers von Menelaos gerufen, andre achäische Helden zu Hilfe herbei, vor allen Aias, der Sohn des Oileus, Meriones und Idomeneus (17. 125—129; 132—139; 192—197; 210—214; 233—259). Menelaos
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sucht auf Befehl des Telamoniers den Antilochos auf, meldet ihm den Tod des Patroklos und beauftragt ihn, zu Achill zu eilen und ihm zu sagen, in welcher Gefahr des Freundes Leichnam sich be» findet (17. 661—656; 668—700). Dann kehrt er zum Kampf um den toten Patroklos zurück. Der Telamonier bestimmt, daß Menelaos und Meriones den Leichnam tragen sollen, während er mit seinem Namensvetter ihn gegen die Troer und Hektor verteidigen will (17. 706—708; 712—723 1. Hälfte; 736 2. Hälfte bis 752) Achill, von bangen Ahnungen betreffs des Patroklos ergriffen, erhält durch Antilochos die Nachricht, daß sein Freund gefallen sei, und daß um den von Hektor der Rüstung Beraubten ein erbitterter Kampf wfite. Sein grenzenloser Schmerz ruft seine Mutter Thetis herbei. Ihr klagt er sein Leid und erklärt, daß er an Hektor Rache nehmen wolle, obwohl er durch Thetis erfährt, daß er nach dessen Untergang selbst dem Tode verfallen sei. Neue Waffen an Stelle der geraubten verspricht die Mutter für den kommenden Morgen; für den Augenblick rät sie ihm, sich den Troern unbewaffnet am Graben zu zeigen (18.2—33; 70—116; 126—137; 198—199). Achill begibt sich vor den Wall an den Graben, von Athena mit dem Sturmschild beschützt; sein Erscheinen und sein dreimaliger Kriegsruf bringt die Troer in Verwirrung; sie weichen zurück, und der Leichnam des Patroklos kann jetzt in das Lager gebracht werden. Achill folgt der Bahre. Der Kampf hat ein Ende (18. 203—206; 215—218; 222—226; 228—229; 231 2. Hälfte bis 242) Im Feldlager der Troer herrscht Bestürzung. Pulydamas rät zu sofortigem Rückzug in die Stadt, da sonst am nächsten Tage von Achill große Gefahr drohe. Hektor dagegen will sich nicht schon wieder einpferchen lassen, sondern den Kampf in der Ebene auch gegen Achill aufnehmen. Seine Ansicht behält den Sieg (18.243—299; 303—308; 310; 314) Achill klagt um Patroklos und verspricht ihm Rache an Hektor. Der blutige Leichnam wird gewaschen, gesalbt, in Linnen gehüllt und auf eine Bahre gelegt. Die Klage Achills und der Myrmidonen währt die Nacht hindurch (18. 314—317; 318 1. Hälfte; 323 2. Hälfte; 324—328; 333—337; 343—355) S i e b e n t e r G e s a n g (5. Tag) Thetis bringt dem Sohn am frühen Morgen die von Hephaistos verfertigten neuen Waffen und verheißt, daß sie des Patroklos Leichnam vor Verwesung schützen werde (19. 1—39) Achill beruft eine Heeresversammlung und erklärt, daß er dem Zorn entsagen und kämpfen wolle. Agamemnon legt ein Schuldbekenntnis
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ab und ist bereit, Achill die versprochenen Gaben noch vor der Schlacht überreichen zu lassen. Achill hingegen hält sofortigen Beginn des Kampfes für geboten (19. 40—76; 78; 83—90; 137—160). Odysseus verlangt, daß die Mannen erst ein kräftigendes Mahl einnehmen; und Agamemnon soll nicht nur die Gaben überreichen, sondern auch beschwören, daß er Briseis nicht berührt habe. Achill erklärt für seine Person, daß er sich aller Speise enthalten werde, bis die Rache f ü r Patroklos vollzogen sei (19. 154—166; 171—176; 178; 184—197; 198—200; 203—220; 225—227). Der verlangte Schwur wird von Agamemnon geleistet und der Zwist in feierlicher Weise beigelegt. Nach einem Schlußwort Achills begeben sich die Mannen zum Frühmahl (19. 238—281) Achill legt die neuen Waffen an, springt auf den von Automedon gelenkten Streitwagen, spricht mahnende Worte zu seinen Rossen und stürmt zum Kampfe vor (19. 357—364; 369—374 ; 380 2 Hälfte bis 381; 384—403; 424). Er tötet einzelne hervorragende Troer, darunter Polydoros, den jüngsten Sohn des Priamos. Als Hektor naht, den Bruder zu rächen, kommt es zum ersten Zusammenstoß zwischen den beiden Helden. Doch Athena vereitelt den Wurf Hektors, und Apollon entzieht ihn dem Angriff Achills. Es folgt ein wahlloses Wüten des Peliden gegen die Troer (20. 1—3; 381—454; 490—494). A c h t e r G e s a n g (5. Tag) Die Troer fliehen vor Achill zum Skamander. Er tötet viele im Strom; zwölf Jünglinge nimmt er gefangen, um sie dem Patroklos zu opfern. Als ihm der Flußgott befiehlt, die Feinde erst aus dem Strom zu treiben, bevor er sie töte, gehorcht er und wendet sich zur Stadt hin (21. 1—33; 211—227) Priamos läßt für die flüchtigen Troer das skäische Tor öffnen. Um zu verhindern, daß Achill mit eindringt, tritt auf Apollons Geheiß Agenor dem Peliden entgegen und kämpft mit ihm. Dann entrückt der Gott den Agenor, nimmt seine Gestalt an und flieht vor Achill zum Fluß. Inzwischen retten die Troer sich in die Stadt. Das skäische Tor wird geschlossen (21. 526—538 1. Hälfte; 540—569 ; 571—611) Apollon gibt sich Achill zu erkennen. Dieser wendet sich wieder zur Stadt. Nur Hektor befindet sich noch vor den Mauern. Die Eltern bestürmen ihn vergebens zur Rückkehr (22. 5—29; 32—40; 56—64; 66—68; 77—92). Hektor, entschlossen, mit Achill zu kämpfen, wird beim Nahen des Peliden wankend und beginnt zu fliehen. Achill drängt ihn von der Stadt fort und jagt ihn in dreimaligem Rundlauf um Troia herum, immer verhindernd, daß er unter den Schutz der
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Mauern kommt. Die Schicksalswage des Zeus entscheidet gegen Hektor. Apollon, der dem Flüchtigen Ausdauer verliehen hat, muß ihn verlassen (22, 98—120; 122—161; 188—213). Als Helferin Achills tritt Athens auf den Plan. In der Gestalt des Deiphobos veranlaßt sie Hektor, sich zum Kampfe zu stellen. Dessen Vorschlag, den Unterliegenden seinen Freunden auszuliefern, weist Achill zurück (22. 214—218; 222—229 ; 231—247; 248—250; 264—262; 264—272). Der Kampf beginnt. Achills Lanze verfehlt das Ziel, wird ihm aber von Athena zurückgegeben. Hektor trifft, aber verwundet nicht; vergebens sieht er sich nach Deiphobos und einer neuen Lanze um. Als er mit dem Schwert auf Achill losstürzt, trifft dieser ihn tödlich. Sterbend weissagt er dem Peliden den Tod (22. 273—327; 330—345; 349—370; 372—375). Achill läßt den Siegesgesang anstimmen, raubt dem Getöteten die Rüstung, durchbohrt ihm die Fersen, bindet ihn an den Wagen und schleift ihn zum Lager (22. 376—378; 391—404).
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Priamos und Hekabe sehen, wie ihr Sohn mißhandelt wird. Ihre lauten Klagen rufen Andromache herbei, die noch im Palaste weilt und dem Gatten ein Bad bereiten läßt. Sie bricht zuerst ohnmächtig zusammen. Der Gesang endet mit ihrer verzweifelten Klage (22. 405 bis 486; 506—512; 515)
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N e u n t e r G e s a n g (5. Tag abends und 6.—7. Tag) Achill und die Myrmidonen umfahren dreimal die Bahre, auf der Patroklos ruht, und erheben die Klage um ihn. Hektor liegt daneben im Staube. Achill gibt seinen Mannen ein Totenmahl (23. 1—34) . Achill bittet Agamemnon für den nächsten Tag um Errichtung des Scheiterhaufens. Nachdem er mit den Fürsten die Abendmahlzeit eingenommen, legt er sich mit den Seinen am Strande zur Ruhe nieder. Im Schlafe erscheint ihm die Seele des Patroklos und verlangt vom Freunde baldige Bestattung, damit sie Eingang finde in den Hades; auch soll Achill Sorge tragen, daß ihre Gebeine einst vereint in einer Urne ruhen (23. 35—107) Am frühen Morgen wird Holz vom Ida geholt und am Strande niedergelegt. Patroklos wird in feierlichem Zuge zur Verbrennungsstätte gebracht. Achill opfert dem Freunde sein Haupthaar. Der Holzstoß wird errichtet und die Bahre darauf gestellt, umgeben von den getöteten Troern, die verbrannt werden sollen. Als der Scheiterhaufen nicht brennen will, ruft, auf ein Gebet Achills, die Götterbotin Iris den Nord- und Westwind herbei. Sie entfachen den Brand und schüren ihn. Achill wacht während der Nacht. Noch vor Sonnenaufgang sind die Gluten erloschen (23. 108—225)
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Achill erteilt am Morgen nach kurier R u t den Befehl, die Gebeine de* Patroklos in einer Urne zu bergen und um die Feuentltte einen Grabhügel zu errichten. Die Urne wird in die Lagerhfltte Achill« gebracht (23. 326—257). Den Rest des Tages verbringt er damit, daß er den Leichnam Hektors in Pausen um den zu Ehren des Patroklos errichteten Hfigel schleift. Apollon verhindert eine Entstellung des Toten (24. 4. 1. Hälfte; 14—21) Z e h n t e r G e s a n g (7. Tag abends und 8.—10. Tag) Die Mißhandlung Hektors weckt das Mitleid der Götter. Zeus sendet Iris zu Priamos mit dem Befehl, daß er die Fahrt zu Achill wagen und den Sohn von ihm loskaufen solle (24. 22—23; 143—161; 159-180) Ungeachtet der Warnungen Hekabes macht er sich, nach einem Gebet zu Zeus und unter günstigen Zeichen, mit Idaios auf den Weg und wird von der Skamanderfurt an durch Hermes in Jünglingsgestalt zur Lagerhfltte Achills geleitet (24. 188; 191—237 1. Hälfte; 248 2. Hilft»; 263—400; 405—412; 416—417 1. Hälfte; 418—442; 448; 459; 462—463; 465) Achill, von der Mißhandlung der Leiche Hektors in die Hütte zurückgekehrt, hat eben die Abendmahlzeit eingenommen. Das Erscheinen des Priamos und dessen Bitten, verbunden mit der Erinnerung an den eigenen Vater, bewirken einen völligen Umschwung in seinem Groll gegen den getöteten Feind; er erklärt sich bereit, Hektor freizugeben, läßt den Toten baden und salben, und bettet ihn selbst auf eine Bahre, die auf den Maultierwagen gelegt wird. Dann rüstet er ein Mahl für Priamos, gewährt ihm Waffenruhe für drei Tage und läßt ihm und Idaios in der Vorhalle der Hütte ein Lager bereiten (24. 468—493; 498—513; 515—523; 549—550; 552—567; 659—561 1. Hälfte; 571—582; 587—601; 619—640; 643—649; 656—661; 664—676) Am frühen Morgen werden beide von Hermes geweckt und zum S kamander zurückgeleitet. Kassandra sieht die Wagen sich der Stadt nähern und erkennt den Leichnam des Bruders. Auf ihren Wehruf eilen alle hinaus, auch Hekabe und Andromache. Nach der Ankunft in Bios beginnt die Totenklage; sie währt den ganzen Tag. Am nächsten Tage, dem neunten der Handlung, findet die Verbrennung statt, am zehnten die Beisetzung. Ein Totenmahl im Königspalast beendet die der Bestattung Hektors gewidmete Feier (24. 677—692; 694—789; 791—799 1. Hälfte; 801—804)
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ANHANG I. S P Ä T E R E Z U S Ä T Z E Z U M Z O R N L I E D . . . . 1. Streit des Zeus und der Hera (1. 533—611) 2. Mißlungener Anschlag Agamemnon* und Bestrafung des Thersites durch Odysseus (2. 63—277) 3. Vorbereitungen zum Vertrag zwischen Troern und Achtern (3. 15—120) 4. Mauerschau (3. 121—244) 5. Zweikampf des Paris und Menelaos (3. 314—461) . . . . 6. Bruch des Vertrages durch Pandaros (4. 1—219) . . . . 7. Begegnung des Glaukos und Diomedes (6. 119—236) . . . 8. Streit des Hektor und Pulydamas (12. 195—251) II. A U S L A S S U N G E N UND Ä N D E R U N G E N L I E D UND IN S P Ä T E R E N Z U S Ä T Z E N
IM
ZORN-
137 137 139 145 148 162 166 161 164 167
III. B E G R Ü N D U N G D E R A U S L A S S U N G E N U N D Ä N D E R U N G E N IM Z O R N L I E D . A U F B A U D E R ZEHN G E S Ä N G E DES U R G E D I C H T E S . . . . 170
VORGESANG
Den Zorn des Peliden Achilleus besinge, o Muse, den unseligen 1. Zorn, der den Achäern zahllose Leiden schuft Viel hohe Heldenseelen sandte er zum Hades hinab; ihre Leiber ließ er den Hunden zum Raub und den Geiern zum Fraß. So vollzog sich der Wille des Zeus, seit sich im Streite getrennt der Völkerfürst Agamemnon und der edle Achilleus.
ERSTER GESANG
(1. U N D 2. T A G )
Vorgeschichte: Agamemnons Frevel gegen den Priester Apollons. Die Pest im Lager. — Agamemnon und Achilleus im Streit. — Achill durch Agamemnon der Briseis beraubt. Achills Bitte an Thetis um Rache. — Fahrt des Odysseus nach Chryse. — Bitte der Thetis an Zeus um Rache für ihren Sohn.
Welche Gottheit hatte die beiden Helden in Zwietracht verstrickt? Der Sohn des Zeus und der Leto: Apollon! Er hatte 10 eine Seuche ins Lager gesandt, der die Mannen erlagen; denn er grollte dem König, der seinen Priester Chryses beschimpft Die Tochter zu lösen war Chryses zu den achäischen Schiffen gekommen. Er brachte reiches Lösegeld; in seinen Händen trug er am Stabe, dem goldgeschmückten, Apollons heiligen Kranz und bat alle Aohäer, vor allem die beiden Atriden, die Ordner der Mannen: „Söhne des Atreus und ihr andern Achäer! Mögen die olympischen Götter euch verleihen, daß ihr des Priamos Feste zerstört und glücklich zur Heimat zurückkehrt! Mir aber gebt die geliebte Tochter frei und nehmt dies Lösegeld aus Ehrfurcht 20 vor dem Sohn des Zeus, dem weithin treffenden Gotte." Alle Achäer hatten zugestimmt und geraten, den Priester zu 1
VORGESANG
Den Zorn des Peliden Achilleus besinge, o Muse, den unseligen 1. Zorn, der den Achäern zahllose Leiden schuft Viel hohe Heldenseelen sandte er zum Hades hinab; ihre Leiber ließ er den Hunden zum Raub und den Geiern zum Fraß. So vollzog sich der Wille des Zeus, seit sich im Streite getrennt der Völkerfürst Agamemnon und der edle Achilleus.
ERSTER GESANG
(1. U N D 2. T A G )
Vorgeschichte: Agamemnons Frevel gegen den Priester Apollons. Die Pest im Lager. — Agamemnon und Achilleus im Streit. — Achill durch Agamemnon der Briseis beraubt. Achills Bitte an Thetis um Rache. — Fahrt des Odysseus nach Chryse. — Bitte der Thetis an Zeus um Rache für ihren Sohn.
Welche Gottheit hatte die beiden Helden in Zwietracht verstrickt? Der Sohn des Zeus und der Leto: Apollon! Er hatte 10 eine Seuche ins Lager gesandt, der die Mannen erlagen; denn er grollte dem König, der seinen Priester Chryses beschimpft Die Tochter zu lösen war Chryses zu den achäischen Schiffen gekommen. Er brachte reiches Lösegeld; in seinen Händen trug er am Stabe, dem goldgeschmückten, Apollons heiligen Kranz und bat alle Aohäer, vor allem die beiden Atriden, die Ordner der Mannen: „Söhne des Atreus und ihr andern Achäer! Mögen die olympischen Götter euch verleihen, daß ihr des Priamos Feste zerstört und glücklich zur Heimat zurückkehrt! Mir aber gebt die geliebte Tochter frei und nehmt dies Lösegeld aus Ehrfurcht 20 vor dem Sohn des Zeus, dem weithin treffenden Gotte." Alle Achäer hatten zugestimmt und geraten, den Priester zu 1
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ERSTER GESANG
1. scheuen und die herrlichen Gaben zu nehmen. Doch Agamemnon wollte nicht Er wies ihn schmählich ab und sprach die drohenden Worte: „Daß ich dich nicht zum zweiten Male bei den Schiffen treffe, Alter, magst du bleiben oder wiederkehren! Stab und Kranz des Gottes dürften dich dann nicht schützen. Deine Tochter so geb' ich nicht frei. Fern von der Heimat soll sie in meinem Palast in Argos altern, am Webstuhl tätig sein und mein Lager teilen. Packe dich! Reize mich nicht, damit du noch heil davonkommst!" So sprach er. Da erschrak der Greis und gehorchte. Schweigend ging er am Gestade des rauschenden Meeres entlang und betete, fern vom Lager, innig zum Herrscher Apollon, dem Sohne der Leto: „Höre mich, Gott mit dem silbernen Bogen, der du Chryse und das heilige Killa schützest und in Tenedos mächtig gebietest, Smintheus! Dir zur Freude habe ich einen Tempel 40 gebaut und oft feiste Schenkel von Stieren und Ziegen geopfert; erfülle nun auch meinen Wunsch I Triff die Achäer mit deinen Geschossen und laß sie büßen für meine Tränen!" So sprach er betend. Ihn hörte Phoibos Apollon. Von des Olympos Höhen stieg er zornig herab. Auf der Schulter trug er den Bogen und den fest verschlossenen Köcher; es klirrten die Pfeile am Nacken des grollenden Gottes, als er sich vorwärts bewegtet Der Nacht gleich schritt er einher, ließ sich abseits vom Schiffslager nieder und entsandte die Pfeile. Furchtbar klang so die Sehne am silbernen Bogen. Maultiere tötete er zuerst und schnelle Hunde, richtete dann die spitzen Geschosse gegen die Mannen und traf sie. Unablässig brannten in großer Zahl die Scheiterhaufen der Toten. Neun volle Tage waren die Pfeile des Gottes durch das Lager geflogen. Am zehnten berief Achill die Mannen zur Versammlung. Die Göttin Hera gab qs ihm ein; sie war um die Achäer be-
PEST IM LAGER. HEERESVERSAMMLUNG
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sorgt, die sie hinstarben sah. Als sie in großer Menge versammelt, 1. erhob sich der schnelle Achill und sprach: „Agamemnon, Sohn des Atreus, jetzt werden wir, fürchte ich, unverrichteter Sache heimkehren müssen, falls wir dem Tode entrinnen. Denn zu- «o gleich mit dem Kriege rafft auch die Pest die Achäer hinweg. Wohlan 1 Laßt uns den Seher befragen oder den Priester oder einen Deuter der Träume; auch der Traum kommt von Zeus. Er soll uns sagen, weshalb Phoibos Apollon so furchtbar zürnt; ob er ein unerfülltes Gelübde oder ein verweigertes Opfer übel vermerkt h a t Er findet vielleicht am Opferduft von Lämmern und erlesenen Ziegen Gefallen und wendet den Tod von uns ab." So sprach er und setzte sich. Da erhob sich Kalchas, Thestors Sohn, bei weitem der beste Deuter des Vogelflugs. Das, was ist, 70 was sein wird und was gewesen, war ihm bekannt. Er hatte einst die achäische Flotte nach Ilios geleitet mit Hilfe seiner Sehergabe, von Phoibos Apollon verliehen. In guter Absicht ergriff er das Wort und sprach: „Achilleus, Liebling des Zeus! Du forderst mich auf, den Zorn Apollons, des fernhintreffenden Gottes, zu deuten. Wohlan, ich will reden. Du aber höre michl Gelobe, daß du mir hilfreich beistehen willst in Wort und in Tat Denn, ich glaube, ich werde den erzürnen, der über alle Argiver herrscht, und dem die Achäer gutwillig folgen. Allzu mächtig ist ein König, wenn er dem geringeren Manne grollt Bezwingt er auch den so Zorn für den Augenblick, so bewahrt er doch den Haß in der Brust, bis er ihn stillt. Überlege also, ob du mich schützen willst." Der schnelle Achilleus gab zur Antwort: „Verkünde nur ohne Furcht den Willen der Gottheit, der dir bekannt. Denn bei Apollon, dem Liebling des Zeus, zu dem du, Kalchas, betest und den Achäern die Götlergebote meldest: So lange ich lebe und das Sonnenlicht schaue, wird bei den Schiffen keiner von 90 allen Achäern Hand an dich legen, auch Agamemnon nicht, falls du ihn meinen solltest, der mit Recht von sich rühmt, daß er jetzt i*
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ERSTER GESANG
1. bei weitem der Mächtigste i s t " Da faßte der treffliche Seher Mut und sprach: „Apollon zürnt nicht wegen unerfüllter Gelübde oder verweigerter Opfer, sondern wegen des Priesters Chryses. Ihn hat Agamemnon beschimpft, hat ihm die Tochter nicht freigegeben und sein Lösegeld nicht genommen. Deshalb hat der Ferntreffer Leiden verhängt und wird sie weiter verhängen. Er wird die Achäer von dem furchtbaren Elend nicht eher erlösen, bis wir dem Vater die Tochter wiedergeben, ohne Kaufpreis und ohne Lösegeld, und 100 ein heiliges Opfer nach Chryse senden. Dann können wir den Gott vielleicht begütigen und versöhnen." So sprach er und setzte sich. Nun erhob sich der Atride, der weithingebietende Agamemnon. Er war heftig erregt. Sein umdüstertes Herz war voll von verhaltener Wut; seine Augen glichen loderndem Feuer. Drohend sprach er zuerst zu Kalchas: „Unglücksprophet! Noch nie hast Du mir Angenehmes verkündet Immer liebst du es, Böses zu melden. Erfreuliche Dinge hast du weder je gesagt noch zur Erfüllung gebracht. So weissagst du jetzt den Achäern, der ferniio hintreffenda Gott bereite ihnen Leiden, weil ich das Lösegeld für die Jungfrau Chryseis nicht habe annehmen wollen. Gewiß, ich wollte sie liei>er bei mir behalten. Schätze ich sie doch höher als Klytämnestra, mein Jugendgemahl; denn sie steht ihr an Schönheit und Wuchs nicht nach, auch an Verstand nicht und an Kunstfertigkeit Gleichwohl bin ich entschlossen, sie zurückzugeben, wepn es so besser. Ich will lieber, daß die Mannen erhalten bleiben, als daß sie verderben. Aber haltet sofort eine andere Gabe für mich bereit, damit ich nicht als einziger Argiver 120 ohne Beutestück bleibe. Es wäre nicht geziemend. Ihr seht ja alle, welch Ehrengeschenk ich verliere." Der edle Achilleus erwiderte: „Sohn des Atreus, allen an Ansehn überlegen, aber auch an Habgier I Wie können die hoch-
ACHILL UND AGAMEMNON IM STREIT
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gemuten Achäer dir jetzt eine Ehrengabe verschaffen? Wir 1. wissen nichts von reichem Gemeingut, das zur Verfügung stände. Verteilt ist, was wir aus den Burgen erbeutet Dies wieder zusammenzusuchen und herzuschleppen ziemt sich nicht für die Mannen. Gib die Jungfrau dem Gotte zu Ehren frei! Wir Achäer wollen cür's drei- und vierfach ersetzen, wenn Zeus verleiht,, daß wir die Feste Troia zerstören." Doch Agamemnon gab zur Antwort: „Göttergleicher, sonst so iso edler Achilleus, verstelle dich nicht! Überlisten und umstimmen wirst du mich doch nicht. Während du selbst deine Ehrengabe behalten willst, verlangst du, daß ich sie dauernd eptbehre, und dringst in mich, die Jungfrau heimzusenden. Ja, ich werde es tun, wenn die Achäer eine andere Ehrengabe spenden, die sie nach meinem Wunsche so ausgesucht, daß sie gleichwertig ist Wo nicht, so werde ich selber kommen und sie holen, die deine oder die des Aias oder auch die des Odysseus, werde sie an mich nehmen und nach Hause führen. Ärgern wird sich der, zu dem 140 ich komme. Doch darüber können wir später reden. Jetzt wollen wir ein dunkles Schiff in die heilige Salzflut ziehen, wollen Ruderer zur Genüge versammeln, die Opfertiere verladen und die schöne Chryseis einsteigen lassen. Führer sei einer der Fürsten, Aias, Idomeneus oder der edle Odysseus oder du selbst, Pelide, Trotzigster aller Helden, damit du uns durch Opfer den fernhintreffenden Gott versöhnst." Finsteren Blickes versetzte der schnelle Achilleus: „Schamloser, habgieriger König! Wie soll ein Achäer dir noch gerne folgen iso und sich zu einer Fahrt für dich oder zu ernstem Kampf mit deinen Feinden entschließen? Bin ich doch nicht der Troer wegen hergekommen. Sie haben mir nichts zuleide getan, haben mir keine Rinder fortgetrieben, auch keine Rosse, oder im fruchtbaren, männernährenden Phthia die Früchte vernichtet; unendliche Weiten liegen dazwischen, schattenspendende Berge und
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ERSTER GESANG
1. das rauschende Meer. Nur dir zuliebe sind wir gefolgt, du Unverschämter, um der Sühne willen seitens der Troer für Menelaos 160 und für dich, du Frecherl Doch das kümmert dich gar nicht. Du drohst sogar mit dem Raub meines Ehrengeschenks, das ich mühsam gewonnen, und das die Achäer mir gaben. Ohnedies erhalte ich nie dasselbe Geschenk wie du, wenn die Achäer eine troische Feste zerstören. Meine Arme leisten zwar das meiste üp stürmischen Kampf, doch wenn es zur Teilung kommt, ist dein Gewinn weit größer. Ich kehre müde vom Streit und mit wenigem 170 froh zum Lager zurück. Jetzt segle ich nach Phthia. Besser ists, mit den Schiffen heimzukehren. Ich denke nicht, hier ungeehrt dir Schätze zu sammeln." „Mach dich davon", rief Agamemnon, „falls du Lust dazu hast Ich bitte dich nicht, meinetwegen zu bleiben. Mir stehen andre zur Seite, die mich ehren, vor allem Zeus, der Berater. Du bist mir unter den Fürsten ganz verhaßt, liebst nur immer den Streit, den Kampf und den Krieg. Gewiß, du bist stark; doch hat dir das eine Gottheit verliehn. Fahre heim mit deinen Schiffen 180 und deinen Gefährten und spiele bei den Myrmidonen den Herrn. Ich frage nichts nach dir und mache mir nichts aus deinem Groll. Das aber sage ich dir: Wie Phoibos Apollon mir die Tochter des Chryses nimmt, — ich entsende sie jetzt auf meinem Schiff und mit meinen Gefährten —, so werde ich mir aus deiner Hütte des Briseus schöne Tochter holen, deine Ehrengabe, damit du siehst, wie sehr ich dich an Macht überrage, und damit auch andre sich scheuen, sich mir gleichzudünken und mir entgegenzutreten." So sprach er. Da ergrimmte der Pelide; doch schwankte sein 190 Herz in der Brust, ob er das scharfe Schwert von der Hüfte reißen, die Gefährten zur Seite stoßen und den Atriden durchbohren, oder ob er seinen Zorn unterdrücken und die Leidenschaft zügeln solle. Während er dies überdachte und das ge-
ATHENA BESÄNFTIGT ACHILL
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waltige Schwert schon aus der Scheide ziehen wollte, kam Athena 1. vom Himmel herab. Es sandte sie Hera, die beide Fürsten in gleichem Maße liebte und schützte. Sie trat von rückwärts an den Peliden heran und berührte sein blondes Haar, nur ihm sichtbar; von den andern sah sie niemand. Achilleus staunte, wandte sich um und erkannte alsbald Pallas Athena. Ihre blitzenden Augen leuchteten ihm entgegen, und er 200 sprach zu ihr die hastigen Worte: „Warum bist du gekommen, Tochter des Zeus, des blitzumflammten ? Etwa, um die Überhebung des Atriden Agamemnon zu sehn? Ich sage dir, und es wird sich erfüllen: Seinen Hochmut wird er noch mit dem Leben bezahlen." Die helläugige Göttin Athena entgegnete: „Deinen Zorn ,zu besänftigen kam ich vom Himmel; vielleicht gehorchst du. Hera hat mich gesandt. Sie liebt und beschützt euch beide in gleichem Maße. Laß vom Kampf und ziehe das Schwert nicht I Nur mit 210 Worten schilt ihn, wie sie dir kommen. Denn ich sage dir, und es wird sich erfüllen: Dreimal soviel prächtige Gaben gewinnst du einst durch seinen Frevel. Beherrsche dich jetzt und sei uns gehorsaml" Der schnelle Achilleus gab zur Antwort: „Erhabene Göttin, ich bin ergrimmt, doch muß ich euer beider Gebot befolgen.; So ist es besser. Wer den Göttern gehorcht, den erhören sie wieder." Sprachs, legte die wuchtige Faust an den silbernen Griff und stieß das mächtige Schwert in die Scheide. So folgte 220 er dem Gebot der Athena. Diese war schon wieder zum Olymp in den Palast des blitzumflammten Zeus und zu den Göttern gegangen. Zum Sohn des Atreus sprach der Pelide abermals kränkende Worte; er konnte noch kein Ende finden des Grolls. „Vom Wein Berauschter, mit dem frechen Blick des Hundes und dem furchtsamen Herzen des Hirsches! Niemals wagst du, mit den Mannen
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ERSTER GESANG
1. zur Schlacht dich zu rüsten, niemals mit den Tapfersten der Achäer zum Hinterhalt auszuziehn. Das fürchtest du wie den 230 Tod. Vorteilhafter ist es freilich, im weiten Achäerlager dem, deir dir widerspricht, die Ehrengaben zu nehmen. Ein Volksvertilger bist du, und Feiglinge sind es, die du beherrscht Sonst hättest du wahrlich jetzt zum letzten Male gefrevelt. Ich aber sage dir und beschwöre es mit einem heiligen Eid: Sieh diesen Stabl So wahr er niemals Blätter und Zweige treibt, seit er den Stumpf im Gebirge verließ, und niemals grünt, — das Erz hat Blätter und Rinde abgeschält; die Söhne der Achäer tragen ihn jetzt als Richter in ihren Händen und schirmen das Recht im Auftrag des Zeus —, einst wird — es ist ein heiliges Wort — 240 alle Achäer Sehnsucht ergreifen nach Achilleus. Dann wirst du, so bekümmert du bist, nicht helfen können, wenn durch den männermordenden Hektor viele niedersinken. In deinem Herzen wirst du dich härmen und dir selber zürnen, weil du den Tüchtigsten der Achäer beschimpft hast." So sprach der Pelide und warf zur Erde den Stab, der mit goldenen Nägeln beschlagen. Dann setzte er sich. Der Atride wollte weiter streiten. Doch der redegewandte Nestor sprang auf, der Pylier hellstimmiger Sprecher; süßer als Honig floß ihm 250 die Rede vom Mund. Zwei Geschlechter der Menschen, der vergänglichen, im heiligen Pylos einst mit ihm geboren und erzogen, waren hingeschwunden; er herrschte über das dritte Geschlecht. „Wehe!" so sprach er in guter Absicht, „Großes Leid trifft das achäische Land. Freuen werden sich Priamos und des Priamos Söhne; auch die andern Troer werden frohlocken, wenn sie dies alles erfahren, wie ihr beide hadert, die ihr im Rat der Achäer die Besten seid und die Besten im Kampf. Hört auf mich 1 2so Seid ihr doch beide jünger. Einst verkehrte ich mit Männern, die stärker waren als ihr; sie haben mich nicht gering geachtet.
NESTOR VERSUCHT ZU VERMITTELN
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Nie sonst sah ich solche Helden und werde sie nicht sehn, wie 1. Peirithoos und Dryas, den Beherrscher der Mannen, wie Kaineus, Exadios und den göttergleichen Polyphemos. Es waren die stärksten aller lebenden Menschen; sie waren Riesen an Kraft und kämpften mit Riesen, mit den Kentauren der Berge, und vernichteten sie. Bei ihnen weilte ich; ich war aus Pylos gekommen, aus fernem Land. Sie hatten mich zu sich gerufen. Und ich 270 kämpfte für mich allein. Keiner der jetzt lebenden Menschen würde solche Helden bestehn. Und doch hörten sie auf meine Rede und befolgten meinen Rat. Drum folgt auch ihr! Rat anzunehmen ist nützlich. Agamemnon, nimm ihm die Jungfrau nicht fort, der du sonst so besonnen. Laß sie ihm, nachdem die Achäer sie als Ehrengabe verliehn. Und du, Pelide, wolle nicht hadern mit dem Könige. Einem zeptertragenden Fürsten, dem Zeus Ruhm gewährt, gebührt höhere Ehre als dir. Gewiß, du bist stärker, und eine Göttin hat dich geboren. Doch er ist mäch- 2so tiger; er gebietet größeren Scharen. Du, Atride, bezähme den Ingrimm I Ich, Nestor, bitte dich dringend, deinen Zorn fahren zu lassen um des Achilleus willen, des starken Hortes im grausigen Kampf für alle Achäer." Der mächtige Agamemnon gab ihm zur Antwort: „Greiser Fürst! Recht hast du mit allem, was du geredet. Aber der dort will sich über alle erheben, will aller Herr sein, allen gebieten und befehlen; dem wird sich, meine ich, mancher nicht fügen. Wenn die ewigen Götter ihn zu einem gewaltigen Krieger 290 machten, geben sie ihm damit das Recht, andre zu kränken?" Da fiel ihm der edle Achilleus ins Wort: „Fürwahr, ich verdiente, feige genannt zu werden und minderwertig, wollte ich wirklich allem mich fügen, was du gebietest. Mute das andern zu, nicht mir! Doch etwas weiteres will ich dir sagen; beachte es wohl! Wegen der Jungfrau werde ich weder mit dir noch mit einem andern tätlich streiten; denn ihr nehmt mir, was
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ERSTER GESANG
1. ihr gegeben. Von den andern Gütern aber, die ich beim Schiff 8oo besitze, sollst du gegen meinen Willen mir nichts nehmen und entfernen. Komm! Versuchs, damit auch die Achäer hier sehen, wie dein dunkles Blut alsbald an meinem Speer heranterrieselt. So hatten die beiden Fürsten mit feindlichen Worten gestritten. Jetzt standen sie auf und machten der Versammlung bei den Schiffen ein Ende. Der Sohn des Peleus ging mit dem Sohn des Menoitios und den Gefährten zu seinen Lagerhütten und Schiffen. Der Sohn des Atreus ließ ein schnelles Fahrzeug ins Meer ziehn, wählte zwanzig Ruderer dafür aus und schaffte die Opfertiere sio hinein, die dem Gott geweiht Dann brachte er des Chryses schöne Tochter in das Schiff und hieß sie niedersitzen. Als Führer des Fahrzeugs ging Odysseus an Bord; drauf fuhren sie auf die hohe See und über die feuchten Pfade. Inzwischen gebot der Atride den Mannen, Waschungen vorzunehmen zum Zweck der Sühne. Sie wuschen sich und schütteten allen Unrat in die Flut. Dann brachten sie am Strande des ruhelosen Meeres dem Gotte Apollon erlesene Opfer dar an Rindern und Ziegen. Der Fettgeruch stieg im Rauch empor und drang zum Himmel. Während man so im Lager beschäftigt war, setzte Agamemnon ins Werk, womit er Achilleus im Streite bedroht. Er sprach 320 zu Talthybios und Eurybates, seinen Rufern und schnellen Gefährten: „Geht zur Lagerhütte des Peliden Achilleus, nehmt die schöne Briseis bei der Hand und führt sie her. Gibt er sie nicht, so komme ich mit einer größeren Schar, sie zu holen. Das wird für ihn noch schmerzlicher sein." So entließ er sie mit strengem Befehl. Widerstrebend schritten sie am Gestade des ruhelosen Meeres entlang und kamen zu den Hütten und Schiffen der Myrmidonen. Sie fanden Achilleus; er saß bei der Hütte, in der Nähe des dunklen Fahrzeugs. Ihr An880 blick machte ihm keine Freude. Aus Furcht und Scheu vor dem
AGAMEMNON LASST BRISEIS RAUBEN
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Fürsten blieben sie stehen und wagten nichts zu sagen noch zu 1. fragen. Er aber verstand sie und sprach: „Herolde, Boten des Zeus und der Menschen, seid gegrüßt 1 Tretet herzu I Agamemnon ist schuld, nicht ihr. Er schickt euch wegen der Tochter des Briseus. Geh denn, edler Patroklos! Führe die Jungfrau heraus und übergib sie den Boten I Sie selbst sollen mir Zeugen sein vor den seligen Göttern, den sterblichen Menschen und dem unbeugsamen König, falls man vielleicht einst meiner wieder bedarf 340 zum Schutze der andern in schmählicher Not. Er ist wie rasend in seinem verderblichen Wahn und vergißt, was gewesen ist, und was geschehen muß, damit die Achäer den Kampf bei den Schiffen glücklich bestehn." So sprach er. Patroklos gehorchte dem lieben Freunde, führte die schöne Briseis aus der Hütte heraus und übergab sie ihnen. Sie begaben sich wieder zu den Schiffen. Nur gezwungen folgte die Jungfrau. Achilleus aber brach in Tränen aus und entfernte sich von den Gefährten. Am Gestade der schäumenden Salzflut ließ er sich nieder, sah hin- 350 aus auf das unendliche Meer und betete zur lieben Mutter mit erhobenen Händen: „Mutter, da du mich nur für ein kurzes Leben geboren, hätte Zeus, der Donnerer im Olympos, wenigstens meine Ehre schirmen sollen. Er hat es durchaus nicht getan. Der Atride, der weithin gebietende Agamemnon, hat mich beschimpfen dürfen; er besitzt meine Ehrengabe, hat sie mir selbst geraubt." So sprach er, Tränen vergießend. Die erhabene Mutter vernahm ihn. In der Tiefe des Meeres saß sie beim greisen Vater; aus der schäumenden Flut stieg schnell sie empor wie ein Nebelgewölk und setzte sich zu dem weinenden Sohn. Seine Wange 360 streichelnd sprach sie: „Mein Sohn, warum weinst du? Welches Leid bedrückt dich? Sprich! Verhehle mir nichts, damit wir beide drum wissen." Tief seufzend versetzte Achilleus: „Mutter, du weißt es. Was
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ERSTER GESANG
1. brauche ich der Wissenden alles zu sagen? Wir zogen gegen Thebe, des Eetion heilige Stadt, zerstörten sie und brachten alle Beute hierher. Die Söhne der Achäer verteilten sie, wie sichs gehört. Für Agamemnon bestimmten sie die Tochter des Chryses. Dieser, ein Priester des Ferntreffers Apollon, kam zu den s7o Schiffen der Achäer, um seine Tochter zu lösen. Er brachte reiches Lösegeld. Doch Agamemnon wollte nicht. Er wies ihn schmählich ab und sprach harte Worte zu ihm. Der Greis ging 380 grollend davon. Sein Flehen erhörte Apollon; er war ihm teuer. Böse Geschosse sandte er unter die Argiver; scharenweise starben die Mannen; überall drangen die Pfeile des Gottes durch das weite achäische Heer. Der wissende Seher aber verkündete uns den Willen Apollons. Da riet ich sofort als erster, ihn zu versöhnen. Doch den Atriden packte grimmige Wut. Er sprang empor und stieß eine Drohung aus, die nun in Erfüllung gegangen. 390 Jene Jungfrau senden die Achäer auf schnellem Schiff nach Hause und führen Geschenke mit für den Gott. Des Briseus Tochter aber, die mir die Achäer gegeben, haben Herolde jetzt eben aus meiner Hütte fortgeführt. Drum hilf deinem Sohn, wenn du kannst 1 Geh zum Olymp, und wenn du je das Herz des Zeus durch Wort oder Tat erfreut hast, so bitte ihn. Vielleicht entschließt er sich, den Troern zu helfen und die Achäer zu den Schiffen und an den Strand zurückzudrängen. Dann werden sie 410 alle die Torheit des Königs zu kosten bekommen, und auch der Atride, der weithingebietende Agamemnon, wird erkennen, wie verblendet er war, als er den besten Achäer beschimpfte." Weinend erwiderte Thetis: „Weh mir, mein Sohnl Weshalb habe ich dich zum Unglück geboren und aufgezogen? Da dein Leben so kurz bemessen, hätten Tränen und Leiden dich bei den Schiffen verschonen sollen. Nun ist zu frühem Tode dir poch ein leidvolles Dasein beschieden. Ich habe dich im Palast wirklich zu bösem Schicksal geboren. Deine Bitte melde ich dem blitze-
CHRYSEIS WIRD HEIMGEBRACHT
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schleudernden Zeus. Ich gehe selbst zum schneebedeckten Olym- 1. pos; vielleicht erhört er mich. Du aber bleibe bei den Schiffen! 4» Verharre im Groll gegen alle Achäer und enthalte dich gänzlich des Kampfes." So sprach sie und ging davon. Sie ließ ihn zurück im Zorn, der Jungfrau wegen, die man ihm gewaltsam geraubt Odysseus gelangte mit dem heiligen Opfer nach Chryse. Als 430 sie zur tiefen Bucht gekommen, zogen sie die Segel ein und bargen sie im dunklen Schiff. Den Mastbaum ließen sie an Tauen nieder und legten ihn schnell in die Gabel. Das Fahrzeug ruderten sie zum Anlegeplatz, warfen die Senksteine aus und banden die Haltseile fest. Dann stiegen sie selbst heraus an den Strand und schifften die Opfertiere für den Ferntreffer aus. Auch Chryseis ging an Land. Der kluge Odysseus geleitete sie zum Altar, über- 440 gab sie dem Vater und sprach: „Chryses! Mich sendet Agamemnon, der Gebieter der Mannen, dir deine Tochter zuzuführen und dem Phoibos heilige Opfer zu bringen zum Besten der Achäer, damit wir den Herrscher versöhnen, der jetzt jammervolle Leiden über sie verhängt hat." Mit solchen Worten übergab er sie ihm. Der empfing freudig sein liebes Kind. Schnell stellten sie für die Gottheit die heiligen Tiere der Reihe nach um den schöngebauten Altar, wuschen die Hände und nahmen Opfergerste. Dann betete Chryses laut, indem 450 er die Hände erhob: „Höre mich, Gott mit dem silbernen Bogen, der du Chryse und das heilige Killa schützest und in Tenedos mächtig gebietest I Wie du schon einmal mein Rufen erhört, mich zu Ehren gebracht und die achäischen Mannen schwer gestraft hast, so erfülle mir jetzt folgenden Wunsch: Erlöse die Achäer vom furchtbaren Elend." So betete er; ihn erhörte Phoibos Apollon. Als sie gebetet und die Opfergerste gestreut, bogen sie den Nacken der Tiere zurück, schlachteten und häuteten sie. Dann schnitten sie die Schenkel- 460
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ERSTER GESANG
1. stücke heraus, umwickelten sie mit Fett in doppelter Lage und legten rohe Stücke Fleisch darauf; der Greis verbrannte sie über dem Scheitholz; darüber goß er funkelnden Wein. Jünglinge hielten in seiner Nähe fünfzinkige Gabeln in den Händen. Als sie die Schenkelstücke verbrannt und die inneren Teile verzehrt, zerschnitten sie das übrige, steckten es an Spieße und zogen alles wieder ab, nachdem sie es sorglich gebraten. Als sie die Arbeit vollendet und die Speisen bereitet, schmausten sie, und ihr Herz entbehrte nicht des gebührenden Mahles. Das Verlangen nach Speise und Trank war gestillt. Die Jüng«70 linge füllten große Krüge bis zum Rande mit Wein und gössen in alle Becher den Weiheguß. Den ganzen Tag suchten die achäischen Mannen durch Tanz und Gesang Apollon huldvoll zu stimmen; in herrlichen Liedern feierten sie den weithintreffenden Gott. Der freute sich, als er es hörte. Sobald die Sonne versank und das Dunkel heraufkam, legten sie sich bei den Haltetauen des Schiffes zur Ruhe nieder. Als Eos, die rosenfingrige Göttin der Frühe, erschien, stachen sie zum weiten Lager der Achäer in See. Apollon sandte günstigen 4M Wind. Der Mast ward aufgerichtet, die weißen Segel wurden entfaltet. Der Wind blies mitten hinein, und um den Vorderkiel des Fahrzeugs brauste laut die farbenprächtige Flut. Das Schiff lief durch die Wogen und hatte gute Fahrt Sie kamen zum weiten achäischen Lager, zogen das dunkle Schiff ans Land, die Dünen hinauf, stellten Stützen darunter und zerstreuten sich zu den Lagerhütten und Schiffen. 495
Thetis hatte den Auftrag ihres Sohnes nicht vergessen. Im Morgengrauen tauchte sie aus den Meereswogen empor und schwang sich zum hohen Himmel und zum Olympos hinauf. Sie fand den Kroniden fern von den andern Göttern auf der 6oo höchsten Kuppe des gipfelreichen Gebirges und setzte sich ihm
THETIS UND ZEUS
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gegenüber. Ihre Linke legte sie ihm auf die Knie, mit der Rechten 1. beröhrte sie sein Kinn und sprach bittend zum gebietenden Sohne des Kronos: „Vater Zeus, wenn ich unter den Göttern je dir Gutes erwiesen in Wort oder Tat, so erfülle nunmehr, um was ich dich bitte: Bringe den Sohn mir wieder zu Ehren! Ihm ist im Vergleich zu andern ein kurzes Leben beschieden; dennoch hat ihn Agamemnon beschimpft; er hat sein Ehrengeschenk in Besitz genommen, hat es ihm selbst geraubt Bring ihn wieder zu Ehren, allwaltender Zeus! Gib den Troern solange Sieg, bis die Achäer ihn wieder ehren, ja mit Ehren überschütten." sio So sprach sie. Der wolkensammelnde Zeus gab keine Antwort Lange saß er und schwieg. Da bat Thetis zum andernmal, fest angeschmiegt an seine Knie, die sie berührte: „Versprich es sicher und nicke Gewährung oder versag es, — du brauchst dich vor niemand zu fürchten —, ich weiß dann genau, wie sehr idi unter den Unsterblichen die Verachtetste bin." Unmutvoll erwiderte Zeus: „Fürwahr, das sind böse Dinge! Du wirst mich durch deinen Wunsch mit Hera entzweien. Sie wird mich schelten und zum Zorne reizen. Tadelt sie mich doch ohnedies vor den Unsterblichen und sagt, ich stände den Troern bm im Kampfe bei. Doch entferne dich jetzt, damit sie dich nicht sieht Ich werde sorgen, daß ichs vollende. Mit meinem Haupte nicke ich Gewährung, damit du Vertrauen hegst Für die Götter ist dies das sicherste Pfand. Unwiderruflich, untrüglich und unfehlbar ist alles, was ich mit dem Neigen des Hauptes verheiße." Sprachs und nickte ihr zu und senkte die dunklen Brauen. Am unsterblichen Haupt des Gebieters bewegten sich die göttlichen Locken, und der hohe Olympos erbebte. Nach solchem Zwie- m gespräch trennten sie sich. Thetis sprang vom strahlenden Gipfel in die tiefe Salzflut hinab. Zeus begab sich in seinen Palast
Z W E I T E R G E S A N G (3. TAG) Agamemnon durch Zeus zum Angriff verleitet. — Auszug der Achäer und Troer zum Kampf. Beginn der Schlacht. Die Achäer anfangs siegreich. Rat des troischen Sehers Helenos.
2.
Während die Götter und reisigen Mannen die Nacht hindurch schliefen, hielt der erquickende Schlaf den Kroniden nicht dauernd umfangen. Er sann nach, auf welche Weise er den Achilleus zu Ehren bringen, die Achäer aber bei den Schiffen in Scharen vernichten könne. Den verderblichen Traumgott zu Agamemnon zu senden schien ihm am besten. Er rief ihn und sprach die eiligen Worte: „Gott der Träume, mache dich auf und begib dich zu den achäischen Schiffen! Geh in die Lagerhütte Agamemnons 10 und richte alles genau so aus, wie ich es sage. Fordre ihn auf, die Achäer mit allem Eifer zum Kampf zu entflammen. Sag ihm, er könne jetzt der Troer breitstraßige Stadt erobern; nicht mehr uneins seien die Himmlischen; Heras Bitte habe allen den Sinn gewandelt und über die Troer seien Leiden verhängt." So sprach er. Der Gott der Träume machte sich auf, nachdem er den Auftrag vernommen. Schnell gelangte er zu den achäischen Schiffen und begab sich zum Sohn des Atreus. Er fand ihn in der Hütte; ein gottgesandter Schlaf umfing ihn. Da trat er ihm 20 zu Häupten; er glich Nestor, dem Sohne des Neleus, den Agamemnon unter den älteren Fürsten am meisten schätzte. Ihm ähnlich begann der Traumgott: „Sohn des reisigen Atreus, du schläfst? Nicht sollte die ganze Nacht hindurch ruhen ein beratender Fürst, dem die Mannen sich anvertraut und der solch große Verantwortung hatl Vernimm jetzt mein eilig Gebot! Ich komme zu dir als Bote des Zeus, der, wenn auch fern, sich sehr um dich sorgt und sich deiner erbarmt. Er fordert dich auf, die Achäer mit allem Eifer zum Kampf zu entflammen. Erobern so kannst du jetzt der Troer breitstraßige Stadt. Die Himmlischen
AGAMEMNON RUFT ZUM KAMPF
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sind nicht mehr uneins. Heras Bitte hat allen den Sinn gewandelt, 2. und über die Troer sind Leiden von Zeus verhängt. Dies alles behalte in deinen Gedanken! Daß keine Vergessenheit über dich komme, wenn der süße Schlaf dich verläßt." Sprachs und verschwand. Ihn aber ließ er zurück mit Gedanken, die sich nicht verwirklichen sollten. Hoffte er doch, pm kommenden Tage des Priamos Stadt zu zerstören, der Betörte. Er wußte nicht, was Zeus im Sinne hatte. Der wollte in gewaltigen Schlachten noch Jammer und Not verhängen über 40 Achäer und Troer. Nun erwachte Agamemnon vom Schlaf; doch hörte er noch den Klang der göttlichen Stimme. Er setzte sich aufrecht hin und legte den weichen, prächtigen Rock an, den weißschimmernden ; darüber warf er den großen Mantel. Unter seine Füße band er die schönen Sandalen; über die Schulter warf er das Schwert mit den silbernen Nägeln. Dann ergriff er das von den Vätern ererbte, unvergängliche "Zepter. Mit ihm begab er sich zu den Schiffen der Achäer. Eos stieg schon empor zum hohen Olympos, um Zeus und den andern Göttern den Tag zu verkünden, als der Atride den 60 Rufern befahl, die Achäer zum Kampf zu entbieten. Die Herolde 443 riefen; schnell kamen die Mannen zusammen. Mit dem Atriden waren die Fürsten eifrig bemüht, die Scharen zu ordnen; desgleichen Athena. Sie trug den kostbaren Sturmschild, den ewigen, göttlichen; von ihm hängen hundert Troddeln herab, ganz aus Gold, alle geflochten, jede im Wert von hundert Rindern. Mit 450 ihm stürmte sie, Glanz verbreitend, durch der Achäer Reihen und spornte sie an; jedem weckte sie die Lust zu unaufhörlichem, tapferem Streit. Den Troern aber nahte, von Zeus gesandt, die windschnelle 786 Iris mit schmerzlicher Botschaft. Vor dem Königspalast waren 2
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ZWEITER GESANG
2. Junge und Alte zur Beratung vereint Iris trat nahe hinzu; sie 790 ahmte Polites nach, des Priamos Sohn. Der saß immer als Späher der Troer auf dem Hügel des Aisyetes und gab acht, wann die Achäer sich von den Schiffen aufmachen würden; er vertraute dabei auf die Schnelligkeit seiner Füße. Ihm gleichend sprach Iris zu Priamos: „Vater, du liebst immer noch endlose Reden, wie einst im Frieden; und wir haben doch harten Krieg. Wahrlich, oft bin ich in Männerschlachten gewesen, aber ein so tüchtiges und so großes Heer, wie das der Achäer, sah ich noch nie. 8oo Zahllos wie die Blätter am Baum und der Sand am Meer ziehn durch die Ebene sie zum Kampf gegen Troia. Hektor, ich rate dir dringend, so zu verfahren: In der Stadt sind viele Bundesgenossen; verschieden ist die Sprache der Weitzerstreuten. Drum befehlige jeder Gebieter das eigene Volk; er stelle die Seinen auf und führe sie." Hektor erkannte die Stimme der Göttin und entließ sogleich die Versammlung. Sie eilten zu den Waffen. Beide Flügel des skäischen Tores wurden geöffnet. Die Mannen stürmten hinaus, 8io zu Fuß und zu Wagen; es erhob sich ein gewaltiger Lärm. Vor der Stadt liegt ein Hügel, steil, fern in der Ebene und überall frei. „Batieia" nennen ihn die Menschen; „Das Grab der behenden Myrine" die Götter. Dort ordneten sich die Troer und Bundesgenossen. Die Troer führte Hektor, der Held mit dem wallenden Helmbusch, des Priamos gewaltiger Sohn; er hatte die meisten Mannen und die besten, alle begierig zum Lanzenkampf. 4. Wie am tosenden Strand bei stürmischem West die Flut in 422 dichtgedrängten Wellen heranrollt, — auf hoher See erhebt sich die Woge, am GeRtade bricht sie sich und brüllt gewaltig; an der Klippe türmt sie sich im Bogen empor und speit den Schaum des Meerwassers aus —, so dichtgedrängt zogen die Reihen der Aqhäer ununterbrochen zum Kampf. Der Führer gab die Befehle; 48o still waren die Mannen. Man hätte glauben sollen, das große Heer
BEGINN DES KAMPFES
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sei stumm, so lautlos folgten sie, den Fuhrern gehorsam; im 4. Glanz der schimmernden Waffen zogen die Reihen dahin. Anders die Troer! Wie im Gehöft eines reichen Mannes die Schafe zu Hunderten stehn und gemolken werden, — sie blöken unaufhörlich, weil sie die Stimmen der Lämmer vernehmen —, so klang das Geschrei der Troer im weiten Heer. Sie bedienten sich nicht des gleichen Zurufs, derselben Sprache; die Mundarten waren verschieden; es gab Männer aus vielerlei Volk. Die Troer feuerte Ares an, die Achäer Pallas Athena. Schrecken 440 und Grauen gingen um und die rastlos tätige Ens, die Schwester und Freundin des männermordenden Ares. Sie ist anfangs klein und erhebt sich allmählich, bald aber reicht sie mit dem Haupt bis zum Himmel und hat die Füße am Boden. Die Scharen durchschreitend, weckte auch jetzt sie in beiden Heeren den Haß, begierig, das Stöhnen der Männer zu mehren. Endlich erreichten sie sich. Mutbeseelte, erzgepanzerte Männer mit Schilden und Lanzen trafen zusammen; Buckelschilde prallten gegeneinander; ein gewaltiger Lärm erhob sich. Wild durcheinander erscholl Wehgeschrei der Getroffenen und Frohlocken 4M der Sieger; die Erde floß von Blut. Wie wilde Wasser vom Gebirge ihre vom Regen geschwellten Fluten in einem Kessel vereinigen; sie fließen in hohlen Schluchten aus starken Quellen, und der Hirt in den Bergen vernimmt von ferne den lauten Donner; so laut erscholl das Kampfgeschrei der gegeneinander stürmenden Mannen. Antilochos war der erste, der einen Troer erschlug; den tapfern Echepolos, des Thalysios Sohn, der bei den Vorkämpfern stand, traf er am Bügel des Helms. Die eherne Lanze drang in die Stirn 460 und durchbohrte den Knochen. Dunkel umhüllte die Augen; in der Feldschlacht sank er dahin, wie ein Turm stürzt Der gewaltige Elephenor, des Chalkodon Sohn, Führer der hochgemuten Abanten, ergriff den Gefallenen bei den Füßen; er suchte ihn 2*
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ZWEITER GESANG
4. aus dem Bereich der Geschosse zu ziehen, gewillt, ihm schnell die Rüstung zu rauben. Doch kurz nur währte der Eifer. Daß er den Leichnam schleifte, sah Agenor, der Held, und mit dem ehernen Speer traf er ihn tödlich in die Seite, die beim Bücken 470 vom Schild nicht gedeckt war. So verließ ihn das Leben; über ihm aber entbrannte ein heißer Kampf der Achäer und Troer. Wie Wölfe sprangen sie gegeneinander; hin und her wogte der Streit. Der Telamonier Aias warf Simoeisios nieder, den Sohn des Anthemion, einen blühenden Jüngling. Ihn hatte einst seine Mutter an des Simoeis Ufern geboren; daher sein Name. Sie war vom Ida gekommen, hatte Vater und Mutter begleitet, die dort weidenden Schafe zu sehn. Er konnte den Eltern nicht vergelten, was sie ihm Liebes erwiesen; nur kurz war sein Leben. Des hochgemuten Aias Lanze nahm es ihm. Er traf ihn, der in «so der vordersten Reihe ging, in die Warze der rechten Brust. Das Erz drang durch die Schulter. Er sank in den Staub wie die Pappel, die in weiter Aue mit glattem Stamm emporstrebt; mur oben wachsen die Zweige; der Wagenbauer fällt sie mit blinkendem Beil, um Felgen herzustellen für den Wagen; am Ufer des Flusses liegt sie zum Trocknen. So hingestreckt lag Simoeisios, erschlagen vom göttlichen Aias. Gegen diesen warf im Kampfgewühl Antiphos, des Priamos 490 Sohn, den scharfen Speer. Er fehlte ihn, doch traf er Leukos, den Waffengefährten des Odysseus, in die Weichen. Der wollte grade den Simoeisios zu den Achäern hinüberziehn; nun entglitt ihm der Tote; er sank über ihn hin. Sein Fall erzürnte Odysseus. Mit strahlendem Erz gerüstet durchschritt er der Vorkämpfer Reihen, trat nahe an den Gefährten heran und warf die Lanze, nach beiden Seiten sich sichernd. Vor seinem Wurf wichen die Troer; doch hatte er nicht vergebens geschleudert, eoo Demokoos traf er, des Priamos unebenbürtigen Sohn; er war aus Abydos gekommen, von einem Gestüt. Odysseus, wegen des
WOGEN DES KAMPFES
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Freundes ergrimmt, durchbohrte ihm die Schläfe; die eherne 4. Spitze drang durch das Schläfenbein auf der andern Seite hindurch. Dunkel umhüllte seine Augen; dröhnend fiel er zu Boden; es klirrten an ihm die Waffen. Nunmehr ging die vorderste Reihe der Troer zurück, mit ihnen der stattliche Hektor. Die Argiver frohlockten, holten die Toten und drangen weiter vor. Da ergrimmte Apollon, der von Pergamos zusah; mit lauter Stimme rief er den Troern zu: „Ermannt euch, Troer 1 Weicht vor den Argivern im Kampf nicht zurück. Ihr Leib ist nicht von Steim eio und Eisen, daß sie, vom schneidenden Erz getroffen, keine Wunde empfangen. Auch kämpft Achill nicht mit, der Sohn der Thetis; bei den Schiffen verzehrt er sich in herzkränkendem Groll." So rief von der Burg herab der gewaltige Gott. Des Zeus Tochter dagegen, die am Triton geborene, ruhmreiche Göttin, trieb die Achäer an, wo immer sie Lässige sah, indem sie durch das Gewühl hindurchschritt. Jetzt umstrickte das Schicksal den Amarynkiden Diores. Ein scharfkantiger Stein traf ihn am rechten Fuß neben dem Knöchel; Peiroos schleuderte ihn, des Imbrasos Sohn, der Führer 620 der Thraker, der von Ainos gekommen. Der unerbittliche Stein zermalmte ihm gänzlich Sehnen und Knochen. Rücklings sank er in den Staub und streckte sterbend die Hände aus nach den lieben Gefährten. Peiroos, der ihn getroffen, lief hinzu und durchbohrte seinen Leib dicht neben dem Nabel; alle Eingeweide quollen heraus und fielen zur Erde. Todesdunkel umfing ihn. Den Peiroos, der zurückging, traf der Ätolier Thoas mit dem Speer in die Brust über der Warze. Das Erz drang in die Lunge. Thoas sprang hinzu und riß ihm die gewaltige Lanze aus der Brust. Dann zog er das scharfe Schwert, stieß es ihm mitten 630 in den Leib und nahm ihm das Leben. Doch die Rüstung zu rauben gelang ihm nicht. Die Gefährten des Toten, die Thraker mit ihren langen Lanzen, umstanden ihn und trieben Thoas, so
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ZWEITER GESANG
4. groß er war und so tapfer und edel, dennoch hinweg. Taumelnd wich er zurück. Im Staube lagen beieinander die Führer der 638 Thraker und der Epeier; und viele andre fielen rings um sie her. 6. So warfen zwischen den Fluten des Xanthos und des Simoeis 2 die Gegner ihre Speere widereinander; nach allen Seiten drang der Kampf in die Ebene vor. Aias, Telamons Sohn, war der erste, der die Reihen der Troer durchbrach, den Freunden zum Heil. Er brachte einen Mann zu Fall, der unter den Thrakern der Tüchtigste war, Akamas, des Eussoros trefflichen, großen Sohn. 12 Der tapfere Diomedes tötete Axylos, den Sohn des Teuthras; der wohnte im schöngebauten Arisbe, war reich und bei den Menschen beliebt. Sein Haus lag an der Straße; er bewirtete jeden; aber keiner seiner Gäste stellte sich vor ihn und schützte ihn jetzt vor dem traurigen Tode. Diomedes nahm beiden das Leben, ihm und dem Waffengefährten Kalesios, seinem Wagenlenker. Beide gingen hinab in die Unterwelt. 20 Euryalos erschlug zuerst den Dresos und den Opheltios und griff dann Aisepos und Pedasos an. Diesen gebar einst die Najade Abarbarea dem edlen Bukolion, dem ältesten Sohn des erlauchten Laomedon, heimlich. Als er Hirt war bei den Schafen, hatte er sich liebend mit ihr vereint. Sie wurde die Mutter von Zwillingssöhnen. Den herrlichen Gliedern der Helden nahm der Sohn des Mekistos die Kraft und raubte die Waffen. 37 Der tapfere Menelaos fing den Adrestos lebend; dessen Pferde scheuten und rasten durch die Ebene. Am Ast einer Tamariske blieben sie hängen und zerbrachen den Wagen vorn an der 40 Deichsel; sie eilten der Stadt zu, wohin auch andre scheugewordene Pferde flohen. Adrestos war aus dem Wagen neben das Rad gestürzt; er lag, das Gesicht nach unten, im Staube. Mit dem langschattigen Speer trat Menelaos an ihn heran. Da umfaßte Adrestos seine Knie und flehte: „Sohn des Atreus, laß mich leben und nimm entsprechendes Lösegeld 1 In meines
ERFOLGE DER ACHAER
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reichen Vaters Hans sind viele Schätze: Geräte aus Erz und 6. Eisen und Gold. Davon bietet er unermeßliche Gaben zum Loskauf, wenn er mich bei den achäischen Schiffen am Leben weiß." GO So sprach er und war nahe daran, ihn für sich zu gewinnen. Schon wollte Menelaos ihn durch seinen Gefährten zu den Schiffen geleiten lassen, da trat Agamemnon eilig herzu und schalt: „Mein lieber Bruder! Warum nimmst du dich der Troer so an? Du hast wohl daheim viel Liebes von ihnen erfahren? Keiner von ihnen soll dem jähen Verderben und unsern Händen entrinnen; selbst das Kind im Schöße der Mutter komme nicht davon; spurlos und ohne Bestattung seien aus Ilios alle zusammen so vertilgt!" So sprach er und stimmte den Bruder um, denn er riet verständig. Menelaos stieß den Adrestos von sich. Agamemnon traf ihn in die Weichen; er fiel rücklings zur Erde. Der Atride trat ihm mit dem Fuß auf die Brust und riß den eschenen Speer wieder heraus. Nestor aber gebot den Seinen mit lauter Stimme: „Freunde, Achäerhelden, Genossen des Ares! Keiner bleibe zurück und stürze sich auf die Beute, um nur ja recht viel zu den Schiffen zu schleppen! Laßt uns erst die Feinde töten! Später mögt ihr 70 in Ruhe die im Felde Erschlagenen der Waffen berauben." Jetzt wären wohl die Troer, von Furcht übermannt, vor den tapfern Achäern zur Stadt geflohen, hätte nicht Helenos, des Priamos Sohn, bei weitem der beste Deuter des Vogelfluges, sich mit folgender Rede an Aineias und Hektor gewandt: „Von den Troern und Lykiern ruht auf euch beiden die größte Last. Ihr seid bei jedem Unternehmen, im Kampf wie bei der Beratung, die Besten. Ich rate euch: Macht hier halt! Geht allenthalben go an die Mannen heran und bringt sie vor dem Tore zum Stehen, ehe sie in die Arme der Frauen flüchten, zum Spott für die Feinde. Habt ihr die Reihen alle entflammt, dann wollen wir
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ZWEITER GESANG
6. trotz unserer schwierigen Lage mit den Achäern kämpfen, weil die Not es gebietet Du aber, Hektor, gebe zur Stadt und sprich mit unserer Mutter 1 Sie rufe würdige greise Frauen in den Tempel Athenas auf der Burg, nachdem sie die Tür des heiligen Hauses mit dem Schlüssel geöffnet Und das prächtigste und 90 größte Gewand, das sie im Palaste besitzt und das ihr am liebsten, lege sie auf die Knie der Göttin. Auch verspreche sie, zwölf Rinder im Tempel zu opfern, die jung und ungebraucht sind; vielleicht, daß Athena sich der Stadt, der troischen Frauen und der unmündigen Kinder erbarmt" 103 So sprach er, und Hektor gehorchte dem Bruder. Er sprang alsbald mit den Waffen vom Wagen zur Erde; zwei scharfe Speere schwingend, durchschritt er die Reihen nach allen Seiten, entflammte zum Kampf und stellte die gewaltige Schlacht wieder her. Die Troer machten kehrt und traten den Achäern entgegen. Diese gingen zurück und hörten auf mit dem Morden. Der Unsterblichen einer, meinten sie, sei vom Himmel gekommen, den Troern zu helfen; so entschieden hatten sich diese zurückgewandt no Hektor aber ermahnte die Troer mit lauter Stimme: „Freunde, tapfere Troer, berühmte Bundesgenossen! Seid Männer und entschließt euch zu stürmischem Angriff, während ich nach Ilios gehe. Ich will den Ratsherrn und den Frauen empfehlen, jdaß sie den Göttern große Opfer versprechen und ihre Gnade erbitten." So sprach der Held mit dem wallenden Helmbusch und ging davon. Gegen Knöchel und Nacken schlug wieder und wieder das dunkle Leder des Schildrands.
D R I T T E R G E S A N G (3. T A G ) Hektor in der Stadt: Hekabe zum Bittgang in den Tempel Athenas veranlaßt. Paris zum Kampf aufgerufen. Abschied von Andromache und Astyanax. — Rückkehr zum Heer. Hilfreiches Eingreifen des Zeus. Die Achäer hinter den Graben zurückgedrängt. Hektor und Troer im Biwak am Xanthos.
Als Hektor die Eiche am skäischen Tore erreichte, eilten die 6. Frauen und Töchter der Troer herbei und fragten ihn nach ihren Gatten und Söhnen, nach Brüdern und Vettern. Er hieß sie alle 240 miteinander zu den Göttern beten; denn über viele waren Leiden verhängt. Beim Hause des Vaters begegnete ihm die gütige Mutter 261 mit Laodike, der schönsten ihrer Töchter. Sie gab ihm die Hand und sprach: „Mein lieber Sohn, warum verläßt du die tobende Schlacht und kommst hierher? Die verruchten Achäer .drängen wohl sehr im Kampf um die Stadt, und es treibt dich der Wunsch, auf hoher Burg die Hände zu Zeus zu erheben? WarteI Ich hole dir lieblichen Wein, damit du dem Sohn des Kronos spendest und den anderen Unsterblichen und dann selbst trinkst und dich 260 erquickst. Gibt doch der Wein dem Müden neue Kraft, und du bist müde geworden im Kampf für die Deinen." Doch Hektor erwiderte: „Hole mir keinen Wein, ehrwürdige Mutter 1 Er könnte mich schwächen, und ich könnte die Lust zum Angriff verlieren. Auch scheue ich mich, mit unreinen Händen zu spenden. Mit Blut und Staub besudelt darf man nicht zum Sohne des Kronos beten. Versammle du jetzt würdige greise Frauen und gehe mit Weihrauchspenden zum Tempel Athenas 1 270 Und das prächtigste und größte Gewand, das du im Hause besitzt, und das dir am liebsten, lege der Göttin auf die Knie. Versprich ihr auch zwölf Rinder als Tempelopfer, junge, ungebrauchte ; vielleicht erbarmt sie sich der Stadt und der troischen Frauen und ihrer zarten Kinder. Geh du also zum Tempel Athenas! Ich will den Paris rufen und will sehn, ob er hört. jgo Daß ihn gleich die Erde verschlänge! Der Olympier hat ihn zu
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DRITTER GESANG
6. großem Leid erwachsen lassen für alle Troer, für Priamos und sein ganzes Haus. Sähe ich ihn zum Hades hinabgehn, so würde vielleicht mein Herz allen Leides vergessen." So sprach er; da ging Hekabe in den Palast. Sie erteilte den Dienerinnen Befehle und, während diese rings in der Stadt würdige greise Frauen zusammenriefen, begab sie selbst sich zur dufterfüllten Kammer. Dort lagen buntgewirkte Gewänder, ver290 fertigt von Frauen, die Paris selbst von Sidon mitgebracht auf jener Meerfahrt, als er Helena mit sich führte. Eins der Gewänder, — es war das schönste in Buntwirkerei und das größte —, nahm sie heraus als Gabe für Pallas Athena. Es leuchtete wie ein Stern und lag zu unterst. Dann verließ sie das Haus, von vielen Frauen begleitet. Als sie zum Tempel Athenas gekommen auf der Höhe der Burg, öffnete Antenors Gattin Theano, des 300 Kisses schöne Tochter, die Tempeltür; hatten die Troer sie doch zur Priesterin Athenas bestimmt. Alle erhoben die Hände und flehten mit lauter Stimme zur Göttin. Theano aber nahm das Gewand und legte es auf die Knie Athenas. 312 Während sie so zur Tochter des hohen Kroniden beteten, hatte Hektor das Haus des Paris erreicht, das stattliche, das er selbst sich erbaut mit den besten troischen Meistern; nahe beim Hause des Priamos und des Hektor, auf der Höhe der Burg, hatten sie Männersaal, Frauengemächer und Höfe errichtet. 321 Er traf Paris im Frauengemach mit seinen Waffen beschäftigt, dem Schild, dem Panzer und dem Bogen, den er sorglich prüfte. Die Argiverin Helena saß dabei, umgeben von Dienerinnen, denen sie kunstvolle Arbeiten zuwies. Als Hektor den Bruder erblickte, schalt er ihn mit schmähenden Worten: „Unseliger! Dich jetzt dem Grolle hinzugeben ist schändlich gehandelt Rings um Burg und Mauer fallen die Mannen in tapferem Kampf; Krieg und 880 Kriegsgeschrei umtoben deinetwegen die Stadt Du selbst würdest andere schelten, die du lässig sähest im furchtbaren Streit Auf
HEKTOR RUFT PARIS ZUM KAMPF
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in den Kampf, damit die Stadt nicht bald vom Feuer verzehrt 6. wirdl" Der göttergleiche Paris gab zur Antwort: „Hektor, du schiltst mich mit vollem Recht Doch höre; ich habe dir etwas zu sagen. Nicht Zorn und Groll gegen die Troer hielten so lang mich daheim; ich überließ mich eigenem Unmut. Nun aber hat die Gattin mich mit freundlichen Worten gewandelt und zum Kampfe entflammt So erscheint es auch mir geraten. Warte ein Weilchen! Ich lege die Rüstung an. Oder gehe voraus 1 Ich denke dich noch mo zu erreichen." So sprach er. Hektor gab keine Antwort Mit schmeichelnder Rede begann jetzt Helena: „Hektor, Schwager der Unheilstifterin, die ich bin, des verächtlichen, unseligen Weibes I Hätte mich doch an dem Tage, als mich die Mutter geboren, eine böse Windsbraut in das Gebirge hinweggetragen oder in die Wogen des brausenden Meeres; und hätten mich dort die Fluten verschlungen, ehe das alles geschah! Oder wäre ich, da nun einmal die Götter das Unheil verhängten, die Gattin eines tüchtigen sso Mannes geworden, der Tadel und schlimme Beschimpfung durch andere schmerzlich empfände! Aber der da hat wahrlich kein Ehrgefühl und wird es auch in Zukunft nicht haben. Ich denke, er empfängt noch den verdienten Lohn. Doch komm herein, Schwager, und ruhe dich auf dem Sessel dort aus. Dich drückt die Not des Krieges am allermeisten; und ich Verächtliche trage die Schuld, mit mir der verblendete Paris. In böses Unheil hat Zeus uns verstrickt; noch die Nachwelt wird davon reden." Der gewaltige Hektor erwiderte: „Helena, heiß mich nicht 3«o niedersitzen! Du meinst es gut, doch wirst du mich nicht überreden. Mich treibt das Verlangen, den Troern zu helfen; sie haben große Sehnsucht nach mir, während ich fort bin. Sporne den da an! Er soll sich auch selbst beeilen, damit er mich in der Stadt noch erreicht. Ich gehe inzwischen in mein Haus, die
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DRITTER GESANG
6. liebe Gattin zu sehn, das Söhnchen und die Hausgenossen. Weiß ich doch nicht, ob es für mich eine Wiederkehr gibt, oder ob ich nach dem Willen der Götter heut den Achäern erliege." 370 So sprach Hektor und ging davon. Er kam alsbald zu seinem wohnlichen Hause; doch traf er Andromache nicht; sie stand mit dem Knaben und einer Dienerin am skäischen Tor, klagend und weinend. Als Hektor die Gattin daheim nicht fand, ging er zur Schwelle des Frauengemachs und sprach zu den Dienerinnen: „Schnell, ihr Mägde, gebt mir untrügliche Kunde! Wohin begab sich Andromache? Zu meinen Schwestern und Schwägerinnen 380 oder zum Heiligtum der Athena, wo auch andre Troerinnen die mächtige Göttin zu besänftigen suchen?" „Hektor", erwiderte die emsige Schaffnerin, „da du untrügliche Auskunft begehrst, so wisse: Sie ist weder zu deinem Schwestern und Schwägerinnen noch zum Heiligtum Athenas gegangen, wo auch andre Troerinnen die mächtige Göttin zu besänftigen suchen, sondern zum Turm von Ilios, denn sie hörte, die Troer seien in Not und der Sieg sei bei den Achäern. Drum ist sie hastig zum Tore geeilt; sie schien leidenschaftlich erregt; eine Wärterin trug den Knaben." 390 Da verließ Hektor seinen Palast, und auf dem Wege, den er gekommen, durchschritt er eilig die Straßen. Als er auf seinem Gang durch die große Stadt zum skäischen Tore gelangte, durch das er hinaus in die Ebene wollte, kam ihm die Gattin entgegengeeilt, Andromache, die Tochter des edlen Eetion, der in Thebe, am Fuß des waldreichen Piakos, über die Kiliker herrschte; dessen Tochter war die Gattin des erzgepanzerten Hektor. Sie kam ihm jetzt entgegen, begleitet von einer Dienerin, die den 400 Knaben trug, den munteren, zarten Liebling Hektors, einem schönen Sterne vergleichbar. Skamandrios rief ihn sein Vater, die andern nannten ihn Astyanax, weil nur Hektor Ilios schützte. Der blickte jetzt lächelnd und schweigend auf seinen Sohn.
HEKTOR UND ANDROMACHE
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Andromache trat nahe an ihn heran; weinend ergriff sie seine 6. Rechte und sprach: „Unseliger Mann! Dich wird dein Mut noch verderben. Du hast kein Mitleid mit deinem jugendlichen Sohn und mit mir Armen. Bald werde ich deiner beraubt sein. Denn bald werden alle Achäer auf dich eindringen und dich töten. Mir aber wäre besser, unter die Erde zu sinken, wenn ich dich vep- 410 liere. Gibt es doch keine Freuden mehr für mich, wenn du gestorben; nur noch Leiden. Mir lebt der Vater nicht mehr und nicht die Mutter. Den Vater hat Achill erschlagen. Der Kiliker wohlbewohnte Stadt, das hochtorige Thebe, hat er zerstört und meinen Vater getötet. Doch hat er ihn nicht der Rüstung beraubt, — davor scheute er sich — , hat ihn mit seinen prächtigen W a f f e n verbrennen und ihm einen Grabhügel schütten fassen. Und die Nymphen der Berge, Töchter des blitzumflammten Zeus, 430 haben ringsherum Ulmen gepflanzt. Sieben Brüder, die ich besaß, sind alle an einem Tage in den Hades gegangen. Sie alle hat Achill bei den Herden der Rinder und Schafe erschlagen. Und meine Mutter, die am Fuß des waldreichen Piakos Königin war, hat er mit anderen Schätzen hierher gebracht; nachdem er sie dann f ü r unermeßliches Lösegeld freigegeben, hat Artemis sie im Hause deines Vaters mit ihren Pfeilen getroffen. Hektor, nun bist du mir Vater und Mutter und Bruder und bist mein herr- 430 licher Gatte. Habe Mitleid mit mir und bleibe hier bei dem Turm. Mache deinen Sohn nicht zur Waise und mich nicht zur Witwe." Der stattliche Hektor mit dem wallenden Helmbusch gab ihr 440 zur Antwort: „Mein liebes Weib, das alles bedenke auch ich. Doch schäme ich mich vor den Troern und Troerinnen, wenn ich, gleich einem Feigling, vom Kampfe fern mich halte. Auch läßt es der eigne Wille nicht zu. Tapfer zu sein und stets in den ersten Reihen der Troer zu kämpfen hab' ich gelernt. So wahre ich des Vaters hohen Ruhm und die eigene Ehre." Sprachs und streckte die Hände aus nach dem Knaben. Der 466
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DRITTER GESANG
6. aber schmiegte sich schreiend an der Wärterin Brust Denn er erschrak beim Anblick des Vaters und fürchtete sich vor dem 470 blinkenden Erz und dem Roßschweif, der von des Helmes Spitze niederwallte. Da lachten Vater und Mutter. Hektor nahm sogleich den funkelnden Helm vom Haupt und legte ihn auf die Erde. Dann wiegte und küßte er den geliebten Knaben und betete: „Zeus und ihr andern Götter! Gebt, daß auch dieser mein Sohn ein Held wird unter den Troern, so wie ich, ebenso stark, und daß er in Ilios machtvoll gebietet ,Der ist noch tüchtiger als sein Vater' sage mancher von ihm, wenn er vom Kampfe heim«so kehrt. Tragen möge er dann die blutbespritzten Waffen des Feindes, den er bezwungen, und seine Mutter möge sich freuen 1" Sprachs und legte den Knaben in die Arme der Gattin. Sie barg ihn an ihrer Brust, unter Tränen lächelnd. Der Gatte sah es, und sie dauerte ihn. Er streichelte sie und sprach: „Du Liebe, sei nicht so maßlos betrübt! Zum Hades sendet mich niemand, wenn das Geschick es nicht will. Seinem Verhängnis aber ist noch keiner entronnen, der geboren, nicht der feige und nicht der 4M tapfere Mann. Geh jetzt nach Haus, besorge deine Arbeit an Webstuhl und Spindel und laß auch die Mägde sich rühren. Der Kampf ist Sache aller Krieger, die in Ilios leben, vor allem die meine." So sprach der stattliche Hektor und griff nach dem Helm mit dem Roßschweif. Seine Gattin begab sich nach Haus; doch wandte sie unter heißen Tränen immer wieder den Blick zurück nach dem Gatten. Bald gelangte sie zu Hektors wohnlichem Haus und traf dort viele dienende Frauen; alle stimmten ein in die Klage der Herrin und weinten um Hektor in seinem Palast, ob6oo wohl er noch lebte; denn sie glaubten nicht, daß er den starken Armen der Achäer entrinnen und aus dem Kampfe heimkehren werde.
HEKTOR UND PARIS
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Auch Paris verweilte nicht lange mehr im hohen Palast. Sobald 6. er sich mit der herrlichen Rüstung gewappnet, der funkelnden, durcheilte er behenden Fußes die Straßen der Stadt Wie ein Roß, gut ernährt im Stall an der Krippe, seine Halfter zerreißt und stolz das Gefilde durchstampft, — hoch trägt es das Haupt; die Mähne umflattert den Bug; im Vollgefühl seiner Kraft eilt eio es schnell zu den gewohnten Weideplätzen der Pferde —, so eilte Paris, Priamos' Sohn, voll Selbstgefühl von der Höhe der Burg herab. Seine Rüstung leuchtete wie die Sonne; die schnellen Füße trugen ihn. Bald traf er den edlen Hektor, grade als er den Platz verlassen wollte, auf dem er mit der Gattin gesprochen. Alexandros begann: „Lieber Bruder, hab ich dich, eilig, wie du bist, durch mein Zögern aufgehalten und bin nicht zur rechten Zeit erschienen, wie du befahlst?" Hektor erwiderte: „Sonder-520 barer I Was du im Kampfe leistest, kann ein billig denkender Mann zwar nicht tadeln, denn du bist wirklich tüchtig. Doch erscheinst du dann wieder ohne Ursach lässig, und es fehlt dir der feste Wille. Mir aber tut es weh, wenn ich Schmähworte gegen dich höre seitens der Troer, die deinetwegen viele Leiden erdulden. Doch gehen wir jetzt! Wir wollen später darüber reden, wenn Zeus verleiht, daß wir den ewigen Göttern im Palast zum Freiheitsfeste Trankopfer bringen, nachdem wir die Achäer, die erzgepanzerten, aus dem troischen Lande vertrieben." So sprach Hektor und stürmte zum Tore hinaus. Ihm zur Seite 7. schritt Alexandros. Beide verlangten nach Kampf und nach Streit. Wie wenn ein Gott den Schiffern nach sehnlichem Harren günstigen Wind schickt, — sie haben sich müde gerudert auf der Fahrt über das Meer; ihre Arme sinken ermattet nieder —, so erwünscht erschienen die beiden Helden den Troern. Paris traf den Menestheus, der in Arne wohnte, den Sohn des Keulenschwingers Areithoos und der Phylomedusa. Hektor 10 tötete Eioneus; er durchbohrte ihm mit der spitzen Lanze den
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DRITTER GESANG
7. Nacken dicht unter dem ehernen Helmkranz. Glaukos, des Hippolochos Sohn, der Führer der Lykier, traf in gewaltigem Kampf den Iphinoos mit dem Speer in die Schulter, gerade als dieser den Wagen bestiegen mit dem schnellen Gespann; er sank vom 16 Wagen zu Boden; das Leben verließ ihn. 8. Während des Morgens und während der Tag noch zunahm, hatten die Geschosse beider Heere gleichen Erfolg: Die Mannen sanken zu Boden. Als aber die Sonne mitten am Himmel stand, nahm Zeus die goldenen Schalen der Schicksalswage zur Hand 70 und legte in jede ein Todeslos, für die reisigen Troer das eine, das andre für die erzumschienten Achäer. Dann ergriff er die Wage in der Mitte und hielt sie empor. Da sank die Schale mit dem Los des Unheils für die Achäer. Unter gewaltigem Donner vom Ida her sandte er selbst den gleißenden Blitzstrahl unter die achäischen Scharen. Sie sahen es staunend; alle packte bleiches Entsetzen. Da wagte weder Idomeneus standzuhalten noch Agamemnon; auch die beiden Aias blieben nicht stehn, die Gefährten des Ares, so Nur Nestor, der Hort der Achäer, hielt aus; nicht freiwillig; eins seiner Pferde war verletzt. Alexandras, der Gatte der Helena, hatte es mit dem Pfeile getroffen, oben im Kopf, wo an dem Schädel die Mähne des Pferdes beginnt, an gefährlichster Stelle. Das Geschoß drang in das Gehirn. Vom Schmerz gepeinigt stieg es hoch; dann wälzte es sich am Boden mit dem Pfeil und verwirrte die Rosse im Joch. Während der greise Fürst sich eiligst mühte, die Koppel des Beipferdes mit dem Schwert zu durchhauen, trugen Hektors schnelle Rosse den reisigen Helden durch das Gelände herbei, so Nun wäre der Greis ums Leben gekommen, hätte nicht Dio100 medes mit scharfem Blick die Lage erkannt. Er trat vor den Wagen des Neleiden und sprach zu ihm die hastigen Worte: „Greiser Fürst I Junge Krieger bedrängen dich. Dane Kraft ist
DIE ACHÄ.ER WEICHEN
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gebrochen. Du leidest unter der Last des Alters. Ungeschickt ist 8. der Waffengefährte, schwerfällig das Gespann. Wohlan, besteige meinen Wagen, damit du erkennst, wie tüchtig die Rosse der Troer sind; ich raubte sie einst dem kühnen Aineias; sie wissen in der Ebene nach allen Seiten schnell zu verfolgen und zurückzugehn. Für deine Pferde mögen die Gefährten morgen; die meinen wollen wir beide gegen die Troer lenken. Auch Hektar 110 soll merken, ob mein Speer in der Faust zu wüten vermag." So sprach er; der reisige Nestor gehorchte. Während Sthenelos und Eurymedon, die wackern Gefährten, sich um seine Pferde bemühten, bestiegen die beiden den Wagen des Diomedes. Nestor ergriff die prächtigen Zügel und trieb die Pferde an. Bald gelangten sie in die Nähe Hektars. Der Tydide warf seinen Speer gegen den Helden, der grade auf sie losging. Ihn selbst verfehlte er, doch traf er seinen Gefährten Eniopeus, den Sohn des hoch- i2o gemuten Thebaios, der die Zügel hielt, in die Brust neben der Warze; der stürzte vom Wagen; das Leben verließ ihn. Die Rosse scheuten. Da packte den Hektar tiefes Weh um den Waffengenossen; doch ließ er ihn liegen, so bekümmert er war, und bemühte sich um einen Lenker. Nicht lange entbehrten die Pferde des Führers. Er fand alsbald Archeptolemos, des Iphitos Sohn; ihn ließ er den Wagen besteigen und gab ihm die Zügelt Nun wäre ein Unglück geschehn und unabsehbares Unheil, 130 die Troer wären nach Ilios eingepfercht worden, wie die Schafe, hätte nicht der scharfe Blick des Vaters der Menschen und Götter die Lage erkannt. Unter gewaltigem Donner sandte er einen gleißenden Blitz und schleuderte ihn vor den Pferden des Diomedes zur Erde nieder. Eine gewaltige Flamme lodernden Schwefels erhob sich. Die Rosse scheuten und drängten zurück an den Wagen. Nestors Händen entsanken die prächtigen Zügel; er erschrack und sprach zu Diomedes: „Sohn des Tydeus, lenke die schnellen Pferde zur Flucht! Siehst du nicht, daß Zeus dir 140 3
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DRITTER GESANG
8. seine Hilfe versagt? Heute verleiht der Kronide dem Hektor Ruhm; morgen wird er ihn, wenns ihm gefällt, auch uns verleihn. Den Willen des Zeus vermag kein Mensch zu hindern, auch der Tüchtigste nicht; er ist bei weitem der Stärkste." Diomedes gab zur Antwort: „Was du sagst, trifft alles zu. Doch packt mich im Herzen wilder Grimm. Hektor wird sich vor den Troern rühmen und sagen: Der Tydide ist vor mir zu iso den Schiffen entflohen. So wird er prahlen. Möchte mich eher die weite Erde verschlingen." Doch der reisige Nestor entgegnete: „Sohn des Tydeus, wie kannst du so reden? Wenn Hektor dich einen Feigling und Schwächling schilt, so werden die Troer und Dardaner es nicht glauben, auch die troischen Frauen nicht, deren blühende Gatten du in den Staub warfst" Sprachs und lenkte die schnellen Pferde wieder zur Flucht durch das Getümmel. Die Troer und Hektor sandten unter lautem Geschrei einen 172 Hagel von Geschossen hinter ihnen her. Und Hektor rief mit gewaltiger Stimme: „Troer, Lykier, Dardaner 1 Seid Männer, Freunde! Entschließt euch zu stürmischem Angriff! Sieg und erhabenen Ruhm hat Kronion mir gnädig verheißen, — ich seh' es —, den Achäern droht er VerdeAen." Und seinen Rossen rief er zu: „Vergeltet mir jetzt die Pflege, die Andromache, Eetions Tochter, euch reichlich erwiesen. Erst hat sie euch den 190 schmackhaften Weizen geschüttet, dann hat sie für mich gesorgt, der ich stolz darauf bin, ihr Gatte zu sein. Drum beeilt euch! Greift aus! Wir wollen den Schild des Nestor gewinnen, des Ruhm bis zum Himmel dringt; er soll samt den Griffen von Gold sein; dem reisigen Diomedes aber wollen wir den prächtigen Panzer, das Werk des Hephaistos, von den Schultern lösen. Haben wir Schild und Panzer erbeutet, so darf ich hoffen, die Achäer noch diese Nacht zum Besteigen der Schiffe zu zwingen." 886 Der Olympier aber flößte den Troern wieder Mut ein. Sie drängten die Achäer geradeswegs nach dem tiefen Graben, Hektor
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unter den Ersten im stolzen Gefühl seiner K r a f t Wie ein Hund 8. im schnellen Lauf den wilden Eber und Löwen verfolgt, ihn von hinten an Hüften und Lenden packt und trotz aller Seitensprünge im Auge behält, so blieb Hektor den Achäern auf den 340 Fersen und tötete immer den Letzten. Die flohen und erst, als sie Pfahlwerk und Graben hinter sich hatten, — unter den Händen der Troer waren inzwischen viele gefallen —, machten sie an den Schiffen halt, riefen einander ermutigend zu und erhoben jeder die Hände zu allen Göttern. Hektor aber jagte mit dem schönen Gespann den Graben entlang, der Gorgo ähnlich im Blick und dem männermordenden Ares. Der Sonne strahlendes Licht versank im Okeanos; über die 486 fruchtbare Erde legte sich finstere Nacht, Den Troern war es wenig erwünscht, daß das Tagesgestirn verschwand; den Achäern hingegen war das Dunkel, das heißersehnte, willkommen. Die Troer berief der stattliche Hektor zu einer Versammlung, fern von den Schiffen, am strudelreichen Fluß, an einem Ort, der 490 rein und von Toten frei war. Sie stiegen von den Wagen zur Erde nieder und vernahmen die Worte, die Hektor sprach, der Liebling des Zeus. In der Hand hielt er die Lanze, elf Ellen lang; vorn blitzte die Spitze aus Erz; rings herum lief ein goldener Ring. Auf sie gestützt begann er: „Dardaner, Troer, Bundesgenossen! Diesmal hoffte ich, die Schiffe samt allen Achäern zu vernichten und dann nach Ilios heimzukehren. Doch die Dunkelheit kam zu früh. Sie vor allem hat heute die Argiver 500 und die Schiffe am Meeresstrande gerettet. Wohlan, gehorchen wir jetzt der finsteren Nacht und bereiten wir uns das Mahl! Löst die Rosse vom Wagen und gebt ihnen Futter! Treibt hurtig Rinder und feistes Kleinvieh herbei aus der Stadt und holt aus den Häusern herzerfreuenden Wein und Brot! Und sammelt viel Holz! Wir wollen die Nacht hindurch bis zum frühen Morgen 3*
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DRITTER GESANG
8. zahlreiche Feuer entzünden, deren Glanz bis zum Himmel empor6io dringt Die Achäer könnten während der Nacht zur Flucht flieh rüsten über den weiten Rücken des Meeres. Sie sollen dann nicht ohne Kampf und gemächlich die Schiffe besteigen. Daheim soll mancher noch an den Wunden zu leiden haben, der getroffen ward vom Pfeil oder der spitzen Lanze, als er aufs Schiff sprang, und manch einer soll sich in Zukunft scheuen, die reisigen Troer wieder mit tränenreichem Krieg zu bedrohen." „Herolde mögen inzwischen in Troia verkünden, daß die Jugendlichen und die Ergrauten rings auf den Mauern sich 620 lagern, welche die Götter erbaut Die jungen Frauen sollen, jede in ihrem Haus, mächtige Feuer unterhalten. Man halte drinnen scharfe Wacht, daß keine Schar der draußen befindlichen Mannen 630 zur Stadt zurückkehrt Wir aber wollen morgen beim Tagesgrauen die Waffen ergreifen und den heißen Kampf bei den Schiffen beginnen. Ich will doch sehn, ob der gewaltige Diomedes, des Tydeus Sohn, mich von den Schiffen zur Mauer drängt, oder ob ich ihn mit dem Speer erlege und seine blutbespritzten Waffen heimwärts trage. Wenn er morgen meinem Angriff standhält, wird er zeigen können, was er zu leisten ververmag. Ich vermute, er wird erschlagen liegen unter den Ersten und um ihn viele Gefährten." 6i2 So sprach Hektor, und jubelnd stimmten die Troer ihm zu. Sie lösten die schweißbedeckten Rosse vom Joch und banden sie, — jeder am eigenen Wagen —, mit Riemen fest Rinder und feistes Kleinvieh holten sie rasch aus der Stadt, schafften herzerfreuenden Wein und Brot aus den Häusern herbei und sammelten Holz in Menge. Den Opferduft trugen die Winde aus der Ebene zum Himmel empor. Auf der Wahlstatt verbrachten sie voll Zuversicht die Nacht, und zahlreich brannten die Feuer.
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So wie die Sterne am Himmel leuchten, rings um den schim- 8. mernden Mond, wenn es windstill ist, — die Gestirne sind ¡alle zu sehn, und der Hirte freut sich darüber —, so leuchteten seo zwischen den Schiffen und dem Xanthos vor Ilios hin die Feuer, von den Troern geschürt Es waren tausend,* an jedem saßen fünfzig im Schein der lodernden Flammen. Neben den Wagen standen, den Morgen erwartend, die Rosse und fraßen weiße Gerste und Spelt.
V I E R T E R G E S A N G ( N A C H T VOM 3. ZUM 4. T A G ) Nestors Rat. Agamemnon zur Versöhnung mit Achill bereit. Odysseus, Aias und Phoinix als Gesandte zu Achill. — Bitte des Odysseus um Rettung. Unversöhnliche Haltung Achills. Bitten des Phoinix und Aias. Achill nur zur Selbstverteidigung entschlossen. — Bericht des Odysseus in der Ratsversammlung. Rat des Diomedes.
9.
So hielten die Troer Wacht. Die Achäer aber packte gewaltige Furcht, die Gefährtin grausiger Flucht. Alle die tapfern Helden waren niedergedrückt von unsäglichem Leid. Wie Nord und West 6 von Thrakien her das Meer aufwühlen, — sie erheben sich plötzlich; hoch türmt sich die dunkle Woge und wirft am Gestade viel Tang aus —, so aufgewühlt war das Herz in der Brust der Achäer. 90 Der Sohn des Atreus versammelte die achäischen Fürsten in seiner Hütte und setzte ihnen ein herrliches Mahl vor. Sie streckten die Hände aus nach den vor ihnen liegenden Speisen. Als sie sich an Speise und Trank erquickt, begann der greise Nestor seine Meinung zu sagen; sein Rat erschien von je als der beste. Er sprach zu ihnen in guter Absicht: „Ruhmreicher Atreussohn, Agamemnon, Gebieter der Mannen I Mit dir will ich beginnen und mit dir schließen; du bist der Herr über viele Völker. Zeus hat dir das Zepter in die Hände gegeben und die Richtergewalt, damit du f ü r sie sorgst. Drum ist vor allem deine Pflicht, ioo Rat zu erteilen und anzunehmen, und, falls ein andrer zum Guten zu reden f ü r recht hält, seine Vorschläge zu vollziehn. Was er auch immer als erster rät, in deinen Händen liegt die Entscheidung." „Ich werde reden, wie es mir gut scheint. Keiner vermag einen besseren Rat zu erteilen, als ich ihn gebe, — früher und heute noch —, seit du, Zeusentsprossener, dem Achilleus trotz seines Grolls die Briseis aus seiner Hütte geraubt hast. Es war durchaus nicht nach unserm Sinn. Ich habe dringend abgeraten. Den no trefflichsten Helden, den selbst die Unsterblichen ehrten, hast
AGAMEMNON ZUR VERSÖHNUNG BEREIT
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du beschimpft, von Stolz verführt Du hast sein Ehrengeschenk 9. im Besitz. Drum laß uns noch jetzt überlegen, wie wir ihn durch erfreuliche Gaben und freundliche Reden versöhnen." Agamemnon, der Herrscher der Mannen, erwiderte: „Greiser Fürst, nicht unwahr ist, was du über meine Schuld sagst Ich war verblendet und leugne es nicht Ein Mann, den Zeus von Herzen liebt, wiegt viele andere auf. So hat er Achilleus zu Ehren gebracht, die Achäer aber vernichtet Da ich in meiner Verblendung dem törichten Herzen gefolgt bin, will ich Genug- 120 tuung leisten und überreiche Buße zahlen." „Vor euch allen will ich die herrlichen Gaben nennen: Der ungebrauchten Dreifüße sieben; der Goldtalente zehn; zwanzig blinkende Kessel; der sieggekrönten Rosse, die durch ihre Schnelligkeit Preise gewannen, zwölf. Der wäre reich an Land und an köstlichem Gold, der so viel besäße, als mir die schnellen Rosse an Preisen eingebracht. Geben werde ich noch sieben lesbiscbe Frauen, die sich auf kunstvolle Arbeit verstehn; ich suchte sie für mich aus, als einst Achill das wohlgebaute Lesbos genommen ; sie überragen an Schönheit die große Menge der Frauen. 130 Diese will ich ihm geben; mit ihnen des Briseus Tochter, die ich ihm nahm. Und ich will mit einem heiligen Eide versichern, daß ich ihr Lager nicht geteilt und sie nicht liebend umfangen habe, wie es Brauch unter Männern und Frauen." „Dies alles wird er sofort erhalten. Yerleihn uns aber die Götter, daß wir des Priamos mächtige Stadt zerstören, so soll er, bei der Verteilung der Beute durch die Achäer, sein Schiff zur Genüge mit Gold und mit Erz beladen; auch soll er selbst sich aus der Zahl der troischen Frauen zwanzig wählen, welche die schönsten sind nächst der argivischen Helena." 140 „Kehren wir dann in das achäische Argos zurück, das reiche Land, so kann er mein Eidam werden. Ich werde ihn halten wie meinen Liebling Orestes, der in reicher Jugendblüte heranwächst
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VIERTER GESANG
9- Von den drei Töchtern, die ich habe, Chrysothemis, Laodike und Iphianassa, mag er eine, die ihm gefällt, als liebe Gattin in das Haus des Peleus führen, ohne das übliche Brautgeschenk; selbst aber werde ich eine erfreuliche, große Mitgift geben, wie sie noch niemand seiner Tochter geschenkt hat." 167 „Dies alles will ich tun, wenn er abläßt von seinem Groll. Er lasse sich erbitten; nur Hades ist unzugänglich und unerbittlich. Darum ist er von allen Göttern den Menschen am meisten verhaßt. Auch ordne er sich mir unter, insofern ich als König 160 mächtiger und von Geburt der ältere bin." Der reisige Nestor entgegnete: „Ruhmreicher Sohn des Atreus, Agamemnon, Gebieter der Mannen 1 Die Geschenke, die du dem Fürsten Achilleus geben willst, sind nicht zu verachten. Wohlan denn, laßt uns geeignete Boten senden, die schnell zur Hütte des Peliden gehn. Ich selbst will sie bezeichnen; sie aber mögen sich dazu entschließen. Phoinix, der Liebling des Zeus, übernehme die Führung; der große Aias und der edle Odysseus seien 170 seine Begleiter. Von den Herolden sollen Hodios folgen und Eurybates. Bringt Wasser herbei zum Waschen für die Hände und gebietet Ruhe; wir wollen zu Zeus, dem Kroniden, beten; vielleicht, daß er sich unsrer erbarmt." So sprach er, und alle stimmten dem Vorschlag zu. Herolde gössen alsbald Wasser zum Waschen über die Hände; Jünglinge füllten große Krüge bis zum Rande mit Wein und verteilten ihn, mit der Weihehandlung beginnend, in alle Becher. Als sie gespendet und nach Herzenslust getrunken, verließen sie die Hütte Agamemnons. Der reisige Nestor gab noch mancherlei Rat, wie i8o sie versuchen sollten, den edlen Peliden umzustimmen; er wandte sich an jeden, insonderheit an Odysseus. Die nun schritten dahin am rauschenden Strande des Meeres und beteten innig zum länderschirmenden, erderschütternden
DIE GESANDTEN BEI ACHILL
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Gott, daß sie des Aiakiden stolzen Sinn bezwingen möchten. Sie 9. kamen zu den Hütten und Schiffen der Myrmidonen und fanden ihn, wie er sein Herz ergötzte am hellen Klang der ¡schönen, kunstvollen Leier; sie hatte einen silbernen Steg. Er hatte sie erbeutet in der Stadt des Eetion, die er zerstörte. Ihr Klang erheiterte ihn; er besang die Taten der Helden. Gegenüber saß nur Patroklos und wartete schweigend, wann des Aiakos Enkel i»o den Gesang beendigen würde. Die Helden kamen heran ; der edle Odysseus als erster. Sie traten zu ihm hin. Achill sprang staunepd vom Sitz empor, in den Händen die Leier. Auch Patroklos erhob sich, als er diei Männer sah. Achill begrüßte die beiden Führer und sprach zu ihnen: „Seid mir gegrüßt! Wahrlich, da nahn, — es ist recht so —, befreundete Helden, die mir trotz meines Zorns von den Achäern die liebsten sind." Und er führte sie weiter hinein in die Hütte und hieß sie niedersitzen auf Stühlen mit farbenprächtigen Decken. 200 „Sohn des Menoitios," begann er alsbald zu Patroklos, der nahe dabei stand, „stelle doch einen größeren Krug hin; den Wein mische stärker und schaffe für jeden einen Becher herbei 1 Unter meinem Dache weilen Männer, die mir von Herzen lieb." Während Patroklos den Auftrag des lieben Freundes vollzog, rückte er eine mächtige Fleischbank in den Lichtschein des Feuers und legte die Rückenstücke eines Schafes und einer feisten Ziege darauf, sowie den Rücken eines gemästeten Schweins, strotzend von Fett. Automedon hielt ihm das Fleisch, Achilleus zerlegte es; dann schnitt er es in Stücke und steckte diese an Spieße. Des 210 Menoitios Sohn, der göttergleiche, entfachte ein mächtiges Feuer. Als es niedergebrannt und die Flamme erloschen war, breitete er die glühenden Kohlen auseinander, legte auf gabelförmigen Stützen die Spieße darüber und bestreute das Fleisch mit heiligern Salz. Als alles gebraten und auf Bänke gelegt war, brachte
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VIERTER GESANG
9. Patroklos Brot in schönen Körben und verteilte es über den Tisch. Achilleus teilte das Fleisch aus. Dann setzte er sich dem Odysseus gegenüber an die andere Wand und befahl seinem Freunde Patro220 klos, den Göttern zu opfern. Der warf Räucherwerk in die Glut. Und sie streckten die Hände aus nach den vor ihnen liegenden Speisen. Das Verlangen nach Speise und Trank war gestillt, und Aias winkte dem Phoinix, er solle reden. Dies bemerkte der edle Odysseus und kam ihm zuvor. Er füllte seinen Becher mit Wein und trank dem Achilleus zu: „Heil dir, Achilleus! Am trefflichen Mahle fehlt es uns nicht in der Hütte des Agamemnon und nicht bei dir. Viel herzerfreuende Dinge gibt es zu schmausen. Doch ist uns jetzt nicht um köstliche Speisen zu tun. Zeusentstammter, 2so wir haben die bitterste Not vor Augen und fürchten uns sehr. Ob wir die wohlgebordeten Schiffe retten, oder ob sie zugrunde gehn, ist zweifelhaft, falls du dich nicht zur Abwehr entschließt. Denn nahe den Schiffen und der Umwallung haben Troer und Bundesgenossen ein Lager bezogen und im Heere viele Feuer entzündet. Und sie denken nicht, dort zu bleiben, sondern trachten, sich auf die Schiffe zu stürzen." „Zeus aber sendet ihnen günstige Zeichen mit seinem Blitz, und Hektor rast gewaltig. Er pocht auf seine Kraft, und im Vertrauen auf Zeus kehrt er sich nicht an Menschen und nicht an 240 Götter. Tolle Kampfeslust ist in ihn gefahren. Er betet, die göttliche Eos möge bald erscheinen, denn er vermißt sich, er werde die hohen Krönungen vom Heck der Schiffe trennen, sie selbst mit gierigem Feuer verbrennen und die vom Rauch betäubten Achäer bei ihnen erschlagen. Ich fürchte sehr, die Götter könnten sein Drohen erfüllen, und uns könnte im troischen Land, vom rossenährenden Argos fern, der Untergang beschieden sein." „Auf denn, wenn du in letzter Stunde noch die geängstigten Söhne der Achäer zu schützen gedenkst 1 Später wirst du selbst
ODYSSEUS BITTET ACHILL UM RETTUNG
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es bereuen; denn wenn das Unglück geschehen, ist Hilfe un- 9. möglich. Drum sinne vorher, wie du die Achäer vor dem Tag zso des Verderbens bewahrst." „Mein lieber Achilleus, gar dringlich ermahnte dich Peleus, dein Vater, an dem Tage, als er aus Phthia zu Agamemnon dich sandte. ,Mein Sohn', so sprach er,,sieghafte Stärke werden Athena und Hera dir geben, falls sie es wollen. Du selbst aber zügle den stolzen Sinn! Freundliches Wesen ist besser. Stehe ab vom verderblichen Zank! Um so höher schätzen dich von den Argivern Junge und Alte.' So mahnte der Greis. Du hast es vergessen. Mach jetzt noch ein Ende. Laß ab vom verzehrenden Groll!" 260 „Reiche Geschenke gibt Agamemnon dir, wenn du abläßt von deinem Zorn. Höre, ich will die Gaben nennen, die er in seiner Hütte versprach: Der ungebrauchten Dreifüße sieben; der Goldtalente zehn; zwanzig blinkende Kessel; der sieggekrönten Rosse, die durch ihre Schnelligkeit Preise gewannen, zwölf. Der wäre reich an Land und an köstlichem Gold, der so viel besäße, als die schnellen Rosse dem Agamemnon an Preisen gebracht. Geben will er ferner sieben lesbische Frauen, die sich auf kunstvolle 270 Arbeit verstehn. Er suchte sie für sich aus, als du selbst einst das wohlgebaute Lesbos genommen; sie überragen an Schönheit die große Menge der Frauen. Diese wird er dir geben; mit ihnen des Briseus Tochter, die er dir raubte. Und er will mit einem heiligen Eide versichern, daß er ihr Lager nicht geteilt und sie nicht liebend umfangen hat, wie es Brauch zwischen Männern und Frauen." „Dies alles wirst du sofort erhalten. Verleihen aber die Götter, daß wir des Priamos mächtige Stadt zerstören, dann sollst du, bei der Verteilung der Beute durch die Achäer, dein Schiff zur 280 Genüge mit Gold und Erz beladen; auch sollst du dir aus der Zahl der troischen Frauen zwanzig wählen, die am schönsten sind nächst der argivischen Helena. Kehren wir endlich heim
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9. in das achäische Argos, das reiche Land, so kannst du sein Eidam werden. Er wird dich halten wie Orestes, seinen Liebling, der in reicher Jugendblüte heranwächst. Von den drei Töchtern, die er besitzt, kannst du eine, die dir gefällt, als liebe Gattin ins Haus des Peleus führen, ohne das übliche Brautgeschenk; selbst aber wird er eine erfreuliche, große Mitgift geben, wie sie noch 290 niemand seiner Tochter geschenkt hat. Dies alles wird er tun, wenn du abläßt von deinem Groll." 800 „Sollte dir der Atride aber allzu verhaßt sein, er und seine Geschenke, so erbarme dich der andern bedrängten Achäer im Lager. Sie werden dich ehren wie einen Gott. Wirst du dir doch gewaltigen Ruhm bei ihnen erwerben, denn jetzt kannst du Hektor bezwingen. Er wird dir in seiner rasenden Kampfeswut ganz nahe kommen; wähnt er doch, von den Achäern, die auf der Flotte hierhergefahren, sei ihm keiner gewachsen." Der schnelle Achilleus gab ihm zur Antwort: „GöttlicherSohn des Laertes, erfindungsreicher Odysseus! Meine Meinung muß 8io ich unverhohlen sagen, so wie ich wirklich denke, und wie ps kommen wird, damit ihr mir hier nicht sitzt und nacheinander auf mich einzureden versucht. Denn verhaßt ist mir, wie des Hades Tor, wer anders redet, als er im innersten Herzen empfindet." „Mich wird, denke ich, weder Agamemnon überreden noch ein andrer Achäer. Hab ich doch keinen Dank davon gehabt, immerfort mit den Feinden zu kämpfen. Gleiche Beute bekommt, wer daheim bleibt, und wer wacker gestritten; dem Feigling wird 320 dieselbe Ehrung zuteil wie dem Helden. Ich habe nichts damit gewonnen, daß ich im Kampfe mein Leben wagte und mich der Mühsal willig unterzog. Wie ein Vogel den noch nicht flüggen Jungen Futter bringt, falls er es findet, — ihm selbst ergeht es dabei schlecht —, so habe ich viele schlaflose Nächte gehabt und Tage voll blutiger Kämpfe durchlebt, wenn ich die Männer bekriegte, um ihre Weiber zu rauben."
ACHILL BLEIBT UNVERSÖHNLICH
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„Zwölf Städte habe ich zur See bezwungen und elf zu Lande 9. in der fruchtbaren Troas. In allen habe ich viele herrliche Schätze sso erbeutet und alle dem Atriden überbracht Der ist daheim bei den Schiffen geblieben; er hat sie genommen und einige wenige verteilt; viele hat er behalten und andere den Fürsten und Königen als Ehrengabe geschenkt. Diese besitzen sie unversehrt; ich bin der einzige von den Achäern, dem er sie nahm. Mein liebes Weib ist in seinem Besitz. Mag er sich ihrer erfreun und bei ihr ruhnl" „Warum müssen nur die Argiver mit den Troern kämpfen? Warum hat der Atride die Mannen versammelt und hergeführt? Doch der schönen Helena wegen. Lieben denn unter den Sterb- 340 liehen nur die Söhne des Atreus ihre Frauen? Jeder tüchtige und verständige Mann liebt seine Gattin und hegt sie, so wie ich Briseis von Herzen liebte, obwohl ich sie mit dem Speere gewann. Nun, da er die Ehrengabe meinen Armen entrissen und mich betrogen, soll er nicht versuchen, mich umzustimmen. Ich kenne ihn: er wird mich nicht überreden. Mag er mit dir, Odysseus, und den andern Fürsten beraten, wie er die Flotte vor dem vernichtenden Feuer bewahrt." „Morgen opfere ich dem Zeus und allen Göttern und befrachte 367 die Schiffe, und wenn ich sie ins Meer gezogen, kannst du sehn, falls du willst und dir daran liegt, wie sie in aller Frühe den Hellespont durchfahren, mit Leuten bemannt, die kraftvoll s«o rudern. Gibt der Erderschütterer gute Fahrt, so kann ich am dritten Tage im fruchtbaren Phthia sein. Dort habe ich reichen, Besitz; ich ließ ihn zurück, als ich hierherging; anderen bring ich mit heim: alles, was ich an Beute erhielt, Gold und rötliches Kupfer, graues Eisen und schöngegürtete Frauen. Nur mein Ehrengeschenk hat der Atride Agamemnon, der es gab, mir frevlerisch wieder genommen." „Verkünde ihm alles so, wie ich es sage, und öffentlich, damit 370
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VIERTER GESANG
9. auch andre Achäer ergrimmen, falls er hofft, noch einen von ihnen zu betrügen. So frech er auch ist, er soll nicht wagen, mir vor die Augen zu kommen. Mit ihm beraten werde ich nicht und auch nicht taten. Einmal hat er mich getäuscht und an mir gefrevelt Das mag ihm genügen; zum zweitenmal betrügt er mich nicht. Mag er ruhig zugrunde gehen; hat ihn doch der waltende Zeus des Verstandes beraubt" „Verhaßt sind mir seine Geschenke; für nichts erachte ich sie. SM Und gab er mir zehnmal so viel, als er hat, ja zwanzigmal, und kämen noch Gaben anderswoher hinzu, alles, was nach Orchomenos strömt und nach dem ägyptischen Theben, dessen Paläste reichc Schätze umschließen, gäbe er mir Geschenke gleich dem Sande am Meer und dem Staub auf der Straße; auch dann würde er mich nicht überreden; erst soll er mir büßen für die ganze herzkränkende Schmach." „Ich werde auch des Atriden Tochter nicht frein; gliche sie 890 Aphrodite an Schönheit und könnte mit Athena sich messen an Kunstfertigkeit, selbst dann will ich sie nicht Er wähle einen andern Achäer, der ihm ansteht und ein größeres Reich hat. Falls mich die Götter behüten und ich nach Hause gelange, wird Peleus selbst mir eine Gattin suchen. Viele Achäerinnen leben in Hellas und Phthia, Töchter von Fürsten, die feste Plätze beherrschen. Ich werde eine von ihnen, die mir gefällt, zu meiner lieben Gattin machen. Daheim schon verlangte mein Herz gar sehr, im Bunde mit einem ehelichen Gemahl, einer passenden 400 Gattin, mich des Besitzes zu freun, den der greise Peleus erworben. Denn Ersatz für das Leben bietet nicht einmal das, was früher im Frieden, bevor der Achäer Söhne kamen, die bevölkerte Feste Ilios, wie es heißt, an Schätzen besessen; desgleichen nicht, was die steinerne Schwelle des Schützen Phoibos Apollon im felsigen Pytho umhegt." „Leicht zu erbeuten sind Rinder und feiste Schafe, leicht zu
ACHILL BLEIBT UNVERSÖHNLICH
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erwerben Dreifüße und Rosse mit goldiger Mähne; des Mannes 9. Lebensodem aber, wenn er den Lippen entflohen, ist nicht zu fassen und nicht zu greifen, daß er wiederzukehren vermöchte." „Wie mir die göttliche Mutter, die silberfüßige Thetis, ver-