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German Pages 190 [192] Year 1982
Schneiders Hoffnung auf Vernunft
Werner Schneiders
Hoffnung auf Vernunft Aufklärungsphilosophie in Deutschland
Felix Meiner Verlag · Harnburg
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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. isbn 978-3-7873-0993-1 ISBN eBook: 978-3-7873-2751-5
© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1990. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de
Vorwort Gesucht wird die deutsche Aufklärungsphilosophie. Die vorliegenden Studien sollen aber auch dazu beitragen, die zwischen der gegenwärtigen Aufklärungsdiskussion und der neueren Aufklärungsforschung klaffende Kommunikationslücke auszufüllen - soweit dies durch Verminderung historischer Unkenntnis, insbesondere im Hinblick auf die geistige Entwicklung Deutschlands, überhaupt möglich ist. Aus diesem Ziel erklärt sich auch der gemischte Stil der einzelnen Erörterungen: als Bemühen um die schwere Kunst, allgemeinverständlich zu sein, ohne den Spezialisten zu enttäuschen. Doctus sine pompa! Ausgangspunkt der Ausarbeitung dieser Abhandlung war ein öffentlicher Vortrag mit dem Titel "Aufklärungsphilosophien", den ich am 19.11.1987 auf der XII. Tagung der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts mit dem Generalthema "Europäische Aufklärung(en)- Einheit und nationale Vielfalt" halten durfte. Den Veranstaltern Siegfried Jüttner und Jochen Schlobach, die mich eingeladen haben, sowie Rainer Gruenter und Sabine Solf, die mich zu der Ausarbeitung ermutigt haben, sei auch an dieser Stelle herzlich gedankt. Großen Dank schulde ich auch meinen Mitarbeitern Christoph Bruckmann, Frank Grunert und Veronika Raida, die mir bei der Herstellung des Textes mit Rat und Tat geholfen haben.
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Inhalt I. Das Land der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) b) c) d)
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Aufklärungen über Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hoffnung auf Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wille zur Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufklärungsphilosophien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10 19 28 39
II. Das Bild der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
a) b) c) d)
52 65 83 93
Wege zur Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Sonnenlicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweifelhafte Siege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
III. Der Begriff der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 a) b) c) d)
Lebendige Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endgültiges Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eklektik und Popularphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstverständigung und Verselbständigung . . . . . . . . . . . . . . . .
112 126 134 146
IV. Die wahre und die höhere Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 a) b) c) d)
Historisierung und Enthistorisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstdefinition und Selbsttranszendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Armseligkeit der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufklärung als Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
158 163 170 175
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
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I. Das Land der Aufklärung Aufklärung ist immer noch ein Schlagwort, an dem sich die Geister scheiden. Nachdem die damit gemeinte Sache und die danach benannte Epoche in Deutschland lange Zeit verfemt waren, kam es nach dem Zweiten Weltkrieg, aus der Perspektive einer allgemeinen Hoffnung auf ein neues Zeitalter der Vernunft, zu einer Rückbesinnung auf die verschüttete Tradition der Aufklärung: teils im Rahmen neuer oder neu entdeckter politischer und philosophischer Fragestellungen, teils im Rahmen der historischen Forschung. Inzwischen hat diese Aufklärungsbegeisterung, z. T. durch exaltierte Erwartungen und aktionistischen Pseudorationalismus diskreditiert, im Gegenwind einer neuen geistigen und politischen 'Wende' beträchtlich an Schwung verloren; neben die schon bekannten Plädoyers für Aufklärung sind wieder die auch nicht ganz neuen Klagen über das Elend der Aufklärung getreten. Der gemeinsame formale Nenner dieser Aufklärungsdiskussion ist bestenfalls ein "Ja-aber": Aufklärung ja, aber nicht so halbherzig wie bisher; Aufklärung ja, aber nicht so maßlos wie bisher. Ein Streit über Möglichkeiten und Grenzen der Aufklärung, der im Grunde ein Streit über das Wesen der Aufklärung ist und der selber bis in die Aufklärung zurückreicht! Was ist Aufklärung, was war die Aufklärung, was kann oder soll Aufklärung sein? Aufklärung als Aktion oder Aktionsprogramm und Aufklärung als geschichtliche Erscheinung oder Epoche scheinen nahezu unvermeidlich immer in einem Atemzug genannt werden zu müssen, deskriptiv-historische und philosophisch-systematische bzw. normativprogrammatische Fragen scheinen sich unvermeidlich zu verknüpfen und zu vermischen. Die historische Frage, was Aufklärung zu ihrer Zeit war bzw. bis heute ist, präformiert die programmatische Frage, was Aufklärung auch heute und in Zukunft noch sein könnte oder sein sollte. Und umgekehrt, das Interesse an irgendeiner Art von Aufklärung, vor allem der Wille, daß solche Aufklärung sei, bestimmt auch selektiv und 9
normativ als leitendes Interesse die historische Frage nach der so benannten Zeitepoche. Dies zeigt sich vor allem dann, wenn die Frage nach dem historischen Phänomen Aufklärung als eine Art Wesensfrage gestellt wird, nämlich als Frage, was die Aufklärung eigentlich oder im Grunde war. Was war die Aufklärung wirklich oder in Wahrheit, was war die wirkliche oder wahre Aufklärung?
a) Aufklärungen über Aufklärung Heute dürften es (sieht man von mancherlei mehr oder weniger geistreichen Aufklärungsdefinitionen ab) vor allem drei Deutungstendenzen sein, die teils als Rechtfertigungs- teils als Kritiktendenzen das weite Feld der Aufklärungsdiskussion beherrschen. Es sind, grob gesprochen, die religiöse oder religionsgeschichtliche, die politische oder gesellschaftsgeschichtliche und die metaphysische oder geistesgeschichtliche Interpretation. Waren die Aufklärer vor allem Feinde der (christlichen) Religion? Waren sie vor allem Feinde der (feudalen) Gesellschaftsordnung? Oder waren sie gar Feinde jeder (objektiven) Vernunftordnung überhaupt? War die Aufklärung also ein Abfall von Gott? War sie ein Aufstand des Bürgertums gegen den Adel? Oder war sie gar die geistige Freisetzung des Individuums aus allen Bindungen überhaupt? Jeder der drei Deutungsansätze hält die Aufklärung für einen eminent wichtigen Abschnitt der Geschichte, und alle drei haben gute Gründe für sich. Alle drei Interpretationen gründen aber auch in der Aufklärung selber, und wohl nicht zufällig verstehen sie Aufklärung - anscheinend unwillkürlich - als Negation. Die älteste Deutung der Aufklärung, die diese von Anfang an begleitet hat, dürfte die religiöse bzw. theologische, später dann auch religionsgeschichtliche sein. Demnach ist Aufklärung im Grunde antichristlich, ja atheistisch. Sie ist ihrem Wesen nach eine (illegitime) Rebellion einer sich selbst überschätzenden Vernunft gegen die Religion, vor allem die Offenbarungsreligion, in der sich Gott den Menschen schenkt. Sie ist also eine hochmütige Selbstbehauptung des menschlichen Wissens gegenüber dem demütigen Glauben und gründet als Selbstverherrlichung der menschlichen Vernunft in einer Selbstverabsolutierung des Menschen gegenüber Gott. Letztlich betreibt sie die Abschaffung aller Religion und die Ausbreitung des Atheismus. Bei einer solchen Interpretation wird natürlich die Religion bzw. das Christentum axiomatisch vorausgesetzt und in der einen oder anderen Form als Norm absolut gesetzt, Atheismus oder auch 10
nur Ablehnung des Christentums folglich mehr oder weniger als Abfall des Menschen von seinem eigenen Wesen kritisiert. - Dazu wäre natürlich vieles zu sagen. Vor allem aber ist - gleichgültig, ob und wie man Religionskritik bewerten will - zunächst einmal historisch festzustellen, daß nur eine ganz geringe Zahl derer, die heute Aufklärer genannt werden oder die sich selber so genannt haben, sich auch als Atheisten verstanden bzw. zu erkennen gegeben hat. Viele waren Deisten, die meisten hielten sich allem Anschein nach in der einen oder anderen Form für Christen (ganz abgesehen davon, daß auch die Inhalte vieler aufklärerischer Programme, selbst wenn sich deren Autoren nicht als Christen verstanden, faktisch weitgehend christlichen Ursprungs waren). Natürlich kann man die Bekenntnisse der Aufklärer zur Religion als Taktik oder allgemeine Heuchelei interpretieren; oder man kann meinen, daß die Aufklärer sich über sich selber nicht im klaren waren und sich vielleicht sogar ihre letztendliche Religionsfeindlichkeit verhehlten. Vielleicht waren die Aufklärer sogar subjektiv religiös und dennoch objektiv antireligiös. Aber abgesehen davon, daß sich niemand ganz im klaren über sich ist und daß jeder Kompromisse mit sich und der Welt schließt, scheint es doch nicht nur methodisch bedenklich, sondern auch wider alle Wahrscheinlichkeit, daß gerade die Aufklärer reihenweise positiv über die Religion geschrieben hätten, nur um ihre wahre Meinung zu verbergen, anstatt zu diesem Thema einfach zu schweigen, wenn sie schon nicht ihre wahren Gedanken veröffentlichen konnten. Und wenn man der Aufklärung schon unausgesprochene oder unbewußte Motive unterstellen will bzw. muß, dann war die Aufklärung vielleicht nicht nur Religionskritik, sondern auch einer der ersten Versuche, das Christentum, das sich durch seine Verweltlichung und Politisierung sowie seine internen Zwiste selbst desavouiert hatte, durch Ausrichtung auf eine Vernunftreligion zu retten. Aber es ist natürlich richtig, daß die Aufklärung des 18. Jahrhunderts einerseits die alte Unterscheidung von natürlicher Vernunft und übernatürlichem Glauben forciert hat und daß sie andererseits die Machtansprüche der Kirchen, bestimmte Formen des Glaubens und z. T. sogar die Religion als solche heftig kritisiert hat. Allerdings kann man auch aus religiösen Gründen gegen bestimmte Formen der Religion, der Theologie und der Kirche kämpfen, und man kann auch aus religiösen Gründen für eine scharfe Unterscheidung von Wissen und Glauben eintreten. Die Unterscheidung von Wissen und Glauben kann einer Selbstbescheidung der Vernunft entspringen oder eine Beschränkung der Kompetenz der Theologie zum Ziele haben, ja sogar beides zugleich beinhalten; und die Kritik bestimmter Aspekte der Religion kann auf die Religion im ganzen 11
zielen oder im Dienst einer erstrebten wahren Religion stehen. Faktisch gibt es zwar in der Aufklärung eine unverkennbare Verlagerung des Interesses von der Offenbarungstheologie zur natürlichen Theologie und von der Theologie überhaupt zur Anthropologie, also vom erahntenJenseits zum erkennbaren Diesseits. Doch dürften die Alternativen Glaube oder Vernunft, Theologie oder Anthropologie und Theonomie oder Autonomie (obwohl vielleicht unverzichtbare begriffliche Hilfsmittel) in dieser Form schlechte Abstraktionen darstellen, wenn damit die ohnehin schiefe Frage Glauben an Gott oder Berufung auf die Vernunft alternativ diskutiert werden soll. Sie können nur allzuleicht der Selbstbehauptung sich selber kaschierender Positionen dienen; die Berufung auf Gott kann z. B. ebenso eine Selbstverabsolutierung sein wie der Rückzug auf eine ihrer selbst gewisse eigene Vernunft. Für eine Wesensbestimmung der Aufklärung genügen solche Begriffe jedenfalls nicht. Aufklärung, so scheint es, ist, wenn man sie nicht von vornherein religiös inhaltlich festlegen will, von sich aus weder theistisch noch atheistisch, sondern zunächst nur eine engagierte Bemühung um Vernunft, also auch in der Frage nach Gott ein Prozeß der Vernunft mit ungewissem Ausgang. Spätestens seit der Spätaufklärung, auch schon vor der Französischen Revolution, gibt es die Deutung der Aufklärung als ein primär politisches Phänomen. Nach dieser gesellschafts-, später sogar geschichtsphilosophischen Deutung der Aufklärung ist sie im Grunde eine soziale Bewegung, getragen von einem aufsteigenden Bürgertum, dem es letztlich nur um die Abschaffung des wirtschaftlich und politisch überholten Feudalismus geht. Genauer gesagt, die Aufklärung ist die letzte Epoche in einem langen Kampf des Bürgertums, der schon im Spätmittelalter begonnen hat und sich im Namen allgemeiner Prinzipien, mit mehr oder weniger demokratischen Zielen, gegen vorhandene Privilegien richtete und daher auch gegen die Verbrämung dieser Privilegien in der herrschenden Weltanschauung. Eigentlich ist die Aufklärung also nur ein Epiphänomen, nämlich selber eine Ideologie, die der Herrschaftsvorbereitung einer neuen gesellschaftlichen Gruppe dient; sie ist nach marxistischer Erwartung sogar der Anfang des letzten Abschnitts in dieser Ideologiegeschichte, vor dem Beginn einer klassenlosen Gesellschaft mit einer neuen 'wahren' Ideologie. Bei einer solchen, tendenziell geschichtsmetaphysischen Interpretation wird allerdings axiomatisch vorausgesetzt, daß es eine Art universalen Geschichtsprozeß gibt, einen mehr oder weniger zielgerichteten gesamtgesellschaftlichen Prozeß, der vor allem durch ökonomische Faktoren (Produktionskräfte und Produktionsverhältnisse) bestimmt ist; und es wird ferner vorausgesetzt, daß dieser Prozeß und 12
seine Faktoren sozusagen die Grundwirklichkeit, die letzte und wahre Wirklichkeit darstellen, auf die alle Phänomene zurückbezogen und aus dem alles andere erklärt werden kann. - Hier wäre natürlich zunächst wieder historisch daran zu erinnern, daß auch im 18. Jahrhundert der Adel sowie das Bürgertum durchaus differenzierte Gruppen mit sich überschneidenden Interessen bildeten, daß also Adel und Bürgertum keine monolithischen Gruppen waren und daß sie also wahrscheinlich auch keine Prinzipien oder Entitäten darstellen, die dialektisch gegeneinander agieren. Fest steht auch, daß die Aufklärung z. T. sogar vom Adel ausging, von diesem gefördert und mitgetragen wurde, so wie umgekehrt bürgerliche Aufklärer mit adeligen kooperierten und sich sogar gerne in den Adelsstand erheben ließen und erst in der Spätaufklärung (zum Teil) nachdrücklich gegen den Adel opponierten. Wenn also der Kampfzweier Großgruppen (Klassen) das letzte Kriterium der Einschätzung abgeben soll, dann wußten die weitaus meisten Aufklärer, ob bürgerlich oder adelig, im Grunde nicht, was sie taten; anstatt sich gegenseitig ihrem inneren Gesetz gemäß zu bekämpfen, widersprachen sie sich jeweils selber, sie waren also objektiv sogar Verräter an ihrer jeweiligen Sache. Dann aber scheint Aufklärung eine von der gesellschaftlichen Stellung bzw. der sogenannten ökonomischen Basis relativ unabhängige Geisteshaltung zu sein. Als historisches Phänomen betrachtet war sie jedenfalls keineswegs durch und durch politisch. Sie zielte zwar auch auf eine Reform der Gesellschaft, aber nicht unbedingt oder nur z. T. und erst spät auch auf die Abschaffung des Adels, obwohl sie im Ausgang von einer allgemeinen Menschenvernunft natürlich tendenziell alle geschichtlich gewordenen Unterschiede unter Legitimationszwang stellte und insofern auch eine Tendenz zur Egalisierung implizierte. Auch in Frankreich politisierte sie sich eigentlich erst nach der Jahrhundertmitte, und auch hier war sie nur sporadisch politisch radikal, demokratisch oder revolutionär. Aber es ist natürlich richtig, daß es in jeder Gesellschaft einerseits aufsteigende, meist irgendwie produktive, andererseits etablierte, dabei nicht selten unproduktive Gruppen gibt, daß es also (außer dem anscheinend unaufhebbaren Druck von oben) immer Druck von unten auf die jeweils Herrschenden und ihre Hierarchien gibt, daß sich dann diese Opposition auch in einer Tendenz zu bestimmten Geisteshaltungen äußert und daß es gerade im 18. Jahrhundert eine rasante gesellschaftliche Entwicklung gegeben hat, den sogenannten Aufstieg des Bürgertums. Insofern kann man sagen, daß die Aufklärung wesentlich von Bürgern getragen wurde bzw. die 'Ideologie' dieser Bürger war. Die Frage ist nur, ob man alle Inhalte dieser 'Ideologie' als bloße Aufsteigerideologie charakterisieren 13
kann, d. h. ob man die Aufklärung in geschichtsphilosophischer Betrachtung total politisch funktionalisieren oder instrumentalisieren darf, ob man das materielle Interesse der Menschen, ihre wirtschaftlichen und daher auch politischen Ambitionen als ihr letztes, alles letztlich erklärendes Motiv ansehen muß (von der Selbstrelativierung dieser Betrachtungsweise, die sich konsequenterweise selbst als bedingt verstehen müßte, einmal ganz abgesehen). Daß die Berufung auf eine allgemeine Menschenvernunft einen auch politisch egalitären (demokratischen) Effekt hat und daß dieser auch gewollt werden kann, dürfte unstrittig sein. Die Frage ist nur, ob die Aufklärung als historisches Phänomen (nicht eine substituierte, gleichsam unterirdische Aufklärung an sich) den politischen Umsturz der Gesellschaft erkennbar gewollt hat und ob dies ihr eigentliches Motiv oder Ziel gewesen ist. Es ist also zu fragen, ob die politische Deutung nicht - ähnlich wie die religiöse und die metaphysische - eines der 'Ergebnisse' der Aufklärung als deren einziges Ziel und alles andere als Mittel deutet und so Ursache bzw. Absicht und Wirkung verwechselt wird; ob also nicht auf diese Weise ausgerechnet die so sehr reflektierten Aufklärer zu unbewußten Agenten einer hintergründigen Emanzipationsgeschichte und damit zu Marionetten eines (sozioökonomischen) mechanismus metaphysicus gemacht werden, der zwar nicht mehr theologisch, aber immer noch teleologisch verstanden wird, und insofern doch im Sinne einer politischen Theologie oder einer ihr selbst unbewußten schlechten Metaphysik. Die wohl jüngste und radikalste Tendenz der Aufklärungsdeutung beruht auf einer Art metaphysischen Betrachtungsweise der Aufklärung, die bis auf Hegel zurückgeht. Sie ist geistesgeschichtlich - weniger im Sinne einer bloßen Ideengeschichte, als vielmehr im Sinn einer gattungsgeschichtlichen Geistes-, wenn nicht sogar Seinsgeschichte. Für sie ist die Aufklärung der definitive Beginn der Moderne, insbesondere des neuzeitlichen Rationalismus, wie er in Wissenschaft und Technik zum Ausdruck kommt und heute seine destruktiven, möglicherweise menschheitsvernichtenden Konsequenzen offenbart. In der Aufklärung hat sich das Denken nicht nur von Gott und aller überlieferten Gesellschaftsordnung, sondern von Natur und Geschichte gleichermaßen, im Grunde von aller Anerkennung verbindlicher Ordnung überhaupt gelöst und ist zur leeren Vernunft oder zum bloßen Verstand geworden. Die Selbstbefreiung des Ich, die auf Emanzipation von aller Abhängigkeit überhaupt zielt, führt zu einer Selbstverabsolutierung der individuellen oder subjektiven Vernunft und damit geradewegs in die bodenlose Raserei eines losgelassenen Denkens, welches am Ende das losgelassene Subjekt dieses Denkens und 14
damit sich selbst zerstört. -Die Problematik, deren Ursprung hier der Aufklärung zugeschrieben wird, ist in der Tat höchst aktuell. In welchem Verhältnis steht die individuelle oder subjektive menschliche Vernunft zu einer möglicherweise übergreifenden und sie selbst bestimmenden objektiven Ordnung (Vernunftordnung), sei es die der Tradition, sei es die der Natur, sei es Gott selber. Wie verhält sich Selbstbestimmung zu Anerkennung? Dennoch muß auch hier zunächst rein historisch festgehalten werden, daß, falls es überhaupt einen solchen universalen Emanzipationsprozeß der Vernunft als gesamtgeschichtlichen Prozeß gibt, dieser dann nicht mit der Aufklärung begonnen hat, sondern Qe nachdem, welche Akzente man setzen will) schon mit der modernen Bewußtseinsphilosophie, also mit der Selbstbehauptung des Cogito, oder mit der modernen Wissenschaft bzw. Technik, aber vielleicht auch schon mit Sokrates und der Sophistik, ja wenn man so will, sogar mit dem Beginn der Philosophie als Vernunftverselbständigung überhaupt. Betrachtet man jedoch die Aufklärung im engeren Sinn, so wird man einerseits sagen müssen, daß im 18. Jahrhundert durch die Verselbständigung der Vernunft deren Verhältnis zur Wirklichkeit im ganzen in einer neuartigen Weise problematisch geworden ist. Die kritische Vernunft stellt die überkommene Ordnung bzw. die überkommenen Auffassungen von Ordnung und damit mehr und mehr die ganze Welt in Frage und folglich unter Legitimationszwang; sie wird in einem weltverändernden Maßstab weltkritisch und zugleich Ausgangspunkt für die Entstehung einer neuen Welt. Andererseits wird man jedoch auch sagen müssen, daß gerade die Aufklärung, wenn auch vielleicht nur in der Form eines säkularisierten Christentums, nach Ordnung gesucht hat, allerdings nach einer neuen, nämlich in ihrem Sinne vernünftigen Ordnung. So ist Aufklärung zwar nicht gegen Tradition schlechthin gerichtet, aber da sie eine wahre Ordnung aus 'reiner' Vernunft sucht, ist sie nicht mehr traditionsorientiert, sondern zukunftsorientiert; sie will eine neue vernünftige Welt im Sinne ihrer eigenen Vernunft (in der natürlich auch die Tradition ihren unaufhebbaren Ort haben kann). Dabei beruft sie sich zwar auch auf die modernen Wissenschaften, die längst alle Ordnungen in Frage zu stellen begonnen hatten, aber sie selber versteht sich im allgemeinen nicht als Wissenschaft im modernen Sinn (Naturwissenschaft), und sie ist es auch nicht. Die Aufklärer betonen zwar den Nutzen und die Notwendigkeit der Wissenschaften und nennen auch die Philosophie im allgemeinen eine 'Wissenschaft', nämlich im weiten und alten Sinn des Wortes; aber sie selber sind nur selten auch Wissenschaftler in irgendeinem engeren Sinne, eher schon deren 'Ideologen', Herolde oder Vermittler. Aufklärung ist also 15
keine Wissenschaft, die sich und ihren ursprünglichen Vernunftanspruch verraten hätte; sie ist vielmehr bereits eine Antwort auf die moderne Wissenschaft und deren Rationalitätsstandard - teils Ideologie der Wissenschaft, teils auch schon deren Kritik. Sie ist nicht identisch mit Wissenschaft und Technik, nicht einmal deren Prototyp; sie ist auch nicht der Inbegriff des neuzeitlichen Rationalismus, wenn dieser im Sinne einer positivistischen, bloß instrumentellen Vernunft verstanden wird. Aufklärung ist selber schon ein Versuch der Vernunft, auf dem Boden der wissenschaftlichen Vernunft mit den bedrohlichen Konsequenzen der modernen Vernunft fertig zu werden. Sie ist wie alle Philosophie immer auch Kampf gegen das drohende Chaos, das doch nicht zuletzt durch sie selber ermöglicht worden ist, also Suche nach einer vernünftigen oder der wahren Ordnung der Dinge. Aufklärungen über Aufklärung oder Gespenstergeschichten- pseudophilosophisches Schattenboxen, Schemen gegen Schemen? Schon die bloße Skizzierung der religiösen, politischen und metaphysischen Deutungsmuster zeigt, daß sie zwar wichtige Aspekte der Aufklärung sichtbar machen können, aber daß sie sich auch allzu grober Raster, pauschaler Aufklärungsbegriffe und globaler Argumentationen bedienen. Sie müssen daher mehr Probleme aufwerfen, als sie zu lösen vorgeben. Offensichtlich arbeiten alle drei Aufklärungsdeutungen mit einem überstrapazierten Aufklärungsbegriff, der, anstatt die Aufklärung als geschichtliche Erscheinung zu erklären, dahin tendiert, sich zu verselbständigen und von einer Aufklärung an sich zu reden. Will man z. B. die religiöse Interpretation der Aufklärung als atheistisch oder die politische Interpretation der Aufklärung als demokratisch-revolutionär gelten lassen, dann muß man gut neunzig Prozent aller Aufklärer als uneigentliche oder inkonsequente, als halbherzige oder kompromißlerische Aufklärer bezeichnen. Alle diese Interpretationen fragen, was Aufklärung eigentlich sei, eigentlich wolle oder was ihre letzte Ursache sei- und sie tendieren so zu metaempirischen Aufklärungskriterien und damit zu einem (im schlechten Sinne) metaphysischen Aufklärungsbegriff, wobei sie Aufklärung wesentlich als Negation einer Norm verstehen, die geschichtlich gültig war oder sogar immer noch gelten sollte. Im Grunde handelt es sich um Varianten des bekannten Versuchs, für die wirklichen oder angeblichen Errungenschaften oder auch Miseren der Moderne einen Helden oder einen Sündenbock zu finden. Die Aufklärung gilt mit gutem Grund als der vorläufige Höhepunkt einer schon lange schwelenden und noch längst nicht ausgetragenen Krise. Aber schon indem die genannten Interpretationen die Aufklärung in geschichtliche Langzeitprozesse ein16
ordnen, die sie nach dem Modell der Aufklärung des 18. Jahrhunderts als Aufklärung im weiteren Sinn verstehen, kommt es zu einer Auflösung und Ausweitung des Aufklärungsbegriffs und dadurch zu einer Entfernung von dem historischen Phänomen Aufklärung. Zugleich kommt es aber auch zu einer Entfernung von den historischen Phänomenen überhaupt, indem immer schon und also voreilig nach dem 'Wesen' oder den 'eigentlichen' Zielen bzw. Motiven der Aufklärung gefragt wird, wobei nicht selten Tatsachen, die u.a. auch durch die Aufklärung verursacht worden sind, als deren Ziel unterstellt werden. Dies führt dann nur allzu leicht zu einer gefährlichen, weil unkontrollierten Verdoppelung der Geschichte; die Hypothesen gewinnen ein Eigenleben im Untergrund, entwickeln sich zu einer Art schlechter metaphysischer Realität, und die 'wirkliche' Geschichte ist nicht die 'wahre' Geschichte. Dabei sind die historischen Phänomene sogar bis zu einem gewissen Grade unstrittig. Es handelt sich in der Aufklärungsdiskussion weitgehend nur darum, welche Phänomene man als prototypisch ansehen und folglich zu Bewertungsmaßstäben machen darf, also um die Rangordnung der Phänomene, d. h. darum, welches die grundlegenden und welches die abhängigen Phänomene sind bzw. auf welche Ursachen man sie zurückführen darf oder muß. Insofern ist die Frage der Charakterisierung und Interpretation der Aufklärung in gewisser Weise zunächst ein methodisches Problem. Selbstverständlich kann man den Begriff Aufklä· rung (ähnlich wie die Begriffe Barock und Romantik) sehr weit und sogar nahezu unhistarisch fassen; aber je mehr dann darunter begriffen werden kann, desto weniger greift der Begriff von den Ausgangsphänomenen. Und selbstverständlich kann man den Begriff auch so eng fassen, daß er nur noch auf ganz wenige Phänomene bzw. Personen zutrifft, auf die er bewußt oder unbewußt zugeschnitten ist. Und man kann dann sogar mit beiden Begriffen gleichzeitig jonglieren, z. B. mit einem weiten für England und Frankreich und einem engen für Deutschland. Ein griffiger und wirklich greifender Aufklärungsbegriff sollte jedoch von den Phänomenen ausgehen, die man landläufig als die Aufklärung des 18. Jahrhunderts versteht, und nicht ohne Not davon abgehen. Und diese Phänomene sollten zunächst (soweit wie möglich) aus sich verstanden werden, d. h. die Fakten sollten nicht von vornherein im Sinne einer vorausgesetzten Deutungsnorm total funktionalisiert und instrumentalisiert werden. Im folgenden soll jedenfalls die Frage nach dem Wesen der Aufklärung (was die Aufklärung in Wahrheit und folglich die wahre Aufklärung war) solange wie eben möglich zurückgestellt werden und daher auch die Frage nach der causa prima der Aufklärung zugunsten der Erörterung einiger causae 17
secundae auf sich beruhen bleiben. Aber natürlich kann der Versuch, das historische Phänomen Aufklärung vor seinen Deutungen zu retten, immer nur in Grenzen gelingen, weil er ebenfalls unvermeidlich mit (wenn auch möglichst methodischen, möglichst nicht metaphysischen) Hypothesen arbeiten muß. Zum Ausgang von den Phänomenen gehört der Ausgang vom Selbstverständnis der Aufklärer, das nicht als quantite negligeable behandelt werden darf. Mit anderen Worten, man muß zunächst einmal von den Personen ausgehen, die sich mehr oder weniger deutlich selbst als Aufklärer verstanden haben, d. h. man muß überhaupt erst einmal dieses Selbstverständnis und die damit unmittelbar verknüpften Phänomene möglichst unverkürzt zur Kenntnis nehmen. Natürlich können sich geschichtliche Wirklichkeit und geschichtliches Selbstbewußtsein niemals decken, also muß man auch die Aufklärer besser zu verstehen suchen, als sie sich selbst verstanden haben. Aber die unvermeidliche Differenz von Wissen und Wirklichkeit ist kein zureichender Grund, den Aufklärern von vornherein ein totales Selbstmißverständnis oder eine allgemeine Heuchelei zu unterstellen, also z. B. alle Aufklärer als verkappte, bestenfalls unbewußt halbherzige Atheisten und Revolutionäre zu sehen. Unter solchen Voraussetzungen, die auf ein unbelehrbares Besserwissen gegen allen Anschein, also auf eine leichtfertige Selbstverabsolutierung des eigenen Standpunktes, hinauslaufen, wäre allen beliebigen Interpretationen Tür und Tor geöffnet. Daher kann es im folgenden zunächst nur darum gehen (im historischen Interesse, aber nicht nur aus historischem Interesse), einen an den bekannten und relativ unstrittigen historischen Phänomenen orientierten Aufklärungsbegriff zu skizzieren - einen sozusagen mittelfesten, d. h. provisorischen und revidierbaren, flexiblen und zugleich praktikablen Aufklärungsbegriff. Dabei wird vorausgesetzt, daß es überhaupt einen guten Sinn hat, von einer Epoche als dem geistigen Gepräge einer Zeit zu sprechen - ohne das Mißliche von Epochenbegriffen und ihre begrenzte Leistungsfähigkeit leugnen zu wollen, aber auch ohne nun das Epochenproblem als geschichts- und erkenntnistheoretisches Problem diskutieren zu können. Ein solcher konkreter und, wenn man so will, noch oberflächlicher Aufklärungsbegriff kann sich auf einige zentrale Phänomene oder vielmehr Tendenzen der Aufklärung beschränken, die ihrerseits natürlich wieder auf motivierende Bedürfnisse verweisen. Dabei ist klar, daß das 18. Jahrhundert nicht nur das Jahrhundert der Aufklärung, sondern z. B. auch das Jahrhundert des Pietismus und des Absolutismus, der Empfindsamkeit und des Geniekults, der Höfe und der Musik usw. war; aber der Wille zur 18
Aufklärung war doch so dominant, daß er diesem Jahrhundert mit Recht seinen Namen gegeben hat. Und dabei ist auch klar, daß die Aufklärung nur ein kleiner Abschnitt im Prozeß der abendländischen Zivilisation war, der wie jede Epoche selbst wieder viele Wurzeln und Wirkungen hat; sie aktualisiert Prozesse, die bis in die Antike zurück und in die Gegenwart hinein reichen und hier oftmals sogar zu kulminieren scheinen. Aber obwohl die Aufklärung nicht zuletzt deshalb so interessant ist, weil sie einerseits in so vielen Dingen noch so traditionell ist, nämlich Ausklang einer über zweitausendjährigen alteuropäischen Geschichte, andererseits in vielen Dingen so radikal neu und damit unmittelbare Vorgeschichte der Gegenwart oder Beginn der Moderne ist, muß man der Versuchung, sie durch Einordnung in Langzeitprozesse zu bestimmen, so lange wie möglich widerstehen und sie erst einmal so weit wie möglich aus sich heraus verstehen. Vielleicht läßt sich so auch das gegenwärtige Auseinanderklaffen von Aufklärungsforschung und Aufklärungsdiskussion ein wenig reduzieren. b) Hoffnung auf Vernunft Was war die Aufklärung, was heißt Aufklärung in historischer Hinsicht? Da die Aufklärung sich ihren Namen selbst gegeben hat, d. h. sich selbst als Aufklärung verstanden und gewollt hat, darf man mit einigem Recht von dieser Selbstdefinition ausgehen (auch wenn sie wie alle solche Bezeichnungen zweifellos unzureichend ist und obwohl jedes Selbstverständnis zweifellos auch ein Selbstmißverständnis ist). Die Aufklärung beginnt zwar nicht mit dem metaphorischen Gebrauch des Wortes Auf klärung, aber es begleitet sie doch von Anfang an und setzt sich auf ihrem Höhepunkt gegen andere Begriffe wie Erhellung, Erleuchtung usw. durch. Aufklärung zielt auf Helligkeit, 'Lichtung' oder Durchleuchtung, und dazu bedarf es des Lichtes. Aber es geht nicht nur um Helligkeit, um irgendetwas sehen (aufdecken, entdecken) zu können, was bisher im Dunkeln (Verborgenen) lag, sondern darüberhinaus um den Versuch, dem bisher nur verschwommen Sichtbaren klare Kontur zu geben; es geht um Klärung als Entwirrung des Verworrenen. Alles soll möglichst klar und deutlich werden, d. h. als solches aufgezeigt, in sich geordnet und von allem anderen unterschieden werden. Sachklärung soll alles in sich und von anderem unterscheiden, Klarsicht oder den richtigen Durchblick vermitteln. Aufklärung zielt auf Wahrheit durch Klarheit. 19
Dazu aber bedarf es vor allem der Klarheit der Begriffe. Begriffsklärung ist die Hauptbedingung aller Sachklärung, wenn nicht sogar schon wesentlich diese selbst. Genauer gesagt geht es also in der Aufklärung (nach ihrem eigenen Selbstverständnis, also auch gemäß ihrer Selbstbestimmung) primär um die Aufklärung des Verstandes oder die Entwicklung der richtigen Vernunft. Der Verstand oder die Vernunft - was hier vorerst ununterschieden bleiben darf - soll zur höchstmöglichen Vollkommenheit gebracht werden oder vielmehr zunächst einmal zu sich selbst kommen, und zwar durch sich selbst. Aufklärung ist clarificatio (Reinigung, Läuterung) des Verstandes oder der Vernunft durch sich selbst. Die als Licht gedeutete Vernunft (Iumen naturale, Iumen rationis) soll Licht in die Dunkelheit der Unkenntnis und vor allem Klarheit in die Verworrenheit der bisherigen Pseudoerkenntnisse bringen. Dazu bedarf es jedoch zuvor der emendatio intellectus, der Ausbesserung des Verstandes oder der Beseitigung seiner Mängel. Aufklärung ist wesentlich rectificatio, nämlich "Berichtigung der Begriffe". Klarer Verstand und richtige Vernunft sollen alles nach Möglichkeit in ein richtiges Licht setzen. Klarer Verstand ist die Hauptbedingung der richtigen Vernunft, und die richtige Vernunft ist das Licht des Verstandes. Obwohl in erkenntnistheoretischer Hinsicht weitgehend empiristisch und in anthropologischer und theologischer Hinsicht zu einem guten Teil voluntaristisch und insofern auch erkenntniskritisch ausgerichtet, bleibt die Aufklärung als Aufklärung des Verstandes betontermaßen an einer normativen Idee von Vernunft ausgerichtet - eine Vernunft, die sie, wie seit altersher üblich, richtige oder gesunde Vernunft nennt und die sie durch Verstandesklarheit vervollkommnen will. Die eine und insofern allgemeine Vernunft gilt ihr als "Stein der Weisen" oder doch als oberster "Probierstein der Wahrheit". Vernunft nimmt mehr denn je sich selbst zur Norm. Aufklärung ist ein Begriff, der eine Bewegung oder vielmehr Tätigkeit bezeichnet, und zwar eine programmatische Aktion und damit auch ein Aktionsprogramm - ein Programm, das auf eine größere Klarheit der Erkenntnis gerichtet ist und das dem Willen der Vernunft zu sich selbst entspringt. Aufklärung ist durch Hoffnung auf Vernunft bestimmt. Die Vernunft ist sozusagen Ziel und Mittel gleichzeitig; sie ist immer noch werdende Vernunft, also auch immer noch im Zustande der Unvernunft und daher als Vernunft in Aktion vor allem im Kampf gegen Unvernunft. Die Vernunft richtet sich gegen alles, was ihr jeweils als U nvernunft erscheint: die Vorurteile, der Aberglaube, aber auch die Affekte. Sie ist kämpferische, ja angriffslustige Vernunft. Insofern ist Aufklärung auf weite Strecken ein militanter und offensiver, polemischer und agita-
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torischer Rationalismus, der auf die Beseitigung der Irrtümer durch Berichtigung der Begriffe zielt. Aufklärung ist primär "ein negativer Grundsatz im Gebrauche seines Erkenntnisvermögens" (Kant), also kritisch, ja sogar destruktiv. Aber diese Kritik bleibt am Ideal einer vernünftigen, d. h. gründlichen und unparteiischen Prüfung orientiert, und sie hofft auf gültige Ergebnisse dieser Kritik, also auf Klarheit, die sich erreichen und konstruktiv entwickeln läßt. Obwohl Aufklärung im Ansatz kritische Aktivität ist, will sie doch keineswegs bloße Opposition sein. An sich ist jede Erkenntnis qua 'Lichtung' auf ein bestehendes Dunkel bezogen und insofern negativ gegen Unkenntnis bzw. Pseudowissen gerichtet, und die Aufklärung hat durch ihre Selbstbezeichnung diesen Aspekt der Erkenntnis, den Kampf gegen Unwissenheit und Pseudoerkenntnis (Vorurteile, Aberglaube), nur betont. Aber natürlich geht es ihr letztlich, als Aufhebung des Dunkels der Unwissenheit und Beseitigung der Pseudoerkenntnis, um die wirkliche Erkenntnis von Sachverhalten oder die Enthüllung der Wahrheit. Zwar ist, was am Anfang und Ende der Epoche besonders deutlich wird, Aufklärung eine Kampfparole. Dennoch will Aufklärung nicht nur Aufhebung und Entwirrung von Mißverständnissen sein (und natürlich erst recht nicht Kritik als totale Destruktion, die dann das Wahre von irgendwoher erhofft), sondern sie will auch zur Sache selbst kommen. Sie ist Kritik als Korrektur, aber als Bereinigung oder Berichtigung der Begriffe (um nur diese Standardformel zu zitieren) lebt sie doch von der Hoffnung auf richtige (berichtigte, richtig gestellte) Begriffe. Sie versteht sich daher auch nicht als endlose Interpretation im Sinne moderner Hermeneutiken. Die emendatio intellectus, die Ausbesserung der Mängel des Verstandes, lebt von der Hoffnung auf Wahrheit - und nicht selten haben die Aufklärer geglaubt, nach der 'negativen' Aufklärung des Verstandes nun auch die rein 'positive' Erklärung der Begriffe (explicatio, expositio) leisten zu können. Das neuartige Selbstbewußtsein der Vernunft hat zweifellos eine seiner wichtigsten Wurzeln in der modernen Wissenschaft und in der diese begleitenden neuen Philosophie des 17. Jahrhunderts. In dem relativ theologiefernen Raum der Naturerkenntnis hatte die Vernunft bereits eine gewisse Autonomie gewonnen, die zu einer Emanzipation der Philosophie von der Theologie und der sie sichernden Metaphysik sowie zu einer Emanzipation der Wissenschaft von der Philosophie tendierte. Diese gewissermaßen noch interne, auf das theoretische Wissen begrenzte Autonomie beginnt sich jedoch - durch die geschichtlichen Verhältnisse provoziert - schon seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zu 21
einer praktischen Autonomie weiterzuentwickeln. Die Vernunft tritt sozusagen aus sich heraus und versucht sich mehr als zuvor gegen die bisherigen Formen des Glaubens und der Gesellschaft zur Geltung zu bringen. Sie wird in einem bisher ungeahnten Maße 'praktisch'. Die Idee einer nicht nur technisch oder medizinisch effektiven Wissenschaft, sondern einer umfassenden und wohl begründeten, insbesondere 'moralischen' Rationalität beginnt erste Konturen zu gewinnen, und damit auch die Idee einer (rein) rational geordneten Gesellschaft und eines (bloß) vernünftigen Glaubens. Im Unterschied zu der vorrangig an exakter Wissenschaft und technischer Praxis interessierten Philosophie der frühen Neuzeit (Bacon, Descartes, Leibniz) überwiegt nun fast überall das moralische Engagement, und es kommt sogar vereinzelt schon zu ersten Ansätzen einer Wissenschafts- und T echnikkritik, auch wenn die grundsätzliche Orientierung an der 'Wissenschaft' davon unberührt bleibt. Die Aufklärung setzt die moderne Wissenschaft als Faktum voraus, und sie engagiert sich für Wissenschaft als unverzichtbaren Erkenntnisgewinn - sie orientiert sich an ihr als vorbildliches rationales Verfahren. Aber sie selber ist weder Wissensansammlung, noch methodische Forschung, noch überhaupt wertfreie oder rein theoretische Erkenntnis, im allgemeinen also nicht einmal Wissenschaft im weitesten Sinn des Wortes, sondern eher dessen philosophische Klärung und praktische Anwendung zum Zwecke eines wahrhaften und sich selber klaren Lebens. Aufklärung ist keine Wissenschaft, sondern allgemeine Selbstorientierung durch Vernunft (und dabei natürlich u.a. auch Aufklärung über Wissenschaft). Neben der Wissenschaft ist vor allem die nun mehr und mehr als Diskrepanz empfundene Differenz von Vernunft und Glauben eine weitere wichtige Wurzel der Aufklärung. Die Vernunft beginnt wieder einmal in Opposition zum Glauben zu treten, die alte Entzweiung zwischen Glaube und Vernunft bekommt schärfere Konturen und zwar durch ein neues Selbstbewußtsein der Vernunft. Durch diese neuartige Akzentuierung der Vernunft bleibt das Zeitalter der Vernunft von dem vorhergehenden Zeitalter des Glaubens oder der Glaubenskämpfe deutlich unterschieden. An die Stelle der Glaubenskriege soll eine vernünftige Toleranz treten, der Glaube selber soll vernünftig werden. Ohne das sogenannte Überrationale grundsätzlich und von Anfang an zu leugnen, beginnt die Aufklärung es mehr und mehr auszuklammern. Die Selbstbehauptung der Vernunft führt zu einer stärkeren Verselbständigung des Ich und damit zu einer Enttheologisierung des Denkens, nämlich zu einer Infragestellung der selbstverständlichen christlichen Sehweise; das bedeutet zunächst eine gewisse Ignorierung der Offenbarungstheologie und später
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auch eine gewisse Reduzierung der natürlichen Theologie. Die Aufklärung ist von Anfang an Kritik an bestimmten Formen der Religion, die sie als Aberglauben, Enthusiasmus, Fanatismus usw. bezeichnet, später dann auch gelegentlich Kritik an aller Religion überhaupt. Aufklärung ist also auch Demystifikation und Desakralisation, nämlich Entheiligung des Scheinheiligen um des wahren Heiligenwillen (was immer das jeweils sei). Kurz, Aufklärung ist immer auch Ernüchterung und Respektlosigkeit. Aber sie ist nicht von vornherein religionsfeindlich oder atheistisch; sie ist auch nicht nur religionskritisch, obwohl dies wohlverstanden vielleicht ihr wichtigster Ausgangspunkt war, sondern im allgmeinen auch auf ihre Weise ('vernünftig') religiös, ja sogar 'vernünftig' christlich. Und selbstverständlich ist auch die betont kritische religiöse Aufklärung oder Aufklärung über Religion noch von der Religion bestimmt, von der sie ausgeht, um sie zu kritisieren. Die Kehrseite der Abwendung von den endlosen Disputen über das Jenseitige und Übernatürliche ist die Hinwendung zum Natürlichen und Diesseitigen - eine Selbstbesinnung des Menschen auf sich und seine irdische Situation. Insofern ist die Enttheologisierung des Denkens der Ursprung der modernen Welt- und Menschenkenntnis, insbesondere der modernen Anthropologie oder vielmehr des ihr tendenziell zugrundeliegenden Anthropologismus oder Anthropozentrismus. Der Mensch wird zum eigentlichen Studienobjekt des Menschen (Pope), die Frage nach dem Wesen des Menschen zur zentralen Frage der Philosophie (Kant). Indem der Mensch die Erkenntnis Gottes mehr und mehr dahingestellt sein läßt, versucht er zunächst einmal sich selbst zu erkennen, und versteht nun Religion im Ausgang von sich selber als anthropologische Funktion. Die aufklärerische Vernunft ist daher, obwohl sie sich noch wie selbstverständlich an dem Ideal einer göttlichen Vernunft orientiert, betont menschliche Vernunft. Die bewußte Selbstbehauptung der menschlichen Vernunft, die sich von den ihrerseits schon durch Menschen vermittelten Ansprüchen der göttlichen Offenbarung durch Kompetenzdifferenzierung unabhängig zu machen versucht, bedeutet in der Tat, auch wenn ihre Protagonisten das vielleicht nicht so gesehen haben, nicht nur eine Selbstbefreiung der Vernunft aus ihrer Erniedrigung bzw. Selbsterniedrigung, sondern als Selbstbehauptung gegen alles, was sich als Gottes Wort gibt oder ausgegeben wird, auch eine gewisse Verselbständigung durch Selbstermächtigung der Vernunft. Aber die Verselbständigung der Vernunft, ihre Emanzipation aus ihrer Bindung an Offenbarungstheologie und ihre Selbstbehauptung als menschliche Vernunft, ist zugleich die Befreiung der individuellen Ver23
nunft zu sich selbst. Die Verselbständigung des Menschen hat seine Vereinzelung zur unmittelbaren Folge. Die Vernunft erweist sich daher in praxi sofort als subjektive Vernunft - auch wenn sie sich nach wie vor noch wie selbstverständlich an dem Ideal einer allgemeinen, objektiven oder sogar absoluten Vernunft orientiert und ihren Anspruch auf Allgemeinheit und Objektivität vorerst noch nicht aufgibt, ja diesen gegen die zerstrittenen Glaubensrichtungen erst einmal mit Nachdruck geltend macht. Die sogenannte Freisetzung des Individuums geschieht unter der Bedingung der Bindung an die Vernunft; Autonomie ist auch Gehorsam gegenüber der allgemeinen Vernunft in mir. Hier liegt aber zugleich (wie natürlich auch in den Erkenntnisansprüchen der modernen Wissenschaft) eine Wurzel der Selbstanfechtung und Selbstproblematisierung der Vernunft, nämlich der Frage nach den Möglichkeiten, den Grenzen und der Reichweite der Erkenntnis. Was ist überhaupt Vernunft, und was kann sie überhaupt leisten: sei es als Erkenntnisinstrument (theoretische Vernunft), sei es als Erkenntnisinstanz (praktische Vernunft)? Wirkliche Vernunft im Sinne der Aufklärung ist nicht nur richtige, sondern auch lebendige Vernunft, lebendige Erkenntnis nach Analogie des lebendigen Glaubens. Deshalb ist sie auch nicht auf rein theoretische Erkenntnisse ausgerichtet. Sie soll authentische Vernunft sein, d. h. ursprüngliches und wirklich vollzogenes Denken (Selbstdenken); vor allem aber soll sie effektive, d. h. auf Handlungen ausgerichtete moralisch-praktische Vernunft sein. Diese praktische Vernunft wird im Willen handlungswirksam, nämlich im guten oder richtigen Willen, der selbst noch erzeugt oder geweckt werden muß. Aufklärung meint zwar primär die Ausbesserung des Verstandes, darüber hinaus zielt sie jedoch auf eine Ausbesserung des Willens; die emendatio intellectus soll der emendatio voluntatis dienen, die Reinigung des Verstandes der Läuterung des Willens. Letztlich geht es um die Entwicklung des ganzen Menschen durch Entwicklung seiner Vernunft. So wie der Verstand soll auch das Herz erleuchtet werden, der Mensch soll durch die Wahrheit gut und glücklich werden. Das 18. Jahrhundert ist daher auch ein Jahrhundert der praktischen Philosophie. An die Stelle der religiösen Erbauung tritt die philosophische Bildung als praktische Unterweisung. Verstand und Tugend, Tugend und Glück werden nun zu evokativen Parolen, weil es um Erkenntnis als praktisch relevante Erkenntnis geht. Aufklärung ist auf weite Strecken ein betont praktischer Rationalismus mit z. T. ausdrücklich antispekulativen (antimetaphysischen, weil antitheologischen) Tendenzen. Was keinen klar erkennbaren Bezug zu den neuen Glückshoffnungen hat, fällt leicht als bloß nutzlose scholastische Subtilität der
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Verachtung anheim. Allerdings geht es nicht nur um den eigenen Nutzen, sondern aus moralischen Motiven um die W obifahrt des ganzen menschlichen Geschlechts. Die als Aktionsprogramm auf das Leben angewandte Vernunft fordert allgemeines Glück durch allgemeine Tugend (was schnell zu einem penetranten Utilitarismus und Moralismus führt), und der Veränderungs- und Verbesserungswille sucht sich ein Feld erst in der Pädagogik und dann in der Politik. Die Menschen müssen besser erzogen ("unterwiesen", "gebildet"), und die Gesellschaft muß reformiert werden. Die Aufklärung wollte nicht nur Wissenschaftsfortschritt sondern auch moralischen Fortschritt, nicht nur individuellen sondern auch gesellschaftlichen Fortschritt. Zur Hoffnung auf Vernunft gehört auch das Engagement für Vernunft. Die starken pädagogischen, später auch stark politischen Tendenzen bekunden, daß sich die Aufklärung von Anfang an nicht nur als Selbstaufklärung, sondern vor allem als Aufklärung der anderen (Fremdaufklärung) verstand; es ging ihr um das Wohl der gesamten Menschheit, die utilitas generis humani. Da sich die Aufklärung auf die allgemeine Menschenvernunft bezog, mußte sie tendenziell universelle Aufklärung wollen, d. h. Aufklärung von allen über alles. Der Aufklärer denkt als einzelner für alle und an alle. Zwar taucht derangesichtsder bestehenden Verhältnisse schon in praktischer Hinsicht völlig utopische Gedanke einer allgemeinen Aufklärung zuerst nur sporadisch auf- der sogenannte "gemeine Mann" bleibt noch weitgehend außerhalb der Betrachtung. Aber mit der allmählichen Entwicklung des Bürgertums im 18. Jahrhundert wird aus der Idee einer Bekämpfung der errores populares mehr und mehr die Idee einer Volksaufklärung, und diese damit zugleich zum Problem. Nicht wenige Aufklärer standen der Erwartung einer allgemeinen Tugend durch völlige Aufklärung skeptisch gegenüber; sie sahen die Unmöglichkeit, jedem jederzeit alles zu erklären, und sie glaubten auch nicht an die Verwirklichung eines Tugendparadieses. Daher plädierten sie, unter Berufung auf die pädagogische Verantwortung des Besserwissenden, im allgemeinen für eine gemäßigte oder vielmehr maßvolle Aufklärung, eine Aufklärung mit Augenmaß für das Mögliche, d. h. für die durch die jeweilige Person und Sache gesetzten Grenzen. Hinzu kam, daß die Idee einer Volksaufklärung unvermeidlich auch politische Implikationen hatte. Die Idee eines aufgeklärten Volkes vertrug sich letztlich nicht mit der Idee eines aufgeklärten Absolutismus, den man ursprünglich im Gegenzug zur Kirche idealisiert, nämlich als Reformabsolutismus intendiert hatte. Der Versuch, Klarheit in die Köpfe zu bringen, mußte letztlich darauf hinauslaufen, die Welt auf den Kopf zu stellen.
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Die Allianz von Aufklärung und Absolutismus begann zu zerbrechen, als das gemeinsame Ideal eines objektiven, d. h. objektiv erkennbaren und erreichbaren Glücks verloren ging, als das Glück zur bloß subjektiven Erfahrung wurde und dann vor allem in der Freiheit gesucht wurde. Spätestens in der politischen Eskalation der Aufklärung am Ende des 18. Jahrhunderts zeigt sich, daß der Gedanke der Freiheit in der Aufklärung immer schon angelegt war. Aufklärung ist immer auch Befreiung, wenn auch anfangs nur Selbstbefreiung, und zwar zunächst nur geistige Selbstbefreiung: Denken, das sich zu seiner eigenen Freiheit befreit. Es geht also nicht nur um Wahrheit durch Klarheit, sondern auch um Emanzipation durch Authentizität. Oder umgekehrt: So wie es keine Klarheit ohne Wahrheit gibt, so gibt es kein Selbstdenken ohne Selbstbefreiung. Der Kampf der Vernunft um ihre Selbständigkeit impliziert ein Freiheitsbewußtsein und einen Freiheitswillen - Selbstbewußtsein ist eo ipso Freiheitsbewußtsein. Der Kampf der Aufklärung um die Restitution der (selbständigen, autonomen) Vernunft war ein Kampf der Vernunft für ihre eigene Freiheit und daher für die Möglichkeit der Realisierung dieser Freiheit - es ging immer auch um die Bedingungen einer vernünftigen Freiheit. Auch die Unterscheidung von Recht und Moral, die im 18. Jahrhundert durchgeführt wurde, war ein Ausdruck dieses neuen subjektiven Freiheitsbedürfnisses; der Staat begann sich (zumindest in der Idee) auf die Grenzen eines liberalen Rechtsstaates zu reduzieren. Das freigewordene Individuum aber entwickelte unvermeidlich neue Gemeinschaftsbedürfnisse und auf dieser Basis neue Gemeinschaftsformen und Gesellschaftsideale. Die innere Aushöhlung der Gemeinde vor Gott, die ihre Gemeinschaft oder Einheit im Gebet fand, löste durch die Verselbständigung und Vereinzelung der Vernunft neue Kommunikationsbedürfnisse aus und erneuerte wieder einmal das alte Ideal der Gemeinschaft der Freien und Gleichen, nun aber als Reich der Vernunft. Neben die Hoffnung auf die civitas Dei oder auch an deren Stelle trat daher die Utopie eines wahren Staates als Ziel einer wahren Politik aufgrund allgemeiner W ahrheitserkenntnis, an die Stelle des Ideals des Philosophenkönigs trat tendenziell das Ideal des philosophischen Volks. Warum aber haben fast alle diese Bewegungen im Namen der Philosophie stattgefunden? Warum konnte die Philosophie wie nie zuvor und nie mehr danach zur führenden Macht eines Zeitalters werden, so daß dieses sich selbst das philosophische Zeitalter nennen konnte? Offensichtlich konnte die Philosophie die Theologie als 'Leitwissenschaft' nur deshalb ablösen, weil diese in ihren vorhandenen Formen nicht mehr allgemein zustimmungsfähig war. Aber die Philosophie konnte auch nur
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deshalb einspringen, weil sie von sich aus Hilfe versprechen konnte, d. h. weil sie selbst noch als konsensstiftendes oder allgemeingültiges Wissen verstanden wurde, und zwar sowohl im alten weiten als auch im engen modernen Sinn von Wissenschaft. Einerseits wurde Philosophie noch als Inbegriff alles menschlichen Wissens aufgefaßt, nämlich als eine lehrbare und lernbare, sich auf etwas verstehende Sachkunde (episteme bzw. doctrina). Andererseits profitierte die Philosophie auch vom Aufkommen der exakten Wissenschaften (Naturwissenschaften), mit denen sie zwar schon in Konkurrenz stand, die sie aber noch zu beherrschen und zu inkorporieren versuchte. Philosophie war schon auf strenges wissenschaftliches Wissen aus, aber sie war auch noch der mögliche Hort der allgemeinen Vernunft, von der man Lebenshilfe erwarten konnte, nämlich richtige Theorie für richtige Praxis. Philosophie versprach, universale Gelehrtheit und allgemeingültige Wissenschaft, metaphysische Weisheit und praktische Lebensklugheit in einem zu sein. Vor allem aber war sie weltbezogenes Wissen, "Weltweisheit", d. h. profanes, prinzipielles und zugleich praktisches Wissen über die Welt für Leute von Welt. Zugleich entwickelte sich durch eben diese Beanspruchung der Philosophie für das Leben (mit mehr oder weniger Distanz von der sogenannten "Schule") ein neuer 'lebensphilosophischer' Philosophiebegriff, der es im Endeffekt jedem Literaten und Weltverbesserer möglich machte, sich als Philosophen zu verstehen. Am Ende konnte Philosophie zu einem pädagogischen Journalismus degenerieren. Selbstverständlich haben alle diese hier nur skizzierten Tendenzen ihre Vorgeschichte, die z. T. bis in die frühe Neuzeit, das Mittelalter oder sogar bis in die Antike zurückverfolgt werden kann; und vor allem haben sie ihre unmittelbare Vorgeschichte im 17. Jahrhundert, in dem die Vernunft ihre moderne Autonomie gewinnt. Dennoch läßt sich die Aufklärung als historische Epoche hinreichend deutlich von der Neuzeit im allgemeinen unterscheiden, da sie, selbst wenn man sie als bloße BündeJung alter Motive betrachtet, offensichtlich doch eine neue Kulmination oder vielmehr brisante Mischung bereits vorhandener Ideen darstellt. Auch das neue Denken der Aufklärung beginnt nicht aus dem Nichts, sondern durch quantitative und qualitative U makzentuierungen (Hervorhebungen und W eglassungen) bis zum Umschlag in eine neue Konzentration oder Kristallisation von Ideen, Tendenzen und Motiven mit einem neuen Schwerpunkt. Irgendwann führt der Stau unbefriedigter Bedürfnisse zum Bruch mit dem vorhandenen Angebot von Antworten, Verheißungen und Vertröstungen - und so wächst allem Anschein nach auch in Europagegen Ende des 17. Jahrhunderts das Bedürfnis nach einer geisti27
gen Erneuerung, die dann im jeweiligen Rahmen der geschichtlichen Möglichkeiten zu einem bewußten und gewollten geistigen Aufbruch oder Umbruch führen konnte. Das neue Licht der Wissenschaften erweckt weitergehende Erwartungen, es entsteht eine neue und allgemeine Hoffnung auf Vernunft. Insofern ist die Aufklärung Ausdruck einer neuen Besinnung des menschlichen Geistes auf sich selber - einer Selbstbesinnung der Vernunft, die auf eine allgemeine Lebensreform zielt. Zumindest in ihren Anfängen ist die Aufklärung daher Aufbruch in eine neue Zukunft oder Befreiung von überlebten Strukturen und überholten Denkzwängen. Politische Ereignisse wie die Aufhebung des Edikts von Nantes in Frankreich {1685) oder die Glorious Revolution in England {1688) haben dabei einen gewissen Symbolwert, ja sogar den Charakter von Initialzündungen gehabt. Sie bezeichnen eine Epochenschwelle, wenn auch in sehr verschiedener Weise. Die englische Aufklärung begann mit einem Sieg: mit der Niederlage des Absolutismus und der Etablierung neuer religiöser und politischer Freiheiten; die französische begann mit einer Katastrophe: mit der Liquidierung des Protestantismus und der Etablierung der absolutistischen Einheit von Staat und Kirche. Und diese verschiedenen Ausgangspunkte blieben für die gesamte englische und französische Aufklärung bestimmend. Die englische geht aus einem liberalen Protestantismus hervor, die französische muß gegen einen intoleranten Katholizismus kämpfen. Und wieder anders stellt sich die Frage nach Art und Anfang der Aufklärung in Deutschland. Gibt es also einen deutschen Sonderweg in der Aufklärung? Oder gibt es vielmehr, je nach Standpunkt, drei und mehr 'Sonderwege'?
c) Wille zur Vernunft Die Hoffnung auf Vernunft, die die Aufklärung bestimmt, bliebe, wenn sie nicht praktisch würde, eine leere Sehnsucht - als engagierte Hoffnung ist sie daher Wille zur Vernunft. Vernunft aber, die sich als praktische Vernunft verwirklichen will, kann dies nicht ohne Außenbezug, also nicht ohne Rücksicht auf die geschichtliche Wirklichkeit, und diese war in England, Frankreich und Deutschland sehr unterschiedlich. In England, wo einerseits das neue Denken mit einer neuen Politik harmonieren kann und wo andererseits Tradition bis heute ein großes Gut ist, können die Aufklärer politisch pragmatisch denken und handeln; und sie können sich zugleich auf religiösem Gebiet, nicht ohne Kämpfe, dem
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Christentum entfremden (bis hin zur religiösen Indifferenz), so daß die Aufklärung dann beinahe bruchlos in den Positivismus des 19. Jahrhunderts übergeht. In Frankreich, wo Kirche und Staat einen einheitlichen und nahezu unangreifbaren, konservativen Machtblock bilden, müssen die Aufklärungsideen, weil ohne Anknüpfungspunkt in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, abstrakt bleiben und folglich radikal werden; in concreto waren die französischen Aufklärer vielfach auf Taktik, Anonymität oder Agitation vom Ausland her angewiesen, und die Aufklärung mündete nolens volens in eine Revolution. In Deutschland hingegen, wo es wegen der politischen und religiösen Zerrissenheit des Landes ohnehin keine großen Änderungschancen gab, mußte sich die Aufklärung, wenn sie überhaupt etwas verändern wollte, einerseits ganz auf das Erreichbare als das praktisch Vernünftige beschränken, andererseits konnte sie, da sie ohnehin wesentlich aus 'Lehrern' bestand, ihre Ideen auch rein theoretisch, bis hin zur Lehrbarkeit, durchdenken und fortentwickeln und sich so systematisch selbst begründen. Dadurch changiert die deutsche Aufklärung, negativ gesprochen, als eine 'akademische' Aufklärung zwischen Weltferne und Anpassung; positiv gesprochen, steuert sie jedoch einen im Endeffekt erfolgreichen Mittelweg der ebenso prinzipiell orientierten wie praktisch umsichtigen Reform. Man philosophiert "gründlich"- und auch deshalb "vorsichtig", "behutsam" oder "bescheiden". Insofern offenbart sich im 'Reformismus' der deutschen Aufklärung der konkrete Wille zur Vernunft geradezu prototypisch. Wenn jedoch heute von Aufklärung gesprochen wird, denkt man anscheinend immer noch vor allem an England und Frankreich und erst dann eventuell auch an Deutschland. Die Aufklärung scheint für manche geradezu eine englisch-französische Bewegung gewesen zu sein, die erst später auch nach Deutschland übergriff und dort, wie Freunde und Feinde der Aufklärung gelegentlich unisono suggeriert haben, aus irgendwelchen Gründen mehr schlecht als recht nachgeahmt wurde. Sie war ein später Import in ein unterentwickeltes Land, wobei sie, wie nicht wenige meinen, zu einer sogenannten gemäßigten Aufklärung depotenziert und vor allem in politischer Hinsicht (angeblich mangels Mannesmut vor Fürstenthronen) verwässert wurde. England und Frankreich glänzen über das 18. Jahrhundert hinaus durch große Namen. Deutschland hingegen scheint keine eigenständige Aufklärung zu besitzen. Allerdings hat eine solche Betrachtungsweise ihre eigenen Voraussetzungen und Bewertungsmaßstäbe, insofern sie nämlich unter Ignorierung anderer Phänomene gewisse englische und französische Entwicklungen (Deismus, Absolutismuskritik) idealisiert und zur Norm erhebt,
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um dann im Vergleich damit in Deutschland nur Rückständigkeiten und Sonderentwicklungen festzustellen. In der Tat gehört es zur Vorgeschichte der Aufklärung, daß England und Frankreich sich seit dem Mittelalter relativ unabhängig vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation entwickeln und durch politische Konsolidierung und zentrale Machtansammlung die Voraussetzungen für eine Kulturdominanz schon lange vor der Aufklärung schaffen konnten; dadurch wurden auch wichtige geistige Grundlagen der Aufklärung außerhalb des Deutschen Reiches bzw. Deutschlands gelegt. Vor allem aber führte die Reformation der Religion diese Länder nicht in ein unüberwindbares politisches Chaos. Zwar gehörten auch in England und Frankreich große konfessionelle Auseinandersetzungen zur unmittelbaren Vorgeschichte der Aufklärung, aber sie verwüsteten nicht das Land wie der Dreißigjährige Krieg, und sie wurden zu einer Lösung gebracht, die die nationale Identität so oder so, politisch wie religiös, erhielt und bestärkte. So ist es kein Wunder, daß das von permanenten Identitätskrisen geschüttelte Deutschland als 'verspätete Nation' für alles Ausländische (bis heute) mehr aufgeschlossen gewesen ist als etwa England und Frankreich füreinander oder gar für Deutschland. Mangelnde nationale Identität und folglich mangelndes nationales Selbstbewußtsein machen für wirkliche oder vermutliche Errungenschaften anderer Nationen offen und führen in Anfällen von Selbsthaß immer wieder zu Phasen eines gewissen Nationalmasochismus meist frankophiler oder anglophiler Spielart (Gallomanie, Anglomanie)- und werden dann nicht selten durch Anfälle nationaler Selbstüberschätzung durch einen Nationalismus aus Ressentiment konterkariert und kompensiert. Nun liegen, trotzaller unterschiedlichen Entwicklungen, die Anfänge der Aufklärung in England, Frankreich und Deutschland zeitlich so nahe nebeneinander, daß von einer deutschen Aufklärung als Folge westlicher Aufklärung in irgendeinem konkreten Sinn nicht die Rede sein kann. Geht man, wie wohl berechtigt, von Christian Thomasius' sogenannter ersten deutschen Vorlesung (Discours von der Nachahmung der Franzosen 1687) als Anfang der deutschen Aufklärung aus, so läßt sich leicht zeigen, daß dessen Grundgedanken schon aus chronologischen Gründen weder aus der englischen noch der französischen Frühaufklärung stammen können. Falls man also nicht mit einem doppelten Aufklärungsbegriff arbeiten will, nämlich mit einem weiten für England bzw. Frankreich (Aufklärung seit Bacon oder Descartes) und einem engen für Deutschland (Aufklärung seit Wolff oder Lessing), läßt sich die deutsche Aufklärung in ihrer Eigenart und Eigenständigkeit weitgehend aus sich selbst verste30
hen - zwar auch (in ihren Anfängen) als ein kulturpatriotischer Aufbruch, vor allem aber als ein geistiger (nicht-geistlicher) Reformversuch. Der absolut konstitutive historische Einschnitt, das sozusagen normative Datum für die Frühaufklärung, liegt in Deutschland (d. h. was man anachronistischerweise so nennen darf) sogar schon früher als die Aufhebung des Edikts von Nantes oder die Glorious Revolution - es ist der Westfälische Frieden als Resultat des Dreißigjährigen Krieges. Hintergrund der deutschen Aufklärung ist die Tatsache der konfessionellen und territorialen Zersplitterung als Ergebnis des Scheiteros aller durchgreifenden religiösen und politischen Reformversuche und damit die U nmöglichkeit, dieses Problem so oder so mit Gewalt zu beseitigen. Rebus sie stantibus war es weder durch die Kirchen noch durch die Fürsten oder den Kaiser noch durch das Volk selber, d. h. die Bürger, zu lösen. Der Westfälische Frieden, ein erster Sieg der Laienvernunft, hatte durch 'Verzicht' auf politische und religiöse Einheit eine gewisse Glaubensfreiheit etabliert, im übrigen aber nur die vorhandenen Verhältnisse oder vielmehr Probleme (unter Reduktion der Gewalt) festgeschrieben. Deutschland war und blieb (bis heute) ein politisches und weltanschauliches Krisengebiet, und der Anstoß zur Aufklärung war kein neues politisches oder religiöses, sondern ein provinzielles akademisches Ereignis, nämlich Thomasius' programmatischer Übergang zur deutschen Sprache. Unter den Bedingungen des Restreiches konnte die Aufklärung im Lande der Universitäten fast nur von einem Hochschullehrer ausgehen, ja fast nur als Hochschulreform beginnen. Unter den gegebenen Umständen war eine grundsätzliche Erneuerung oder wenigstens eine allmähliche Besserung nur durch eine gewisse Enttheologisierung, Entkonfessionalisierung und Entklerikalisierung möglich. Insofern bedurfte es in der Tat einer gewissen geistigen Umkehr: entweder eines weiteren Versuchs der Wiederherstellung des reinen Christentums oder des neuen Versuchs einer Wiederherstellung der Vernunft. Faktisch geschah beides zugleich: durch Rückzug der Religion in die Innerlichkeit und durch Abkehr des Denkens von den Fragen der Offenbarungsreligion. Während der Pietismus auf die Verhärtung der Religion zur Orthodoxie mit Subjektivierung reagierte, setzte die Aufklärung unter der Voraussetzung des Einklangs von Glauben und Vernunft auf die Objektivität und Eigenmacht der Vernunft. Vernunft aber konnte nur dann zu einem Hoffnungsträger avancieren, wenn sie sich mit aller Vorsicht von der Bindung an die Theologie löste. Sie mußte sich erst einmal wieder verselbständigen und in ein freieres Verhältnis zum institutionalisierten und politisierten Glauben treten. Faktisch nahm diese Selbst31
befreiung des Denkens ihren Ausgang vom Protestantismus, weil sie in dieser Form zunächst nur dort möglich war, und zwar von einer vernunftoffenen Selbstinterpretation des Luthertums - wobei das Motiv einer Fortführung der steckengebliebenen Reformation (auf neuer Ebene) eine nicht geringe Rolle gespielt haben dürfte. Zwar entfernte sich die Aufklärung von Anfang an vom ursprünglichen Luthertum und nahm letztlich sogar entgegengesetzte Positionen ein, doch wurde der Protestantismus durch die Aufklärung in verweltlichter Form zur geistig führenden Macht in Deutschland. Natürlich spielten die Fragen der Religiontrotz der neuen Diesseitigkeit auch im 18. Jahrhundert noch eine entscheidende Rolle. Deutschland blieb in allen Gesellschaftsschichten ein durch und durch religiöses Land und daher auch immer noch ein Land der Religionsstreitereien. Religion bleibt nicht nur in der Form der Orthodoxie und des Pietismus präsent, sie bestimmt auch das Denken der Aufklärung mit, insofern diese fragt, wie eine vernünftige Religion möglich sei. Zwar halten die Aufklärer sich in religiösen Fragen zunächst erkennbar zurück (vor allem Christian Thomasius), aber schon in der zweiten Generation kommt es (bei Christian W olff) zum ersten großen Versuch einer umfassenden philosophischen Theologie. Außerdem bleibt die religiöse Frage bezeichnenderweise noch in zwei weiteren Formen präsent, nämlich als Theodizeeproblem und inmitten der Anthropologie als Frage nach der Bestimmung des Menschen - vermutlich nicht zuletzt deshalb, weil einerseits Gott mehr denn je zu einem rationalen Prinzip, andererseits der Sinn der Welt im allgemeinen und des menschlichen Lebens im besonderen fraglicher geworden war. Bis zur Mitte des Jahrhunderts ist das Christentum noch selbstverständliche Ausgangsbasis des Denkens. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird dann die Offenbarungsreligion allgemeiner zu einem Problem, und es kommt zu einer freieren Religionsdiskussion. Aufs Ganze gesehen wird man sagen können, daß die Religion sich in der Aufklärung verändert und nicht mehr die führende geistige Macht ist. An ihre Stelle tritt die Moral als motivierende Kraft oder, wenn man so will, als Ersatzreligion, und zwar eine zunächst noch religiös begründete, zuletzt aber eine die Religion selbst begründende Moral aus bloßer Vernunft. Sie ist noch keine Privatmoral, sondern eine Moral, die darauf aus ist, aus evidenten Prinzipien das Recht und damit letztlich auch den Staat zu rechtfertigen oder auch seine Erscheinungsformen in Frage zu stellen. Der Impetus, praktische Vernunft systematisch zu entfalten, führt so zu einem ungeahnten Aufschwung des Naturrechts. Deutschland wird von 32
Pufendorf und Thomasius über Wolff bis Kant und Hegel das Land der Naturrechtslehre. Aus dem zunächst wenig beachteten neuen Völkerrecht (Grotius), das wesentlich ein Recht des Krieges und des Friedens war, und aus dem zunächst ebenso ignorierten absoluten Staatsrecht (Hobbes) wird eine universale moralische Pflichtenlehre, die den Staat gegen die Kirche unterstützt - um dann die Rechte des Individuums beim Staat einzuklagen. Aus der Moral als Religion wird ein Kritikpotential gegenüber der Politik. Erst nach der Mitte des Jahrhunderts wird dann auch die Kunst allmählich zu einer Art Ersatzreligion - bis hin zum Deutschen Idealismus, der dann auf weite Strecken eine neue und freiere philosophische Theologie ist. Die moderne Wissenschaft scheint in diesem Prozeß zunächst eine relativ geringe Rolle zu spielen, sie scheint nicht zu den hauseigenen Auslösungsfaktoren der Aufklärung in Deutschland zu gehören. Zwar hatte es auf dem Boden des zugrundegehenden Reiches die vielleicht wichtigsten Anstöße zur Auflösung des mittelalterlichen und zur Formierung des neuzeitlichen Weltbildes gegeben, nämlich die astronomischen Entdeckungen von Kopernikus und Kepler; und auch die Erfindung des Pulvers und des Buchdrucks waren von hier als technische Neuerungen mit weitreichenden Folgen ausgegangen. Aber weder gab es im Deutschen Reich Männer wie Bacon oder Descartes, die der aufkommenden Wissenschaft durch Propaganda, Methodenlehre oder Systematisierung ein allgemeineres Interesse gesichert hätten, noch war die wissenschaftspolitische Landschaft der modernen Wissenschaft günstig, da sie der zerrissenen politischen und religiösen Landschaft entsprach. Große nationale Akademien waren politisch und religiös nicht möglich, und die Universitäten waren allzusehr durch die Interessen der Landesfürsten und Landeskirchen bestimmt. Auch Leibniz, der auf den verschiedensten Ebenen gegen diese Verhältnisse gekämpft hat, konnte an dieser Situation im Prinzip nichts ändern. So kommt es, nachdem sich die Aufklärung mit Christian Thomasius vor allem in der Form des Naturrechts eine Bahn gebrochen hat, erst mit Christian W olff zu einem allgemeineren Interesse auch für die moderne mathematische Naturwissenschaft, allerdings noch aus metaphysischer Perspektive, nämlich aus der Perspektive eines alten und weiten Wissenschaftsbegriffs und zugleich aus der modernen Perspektive eines ersten umfassenden Systementwurfs. Doch hat sich diese universalistische und fundamentalistische Tendenz, die die alte eklektische Richtung ablöste, in der deutschen Aufklärung letztlich nicht durchsetzen können; sie wurde ihrerseits durch eine neue pragmatisch-eklektische abgelöst. Der kritische und zugleich reformatorische Impetus blieb auch 33
gegen die totale Verwissenschaftlichung der Aufklärung skeptisch. Aufklärung und Wissenschaft sind daher auch in Deutschland im 18. Jahrhundert verschiedene 'Projekte', d. h. sie sind auch als Erkenntnisprogramme verschieden motiviert und formiert; sie treten sogar mit der beginnenden Verengung und Präzisierung des Wissenschaftsbegriffs mehr denn je auseinander. So entwickelt sich in Deutschland ein Typus von Aufklärung, der sich selbst mit gutem Grund als Aufklärung bezeichnen konnte, eine geistige Reformbewegung von komplexer, im Grunde aber auch sehr einheitlicher Struktur, die vom Ende des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts und darüber hinaus reichte. Diese Aufklärung versucht, die vorhandenen Institutionen, insbesondere Kirche und Staat, vorsichtig und allmählich von innen heraus zu reformieren, und zwar im Glauben an deren Reformierbarkeit. Sie erstrebt Weltverbesserung durch Erkenntnisverbessert\ng, indem sie immer wieder auf die praktische Umsetzung von Wissen, vor allem auf Tugend durch Verstand, hofft. Wie immer ging es auch in der Aufklärung um das Heil oder Glück (Glückseligkeit) des Menschen, aber mehr als zuvor um das Glück auf Erden. Darin lag eine gewisse Abwendung von der Theologie und eine gewisse Hinwendung zur Politik - die neue Reformation setzt, wenigstens zunächst, auf einen Reformabsolutismus, den sie zumindest in nuce voraussetzen zu können glaubt und dessen Theorie sich allmählich zu einer des Reformliberalismus entwickelt. Die deutschen Aufklärer sind, obwohl ihre Distanz zu Staat und Kirche in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunimmt, im großen und ganzen staats- und kirchentreu, und ihre Vertreter sind weitgehend Staats- und Kirchendiener. Die Ausgangssituation der deutschen Aufklärung, über die diese sich zu erheben versuchte, ist in ihrem Grundtatbestand während des 18. Jahrhunderts unverändert geblieben und hat deren Struktur bis zur Französischen Revolution bestimmt. Deutschland bleibt, um es zu wiederholen, ein politisch und religiös zerstückeltes Land mit enormen weltanschaulichen Problemen - im Grunde bis heute ein Krisengebiet ohne nationale Identität. Obwohl die konfessionelle Spaltung, insbesondere die Differenz zwischen den beiden protestantischen Konfessionen an Schärfe verliert und der Protestantismus zur führenden Kulturmacht wird, und obwohl mit Preußen eine neue Territorialmacht mit großer, auch geistiger Sogwirkung aufsteigt, bleiben die festgeschriebenen politischen und religiösen Grenzen als maßgebend erhalten. Deutschland gewinnt keine religiöse und politische Identität, es hat keine Hauptstadt und kein geschlossenes Bürgertum, d. h. es hat kein Zentrum und keine staats34
tragende neue Gesellschaftsschicht. Folglich gibt es auch zunächst keine große nationale Kultur, kein Nationaltheater und keine nationale Akademie. Überall und auf allen Gebieten leiden die kreativen Kräfte an den kleinkarierten Verhältnissen. Immerhin stehen diesen bekannten Nachteilen auch einige, allerdings weniger beachtete große Vorteile gegenüber. Die territoriale Zerrissenheit gab den deutschen Intellektuellen auch eine gewisse Freiheit, da sie notfalls schnell die Herrschaft wechseln konnten. Deutschland hatte zwar keine Hauptstadt, die als nationales Kulturzentrum die geistigen Kräfte hätte anlocken und ernähren können, dafür aber doch viele kleine Zentren, die für eine gewisse Streuung und Breite der Kultur auch in der Provinz sorgten und das Stadt-Land-Gefälle bzw. das Gefälle zwischen Hauptstadt und öder Provinz nicht so stark erscheinen ließen. Selbst die Differenz zwischen Hof und Volk war nicht so abgrundtief wie etwa in Frankreich- teils weil viele Höfe selber ziemlich arm waren, teils weil die räumliche Enge nicht selten eine gewisse Nähe und Intimität erzwang; die absolute Herrschaft behielt Züge eines familiären Despotismus. Die Unterschiede zwischen Paris und der Provinz, dem Prunk von Versailles und dem Elend auf dem Lande, sind in Deutschland trotz aller Kopien von Versailles ohne GegenbeispieL Vor allem aber bleibt Deutschland durch die territoriale Konkurrenz, und oftmals sogar durch die religiöse Konkurrenz innerhalb eines Herrschaftsgebietes, ein Land der Universitäten und der politischen und religiösen Beamten. So kann die Aufklärung aufgrund des wachsenden Kommunikationszusammenhanges der Universitäten und der in ihr erzeugten aufgeklärten Bürokratie ziemlich schnell eine erstaunliche Ausdehnung gewinnen. Vielleicht gab es in Deutschland weniger große Aufklärer als andernorts, aber zweifellos viele kleine - bis hinunter zu den Landpfarrern und Dorfschulmeistern, zu den Apothekern, Ärzten und Juristen. Als Kommunikationsnetz oder Kommunikationsprozeß dieser Personen, über viele Ländergrenzen und z. T. auch über Konfessionen und Religionsschranken hinweg, ist die deutsche Aufklärung eine sozusagen politisch und konfessionell mehr oder weniger freischwebende Kultur, sie ermöglicht neben dem Ausweichen in die Innerlichkeit, wie es vor allem der Pietismus anbot, eine räsonnierende Öffentlichkeit, indem sie zunächst einmal ein gebildetes Lesepublikum schafft. Die deutsche Aufklärung hat, was vielleicht auch eine Temperamentsfrage war und ist, immer sehr vorsichtig agiert; sie macht daher einen vergleichsweise biederen oder bedächtigen Eindruck. Sie hat Konflikte nach Möglichkeit (bis an den Rand der Selbstverleugnung) vermieden, d. h. sie 35
hat, wo keine Möglichkeit zur Änderung gegeben war, im allgemeinen auch nicht gegen Wände zu laufen versucht. Dem Engagement für Vernunft aus Hoffnung auf Vernunft entsprang ein Wille zu Reformen, der einen vernünftigen Mittelweg zwischen Innovationen und Traditionen suchte. So wie die deutsche Aufklärungsphilosophie einen Mittelweg zwischen Rationalismus und Empirismus (z. B. zwischen Aristoteles und Descartes) suchte und so wie die Theologie den wahren Glauben als Mitte zwischen Atheismus und Aberglauben definierte, so bemühte sich die deutsche Aufklärung auch allgemein (z. T. in bewußter Eklektik, d. h. unter Bezug auf das Bibelwort "Prüfet alles, und das Gute behaltet!") um allmähliche Verbesserungen, also um Fortschritte auf der Basis des geschichtlich Gegebenen: um die Ausbesserung (Verbesserung, Vervollkommnung) des Verstandes und des Willens, um die Verfeinerung der Sitten und des Geschmacks, also um Behebung und Beseitigung der Mängel, um Kultur durch Korrektur. Aufklärung in Deutschland war im allgemeinen maßvolle Aufklärung (zumindest aus heutiger Perspektive), nicht eine gemäßigte Aufklärung im Sinne einer Rückzugsposition, sondern eine im Ansatz auf Personen und Sachen relative Aufklärung, d. h. eine Aufklärung, die sich der Grenzen der eigenen und fremden Erkenntnisfähigkeit und vor allem der Gefahren einer sogenannten "blendenden" Aufklärung bewußt war (und diese natürlich auch im Lichte der jeweils eigenen Interessen sah). Sie setzte im allgemeinen, auch wenn sie in der Sache radikale Änderungen forderte, nicht auf eine einmalige Revolution, sondern auf eine allmähliche Reform und bemühte sich daher im Bewußtsein pädagogischer und politischer Verantwortung um das Vernünftigwerden und Vernünftigmachen der Menschen. Ihr Licht sollte leuchten, aber nicht verbrennen. Die deutsche Aufklärung setzte auf das judicium maturum bzw. "Reifen der Urteilskraft", wie auch Kant das später noch formuliert, und sie war damit nicht ganz erfolglos - falls man nämlich nicht nur Atheismus und Revolutionsbereitschaft, sondern auch andere Einstellungen als Zeichen von Aufgeklärtheit gelten läßt. Nimmt man z. B. die Abschaffung der Folter oder der Hexenverbrennungen zum Kriterium, dann dürfte das absolutistisch regierte Preußen als eines der aufgeklärtesten Länder dastehen. 1728 enden die Hexenverbrennungen in Preußen, während die republikanische Schweiz 1782 das Schlußlicht bildet; in Preußen wird die Folter 1740 abgeschafft, in der liberalen Schweiz erst 1802, im englischen Hannover sogar erst 1822. Auch wenn man die staatliche Toleranz gegenüber der konfessionellen Minderheit betrachtet, war die Lage in Deutschland vergleichsweise günstig, während, wenn man z. B. die nationalstaat36
liehe zentrale Organisation oder die Fortschritte in der Industrialisierung, im Handel usw. zum Kriterium nimmt, Deutschland natürlich wegen mangelnder nationaler Einheit deutlich nachhinkt. Im übrigen wird man sich hüten müssen, moderne Maßstäbe wie das wesentlich erst durch die Aufklärung erzeugte Freiheitsbedürfnis unmittelbar auf diese selbst zu übertragen. Es gab keine allgemeine Auswanderung aus dem absolutistischen Preußen ins 'republikanische' Hamburg, vielmehr war das straff regierte und aufblühende Preußen offensichtlich sogar für die Franzosen attraktiv, und dies nicht nur für die Hugenotten zu Beginn der Aufklärung. Obwohl Berlin bzw. Potsdam in keiner Weise mit Paris konkurrieren konnte, galt das Preußen Friedrichs II. bei den französischen Aufklärern zeitweise sogar als vorbildlich. Aber auch Schweizer wie Johann Georg Sulzerund Albrecht von Haller und sogar der katholische Johann Heinrich Lambert kamen nach Deutschland und speziell nach Berlin - anscheinend konnte zumindest eine bestimmte Art von Aufklärung, wie schon von Lessing und Kant festgestellt, im Inneren der "Militärmaschine" wachsen. Die allgemeine Preußenkritik setzt erst nach dem Tode Friedrichs II. ein, als die politische Unfreiheit nicht mehr durch geistige Entwicklungen kompensiert wurde. Die deutsche Misere scheint nicht allen so trostlos vorgekommen zu sein wie ihren späteren Kritikern. Wie dem auch sei, Deutschland ist ein Land der Aufklärung, in gewisser Weise sogar das Land der Aufklärung - wenn man nämlich das Wort Aufklärung wörtlich nimmt. Aufklärung ist eine typisch deutsche Wortprägung, der England und Frankreich wohl nicht zufällig nichts an die Seite zu setzen haben. Ähnlich wie illuminismo, illustracion und andere Begriffe ist das englische enlightenment, eine Übersetzung von illuminatio (Erleuchtung), als Epochentitel eine spätere Begriffsbildung der Geisteswissenschaften. Obwohl das Verb enlighten mit dem dazugehörigen Partizip enlightened seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine gewisse Rolle spielt, ist es kein Terminus, in dem sich das Selbstverständnis der Zeit kristallisiert hätte, und es gibt demgemäß auch keine programmatische Aktion, die sich Aufklärung bzw. 'Erleuchtung" nennen würden, und also auch keine Akteure, die sich Aufklärer bzw. 'Erleuchter" nennen könnten. In Frankreich hingegen spielt zwar das Verb eclairer mitsamt dem dazugehörigen Partizip eclaire schon früh eine wichtige Rolle, aber bekanntlich gibt es von diesem Wort weder ein Verbalsubstantiv zur Bezeichnung dieser Aktion oder dieses Programms noch ein Substantiv, das die Akteure der Aufklärung bezeichnen würde. Die Begriffe eclairer und eclairewerden (wohl nicht zufällig) nicht konstitutiv für das, was 37
man aus deutscher Perspektive die französische Aufklärung nennen kann. Die sogenannte französische Aufklärung heißt bekanntlich Lumieres, und die Aufklärung als Epoche heißt Sieeie des Lumieres - ohne daß sich eine wOrtverbindung ZU eelairer herstellen würde. Die französischen Aufklärer aber heißen unbestimmt beaux esprits oder philosophes, und dieser Begriff bezeichnet, obwohl man ihn dann auf die Vorläufer um 1700 und die Nachfolger um 1800 ausdehnen kann, eigentlich nur eine relativ kleine Schriftstellergruppe um die Mitte des 18. Jahrhunderts, die im übrigen (wie schon die französischen Frühaufklärer protestantischer Provenienz) z. T. im Ausland gelebt haben, weil ihre Art von Aufklärung im eigenen Lande nicht erlaubt, d. h. nicht existenzfähig war. Das Sieeie des Lumieres meint nicht dieselbe Art von Epoche wie die Auf klärungoder das Zeitalter der Aufklärung. In England hingegen kann man auch heute noch nur in einer gewissen Anpassung an die ursprünglich deutsche Begriffsbildung von einem Zeitalter der Aufklärung (enlightenment) sprechen; das frühe 18. Jahrhundert ist eigentlich das Augusteische Zeitalter, ein Höhepunkt der englischen Literatur und Philosophie- mit eher verschwimmenden Grenzen zum 17. und 19. Jahrhundert, jedenfalls nicht durch solche Traditionsbrüche wie in Frankreich und vor allem in Deutschland gekennzeichnet. Aufklärung im engeren Sinn ist also zunächst einmal nur ein auf Deutschland zu beziehender Aktions- oder Programm- bzw. Epochenbegriff. Insofern ist die deutsche Aufklärung für das Verständnis von Aufklärung namengebend oder federführend, und man kann sich fragen, mit welchem Recht dieser Begriff auf England und Frankreich ausgedehnt wird. Aufklärung- das ist in Deutschland über vier Generationen hinweg ein relativ einheitliches Gebilde. Die relative Konstanz der politischen und religiösen Bedingungen provoziert bis in die Zeit der Französischen Revolution das Programm einer allmählichen Reform durch Aufklärung, und der Mangel allgemeiner Anknüpfungspunkte in der Gesellschaft verweist das Individuum immer wieder auf sich selbst und seine Selbstemendation. Daher gibt es auch von Thomasius bis Kant eine im Prinzip einheitliche Metaphorik der Aufklärung. Vor allem aber gibt es anscheinend nur hier seit dem 18. Jahrhundert das Wort Aufklärung als Bezeichnung für eine programmatische Aktion und das sie bestimmende Aktionsprogramm sowie für die dadurch bestimmte Epoche, und auch nur hier den durch das Wort Aufklärung als Aktions-, Programm- und Epochenbegriff bezeichneten Zusammenhang von programmatischem und historischem Selbstverständnis. Man könnte daher zugespitzt sagen, Deutschland sei das Land der Aufklärung, weil diese nur hier oder doch 38
hier wie nirgendwo so sehr ihrer selbst bewußt war. Ja, Deutschland sei sogar bis heute das Land der Aufklärung, weil vielleicht bis heute nirgendwo so viel über Aufklärung diskutiert wird wie in Deutschland (wahrscheinlich auch, weil sie hier nie ganz selbstverständlich war). In jedem Fall aber ist Deutschland das Land der Aufklärung par excellence, wenn man das deutsche Wort Aufklärung präzise nimmt, nämlich als Bezeichnung für den Typus von Aufklärung, der vor allem in Deutschland zuhause war und der Aufklärung im engeren Sinn heißen darf, nicht zuletzt, weil er sich selbst so definiert hat. In diesem Sinne haben die meisten deutschen Aufklärer noch am Ende des Jahrhunderts ihre Art von reformatorischer Volksaufklärung, ebenso selbstbewußt wie nach innen und außen defensiv (gegenüber den deutschen Fürsten wie den französischen Revolutionären), als die "wahre" Aufklärung bezeichnet, nämlich als die einzige Aufklärung, die diesen Namen verdient. Die deutsche Aufklärung nennt sich emphatisch, ebenso pleonastisch wie normativ, die "wahre" Aufklärung.
d) Aufklärungsphilosophien Wenn nun aber Deutschland wirklich das Land der Aufklärung war, war es dann auch - in der Aufklärung - ein Land der Philosophie? Die Affinität von Aufklärung und Philosophie ist bekannt. Die Philosophie war die Leitwissenschaft der Zeit, auch wenn sie sich selber noch nicht als Aufklärung definierte. Die französischen Aufklärer hießen schon zu ihrer Zeit philosophes, und sie waren zweifellos Philosophen im Sinne einer kritischen Intelligenz, die sich weltläufig mit den verschiedensten, prinzipiellen wie aktuellen Problemen beschäftigte. Außerdem gab es in England, mehr noch als in Frankreich, zumindest in der ersten Hälfte der Aufklärung, eine Reihe von bedeutenden, auch heute noch bekannten Philosophen, die man rückblickend als Aufklärer bezeichnen könnte. Was aber läßt sich über die deutsche Aufklärungsphilosophie sagen, wenn man Leibniz und Kant ausklammert, weil es fraglich ist, inwieweit diese schon oder noch zur Aufklärung im engeren Sinn des Wortes zu rechnen sind? Hat es überhaupt eine nennenswerte deutsche Aufklärungsphilosophie gegeben? Wer waren überhaupt die deutschen Philosophen des 18. Jahrhunderts? In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie' schreibt Hegel: "Hume und Rousseau sind die beiden Ausgangspunkte der deutG.W.F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Bd. XX, 1971.
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sehen Philosophie" (311, vgl. 275, 280, 308, 365, 430); bei den Deutschen finden wir im 18. Jahrhundert nur "Quäkelei" (292). "Die Deutschen trieben sich zu dieser Zeit in ihrer Leibnizisch-Wolffschen Philosophie ruhig herum, . . . als sie nach und nach, vom Geist des Auslands angeweht, in alle Erscheinungen eingingen, die dort erzeugt worden waren ... " (302). Diese Einschätzung der Bedeutung von Hume und Rousseau für die deutsche Philosophie entspricht der bekannten Selbststilisierung Kants: Hume habe ihn aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt, Rousseau habe ihn zurechtgerückt. Allerdings betrachtet Hegel nicht nur die deutschen Aufklärungsphilosophen, sondern auch Hume und Rousseau als Beispiele für das "Verkommen des Denkens" in der Aufklärung, vor allem Hume: "tiefer kann man im Denken nicht herunterkommen" (vgl. 267, 279). Aber die Deutschen sind eben "ehrliche Trödler, denen alles gut genug ist und die mit allem Schacher treiben" (308 f). Immerhin bemüht sich Hegel trotzaller Verachtung der Aufklärung als bloße Verstandesphilosophie um historische Gerechtigkeit und schreibt z. B. auch, Thomasius und Wolff hätten das "unsterbliche Verdienst, das Philosophieren in Deutschland einheimisch gemacht" zu haben, nämlich durch ihr Denken in deutscher Sprache (258). Damit wird schon im Deutschen Idealismus eine Einschätzung der deutschen Aufklärung formuliert, die mit unterschiedlichen Akzenten bis in die heutige Aufklärungsforschung hinein wirksam geblieben ist. Und unbestreitbar hat sie auch ein fundamenturn in re. Aber es ist auch nicht zu leugnen, daß die deutsche Aufklärungsphilosophie durch Kant und Hegel, Klassik und Romantik so verschüttet worden ist, daß heute viele Fehlurteile auf schlichter Ignoranz beruhen, die erst einmal behoben werden muß. Die Philosophie der deutschen Aufklärung nannte sich Weltweisheit, nur in Deutschland wurde das paulinische Schimpfwort für die Philosophie zum Ehrennamen erhoben. Philosophie als Weltweisheit war eine Philosophie, die nicht nur mit Vorrang die Welt zum Thema hatte, sondern auch die Welt als ihren Adressaten meinte. Und vor allem war sie eine Philosophie, die sich betont als rein weltliches (profanes, natürliches) Denken verstand, die sich also gegen die Vermischung von Philosophie und Religion richtete. Aber die Philosophie der Welt oder die Philosophie für die Welt war in Deutschland zugleich eine Schulphilosophie, d. h. im Unterschied zur der bekannten englischen und französischen Philosophie der Zeit zumindest ursprünglich und bis auf wenige Ausnahmen eine von Universitätsprofessoren betriebene und propagierte Philosophie. Sie war also eine akademische Weltweisheit in dem doppelten Sinn, daß sie eine an den Universitäten gelehrte Fachphilosophie und daß 40
sie eine von Professoren für die Welt bestimmte Philosophie war - aber wohl auch in dem Sinne, daß sie eine etwas weltfremde Philosophie blieb. Die deutsche Aufklärungsphilosophie war und blieb in ihrem Ursprung Schulphilosophie, auch wenn sie eine Philosophie für die Welt sein wollte. Sie umfaßte die weite Spanne von einer schulmäßig, d. h. systematisch und methodisch gelehrten Philosophie bis zu einer allgemein verständlichen philosophischen Plauderei, und nicht selten, aber meist ohne Glück, versuchte sie sogar, beides zugleich zu sein, und war dann weder gründlich noch elegant, sondern eben nur popularisierte Lehrbuchphilosophie. Aus der Sicht der Philosophie läßt sich die deutsche Aufklärung, die sich über einen Zeitraum von mehr als einhundert Jahren erstreckt, schematisch in vier Generationen oder Phasen einteilen: die Frühaufklärung, die vor 1690 beginnt und bis etwa 1720 reicht; die Spätaufklärung, die, durch Kant deklassiert, etwa 1780 beginnt und bis nach 1800 reicht; und dazwischen die Hochaufklärung, die sich in eine erste, mehr schulphilosophische Phase der Durchsetzung der Aufklärung (1720-1750) und eine zweite, mehr popularphilosophische Phase der Ausbreitung der Aufklärung (1750-1780) gliedern läßt. Zumindest die beiden ersten Phasen lassen sich auch nach Leitfiguren benennen, nämlich als die Generation des Christian Thomasius und die Generation des Christian W olff. Die nachfolgende Generation der aufblühenden Popularphilosophie ist heute noch durch Namen wie Samuel Reimarus oder Moses Mendelssohn bekannt, während die letzte Generation, die der Popularphilosophie im engeren und schon pejorativen Sinn, zwar einerseits ein neues Selbst- und Freiheitsbewußtsein entwickelt, andererseits jedoch in den Schatten Kants und der Französischen Revolution gerät und das eher unrühmliche Ende der Aufklärung darstellt. Auch ohne auf Einzelheiten einzugehen, kann man diese vier Phasen der deutschen Aufklärungsphilosophie aufgrund signifikanter geistiger Schübe deutlich voneinander unterscheiden. Die überragende Gestalt der ersten Phase der deutschen Aufklärung und damit deren Initiator überhaupt ist Christian Thomasius. In einem Akt geistiger Selbstbefreiung bricht er mit der orthodoxen Vorstellungswelt, in der er aufgewachsen ist, und fordert eine neue, freie und weltzugewandte Denkweise. In einem ungestümen Aufbruch in eine neue geistige Zukunft verneint er die bisherige Metaphysik als bloßen Spekulationskram, als unnötige und schädliche Subtilität, kämpft gegen gelehrte Pedanterie und verlangt statt dessen eine lebendige Erkenntnis der wenigen existentiell relevanten Wahrheiten. Diese Philosophie für jedermann soll praktikabel sein und jedem zeigen, wie er ehrbar und vergnüglich 41
leben kann. Das methodische Mittel dieser Befreiung ist die "Eklektik" - keine Methode der Methodenlosigkeit im Sinne von W ahllosigkeit, sondern vernünftige Auswahl aus den vielen vorhandenen Meinungen, die dann durch Selbstdenken in Übereinstimmung miteinander und vor allem auch mit der Erfahrung gebracht werden sollen. Das Recht auf Auswahl ermöglicht es, ohne doch ganz und gar mit allen Traditionen zu brechen und bei einem vorgeblichen Nullpunkt zu beginnen, sich von dem Druck der alten Autoritäten zu befreien, insbesondere der alten des Aristoteles, ohne der neuen des Descartes zu verfallen. Insofern geht es, modern gesprochen, von vornherein um das Recht auf Kritik und Denkfreiheit überhaupt. Indem der Eklektiker sich 'systemkritisch', d. h. mißtrauisch gegen alle autoritativen "Lehrgebäude", selektiv vermittelnd mit einer relativen, nämlich nicht letztbegründeten Stimmigkeit zwischen den von anderen übernommenen und den von ihm selbst (aufgrund eigener Erfahrung und eigenen Denkens) gefundenen Wahrheiten begnügt, ist er sich zugleich der Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis bewußt. Diese Haltung entspricht dann zugleich dem Empirismus, den Thomasius aus der Schulphilosophie übernimmt. Fast alle Erkenntnis beruht auf Erfahrung oder sogar auf bloßen Berichten von Erfahrung, daher ist sie im Grunde kaum mehr als eine fides rationalisoder ein "philosophischer Glaube". Aber dieser Glaube ist auch eine Leistung der Vernunft, und die Vernunft muß sich theoretisch wie praktisch gegen die schlechten affektiven Neigungen des Willens durchsetzen, die das Denken schon bei dem Versuch, das Wahre vom Falschen und vor allem das Gute vom Bösen zu unterscheiden, behindern. Damit stellt sich natürlich das Problem, woher diese Einsicht in die Macht der erkenntnisverhindernden Interessen trotzdem kommen kann und wie sie ohne zirkelhafte Selbstaufhebung bzw. Selbstbehauptung möglich ist. Thomasius' Voluntarismus, der sich als eine im Prinzip schon psychoanalytische Theorie der "unvernünftigen Liebe" präsentiert, unterminiert nahezu jede Hoffnung auf Selbstreinigung, d. h. auf intellektuelle Aufklärung und moralische Besserung. Dennoch kämpft Thomasius als Philosoph und Jurist weiter gegen das, was er für Unvernunft erkennt, und hält an der Möglichkeit einer mehr oder weniger richtigen Vernunft (dem "Fünklein vernünftiger Liebe" in jedem Menschen) fest, nämlich an der Möglichkeit des Vernünftigwerdens durch eine Selbstläuterung der durch Vorurteile und Aberglauben verdorbenen Vernunft. Während noch zu Thomasius' Lebzeiten der mit der Aufklärung zunächst eng verbundene, dann mehr und mehr damit zerstrittene Pietismus zu einer großen geistigen Macht wird, kommt zugleich mit 42
Christian W olff und seinen Schülern ein neuer wissenschaftlicher Geist zum Zuge, der sich deutlich von Thomasius' nur bedingt wissenschaftsorientierter Aufklärung unterscheidet. Christian W olff, von Hause aus Mathematiker, aber mit ausgeprägten theologischen und metaphysischen Interessen, schließt sich wie schon Leibniz an die moderne, mathematische und mechanistische Wissenschaft an - im Unterschied zu Thomasius und seinen Schülern, die die moderne Physik noch als oberflächlich und gefährlich betrachteten. Allerdings versteht W olff Wissenschaft nicht als hypothesenrelatives empirisches Wissen, sondern wie schon Descartes und seine Nachfolger als systematische Universal- und Fundamentalwissenschaft. Die Philosophie ist die exakte Basiswissenschaft, die letztbegründete und letztbegründende Wissenschaft aller Wissenschaften oder die Wissenschaft schlechthin. Fachphilosophisch wesentlich bedeutender als Thomasius, theoretisch interessierter und fundierter, erstrebt W olff aufgrund eines modernen und in Deutschland erstmaligen Systemwillens die endgültige Grundlegung einer wissenschaftlichen Philosophie und eine daraus resultierende konsequente und umfassende Anwendung der Vernunft in allen Denk- und Lebensbereichen. Aufklärung wird auf diese Weise zur 'Wissenschaft', deren wichtigstes Mittel die Begriffsklärung ist; sie zielt jetzt auf eine durchgreifende 'Verwissenschaftlichung' der Lebenswelt. Zugleich aber entspricht Wolffs Philosophie auch einem durch die Frühaufklärung zurückgedrängten Metaphysikbedürfnis, letztlich einem durch die Betonung der Moral im Thomasianismus nur unzureichend gestilltem religiösem Bedürfnis. Als wissenschaftlicher Metaphysiker erstrebt Wolff die Erkenntnis der letzten Prinzipien, ein wahres Wissen als Voraussetzung richtiger Praxis und findet damit Anschluß an die von der Frühaufklärung verachtete philosophische Tradition, die er in moderner Form, sozusagen als Scholastik more geometrico, noch einmal erneuern kann. Auch diese Intention (wie sein nicht nur wissenschaftlicher Ehrgeiz, praeceptor humani generis zu werden) lassen ihn zum klassischen Lehrbuchphilosophen werden, der - in deutlicher Distanzierung von der Philosophie für jedermann - wieder zur lateinischen Sprache zurückkehrt. Gleichzeitig aber wird er, trotz aller seiner konservativen Züge, wegen seiner Auseinandersetzungen mit den Pietisten, die ihn zur Flucht aus Halle nach Marburg zwingen, zur Symbolfigur der neuen kämpferischen Aufklärung. Er gibt der Vernunft ein neues Selbstbewußtsein, indem er ihre noch neue Autonomie theoretisch und praktisch verteidigt. Die Hoffnung auf Vernunft konnte sich für lange Zeit an Wolffs Namen und damit an den Namen eines Philosophen knüpfen. 43
Wolffs Systemphilosophie beeindruckte die Zeitgenossen durch ihren Inhalt und ihre Form, durch ihre Methodik und ihre Univer.salität. Sie war klar und gründlich. Aber natürlich konnte sie ihr Versprechen, aus zweifelsfreien Prinzipien zu zweifelsfreien Resultaten zu kommen, nicht einlösen. So entstanden ihm schon zu seinen Lebzeiten, aus Über:druß an seiner umständlichen und weitschweifigen, aber immer weniger innovativen Schulbuchphilosophie, nicht nur Gegner, die aus dem Pietismus und Thomasianismus kamen. Die Kritik der neuen Generation richtete sich jetzt gegen die Pedanterie der Methode und die "Beweissucht" der neuen Schulphilosophie, und sie ergänzte dieses systematische Denken, da sie es zunächst weder 'überwinden' konnte noch wollte, durch eine faßlichere "Popularphilosophie", die dann die wissenschaftliche Philosophie mehr und mehr verdrängte (und bald ihrerseits als seicht verschrien wurde). Diese Kritik an W olffs Methode beruhte letztlich auf grundsätzlichen Zweifeln an der Endgültigkeit seiner Lösungen, ja an der Möglichkeit solcher Philosophie überhaupt; ein neuer Realismus oder Pragmatismus machte sich breit, mit deutlich skeptischen oder resignativen Zügen. Er entsprach zumindest z. T. den Veränderungen der gesamtgesellschaftlichen Situation infolge des Siebenjährigen Krieges und des Aufstiegs Preußens. Schon vor der Jahrhundertmitte kam es so zu einem geistigen Klimawechsel in Deutschland, der nicht nur den Denkhabitus der Philosophen veränderte, sondern auch die Aufklärung im allgemeinen betraf. Einerseits führte der Verlust der Fundamentalphilosophie an Glaubwürdigkeit zu gewissen Rückgriffen auf die Frühaufklärung und dann zu einer Art neuer Eklektik, die nun nicht mehr zwischen Aristoteles und Descartes, sondern Thomasius und W olff zu vermitteln suchte. Andererseits öffneten sich die Geister nun verstärkt für Einflüsse des Auslandes, insbesondere für die der Wolffschen entgegenwirkende empiristische Philosophie Englands, wobei auch die Entdeckung neuer Themenbereiche wie die Entdeckung der Ästhetik eine wichtige Rolle spielte. Nach der Selbstbehauptung und Selbstsicherung der Vernunft gegenüber der Offenbarungsreligion und ihrer Theologie kann nun die mit der "Natur" bereits implizit rehabilitierte Sinnlichkeit unvoreingenommener als zuvor betrachtet werden, und auch das Gefühl ("Herz"), in Thomasius' Lob der "Weichherzigkeit" (tendresse) schon als Sensibilität lange vor aller modischen Empfindsamkeit rehabilitiert, bekommt jetzt einen höheren Stellenwert in der Aufklärungsphilosophie. Insgesamt richtete sich das Interesse nun aber vor allem auf eine Philosophie der gesunden Vernunft oder des sogenannten gesunden Menschenverstandes - nicht im Sinne einer recta ratio als Prinzipienvermögen,
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sondern im Sinne von bon sens und common sense. So kam es - schon unter W olffs Anhängern - zu einer Erneuerung der an sich alten Idee einer Philosophie für die Welt bzw. der 'Popularphilosophie', die dann fast zwei Generationen vorherrschte und daher vielfach für die gesamte Aufklärung gehalten wird. Die neue Eklektik nach der Jahrhundertmitte geht auf Distanz zu einer wissenschaftlich-elitären Philosophie und damit auch auf Distanz zu einer ausführlichen Systemphilosophie. An die Stelle der dickleibigen und vielbändigen Schulbuchphilosophie treten nun kurze, leichtfaßliche Überblicke sowie ungebundenere, d. h. von der Aufgabe der ständigen Verortung im System befreite, kleinere Abhandlungen und Untersuchungen. Popularität zielt auch auf Modernität oder Aktualität, der Essay bietet die Chance zu bescheidenen, diskontinuierlichen, aber sukzessiven Innovationen. Doch war die Popularphilosophie schon zu ihrer Hochblüte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts keineswegs unangefochten. Neben ihr gab es wie eh und je die Bemühungen um eine wissenschaftliche Philosophie, also auch die Fortbildung der Fachphilosophie, deren Musterbild Wolff noch keineswegs vergessen war. Als Beispiele solchen Suchens nach neuen tragfähigen Ansätzen systematischen Denkens können Gottfried Ploucquet und Johann Heinrich Lambert genannt werden, und dann natürlich Kant. Insbesondere durch Kant und dann durch die Französische Revolution geriet die Philosophie der Spätaufklärung jedoch mehr und mehr in die Defensive, obwohl sie wenigstens z. T. diese Innovationen noch zu verarbeiten suchte. Die Aufklärungsphilosophie beginnt sich immer mehr zu wiederholen und in der Anwendung ihrer alten Grundsätze auf neue Gegebenheiten zu erstarren. Der Kreis ihrer Prinzipien ist geschlossen und ohne Zerstörung nicht mehr zu erweitern. Ist also das Land der Aufklärung auch ein Land der Philosophie, d. h. ist das Zeitalter der Aufklärung in Deutschland auch ein Zeitalter der Philosophie? Ist Deutschland auch im Zeitalter der Aufklärung schon das Land der Philosophie? Die Antwort hängt natürlich vom Aufklärungsund vom Philosophiebegriff ab. Wenn man Aufklärung als Bemühen um Fortschritte durch Entwicklung von Verstand und Vernunft versteht und wenn man Philosophie ebenfalls als einen solchen Selbstklärungsprozeß des Geistes begreift, dann ergibt sich wie schon für die Zeitgenossen ein unmittelbarer Zusammenhang von Aufklärung und Philosophie. Insofern ist auch in Deutschland das Zeitalter der Aufklärung ein philosophisches Zeitalter. Eine ganz andere Frage ist hingegen, ob die Philosophie im engeren Sinne in Deutschland während des 18. Jahrhunderts eine wirklich führende Rolle gespielt hat; und es sind wiederum zwei ganz 45
andere Fragen, ob die deutschen Philosophen der Aufklärung zu ihrer Zeit neben den Philosophen anderer Länder bestehen konnten bzw. ob sie im Rückblick neben den großen Philosophen anderer Zeiten und Länder bestehen können. Die erste Frage läßt sich relativ leicht beantworten. Die Philosophie ist nicht erst in der Person von Kant oder Hege! eine geistig führende Macht in Deutschland gewesen, sondern auch schon in der Person von Thomasius und W olff, die das Denken ihrer Zeit ganz unverkennbar geprägt haben. Vielleicht war das Interesse für Philosophie in Deutschland sogar nie so groß wie im Zeitalter der Aufklärung. Und auch die letzte Frage ist ebenfalls leicht zu beantworten - zumindest wenn man Leibniz und Kant nicht zur Aufklärung im engeren Sinne zählt. Denn es ist offenkundig, daß die deutschen Aufklärungsphilosophen, wie wohl auch die übrigen, nicht zu den ganz großen schöpferischen Philosophen gehört haben. Die große Zeit der deutschen Philosophie beginnt (von Leibniz wiederum abgesehen) erst mit Kant - aber natürlich ist die nachaufklärerische Philosophie ebenso wie die nachaufklärerische Dichtung erst durch die Aufklärung möglich geworden. Bleibt also die Frage, ob die deutsche Aufklärungsphilosophie auch ohne Leibniz und Kant neben den Philosophien des 18. Jahrhunderts in England und Frankreich bestehen kann. Diese Frage dürfte nicht so leicht zu beantworten sein, weil die Antwort weitgehend davon abhängt, wie man die englischen und die französischen Aufklärungsphilosophen einschätzt, und vor allem davon, wie man die verschiedenen Typen von Philosophie, nicht nur die Aufklärungsphilosophien, bewertet. Sicher wird man wirkliche philosophische Innovationen, vor allem auf dem Gebiet der Erkenntnislehre, am ehesten in der englischen Frühaufklärung (Locke, Berkeley, Hume) finden, so wie man bei den Franzosen (falls man Montesquieu und Rousseau zu den Lumieres rechnet) um die Mitte des Jahrhunderts vor allem bedeutende politiktheoretische Überlegungen finden kann. Systematische Philosophien oder eine umfassende Fachphilosophie von Rang wird man hingegen hier wie dort kaum finden. Die deutsche Aufklärungsphilosophie war jedenfalls, zumindest in den beiden ersten Dritteln des 18. Jahrhunderts, von ihrer Überlegenheit über die englische und französische Philosophie ihrer Zeit überzeugt; die englische galt ihr als seicht, die französische als bloße Belletristik. Aber um zu klären, wieweit dieses Selbstbewußtsein der deutschen Aufklärungsphilosophie berechtigt ist, müßte man sie erst einmal zur Kenntnis nehmen, denn bisher ist sie mehr als die englische und die französische durch den nachfolgenden Deutschen Idealismus verschüttet. 46
Im folgenden kann es nun nicht darum gehen, eine detaillierte oder flächendeckende Geschichte der Aufklärungsphilosophie in Deutschland zu schreiben, vielmehr muß es auch hier bei dem Versuch bleiben, einige wenige Wege in einem noch kaum erschlossenen Gelände zu bahnen und dabei einige Schneisen in das Dickicht der Schulphilosophie zu schlagen, um so besonders die Anfänge der Aufklärung in Deutschland zu erschließen.2 Dieses Gebiet ist einerseits besonders schwer zugänglich {teils wegen seiner spröden Darstellungsform, teils wegen des immer noch gängigen Lateins), andererseits aber besonders wichtig, weil sich hier die Innovationen noch am ehesten durch Gründlichkeit rechtfertigen müssen. Außerdem läßt die Philosophie der deutschen Frühaufklärung und der ersten Phase der Hochaufklärung {Thomasianismus und Wolffianismus) die Eigenständigkeit und Eigenart der deutschen Aufklärungsphilosophie besonders prägnant erkennen, da hier die Einflüsse der englischen und französischen Aufklärung noch wenig wirksam sind. Hier werden die Grundlagen für das Selbstverständnis der deutschen Aufklärung und ihrer Philosophie gelegt - bis hin zu Kant und sogar über Kant hinaus. Da das Selbstverständnis der deutschen Aufklärung hier nicht als bloße Bagatelle und Spielmaterial für eigene Spekulationen betrachtet wird, darf die Selbstdarstellung und Selbstreflexion der deutschen Aufklärung im folgenden ausdrücklich zum Ausgangspunkt der weiteren Untersuchung gemacht werden. Aus dieser Perspektive sollen vor allem zwei noch wenig beachtete Formen der Selbstartikulation der Philosophie der Aufklärung nachgezeichnet werden, die bildliehe Selbstdarstellung und
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Einen allgemeinen Überblick über die deutsche Aufklärung gibt H. Möller, Vernunft und Kritik, Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert 1986; für die Erforschung der Philosophie des 18. Jahrhunderts ist immer noch unentbehrlich M. Wundt, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung 1945, Repr. 1964. Die vorliegenden Ausführungen basieren z. T. auf folgenden Arbeiten des Verfassers: Die wahre Aufklärung, Zum Selbstverständnis der deutschen Aufklärung 1974; Aufklärung und Vorurteilskritik, Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie 1983; Akademische Weltweisheit, Die deutsche Philosophie im Zeitalter der Aufklärung, in: G. Sauder u. J. Schlobach (Hrsg.), Aufklärungen, Frankreich und Deutschland im 18. Jahrhundert 1986. Zu Thomasius vgl. auch W. Schneiders, Naturrecht und Liebesethik, Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf 1homasius 1971; Vernunft und Freiheit, Christian 1homasius als Aufklärer, in: Studia Leibnitiana XI/1, 1979; sowie W. Schneiders (Hrsg.), Christian 1homasius 1989. Zu Wolff vgl. auch W. Schneiders (Hrsg.), Christian Woljf 1983, 2. Auf!. 1986.
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die begriffliche Selbstbestimmung der Philosophie. Damit könnten zwei einander korrespondierende Einstiege gewonnen werden, ein anschaulicher (sozusagen von außen, von der Peripherie her) und ein definitorischer (sozusagen von innen, vom Zentrum aus).
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Il. Das Bild der Philosophie Philosophie ist nach einer bekannten Formulierung Hegels Anstrengung des Begriffs: Denken als Bemühung, eine Sache auf den Begriff zu bringen. Kant und andere sprachen sogar von einer Erkenntnis aus Begriffen. Aber das Denken in Begriffen muß sich auf Anschauung stützen können, auch wenn diese noch so vergeistigt ist. Es bedient sich unvermeidlich gewisser Bilder oder Metaphern, wofür der Begriff des Begriffes oder vielmehr das Bild des Begriffes selbst das bekannteste und naheliegendste Beispiel ist. Dabei kann die Sprache der Philosophie mehr oder weniger bilderreich sein. Ja, das Denken kann sogar bewußt oder unbewußt zum Erzählen von Mythen werden, und irgendwo ist seine Mitteilung immer auch das Erzählen einer Geschichte in Bildern. Allerdings sind solche Metaphern immer noch sprachliche oder literarische Metaphern, d. h. durch Sprache suggestiv veranschaulichte Bilder; sie bewegen sich also in demselben Medium, in dem die Philosophie sich bewegt, weil diese als Denken und Mitteilung von Denken an Sprache gebunden ist. Ganz anders steht es hingegen mit der optischen Metapher, dem sichtbaren Sinnbild. Das gemalte oder gezeichnete Bild spielt so gut wie gar keine Rolle als Ausdruck von Philosophie. Zwar gibt es auch so etwas wie grüblerische oder 'metaphysische' Maler, die sozusagen in Bildern philosophieren; aber das ist ein anderer Fall, der sozusagen auf das andere Ufer gehört bzw. von ihm herkommt. Zeichnungen (als Versinnbildlichungen von Gedanken) spielen in der Philosophie höchstens als anschauliche Ordnungsschemata eine gewisse Rolle, vor allem in der Darstellung von Philosophie, also als didaktische Hilfsmittel. Im allgemeinen beschränken sie sich auf einige wenige Striche oder Pfeile, um Relationen, oder auf Kreise und Kästchen, um Begriffsumfänge oder Begriffsörter anzudeuten. In der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts hingegen lagen die Dinge noch ganz anders. Damals konnte der Philosoph sein Buch noch
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wie selbstverständlich mit einem von ihm selbst erdachten oder entworfenen Bild schmücken, ohne sich dadurch lächerlich zu machen; d. h. er konnte, wie jeder andere Autor auch, seinem Buch einen Kupferstich voranstellen, um seine philosophische Aussage symbolisch, didaktisch, werbewirksam und wohl auch spielerisch verständlich zu machen. Dies hängt natürlich von dem jeweiligen Buchinhalt ab - nicht jede philosophische These läßt sich gleichermaßen in ein Bild umwandeln. Aber diese Tendenz zum Bild hängt sicherlich auch mit den Anfängen des Buchdrucks und darüber hinaus mit den Anfängen der Buchherstellung und der damit verknüpften Buchmalerei zusammen. Das Buch, vor allem die Bibel als das Buch der Bücher, war etwas Kostbares, eigentlich ein Kunstwerk, zu dem der Bilderschmuck wie selbstverständlich gehörte; die Bilderbibel war notfalls sogar für Analphabeten lesbar. Solches Anschauungsbedürfniswurde dann im 17. Jahrhundert noch durch die Konjunktur eines sehr sinnenbewußten und zugleich sehr sinnbedürftigen, 'barocken' Denkens verstärkt, das weitgehend ein analogisches und folglich besonders metaphernfreudiges Denken war. Insbesondere in der Gestalt der Pansophie, die den Zusammenhang von allem mit allem derart betont, daß alles auf alles verweist und folglich alles auch alles bedeuten kann, reicht diese Rekonstruktion der Wirklichkeit als universaler Verweisungszusammenhang bis in die Philosophie hinein. Insofern entspricht die damalige Neigung der Philosophie zur Veranschaulichung ihres Gehalts einer allgemeinen Vorliebe dieser Zeit für alles Symbolische. Diese Tendenz zur symbolischen Veranschaulichung von Philosophie reicht sogar noch weit ins 18. Jahrhundert hinein, obwohl gerade die Aufklärung das analogische Denken und damit auch die traditionelle Symbolik (Metaphorik, Emblematik usw.) in Frage stellt. Nun hält sich die Bebilderung philosophischer Werke, auch wenn deren Autoren 'ästhetisch' interessiert sind, allerdings in einem sehr engen Rahmen. Zunächst einmal handelt es sich fast nirgendwo um eine fortlaufende Illustration, sondern nur um ein einziges Frontispiz, das jedoch selbst aus mehreren Bildern oder einer Bilderfolge bestehen und insofern so etwas wie eine kleine philosophische Geschichte erzählen kann. Darüber hinaus handelt es sich im allgemeinen nur um Bilder, die man sowohl im Hinblick auf ihren Inhalt als auch im Hinblick auf ihre Form als äußerst schlicht bezeichnen muß. Alte einfache Symbole wie Bäume und Häuser, Wege und Schiffe, und natürlich Sonne, Mond und Sterne dienen ebenso wie alte und neue Personifikationen der Veranschaulichung bestimmter philosophischer Grundgedanken, insbesondere der Darstellung von Beziehungen und Bewegungen. Doch lassen gerade
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diese sehr alten Bildgehalte nicht selten den Wandel der Symbolik, ja die gezielte U mfunktionierung der Bildvorstellungen sichtbar werden. Die Motive als solche sind nämlich meist sehr alt und konnten in allerlei Handbüchern zur Emblematik usw. nachgeschlagen werden. Dabei hält sich die Darstellungsweise durchaus im Rahmen der jeweiligen Zeitstile und ihrer Wandlungen. Die Darstellung kann barock oder rokokohaft, realistisch oder klassizistisch sein. Das künstlerische Format allerdings ist fast immer bescheiden. Es handelt sich nicht um große Kunst, sondern um eher niedliche oder putzige, oft geradezu herzige oder rührende Bildehen mit meist sehr puppenhaften Staffagen. Viele von ihnen sind wahre Schmunzelbildchen. Schon dadurch entsteht die Gefahr einer Fehlinterpretation, nämlich die Versuchung, solche Bilder allzu ironisch oder gar nur ironisch zu betrachten. Diese philosophische Kleinkunst auf Bestellung dürfte jedoch nahezu ausnahmslos ernst gemeint sein, da ihr geistiger Entwurf in aller Regel auf den Autor selbst zurückgeht (auch wenn dieser seinerseits einem Wunsch des Verlegers folgt). Das darf nicht nur deshalb mit gutem Grund angenommen werden, weil die z. T. sehr detaillierte sinnbildliche Darstellung in vielen Fällen eine sehr genaue Kenntnis des jeweiligen philosophischen Werkes voraussetzt; in einigen Fällen ist es auch offenkundig, weil der philosophische Autor sich selbst als Erfinder des Titelbildes zu erkennen gibt und dieses gelegentlich auch noch selber kommentiert. Es handelt sich also um Selbstbildnisse der Philosophie, und von Selbstironie ist dabei keine Spur anzutreffen. Obwohl diese symbolischen Selbstdarstellungen heute wie mehr oder weniger geistreiche Spielereien wirken und obwohl sie zweifellos auf einem hohen Reflexionsniveau entstanden sind, bleiben sie doch auch in gewisser Weise naiv, nicht nur in ihrer Ausdrucksweise, sondern auch in der sie tragenden Grundhaltung. Bleibt man sich aber der historischen Distanz zu der Denkweise dieser philosophischen Bilderkunst bewußt, dann kann man auch die beiden anderen Gefahren einer möglichen Fehlinterpretation deutlich im Auge behalten. Zum einen besteht nämlich die Möglichkeit der Überinterpretation; man ist immer wieder versucht, moderne (nachaufklärerische) Gedanken in solche alten Bilder hineinzudeuten. Weit größer ist jedoch die Gefahr, gar nicht mehr zu sehen, was mit solchen Sinnbildern alles gesagt werden soll (ganz abgesehen davon, daß manche dieser Bildehen ein wahres Augenpulver sind). Es handelt sich nämlich bei diesen Veranschaulichungen von relativ abstrakten Prinzipien um eine auslaufende Bildertradition; sie sind nur noch Reste einer alten und inzwischen abgerissenen ikonologischen Überlieferung, die nicht zuletzt durch die Auf51
klärung selber zerstört worden ist. Daher kommt es in diesem Zusammenhang vor allem darauf an, die symbolischen Darstellungen von philosophischen Aussagen erst einmal wieder zu entziffern, sie wieder zur Sprache zu bringen und für sich selber sprechen zu lassen. Und natürlich müssen sie erst einmal im Zusammenhang vorgeführt werden, denn bis auf einige besonders eindrucksvolle Frontispizien- wie die von Athanasius Kircher, Thomas Hobbes oder Giambattista Vico, die nicht zur Aufklärung im engeren Sinne gehören, sowie einige von Christian W olff sind diese graphischen Inszenierungen der Philosophie heute so gut wie vergessen. Im folgenden kann nur eine kleine Auswahl dieser philosophischen Titelkupfer vorgestellt werden. Sie beschränkt sich auf Darstellungen, die eine allgemeine oder grundsätzliche Aussage über die Philosophie oder den jeweiligen Philosophen implizieren. Es sind Aufklärungsallegorien oder, wenn man so will, "Embleme der Vernunft", und sie wollen selber als solche, d. h. durch Bilder, aufklären. Es wird also von vornherein auf solche Bilder, die nur irgendeinen Inhalt, wie z. B. in naturphilosophischen Schriften, illustrieren wollen, verzichtet. Außerdem konzentriert sich die Auswahl unvermeidlich auf die Schriften der Frühaufklärung, weil diese noch besonders bilderfreudig ist. Denn seit der Mitte des 18. Jahrhunderts reduziert sich der Bilderschmuck der philosophischen Bücher zunehmend und verschwindet gegen Ende des Jahrhunderts fast völlig. Vermutlich nicht nur eine Folge der neuen massenhaften Buchproduktion, sondern auch des Wandels der philosophischen Denkungsart.
a) Wege zur Wahrheit Am Anfang dieser zugleich philosophischen und philomusischen Bildbetrachtungen darf das sozusagen erste Werk der deutschen Aufklärungsphilosophie stehen, Christian Thomasius' Philosophia aulica, sein erstes philosophisches Werk, das 1688 im Selbstverlag, "apud autorem", erschien (Abb. 1). Das Buch suchttrotzaller Polemik gegen Aristoteles wie dieser das Gute in der Mitte. Der Mittelweg, die via media, ist der Königsweg, die via aurea zwischen zwei Abwegen, in diesem Fall zwischen den Vorurteilen der Cartesianer und den Ungereimtheiten der Aristoteliker. Es geht also nicht um die einfache Wahl zwischen einem guten und einem schlechten Weg (wie sie in religiösen Mythen und moralisierenden Dichtungen immer wieder geschildert worden ist), sondern (wie 52
Abb. 1. Christian Thomasius, Introductio ad philosophiam aulicam (1688), 2. Aufl. 1702
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Abb. 2. Samuel Grosser, Pharus intellectus sive logica electiva, 1697
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so häufig in der Philosophie und Politik) um einen dritten Weg angesichts einer falschen Alternative. Also nicht Herades in bivio, sondern Thomasius in trivio. Dieser steht, wie das Frontispiz beinahe überdeutlich demonstriert, selbst als Wahrheitssucher im Vordergrund (mit dem berüchtigten Kavaliersdegen unterm Rock), daneben zwei falsche Ratgeber, die in divergierende Richtungen deuten. In der Mitte der Weg des Selbstdenkens, der direkt zur Wahrheit führt. Diese thront hoch und fern im Hintergrund, das Szepter als Zeichen ihrer königlichen Macht in der Hand und umgeben von einem modern und elegant gekleideten Hofstaat. Links im Spiegelbild dieselbe Dame als Scheinwahrheit der Cartesianer, rechts die schon etwas altersschwache Philosophia aristotelica, gestützt von einigen wenigen Professoren in ihren altertümlichen T alaren. Die Botschaft des Bildes lautet offensichtlich: Aufklärung ist freie Wahl des vernünftigen Weges zur Wahrheit, und zwar durch kritische Distanzierung von falschen Alternativen - der Mittelweg ist auch in der Philosophie der beste. Der Vergleich des Lebens und dann des Denkens mit einem Weg und des Menschen mit einem Wanderer (homo viator) ist uralt. Die Wahl des richtigen Weges aber ist eine immer neue Aufgabe; sie kann lebensentscheidend sein, auch wenn es sich nicht um den sogenannten Lebensweg handelt. Verständlich also, daß sich Religion und Kunst schon früh dieser Metaphorik bedient und ihre Anweisungen als Wegweisungen formuliert haben. Wobei übrigens im allgemeinen vorausgesetzt wird, daß es schon einen Weg gibt und dieser nicht erst durch sogenanntes unwegsames Gelände gebahnt werden muß. Wegwahl kann aber nicht nur die Wahl des richtigen Weges zu einem vorgegebenen richtigen Ziel sein, sie kann auch implizit eine Zielwahl bedeuten, wobei sogar unklar sein kann, welcher Weg zu welchem Ziel führt. Die einfachste Form einer solchen Entscheidungssituation ist die Weggabelung oder Zweiteilung des Weges (bivium), im übertragenen Sinne also das Dilemma oder die Alternative, die, wenn ihre beiden Aspekte nicht ausnahmsweise als gleichwertig (neutral) gedacht werden, immer eine gute und eine schlechte bzw. eine bessere und eine schlechtere Möglichkeit enthält. Und hier bieten sich dann die bekannten Metaphern, wie die vom rechten und vom linken Weg, vom breiten und vom schmalen Weg usw. an. Es geht also bei dieser Denkfigur - vorausgesetzt, daß die Alternative klar ist - um ein schlichtes Entweder-Oder. Insofern ist die Wahl von der Sachlage her einfach, auch wenn sie der Person möglicherweise eine große Entscheidungskraft abverlangt. Komplizierter hingegen und folglich schwieriger zu durchschauen ist die Situation der Dreiteilung des Weges, des Drei-
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wegs (trivium), also das Trilemma oder die Aufgabe, zwischen drei Möglichkeiten zu entscheiden. Wobei es sich, wie die gebräuchliche Metaphorik zeigt, in den wenigsten Fällen um ein neutrales Trilemma oder um drei gleichwertige Möglichkeiten handelt; vielmehr geht es bei der Suche nach dem sogenannten dritten Weg meistens darum, unter Vermeidung zweier verkehrter Entscheidungen die einzig richtige zu treffen. Unter der Voraussetzung einer triadischen oder trichotomischen Denkfigur (anstelle einer schlichten dyadischen oder dichotomischen) geht es darum, unter Abwehr einer falschen Alternative (ne-utrum), zwischen zwei gegebenen falschen Wegen (Extremen, Gefahren etc.) den einzig richtigen, meist normativ richtigen Weg zu finden - und dies ist dann in aller Regel der mittlere Weg. Anscheinend hat diese Denkfigur in Kunst und Religion eine nicht so wichtige Rolle gespielt wie die des einfachen Scheideweges- sei es weil sie einerseits komplizierter, andererseits weniger dramatisch ist als das klare Entweder-Oder, sei es weil sie in Konkurrenz zu der Vorstellung der Drei als heiliger Zahl steht. Immerhin gibt es im griechischen Mythos schon das Urteil des Paris als die Wahl zwischen drei Göttinnen, also zwischen drei verschiedenen Gütern oder (noch ohne Bezug auf die Wegmetapher) zwischen drei Lebenszielen. Außerdem gibt es bei Homer auch schon die ebenfalls an der Dreizahl orientierte Vorstellung des richtigen oder sogar einzig möglichen Weges, der zwischen zwei tödlichen Gefahren (Scylla und Charybdis) hindurchführt. Ähnlich liegt die biblische Mahnung, den richtigen Weg einzuhalten, nämlich weder zur Rechten noch zur Linken auf Abwege zu geraten. Jedenfalls ist die Rede von der richtigen oder goldenen Mitte populär und geradezu sprichwörtlich geworden. Die Wahrheit liegt in der Mitte, der Mittelweg ist der beste und meist auch der kürzeste. Im Römischen Recht galt z. B. der pragmatische Grundsatz, zwischen zwei entgegengesetzten und extremen Meinungen die mittlere für die plausibelste zu halten. Aber auch in der Philosophie hat die Auffassung von der Wahrheit der Mitte schon früh ihren Ausdruck gefunden, und zwar wie bekannt in der aristotelischen Ethik. Die Tugend ist die richtige Mitte zwischen zwei falschen Extremen, die als Verfehlungen oder Laster gelten müssen, wobei die eine Fehlform als excessus, die andere als defectus der eigentlich geforderten Haltung gilt. Die Tapferkeit ist die richtige Mitte zwischen Tollkühnheit und Feigheit, aber sie liegt nicht auf der gleichen Ebene wie die beiden Laster (als deren bloße Neutralisierung), sondern zugleich auf einer höheren Ebene. Die Tugend bildet gleichsam die obere Spitze eines Dreieck~, deren untere Ebene in entgegengesetzten Lastern endet, die eine falsche Alternative bilden. Insofern ist die Theorie 56
der "mesotes" an sich keine Theorie des Mittelmaßes und keine Aufforderung zur "mediocritas" im schlechten Sinne des Wortes; die Mitte als Maß verlangt kein Mittelmaß, keine Mittelmäßigkeit, sondern ein Übermaß an Kraft, um die richtige Mitte zu halten. Allgemein gesprochen, an die Stelle eines als falsch erkannten Dilemmas tritt durch Transzendenz eine Dreiheit von Möglichkeiten, deren dritte als Norm oder Neuheit die vorherige Alternative als falsche Alternative depotenziert und überwindet. Thomasius' Drei-Wege-Bild dürfte nicht zuletzt unter dem Einfluß des Aristotelismus stehen, obwohl er diesen, gerade auch in seinem Frontispiz bekämpft. Doch ist der dargestellte Mittelweg nicht der Weg der Tugend als Mitte zwischen Exzeß und Defekt. Vielmehr ist er einerseits der richtige Weg zwischen zwei Abwegen, die in die Irre führen, oder der einzige Weg zwischen Scylla und Charybdis; andererseits erstrebt Thomasius aber auch die kritische Auswahl (Eklektik) zwischen dem Guten auf beiden Seiten bzw. deren konstruktive Synthese. In dieser und ähnlicher Form wurde seit dem Beginn der Neuzeit und vor allem in der Philosophie der deutschen Aufklärung immer wieder nach einem dritten Weg gesucht. Mit Hilfe dieser Denkfigur kann aber auch Kant noch den Kritizismus als den "wahren Mittelweg" zwischen Dogmatismus und Skeptizismus bestimmen; und selbst in Hegels Dialektik, die betontermaßen die Sackgassen des abstrakten Verstandesdenkens vermeiden will, sucht das Denken noch einen dritten Weg, den Weg der Vernunft. Philosophie ist offensichtlich immer wieder, wenn nicht überhaupt, Philosophie des dritten Weges. Wer den richtigen Weg sucht, ist für Wegweiser dankbar. Er hält nach Menschen Ausschau, die ihm den Weg zeigen könnten; notfalls sucht er - da die Landschaft nicht immer voller Schilder war, die das Problem der Orientierung durch eine Vororientierung vermittels künstlicher Zeichen lösen - auch schlichte Wegmarken wie Bäume oder Steinhaufen. Nun gibt es aber seit eh und je auch natürliche Weg- oder Richtungsweiser, genauer gesagt, natürliche Bezugs- oder Richtpunkte, die als Orientierungspunkte zur Auffindung und Beibehaltung des Weges oder der Richtung dienen können. Dazu gehören die Sonne und ihr jeweiliger Stand sowie nachts außer dem Mond der Polarstern oder Nordstern bzw. der Große Wagen oder der Große Bär. Vor allem die Schiffahrt, die sich nicht wie eine Landreise an den natürlichen Gegebenheiten des Geländes orientieren kann, war auf eine solche Orientierung an Leitsternen angewiesen, jedenfalls soweit ihr keine künstlichen Orientierungspunkte, etwa von Menschen errichtete Leuchttürme, Anhalt geben konnten. 57
Angesichts dieser elementaren Situation aller alten 'Reisen' hat die Übertragung des Orientierungsproblems auf das Leben und damit auf die Orientierung im Denken immer schon nahegelegen. Auch wer im Denken oder durch Denken seinen richtigen Weg sucht, bedarf der Orientierungshilfen, nämlich geistiger Wegweiser oder Wegzeichen. Und wenn man den Geist, wie seit altersher üblich, mit einem Schiff vergleicht, also das Leben mit einer Fahrt, dann muß man sich auch nach einem Fixpunkt am Himmel oder einem Leuchtturm auf der Erde umsehen. Die Philosophie der Aufklärung war sich dieser Denksituation noch sehr anschaulich bewußt, und Kant war nicht der letzte, der für seine "Orientierung im Denken" nach einem "Leitstern", "Leitfaden", "Kompaß" oder einem sonstigen "Leitmittel" suchte. 1697 veröffentlichte Samuel Grosser eine Logik mit dem Titel Pharus intellectus sive logica electiva (Abb. 2). Grosser, der von ChristianWeise und Thomasius beeinflußt ist, repräsentiert eine Strömung der Frühaufklärung, die einerseits "nov-antik" auf Vermittlung und andererseits "politisch" auf Wirkung bei Hofe ausgerichtet war. Sein Titelbild, das die Logik als Leuchtturm des Verstandes anpreist, mahnt jedoch, den richtigen Weg zwischen Scylla und Charybdis zu suchen. Das Schiff der Vernunft, die Noonautica, fährt zwischen den Klippen der Irrtümer (scopuli errorum) und den Klippen der Unwissenheit (scopuli ignorantiae) über die Flut der Vorurteile (fluctus praejudiciorum) in den Hafen der Stadt der Wahrheit (Alethopolis) ein, und zwar vom künstlichen Licht des Leuchtturms des Verstandes, der logica artificialis, eingewiesen. Aber der moderne Hermeneutiker sieht natürlich sofort, daß die Wogen der Vorurteile, über die das Schiff der Vernunft so stolz hinweggleitet, dieses Schiff auch tragen. Offensichtlich ein Eigentor der frühen Aufklärung! Wenn das Schiff der Vernunft in den Hafen der Wahrheit einfährt, richtet sich der Verstand nicht mehr auf Sonne, Mond und Sterne, er gibt sich selber seine Orientierung, und zwar durch das Orientierungsmittel der Logik. Zwar ist das Licht des Leuchtturms keine Lichtquelle, die den Weg erleuchtet, sondern nur ein Lichtpunkt, der als Orientierungspunkt dient. Aber es gibt auch noch andere quasi-technische Orientierungsmittel, die dem Menschen, der sich orientieren will oder muß, dabei behilflich sein können, z. B. der Kompaß, der sich am Nordpol ausrichtet und insofern eine Richtungsangabe liefert, oder der Leitfaden (Ariadnefaden, filum labyrinthi), der, am Ausgang des Labyrinths befestigt, bei genügender Länge einen sicheren Weg (Rückweg) aus dem unübersichtlichen Gewirr der Wege weist. Daher ist es auch nicht erstaunlich, daß die Philosophen immer wieder zwecks besserer Orientierung im Denken nicht 58
nur einen festen Bezugspunkt, z. B. ein Prinzip, sondern auch nach einem geistigen Kompaß oder einem geistigen Leitfaden gesucht haben 1• Und wenn sie sich bewußt waren, selbst erst noch geistige Ordnung schaffen zu müssen, suchten sie (vor allem als Methodiker) auch nach einer Richtschnur oder einem Maßstab, einem Probierstein (kriterion) oder einem Schlüssel (clavis), oder wie die Metaphern, nicht zuletzt noch bei Kant, alle heißen mögen. Und vielleicht sucht so mancher Philosoph auch heute noch, ohne es selber zu wissen, nach dem Stein der Weisen oder glaubt, z. B. als Logiker, im Besitze einer Art Wünschelrute zu sein. Kein Wunder also, daß die Metapher der Wünschelrute zu Beginn der Aufklärung durchaus noch gebräuchlich war, obwohl die Wünschelrute schon damals im Rufe stand, ein eher magisches als technisches Orientierungsmittel zu sein, und daher heftig darüber diskutiert wurde, ob der Glaube an ihre Wirkung ein Aberglaube sei. Wünschelruten sind Wegweiser in die Erde. Eine Wünschelrute braucht der Wahrheitssucher, wenn er sich als Schatzsucher versteht. In diesem Sinne hatte schon Christian Weise seiner Doctrina Logica ein Frontispiz mit einem Wünschelrutengänger beigegeben; allerdings nicht der ersten Ausgabe von 1680, sondern erst der dritten von 1690- möglicherweise als Anspielung darauf, daß bei der Wahl des richtigen Weges, wie sie Thomasius dargestellt hatte, ein Orientierungsmittel nötig sei (Abb. 3). Bei Weise wandelt groß im Vordergrund auf verschlungenen, geradezu labyrinthischen Wegen ein Wünschelrutengänger - ein bärtiger Philosoph, allerdings nicht im Professorentalar, sondern in einfacher Handwerkskleidung. Die Augen in die Ferne oder zum Himmel gerichtet, hofft er, hier und jetzt den richtigen Weg auf der Erde oder vielmehr in die Erde zu finden: er ist auf Schatzsuche. Erste Erfolge sind auch schon erreicht, und zwar mit Hilfe 'philosophischer' Hilfsarbeiter. Eine Seilwinde führt bereits in die Tiefe, eine weitere Grube soll ausgehoben werden, und im mächtig qualmenden Schmelzofen im Hintergrund wird bereits reines Metall hergestellt. Offensichtlich geht es bei dieser Metallgewinnung, wie ein Engelchen per Spruchband vom Himmel herab verkündet, um die Wahrheit: von der veritas quaesita (mit Hilfe einer Schon 1663 hatte Johann Bayer seine Logik als Orientierungshilfe angepriesen, und zwar, wie der barocke Titel zeigt, sogleich in dreifacher Hinsicht, nämlich als Fixpunkt, als Leitfaden und als Lichtspender: Filum labyrinthi, vel cynosura seu Iux mentium universalis. Das Titelkupfer zeigt jedoch hauptsächlich das Sternenbild des Großen Hundes (Cynosura), d. h. des Großen Wagens, und damit den Polarstern als Orientierungspunkt.
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Abb. 3. Christian Weise, Doctrina Logica (1680, 3. Aufl. 1690), 1731
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Abb. 4. Johann Jakob Syrbius, Institutiones philosophiae pnmae novae et eclecticae (1720), 2. Aufl. 1726
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Wünschelrute) zur veritas inventa (mit Hilfe eines Aufzuges) und dann zur veritas probata (mit Hilfe eines Schmelzofens). Die Logik soll es möglich machen. Aus ähnlicher Perspektive hat auch Johann Jakob Syrbius seine Institu· tiones philosophiae primae (1720, 2. Aufl. 1726) mit der Darstellung eines Wünschelrutengängers versehen (Abb. 4) und dabei die Philosophie insgesamt als Bergbauunternehmen charakterisiert. Das Bild baut sich aus mehreren Ebenen auf, von denen die mittlere, die wichtigste, einen Wünschelrutengänger bei seiner Tätigkeit zeigt. Ein Mann in schlichter Kleidung schaut gebannt auf seine Wünschelrute, die ihm den Weg zu den in der Erde verborgenen Schätzen weisen soll. Ebenso konzentriert wie offen für das, was da kommen mag, versucht er sich zum reinen Seismographen der verborgenen Wirklichkeit zu machen: "Nec adfectu nec neglectu." Handwerkszeug für das Ausgraben des gesuchten Schatzes liegt schon in einer Ecke bereit, und offensichtlich sind auch bereits einige Körbe kostbaren Metalls geborgen ("entborgen') worden. Vor allem aber führt im Vordergrund, vom Wünschelrutengänger gleichsam angepeilt, eine Seilwinde in einen (wohl nur für den Betrachter) geöffneten Untergrund: eine Erzgrube, in der, ganz klein, ein zweiter Mann mit beiden Händen arbeitet, daß die Funken fliegen. Der kleine Mann macht sozusagen die Drecksarbeit. Einen Haufen Erz hat er bereits abgebaut, und wahrscheinlich hat er auch die ganze Grube ausheben müssen, während der andere auf weitere Erleuchtungen wartete. Der eine ist im Dunkeln, der andere ist im Licht. Die Frage ist, in welcher Beziehung die beiden Personen zueinander stehen. Ist der zweite Mann nur eine philosophische Hilfskraft, eine Art Hilfsdenker, oder ist er vielleicht auch ein Philosoph, wenn auch eher ein Maulwurf als ein Wünschelrutengänger? Läßt der Wünschelrutengänger-Philosoph einen anderen Philosophen als Grubenarbeiter für sich arbeiten, läßt er sozusagen denken, nämlich 'grübeln' oder 'gründeln'? Vielleicht gibt es zwei Arten von Philosophien oder vielmehr zwei Arten des Philosophierens, Ahnen und Arbeiten. Aber möglich wäre auch, daß der Mann in der finsteren Grube, der 'Grübler', und der Wünschelrutengänger im Hellen und Freien, der 'Seher', sogar ein und derselbe Philosoph in zwei Personen ist. Ein Wünschelrutengänger sucht verborgene W asserquellen, vor allem aber Erzvorkommen und insbesondere das in der Erde verborgene Edelmetall (Silber). Insofern steht das Bild des Philosophen als Wünschelrutengänger im Rahmen der Bergbaumetaphorik, die ihrerseits ein Gegenstück zur älteren Ackerbaumetaphorik darstellt. Aufklärung ist zwar cultura animi, doch scheint sich die Philosophie mit der bloßen Feldbestel-
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lung, dem Säen und Wachsenlassen, nicht begnügen zu wollen; sie scheint eher einem Bergwerk oder Grubenunternehmen zu gleichen, das sich auf die Schätze in der Tiefe richtet. Die Produkte der Philosophie werden nicht im Tagebau gewonnen, Philosophie ist immer auch ein wenig Schatzsuche. Allerdings ist das, was sie durch Glück oder mit Anstrengung ans Licht bringt, in dieser Form meist noch unbrauchbar. Es muß gereinigt und bearbeitet werden, um seinen möglichen Glanz zu erreichen. Aufklärung ist Läuterung (clarificatio). Außerdem ist Aufklärung nicht nur Wahrheitssuche oder Selbstaufklärung, sondern auch Wahrheitsvermittlung oder Aufklärung der anderen, sei es als Information oder als Emanzipation, daher auch immer mehr oder weniger pädagogisch und politisch ausgerichtet, historisch gesehen zunächst mehr pädagogisch, dann mehr politisch. Dieser pädagogische Charakter der Frühaufklärung kann zwar wie seit altersher in der Ackerbau-, aber auch in der Bergbaumetaphorik zum Ausdruck kommen. Dann steht das gesuchte, gefundene und geläuterte Edelmetall nicht mehr für die Wahrheit, sondern für die menschliche Seele selber, die der Kultur, d. h. pfleglicher Bearbeitung, also der Erziehung oder Bildung, bedarf. Das Ziel dieses Prozesses hieß in der Frühaufklärung noch (mit Betonung des Wissens, das den Menschen kundig macht) Gelehrtheit oder Gelehrsamkeit - ein deutsches Ersatzwort für eruditio, das Bildung als Prozeß und Resultat bezeichnen konnte. Eigentlich bedeutet e-ruditio, wie es noch bei Kant im Kontext seiner Aufklärungsdiskussion anklingt, den Ausgang oder das Hinausführen aus der Rohigkeit: Ent-rohung. Aufklärung ist auch Erziehung, Bildung oder Kultur im ursprünglichen Sinn des Wortes. Zwar ist Aufklärung im engeren Sinne als Verbesserung des Verstandes nur ein Moment der Erudition; die Logik ist sogar nur ein Teil der allgemeinen Gelehrsamkeit, wenn auch das sogenannte universale Instrument. Aber der Aufklärungsbegriff tendiert dazu, andere Begriffsinhalte an sich zu ziehen und in sich aufzusaugen. Aufklärung beginnt sich dabei nicht selten mit der Kultur überhaupt zu identifizieren, sich zumindest (wie etwa bei Mendelssohn) als die eine Hälfte der Bildung, als das theoretische Komplement der Kultur zu verstehen. Die Anfänge dieses pädagogischen Selbstverständnisses der Aufklärung (die Deutung der Erziehung als Entrohung, der Bildung als Bearbeitung, der Erziehung als Aufzucht) werden besonders anschaulich sichtbar in dem Kupferstich, der die Protheoria eruditionis von Johann Christian Lange ziert (Abb. 5) und der vom Verfasser selber in einem holprigen Gedicht erläutert wird:
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Abb. 5. Johann Christian Lange, Protheoria eruditionis, 1706
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Erklärung des auf Begehren des Verlegers vorgesetzten Kupffer-Bildes. Was Erudition bey denen Menschen sey? Das zeiget dieses Blatt durchs Vorbild der Metallen: Und leget ihnen hier ein dreyfach Muster bey, Wie selbe nach und nach in beß 'rer Art gefallen. Es wird ein edles Erz zuerst aus finst 'rer Grufft Mit nicht geringer Müh ans Tages-Licht geführet: Doch muß es Rude seyn, und liegt in freyer Lufft; So lange man an ihm sein gutes nicht verspüret. Dann fühlet es zuvor des Feuers starcke Glut, Durch welche sich von ihm die grobe Schlacken scheiden: Und was des Künstlers Hand mit ihm noch ferner thut, Diß alles muß es auch zur Erudirung leiden. Allein, wenn solcher Stand wohl überstanden ist: So findet sich allhier manch köstliches Geräthe, Das mancher Fürsten-Mund mit seinen Lippen küsst; Und körnt als Erudirt doch endlich nicht zu späte. Fragt man, wie dieses Bild sich auf die Menschen schickt: So mag sich die Gebuhrt dem ersten Fache gleichen; Dem zweyten gleicht die Zucht; was Hoffnung hier erblickt, Das kan im dritten Fach die Tugend erst erreichen. Wohl dem, der dieses merckt; dem trifft es herrlich ein: Wer steigen will, der muß der Staffeln sich befleissen. Soll Rudis mit der Zeit ein Eruditus seyn: muß Rudis erst vorher Erudiendus heissen.
Aufklärung ist Arbeit, Erziehungsarbeit, besonders als Aufklärung oder Erziehung der anderen. Daß solche Aufklärung oder Erziehung für den Aufzuklärenden oder Zögling (sei es ein anderer, sei es ich selber) auch ein schmerzhafter Prozeß ist, gehört zu den verlorengegangenen Wahrheiten der deutschen Aufklärung von Thomasius bis Kant, die, anders als z. B. politische Eiferer, nicht im Obskuranten, sondern im Ich selber das größte Hindernis der Aufklärung sahen. Die Beseitigung der äußeren Hindernisse der Aufklärung, obwohl jederzeit nötig, garantiert noch nicht den Erfolg der Aufklärung, da die Menschen nur sehr bedingt aufklärungsfähig oder gar aufklärungswillig sind.
b) Gegenbilder Aufklärungsphilosophie präsentiert sich als Wegwahl, Seefahrt und Bergbau (mit nachfolgender Metallverarbeitung) - nur in die Luft scheint sie nicht gehen zu wollen, obwohl ihre Gegner ihr genau das, nämlich 65
Abb. 6. Andreas Rüdiger, Philosophia synthetica, 1711
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unerlaubten Höhenflug, ständig unterstellen. Die Aufklärer selbst verstanden sich nicht als Luftwandler und beabsichtigten auch keinen neuen Ikarusflug, sie wollten nur die Erde richtig bzw. besser einrichten. Fliegen ist daher keine Aufklärungsmetapher. Wohl aber gibt es noch ein anderes Gegenstück zum philosophischen Untertagebau, dem Wühlen im Dunkeln und der danach folgenden Bearbeitung, den Schmelz- und Schmiedeprozessen: die Philosophie als freie Konstruktion, die Errichtung eines geistigen Gebäudes gemäß der Architektonik der Vernunft oder nach eigenen individuellen Vorstellungen. Philosophie ist philosophia architectonica und daher erst einmal Fundamentalphilosophie. Doch so verbreitet die Vorstellung von einem Gebäude oder dem Gebäude der Philosophie heute sein mag, ihre eigentliche Konjunktur begann erst in der Neuzeit, nämlich mit der Entwicklung des modernen Systemgedankens und der darin implizierten Deutung der Philosophie als einer Errichtung von Systemen, und dieser Gedanke setzte sich erst allmählich, z. T. gegen deutliche Widerstände, durch. Daher fallen die Rückgriffe auf die Gebäudemetapher in der frühen Aufklärung noch relativ traditionell aus. Sie sind im allgemeinen durch andere Gesichtspunkte bestimmt. Die Philosophie kann dabei als Tempel der Wahrheit bzw. Weisheit oder als Babylonischer Turm, ja sogar als ein Ladengeschäft erscheinen. Der Vergleich der Philosophie mit einem Geschäft oder einer "Handlung", wie man im 18. Jahrhundert noch sagte, ist alt. Schon Sokrates fragte sich: Was ist dein Geschäft (pragma)? Auch Kant und Hegel sprechen noch ungeniert vom "Geschäft der Philosophie". Sehr viel pointierter hingegen stellt sich Andreas Rüdiger am Anfang des 18. Jahrhunderts in der Handels- und Messestadt Leipzig die Philosophie als ein richtiges Verkaufsgeschäft vor. Die Philosophie, die sich mitteilen will, ist wie ein Laden, in dem etwas verkauft wird und in dem man etwas kaufen kann - und dies durchaus nicht in dem abschätzigen Sinn, in dem Voltaire später die Kirche eine boutique nannte. Das Frontispiz der Rüdigerschen Philosophia synthetica von 1711 stellt ganz auf den Gegensatz von alt und neu ab (Abb. 6). Es ist also nicht mehr der kritisch, eklektisch oder synthetisch, zu überwindende Gegensatz zwischen Aristotelikern und Cartesianern, sondern bereits der ausschließende Unterschied zwischen der neuesten Philosophie und aller bisherigen Philosophie überhaupt. Rechts im Schatten eines schönen neuen Gebäudes der dunkle und unordentliche Trödelladen eines obskuren Altwarenhändlers (Veterarius) mit seinem alten Kram, den traditionellen Theorien - eine Art philosophischer second-hand-shop, in den niemand mehr kommt. Links das 67
Abb. 7. Dieterich Hermann Kemmerich, Neueröffnete Akademie der Wissenschaften Bd. I, 1711
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helle und wohlaufgeräumte Magazin des Neuerers (Novator), der nur das Neueste und Schönste zu bieten hat - ein selbstbewußter und freundlicher Mann, bei dem, wie man an den adretten Herren sieht, nur anständige Kundschaft einkauft. Die neuen Stoffe gefallen der Sache wie dem Aussehen nach ("Re specieque placent"), den alten Lumpen hingegen mangelt es an Qualität wie an Gefälligkeit ("Re specieque carent"). Die frühe Aufklärung scheint sich ihres Sieges schon sehr sicher zu sein. Mit ihr ist die neue Zeit 2 • Rüdigers Kupfertitel ist betont antithetisch aufgebaut, nicht nur formal, sondern auch inhaltlich. Zwar sind fast alle Bilder irgendwie durch Gegensätze strukturiert, insofern ihre ästhetische Komposition auf Unterscheidungen wie hell und dunkel, Vordergrund und Hintergrund usw. beruht. Aber Rüdigers Bild der alten und der neuen Philosopie stellt darüber hinaus oder vielmehr im vorhinein auch eine inhaltliche Alternative auf - um dem Betrachter die sachlich notwendige Entscheidung für die neue Philosophie dann auch ästhetisch zu demonstrieren. Eine solche materiale Alternative muß jedoch nicht unbedingt in jedem Bild sichtbar gegenwärtig sein, sie kann auch sozusagen unsichtbar vorhanden sein. Ein Bild kann ein Gegenstück zu einem anderen unsichtbaren Bild sein, dessen Bekanntheit beim Betrachter mehr oder weniger vorausgesetzt wird; in diesem Fall ist es eo ipso ein Gegenbild. So läßt zum Beispiel Dieterich Hermann Kemmerich, Anhänger von Thomasius und Direktor einer Ritterakademie, auf dem Frontispiz seiner Neueröffneten Akademie der Wissenschaften I (1711), die sich vornehmlich an den Adel wendet, nur noch den Tempel der modernen, lebenspraktischen Wissenschaft darstellen (Abb. 7). An die Stelle des bekannten, hier nicht mehr reproduzierten mittelalterlichen Turmes der Wissenschaften ist ein großer klassizistischer Kuppelbau getreten, ein höfisches Pantheon oder eine Art profane Peterskirche der Weltweisheit. In den Nischen des Gebäudes stehen die Personifikationen der für vornehme Leute relevanten Wissenschaften: im Erdgeschoß die Basiswissenschaften: rechts (von innen nach außen) die Historia und die Eloquentia, links (von innen nach außen) die Philosophie und als Symbolfigur einer neuen Kunst die 2
Rüdigers Selbstbewußtsein kommt auch auf dem Titelkupfer seiner Schrift De sensu veri et falsi (1709, 2. Aufl. 1722) zum Ausdruck. Philosophie wird hier, unter Anspielung auf die alttestamentlichen Vergleiche Gottes mit einem Töpfer, als eine Art Töpferkunst verstanden. In einem Haufen verrückt gewordener Töpfer, die ihre eigenen Produkte zerschmettern, gibt es offenkundig nur einen vernünftigen Mann, nämlich Rüdiger, der sich über diesen Wahnsinn entsetzt. "Frustra crepitante furore quo ruitis figuli!"
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Abb. 8. Gottfried Polycarp Müller, Philosophia facultatibus superioribus accomodata, 1718
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Sprachmeisterin, Linguarum Magistra; im oberen Stockwerk, der standesgemäßen Bel-etage, die Personifikationen der oberen Fakultäten: rechts die Medizin, links dieJurisprudenzund in der Mitte, leicht erhöht, die Theologie. Die Bedeutung dieser Wissenschaften für einen gebildeten Adel symbolisieren die frei auf dem Dachgeländer stehenden Figuren: links die kriegerische Göttin Pallas Athene, rechts Hermes, der Gott des Handels, auf der Spitze der Kuppel als Lichtfigur Apollo, der Gott der Musen. Der ehemals kriegerische Adel muß anscheinend lernen, auch ökonomisch zu denken - aber der moderne Weisheitstempel möchte auch noch ein Musentempel sein. In der Eingangshalle mit der Aufschrift "Templum Sapientiae" ist ein Altar aufgestellt, auf dem jetzt anscheinend die Weisheit in persona angebetet wird: als hüllenlose Wahrheit, mit dem Spiegel der Selbsterkenntnis in der erhobenen Hand, nun aber zwischen zwei Kerzen, eine Art Meßbuch zu ihren Füßen - anscheinend eine frühe Vorform des späteren Kults der Vernunft. Im Vergleich mit diesem modernen und stolzen Tempelbau muß das Titelkupfer der Philosophia facultatibus superioribus accomodata (1718) von Gottfried Polycarp Müller, der ebenfalls von Thomasius beeinflußt ist, zunächst verblüffen: ausgerechnet der Babylonische Turm, das alte Symbol für die Eitelkeit menschlichen Bauens, das allzu hoch hinaus will, dient hier als Eingangsbild eines philosophischen Lehrbuchs (Abb. 8). Soll also die Philosophie als eine überhebliche Konstruktion denunziert werden? Hinzu kommt noch, daß das Spruchband, das vom Himmel zur Erde hinabläuft, nachdrücklich die Eigenmächtigkeit und Selbstherrlichkeit der menschlichen Vernunft anprangert. "Haec est magna Babel, quam ratio aedificavit in domum regni sui, et in gloriam decoris sui." Das klingt nach altchristlicher Vernunftkritik und nach moderner Aufklärungskritik zugleich. Aber wozu schreibt Müller dann eine Philosophie und preist sie allen Fakultäten an, wenn er sie schon vorab denunziert oder renunziert? Ein Titelkupfer als retractatio oder reprobatio? Offensichtlich soll der Babylonische Turm gerade das Gegenbild der von Müller intendierten wahren (neuen) Weltweisheit darstellen, nämlich das Gebäude der falschen (alten) Weltweisheit- möglicherweise sogar mit einer Spitze gegen Kemmerich. Die winzigen Hinweisschilder an den verschiedenen Stockwerken des Gebäudes machen deutlich, was hier kritisiert wird. Das alles tragende Untergeschoß ist das Gemäuer der antiken Philosophie, der Sectae Graecae, auf dem die in sich zerstrittene philosophia scholastica (Schol. et Neoschol.) errichtet wurde. Ihr folgen die Etage der alchemistischenund mystischen Philosophie (Chym. et Spirit.) sowie die Etage der modernen mathematischen Philosophie (Math. 71
et Cartes.). Das letzte fertige Geschoß, das schon in einen dunklen Himmel ragt, scheint unbeschriftet zu sein. Hat die neueste Torheit noch keinen Namen? Pie "Praefatio" der Philosophia facultatibus superioribus accomodata bestätigt diese Interpretation bis zu einem gewissen Grade. Die Philosophie, so führt Müller aus, ist die T achter der Vernunft und hat daher auch an deren Verderbnissen teil. Ohne Tugend und Frömmigkeit, d. h. ohne Demut, gibt es nämlich keine richtige Vernunft. Es ist allereitelster Ehrgeiz, daß ein jeder sich für den Weisesten hält und alle Andersdenkenden bekämpfen zu müssen glaubt. "Hinc omnes sectae philosophicae, et sectarum contentiones! ita ut tanta confusio sententiarum, quanta linguarum, babylonica fere prodierit" (§ 1). Die philosophischen Sekten, die aus bloßem Hochmut und aus streitsüchtiger Vernunft entstanden sind, türmen sich, eine Sekte auf der anderen, zum Himmel. Zwei sind es vor allem, die sich bemühen, ihre Herrschaft den demütigen und integren Geistern aufzudrücken, nämlich die Dogmatiker und die Skeptiker, die sich seit jeher bekämpfen und sich gegenseitig für verrückt erklären. Zwischen ihnen führt kein sicherer Weg hindurch, "nisi mediocritate modesta". Damit wechselt Müller unversehens die Metapher und verlangt nun, wie später noch Kant, für die Philosophie eine "via media" zwischen Skeptizismus und Dogmatismus, wobei er natürlich glaubt, selber frei zu sein vom "sectarius genius dogmatico-scepticus". Der wahre Mittelweg ist der Weg der Weisheit, die sich am Leben selber orientiert und die den auf die verschiedenen vitae genera bezogenen Fakultäten dient. "Sapientia distinguit necessaria ac utilia vitae a nimiis contemplationibus . . . Ratio autem suapte natura superba est ... " (§ 3, vgl. § 2). Aus dieser religiösen Kritik heraus erklärt Müller nun auch den Titel und das Frontispiz seines Buches als Kritik am Sektengeist und als Aufruf zur Bescheidenheit. "Unde mihi titulus, et pictura titulo praemissa enata est, qua nemini insultare, verum sectariae rationis genium ostendere, et Ieetorern philosophum modestiae in sentiendo et judicando admonere volui"
(§ 4).
Fast noch traditioneller als die Darstellung der Wissenschaft in Form eines Gebäudes ist ihre Veranschaulichung durch Figuren, die frei als Personifikationen der Wissenschaften auftreten. Solche Figuren können, wenn man sie zu Figurengruppen kombiniert, Beziehungen und nicht zuletzt auch Gegensätze (z. B. Tugenden und Laster) symbolisieren oder allegorisch repräsentieren. Seit dem Mittelalter ist daher mit Hilfe solcher meist hierarchisch geordneter Personengruppen die Rolle der Philosophie wie auch ihrer Teile im Verhältnis zu anderen Wissenschaften und 72
zu den artes liberales dargestellt worden. Dieses Motiv liegt auch noch dem Frontispiz zugrunde, das die 1734 erschienene Vernunftlehre von Adolph Friedrich Hoffmann schmückt (Abb. 9), und auch hier sind die Akzente bzw. Akzentverschiebungen das eigentlich lnteressante3 • Der Auftritt der Wissenschaften erfolgt nämlich auf einer Art Bühne, vor einer exotisch anmutenden Landschaft: d. h. vor der Wirklichkeit, in der nicht nur theoretisch diskutiert, sondern wirklich um Leben und Tod gekämpft wird, und wo es, wie eine kleine zum Himmel flehende Gestalt anzudeuten scheint, auch keine Gnade gibt. Die Bäume, Bauten und Zelte einerseits sowie die Darstellung der Personen andererseits lassen vermuten, daß sich die kriegerischen Szenen in einem fernen Land abspielen, aber wahrscheinlich nicht im Rahmen eines hier kritisierten Kolonialkrieges, sondern als Kampf zwischen Barbaren - im Unterschied zu der Kultur der friedlichen Konkurrenz der Wissenschaften auf der akademischen Bühne der Weltweisheit. Die Kultur (und nicht nur die cultura animi) scheint Fortschritte zu machen. Auf der Plattform der Wissenschaften erscheint jedenfalls eine friedliche, in verschiedenen Reihen aufgebaute und aufeinander bezogene Personengruppe von insgesamt sechs weiblichen Figuren. Die hinteren vier repräsentieren die vier Fakultäten, die mehr oder weniger gleichberechtigt nebeneinander stehen. Rechts die Philosophie, wie im Anschluß an Boethius üblich, mit Büchern und Szepter; ihr zu Füßen stehen jetzt, wohl als Zeichen ihrer neuen naturwissenschaftlichen Ausrichtung, ein Erd- und ein Himmelsglobus. Daneben die Medizin mit ihren Attributen, Äskulapstab und Kolbenglas. Etwas zurückgesetzt, merkwürdig klein und puppenhaft, mit Flügelehen fast wie ein Amor, schwebt die Justitia mit Schwert und Waage, die Augen verbunden- möglicherweise eine Kritik am Übergewicht der Jurisprudenz im Thomasianismus. Als vierte Figur, erstaunlicherweise von allen am meisten in den Vordergrund gerückt, die Theologie, martialisch bewehrt mit einem Stab in der rechten und einem Rutenbündel in der linken Hand, Zeichen ihrer Herrschaft oder Verkündigungsmacht sowie ihrer Strafgewalt. Neben ihr auf dem Tisch, wie abgelegt, eine Bischofsmütze und eine Krone, wohl Zeichen ihrer kirchlichen und weltlichen Macht. Am äußersten linken Rand dann, fast ganz im 3
Allerdings bedient sich Hoffmann im Text einer ganz anderen Bildersprache, um das Verhältnis der Philosophie zu den anderen Wissenschaften, insbesondere zu den sogenannten höheren Fakultäten zu beschreiben. Er vergleicht das System der Wissenschaften mit einem Baum, dessen Stamm die Philosophie bildet, und mit einem Körper, in dem die Philosophie als Herz für den Blutkreislauf sorgt.
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Abb. 9. Adolph Friedrich Hoffmann, Vernunftlehre, 1734 74
Abb. 10. Christian August Crusius, Entwurf der notwendigen Vernunftwahrheiten, 1745 (Repr. 1963)
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Vordergrund, die Logik selber, w1e üblich mit Blumenszepter und Schlange als Zeichen ihrer Milde und Klugheit; um ihren rechten Arm windet sich eine Schärpe mit der traditionellen Aufschrift "Verum et Falsum". Sie ist der eigentliche Mittelpunkt der Szene. Während sie den Blick zum Himmel der ewigen Wahrheiten richtet, schauen alle anderen Personen mehr oder weniger auf sie hin. Vor allem aber blickt eine merkwürdige, im Vordergrund sitzende Figur zu ihr auf: eine Art geflügelter T odesengel, mit Sense und Sanduhr ausstaffiert, vermutlich die Zeit oder die Vergänglichkeit. Sie versucht die von der Logik verkündeten ewigen Wahrheiten aufzuschreiben, scheint also das Zeitlose ins Vergängliche transponieren zu wollen. Oder wird die Vergänglichkeit, die ihre Attribute anscheinend weggelegt hat, um schreiben zu können, durch die Wahrheiten der Logik aufgehoben? Leider kann man nicht lesen, was sie aufgeschrieben hat. Hoffmanns bedeutender Schüler Christian August Crusius hat das Motiv des Gegensatzes von Zeit und Ewigkeit noch einmal, etwas vereinfacht, aufgenommen, seine Darstellung (Abb. 10) allerdings, mit deutlich religiöser Wendung, nicht der Logik, sondern seiner Metaphysik vorangestellt (Entwurf der notwendigen Vernunftwahrheiten, wiefern sie den zufälligen entgegengesetzet werden 1745, Repr. 1963). Unter einer strahlenden Sonne mit eingeschriebenem Tetragramm, die Gott repräsentiert, steht auf einem kleinen gemauerten Podest ein großer geflügelter Chronos mit Sense und Stundenglas, der wie fragend auf ein entrolltes Pergament zeigt, das die andere Figur des Bildes in den Händen hält. Diese Frau, zu deren Füßen mathematische und naturwissenschaftliche Instrumente liegen und über deren Kopf eine Art Heiligenschein schwebt, ist, nach ihren Attributen (Spiegel und Schlange) zu urteilen, die Klugheit oder die Logik. Aber das Blatt, das sie entfaltet, zeigt eine Abbildung des Sonnensystems, d. h. es verweist auf den Kosmos als Sinnbild der Seinsordnung. Die Schlußfolgerung aus der abgebildeten Weltordnung steht gleich dabei: "Ex his creatorem." Gott soll aus seinen Werken erkannt werden. Zugleich verkündet der Spruch auf dem Gemäuer die Herrschaft der ewigen Wahrheiten der Logik bzw. der Metaphysik über die Veränderungen im Vergänglichen. "Constantibus regitur vicissitudo." Die Antithese (hier von Wechsel und Beständigkeit) wird also wie meist zugunsten einer Seite aufgelöst. Der schlichte Aufbau von Crusius' Titelkupfer kann sich nicht mit den beiden antithetischen Doppelbildern messen, die, eine Generation zuvor, Thomasius sich ausgedacht hatte. Sie sind Gegenbilder auch in dem Sinn, daß sie aus jeweils zwei, inhaltlich einander entgegengesetzten Bildern 76
bestehen, die wie mittelalterliche Tugend- und Lasterdarstellungen einander gegenüber oder wie hier übereinander gestellt werden, wobei jedes Bild in sich jeweils eine bestimmte Kombination von Tugenden bzw. Lastern darstellt. Diese Bilder sind so sehr im Geiste von Thomasius' Philosophie ausgetüftelt, daß ihre Konzeption eigentlich nur vom Autor selber stammen kann. Das eine hat die Frömmigkeit, das andere die Gerechtigkeit zum Thema. Das 'religionsphilosophische' Doppelbild schmückt den ersten Band von Thomasius' vermischten Gedanken und Erinnerungen, die er Ver· nünftige und christliche, aber nicht scheinheilige Thomasische Gedanken und Erinnerungen über allerhand gemischte philosophische und juristische Hän· del (Erster Teil 1723) nennt. Damit setzt er, indem er sich betont gegen
die falsche Religiösität wehrt, einen neuen Akzent in seinem Kampf für Aufklärung, und sein Frontispiz illustriert genau diesen Kampf für einen wahren ("philosophischen") Glauben gegen Orthodoxie und Pietismus. Das Titelkupfer (Abb. 11) besteht nämlich aus zwei komplementären Bildern, die den Gegensatz zwischen der Pietas vera et rationalis und der Pietas stulta et irrationalis mit den beiden möglichen Ausgängen des Kampfes zeigen. Die Begriffe rationalis bzw. irrationalis werden dabei als Wert- oder Normbegriffe gebraucht, ebenso wie der Begriff wahr (verus) und der Begriff töricht (stultus), der hier als Gegenbegriff zu wahr benutzt wird. Hintergund dieser Verwendung des Terminus Torheit (Narrheit) ist, wie schon bei der Entgegensetzung der Weisen (sapientes) und der Narren (stulti) in Thomasius' Fundamenta juris naturae et gentium, die christliche Auffassung der stultitia als Sünde, wie sie sich aus dem biblischen Gleichnis von den törichten Jungfrauen, aber auch aus der aristotelischen Definition der Klugheit als Tugend entwickelt hat. Auf dem Boden dieser christlichen Tradition entfaltet Thomasius' Doppelbild nun die moderne ("rationalistische') Idee einer vernünftigen Frömmigkeit im Sinne eines vernünftigen Christentums: eine Art philosophische Moritat in zwei Bildern. Das obere Bild zeigt den erhofften Sieg der Pietas vera et rationalis. Die Frömmigkeit thront in der Mitte, eine Art Christus triumphans in Frauengestalt, in der rechten Hand das Kreuz, in der linken Hand ein aufgeschlagenes Buch, die Bibel. Sie fordert mit einem biblischen Spruch zur Freiheit bzw. Selbstbefreiung, also, modern gesprochen, zur Mündigkeit oder Selbstemanzipation auf. "Seyd nicht wie Roß und Mäuler", die ohne Verstand sind, wie es im Alten Testament (Psalm 32,9) weiter heißt, d. h. laßt euch nicht, von wem auch immer, wie die Pferde und Maulesel am Zügel führen. Der Wille zur geistigen Selbständigkeit motiviert sich hier noch religiös als Freiheit eines Christenmenschen. Unter dieser auf77
Abb. 11. Christian Thomasius, Gemischte philosophische und juristische Händel Bd. I, 1723
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klärerischen Pietas windet sich die gestürzte Scheinheiligkeit, die fromme Heuchelei (Hypocrisis). Zur Rechten und zur Linken der Pietas, sozusagen als ihre Adjutantinnen, sitzen Vernunft und Klugheit. Die Ratio, die ihren Fuß auf die besiegte Unvernunft (Irrationalitas) gesetzt hat, legtwohl zum Zeichen des Selbstdenkens - den Zeigefinger der linken Hand an die Stirn, während ihre rechte Hand auf ihre Stützen, die Bücher der Logik, der Sittenlehre und des Naturrechts, weist. Die Klugheit (Prudentia) hingegen, die ihren Fuß auf die besiegte Einfältigkeit (Simplicitas im negativen Sinn) gesetzt hat, hält in ihrer Rechten ihre traditionellen Attribute, Spiegel (Reflexion) und Schlange (Schlauheit), während sie mit der Linken auf die Bücher zeigt, die die Historia ecclesiastica et civilis und die errores patrum enthalten, d. h. sie verweist auf die Geschichte und die aus den Irrtümern der Geschichte gewonnene Erfahrung, deren sie sich bedient. Das untere Bild zeigt die entgegengesetzte Situation, den (vorläufigen) Sieg der Pietas stulta et irrationalis - allerdings mit einer wichtigen Abweichung. In der Mitte sitzt nun die triumphierende Scheinheiligkeit und ringt heuchlerisch die Hände. Ihre Maxime, die ebenfalls aus der Bibel stammt, lautet: "Ich danke dir Gott, daß ich nicht bin wie andere Leute." Rechts von ihr sitzt eine etwas cholerisch anmutende Irrationalitas, welche worthörig und lautstark "clara verba" fordert bzw. von sich zu geben behauptet. Zu ihren Füßen liegen ihre Hauptstützen, die Bücher der Kirchenväter, die Konzilsbeschlüsse und die formulae fidei. Links von der Hypocrisis döst die Einfältigkeit vor sich hin; ihre Bücher sind das Leben der Heiligen Theresa, die Theologia mystica und irgendwelche (wahrscheinlich jesuitische oder pietistische) Regulae vitae, also die Anleitungen zu einer versponnenen oder bloß äußerlichen Frömmigkeit. Vernunft und Klugheit liegen nun gestürzt am Boden. Aber nicht die lrrationalitas setzt ihren Fuß auf die darniederliegende Ratio, wie es die Logik der Umkehrung des oberen Bildes erfordern würde, sondern die Scheinheiligkeit selber, die ihren Fuß eigentlich auf die Frömmigkeit setzen müßte. Doch liegt die arme gestürzte Vernunft so unglücklich zwischen Unvernunft und Scheinheiligkeit, daß sie von beiden getreten werden kann, und die Unvernunft scheint gerade zu einem Fußtritt auszuholen. Die Frömmigkeit hingegen, die wahre, christliche und vernünftige Frömmigkeit, ist verschwunden. Da sie nicht wirklich besiegt werden kann, muß sie wohl außerhalb des Bildes auf bessere Zeiten warten. Oder sie war, wenn man erst das untere und dann das obere Bild liest, bisher noch nicht da und triumphiert nun endlich - im Zeichen der beginnenden Aufklärung. 79
Abb. 12. Christian Thomasius, Auserlesene juristische Händel Bd. I (1720), 2. Aufl. 1723
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Thomasius' gegenbildliehe Darstellung der vernünftigen und der unvernünftigen Frömmigkeit ist ein gestrafftes Gegenstück zu einem anderen ("rechtsphilosophischen') Doppelbild, auf dem er den Unterschied zwischen wahrer Gerechtigkeit und bloßer Verleumdung dargestellt hat (Abb. 12). Es ist dem ersten Teil seiner juristischen Erinnerungen vorangestellt (Ernsthafte, aber doch muntere und vernünftige Gedanken und Erinnerungen über allerhand auserlesene juristische Händel, Erster Teil 1720, 2. Aufl. 1723). Auf dem oberen Bild thront die Justitia mit ihren bis heute bekannten Symbolen, umgeben von vier Tugenden: zu ihrer Rechten Wachsamkeit (Vigilantia) und Enthaltsamkeit (Abstinentia), zu ihrer Linken Klugheit (Prudentia) und Mäßigung (Moderatio). Ihren rechten Fuß hat sie auf ein Buch gesetzt, das die überwundene Ars rabulistica, die Kunst der Rechthaberei, enthält. Die Prudentia hält mit ihrer rechten Hand den Spiegel der Selbstbesinnung hoch, wä):lrend sie mit der anderen Hand, als Mahnung zur Vorsicht, einen Finger auf das Schwert der Justitia legt; ihren Fuß hat sie auf einen Eselskopf, die besiegte Dummheit, gesetzt. Entsprechend hält auf der anderen Seite die Vigilantia einen Finger an die Waage der Justitia, während sie in der rechten Hand als Zeichen ihrer Belesenheit ein Buch hält; zu ihren Füßen liegen u. a. Würfel und Spielkarten, die sie, wie man sieht, nicht abzulenken vermögen. Die Moderatio hält in der einen Hand ein Herz, in der anderen eine Rute, die wohl als Zeichen für lebendige Beherztheit einerseits und Zucht und Ordnung andererseits stehen; unter ihren Füßen ist noch der Kopf eines löwenähnlichen Untiers, der besiegten Begierde, sichtbar. Die Abstinentia hingegen, auf deren Schoß ein friedliches Lamm, vermutlich die Unschuld darstellend, zu schlafen scheint, kann ihren Fuß mit Ruhe auf ein weiches Kissen setzen und doch zugleich einen fetten Mann (möglicherweise einen lüsternen Mönch) abweisen, der ihr einen Pokal und auf einem Tablett ein kaninchenartiges Tier anbietet, womit er sie wohl nicht nur zur Schlemmerei sondern auch (symbol~siert durch das Kaninchen) zu sexuellen Ausschweifungen verführen möchte. Das fröhliche Fazit des züchtigen Bildes lautet: "Hinc illa gaudia!" Das untere Bild stellt demgegenüber mit Hilfe von bösen und barbusigen Frauen die traurige Gegenszene dar. In der Mitte thront nun statt der Gerechtigkeit die Rechtsverdrehung (Calumnia), mit den Attributen der Macht (Schwert) und Falschheit (Schlange) ausgestattet und von vier Lastern umgeben. Sie tritt das göttliche und menschliche Recht mit Füßen. Zu ihrer Rechten befinden sich die Nachlässigkeit (Negligentia) und die Begehrlichkeit (Aviditas), zu ihrer Linken die Stumpfsinnigkeit (Stupiditas) und als Gegenstück zur Moderatio eine Gestalt, die unter der 81
Überschrift "Summum Jus" die maßlosen Rechts- und Machtansprüche des absoluten Staates zu vertreten scheint; sie hält in jeder Hand ein Schwert - anscheinend eine Kritik am Übermaß der absolutistischen Staatsmacht. Ihr rechter Fuß tritt auf ein Herz - ein Zeichen ihrer Unempfindlichkeit. Die Stupiditas neben ihr hält hingegen in beiden Händen ein Blatt Papier, auf dem jedesmallediglich "Ja Ja" steht; während sie auf die Calumnia starrt, zertritt ihr linker Fuß einen Spiegel, das Zeichen der Klugheit und Selbstreflexion. Die Negligentia, die auf der anderen Seite nackt auf einem Bett entschlummert, scheint mit der einen Hand ihre Augen zu bedecken, während sie in der anderen Hand einen Käscher oder Kerzenlöscher hält, mit dem sie wohl ihr eigenes Geisteslicht ausgelöscht hat. Zu ihren Füßen liegt ein Spruchband, auf dem sich die juristischen Fristen summieren: das Ende (Terminus), die Zehntagesfrist (Decendium) und die sogenannten Notfristen (Fatalia); offensichtlich ist ihr durch Unachtsamkeit oder Faulheit selbstverschuldetes Ende nahe. Die Aviditas neben ihr hält jetzt in der linken Hand den Pokal, den die Abstinentia abgewiesen hatte, und in der rechten Hand anscheinend einen Geldbeutel. Auf ihrem Schoß hockt das Kaninchen, als Zeichen für ungezügelte Vermehrungslust, während ihr Fuß auf das unschuldige Lamm tritt. Die traurige Bilanz des Bildes lautet: "Hinc illae lacrymae!" Dieser von T erenz übernommene Spruch will nicht nur eine Beschreibung, sondern auch eine Erklärung geben: Hier liegt die Wurzel des Übels, nämlich (nach Thomasius) in der Verleumdung oder Rechtsverdrehung, also in der absichtlichen Ungerechtigkeit. Entsprechend enthält der Gegenspruch "Hinc illa gaudia", der wohl auf Thomasius selber zurückgeht, sozusagen seine eigene Botschaft: Nur die Gerechtigkeit führt zum Glück. Die Aufklärung kennt ihre Gegner - ihre Gegenbilder sind letztlich, direkt oder indirekt, Bilder von Gegnern. Die gegenbildliehen Frontispizien dieser philosophia militans sind daher nicht nur wie eh und je antithetisch aufgebaut, um allgemein die Unterschiede zwischen gut und böse, ewig und vergänglich, Kultur und Barbarei usw. zu verdeutlichen; sie dienen auch dazu, einen bestimmten, identifizierten Gegner zu bekämpfen: die alte Philosophie der Schule oder die neue Scheinheiligkeit des Pietismus, den Hochmut des Geistes oder die Unmoral der Macht bzw. die Macht der Unmoral. Zugleich proklamieren diese Aufklärungsallegorien, als Aufklärung durch Anschauung, die Ideale der neuen Zeit: eine moderne, weltoffene, aber auch fromme Philosophie, eine vernünftige Frömmigkeit und eine selbstkritische Justiz und damit letztlich auch eine Selbstbescheidung des Staates. 82
c) Im Sonnenlicht Das bekannteste Symbol der Aufklärung ist die Sonne. Als Quelle allen Lichts und Lebens ist sie, nachdem sie ursprünglich selber als Gottheit verehrt worden war, ein uraltes Symbol Gottes. Entsprechend alt ist auch die Lichtmetaphorik der Philosophie, die wesentlich auf dem Vergleich des Erkennens mit dem Hellwerden bzw. Hellmachen beruht; seit Platon symbolisiert die Sonne das höchste Prinzip allen Seins und Erkennens, während die Vernunft später als lumen naturale zum Gegenstück des Lichts der Offenbarung wird. So gibt es denn auch schon vor der Aufklärung eine äußerst variantenreiche Lichtmetaphorik, im 17. Jahrhundert vor allem bei den vielen Anhängern der Mystik, Theosophie und Kabbala, so daß die Aufklärungsmetaphorik geradezu als eine Transformation ('Säkularisierung') solcher 'christlichen' bzw. 'jüdischen' Traditionen erscheinen kann. Aber Aufklärung ist keine übernatürliche Erleuchtung, auch keine naturalisierte übernatürliche Erleuchtung, sondern Erkenntnis und Erkenntnismitteilung unter bewußter Beschränkung auf das natürliche Licht des Verstandes; sie beruht auf einer Wiederverselbständigung der sich selbst als Erkenntnisquelle verstehenden Vernunft. Daher ist es in diesem Zusammenhang nicht uninteressant, daß neben der Sonne immer wieder auch künstliche, vom Menschen verfertigte Lichtquellen als Metaphern der Aufklärung herangezogen werden, z. B. außer dem bereits erwähnten Leuchtturm auch die Kerze und dann vor allem die Fackel, die zwar die Nacht erhellen, aber auch die Welt in Brand stecken kann. Zunächst und zumeist ist es jedoch die Sonne, die als Licht die Nacht oder die Wolken ablöst - sei es im Sinne eines Nacheinander (Post nubila Phoebus), sei es im Sinne eines Auseinander (Ex tenebris clarior). Im Rahmen der Frühaufklärung scheint der Thomasius-Schüler Nikolaus Hieronymus Gundling der erste gewesen zu sein, der sich die elementare Sonnenmetaphorik für den neuen Geist der Philosophie nutzbar gemacht hat. Bei ihm bekommt die Sonne, deren etwas schmuckloses Bildehen die Gundlingiana seit 1715 ziert, eine neue dynamische Funktion (Abb. 13). Während sie in alten Emblemata-Sammlungen, die möglicherweise als Vorlage gedient haben, vor allem die alte Weisheit illustriert, daß es nach dem Regen besonders schön ist, vertreibt sie bei Gundling die Wolken (nämlich die Irrtümer und Vorurteile), und zwar programmatisch zukunftsgerichtet: "Dispellam". Aufklärung als philosophia militans! Gundlings Verwendung der Sonne als Symbol einer neuen Zeit, als Metapher für den geistigen Fortschritt der beginnenden Aufklärung,
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Abb. 13. Nikolaus Hieronymus Gundling, Gundlingiana Bd. I, 1715 u. ö.
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Abb. 14. Christian Thomasius, Vorrede zu Francis Hutchinson, Historischer Versuch von der Hexerei, 1726
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scheint bei seinen Zeitgenossen, nicht zuletzt bei W olff und seiner Schule, Eindruck gemacht zu haben; auch seine mit der Sonne verknüpfte Parole "Dispellam" hat Nachfolge gefunden. Thomasius selber hat das Motiv der energisch das Dunkel vertreibenden Sonne von seinem Schüler übernommen, zwar nicht für ein eigenes Werk, wohl aber für die von ihm eingeleitete Übersetzung von Francis Hutchinsons An Historical Essay concerning Witchcraft, die 1726 unter dem Titel Histo· rischer Versuch von der Hexerei erschien (Abb. 14t Das Frontispiz zeigt im Mittelpunkt eine noch jugendliche weibliche Figur, eine Art Friedensengel mit Palmenzweig, ganz von einem Strahlenkranz wie von einem überdimensionalen Heiligenschein umgeben, offensichtlich eine Personifikation der Wissenschaft oder der Vernunft bzw. des Fortschrittes durch Verstand, also der Aufklärung. Diese ebenso huldvolle wie gebieterische Aufklärung spricht - wie bei Gundling die Sonne ein machtvolles "Dispellam" und zertritt dabei mit ihren Füßen zwei komisch hilflose Schreckgespenster, die mit schwach erhobenen Händen noch um Gnade zu flehen scheinen, den Teufel mit seinen Masken (bzw. den Aberglauben mit seinen T eufelsmasken) und die gestürzte falsche Justitia. Es ist eine parteiische Justitia ohne die Binde, die ihr helfen soll, ohne Ansehen der Person zu richten; ihr Kleid ist blutbefleckt von den vielen Justizmorden, die sie verschuldet hat. In der rechten Hand hält sie noch das Schwert, in der linken aber eine Geldbörse, mit der sie sich bei den Hexenprozessen bereichert hat. Die Waage der Gerechtigkeit ist ihr dabei aus den Händen gefallen und liegt nun am Boden. Der Spuk, mit dem die Aufklärung zu kämpfen hat, ist an den dunklen Bildrändern, die noch nicht von den Strahlen der Aufklärung erhellt sind, zu sehen: links die Fabeleien der Antike, rechts die neueren Zaubergeschichten. Links unten ein bocksbeiniger Teufel mit einer Fledermaus und zwei Eulen, den Hexenvögeln (Stryx). Darüber zwei Zaubereien: Daphne, die auf der Flucht vor Apollo gerade in einen Lorbeerbaum verwandelt wird, und Circe mit einem Zaubertrank in der Hand und einem Schwein, also einem von Odysseus' armen Gefährten. Ganz oben eine stürzende geflügelte Gestalt, vermutlich nicht Luzifer sondern Ikarus. Am rechten unteren Rand folgt eine weibliche Gestalt einem bocksbeinigen Teufel, während über ihr Dr. Faustus aus dem Bild flüchtet. Die beiden Gestalten darüber, zu deren Häuptern nochmals Eulen und ein Drache fliegen sowie Hexen auf einer Mistgabel und einem Ziegenbock reiten, 4
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Für den Hinweis auf Abb. 14 und Abb. 12 danke ich Herrn Martin Pott, der demnächst eine Dissertation über Aufklärung und Aberglaube vorlegen wird.
Abb. 15. Christian Wolff, Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (Deutsche Metaphysik), 1720
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Abb. 16. Christian Wolff, Vernünftige Gedanken von der Menschen Tun und Lassen (Deutsche Ethik), 1720
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sind als Sylvester II. und als Luxemburg gekennzeichnet; gemeint sind der Papst Sylvester Il. und Frans;ois Henri Montmorency, der französische Marschall von Luxemburg, die beide als Zauberer galten. Über allem erhebt sich die Sonne mit dem eingeschriebenen Dreieck und dem Auge als Symbol Gottes, und zwar so, daß ihr Strahlenglanz am unteren Rand mit dem oberen Rand des. Strahlenglanzes der menschlichen Vernunft verschmilzt, die menschliche Vernunft also als Ausfluß der göttlichen erscheint. Der Spruch unter dem Bild erklärt das Ganze als die Disproportion oder vielmehr Diskrepanz von Aufklärung und Aberglauben. "Je höher der Verstand in Wissenschafften steiget, Je tieffer sich zum Fall der Aberglaube neiget." Vielleicht ein Vers von Thomasius selber. Mehr noch als Thomasius und seine Anhänger hat sich Christian W olff des Bildes als Ausdruck seiner philosophischen Einstellung bedient. Seine frühen deutschen Werke sind durchgehend mit einem Bild ausgestattet, und die Sonne ist anscheinend sein Lieblingsmotiv. So wird die Sonne als Symbol der Aufklärung- nach Gundling- vor allem durch W olff bekannt. Dabei ist allerdings anscheinend bis heute unbeachtet geblieben, daß Wolff und seine Frontispizien auch eine sehr interessante Entwicklung durchgemacht haben. 1720 erschien die Deut· sehe Metaphysik mit einer strahlenden Sonne über einer gefälligen Landschaft: "Lucem post nubila reddit" (Abb. 15). Die Wolken haben sich verzogen, das Licht ist wieder da - durch Wolff (versteht sich) ist es wieder in die Welt gekommen und scheint nun über einer ordentlich aufgeräumten Kulturlandschaft. W olff selber bemerkt dazu in der Aus· führliehen Nachricht von seinen eigenen Schriften (1726, 2. Aufl. 1733, Repr. 1973), daß er aufgrundseiner Methodisierung der Metaphysik mit Recht behaupten dürfe, "ich hätte in dieser Disciplin angefangen es lichte zu machen"; und er fährt fort: "so wird sich niemand verständiges darüber ärgern können, daß ich vor mein Buch die Sonne stechen lassen, wie sie aus denen sich brechenden W olcken hervor kommet und Hoffnung macht, es werde das Gewölcke nach und nach ganz vertrieben werden" (312). Auf dem Titelbild der Deutschen Ethik aus dem gleichen Jahr (Abb. 16) scheint die Sonne allerdings nur über den Wolken und über der durch die Gewitterwolken verdunkelten Erde. Natur und Menschenwelt verbleiben in wüster Finsternis, und nur ein einsamer Berg, vermutlich die Wolffsche Philosophie, ragt unbeirrt mit seiner Spitze ins Licht. "Non perturbatur in alto." Die Wahrheit bleibt durch das Treiben der dunklen und niederen Mächte unberührt, aber das Licht scheint die Dunkelheit
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Abb. 17. Christian Wolff, Anmerkungen über die vernünftigen Gedanken von Gott, der W e!t und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik), 1724
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Abb. 18. Christian Wolff, Kleine philosophische Schriften Bd. IV, 1739 (Repr. 1981)
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auch ganz sich selbst überlassen zu wollen 5 • Doch 1724 in den Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik (Abb. 17) zeigt sich die Sonne bereits wieder für alle, nämlich ohne alle Wolken als fruchtspendende Gebieterinder gesamten Welt. "Foecundo lumine fulget." Wolff weiß sichtrotz seiner Vertreibung nach Marburg als Sieger. Entsprechend kommentiert das Frontispiz des vierten Bandes der Kleinen philosophischen Schriften von 1739 (Repr. 1981) die mögliche Verdunkelung des Lichts noch einmal, und zwar als ein bloß epiphemeres Problem (Abb. 18). Wolken sind vergänglich, die Sonne aber bleibt bzw. kommt wieder. "Das Licht nimmt selbst nicht ab, ein dunekler Cörper machts, daß ein und anderer den vollen Schein nicht siehet, doch nur auf kurtze Zeit." Der Obskurantismus der Wolff-Gegner kann also nur eine kurze Trübung bewirken6 • Die W olffianer hatten dem Selbstbewußtsein ihres Meisters kaum noch etwas hinzuzufügen. Sie konnten eigentlich nur die Sonne weiter strahlen lassen und den Triumph der Wolffschen Philosophie feiern oder die Ewig-Gestrigen brandmarken. So variiert das Titelblatt der Philosophia rationalis des Wolffianers Conrad Theophil Marquardt von 1733 noch einmal das Sonnenmotiv, allerdings im Anschluß an den Thomasianer Die moralische Anwendung der Metapher der siegenden Sonne zeigt ein Bild, das dem fünften Band der Kleinen philosophischen Schriften (1740, Repr. 1981) vorangestellt ist. Es zeigt eine Justitia im Gewittersturm, über dem aber bereits wieder die Sonne scheint. Die Bildunterschrift erklärt die Moral des Bildes. "Wer stets vergnügt will seyn, darf nur die Tugend üben. Es bleiben W olcken, Blitz und Sturm von ihm entfernt." W olffs philosophisches Selbstbewußtsein kommt auch noch in verschiedenen anderen Emblemen zum Ausdruck. So zeigt z. B. das Frontispiz der Deutschen Logik (1712) wie auch das der lateinischen Übersetzung (De viribus intellectus humani, 1730,3. Auf!. 1740, Repr. 1981) das alte Emblem der mit einer Waage aus den Wolken hervorragenden Hand Gottes, der das Gewicht der Dinge zu unterscheiden weiß. "Discernit pondera rerum." Aber während es hier noch Gott selber ist, der einer so als Unterscheidungskunst ('Kritik') gedeutete Logik zum Vorbild dient, ist es auf dem Titelkupfer des zweiten Bandes der Kleinen philosophischen Schriften (1737, Repr. 1981) anscheinend Wolff selber, der, gemäß seiner Auffassung der Philosophie als potentiell absolutes Wissen, wie Gott und durch Gottes Erleuchtung alles richtig abzuschätzen weiß. Durch die geöffnete Decke eines dunklen (abgedunkelten!) Raumes fällt Licht in eine Laterna magica, und dieses Licht, d. h. die Wolffsche Philosophie, projiziert auf die gegenüberliegende Wand wieder das Bild mit der Hand Gottes und dem zugehörigen Spruch. Wolff vermittelt also Gottes Weisheit und verdeutlicht sie zugleich, wie die Bildunterschrift nahelegt, im Sinne der Aufklärung. "Das kleine wird hier gros, das dunekle hell gemacht, doch unverändert Bild und Farbe beybehalten."
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Gundling. Auf dem kleinen Titelblatt erstrahlt die aufgehende Sonne über einer fast schon idyllischen Landschaft, und das Spruchband über der hübsch gerahmten Szene verkündet, daß die Sonne die Finsternis vertreibt. "Tenebras dispellit." Insofern ist der Aspekt der Auseinandersetzung des Lichts mit der Dunkelheit zwar noch erhalten, aber die Erhellung des Dunkels ist keine programmatische Zukunftsaussage mehr, sondern bereits ein gegenwärtiges Faktum. Möglicherweise ist auch deshalb die Sonne oftmals nicht das Thema des Bildes, sondern nur noch ein wichtiges Requisit. Auch außerhalb des Wolffianismus, gerade auch bei den WolffGegnern spielt die Sonne eine wichtige, obwohl meist eher traditionelle Rolle, nämlich nicht als Symbol geistigen Fortschritts, sondern als Symbol der Fruchtbarkeit und vor allem als Symbol Gottes. Selbst die Verlage (Druckereien) bedienen sich ihrer gern als Markenzeichen. So benutzte das Hallesche Waisenhaus, die Zentraldruckerei des Pietismus, über viele Jahre in verschiedenen Varianten ein kleines Bildchen, das einen Sämann unter strahlender Sonne zeigt. Dazu verkündet ein Spruchband: "Illo splendente levabor". Zwar bleibt unklar, ob sich der Bauer, wenn die Sonne aufgeht, zur Arbeit erhebt oder ob, was wahrscheinlicher ist, die Saat unter den fruchtbringenden Strahlen der Sonne erwachen wird. Dann bliebe zumindest die Ausrichtung der Aussage auf die Zukunft erhalten, obwohl das militante "Dispellam" Gundlings hier einem eher milden Glanz gewichen ist. Auf anderen Titelblättern wie der Einleitung in die Religionsstreitigkeiten außerhalb der evangelischlutherischen Kirche I {1724, 3. Aufl. 1733, Repr. 1972) von Johann Georg W alch scheint die Sonne nicht mehr über einem Feld, sondern über einer Kirche, die von zwei Figuren flankiert wird: die eine neben einem Rauchaltar, die andere mit Kelch und Kreuz, also wohl das Alte und das Neue Testament darstellend. Oder sie erhellt wie auf dem Titelbild von Crusius' Vernunftlehre (Weg zur Gewißheit und Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis, 1747) die Welt und macht so alles klar und deutlich. "Sua cernitur luce."
d) Zweifelhafte Siege 1723 wurde Wolff aus Halle vertrieben, der Sieg des Pietismus schien gesichert. Aber W olff fühlte sich seinen Gegnern mit gutem Grund überlegen. Im folgenden Jahr erschien seine Deutsche Teleologie (Von den Absichten der natürlichen Dinge, 1724, 2. Aufl. 1726, Repr. 1980) mit dem 93
Bild eines Löwen- Wolff selber, der das feige philosophische Kleinvieh verachtet. "Fortibus obsistit tantum." Und die Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schriften, die er dann schon in Marburg schrieb, zeigt eine Pyramide, der die sie umzuckenden Blitze nichts anhaben können. "Inconcussa perennat." Schon Wolffs erster Schüler Ludwig Philipp Thümmig hatte den Triumph der W olffschen Philosophie als ein Faktum verkündigt, und zwar auf dem Frontispiz des ersten Bandes seiner Institutiones philosophiae Wo/ffianae von 1725 (Repr. 1982). Der Kupferstich (Abb. 19) zeigt eine Wasserlandschaft unter allmählich aufklarendem Himmel: im Vordergrund ein badender Schwan, im Hintergrund zwei weitere Wasservögel, anscheinend Gänse, die ebenfalls das Wasser aufrühren. Auf einem Spruchband heißt es: "Suis se abluit undis." Wie aber ist das zu verstehen? Ist es die Erde, die sich nach der Sintflut von ihren abfließenden Wassern befreit und dabei allmählich hell und sauber wird? Ist also die Flut der Ignoranz vorbei, kündigt die Aufklärung ihren Sieg an? Oder meint das Spruchband nur den Schwan, der sich selbst durch die Weilen, die er erzeugt, reinigt? Wer aber ist dann der Schwan, der hier die Szene beherrscht, d. h. wen soll er symbolisieren? An sich gilt der Schwan seit alten Zeiten wegen seines angeblichen Todesgesangs als ein prophetisches Tier; aber, wegen seiner majestätischen Schönheit schon früh bewundert, steht er auch für das Licht, ja gelegentlich sogar für Christus selber. Hier kann er jedoch eigentlich nur W olff meinen. Der Schwan, das ist der majestätische Philosoph, der aus den Fluten der Diskussionen, die er erzeugt hat, umso reiner emporsteigt. So oder so scheint Thümmigs Frontispiz den bevorstehenden Sieg der Aufklärung durch die neue Philosophie darzustellen. Und dafür könnte auch das kleine Bild auf dem Titelblatt sprechen, wo die Sonne als Dei Gratia die Wolken durchbricht und über einer etwas wüsten Landschaft zu scheinen beginnt. Allerdings gibt es immer noch einige unverbesserliche Obskuranten. Darauf verweist das Titelkupfer der Anleitung zur Historie der Leibnitzisch-Wolffischen Philosophie des W olffianers Georg Volkmar Hartmann von 1737 (Abb. 20). Aus der Tür ihres Tempels, auf dessen Stufen mathematische und naturwissenschaftliche Hilfsmittel liegen, tritt die Wahrheit, d. h. die Wolffsche Philosophie, und schleudert ihre Blitze gegen die Chiliasten und diejenigen, die immer noch das Iumen internum und die illuminatio immediata hochhalten. Sie bleiben draußen vor der Tür. Nur den Freunden Wolffs und der Wahrheit ist deren Tempel zugänglich: "Amicis adire licet". Im Hintergrund tanzen bereits einige fröhliche Putten und schauen mit einem Fernrohr in die Sonne, was zwar
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Abb. 19. Ludwig Philipp Thümmig, Institutiones philosophiae wolfianae Bd. I (1725), 2. Auf!. 1729
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Abb. 20. Georg Volkmar Hartmann, Anleitung zur Historie der LeibnitzischWolffischen Philosophie, 1737
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schon bei Platon vom wahren Philosophen erwartet wird, dennoch bekanntlich nicht ungefährlich ist. Die Pietisten sahen dies alles natürlich ganz anders. Joachim Lange forderte eine Philosophie, die sich nicht wie die Aufklärung auf die ratio sana beruft, sondern eine ratio sanata anstrebt bzw. durch Gottes Gnade erhofft. Auf dem Titelkupfer seiner Medicina mentis (1708) entwirft Lange, Verbi Divini Minister, daher das pietistische Gegenbild zu den aufklärerischen Emblemata mit ihrer Hoffnung auf Vernunft (Abb. 21). Trotz vieler Berührungspunkte mit der frühen Aufklärung, z. B. in der Bekämpfung der Vorurteile, liegt der Akzent seiner Ausführungen ganz und gar auf der Verderbtheit der menschlichen Vernunft. Es geht nicht um die Verbesserung (emendatio) der an sich richtigen Vernunft, sondern, wie schon der Untertitel seines Werkes sagt, erst einmal um die Heilung der kranken Vernunft (aegrae mentis sanatio), die durch solide (christliche) Erudition zur wahren Weisheit geführt werden muß. Dies aber kann nur aufgrund einer richtigen Diagnose der kranken Vernunft geschehen, also durch Aufweis und Zurückweisung der falschen Weisheit, der Pseudophilosophie, die eigentlich eine Liebe zur Torheit und, weil Torheit eine Sünde ist, gleichzeitig ein Hang zur Sünde ist. Das Bild zu diesem Programm bedient sich des altbekannten Motivs des Baumes, der in der Philosophie vor allem den genetischen Zusammenhang der logischen Grundbegriffe (Arbor Porphyrii) oder (wie bei Descartes) den der philosophischen Disziplinen versinnbildlicht, aber natürlich auch die Genealogie der verschiedenen Philosophien von den Anfängen bis zur jeweiligen Gegenwart darstellen kann. Bei Lange ist der Baum der Philosophie allerdings kein Baum der Liebe zur Weisheit (arbor philosophiae), sondern ein Baum der Liebe zur Torheit (arbor philomoriae) - und damit möglicherweise zugleich jener Ölbaum (moria), der als heiliger Baum der Athene die Akropolis schmückte und sozusagen ein heidnisches Gegenstück zum Lebensbaum des christlichen Kreuzes ist. Dieser Arbor Philomoriae wächst nach Langes Darstellung auf dem Boden der Natur, auf einer Insel zwischen dem Fluß der Überlieferung und dem Fluß der Offenbarung; und er wächst unter der allerdings halb verdeckten Sonne, die hier jedoch nicht für die Aufklärung, sondern für Gott selber steht, der die Welt erleuchten soll (lucescat). Der mächtige Stamm der Philomoria ist die Moria Japhetica. Diese Haupttorheit leitet ihren Namen offensichtlich von Japhet ab, dem dritten Sohn Noahs, der, so wie seine Brüder Harn und Sem als Stammväter der Hamiten und Semiten, als Stammvater der kleinasiatischen Völker gilt. So kann Lange unter Bezug auf den Ursprung der Philosophie in den kleinasiatischen 97
Abb. 21. Joachim Lange, Medicina mentis, 1708
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Abb. 22. Joachim Lange, Causa Dei et religionis naturalis (1723), 2. Aufl. 1727 (Repr. 1984)
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Kolonien Griechenlands und ähnlich, aber mit negativem Akzent, wie schon die alten Legenden über Platons Ägyptenreisen und Moseskenntnisse - eine Genealogie der Philosophie konstruieren, wonach diese ein illegitimer Abkömmling alttestamentlicher Weisheitslehren ist. Die Krone der Philosophie wächst auf einem ursprünglich biblischen Stamm, dessen erste Äste die Moria Chamitica und die Moria Semitica darstellen. Kurz unterhalb der Krone, die aus den Hauptzweigen der griechischen Pseudophilosophie besteht, kommen bereits die ersten kleinen Äste, die Vorsokratiker Xenophanes und Thales, zum Vorschein, während der nun griechisch gewordene Stamm der Philomoria sich über Homer und Pythagoras zu Sokrates weiterentwickelt. Von diesem aus verzweigt sich dann die Krone nach ihren vier Hauptästen Zeno und Platon, Epikur und Aristoteles. Die eigentliche Pointe liegt jedoch in der Spitze des Baumes. Die oberen Äste mit den letzten schlechten Früchten stellen die Torheit der Scholastiker (Moria Scholastica) dar, während die allerobersten dünnen Zweige mit ihren schwachen Blüten die gegenwärtige Philosophie bedeuten. Diese aber ist keine Aufklärung, unter der Sonne der Vernunft erwachsen, sondern eine Tochter der Nacht, eine Filia Noctis - wahrscheinlich sogar im doppelten Sinn des Wortes. Die Aufklärung ist ein 'Nachtschattengewächs', die neue Weltweisheit ist nur wieder die alte Torheit der Welt. Langes Aufklärungskritik, die zu diesem Zeitpunkt eigentlich nur auf seinen ehemaligen Gönner Thomasius zielen konnte und von diesem später auch mit seinem bereits erwähnten religionskritischen Bild, sozusagen in einem emblematischen Untergrundkrieg, beantwortet wurde, richtete sich nach dem Auftreten W olffs als Philosoph vor allem gegen diesen. Im Vorwort der zweiten Auflage seiner Causa Dei et religionis naturalis (1723, 2. Aufl. 1727, Repr. 1984), die gegen den angeblichen Wolffschen Atheismus gerichtet ist, bezeichnet Lange diese neueste Weltweisheit nicht nur als Pseudophilosophie, sondern auch - wohl nicht ohne Anspielung auf jene sapientia saecularis, die eine stultitia mundi ist - als törichte Weisheit (morosophia) und auch ausdrücklich als Liebe zur Torheit (philomoria). Das Titelkupfer dieser Schrift (Abb. 22) zeigt jedoch nicht mehr das Negativ, den Baum der Liebe zur Torheit, sondern das Positiv, den Felsen der ewigen Wahrheit oder die Sache Gottes. Von einer Gott symbolisierenden Sonne, die mit ihren Strahlen ein finsteres Gewölk durchbricht, geht ein "Fiat" aus, das zu einer durch das Wort gewordenen Welt, einem "Dictum Factum" in der Form einer Erdkugel, führt. Darunter befindet sich ein Felsen, vermutlich die von Lange verteidigte Sache Gottes, von der es, ähnlich wie später bei Wolff von seiner 100
eigenen Philosophie, heißt: "Inconcussa triumphat". Vergeblich bemühen sich einige dunkle Gestalten, Gegner Gottes und der wahren Religion, am Fuße des Felsens, diesen mit ihren Hacken zu zerstören. Es sind die modernen Aufklärer,die in Wirklichkeit Obskuranten sind. Solchen Narren dient nur ihr eigener Wahnsinn als Waffe. "Stolidis furor arma ministrat." Unverkennbar haben Pietismus und Aufklärung auch einen ikonologischen (ideo-logischen) Untergrundkrieg geführt. Autoren neigen naturgemäß dazu, den Sieg ihrer Sache zu feiern, ihrer Sache und damit sich selber nach Möglichkeit sogar ein Denkmal zu setzen. Standbilder aller Art, Stelen und Obelisken, Sockel und Altäre fungieren daher auch im 18. Jahrhundert als beliebtes Motiv in allen bildenden Künsten; auf dem Boden des neuen Klassizismus erfreuen sie sich sogar einer wachsenden Beliebtheit. In der Buchkunst wird das Siegesmal allerdings mehr und mehr zu einem bloßen Schmuckmotiv mit geringer Aussagekraft. Der Philosoph Joachim Georg Darjes war einer der letzten, der auf diese Weise die von der Frühaufklärung als regina tenebrarum geschmähte Metaphysik anschaulich als mater scientiarum feiern wollte. Das Frontispiz seiner Eiementa metaphysices (1750, 2. Aufl. 1753) wird jedoch besser verständlich, wenn man vorher das nicht ganz unbekannte Frontispiz von Nieuwentyt betrachtet. Das Buch des Mediziners Bernard Nieuwentyt (Regt gebruik van de wereld beschouwingen 1727) ist eine Art Physikotheologie, ein im großen und ganzen naturwissenschaftliches Werk, aber mit dem erklärten Ziel, aus der Ordnung der Natur einen weisen Schöpfergott zu beweisen. Es richtet sich gegen die Atheisten und die sogenannten esprits forts, und es beruft sich mit einer deutlichen Wendung gegen die Metaphysik auf die Erfahrung. Der vorangestellte Kupferstich (Abb. 23), der diese Grundeinstellung zum Ausdruck bringen soll, ist ein wahres 'Lichtbild'. Von oben strahlt Gott in Form einer Sonne auf die Hauptfigur, während eine weibliche Nebenfigur rechts im Hintergrund eine zweite Sonnenscheibe emporhält. Außerdem erscheinen auf der linken Seite zwischen den Wolken die wirkliche Sonne, der Mond, allerlei Blitze, ein Regenbogen und ein feuerspeiender Vulkan. Diese an Sodom und Gomorrha gemahnende linke Bildhälfte, zu der noch eine erloschene Lampe und ein zerberstender Globus gehören, steht offenbar für die alte Zeit der Finsternis, während die rechte mit ihrer Lichtfigur und ihren mathematischen und naturwissenschaftlichen Instrumenten die schöne neue Welt anzeigt. Dennoch ist das Bild, wenn man dem zur Erklärung beigegebenen Begleitgedicht glauben darf, gerade kein Hymnus auf das Licht der Vernunft, sondern eher ein als Kritik an der schwachen Vernunft 101
Abb. 23. Bernard Nieuwentyt, Regt gebruik van de wereld beschouwingen, 1727
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gemeinter Lobgesang auf die Erfahrung bzw. die Erfahrungswissenschaft. Explication de la Planche du Titre. Sur un solide Autel brille l'Experience, Qui seule doit fixer l'humaine Connoissance. Sa main d'un Philosophe arrache le bandeau; L'Erreur fuit; ses yeux s'offre un Monde nouveau. De tous ces Instruments la savante structure Avec plus de succes devoile la Nature, Que la sombre Raison, dont le louche regard Forge une conjecture et l'adopte au hazard. Le Nuage s'entrouvre, et le Vrai se presente: Voyez et respectez sa lumiere eclatante. Mais l'Espritfort, plonge dans une affreuse nuit, S'irrite et la prefere au jour qui l'eblouit, Emane de Dieu meme un Rayon salutaire Est al'Experience un guide qui l'eclaire, Et qui santifiant les progres qu'elle fait, Donne tous ses travaux un plus utile Objet. L'Impie arrange en vain un Systeme frivole; Tout preeche; tout instruit; la Divine Parole Fait sentir quelle voix daigna la publier; Et partout son Ouvrage annonce l'Ouvrier.
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a
Das mit B.L.M. (möglicherweise: Bernard le Medecin) gezeichnete Gedicht geht offenkundig teils über das Dargestellte hinaus, teils läßt es dieses unerklärt. Natürlich hätte es zu weit geführt, die einzelnen Instrumente oder auch die toten Tiere in der rechten Ecke zu erläutern. Außerdem konnte der Verfasser wahrscheinlich voraussetzen, daß der Betrachter die erloschene Lampe und die berstende Erdkugel, aus der ein Maulwurf kriecht, selber richtig als Zeichen einer untergehenden Welt deuten würde. Doch wäre es, zumindest für den modernen Betrachter, zweifellos nützlich gewesen, wenn er die Figuren noch ein wenig erläutert hätte. Im Prinzip ist - die Authentizität der Interpretation immer vorausgesetzt- die Bedeutung der Nebenfiguren allerdings klar: links unten die alte Philosophie, die, nachdem ihr die Binde abgenommen worden ist, vom Licht der neuen Wahrheit geblendet ist, und, wie aus derselben Wurzel kommend, wohl nicht der Irrtum, sondern die neue Philosophie, die auf die Wahrheit rechts oben schaut, die, mit Buch und Friedenspalme ausgestattet, als friedliche und wissenschaftliche Wahrheit den rechten Fuß siegreich auf die Erdkugel setzt. Dazwischen steht vermittelnd die Hauptfigur, die auf dem Rocksaum als "rerum magistra", also als Lehrmeisterin der Welt, bezeichnet ist und die Erfahrung darstellen 103
Abb. 24. Joachim Georg Darjes, Elementa metaphysices Bd. I (1750}, 2. Aufl. 1753
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soll. Sie nimmt zwar, anscheinend aus eigener Kraft, mit der rechten Hand der Philosophie die Binde ab und verweist mit der linken auf die Wahrheit, aber sie selber scheint unmittelbar durch Gott erleuchtet (aufgeklärt) zu werden, während die als "sombre raison" diffamierte Vernunft genauso wenig vorkommt wie der irrende Freigeist. Im Ergebnis entsteht der Eindruck, als ob hier der Sieg einer zugleich empiristischen und fideistischen (also 'anti-rationalistischen') Aufklärung gefeiert werden soll. Möglicherweise wollte Darjes genau diese Aussage durch das Frontispiz seiner Metaphysik (Elementa metaphysices I, 1750, 2. Aufl. 1753) richtigstellen. Jedenfalls enthält sein Bild (Abb. 24) einige Elemente, die auch im Kupfertitel von Nieuwentyt vorkommen. Links unten wieder die Symbole der vergangenen Welt, die zerbrechende Erdkugel und die erloschene Lampe, außerdem jetzt eine abgelegte Maske, wohl als Zeichen des überwundenen Aberglaubens bzw. des Scheins überhaupt; rechts, nun ganz in den Vordergrund gerückt, mit Sonnenscheibe, Buch und Friedenspalme, den rechten Fuß wieder auf die Erdkugel gesetzt, die Wahrheit als Frieden und Gelehrsamkeit bringende Lichtgestalt. Auf dem Podest in der Mitte steht jetzt aber, wie als Anwort auf Nieuwentyts Metaphysikverachtung, die Metaphysik selber, und zwar als Magna Mater. Sie ist nach dem Vorbild der alten Muttergottheit Diana von Ephesus als Frau mit vielen Brüsten dargestellt, d. h. als überaus fruchtbare Weisheit. Ihre Linke zeigt auf die Wahrheit, ihre Rechte hält ein Füllhorn, auf dem ein neugeborenes Kind schläft - offensichtlich die jüngste Frucht der Metaphysik, nämlich die Metaphysik des Autors selber. Das Füllhorn selbst ist vor allem mit Tierköpfen geschmückt: am oberen Rand mit einem Triciput, dessen drei Köpfe (Wolf, Löwe und Hund) in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sehen und so die Überzeitlichkeit der Metaphysik symbolisieren. Auf ihrem Haupte trägt sie, wie vom Heiligen Geist begnadet, eine Flammenkrone, die bis in die Wolken, also bis in den Himmel, reicht, wo Gott als Dreieinigkeit in einer Wolke schwebt. Auf der Erde wird ihr der Philosoph, dem gerade die Augen aufgetan werden, von Athene selber zugeführt. Die zwei Putten im Vordergrund, die dem Betrachter zugewandt sind, erläutern durch eine vorgezeigte Tafel, wie mächtig die Metaphysik ist (Reichsapfel) und daß sie Ewigkeit und Zeit miteinander verknüpfen kann (Quadrat als Einheit von zwei Dreiecken). Eine der Putten hebt beschwörend die Hand, die andere mahnt zum Selbstdenken. Auch dies also ein Bild des Triumphes! Aber wahrscheinlich ist auch dieser Sieg zu früh gefeiert worden. 105
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Abb. 25. Georg Friedrich Meier, Metaphysik Bd. I {1755), 2. Auf!. 1765 106
Siege überall! Lange siegt über W olff, aber W olff siegt über die Pietisten; Nieuwentyt siegt über die spekulative Philosophie, aber die Metaphysik siegt über alle und alles. Zweifellos zweifelhafte Siege- aber um die Mitte des Jahrhunderts scheint die Aufklärung für einen Moment ihres Erfolges sicher zu sein und Lust zu haben, ihren Triumph zu feiern. Der Popularphilosoph Georg Friedrich Meier scheint schon ganz vom fröhlichen Geist einer geradezu anakreontischen Aufklärung erfüllt zu sein, obwohl gerade er die Grenzen der Aufklärung zu entdecken beginnt. Jedenfalls ist das Titelblatt seiner Metaphysik (Bd. I, 1755, 2. Aufl. 1765) mit einem heiteren Bildehen verziert, das nichts mehr von dem ursprünglichen Kampfesgeist der Aufklärung ahnen läßt (Abb. 25). Meier hat das Nützliche mit dem Angenehmen verbunden. "Miscuit utile dulci." Und nun sprudelt in einer idyllischen Landschaft eine Rocaille-Quelle, während der Philosoph Iinksaußen friedlich die Flöte bläst. Hoffentlich nur das Signet eines philosophisch unbedarften Verlegers! Man hat gelegentlich gesagt, die Philosophie lasse sich auf ein halbes Dutzend Metaphern reduzieren. Wie dem auch sei, die Tendenz der Philosophie ist es jedenfalls, das Bild durch den Begriff zu ersetzen, auch wenn der Begriff seinerseits nur wieder eine 'Metapher' ist. Diese Neigung zum Begriff ohne Bild, zum Verzicht auf sinnliche Veranschaulichung von Sinn, muß sich in der Aufklärung, die bekanntlich primär eine Papierkultur war, besonders bemerkbar machen. Ihre ursprüngliche Bilderfreudigkeit nimmt mit wachsender Entfernung vom Barock ab. W olff, der mehr als alle anderen Philosophen seine deutschen Werke mit Titelbildern kommentiert hatte, läßt bereits die lateinische Reihe seiner Werke ohne Frontispizien erscheinen. Kant ist dann nur ein Beispiel dafür, wie sehr am Ende der Aufklärung die Vergeistigung über die Versinnlichung, die Intellektualisierung über die Augenlust gesiegt hat. Die Kritik der reinen Vernunft verzichtet auf allen sinnlichen Bilderschmuck (wenn man von den drei etwas unpassenden Blümchen des Verlegers auf dem Titelblatt einmal absehen darf). Die Selbstaufklärung der reinen Vernunft soll ein Akt reiner Vernunft bleiben, sie scheint wie der Popularisierung so auch der Verbildlichung unfähig zu sein. Oder hätte die Veranschaulichung der Selbstkritik der Vernunft als Autovivisektion des Denkens zu allzu sado-masochistischen Horrorbildern geführt? Heute wäre vielleicht der nächtliche Stafettenlauf mit Fackeln, auf den sich allerdings schon Platon (Politeia 328 a) bezieht, kein schlechtes Bild für Aufklärung7 • Aber von solchen philosophischen Sinnbildern kann im Ernst keine Rede mehr sein. Wahrscheinlich ist das Verkümmern der Neigung zu einem gewissen philosophischen Symbolismus am Ende der 107
Aufklärung nicht zufällig. Der Imaginationsverlust dürfte nicht nur eine Folge wachsender objektiver Unmöglichkeit von Anschauung sein, sondern auch eine Folge des Absterbens einer Fähigkeit zu bzw. eines Bedürfnisses nach symbolischer, imaginativer und figurativer Anschaulichkeit (bis hin zu der heute kaum noch verständlichen Vorliebe für Personifikationen abstrakter Begriffe). Es ist der durch die moderne Wissenschaft und durch die darauf basierende Aufklärung produzierte Sinnverlust, der die alten Sinnbilder der Wirklichkeit zu albernen Spielereien degradiert - heute sind sie nur noch niedlich, Objekt der Ironie oder Nostalgie. Sinnbilder setzen Sinn voraus. Die alte Wesensmetaphysik, die im Grunde noch auf natürlicher Anschauung beruhte, wird durch die moderne mechanistische, in mathematischen Funktionen oder Gesetzen der Materie denkende Wissenschaft unterminiert. Die Welt verliert so ihre allgemeinverständliche Sinnstruktur, ihre visualisierbare Bedeutung. Sie wird zur möglicherweise funktional zweckhaften, im übrigen aber sinnlosen Maschine; sie verweist zwar noch auf Gott, aber nur noch wie das Produkt auf den Produzenten bzw. die Wirkung auf die Ursache. Die Physikotheologie ist einer der letzten, schon komisch hilflosen Versuche, Gott oder vielmehr nur noch seine rationalen Absichten in der Welt wiederzufinden. Die 'entzauberte' Welt wird daher, trotzaller romantischen Gegenbewegungen, mehr und mehr zu einer Welt ohne Tiefenstruktur, d. h. ohne Bedeutungshaftigkeit - sie verliert ihren magischen Aspekt. Anscheinend hat sich die Philosophie wieder einmal einer überholten Als eine solche moderne Lichtallegorie, die auch inhaltlich ein Kontrastprogramm zu den Aufklärungsallegorien des 18. Jahrhunderts darstellt, kann man ein Gemälde von Rene Magritte betrachten, das dieser unter dem Titel Le triomphe des Lumieres in mehreren Varianten ausgeführt hat. Eine Villa in einem dunklen Park mit See wird spärlich von innen und von einer davorstehenden Laterne erhellt - eine winzige 'Lichtung' in der allgemeinen Finsternis. Aber wie auch sonst bei Magritte ist auch in diesem Bild der dargestellte Sachverhalt in sich unstimmig. Offensichtlich wird nämlich das nur gering erhellte Dunkel des menschlichen Anwesens von einem hellen und heiteren, geradezu sonnigen Tageshimmel überwölbt. Magritte, der von sich gesagt hat, daß er das Dunkel nicht weniger als das Licht liebte, wollte nach eigenem Bekunden die "Poesie" des Aufeinandertreffens von Licht und Dunkel malen; und da es ihm nicht gelang, eine sonnige Landschaft unter einem nächtlichen Himmel zu malen, blieb es bei einer nächtlichen Landschaft unter einem sonnigen Himmel. So suggeriert das Bild (nolens volens?) die Idee, daß eigentlich alles klar am Tage liegt und nur wir selbst, in einem möglicherweise sogar von uns selbst erzeugten Dunkel, mühsam unser eigenes Licht leuchten lassen müssen.
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Naivität beraubt, die Aufklärung realisiert eine neue Ernüchterung der Vernunft. Nur bei Kindern, Verliebten und Künstlern finden sich nun noch Reste einer ursprünglichen Metaphysik, nämlich des Glaubens an einen symbolischen Sinn von allem - und natürlich im magischen Beziehungswahn des Aberglaubens, der immer noch, wie es nun heißt, in einer "verzauberten Welt" (Balthasar Bekker) lebt. Sinnbilder aber werden nun mehr denn je zu einer Sache der bloß subjektiven Kunstschöpfung.
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111. Der Begriff der Philosophie Der Philosophiebegriff der deutschen Aufklärung kann letztlich nur auf dem Hintergrund der Diskussionen um die Philosophie im 17. Jahrhundert verstanden werden, in denen es wieder einmal um die Rolle der Philosophie im Verhältnis zur Religion ging. Weiche Art und welchen Grad von Selbständigkeit konnte oder sollte das Denken gegenüber dem Glauben beanspruchen? Die alles beherrschenden Glaubenskämpfe ließen offensichtlich zunächst kaum Spielraum für Philosophie als freies Denken, nur vorsichtig meldete sich hier und da der unaufhebbare Selbstbehauptungswille der Philosophie. Insofern gab es allerdings auch vor der Aufklärung schon gewisse Tendenzen zu einer Emanzipation oder vielmehr Restitution der Philosophie, z. B. im Bemühen um konfessionelle Neutralität. Leibniz ist dann unabhängig genug, gerade im Hinblick auf die Harmonie von Glauben und Wissen, die für ihn noch im Zentrum seines Denkens steht, die relative Autonomie des Denkens herauszustellen. Aber der große, wenn auch längst noch nicht konsequente Schritt zur Verselbständigung der Philosophie geschah erst mit der Aufklärung, also durch Christian Thomasius, Christian Wolffund ihre vielen Nachfolger. Gerade die letzteren, die philosophi minores, sind für die Frage nach dem Philosophieverständnis einer Epoche von besonderem Interesse, weil sie den Zeitgeist sozusagen unselbständiger reflektieren. Deshalb sollen sie, zumal sie (anders als die Gründerväter der Aufklärung) noch weitgehend unerforscht sind, hier etwas ausführlicher zu Wort kommen, während die Auffassungen von Thomasius, Wolffund anderen hier nur zu resümieren sind. Allerdings läßt sich der Philosophiebegriff der Thomasianer und W olffianer sowie der nachfolgenden Eklektiker und Popularphilosophen nicht ohne eine gewisse begriffliche bzw. begriffsgeschichtliche Anstrengung herausarbeiten, da sich die vielen Varianten ihrer Überlegungen zum Wesen der Philosophie aus heutiger Sicht unter dem grauen Mantel einer trockenen Schulphilosophie verber-
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gen, d. h. unter einer Masse äußerst knapper und einförmiger Begriffsbestimmungen 1• In diesen nur scheinbar monotonen Varianten über ein einziges Thema ("Was ist eigentlich dein Geschäft, Sokrates?") mischen sich natürlich alte und neue Elemente. Allerdings, die Zahl der Töne scheint begrenzt zu sein, und der einigende Bezug zum Thema muß schließlich auch gewahrt bleiben. So sehr die Philosophen sich zu widersprechen scheinen, irgendwie scheinen sie auch alle dasselbe zu sagen oder doch zu meinen. Die Frage ist daher, ob sich in diesem Wirrwarr bzw. dieser Monotonie nicht doch eine Grundmelodie der Philosophie des 18. Jahrhunderts erkennen läßt, ob sich das Verständnis von Philosophie in der Aufklärung - auch wenn diese die Philosophie nicht geradezu als Aufklärung definiert - nicht doch zeittypisch, etwa im Sinne eines praktischen Rationalismus, artikuliert. Gibt es eine gewisse Konstanz der Annäherungsversuche bei der Beantwortung der Frage nach dem Wesen der Philosophie? Gibt es einen Kreis von Problemen, die sich der Aufklärungsphilosophie, wenn sie sich selbst bestimmen will, als erste stellen? Ist es vielleicht sogar die Möglichkeit der Selbstbesinnung, als im Hinblick auf Religion und Wissenschaft freies Denken, um die es in der Selbstbestimmung der Philosophie der Aufklärung geht?
a) Lebendige Erkenntnis Thomasius' Philosophiebegriff entwickelt sich, grob gesprochen, in drei Etappen. Am Anfang (Philosophia aulica 1688, 2. Aufl. 1702) steht sein Versuch, die Philosophie- unter Bewahrung ihrer Funktion als Vorbereitungswissenschaft im Universitätsbetrieb - gesellschaftsfähig, also hoffähig, und damit für das 'politische' Leben brauchbar zu machen. Aus dieser Perspektive definiert er die Philosophie, im Ausgang vom Philosophierenden und im Hinblick auf die sogenannten höheren Fakultäten, als eine zweckbezogene oder dienende geistige Fertigkeit. Sie ist ein "habitus Zu den folgenden Ausführungen vgl. außer der bereits genannten Literatur W. Schneiders, Zwischen Welt und Weisheit, Zur Verweltlichung der Philosophie in der frühen Moderne, Studia Leibnitiana XV I 1 1983; Deus est philosophus absolute summus, Über Christian Woljfs Philosophie und Philosophiebegriff; in: W. Schneiders (Hrsg.), Christian Woljf1983, 2. Auf!. 1986; Der Philosophiebegriff des philosophischen Zeitalters, Wandlungen im Selbstverständnis der Philosophie von Leibniz bis Kant; in: R. Vierhaus (Hrsg.), Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung 1985.
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intellectualis instrumentalis", Gott, die Geschöpfe und die menschlichen Handlungen aus bloßer Vernunft zu bedenken und dabei nach den Ursachen der Kreaturen und ihrer Handlungen zu fragen -?"in utilitatem generis humani" (58). Die Elemente dieser Begriffsbestimmung sind zwar nicht neu, sie stammen aus der christlichen, "aristotelisch" eingefärbten Interpretation der 'stoischen' Philosophiedefinition Ciceros (notitia rerum divinarum ac humanarum), die um die Perspektive des Schöpfers und um die der Ursachenforschung erweitert wird; aber sie ermöglichen es Thomasius, die Autonomie und die Relevanz der Philosophie zu betonen. Zwar kann und darf die richtige Vernunft der wahren Religion nicht widersprechen, doch braucht diese abstrakt postulierte Harmonie die Selbständigkeit der Philosophie, so wie Thomasius sie versteht, nicht zu gefährden, da diese sich auf durch sie selbst definierte 'theologische' Fragen (nach Möglichkeit) nicht mehr einläßt- sie bezieht sich allein auf die zeitliche Glückseligkeit, weil die ewige außerhalb der Kompetenz der Vernunft liegt. Eine sogenannte philosophia christiana hingegen beruht auf einer gefährlichen Vermengung zweier Erkenntnisprinzipien und wird von Thomasius mit nachhaltigem Erfolg bekämpft. Vor allem aber ist die Philosophie für die Gesellschaft wichtig; sie zeigt dem Menschen und insbesondere den Staatenlenkern und Staatsdienern den Weg zum Glück, nämlich durch Dienst am Mitmenschen, also zur allgemeinen W obifahrt der Menschheit. Diesen praktischen Nutzen der Philosophie betont Thomasius auch bei seinem zweiten Anlauf zur Bestimmung ihres Wesens (Einleitung zur Vernunftlehre 1691, Repr. 1968), wobei er sich nun bewußt an alle Menschen wendet und damit faktisch vor allem an die Bürger, die sich bilden wollen und sollen. Philosophie ist Gelehrtheit. "Die Gelahrheit ist eine Erkäntnüß, durch welche ein Mensch geschickt gemacht wird das wahre von den falschen, das gute von dem bösen wohl zu unterscheiden, und dessen gegründete wahre, oder nach Gelegenheit wahrscheinliche Ursachen zu geben, umb dadurch sein eigenes als auch anderer Menschen in gemeinen Leben und Wandel zeitliche und ewige W ohlfahrth zu befördern" (75 f.). Es geht also um Bildung durch Wissen, um eine aufgrund eigener Urteilsfähigkeit nach Ursachen fragende Erkenntnis des Wahren und Guten. Philosophie ("Welt-Weißheit") ist nur ein Teil dieser kritisch-praktischen Erkenntnis, nämlich diejenige Erkenntnis, die aus dem natürlichen Licht des Verstandes "zu Nutzen dieses zeitlichen Lebens" entsteht. Thomasius' finalistisch auf Glück bezogene Philosophiedefinition nimmt also jetzt die Hauptbedingung des Glücks, die Tugend, in den Philosophiebegriff hinein, genauer gesagt, nur die Bedin113
gung der Tugend, nämlich die Erkenntnis des Guten, und macht dabei die Erkenntnis der Wahrheit selbst mehr oder weniger zum Mittel der Moral. Philosophie ist insofern wesentlich ethische Philosophie für die Welt; und diese Weltweisheit ist jedermanns Sache geworden, weil sie "so leichte" ist, daß sie von allen begriffen werden kann (13). Oder umgekehrt, weil Philosophie jeden angeht, muß sie auch in der einen oder anderen Form jedermann (ausdrücklich auch jeder Frau) prinzipiell zugänglich sein - obwohl Thomasius letztlich an der Unterscheidung zwischen Laienphilosophen und Fachphilosophen festhalten muß (vgl. 76 ff.). Die moralische Ausrichtung der Philosophie wird von Thomasius in einem dritten Anlauf (Cautelen 1710, dt. 1713) noch einmal zugespitzt, indem er nun die Weisheit, die jetzt als die wahre Gelehrtheit fungiert, unter ausdrücklicher Ausklammerung der Wahrheitsfrage als lebendige Erkenntnis des Guten definiert (1). Die Wahrheit ist damit in eine weite Ferne gerückt, mehr noch als in den vorhergehenden Schriften, die schon - statt des Wissenschaftscharakters der Philosophie - das Forschen und Fragen einerseits und das eigenständige Urteilen andererseits betonten. Zur Glückseligkeit genügt jetzt die Erkenntnis des Guten (des 'wahrhaft' Guten, versteht sich, das anscheinend allein 'wahrhaft' erkannt werden muß) - allerdings eine lebendige Erkenntnis, die hier in eine gewisse Konkurrenz zum lebendigen Glauben tritt, also eine ursprüngliche und wirklich vollzogene, daher auch wirksame oder handlungsbereite Erkenntnis. Diese authentische und effektive Erkenntnis aus 'gesunder' Vernunft ist im übrigen, aufgrund der Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis, selbst fast nur noch ein vernünftiger oder "philosophischer Glaube". Die Philosophie ist also für Thomasius nicht eigentlich Wissenschaft, die sich durch objektive oder intersubjektiv gültige W ahrheitserkenntnis (z. B. Prinzipienwissenschaft) auszeichnet, sondern begründeter Glaube oder Weisheit, die als lebendige Erkenntnis des Guten eigentlich nur in der Realisierung durch den jeweiligen Menschen existiert. Oder, in der Terminologie der Zeit ausgedrückt, Thomasius definiert die Philosophie "subjective" (subjektivisch, d. h. im Hinblick auf ihr Subjekt), nicht "objective" (objektivisch, d. h. im Hinblick auf ihr Objekt) und daher auch nicht "systematice" (systemisch, d. h. als Disziplin). Thomasius' Versuche, das Wesen der Philosophie neu zu bestimmen, haben bei seinen Schülern und Anhängern ein vielfältiges Echo gefunden. Die stärkere Trennung von Philosophie und Religion wurde, wenn auch mit persönlichen Nuancen, weitgehend akzeptiert und dann sehr schnell selbstverständlich. Die praktische Absicht des Denkens wurde fast über114
alldurch die Angabe des Zieles ("Glück") oder der subjektiven Vollzugsund Wirkungsweise der Philosophie ("lebendig") unterstrichen, gelegentlich auch durch Pointierungen des Gegenstandes in praktischer Hinsicht ("das Gute"). Zugleich aber rückt nun mehr und mehr der eigentümliche Erkenntnischarakter der Philosophie in den Blick, indem nämlich nicht nur die Rolle der Erfahrung und der richtigen Vernunft, sondern auch die Notwendigkeit differenzierender Urteilskraft hervorgehoben wird: Philosophie ist scharfsinnige oder 'judiziöse', also betont analytische oder kritische Erkenntnis. Auch insofern wird Philosophie primär subjective, als eine personale Geschicklichkeit oder Fertigkeit, d. h. als Philosophieren, betrachtet, nicht so sehr vom Objekt oder vom Ergebnis her, also nicht als wissenschaftliches System. Mit modernen Worten, Philosophie wird mehr existentiell und weniger szientifisch gesehen - auch wenn sich die Betonung der lebendigen Erkenntnis (im Unterschied zur kritischen oder praktischen Erkenntnis) im Vergleich zu Thomasius verliert. Allerdings zwingt die Auseinandersetzung mit Wolff schon bald auch zu einer neuen Reflexion auf den Gegenstand der Philosophie. Die von Thomasius entwickelten Formulierungen, vor allem die beiden frühen, traditionelleren Formulierungen, werden von seinen Anhängern zwar gelegentlich, wenigstens im Prinzip, übernommen, aber zugleich durch z. T. minimale Veränderungen so akzentuiert, daß sie zum Ansatzpunkt weitreichender neuer Perspektiven werden konnten. Die wichtigsten Anstöße gingen dabei von dem Theologen Johann Franz Budde und dem Arzt Andreas Rüdiger aus, die innerhalb des Thomasianismus sozusagen zwei Flügel anführten und selbst wieder schulbildend gewirkt haben. Während Budde vor allem durch seine knappen Lehrbücher beeindruckte, zeigte sich Rüdiger als ein eigenständiger und kreativer Denker. Budde beginnt seine Logik (Elementa philosophiae instrumentalis 1703, 3. Aufl. 1709) ähnlich wie der frühe Thomasius mit der 'ciceronianischen' Definition der Philosophie, wonach diese eine Erkenntnis göttlicher und menschlicher Dinge zum Zwecke der Glückseligkeit sei: "Philosophia, si vocem spectes, est amor vel studium sapientiae, si rem ipsam, est notitia rerum divinarum humanarumque, prout ductu rectae rationis cognosci possunt, ad veram hominum felicitatem aut acquirendam, aut conservandam comparata" (4). Ihren eigentlichen Sinn gewinnt diese Definition erst durch die Erläuterung nach Art, Objekt, Mittel und Zweck der Erkenntnis. Demnach ist Philosophie eine Kenntnis oder Erkenntnis, die zwar zu einer gewissen Fertigkeit gediehen, aber meistens 115
nicht eigentlich wissenschaftlich gewiß, sondern nur wahrscheinlich ist. "Est notitia, scilicet habitualis, et interdum scientifica ac certa, plerumque verosimilis saltem ac probabilis" (4). Vor allem in der Erkenntnis der natürlichen Dinge bleibt vieles nur wahrscheinlich. Philosophie ist eigentlich keine Wissenschaft - aber die Erkenntnisse der Naturwissenschaften sind auch nicht so gewiß, wie sie sich geben. Dem entspricht eine Betonung der existentiellen Bedeutung oder praktischen Zielsetzung der Philosophie schon durch die Bestimmung ihrer Erkenntnis als glückbringende Erkenntnis. Es geht nicht um theoretische (müßige) Wahrheiten, um Befriedigung bloßer Neugierde. "Nec nudam aut otiosam hic intelligimus notitiam, sed efficacem: qua animus hominis ita dispositus est, ut felicitatis verae, quam philosophia intendit, revera etiam sit particeps" (4). Wenn Budde dann betont, daß die Philosophie keine bloße Wort- oder Begriffswissenschaft, sondern eine Sachwissenschaft sei, so ist dies gegen die traditionelle Verknüpfung der Philosophie mit den artes liberales gerichtet, wobei die Sachen, die res divinae ac humanae, wieder christlich uminterpretiert werden. Zu den göttlichen Dingen gehören auch die göttlichen Handlungen und damit auch deren Wirkungen, die von Gott geschaffenen Dinge; zu den menschlichen Dingen gehören primär die menschlichen Handlungen. Die Unterscheidung zwischen Philosophie und Theologie erfolgt daher nicht über das Objekt, sondern über das Mittel der Erkenntis, die recta ratio als "principium cognoscendi in philosophia" (5) -wobei natürlich offen bleiben muß, worin die richtige Vernunft besteht. Demgegenüber wird der Begriff des wahren Glücks, auf den Budde abschließend zurückkommt, klar mit christlichen Inhalten aufgefüllt, indem nämlich wie üblicherweise zwischen ewiger und zeitlicher Glückseligkeit unterschieden wird und diese dann als felicitas summa und felicitas subordinata charakterisiert werden. Der Theologe Budde eröffnet der Philosophie zunächst sogar einen weiten Spielraum, indem er ausdrücklich feststellt, daß sie beide Arten des Glücks "pro fine" habe (5). Er unterscheidet sich damit deutlich von Thomasius, der die Philosophie von vornherein auf das diesseitige Leben und dessen Gelingen (Glück) begrenzt. Doch kann die Philosophie nach Budde das Ziel der höchsten Glückseligkeit nicht ohne das Licht der Offenbarung erreichen, d. h. sie scheitert de facto und wird wieder bzw. bleibt offenbarungsabhängig. Hier bleibt der Aufklärungsphilosoph protestantischer Theologe; statt die Philosophie von vornherein auf Selbstbegrenzung zu verpflichten, läßt er sie im Ziel mit der Theologie konvergieren, um sie dann scheitern zu lassen und unterordnen zu können. 116
Obwohl Budde von der Philosophie nur begrenzt sichere Ergebnisse erwartet, betont er doch ihren möglichen wissenschaftlichen, also auch akademischen Charakter. Nachdrücklicher als Thomasius unterscheidet er daher, in seinem Diseurs von dem Unterschied der Welt· und Schulge· lehrtheit (als Vorrede zu Martin Musig, Licht der Weisheit 1709), Kants bekannte Unterscheidung vorbereitend, zwischen einer Philosophie der Schule ("Schul-Gelahrtheit") und einer Philosophie der Welt ("WeltGelahrtheit"). Letztere ist die sozusagen natürliche Philosophie, die durch die Hilfsmittel der Schulen vervollkommnet werden soll, nicht selten aber durch diese nur verdorben wird (§ 2 ff.). Philosophie der Schule und Philosophie der Welt bilden also an sich keinen Gegensatz; vielmehr dient die Philosophie der Schule (wie später auch bei Kant) der ursprünglicheren Philosophie der Welt, die den wesentlichen Zwecken oder Interessen (hier noch als zeitliche und ewige Glückseligkeit verstanden) entspricht und die mit einer Philosophie für die Welt (Popularphilosophie als popularisierte Philosophie) keineswegs identisch zu sein braucht. Offensichtlich sieht Budde bereits die Gefahr einer Auflösung der Philosophie in allgemeines Räsonnieren und wehrt sich gegen die Zumutung einer unvermittelten Popularität der durch geistige Anstrengung und Arbeit erworbenen Erkenntnis. Insofern verlangt auch er schon, wie dann Rüdiger, vom Philosophen eine besondere Erkenntniskraft und Erkenntnisleistung. Im Unterschied zu Thomasius und Budde geht Rüdiger nicht vom subjektiven Zweck der Philosophie, sondern von der Eigenart ihres Erkenntnisgegenstandes aus, die dann allerdings auch unmittelbar auf den Philosophen zurückverweist. Der Gegenstand der Philosophie ist nämlich, wie Rüdiger immer wieder betont, einerseits schwer zu erfassen und keineswegs jedermann zugänglich, andererseits aber ist seine Erkenntnis höchst wichtig und für jedermann sehr nützlich. So heißt es schon in der ersten Fassung von Rüdigers Hauptwerk (Philosophia synthe· tica 1707): "Philosophia est cognitio veritatis ejus, quae non cuilibet statim manifesta, et omnibus tarnen perutilis est" (3). Es bedarf daher einer eigentümlichen Anstrengung zur Entdeckung der verborgenen, aber allerseits benötigten Wahrheit, also einer szientifischen Einstellung aus existentieller Notwendigkeit. Philosophie hat eine kritische und eine praktische Funktion, und die letzte kann sie ohne die erste nicht erfüllen; zur Glückseligkeit bedarf es des Durchblicks und auch der Urteilskraft. Man könnte auch sagen: Philosophie ist Aufklärung. Diese Auffassung der Philosophie, die sich, wie schon die antike Philosophie, sowohl ihres Abstandes von der Menge als auch ihrer Verantwor117
tung für die Menschheit bewußt ist, behält Rüdiger auch in der als 2. Auflage unter dem Titel Institutiones eruditionis seu philosophia synthetica (1711) erschienenen Umarbeitung seines Werkes wörtlich bei, fügt sie dann aber in der 3. Aufl. (1717) in eine allgemeine praktische Zwecksetzung für jede Erkenntnis bzw. Erudition ein. Alle Gelehrsamkeit muß auf ein Ziel ausgerichtet sein, damit sie nicht eitle Neugierde bleibt, "ne vana sit curiositas" (3). Das höchste Ziel des Menschen ist nämlich die Angleichung seines Willens an den göttlichen Willen, der seinerseits auf Tugend und Glück des Menschen gerichtet ist. Aus dieser Perspektive gesehen ist die Gelehrsamkeit oder die Philosophie, die mit der "eruditio in genere" identisch ist, eine judiziöse Erkenntnis der verborgenen Wahrheiten, die dem Ziel der Angleichung unseres Willens an den göttlichen Willen dient. "Philosophia ergo, sensu generalissimo accepta, quatenus aequipollet eruditioni in genere, est judiciosa veritatis ejus cognitio, quae non cuilibet statim manifesta est, et quomodocunque ad conformationem voluntatis nostrae ad voluntatem Dei pertinet" (6). So umständlich diese Definition auch klingen mag, so klar ist doch ihr Ziel. Philosophie soll als "cognitio judiciosa" der Frömmigkeit und der Tugend dienen, und zwar auf dem Boden der natürlichen Vernunft. Diese zugleich religiös-moralische wie kritische Ausrichtung der Philosophie bestimmt auch die letzte Umarbeitung oder Neufassung von Rüdigers Werk, das nun Philosophia pragmatica heißt (1723, 2. Aufl. 1729), also schon dem Titel nach bewußt praktisch ausgerichtet ist. Die Formulierung dieses Philosophieverständnisses ist nun allerdings noch komplizierter geworden. Die Philosophie, so heißt es jetzt, ist eine Erkenntnis, die auf Sinneswahrnehmung oder Erfahrung beruht und auf dieser Basis die allgemeinen Mittel und Ziele sichtbar macht, die durch Sinneswahrnehmung oder Erfahrung nicht unmittelbar erkannt werden können - damit Gott richtiger verehrt und der Friede (die Ruhe bzw. die Sicherheit) der Menschheit gefördert wird, soweit dies durch die gewöhnliche Erkenntnis nicht möglich ist. "Philosophia est cognitio, quae sensui, seu experientiae, insistendo, hinc eos generales fines, et ea media generalia eruit, quae sensu et experientia, immediate cognosci nequeunt: ut Deus tanto rectius colatur, et tranquillitas seu securitas, humani generis, sicubi deficiunt media cognitionis vulgaris, mediis cognitionis eruditae promoveatur" (1 ff.). Philosophie wird so, als durchdringende Erkenntnis oder Aufklärung durch Einsicht, zum Mittel in einem erhofften Prozeß fortschreitender Frömmigkeit, Tugend und Zufriedenheit. Diese Zufriedenheit ist nicht mehr die noch bei Budde angestrebte zeitliche und ewige Glückseligkeit, denn Glückseligkeit kann die Philo118
sophie nach Rüdiger nicht erwirken. Zufriedenheit aber, das mögliche begrenzte Glück, ist nur durch ein auf Erfahrung gegründetes und zugleich Erfahrung überschreitendes zielgerichtetes Erkennen erreichbar, und zwar im Gehorsam gegen Gott. Gleichzeitig bietet Rüdiger jedoch (weil es nicht auf die Formulierung, sondern nur auf die Sache selbst ankomme) noch eine weitere Bestimmung der Philosophie an, die zwar seinen bisherigen Definitionen nicht widerspricht, aber durch ihre genauere Herausarbeitung des Erkenntnisgegenstandes der Philosophie - wohl schon im Gegenzug zu W olff- eine ganz neue und folgenreiche Perspektive eröffnet. Demnach ist die Philosophie, wie es jetzt heißt, die allgemeine Erkenntnis verborgener Größen und Eigenschaften, eine "cognitio generalis earum qualitatum atque quantitatum, quae cognitionem vulgarem fugiunt" (3). Diese an sich alte Unterscheidung zwischen Größen und Eigenschaften bzw. deren Erkenntnis, die nun für die Selbstbestimmung der Philosophie bis hin zu Kant wichtig wird, enthält nämlich die Möglichkeit, die Mathematisierung der Philosophie abzuwehren. Philosophie ist zwar auch noch Erkenntnis meßbarer Größen (quantitates), aber sie ist auch, wenn nicht vor allem, später sogar ausschließlich, Erkenntnis von Beschaffenheiteil (qualitates ). Die ersten bedeutsamen Weiterbildungen des Thomasianismus durch Rüdiger und Budde haben, wie gesagt, selber wieder Schule gemacht und treten somit bald nach dem Beginn des 18. Jahrhunderts neben die weiterwirkenden direkten Einflüsse von Thomasius, mit denen sie sich vielfach (wie auch untereinander) kreuzen. So wie Thomasius Halle geprägt hatte, so prägte nun Budde das geistige Klima von Jena und Rüdiger das von Leipzig; ihr Einfluß reicht z. T. bis in die zweite und dritte Generation der dort lebenden oder von dort kommenden Philosophen. Aus dem Leipziger Umkreis von Rüdiger sind zunächst Gottfried Polycarp Müller und der bedeutendere August Friedrich Müller zu nennen, später kommen Adolph Friedrich Hoffmann und dessen Schüler Christian August Crusius, der dann für Kant wichtig wurde, hinzu. Aus dem Jenaer Kreis um Budde sind heute vergessene Systematiker wie Johann Jakob Syrbius und Johann Jakob Lehmann, vor allem aber Historiker und Lexikographen wie Gottlieb Stolle, Johann Georg Walch und Jakob Brucker hervorgegangen, die ebenfalls bis in die Spätaufklärung gewirkt haben. An dieser Stelle seien nur einige Beispiele für die weitere Entwicklung des Thomasianismus hervorgehoben: J. G. Walch und A. F. Müller als Beispiele für einen von Rüdiger inspirierten 'kritischen' Philosophiebegriff sowie Martin Musig und Johann Jakob Lebmann als Beispiele für einen im Umkreis von Budde entwickelten 'pragmatischen' Philosophie119
begriff. Abschließend sind dann kurz Hoffmann und Crusius als Beispiele für das Ende dieser Phase vorzustellen 3 • Auch die hier nicht näher erörterten Philosophen und Philosophiehistoriker halten sich weitgehend in dem bereits skizzierten Rahmen. Gottfried Polycarp Müller geht in seiner Philosophia facultatibus superioribus accommodata (1718) von der Gelehrtheit aus, die er mit der theoretischen und praktischen Weisheit "ex lumine naturae et gratiae" gleichsetzt, hält sich dann aber an die natürliche Weisheit aus bloßer Vernunft. "Hinc orta est eruditio naturalis, quam et philosophiam (die natürliche Weißheit) dicimus, hoc est, cognitio solida, clara et efficax ex lumine naturae acquisita, rerum ad veram hominum internam, et externam felicitatem pertinentium" (4). Die von der bloßen Neugierde unterschiedene, lebendige und wirksame, d. h. den Verstand und Willen bewegende Erkenntnis wird dann auf die (für die Glückseligkeit) wesentlichen Kenntnisse eingeschränkt, die, wie es hier heißt, "nexu evidenti pro substratae materiae capacitate" verknüpft sein sollen. - Für Johann Jakob Syrbius (Institutiones philosophiae primae 1720, 2. Aufl. 1726) ist die Philosophie "studium veri et boni" (100). - Gottlieb Stolle (Historie der Gelehrtheit li, 1718, 4. Aufl. 1736) versteht die Philosophie als "eine vernünfftige Erkenntnis dessen, was zur menschlichen und zwar zeitlichen Glückseeligkeit nöthig ist" (442). Auch Jakob Brucker definiert in seinen Kurzen Fragen aus der philosophischen Historie (1731) die Philosophie als "eine aus richtigen Grund-Sätzen und Principiis hergeleitete Wissenschaft desjenigen, was wir aus Vernunfft von dem wahren und gutenund der daraus fliessenden Glückseeligkeit gründlich erkennen können" (8). An sich ist sie mit der Weisheit identisch, nur daß bei dieser die Ausübung der Erkenntnis dazu gehört (vgl. 4 f.). In der Einleitung zum ersten Band seiner ausführlichen Historia critica philosophiae (1742) nimmt Brucker dann wieder die res divinae ac humanae in die "scientia veri atque boni" hinein (vgl. 8). Die von Thomasius herkommenden Juristen oder Rechtsphilosophen, die hier weitgehend außer Betracht bleiben dürfen, neigen verständlicherweise zu einem praktisch ausgerichteten Philosophiebegriff. Dafür nur zwei Beispiele. Für Ephraim Gerhard (Delineatio philosophiae rationalis 1709, 2. Aufl. 1717) ist die Philosophie als doctrina, nämlich "in abstracto, et non quatenus in mente concipitur" (17), ein Teil der eruditio. Personal verstanden ist sie eine habituelle Kenntnis oder Erkenntnis (notitia), die sicher und apodiktisch, aber auch nur wahrscheinlich, die lebendig und effektiv, aber auch tot und bloß gedanklich sein kann; und sie handelt von Sachen, nicht nur von Gedanken und Begriffen. Sie wird durch natürliche Vernunft erworben und dient letztlich dem Glück des Menschen - bei Gerhard allerdings nur dem zeitlichen Glück, denn von einem ewigen Glück weiß die Vernunft als solche hier schon nichts mehr. "Uno verbo: Philosophia est doctrina, tradens notitiam, amorem usumque rerum, natura cognoscibilium, et ad humanam felicitatem pertinentium" (18, vgl. 15 ff.). Für Johann Gottlieb Heineccius (Elementa philosophiae rationalis et moralis 1728, 9. Aufl. 1745) ist die Philosophie eine "cognitio veri et boni, ex recta ratione derivata, et ad veram hominis felicitatem comparata" (1). Dabei beschränkt sich die recta ratio auf die zeitliche Glückseligkeit; wer über die ewige Glückseligkeit spekuliert, überschreitet die Grenzen der Philosophie (3).
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Walch, der, bevor er zu Budde nach Jena ging, bei Rüdiger in Leipzig studiert hatte, folgt Budde vor allem in der Bestimmung des Gegenstandes der Philosophie, hebt aber zugleich ähnlich wie Rüdiger durch seine Zusätze den kritischen Charakter der Philosophie hervor. Am ausführlichsten, oft in wortwörtlicher Übereinstimmung mit den Ausführungen in seinem Philosophischen Lexikon (1726, 4. Aufl. 1775, Repr. 1968) bestimmt er seinen Begriff von Philosophie in seiner Einleitung in die Phi· losophie von 1727. Er definiert sie als "eine iudicieuse Erkänntnis allgemeiner Wahrheiten von göttlichen und menschlichen Sachen aus der Natur derselbigen vermittelst der gesunden Vernunfft, so daß wir dadurch die Ehre Gottes und die menschliche W ohlfahrth befördern können" (22). Indem er dann ähnlich wie Budde Art und Gegenstand, Mittel und Zweck der Erkenntnis erläutert, erklärt er im Anschluß an Rüdiger die judiziöse Erkenntnis dahingehend, "daß die Wahrheiten, damit ein Philosophus umgehet, einem nicht so gleich in die Augen fallen" (23); sie müssen auf eine gründliche und zusammenhängende Weise erkannt werden, und zwar aus ihrer Natur, d. h. ihrem Wesen, oder, wie Kant später sagen wird, aus (ihren) Begriffen. Faktisch geht Walch jedoch über Rüdiger hinaus, indem er die durchdringende Erkenntnis der Philosophie nicht nur eine allgemeine Erkenntnis, sondern auf allgemeine Wahrheiten ausgerichtet sein läßt. Im übrigen vergißt er nicht, im Sinne von Thomasius hinzuzufügen, daß die Philosophie eine lebendige und kräftige Erkenntnis sein müsse, weil der Mensch "zur Praxi erschaffen" ist und beim Philosophen folglich Verstand und Tugend "auf das genaueste vereiniget" sein müssen (24). Daneben aber hält Walch, der Theologe ist, wie Rüdiger am religiösen Zweck der Philosophie fest. Gloria Dei et utilitas generis humani bilden noch eine unverbrüchliche Einheit. Von dieser religiösen Funktion der Philosophie ist bei A. F. Müller, der Jurist war, keine Rede mehr. Müller (Einleitung in die philosophischen Wissenschaften I, 1728, 2. Aufl. 1733) hat seine Auffassung der Philosophie z. T. in öffentlicher Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Rüdiger entwickelt. Im Hinblick auf den Sprachgebrauch, der nur gewisse Teile der Gelehrsamkeit Philosophie nenne, die wahre Gelehrsamkeit aber als Teil der Weisheit verstehe, erörtert er zunächst die Weisheit und die Gelehrsamkeit, um dann die Philosophie als Teil derselben zu entwickeln oder vielmehr auszugrenzen. Die Weisheit ist sozusagen die allgemeinste, nicht notwendigerweise aber eine "gelehrte" Geschicklichkeit, seine Glückseligkeit und die anderer Menschen zu befördern; sie ist wesentlich praktisch, "eine angewöhnte fertigkeit eines vernünftigen, tugendhaften, und klugen lebens" (6). Die Gelehrsamkeit liefert dazu durch eigenes und 121
gründliches, "scharfsinniges" und "künstliches" Nachdenken das theoretische Fundament; sie ist "eine fertige geschickligkeit, diejenigen zum nuzen des menschlichen lebens nöthigen wahrheiten, die nicht unmittelbar in die sinne fallen, sondern nur durch künstliches nachdencken sich erforschen lassen, scharfsinnig und aus ihrem grunde zu erkennen, zu beförderung wahrer weisheit unter den menschen, und folglich zu erlangung wahrer glückseligkeit" (25, vgl. 6). Die Philosophie aber ist nur der Teil der Gelehrsamkeit, der als "gelehrsamkeit überhaupt" nach Abzug der Theologie, Jurisprudenz und Medizin übrig bleibt (7, vgl. 3 ff.). Damit verzichtet Müller auf eine positive Definition der Philosophie und paßt diese trotz seiner Kritik an der Fakultätenhierarchie der bestehenden Wissenschaftsorganisation an. Der Sache nach aber ist die Philosophie für ihn ausgebildetes kritisches Nachdenken im Dienste der Praxis; sie ist wie bei seinem Lehrer eruditio generalis: authentisches und szientifisches (scharfsinniges und künstliches) Nachdenken zum Zwecke allgemeiner Glückseligkeit. Diese aber besteht in der Erkenntnis, in der Einrichtung und im Genuß des Guten. Mit deutlicher Spitze gegen das "traurige kopfhängen" der Pietisten besteht Müller auf dem Recht des Menschen, "das nun erlangte gute mit anmuth und lust empfinden und geniessen" zu können; er fordert bereits einen guten Geschmack "im moralischem verstande" auch in Ansehung der Sinne (17 ff., vgl. 13 ff.). Während Müller und Walch im Anschluß an Rüdiger vor allem den kritischen Charakter der Philosophie betonten, entwickelte sich im Umkreis von Budde eine Tendenz, nicht nur den praktischen, sondern darüber hinaus sogar den pragmatischen Charakter der Philosophie herauszustellen, und zwar schon vor dem Auftreten von Christian W olff, der dann ihren wissenschaftlichen Charakter betonte. Diese Richtung konnte an Buddes Betonung der moralisch praktischen Wirksamkeit lebendiger Erkenntnis anschließen, konnte sich aber auch durch ihre Beschränkung auf das praktisch Mögliche und Nötige von seinen ursprünglichen religiösen Intentionen entfernen. So definiert z. B. Buddes Schüler Martin Musig (Licht der Weisheit 1709), obwohl er angeblich nur die Grundsätzes seines Lehrers in deutscher Sprache verbreiten will, die Philosophie ganz anders als dieser von ihrem erreichbaren Zweck her (so wie er ihn sieht). Für Musig ist die Gelehrsamkeit eine "Erkänntniß nützlicher und nöthiger Dinge, durch welche wir angewiesen werden, wie wir durch Beobachtung göttlichen Willens so weit die Vernunfft solchen ansagen kan, unsere Glückseeligkeit beobachten mögen" (7). Die Hauptteile dieser Erudition sind die Theologie, die Medizin und die J urisprudenz; die Philosophie hingegen ist nur eine Instrumentalwissen122
schaft, "eine nöthige und nützliche Handleiterinn" (13). Ihr Endzweck ist aber derselbe wie der der übrigen Erudition, nämlich "daß die Ehre Gottes, und die Glückseeligkeit der Menschen dadurch befördert werde" (37). Aus dieser Betonung der existentiellen Relevanz der Philosophie und der Charakterisierung ihrer Gegenstände als nötig und nützlich konnte sich dann sehr schnell (in Reaktion auf Wolffs Universalwissenschafts- und Allwissenheitsforderung) eine Beschränkung der Philosophie auf sogenannte "Hauptwahrheiten" oder "wesentliche Bedürfnisse" entwickeln4 • Auch Johann Jakob Lehmann, der sich ebenfalls betont an Budde anschließt, geht in seiner Vernunftlehre (1723) von dem durch Gott gesetzten Endzweck der Gelehrsamkeit aus; sie soll der Ehre Gottes und dem Glück des Menschen dienen, und zwar seiner zeitlichen wie seiner ewigen Wohlfahrt. Dann aber fügt Lehmann, damit einen anderen Akzent setzend, hinzu, die Philosophie sei eine nötige und nützliche Erkenntnis, die der Vervollkommnung der Seele, insbesondere zur Verbesserung des Verstandes und des Willens diene. Folglich definiert er die Philosophie umständlich als "eine Vollkommenheit der Seelen, sonderlich des Verstandes, welche besteht in einer wahren, gründlichen und lebendigen Erkäntniß derer Geschöpffe, und des Schöpffers, ingleichen derer daher fliessenden Verrichtungen, und vorhero zu setzenden Besserungen, wie auch derer hierzu dienlichen W erckzeuge und Hülffs-Mittel, so weit dieses alles uns die wir nebst der ewigen hauptsächlich die zeitliche Glückseligkeit von Gott zu erhalten trachten, zu wissen und zu thun nöthig und nützlich ist, und sonst aus Betrachtung Schon vor Musig hatte Samuel Grosser (Gründliche Einleitung zur wahren Erudition II, 1704) die Philosophie von ihrem Lebenszweck her definiert. Sie ist "eine aus dem Licht der Natur herrührende Erkänntniß dessen, was man zur Bedürffniß dieses Lebens, theils zu wissen, theils auch zu verfertigen, oder aber Pflichtmäßig auszuüben hat" (2, vgl. 47). Ähnlich wollte auch Christoph August Heumann (Von dem Wesen und dem Begriffder Philosophie, Acta philo· sophorum I, 1715/16) die Philosophie auf den praktischen Nutzen ausrichten. Philosophie ist für ihn "eine Untersuchung und Erforschung nützlicher Wahrheiten aus festen Gründen und principiis" (95). Sie ist Weisheit, die zur Tugend führt. Daraus ergibt sich, "daß die Philosophie ... durch und durch scientia practica sey"; ein purus putus theoreticus oder einer, der "bloß zur Curiosität" spekuliert, mag zwar ein gelehrter Mann sein, ein Philosoph ist er jedoch nicht (vgl. 100 ff.). Philosophie ist moralisch praktische Weisheit, und die zufällige Weisheit der Nichtphilosophen unterscheidet sich von der gründlichen und gelehrten Philosophie nur der Form nach - Philosophie der Schule und Philosophie der Welt scheinen also inhaltlich identisch zu sein.
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der Sache selbst, ohne besondere Offenbahrung, hergeleitet wird, damit wir dadurch einen Weg haben möchten, ein tugendhafftes Leben zu führen und gedachte Glückseligkeit von Gott zu erlangen und zu behalten, auch nach Gelegenheit andern mit solcher Erkäntniß zu dienen, auf daß auch hierdurch endlich die Ehre Gottes nachdrücklich befördert werde" (27 f.). Zum Abschluß dieser Skizze des Philosophieverständnisses im Thomasianismus sei hier noch kurz auf Rüdigers Schüler Adolph Friedrich Hoffmann und dessen Schüler Christian August Crusius hingewiesen. Beide gehören schon einer neuen Generation an, die durch das Auftreten Christian W olffs geprägt ist. Sie geraten nicht wie etwa Budde und Rüdiger nachträglich in die Auseinandersetzung mit W olff hinein, sondern wachsen darin auf. Diese Frontstellung zu Wolff bestimmt auch ihren Philosophiebegriff, der einerseits noch von der Notwendigkeit subjektiven Scharfsinns ausgeht, andererseits jedoch gegen W olffs Bestimmung der Philosophie als Möglichkeitswissenschaft die Wirklichkeit ihrer Objekte hervorhebt. Das Glück verschwindet allerdings dabei aus der Philosophiedefinition, d. h. Philosophie wird nicht mehr finalistisch definiert und damit auch nicht mehr "subjective", sondern "objective". Für Hoffmann (Vernunft/ehre 1737) ist die Philosophie das Zentrum der sogenannten "judiciösen Wissenschaften", d. h. sie ist keine bloße "Gedächtniswissenschaft" (vgl. 15 f., 20 f.). Die Philosophie ist auch nicht jedermanns Sache; sie übersteigt den gemeinen Verstand und bedarf des Scharfsinns. Sie ist kritischer und gründlicher Durchblick durch die Meinungen der Menge, und wie schon bei Platon richtet sie sich auch hier auf das wahrhaft Seiende. In Opposition zu W olff betont Hoffmann nun, daß die Philosophie keine Möglichkeits- sondern Wirklichkeitswissenschaft sei. Für ihn ist sie "eine natürliche Erkändtniß verborgener Wahrheiten, von der Natur und Existenz solcher Dinge, welche nicht in der Willkühr der Menschen, sondern ausser derselben, dergestalt gegründet sind, daß sie natürlicherweise niemahlsvöllig aufhören zu seyn" (13). Die Gegenstände der Philosophie sind die Existenz und Essenz ewiger bzw. vom Menschen unabhängiger Dinge und damit die sogenannten allgemeinen Naturen oder Beschaffenheiten. Indem Hoffmann so die Wirklichkeit als Gegenstand der Philosophie herausstellt, setzt er sich deutlich von W olffs Idee einer Wissenschaft aller möglichen Dinge ab; und indem er diese Wirklichkeit als von Menschen unabhängig bezeichnet, gibt er ihr sogar eine gewisse Ferne und Unverfügbarkeit (vergleichbar dem Kosmos oder der Physis der Antike). Wenn die Philosophie für ihn jedoch auch (quasi mittelalterlich scholastisch) auf die sogenannten Naturen 124
bzw. allgemeinen Naturen gerichtet ist, so ist er den letzten Intentionen der Wolffschen Möglichkeitswissenschaft, nämlich ihrer Abzielung auf Wesensmöglichkeiten, schon wieder ganz nahe. Gleichzeitig aber nennt Hoffmann als Gegenstand der Philosophie auch die Eigenschaften der Dinge. Damit greift er offenbar Rüdigers Unterscheidung von cognitio quantitatum und cognitio qualitatum auf. Aber während dieser die Größenerkenntnis noch zur Philosophie im weiten Sinne rechnete, möchte Hoffmann die Philosophie auf die Erkenntnis der Beschaffenheiten der Dinge beschränken. Für ihn sind Philosophie und Mathematik von vornherein methodisch verschieden. So wird auch in dieser Hinsicht der Unterschied zu W olff wieder akzentuiert. Crusius führt diesen Ansatz seines Lehrers konsequent fort (Weg zur Gewißheit und Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis 1747, Repr. 1965). Philosophie ist der "Inbegriff derjenigen Erkenntniß ... , welche mit solchen Vernunftwahrheiten zu thun hat, deren Object beständig fortdauret"(3). Vernunftwahrheiten sind hier Erkenntnisse aus bloßer Vernunft, nicht nur verites de raison im Unterschied zu verites de fait. Sie richten sich auch auf Tatsachen, allerdings auf ewige oder doch in dieser Welt nicht aufhebbare Tatsachen, wozu bei Crusius sowohl Wesenheiten wie Weltkörper gerechnet werden. Deren Erkenntnis soll selbstverständlich gründlich sein, aber das kann nicht bedeuten, daß Philosophie immer nur nach dem Grund fragt; z. B. ist sie angesichts Gottes bloße Existenzerkenntnis. Damit verliert der für W olffs Denken so konstitutive Unterschied zwischen bloßer Tatsachenerkenntnis und philosophischer Grunderkenntnis seine Bedeutung. An die Stelle der Demonstration tritt irgendwann die bloße Deskription; auch Philosophie muß sich letztlich darauf beschränken, zu sagen, was ist. Thomasius hatte die Philosophie betont finalistisch definiert, d. h. er war vom Philosophieren als einer zielgerichteten menschlichen Tätigkeit und damit vom philosophierenden Subjekt ausgegangen. Philosophieren war für ihn, wie schon für Sokrates, Suchen nach der wahren Glückseligkeit- nun allerdings, unter christlichen Voraussetzungen, aber in Absetzung von der Offenbarungstheologie, betontermaßen Streben nach irdischer Glückseligkeit. Das vorrangige Ziel der Philosophie war daher die Erkenntnis des (moralisch) Guten, und zwar eine lebendige, d. h. echte und wirksame Erkenntnis. Thomasius' Schüler und Anhänger folgten diesem Philosophieverständnis z. T. bis in die Formulierungen hinein: sei es, daß sie seine erste oder seine zweite Definition (notitia rerum divinarum ac humanarum, Erkenntnis des Wahren und Guten) aufnahmen, sei es, daß sie seine letzte Bestimmung (lebendige Erkenntnis des Guten) auf 125
Erkenntnis des Nötigen und Nützlichen hin zuspitzten. Und sie folgten seinem Philosophieverständnis auch insofern, als sie seine subjekt- und praxisbezogene Grundintention übernahmen, z. T. sogar teleologisch untermauerten. Aber sie sahen sich doch auch zu einigen weitergehenden Formulierungen veranlaßt: einerseits zur Rückkehr zu älteren Bestimmungen hinsichtlich des Zieles, andererseits zu neuen Bestimmungen hinsichtlich des Objekts der Philosophie. So versuchten sie z. T., die von Thomasius zunächst fast völlig ausgeklammerte Religion wieder in die Philosophie hineinzunehmen, indem sie dieser wieder eine Ausrichtung auf die ewige Glückseligkeit oder die Ehre Gottes gaben; z. T. versuchten sie, das Objekt der Philosophie zu präzisieren: zunächst im Ausgang von der als Scharfsinn oder Urteilskraft verstandenen philosophischen Erkenntnisweise, dann im Gegenzug zu W olffs Auffassung der Philosophie als mathematisch exakte Möglichkeitswissenschaft. Dies führte im Ergebnis zu einer Aufhebung der ursprünglich subjekt- und praxisorientierten Philosophiekonzeption zugunsten einer mehr objekt-und wissenschaftsorientierten Definition, die allerdings, ob sie nun von verborgenen Qualitäten oder beständigen W esenheiten spricht, merkwürdig unscharf und archaisch wirkt.
b) Endgültiges Wissen Um 1720 begann Christian Wolff seinen Einfluß zu entfalten. Mit ihm zog ein neuer mathematischer Geist in die Philosophie ein, der dem Thomasianismus fremd war; Philosophie wurde nun in Analogie zur Naturwissenschaft verstanden, also primär als scire per causas. Unter dem Eindruck der neuen Naturwissenschaft entwickelte sich so eine Tendenz zur Methodisierung, ja Mathematisierung der Philosophie und damit auch eine Tendenz, einen enger als bisher definierten Wissenschaftsbegriff auf die als 'Wissenschaft' verstandene Philosophie anzuwenden. Allerdings ging es W olff, wie schon den modernen Metaphysikern vor ihm, nicht um bloß hypothetisches Wissen, sondern um letztbegründetes und letztbegründendes Prinzipienwissen, um Philosophie als Gesamt- und Grundwissenschaft und um Wissenschaft als System. Philosophie soll zwingende theoretische Gewißheit geben und deshalb endlich Wissenschaft werden: objective als Inbegriff von erkannten Wahrheiten und subjective als Fertigkeit, aus evidenten Prinzipien zu beweisen. Dieses Philosophieverständnis wird von Wolff, vor allem im Discursus praelimi· naris seiner lateinischen Logik (Philosophia rationalis sive logica 1728, 126
3. Aufl. 1740, Repr. 1983), in zweifacher Hinsicht abgesichert: erstens durch eine Theorie der verschiedenen Erkenntnisweisen und zweitens durch eine Definition der Philosophie als Möglichkeitswissenschaft. Zunächst unterscheidet er drei Arten oder Stufen der Erkenntnis: die cognitio historica als bloße Tatsachenerkenntnis, die cognitio mathematica als Größenbestimmung und die cognitio philosophica als Grundoder Ursachenwissenschaft. Diese Unterscheidungen sind an sich alt, neu ist nur ihre Systematisierung zu einer dreifachen oder dreistufigen Erkenntnis. Die erste Art der Erkenntnis liefert die Basis aller Erkenntnis, die zweite soll deren Genauigkeit garantieren; die wahre und höchste Erkenntnis ist jedoch die philosophische, die auf die causae oder rationes der Dinge gerichtet ist. Sie ist nicht nur kritisch, "scharfsinnig" oder "judiziös", sondern "gründlich" im präzisen Sinne des Wortes, d. h. sie negiert nicht die gemeine Erkenntnis (als bloße Meinung zugunsten einer höheren oder tieferen philosophischen Erkenntnis), sondern versteht sie positiv als historische Erkenntnis (im Sinne von Erfahrung und Tatsachenfeststellung), um die philosophische auf ihr aufzubauen. Diese an sich ebenfalls alte (aristotelische) Bestimmung der Philosophie als Ursachen- oder Prinzipienerkenntnis wird von Wolff dann dahingehend präzisiert, daß die Philosophie die Erkenntnis alles Möglichen sei. Mit dieser scheinbar nichtssagenden, weil anscheinend unbestimmten Bestimmung des Erkenntnisgegenstandes der Philosophie erhebt W olff einen universalen Erkenntnisanspruch für die Philosophie und bestimmt deren Objekt zugleich als das rational Erkennbare, weillogisch bzw. ontologisch Mögliche. Genauer gesagt geht es nämlich um die möglichen Dinge als solche, d. h. insofern sie sein können oder insofern sie möglich sind. "Philosophia est scientia possibilium quatenus esse possunt" (13). Die Möglichkeit der möglichen Dinge wird dabei als Widerspruchsfreiheit, also Denkbarkeit, aber auch als Ermöglichung im Sinne von Verursachung erläutert; letztlich scheint es W olff jedoch um die W esensmöglichkeit der Dinge, das ens qua possibile und das possibile qua tale, zu gehen. Insofern reicht die Bandbreite der Bestimmung der Philosophie als Möglichkeitswissenschaft (scientia possibilium) auf der Basis der logischen Möglichkeitsfrage von der empirischen Ursachenwissenschaft bis zur transzendentalen W esenswissenschaft. Letztlich geht es um die Bedingungen der Möglichkeit von allem Seienden und Nichtseienden überhaupt und damit im Grunde um Gott als "ratio possibilium". Philosophie als Universalwissenschaft muß Fundamentalwissenschaft sein, letztlich will sie absolutes Wissen. Wenn Philosophie aber exaktes und endgültiges Wissen ist, dann gibt es eigentlich nur eine Philosophie, nämlich die eine 127
inhaltlich wahre Philosophie, und diese besitzt nur Gott selber. Entsprechend heißt es im ersten Teil der Theologia naturalis (1736, 2. Aufl. 1741, Repr. 1981) "Deus est philosophus absolute summus" (§ 268). Für die Menschen kommt es daher darauf an, soweit wie möglich an diesem göttlichen Wissen zu partizipieren: je mehr (prinzipielles) Wissen, desto mehr Philosophie. Natürlich möchte auch Wolff durch dieses Wissen zum Glück gelangen, und zwar durch sicheres und umfassendes Wissen, und er hält dieses, wenn auch in Grenzen, für möglich. Aber seine Philosophiereflexion macht einen nachdrücklichen, vermutlich gegen Thomasius gerichteten Unterschied zwischen einer objektivischen und einer Subjektivischen Philosophiedefinition, und W olff definiert die Philosophie in erster Linie objective oder systematice, d. h. objektorientiert und als eine wissenschaftliche Disziplin. W olff hat bekanntlich zu seiner Zeit eine einzigartige Wirkung ausgeübt. Er hat die Philosophie, und zwar primär seine eigene, in Deutschland zu einer öffentlichen Macht erhoben und dadurch in alle Lebensbereiche hinein gewirkt. Seine Schüler und Anhänger eroberten bis zur Jahrhundertmitte eine Universität nach der anderen. Allerdings kann man den Begriff Wolffianismus enger oder weiter fassen, d. h. man wird deutlich zwischen Wolffianern strikter Observanz und freieren oder selbständigeren W olffianern unterscheiden müssen. W olffianer in irgendeinem engeren Sinn wird man wohl nur solche Philosophen nennen können, die nicht nur zentrale Lehrstücke von ihm übernahmen, sondern auch seinen Anspruch auf eine 'mathematische', d. h. mathematisch exakte und nach Art der Mathematik methodische Universal- und Fundamentalwissenschaft. Insofern ist der Philosophiebegriff der sogenannten Wolffianer, in denen sich ihr jeweiliges Philosophieverständnis reflektiert, ein nicht unwichtiges Kriterium für ihre jeweilige philosophische Grundorientierung; und daher ist hier nicht nur allgemein zu fragen, welche Rolle W olffs Methodenprogramm bei seinen Anhängern und Nachfolgern spielt, sondern auch insbesondere, wieweit seine Theorie der Erkenntnisarten und seine Intention auf eine tendenziell absolute Möglichkeitswissenschaft übernommen wird. Aus dieser Perspektive wird sich dann zeigen, daß es unter den bedeutenderen Universitätslehrern der Zeit gar nicht so viele strenge W olffianer gegeben hat, wie man vielleicht auf den ersten Blick annehmen könnte, oder anders gesagt, daß Wolff, obwohl er der Philosophie zweifellos zu einem neuen Selbstbewußtsein verholfen hat, mit seinem Philosophiebegriff im engeren Sinn keineswegs besonders erfolgreich gewesen ist. Läßt man seine frühesten Schüler (Ludwig Philipp Thümmig und Georg Bernhard Bilfinger) 128
beiseite, weil ihre in diesem Zusammenhang wichtigen Schriften noch vor der lateinischen Logik Wolffs erschienen sind\ so muß sich das Augenmerk zunächst auf Johann Nicolaus Frobesius und Johann Peter Reusch, insbesondere aber auf Friedrich ChristianBaumeister richten, deren Aussagen zum Philosophiebegriff im wesentlichen aus den dreißiger Jahren datieren. Sie alle haben schon Schwierigkeiten mit W olffs Definition der Philosophie als Möglichkeitswissenschaft, während die Theorie der Erkenntnisarten für sie noch relativ unproblematisch zu sein scheint. Der Helmstedter Johann Nicolaus Frobesius möchte der Wolffschen Philosophie durch deren tabellarische Darstellung dienen, und zwar aus der eher traditionellen Perspektive einer Enzyklopädie oder Pansophie (Systematis pansophici seu encyclopaediae delineatio 1734). Dabei geht er von der eruditio sive sapientia aus und teilt diese in Historie, Philosophie und Philologie. Nachdem er dann die "cognitio philosophica (scientia)" als demonstrative Erkenntnis der Dinge und ihrer Gründe eingeführt hat, bestimmt er die Philosophie mit W olff als Möglichkeitswissenschaft, nämlich als Wissenschaft von allen möglichen Dingen, insofern und warum sie möglich sind, "possibilium quatenus et cur ea possibilia sunt, aut, si mavis, eorum, quae existunt vel existere possunt scientia" (14, vgl. 8). Ähnlich definiert er auch in seiner Übersicht über W olffs System (Systematis philosophici Wolffiani delineatio 1734), indem er Wolffs verschiedene Definitionen in drei verschiedenen Ansätzen zusammenfaßt, die Philosophie als "possiblium, quatenus et cur ea possibilia sunt; aut si mavis, eorum quae existunt, vel existere possunt; vel denique, eorum quae vera sunt, quatenus et cur ea vera sunt, scientia" (5). Die letzte Stufe der Definition weist allerdings wieder auf traditionelle Vorbilder, letztlich auf Aristoteles, zurück. Philosophie ist Erkenntnis (Wissenschaft) dessen, was wahrhaft ist, insofern es ist und warum es ist, also Ontologie und Grund- oder Ursachenwissenschaft. 5
Während Ludwig Philipp Thümmig in seinen Institutiones philosophiae Wolf fianae (1725/26, Repr. 1982) das Problem der Philosophiedefinition vernachlässigt, hat Georg Bernhard Bilfinger schon 1722 Wolffs erste Andeutungen über die verschiedenen Arten oder Stufen der Erkenntnis in einer Dissertation De triplici rerum cognitione (1722) aufgenommen und damit wohl auch auf Wolff selbst zurückgewirkt. Die Philosophie untersucht "ex distinctis rerum ideis" die Gründe (rationes) der Dinge (vgl. 4, 13). Die Definition der Philosophie als Möglichkeitswissenschaft spielt bei beiden Wolff-Schülern keine Rolle. - Zu den frühen Streitigkeiten um Wolffs Philosophiebegriff vgl. Johann Friedeich Stiebritz, Erläuterung der vernünftigen Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes 1741, Repr. 1977 (46 ff.).
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An dieser Auffassung der Philosophie als Erkenntnis der letzten Gründe orientiert sich auch der Jenaer Johann Peter Reusch. In seinem Systema logicum (1734, 2. Aufl. 1741), das noch im Stile der ortsüblichen, durch Budde etablierten Eklektik die Regeln der Alten mit denen der Neuen und beide mit eigenen verknüpfen will, definiert er die philosophische Erkenntnis im Rahmen der Erörterung der "gradus cognitionis" objective als eine durch Vernunftgründe oder Prinzipien "instruierte" Erkenntnis der Ursachen dessen, was ist und geschieht (27). Subjective ist Philosophie die Fertigkeit zu einer solchen Erkenntnis; der Philosoph kann die Gründe erkennen, warum die Dinge sein können. Diese müssen natürlich möglich sein, da die Objekte wahrer Erkenntnis widerspruchsfrei denkbar sein müssen. Darauf laufe auch Wolffs Bestimmung der Philosophie als "scientia possibilium, quatenus esse possunt" hinaus; denn der Begriff der Wissenschaft schließe den des Beweisens ein, und Beweisen bedeute, die unbezweifelbaren Gründe eines Dinges oder Geschehnisses angeben zu können (30, vgl. 23 ff.). So wird die Möglichkeit teils als Widerspruchsfreiheit oder Denkbarkeit, teils als zureichender Grund oder Wirkmöglichkeit (Ermöglichung) interpretiert und damit W olffs Philosophiedefinition defensiv gerettet, wenn auch schon mit deutlicher Zurückhaltung. Auch Friedrich Christian Baumeister, der wohl erfolgreichste Propagator der Wolffschen Philosophie, der in Jena und Wittenberg studiert hatte und dann Rektor des Görlitzer Gymnasiums geworden war, scheint Wolffs Philosophiebegriff nur mit Vorbehalt zu akzeptieren. Im ersten Teil seiner Philosophia definitiva von 1735 (1775, Repr. 1978), in der W olffs Definitionen meist wortwörtlich, aber schon ohne Rücksicht auf die umständliche demonstrative Lehrart zusammengestellt werden, wird die cognitio philosophica zunächst als "cognitio caussarum" sowie "cognitio rationis eorum, quae sunt vel fiunt" eingeführt und die Philosophie als "scientia possibilium quatenus esse possunt, siue, cur et quomodo sint possibilia" definiert (vgl. 1 f.) Dann aber wird in einer um Versöhnung und Verteidigung bemühten Erläuterung dieser Bestimmung die Möglichkeit de facto wieder durch die Kausalität ersetzt. Die Philosophie, so Baumeister, erkennt den Grund, warum das, was existiert, so und nicht anders existiert, d. h. wie es möglich war, daß es so geworden ist. Daher kann die Philosophie auch als "scientia rerum rationis sufficientis" und der Philosoph als derjenige, "qui rationem reddere potest eorum, quae sunt vel esse possunt", definiert werden (3, vgl. 237 ff.). Wer mit dieser Erklärung unzufrieden ist, wird an Ciceros Auffassung der Philosophie als Erkenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge 130
verwiesen, mit dessen Philosophiedefinition W olff bestens harmoniere, denn die res divinae et humanae seien nichts anderes als res possibiles - eindeutig eine um Harmonisierung bemühte Reminiszenz an die im Jenaer Kreis um Budde verbreitete christlich-stoische Philosophiedefinition. In seinen "methodo Wolfii" gleichzeitig geschriebenen Institutiones philosophiae rationalis {1735, 5. Aufl. 1741) geht Baumeister wieder von der Unterscheidung zwischen historischer, mathematischer und philosophischer Erkenntnis aus und definiert die cognitio philosophica als cognitio causarum sive rationum sowie genauer als cognitio rationis sufficientis6 • Dann aber erweitert er diese Bestimmungen, ohne auf W olffs These einer Möglichkeitswissenschaft einzugehen, indem er auf die Unterscheidung zwischen Philosophie in subjektiver und objektiver Bedeutung zurückgreift und sich dabei auf den Göttinger Eklektiker Samuel Christian Hollmann beruft. Subjective oder als persönlicher Habitus betrachtet ist Philosophie eine Fertigkeit, "rerum vel veritatum rationes sufficientes et caussas investigandi et perspiciendi" {13); objective oder systematice betrachtet ist sie eine Wissenschaft oder Lehre, aus bloßer Vernunft sein Glück zu erkennen und zu realisieren. "Philosophiam, objective et systematice consideratam, definimus cum Cel[eberrimo] Hollmanno per doctrinam vel scientiam, ratione sola cognitam, qua id, quod homini, in quocunque statu spectato, ad felicitatem suam promovendam vel sciendum, vel agendum est, distincte traditur" (12, vgl. 2 ff.). In dieser eudämonistisch-finalistischen Definition schlägt (ausgerechnet bei Baumeister) deutlich die ältere Tradition durch, während Wolffs Ansatz schon stillschweigend übergangen wird. Das Unbehagen selbst treuer Wolffianer an Wolffs Philosophiedefinition bzw. ihr Unverständnis für seine letzten Intentionen ist trotzaller Rekapitulationen der von ihm geprägten Formulierungen offenkundig, obwohl gerade die Wolffianer strikter Observanz keine irgendwie bedeuÄhnlich definiert Baumeister in seinen Eiementa philosophiae recentioris (1735, 2. Auf!. 1755) Philosophie nur als Erkenntnis der Ursachen oder zureichenden Gründe (vgl. 2, 5); auch könne man statt methodus mathematica genauso gut methodus naturalis, systematica, philosophica usw. sagen (8). - Auch Johann Andreas Fabricius, dessen Logik von 1733 noch "nach insgemein sogenannter Mathematischen lehrart" geschrieben ist, erwähnt die Möglichkeitswissenschaft überhaupt nicht. Die Weltweisheit ist für ihn "eine wissenschaft der dinge nach ihren grundursachen überhaupt", eine Art "allgemeine gelehrsamkeit", die sowohl von der geoffenbarten Erkenntnis als auch von der gemeinen und der mathematischen Erkenntnis usw. unterschieden ist ( 6 f.).
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tenden Philosophen waren. Es bewahrte sie letztlich vor unphilosophischem Nachbeten. Interessanter sind jedoch diejenigen Philosophen, die sich bei aller Prägung durch die Wolffsche Philosophie auch inhaltlich stärker von ihr zu entfernen beginnen und selbständig neue Gedankenwege suchen. Beispiele für einen solchen freieren Wolffianismus sind Martin Knutzen, der Lehrer Kants, und Alexander Gottlieb Baumgarten, dessen Werke Kant noch seinen Vorlesungen zugrunde legte. Als sie ihre Werke verfaßten, waren sowohl W olffs Bestimmung des Gegenstandes der Philosophie als auch seine Ausrichtung der Philosophie nach dem Vorbild der mathematischen Erkenntnis unter den Wolffianern schon sehr fraglich geworden. Es wurde auch die Frage aufgeworfen, inwiefern die sogenannte mathematische Erkenntnis überhaupt eine wissenschaftliche Erkenntnis im engeren Sinne, d. h. eine Erkenntnis aus Ursachen sei, ja, ob sie überhaupt eine eigenständige Erkenntnisart sei oder ob sie nicht eigentlich zur historischen bzw. teils zur historischen und teils zur philosophischen Erkenntnis gehöre. Dadurch reduziert sich jetzt Wolffs Dreiteilung der "Grade" der Erkenntnis vielfach wieder auf die klassische Zweiteilung in historische (gemeine) und philosophische (gelehrte) Erkenntnis7• Von den Genannten steht Knutzen, obwohl bei ihm auch Einflüsse des Thomasianismus erkennbar sind, W olff zweifellos am nächsten. Seine lateinische Logik (Elementa philosophiae rationalis seu logicae 1747) ist noch mathematica methodo bzw. more geometrico geschrieben, denn Knutzen hält noch daran fest, daß die philosophische Methode mit der mathematischen identisch sei, obwohl er - wie schon A. F. Hoffmann - der Philosophie nun ganz un- bzw. antiwolffianisch nur die Quali7
Der Gießener Professor für Metaphysik und Mathematik Andreas Boehm geht in seiner "ordine scientifica" geschriebenen Logica (1749) vom Begriff des Grundes aus und unterscheidet die cognitio historica aut vulgaris, die den Grund der Sache nicht erkennt, und die cognitio philosophica, die die Sache und zugleich deren Grund erkennt; die cognitio mathematica bleibt in diesem Zusammenhang unbeachtet. "Est igitur philosophia scientia rationis eorum, quae sunt, vel fieri possunt" (3). Nur in diesem halben Nebensatz klingt noch so etwas wie eine Ausdehnung der Philosophie auf alles Mögliche an, die aber nicht thematisiert wird. Boehms Erläuterungen beziehen sich vielmehr darauf, daß die Philosophie subjective oder objective definiert werden kann, wobei scientia einmal als habitus demonstrandi, das andere Mal als systema propositionum demonstratarum aufzufassen ist. Da Beweisen soviel bedeutet wie "ex principiis per se evidentibus legitimo nexu aliquid deducere", ist nach Boehm der Zusatz "ratione sola" überflüssig- der Rationalismus hat es nicht mehr nötig, sich ausdrücklich von der Theologie abzusetzen. Philosophie ist Wissen - wo kein Wissen ist, da ist auch keine Philosophie (vgl. 2 f.).
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tätenerkenntnis im Unterschied zur Quantitätenerkenntnis der Mathematik zuweist {vgl. 7, 22). Die Philosophie ist für ihn eine Wissenschaft, die mit Hilfe der Vernunft den nexus rerum durchschaut und aus den unbezweifelbaren Grundwahrheiten weitere Wahrheiten ableitet, deren wir zu unserem Glück bedürfen. Objective betrachtet, als eine Disziplin unter anderen, enthält die Philosophie die Fundamente aller anderen Wissenschaften in sich und kann daher "per systema" oder "per complexum scientiarum" definiert werden. Subjective, nämlich als "habitus cognitionis" betrachtet, entspringt sie jener Erkenntnisart, die sich auf die Ursachen bzw. Gründe der Dinge, letztlich auf den zureichenden Grund alles Wirklichen und Möglichen richtet. Zu ihrem Materialobjekt gehören alle möglichen Gegenstände, aber ihr Formalobjekt sind nur die Ursachen oder vielmehr die Gründe, warum und wie die Dinge geschehen und sein können. Als eine solche Wissenschaft von dem, was sein oder werden kann, bzw. von den Gründen dessen, was sein und werden kann, ist sie dann auch eine Wissenschaft vom Möglichen. "Philosophia est scientia, quae circa rerum causas, vel potius rationes versatur, sive est scientia possibilium quorumcunque, qua talium, vel quatenus esse possunt" {4, vgl. 5 ff.). Damit schließt sich Knutzen verbal noch einmal aufs engste an Wolff an. Philosophie ist als Grund- oder Ursachenwissenschaft "mathematische" Möglichkeitswissenschaft. Faktisch hält er sich jedoch fast ausschließlich an die Definition der Philosophie als Grundoder Ursachenwisse.nschaft. Deren Endzweck, der allerdings in ihrer Definition nicht genannt wird, ist auch für ihn noch Gottes Ehre und die eigene und fremde Glückseligkeit (vgl.23 f.). Anders als Knutzen weicht Alexander Gottlieb Baumgarten, der wohl bekannteste und produktivste Wolffianer, gerade in seinem Philosophiebegriff konsequent von Wolff ab. Obwohl er die Wissenschaft und damit die Philosophie noch als exakte Deduktion versteht, möchte er doch die Mathematisierung der Philosophie vermeiden. Deshalb schließt er sich in seiner Acroasis logica, die auf Vorlesungen über Wolffs Logik zurückgeht, aber erst 1761 {Repr. 1983) erschienen ist, mehr noch als Knutzen der im Thomasianismus defensiv erneuerten Unterscheidung zwischen Quantitäten- und Qualitätenerkenntnis an und definiert die Philosophie als eine Erkenntnis der Beschaffenheiten der Dinge, und zwar wie hier noch einmal betont wird, aus bloßer Vernunft. "Philosophia est scientia qualitatum in rebus sine fide cognoscendarum" {1). Doch die bei Knutzen damit noch unklar verknüpfte Definition der Philosophie als Möglichkeitswissenschaft wird schon stillschweigend fallen gelassen. In seiner 1770 postum erschienenen Philosophia generalis weist Baumgarten dann 133
W olffs Philosophiebegriff ausdrücklich als berüchtigtes Beispiel bloßer Ignoranz und Neuerungssucht zurück. "Christiano Wolfio quum dicatur scientia possibilium, qua sunt possibilia, dat exemplum sat celebre, praeiudicium novitatis quid possit in ignorantibus historiam" (11). Offensichtlich gibt es im W olffianismus zwei deutlich konvergierende, vermutlich schon im Ursprung verbundene Tendenzen, den Wolffschen Philosophiebegriff restriktiv zu behandeln. Die eine geht vom Objekt, die andere von der Methode aus, und beide können sich auf W olff berufen, erstens insofern dieser die Philosophie nicht nur als Möglichkeitswissenschaft, sondern auch als Ursachen- und Prinzipienwissenschaft verstanden hatte und zweitens insofern er die mathematische Methode zuletzt mehr oder weniger mit der logischen Präzision und Deduktion gleichgesetzt hatte. Offensichtlich läßt die Berufung auf die Mathematik als Vorbild und die Möglichkeit als Gegenstand der Philosophie nun mehr und mehr nach, bis am Ende W olffs Bestimmungen des Objekts und der Methode der Philosophie nachdrücklich zurückgewiesen werden. Die Auffassung der Philosophie als Erkenntnis von Beschaffenheiten und die dazu gehörige Beschränkung der Mathematik auf die Erkenntnis von Größen ist ein geradezu anti-wolffisches Moment innerhalb des Wolffianismus. Diese Loslösung von Wolffs Grundkonzeption wird sich bei den eklektischen Wolffianern noch fortsetzen. c) Eklektik und Popularphilosophie Auf den ersten Blick scheint die Wolffsche Philosophie bis weit über die Jahrhundertmitte hinaus die alles beherrschende geistige Macht in Deutschland zu sein, bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch eine größere geistige Vielfalt, als die unvermeidlichen Vereinfachungen der Philosophiehistorie erwarten lassen. Nicht nur gibt es neben den Wolffianern die aus dem Thomasianismus und Pietismus kommenden Wolff-Gegner, auch die W olffianer selbst bilden alles andere als einen monolithischen Block. Gerade in der Auffassung von der Philosophie entwickeln selbst die treuesten W olffianer sehr bald ein anderes Selbstverständnis als Wolff selber. Teils versuchen sie, wie schon angedeutet, dessen Idee einer Möglichkeitswissenschaft auf die alte aristotelische Idee einer nichtmathematischen Grundwissenschaft (Ursachen- oder Prinzipienwissenschaft) zu reduzieren; teils versuchen sie, Wolffs Bestimmungen mit älteren, etwa der stoisch-ciceronianischen Definition oder der besonders bei 134
den Thomasianern beliebten Funktionsdefinition durch den Zweck der Glückseligkeit, zu verknüpfen bzw. durch diese zu ersetzen. Aufs Ganze gesehen kann man daher in der Philosophie nach der Jahrhundertmitte, aber vereinzelt auch schon in den dreißiger Jahren beginnend, eine starke Tendenz zu einerneuen Eklektik feststellen. Jetzt geht es allerdings nicht mehr um die Überwindung der Alternative Aristoteles - Descartes, sondern um die Vermittlung zwischen Thomasianismus und Wolffianismus, wobei die Wolffsche Philosophie zweifellos die allgemeinere Ausgangsbasis war. Hinzu kommt nun der verstärkte Einfluß der ausländischen Philosophie: der französischen, besonders über Berlin und die Preußische Akademie, der englischen, besonders über Hamburg, Hannover und Göttingen. Auch dies mußte zu einer neuen Amalgamierung mit neuen Problemen führen. Die Auflösung des Wolffianismus seit der Jahrhundertmitte hatte nicht nur ihre inhaltlichen, sondern auch ihre formalen Aspekte, wobei die angestrebte neue Form zweifellos auch Ausdruck eines inhaltlich neuen Selbstverständnisses war. W olffs Anspruch auf Etablierung einer Universal- und Fundamentalphilosophie hatte ihren Ausdruck nahezu unvermeidlich in immer umfangreicheren systematischen Lehrbüchern gefunden, die alle Gebiete des Denkensund Lebens in logischer Verknüpfung abzudecken versuchten. Diese umständliche und weitschweifige Lehrbuchphilosophie mußte alsbald einen schnell wachsenden Überdruß erzeugen, ja sich selber unglaubwürdig machen, weil sie sich grundsätzlich anmaßen mußte, alles besser zu wissen. So trat schon früh neben und dann immer mehr an die Stelle dieser schwerfälligen, zudem wieder lateinisch gewordenen Schulbuchphilosophie eine auf andere Bedürfnisse zugeschnittene und z. T. auch aus. anderen (antifundamentalistischen, eher skeptischen) Überzeugungen entsprungene 'elegantere' Form des Philosophierens, die sogenannte Popularphilosophie, die dann das geistige Gepräge der Philosophie bis weit in die achtziger Jahre des Jahrhunderts bestimmte. Allerdings deckte der Terminus Popularphilosophie schon damals eine ganze Reihe höchst unterschiedlicher Phänomene ab: z. B. Thomasius' frühes Bemühen um eine Weltweisheit für jedermann, das schon zu seiner Zeit auf gewisse Grenzen stieß; dann die verschiedenen Versuche, Wolffs Philosophie in allgemeinverständlichen Zusammenfassungen zu popularisieren, d. h. im Sinne W olffs, aber nicht nach seiner "Lehrart" zu schreiben; und dann, meist auf der Basis einerneuen Eklektik, die vielen späteren Versuche, Philosophie von vornherein ebenso klar wie einfach, möglichst aber auch gefällig, darzustellen. Diese in sich noch zu differenzierende Phase, die z. T. bis zum Ende des Jahr135
hunderts dauerte und gegen die sich dann Kant und viele andere wandten, könnte man Popularphilosophie im engeren Sinn nennen. Hier kann es allerdings nicht darum gehen, diese noch sehr wenig erforschte postwolffianische oder präkantianische Phase der Philosophie auch nur in ihren Grundzügen zu erhellen; es muß dabei bleiben, im Hinblick auf den Philosophiebegriff in loser Folge und Gruppierung einige wichtige Positionen zu skizzieren. Zu diesem Zweck sei zunächst an zwei Philosophen erinnert, die mehr unter dem Einfluß des Thomasianismus standen, Hollmann und Zimmermann, sowie an zwei Philosophen, die mehr unter dem Einfluß von W olff standen, Gottsched und Ahlwardt. Sie entwickelten zwar unterschiedliche Philosophien, in ihrem Philosophieverständnis aber konvergierten sie in einem unerwarteten Ausmaß. Auch darin zeigt sich, daß die neue Eklektik schon zu W olffs Blütezeit beginnt. Samuel Christian Hollmann war zuerst Professor in Wittenberg und wurde 1737 der erste Philosophieprofessor der neuen Universität Göttingen, wo er bis 1784 lehrte. Ursprünglich einer eher traditionellen Metaphysik zugetan, wandte er sich später den modernen Naturwissenschaften zu. Seine Institutiones philosophicae (1727) bekennen sich noch wie die Frühaufklärung ausdrücklich zur Eklektik, und seine Philosophiedefinition knüpft an Thomasius' Philosophia aulica und Buddes Eiementa an. Auch nach seinem Verständnis ist die Philosophie eine Wissenschaft von den göttlichen und menschlichen Dingen, unter Führung der richtigen Vernunft entstanden, um den oberen Fakultäten bei der Erreichung und Beförderung der menschlichen Glückseligkeit behilflich zu sein: "scientia rerum divinarum humanarumque, ductu rectae rationis comparata, facultates superiores in acquirenda, vel promovenda, vera hominis felicitate plurimum iuvans" (7). Hollmann versteht also die Philosophie noch betont als Hilfswissenschaft der ganz auf Praxis ausgerichteten Hauptwissenschaften. Das Selbstbewußtsein W olffs, für den die Philosophie die einzig wahre Wissenschaft ist, scheint ihm noch völlig fremd zu sein. Der Jenaer Johann Liborius Zimmermann (Natürliche Erkenntnis Got· tes, der Welt und des Menschen 1730) bekämpft schon mit Nachdruck die W olffsche Philosophie, z. B. durch seine Kritik an der Gleichsetzung von synthetischer und mathematischer Methode (vgl. Vorrede, 31 u. ö.). Ausdrücklich wendet er sich auch gegen Wolffs Philosophiebegriff. "Noch weniger kan man sagen, daß in der Weltweisheit alles, was nur möglich, erkannt werden solle: oder es würde Gott und ein Weltweiser, ia auch Weltweisheit und Allwissenheit nur dem Nahmen nach unterschieden seyn. Zudem ist alles mögliche zu wissen, dem Menschen unnöthig, 136
ia unmöglich; und es ist niemals dergleichen Weltweiser aufgestanden. Man würde endlich auch alle übrige Gelehrsamkeit mit der Weltweisheit vermischen, die ia nicht weniger von möglichen Dingen handelt"(6). Zimmermann geht noch oder schon wieder von der religiös eudämonistischen Zielsetzung der Philosophie aus und entwickelt die christlichstoische Philosophiedefinition dadurch weiter, daß er - ähnlich wie schon Rüdiger auf die Zwecke des Menschen gesehen hatte- nun nach der Bestimmung des Menschen und der dafür nötigen Erkenntnis fragt. "Endzweck" des Menschen ist die eigene Glückseligkeit und die damit verknüpfte Verherrlichung Gottes. "Diesem nach ist die Weltweisheit eine Erkentniß nöthiger und nützlicher Dinge aus Betrachtung der Sachen selbst zur Ehre Gottes und des Menschen Glückseligkeit" (7, vgl. 4 f.). Die eudämonistisch-finalistische Definition der Philosophie offenbart sich hier in aller Klarheit als eine teleologische. Allerdings erreicht die Weltweisheit ihr durch Gott vorgegebenes Ziel nicht mehr, weil der Mensch nicht mehr im Zustand der Vollkommenheit lebt. "So liegt auch der Grund, warum man itzt durch die Weltweisheit nicht selig werden kan, nicht in ihr selbst; sondern in des Menschen Verderben" (12 f.). Die Vernunft ist so "verfinstert", daß auch die "Cultur des Verstandes" durch eine "gesunde Philosophie" nicht mehr ausreicht, um die "Restitution der Welt" allein ins Werk zu setzen (vgl. 14 ff.). Kurz, die Menschheit bedarf des Bündnisses von Glaube und Aufklärung. Die Philosophie hilft, die Bestimmung des Menschen, seinen vorgegebenen Endzweck, zu realisieren. Auch hier gründet die Teleologie in der Theologie, und diese muß jener notfalls zu Hilfe kommen. Auch die 'Wolffianer' unter den Eklektikern orientieren sich statt am Gegenstand der Philosophie wieder stärker an deren Ziel, an der Glückseligkeit des Philosophierenden. An den Anfang dieser neuen, von Wolff beeinflußten Eklektik, die zur Popularität und daher auch wieder zur deutschen Sprache tendiert, darf man wohl mit Recht Johann Christoph Gottsched stellen. Gottsched schloß sich nach einigem Schwanken der W olffschen Philosophie an, hatte aber noch oder schon wieder eine ganz andere Auffassung von Philosophie. Seine deutschsprachige Einführung in die Philosophie (Erste Gründe der gesamten Weltweisheit I, 1733, 7. Aufl. 1762, Repr. 1983) unterscheidet sich von Wolff nicht nur durch die Absicht auf Popularität, sondern auch durch eine auf Leibniz zurückgehende, sich aber erstaunlicherweise sogar auf Augustin beziehende Philosophiedefinition, während Thomasius nicht mehr genannt wird. "Die Weltweisheit nenne ich eben die Wissenschaft von der Glückseligkeit des Menschen; in so weit wir sie, nach dem Maaße unserer Unvollkommen137
heit in dieser Welt, erlangen und ausüben können" (101 f.). Die Betonung der menschlichen Begrenztheit ist hier wohl schon gegen W olffs Intention auf absolutes Wissen gerichtet. Vor allem aber ist Philosophie für Gottsched ganz auf den praktischen Zweck der Erlangung der Glückseligkeit bezogen; das Glück wird geradezu zum Hauptgegenstand der Philosophie. Diese ist daher auch eine "ganz geschäfftige und thätige Wissenschaft" (102), die jedem jederzeit gerade auch im Alltag möglich ist und die auf der "Aufklärung unsers Verstandes" beruht (vgl. 103, 106). Philosophie ist Weltweisheit, d. h. Philosophie in der Welt und für die Welt. Für Peter Ahlwardt, der in Greifswald lehrte und dessen Logik (Gedan· ken von den Kräften des menschlichen Verstandes 1741) dem Titel nach deutlich an Wolff anknüpft, ist die Philosophie allerdings auch noch religiös definiert; ihr Ziel ist, wie es mit der klassischen Formel heißt, die Ehre Gottes und das Glück der Menschen, wobei die Ehre Gottes der letzte Endzweck des Menschen ist, aus dem das Glück resultiert. Sie ist eine Gelehrsamkeit oder vielmehr die Gelehrsamkeit schlechthin. Ahlwardt unterscheidet auch nicht mehr wie W olff drei Arten oder Stufen der Erkenntnis, sondern eher traditionell, wie es nun in der Folge wieder üblich wird, eine historische oder gemeine Erkenntnis einerseits und eine gelehrte oder philosophische Erkenntnis andererseits. Zu dieser gehört auch die mathematische, insofern die Erkenntnis des wahren Grundes auch eine Erkenntnis der Größe impliziert oder voraussetzt. Diese gelehrte Erkenntnis, zu der es der Vernunft und der Urteilskraft bedarf, ist gründlich, d. h. sie erkennt, wie es nun heißt, den Grund einer Sache "aus vorhergegangenen Begriffen". "Die Gelehrsamkeit also oder Philosophie ist demnach eine Erkenntniß der Dinge . . . so gründlich ist und ein Nachdenken erfordert ... ; damit wir dadurch besser als durch die gemeine Erkenntniß die Ehre Gottes und der Menschen Glückseeligkeit befördern können" (14 f., vgl. 5 ff.). Die Philosophie macht den Menschen also fromm und gut, und zwar (wie bei Rüdiger) besser, als der Alltagsverstand es kann. Ein Philosoph als solcher kann gar nicht sündigen; er ist immer vergnügt und zufrieden - allerdings nur als Philosoph, nicht insofern er auch ein ganz normaler Mensch ist. Faktisch können nämlich nicht alle Menschen Philosophen, und die Philosophen nicht nur Philosophen sein. Aber die unvermeidbare Arbeitsteilung sollte doch so eingerichtet sein, "daß einieder die Grund-Wahrheiten und wichtigsten Dinge vor sich selbst gründlich erkennen möge" (12). Am besten wäre es, wenn alle Menschen wenigstens ein wenig gelehrt, d. h. Philosophen, wären. Ohne also die gesellschaftliche Arbeitsteilung als solche in 138
Frage zu stellen, fordert Ahlwardt wie schon Thomasius Aufklärung und Selbstdenken für jedermann 8• Die Übereinstimmungen zwischen Hallmann und Zimmermann einerseits und Gottsched und Ahlwardt andererseits sind trotz ihrer verschiedenen Herkunft ganz unverkennbar. Ein mehr oder weniger religiös gefärbter Eudämonismus, der aber auch ungeniert seine irdischen Absichten erkennen läßt, schlägt bis in die Definition der Philosophie durch. Es geht betontermaßen um das Glück des Menschen, z. T. aber auch noch um die Ehre Gottes. Der Gegenstand der Philosophie jedoch wird wieder unbestimmt mit "die Dinge" oder "die göttlichen und menschlichen Dinge" umschrieben, vor allem aber als die Dinge, soweit wir sie erkennen können, die nötigen und nützlichen Dinge. Hier bahnt sich deutlich ein neuer 'Pragmatismus' an. In ihm geht es wieder einmal um die Besinnung auf die menschlichen Zwecke und ein menschliches Maß und damit um die Erkenntnis des Wesentlichen im Gegensatz zum bloßen Vielwissen. Philosophie als Aufklärung wird, wie man das dann in der Spätaufklärung nannte, zur richtigen Erkenntnis der wesentlichen Bedürfnisse. Aufs Ganze gesehen lassen die Formulierungen dieses Philosophiebegriffs allerdings mehr Reminiszenzen als Innovationen erkennen. Die eigentliche inhaltliche Transformation der Philosophie und damit die Konstitution eines neuen Typs von Philosophie aufgrund einer neuen Eklektik erfolgte erst später, etwa seit den fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts. Hier haben- z. T. vor Reimarus und Mendelssohn- Darjes und Eschenbach eine wichtige Rolle gespielt, und zwar im Rahmen der wissenschaftlich gemeinten Philosophie, während andere wie Georg Friedrich Meier eher an einerneuen Philosophie für die Welt interessiert waren. Joachim Georg Darjes, der in Jena begann und dann nach Frankfurt an der Oder ging, hat unter dem Eindruck der Philosophie W olffs zu In seiner Einleitung in die Philosophie (1752) unterscheidet Ahlwardt zunächst zwischen gemeiner oder historischer Erkenntnis einerseits und gelehrter oder philosophischer Erkenntnis andererseits und schließt dabei mit Nachdruck die sogenannte mathematische Erkenntnis aus dieser Grundeinteilung aus. "Die Gelehrsamkeit und Philosophie ist . . . eine Erkenntniß der Dinge ... , welche gründlich ist ... und also durch die Vernunft erlanget werden muß ... ; damit man um so viel besser seinen lezten Absichten ein Genüge leisten möge" (3 f.). Diese letzten Absichten, also die Endzwecke des Menschen, sind die Beförderung der Ehre Gottes und der damit verknüpften eigenen Glückseligkeit. "Niemand kann also weiter an den großen Nutzen der Philosophie zweifeln; Es müssen auch alle Menschen ihre Verbindlichkeit, jedoch nach ihren Umständen, zur Philosophie offenbar erkennen" (4).
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philosophieren begonnen. Seine frühe Logik (Die lehrende Vernunftkunst 1737) will sich eng an Wolff anschließen und sich der vollkommenen mathematischen Lehrart bedienen. Aber die Vorrede dieser schon betont praktischen Logik ist ganz im Geist des Thomasianismus auf die Notwendigkeit des Selbstdenkens abgestellt, wobei die Logik als die Kunst dieses Selbstdenkens verstanden wird. In diesem Sinn versucht Darjes, der sich selbst stolz für einen solchen Selbstdenker hält, gleich zu Beginn seiner Ausführungen bei der Erörterung des Philosophiebegriffs W olffs Systematik noch zu überbieten. Er beginnt seine Abhandlung mit der Definition des Möglichen als des Widerspruchsfreien. Wenn das Mögliche aber wirklich werden soll, so muß noch etwas hinzukommen, ein Grund der Wirklichkeit, aus dem diese als solche begriffen werden kann (vgl. § 1 ff.). Damit ist der Weg zur Definition der Philosophie als Ursachenerkenntnis gebahnt, zumal Darjes hier noch wie W olff drei Arten der Erkenntnis unterscheidet und die philosophische als Erkenntnis der Gründe der Dinge erklärt. Die Gründe oder Ursachen der Dinge aber sind, wie er hinzufügt, nur aus dem Zusammenhang der Dinge bzw. der Wahrheiten zu erkennen (vgl. § 1 ff.). Auf dieser Basis erfolgt dann unvermittelt die Definition der Philosophie als (partikular) gewisse Wissenschaft vom Möglichen oder den möglichen Dingen - ohne klare Unterscheidung zwischen den Gründen der Wirklichkeit und den Gründen der als Denkbarkeit definierten Möglichkeit. "Die Wissenschaft von den möglichen [Dingen] heisset die Philosophie; ... Folglich müssen in der Philosophie die Gründe der Dinge demonstriret werden ... , und ein Philosoph muß von den möglichen Dingen die Gründe zeigen"(§ 20). Außerdem muß (ähnlich wie schon bei Wolff) die gesamte Einteilung der Philosophie in Disziplinen aus den verschiedenen Arten der möglichen Dinge hergeleitet werden, wobei sich zeigt, daß nur die Ontologie oder Grundwissenschaft "von demjenigen, was durch die Dinge überhaupt möglich ist, handelt" (§ 26). Darjes' Verhältnis zu Wolff scheint sich ziemlich schnell gelockert zu haben. Seine Neufassung der Logik (Via ad veritatem 1755) will auf die mathematische Methode verzichten und sich trotz des Gebrauchs der lateinischen Sprache einer angenehmen, didaktischen Lehrart bedienen. Zwar hält er im Hinblick auf die Einteilung der Philosophie an der Idee einer Einteilung der Arten des Möglichen fest. Aber die Philosophie ist nun primär weder Möglichkeits- noch Ursachenwissenschaft, sondern Begriffs- oder Wesenswissenschaft. Darjes geht jetzt wieder - wie die Frühaufklärung- im "Prooemium" seiner Logik von der Gelehrtheit aus, deren oberste Stufe die philosophische Gelehrtheit ist, auf der wir 140
den "nexus veritatum ... ex rerum notionibus" erkennen (§IV). Erst durch eine zweite Bestimmung des Objekts der Philosophie, durch die deren Einteilung in verschiedene Disziplinen begründet werden soll, kommt auch das Mögliche wieder in den Blick, das als das Mögliche schlechthin Gegenstand der ersten Philosophie ist: "obiectum illud aut est possibile, qua tale, aut possibile magis determinatum. Illud dat philosophiam primam, quae est scientia de iis, quae per notionem possibilis, qua talis, possibilia sunt" (§ VI). Doch nimmt Darjes auf diese Bestimmung faktisch selber keine Rücksicht und bestimmt die Philosophie nun geradezu scholastisch als Erkenntnis der Dinge aus ihrem Wesen ("natura atque essentia") bzw. aus den dem Wesen entsprechenden "apriorischen" Begriffen (vgl. 25 ff.). Ähnlich heißt es dann in der erweiterten deutschen Fassung (Weg zur Wahrheit 1776), nur der gründliche Gelehrte besitze die Fertigkeit, Wahrheiten in und aus ihrem Zusammenhang zu erkennen, und diese Fertigkeit werde philosophisch genannt, "wenn sie sich in dem Begriffe der Dinge gründet. Denn philosophiren bedeutet nichts anders, als die Eigenschaften der Dinge aus ihren Begriffen erkennen" (4, vgl. 56). Darjes scheint die Philosophie jetzt als eine auf Erfahrung beruhende Wesenswissenschaft zu verstehen. Aber da das Wesen einer Sache deren Eigenschaften bestimmt oder doch ermöglicht, kommt es auf diesem Weg auch wieder zu einer Annäherung an die Philosophie als Möglichkeitswissenschaft. Die Philosophie handelt nämlich als philosophia prima über "das mögliche, in wie weit es möglich ist", ansonsten in ihren übrigen Teilen aber über "das mögliche inwiefern es in einer genaueren Bestimmung betrachtet wird" (6). Dennoch bleibt die neue Distanz zu W olff deutlich. So tritt, wie schon bei anderen vor ihm, bei der Erörterung des Erkenntnisbegriffs an die Stelle der W olffschen Dreiteilung in historische, philosophische und mathematische Erkenntnis nun wieder die alte Zweiteilung zwischen historischer und philosophischer Erkenntnis. Die sogenannte cognitio mathematica hingegen gehört bei Darjes, wie schon in der Via ad veritatem, teils zur historischen teils zur philosophischen Erkenntnis, die vermittels der Begriffe auf das Wesen der Dinge geht (4). Daneben tritt als eine Art Mischform die cognitio historica philosophica, die - als Ursachenerkenntnis der nichtphilosophischen Wissenschaften - der philosophischen analog ist. Mit seiner Anwendung des Möglichkeitsprinzips auf die Einteilung der Philosophie steht Darjes zu seiner Zeit schon so gut wie allein. Sein Schüler Johann Christian Eschenbach (Logik oder Denkungswissenschaft 1756) versteht die Philosophie schlicht als Wissenschaft von den Gründen, aber auch den inneren Beschaffenheiten der "vornehmsten" Dinge. "Ein 141
Philosoph beschäftigt sich (wie der durchgängige Redegebrauch erweiset) mit Betrachtung solcher Dinge, die die blasse sich selbst gelassene menschliche Vernunft erkennt; er sucht die Gründe und Uhrsachen auf, wie und warum ihnen dies, was er an ihnen wahrnimt, zukamt, und beweiset das was er ihnen beilegt, aus Grundsätzen die die blasse gesunde Vernunft begreift; er hat dabei die Absicht, seine Erkäntniß zu verbessern und seine Glückseligkeit zu befördern; insoweit die blasse Vernunft anlaß dazu gibt" (5, vgl. 16). Aus dieser Perspektive kritisiert er Wolffs Definition, weil sie die Beschränkung auf die bloße, auf Erfahrung basierende Vernunft unterschlagen habe. Außerdem sei sie nicht neu; denn weil ens und possibile laut W olff einerlei seien, wofür die Deutsche Metaphysik(§ 16) zitiert wird, laufe die Bestimmung "scientia possibilium quatenus possibilia sunt" auf die alte Definition "cognitio entium quatenus entia sunt" hinaus (vgl. 6 f.r. Eschenbach geht es allerdings, trotzseiner Verteidigung der spekulativen Philosophie gegen vordergründige Vorwürfe, weniger um letzte metaphysische Wahrheiten als vielmehr um eine praktikable Lebensphilosophie. Der Philosoph strebt primär danach, sich glücklich zu machen, wobei ihm seine Erkenntnisse alsbald zeigen, daß er die Pflicht hat, "ein nützliches Mittglied der menschlichen Gesellschaft" zu werden; die Erkenntnisse der Philosophie sind nämlich von der Art, daß sie "verständige, arbeitsame, geruhige und reiche Mitglieder" der Gesellschaft bilden (vgl. 17 f.). Hier schlägt ein schon fast naiver bürgerlicher Eudämonismus bis in die Selbstbestimmung der Philosophie durch. Um die Jahrhundertmitte nähert sich die akademische Philosophie der Popularphilosophie (in dem zwar sachlich unbestimmten, historisch aber Auch in der Frage der Methode geht Eschenbach betont auf Distanz zu Wolff. Die Philosophie muß zwar demonstrativisch vorgetragen werden, nämlich in dem Sinn, daß sie aus Grundsätzen hergeleitet werden muß, die aus bloßer Vernunft begreiflich sind. Aber die demonstrativische Lehrart kann analytisch oder synthetisch sein, wohin auch die sogenannte mathematische Methode zu rechnen ist, die allerdings "eine recht elende Methode" ist, wenn man sie auf andere Wissenschaften anwendet (13). Da analytische und synthetische Lehrart letztlich doch einerlei sind, ist es im Grunde gleichgültig oder willkürlich, ob man analytisch oder synthetisch vorgeht. "Indessen, weil es heutigs tags so eingeführt ist, und nicht zu läugnen steht, daß die synthetische im Vortrag einigen Vortheil habe (so wie die analytische in Entwickelung und dem Entwurff der Gedancken), wie die Erfahrung lehrt; so ists besser, daß die Philosophie in der synthetisch-demonstrativischen Lehrart vorgetragen werde" (14, vgl. 11 ff.). Allerdings ist es "ein wenig zu groß gesprochen", wenn man mit Wolff diese Lehrart die göttliche nennt (14, vgl. 11 ff.).
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engen Sinn des Wortes). Es ist eine Philosophie, die teils die Schulphilosophie, insbesondere die W olffsche, nachträglich zu popularisieren versucht, teils von vornherein (unter Vermeidung metaphysischer Prinzipienfragen und methodischer Pedanterie) klar und einfach zu denken versucht. Obwohl noch stark unter dem Eindruck der W olffschen Philosophie, versucht sie doch, diese unter Ignorierung ihres Absolutheitsanspruches zu vereinfachen und so die Wissenschaft dem alltäglichen Leben anzunähern; sie ist wieder unmittelbarer praxisorientiert. Inhaltlich neigt sie zu einer neuen Eklektik, formal zu einer gewissen modischen Gefälligkeit und vor allem zu einer biederen Allgemeinverständlichkeit. Dabei gehen rein didaktische und neue philosophische Intentionen eine kaum noch aufzulösende Verbindung ein. Die Popularphilosophie möchte eine Philosophie der gesunden Vernunft sein, und dieser Begriff hat nun einen deutlich antiakademischen und antiwolffschen Beiklang. Gesunde Vernunft ist zwar immer auch richtige Vernunft, aber weniger recta ratio im Sinne eines apriorischen Prinzipienvermögens als vielmehr bon sens im Sinne von unverdorbener Urteilskraft, dann aber auch gemeiner Menschenverstand (common sense), ja sogar Alltagsvernunft. Die bekanntesten frühen Beispiele dieser in sich noch sehr differenzierten Richtung dürften Meier, Reimarus und Mendelssohn sein, die sozusagen zur Gründergeneration der Popularphilosophie gehören 10 • Bei allen dreien kom10
Der Göttinger Johann August Ernesti, der einer der Mitbegründer der Popularphilosophie in Deutschland ist, unterscheidet in seinen Initia doctrinae solidioris (1736, 4. Auf!. 1758} zunächst zwischen historischer Erkenntnis als Tatsachen- und philosophischer Erkenntnis als Ursachenerkenntnis und definiert die Philosophie entsprechend als "cognitio rerum, quae sunt, vel fiunt, rationumque, cur sint, vel fiant, vel, cur esse, fierive possint" (3}. Dann aber warnt er, offensichtlich gegen Wolff gerichtet, die Grenzen der Philosophie nicht über deren dignitas und bisherigen usus hinaus zu erweitern, "quod facere videntur ii, qui philosophiam omnium rerum possiblilium scientiam interpretantur" (3}. Auch die Alten hätten, als sie die Philosophie eine Wissenschaft von den göttlichen und menschlichen Dingen nannten, damit nicht schlechterdings alles zum Gegenstand der Philosophie machen wollen, sondern nur das, was am meisten zum Glück des Menschen beitrage, bzw. das, was wegen seiner Größe oder Dunkelheit der Erkenntnis eines freien Mannes, "hominis liberalis", besonders würdig sei. So will auch Ernesti, unter Berufung auf antike Kriterien, die Weisheit auf das wesentliche Wissen beschränken und alles, was "propter rerum ipsarum tenuitatem humilitatemve" nicht wissenswert ist, aus der Philosophie ausschließen (vgl. 3}. Mit anderen Worten, auch er warnt vor bloßer Vielwisserei als schlechter Kopie der göttlichen Allwissenheit, aber nicht, indem er von den existentiellen Bedürfnissen oder wesentlichen Zwecken des denkenden Menschen her, sondern indem er vom Wert des Erkenntnisgegenstandes her argumentiert.
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men auch, durch die Absetzung von Wolff, wieder Momente der Frühaufklärung zum Durchbruch. Jedenfalls stehen sie mit ihrer Absicht auf Popularphilosophie dem unvermeidlich elitären Anspruch der betont wissenschaftlichen Philosophie W olffs schon sehr fern, auch wenn sie Grundzüge und Inhalte seines Systems übernehmen. Georg Friedrich Meier (Vernunft/ehre 1752, 2. Aufl. 1762) schließt sich mit seiner Philosophiedefinition aufs engste an seinen Lehrer Baumgarten an, der sich seinerseits schon an Rüdiger bzw. Hoffmann orientiert hatte. Philosophie ist für Meier "eine Wissenschaft der allgemeinem Beschaffenheiten der Dinge, in so ferne dieselben ohne Glauben können erkant werden", oder, wie es in einer gewissen Anpassung an Wolff heißt, eine Wissenschaft, die "nicht nur allgemeinere Beschaffenheiten der möglichen Dinge abhandelt, sondern auch aus blassen Grundsätzen der gesunden Vernunft" (vgl. 10 f.). Faktisch dient diese Definition, die sich von der Baumgartens nur durch die Betonung der Allgemeinheit der Gegenstände der Philosophie unterscheidet, dazu, die Philosophie für die Welt zu öffnen und sie auch "Damen und Kavalieren" zugänglich zu machen. Meier möchte auch in der Philosophie das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden sehen. Samuel Reimarus (Vernunft/ehre 1756, Repr. 1979) übernimmt zwar Wolffs Unterscheidung zwischen drei Arten der Erkenntnis, macht daraus aber, durch Einfügung einer natürlichen Philosophie aus gesunder Vernunft, an der er offensichtlich interessiert ist, vier "Hauptstufen" der Erkenntnis: historische Erkenntnis, natürliche Weltweisheit (Philosophie du bon sens), philosophische oder gelehrte Erkenntnis und mathematische Erkenntnis. Faktisch beschränkt er sich auf eine verständlich vermittelte Schulphilosophie. Vor allem aber läßt er die Absicht auf Erkenntnis aller möglichen Dinge fallen. Die Philosophie geht nur auf die (theoretischen und praktischen) "Hauptwahrheiten", nämlich auf diejenigen Wahrheiten, die für die Glückseligkeit wichtig, d. h. existentiell relevant sind. Philosophie ist also eine "Wissenschaft aller beträchtlichen und sittlichen Hauptwahrheiten, die in der Menschen Glückseligkeit einschlagen" (13). Sie ist eine Erkenntnis des Wahren und Guten, wie es schon bei Thomasius geheißen hatte, und zwar aus gesunder Vernunft; denn sie soll, wie es nun im Anklang an die Common-sensePhilosophie heißt, "aus der gesunden Vernunft deutlichen Grund und zusammenhangenden Beweis von allen Sätzen geben" (14). Aus dieser Perspektive läßt Reimarus nicht nur Ciceros Rede von der Philosophie als Betrachtung der menschlichen und göttlichen Dinge, sondern auch W olffs Definition der Philosophie als Möglichkeitswissenschaft gelten. 144
"Wenn in neuererZeitdie Weltweisheit als eine Wissenschaft des Möglichen so ferne es möglich ist, angegeben worden: so ist wohl auf den allgemeinen Grund alles Seyns und aller Erkenntnis gesehen, welcher freylich alle göttlichen und menschlichen Dinge, oder alle beträchtliche und thätige Wahrheiten, in sich fasset" (14). Reimarus' Ziel ist jedoch nicht absolutes Wissen, sondern allein Erkenntnis der lebenswichtigen Hauptwahrheiten. Während Reimarus als Professor am Akademischen Gymnasium in Harnburg ein um Verständlichkeit bemühtes Lehrbuch schreibt, steht Moses Mendelssohn als Autodidakt und freier Schriftsteller, der er als Jude nolens volens sein mußte, nicht unter solchem Systemzwang. Das bestimmt nicht nur die äußere Form seines Philosophierens. Obwohl von Wolff beeinflußt, ist doch u. a. seine Auffassung von Philosophie eine ganz andere. Zwar hält er zunächst an dem Wissenschaftscharakter der Philosophie und an der Verknüpfung von Philosophie und Mathematik fest Gedenfalls solange es noch keine philosophische ars characteristica gibt). Aber, indem er die Philosophie, wie schon Rüdiger und andere, betont auf die Erkenntnis von Beschaffenheiten ausrichtet, im Gegensatz zu der Größen (Quantitäten) erkennenden Mathematik, lockert er auch wieder den Anspruch der Philosophie auf eine Wissenschaftlichkeit nach Art der Mathematik. Daraus ergibt sich in seiner Abhandlung über die Evidenz in Metaphysischen Wissenschaften von 1764 (Schriften II, 1931) eine etwas gewundene Beschreibung der Philosophie. "Die Mathematik ist eine Wissenschaft der Grössen (Quantitatum), und die Weltweisheit überhaupt eine Wissenschaft der Beschaffenheiten (Qualitatum) der Dinge. Will man nicht eingestehen, daß die Weltweisheit das leiste, was von einer Wissenschaft gefordert wird; so setze man, die Weltweisheit ist eine auf Vernunft gegründete Erkenntnis der Beschaffenheiten" (286). Offensichtlich kennt Mendelssohn schon massive Zweifel am Wissenschaftscharakter der Philosophie und läßt diese als berechtigt zu, obwohl er selbst, zumindest hier, anscheinend noch auf eine wissenschaftliche Philosophie hofft. Darin zeigt sich die kritische Situation der Philosophie, aus der heraus Kam seine Kritik der reinen Vernunft schreibt. In den siebziger Jahren geht die Philosophie der deutschen Aufklärung mehr und mehr in Popularphilosophie über (im guten, aber nun auch mehr und mehr im schlechten Sinn des Wortes). Verständlichkeit beginnt vor Gründlichkeit zu rangieren, die Philosophie wird, wie schon die Zeitgenossen klagen, "seicht". Dem entspricht eine ganz neue U nsicherheit, was eigentlich Philosophie sei. Indem die Philosophie, wie schon bei Mendelssohn offenkundig, unter Verlust ihres eigenen Wissen145
schaftsanspruchs mit dem neuen Wissenschaftsanspruch der modernen Wissenschaften konfrontiert wird, gerät ihr ohnehin instabiler geistiger Führungsanspruch in Gefahr; moderne Wissenschaft und überlieferte Religion versuchen, sich ihr Gebiet neu zu teilen. Die Popularphilosophie aber wird zu bloßer Lebensweisheit oder "Lebensphilosophie", wie man nun zu sagen beginnt. Der Philosophiebegriff verliert dabei mehr und mehr an Bestimmtheit. Doch gab es natürlich immer auch gegenläufige Tendenzen zu einer wissenschaftlichen Philosophie, und folglich (wie bei Lambert und Ploucquet) Versuche, die Philosophie als Wissenschaft zu erneuern. Auch Kants Neuansatz ist aus diesem Kontext heraus zu verstehen.
d) Selbstverständigung und V erselbständigung Die Frage nach dem Selbstverständnis einer Philosophie kann zu Recht bei dem durch diese Philosophie formulierten Philosophiebegriff ansetzen, er ist immerhin der sozusagen offizielle Ausdruck des Versuchs der Selbstverständigung bzw. der Selbstbestimmung (im Sinne von Autonomie und Autodetermination). Aber diese Selbstdefinition muß auch aus vielen Gründen mit Vorsicht zur Kenntnis genommen werden, denn man kann keineswegs davon ausgehen, daß die angebotene Formulierung eines Philosophiebegriffs in jedem Falle der Philosophie, die hier die Philosophie im allgemeinen und damit sich selbst im besonderen zu bestimmen versucht, oder auch nur deren Selbstverständnis adäquat sei. Man muß vielmehr erstens damit rechnen, daß auch die reflektierteste Philosophie sich selber gar nicht zureichend verstehen kann, daß auch ihr Selbstverständnis immer ein Moment von Selbstmißverständnis impliziert. Und man muß zweitens damit rechnen, daß sich das Selbstverständnis einer Philosophie, wie angemessen oder unangemessen es auch immer sein mag, in einer bloßen Philosophiedefinition nur unzureichend, weil nur sehr verkürzt und daher nur mißverständlich, ausdrücken kann. Nicht nur weil jede Philosophiedefinition trotz aller Reflektiertheit unvermeidlich noch unreflektierte oder ungenügend reflektierte Momente enthält, die einer weiteren Reflexion bedürfen, sondern auch weil jede Philosophiedefinition, wie alle anderen Definitionen, unvermeidbar viele Momente enthält, die noch einer Erläuterung bedürfen, die ihrerseits dann erläuterungsbedürftig ist usw. ad infinitum. Außerdem verhält sich eine Philosophiedefinition zu der sich selbst so definierenden Philosophie immer doppelt zwiespältig, sozusagen doppelt ungleich146
zeitig, denn sie ist als eine die philosophische Reflexion begleitende Metareflexion nicht mit der Philosophie identisch, deren Darstellung sie sein will. Einerseits hinkt sie ihr nach, da der Philosophiebegriff Ausdruck einer Rückwendung der Philosophie auf sich selber ist, andererseits eilt sie ihr voraus, da sie auch die Formulierung einer die vorhandene Wirklichkeit übersteigenden Absicht ist. Mit anderen Worten, jeder Philosophiebegriff hat eine reflexive und eine programmatische Funktion. Nicht zuletzt deshalb enthält jede Philosophiedefinition auch ein Stück Wunschdenken; der Philosoph definiert den Philosophen und damit sich als das, was er gerne sein möchte. Dennoch, ja gerade wegen des U ngesagten im Gesagten, sind Philosophiedefinitionen für das Verständnis einer Philosophie außerordentlich aufschlußreich. So wie jede Philosophie als universale reflektierte Rationalität notwendigerweise immer auch, mehr oder weniger, auf sich selbst reflektiert, so hat auch die Aufklärungsphilosophie über sich selber nachgedacht. Zwar gehört die Bestimmung dessen, was Philosophie sei, für sie noch zu den praecognita der Philosophie und wird folglich meist entsprechend kurz in den Einleitungen der Lehrbücher, besonders denen der Logik, abgehandelt. Die moderne Problematisierung der Philosophie, ihre Selbstanfechtung bis hin zu dem Zweifel an ihrer eigenen Existenzberechtigung, war der Aufklärung, die gerade erst die Philosophie als die 'wahre Wissenschaft' wiederentdeckte, noch ganz fremd; erst in der Spätaufklärung finden sich deutlichere Spuren solcher SelbstzweifeL Dennoch spielt die Diskussion über das Wesen der Philosophie in der Aufklärung eine erkennbar wichtige Rolle, da sie zweifellos Ausdruck eines erneuerten Selbstbehauptungswillens ist. Welcher Status, welche Funktion kommt der Philosophie zu? Ist sie eine dienende oder eine herrschende Wissenschaft? Ist sie eine Wissenschaft unter anderen, oder ist sie gar die zentrale Wissenschaft? In welchem Sinn ist sie überhaupt eine Wissenschaft, und in welchem Verhältnis steht sie dann vor allem zur Theologie? In der Diskussion dieser und ähnlicher Fragen wird die Selbstverständigung der Philosophie zum Mittel und Ausdruck ihrer wachsenden Verselbständigung. Dabei lassen sich, wie gezeigt, ganz unterschiedliche Phasen und Tendenzen erkennen, und wie üblich stehen vor allem der Gegenstand und die Art, aber auch das Ziel der philosophischen Erkenntnis zur Diskussion. Die Bestimmung des Gegenstandes der Philosophie stößt bekanntlich auf Schwierigkeiten, da die Unbestimmtheit ihres Erkenntnisgegenstandes die notwendige Kehrseite des Universalitätsanspruches der Philosophie ist. Am Anfang der Aufklärung stand die alte Formel, Gegenstand 147
der Philosophie seien die göttlichen und menschlichen Dinge und deren Ursachen, wobei diese traditionelle, im Grunde kontemplative Perspektive allerdings schon durch die Angabe des Zieles (Glück und Nutzen, auch die Ehre Gottes) modifiziert wurde. Diese praktische Ausrichtung der Philosophie, die allgemeine Zustimmung fand, wurde dann gelegentlich in der Leerformel, Gegenstand der Philosophie sei das Wahre und das Gute, weiter akzentuiert, während sich Thomasius' später Versuch, die Philosophie fast nur noch als Anleitung zum Handeln zu verstehen und mehr oder weniger auf die Erkenntnis des Guten zu beschränken, schon unter seinen Anhängern nicht durchsetzen konnte. Demgegenüber kommt mit W olffs Bestimmung der Philosophie als Wissenschaft von allen möglichen Dingen bzw. den Gründen aller Dinge wieder ein stärkeres theoretisches Interesse zum Ausdruck, das, obwohl Wolff selbstverständlich auch an den praktischen Zielen der Philosophie festhielt, auf eine neuartige 'Wissenschaft' nach Analogie der Naturwissenschaft gerichtet war. In Verbindung mit der Berufung auf das Vorbild der Mathematik hätte dieses betont wissenschaftliche Interesse leicht zu einer 'Mathematisierung' oder doch 'Logifizierung' der Philosophie führen können und mußte daher heftige Abwehrreaktionen hervorrufen. Zwar beginnt die Absetzung der Philosophie von den modernen mathematischen Naturwissenschaften im Grunde schon bei Wolff selber, aber die nun notwendige Unterscheidung der Philosophie von der Mathematik (nach Gegenstand und Methode) und damit auch von der mathematischen Naturwissenschaft wurde doch vor allem von seinen Gegnern betrieben. Der Versuch einer Festlegung der Philosophie auf Qualitätenerkenntnis im Unterschied zur mathematischen Quantitätenerkenntnis ist eine deutliche, wenn auch etwas hilflose Antwort auf die Drohung einer derartigen Verwissenschaftlichung der Philosophie. Zugleich sahen W olffs Gegner aber auch die Gefahr eines Wirklichkeitsverlustes der Philosophie, nämlich daß diese als Wissenschaft von allen möglichen Dingen (ohne Rücksicht auf deren Wirklichkeit) zu einer absoluten Wissenschaft bloß idealer Strukturen werden könnte. Sie reklamierten daher für die Philosophie die Beschränkung auf die Wirklichkeit, und zwar (mit einem gewissen Rückgriff auf ein antikes Ideal) auf die beständige Wirklichkeit im Unterschied zu den wechselnden Erscheinungen, mit denen sich die empirischen Wissenschaften beschäftigen. Auch die pragmatischen, nahezu gleichzeitigen Versuche einer Beschränkung der Philosophie auf das sogenannte Nötige und Nützliche oder die sogenannten Hauptwahrheiten, die für das Glück des Menschen von Bedeutung sind, entspringen, in Fortführung von Thomasius' praktischen Intentionen, zumindest 148
z. T. der Reaktion aufWolffs Ideal einer weltüberschreitenden göttlichen Allwissenheit. So kommt es schon vor der Jahrhundertmitte wieder zu einer Betonung des existentiellen Charakters der Philosophie, der dann vor allem in der Popularphilosophie bzw. der Philosophie für die Welt wichtig wird. Doch entwickelt sich fast zur gleichen Zeit auch, aus dem Wolffianismus, ein neues theoriebetontes Konzept von Philosophie, und zwar durch eine Neubestimmung des Objekts der Philosophie, das die Wolffsche Konzeption der (metaphysischen) Möglichkeitswissenschaft mit der antiwolffschen Konzeption der Eigenschaftswissenschaft bis zu einem gewissen Grade verbinden konnte. Philosophie ist Wesenswissenschaft im Sinne einer Erkenntnis der wesentlichen Beschaffenheiten der Dinge aus ihren Begriffen. Kant hat dann beide Konzeptionen, die existentielle und die szientifische, aufgenommen und als Philosophie der Welt und Philosophie der Schule wieder differenziert miteinander zu verbinden versucht. Jede Diskussion über den Gegenstand der Philosophie impliziert unvermeidlich gewisse, mehr oder weniger reflektierte Annahmen über deren Erkenntnisweise. Am Anfang der Aufklärung wird Philosophie noch wie schon zuvor üblich als Weisheit oder Gelehrtheit, aber auch als Erkenntnis oder Wissen bzw. 'Wissenschaft' verstanden. Sie ist Weltweisheit qua Wissenschaft. Der Status der philosophischen Erkenntnis ist dabei noch relativ unproblematisch, sie stellt noch keinen besonders fraglichen Erkenntnistypus dar. Philosophie ist im Prinzip Erkenntnis wie jede andere Erkenntnis auch, nur (subjektiv) kritischer und (objektiv) gründlicher, daher von dem Wissen der Menge oder dem Wissen der Wissenschaften doch qualitativ unterschieden. Und sie ist eine existentiell besonders relevante Erkenntnis, die dem Menschen hilft, ein besserer Mensch zu sein. Kurz, Weisheit ist eine allgemeine Erkenntnis oder Einsicht, die den Philosophen tugendhaft und glücklich macht; Gelehrtheit (eruditio) ist darüber hinaus das erworbene Wissen, das gelernte geistige Können, das die nicht notwendigerweise gelehrte Weisheit stabilisiert und als 'Entrohung' eine Veredlung des philosophierenden Menschen bewirkt. Weisheit, Gelehrtheit und Wissen bilden hier noch eine tendenzielle Einheit, vorausgesetzt daß sie auf einem lebendigen, zugleich scharfsinnigen und wirksamen Erkennen beruhen. Ob das Resultat dieser Erkenntnis gewiß oder ungewiß ist, bleibt demgegenüber zunächst sekundär; die philosophische Erkenntnis kann je nach Sachlage sicher oder unsicher bzw. nur wahrscheinlich sein. Aber mit der wachsenden Verunsicherung der Menschen durch Glaubensverlust wächst auch auf dem Gebiet der Erkenntnis die Forderung nach mehr Sicherheit; damit 149
gewinnt das moderne Ideal der Erkenntnisgewißheit, nicht zuletzt unter dem Konkurrenzdruck der modernen Naturwissenschaften, auch in der Philosophie an Boden. Wolff verlangt nun von der Philosophie, daß sie endlich Wissenschaft werde. Dabei versteht er Wissenschaft zwar einerseits in Analogie zur modernen mathematischen Naturwisenschaft, andererseits aber auch noch als metaphysische Prinzipienwissenschaft, also als exakte und endgültige Wissenschaft zugleich. Philosophie als Wissenschaft ist absolutes Wissen vom Absoluten und daher in ihrer Reinform nur Gott möglich. Auf diesem Wege mochten ihm allerdings auch unter seinen eigenen Schülern die wenigsten folgen; der Anspruch mußte, obwohl von Wolff nur äußerst vorsichtig formuliert, seinen Zeitgenossen noch allzu unbescheiden erscheinen. Daher (aber auch wegen des unvermeidlichen Mißlingens der Einlösung dieser Forderung) kam es einerseits zu einem Zurückstecken des Anspruchs der Philosophie auf endgültige Wissenschaft, andererseits zu verschiedenen Versuchen einer genaueren Bestimmung der philosophischen Erkenntnis im Unterschied zur naturwissenschaftlichen oder mathematischen Erkenntnis, z. B. als Erkenntnis aus reinen Begriffen. Diese Erörterung über die Art und Weise der philosophischen Erkenntnis, die mit dem Wie der philosophischen Erkenntnis letztlich auch deren Was überhaupt problematisch machen, führen dann am Ende der Aufklärung im Zusammenhang mit der Empirismus-Rationalismus-Diskussion zu Kants Frage, wie synthetische Urteile a priori möglich seien. Erkennen hat als solches nur ein unmittelbares Ziel: Wahrheit und nichts als Wahrheit. Insofern ist Philosophie als Wahrheitssuche eo ipso eine zielgerichtete Tätigkeit. Die Frage nach dem Ziel der Philosophie, falls sie überhaupt gestellt wird, kann also nur wissen wollen, ob die Philosophie noch mehr als Wahrheit anstrebt, ob sie noch einen darüberhinausgehenden Zweck verfolgt. Für die im Grunde zunächst noch 'aristotelisch' (nämlich finalistisch bzw. teleologisch) denkende Philosophie der Aufklärung war die Antwort auf eine solche Frage von vornherein klar. Das Ziel des philosophischen Erkennens ist, wie das jeder Tätigkeit, die Glückseligkeit. Dies gehörte zu den großen, praktisch unbefragten Selbstverständlichkeiten der Aufklärung - gleichgültig ob nun die Glückseligkeit als finis internus mit in die Definition der Philosophie hineingenommen wurde oder ob sie als finis externus außen vor gelassen wurde. Glückseligkeit aber ist, das bleibt unbestritten, an die Bedingung der Tugend geknüpft, so daß die Tugend- bis zu Kant- immer wieder auch als Mittel zum Zweck erscheinen konnte; der Mensch wird durch Tugend glücklich und nicht nur glückswürdig, daher kann er auch das 150
Glück, wie die Tugend und durch die Tugend, direkt anstreben. Und dieses Glück, ob es nun mehr als Heil menschlicher Wesenserfüllung oder mehr als materielle Wohlfahrt verstanden wurde, ist, wie dann später im Deutschen Idealismus die Freiheit, nur als gemeinschaftliches Glück möglich- sei es daß das Glück der anderen (wie am Anfang der Aufklärung auch noch die Ehre Gottes) als bloße Hauptbedingung der eigenen Glückseligkeit oder als ein eigener Zweck bzw. sogar als ein ichüberschreitender und damit als ein das Streben nach eigenem Glück relativierender Hauptzweck begriffen wurde. Erst am Ende der Aufklärung, als die Philosophie, sozusagen wider Willen, immer mehr zur theoretischen Wissenschaft wurde, verlor sich mit dem Willen zur Philosophie als Weisheit auch die Hoffnung auf Glück und Tugend durch Philosophie. Philosophie wird als absolutes Wissen zum Selbstzweck, auch wenn der höchstens noch am Erkenntnisglück, dem "Genuß" der Wahrheit, interessierte Philosoph dabei selber unglücklich bleibt. Die Selbstaufklärung der Philosophie im Zeitalter der Aufklärung reicht, grob gesprochen, von der offensiven Selbstbehauptung gegenüber der Theologie (Thomasius) bis zur defensiven Selbstreflexion im Hinblick auf die moderne Wissenschaft (Kant). Auch wenn es der Philosophie, obgleich noch nicht in dem Maße wie heute, offensichtlich schwer fällt, sich selbst und ihre Sonderstellung zu verstehen, so scheint doch das Bewußtsein von dieser Eigenart, in der Absetzung von der Theologie wie von der Naturwissenschaft, immer deutlicher zu werden. Philosophie ist weder Hilfswissenschaft noch eine mathematisierbare Erscheinungswissenschaft. Philosophieren ist eine Tätigkeit, in der es in einer ganz besonderen Weise um den philosophierenden Menschen selber geht, und zwar um seine sogenannte Glückseligkeit, von der richtigen Einstellung zu den materiellen Gütern bis hin zum Heil seiner Seele. Daher bleibt bei aller Bemühung um Objektivierung der philosophischen Erkenntnis die Reflexion auf das philosophierende Subjekt immer erhalten. Sie scheint sich sogar im Gegenzug zur neuzeitlichen Verwissenschaftlichung der Philosophie zu verstärken und letztlich zu einer bewußten 'Subjektivierung' der Philosophie zu führen. Seit dem Beginn der Aufklärung betonen die Philosophen in einer bisher noch nie dagewesenen Weise ihre Eigenständigkeit als Denker. Selbstdenken wird, wie Kant später formulierte, zum "Wahlspruch" der Aufklärung. Natürlich ist der Ausdruck Selbstdenken pleonastisch und daher nur als nachdrückliche Betonung von Authentizität bzw. Originalität zu verstehen, und natürlich haben alle Philosophen zu jeder Zeit in irgendeiner Weise auch außer Richtigdenken Selbstdenken gefordert. Aber die Herausstellung des Selbst151
denkens- zunächst im Gegensatz zum bloßen Nachdenken bereits vorhandener und als verbindlich erachteter Gedanken, später auch im Unterschied zum Richtigdenken - ist in dieser Form neu und für die Aufklärung bezeichnend. Philosophieren ist nicht nur vernünftiges, sondern auch freies Denken. Diese Entwicklung konnte auch das Selbstverständnis der Philosophie als Institution nicht unberührt lassen. Aus der mittelalterlichen Interessenlage, vor allem aus dem Vorrang der Theologie, war die bekannte Einteilung der Universität in drei obere Fakultäten und eine untere Fakultät erwachsen: Theologie, Jurisprudenz und Medizin einerseits sowie die sogenannte Artistenfakultät andererseits, die neben den artes liberales auch die Philosophie umfaßte. Die Philosophie gehörte insofern zu den Voraussetzungen des Studiums der eigentlichen Wissenschaften. Sie war eine Basiswissenschaft, die allerdings nicht im Sinne einer systematischen Grundlegung aller anderen Wissenschaften, sondern nur als methodische Hilfswissenschaft für die drei Hauptwissenschaften verstanden wurde was natürlich zu ständigen Friktionen mit ihrem Selbstverständnis und ihrem Selbstbewußtsein führen mußte. Diese Spannungen mußten spätestens in dem Augenblick zum Ausbruch kommen, als die Herrschaft der Theologie fraglich wurde. Die Theologie war nämlich vor allem an der Unterordnung der Philosophie interessiert, weil die Philosophie durch ihre Aussagen über das Absolute mit dem theologischen Anspruch auf allerhöchste Erkenntnis und den theologischen Aussagen über Gott seit altersher ebenso verdeckt wie verstockt konkurrierte. Für die Theologie aber, obwohl de facto selbst philosophierend, war die Philosophie nur eine Magd. Dieser an sich alte Streit der Fakultäten, der heute im allgemeinen nur noch durch Kant bekannt ist, durchzieht die Aufklärung von ihren frühesten Anfängen an. Schon Thomasius kennt ihn und versucht ihn durch eine systematische Begründung der für ihn schon historisch zufälligen Fakultäteneinteilung zu schlichten. Da er ursprünglich ganz vom Universitätsbetrieb ausgeht und zudem als Jurist einer höheren Fakultät angehört, begreift er die Philosophie zunächst als bloße Hilfswissenschaft. In den Institutiones jurisprudentiae divinae von 1688 (7. Aufl. 1720, Repr. 1963), deren grundlegendes erstes Buch jedoch vermutlich schon 1687 erschienen ist, verteidigt er das zeitgenössische Universitätssystem noch uneingeschränkt. Man müsse nämlich sehen, daß sich der heutige Philosophiebegriff gegenüber dem der antiken Philosophie verengt habe. Ursprünglich sei die Philosophie eine Erkenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge gewesen, habe also bei den Heiden auch die Medi152
zin, die Jurisprudenz und die Theologie umfaßt, und nur von daher sei auch Platons Forderung nach einer Personalunion von Philosophen und Königen zu verstehen. Heute hingegen könne die Philosophie sich nicht mehr als eine Königin aufführen, sondern nur noch den Titel einer ehrlichen Dienstmagd beanspruchen. Daraus folgt dann auch die Einteilung der Fakultäten. Von den drei Hauptfakultäten, die ihren Zweck in sich selber haben, befaßt sich die Medizin mit der Gesundheit des Leibes, die Rechtsgelehrtheit (hier noch nicht von der Moralphilosophie getrennt) mit der zeitlichen Glückseligkeit und die Theologie mit der ewigen Glückseligkeit. Die Philosophie hingegen, die nur eine Dienstleistungsdisziplin ist, scheint kein eigenes Ziel zu haben (vgl. 28 f.) 11 • Später, u. a. in den Cautelen (1710, dt. 1713) hat Thomasius vor allem die historischen Bedingungen der Entstehung der Fakultätenordnung kritisch beleuchtet. "Sie ist eine Erfindung der Päbstischen Clerisey, um dadurch die Herrschafft über die andere zu erlangen" (65). Aber da man auch die schädlichsten Erfindungen zu einem guten Zweck gebrauchen kann, sieht er keinen Grund, sie zu ändern 12 • Die Philosophie bleibt, auch wenn ihre Bezeichnung als Magd getadelt und die Rechtsgelehrtheit gelegentlich als wahre Philosophie bezeichnet wird, eine vorbereitende Wissenschaft und eine umfassende Weisheit zugleich. Thomasius' Problematisierung der überkommenen Universitäts- und Wissenschaftshierarchie wurde von seinen Schülern fortgesetzt und führte noch innerhalb des Thomasianismus faktisch zu einer Umkeh-
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Ähnlich geht Thomasius in der nahezu gleichzeitigen Philosophia aulica (1688, 2. Aufl. 1702) vor, nennt nun allerdings als erstes Kriterium den Unterschied zwischen Vernunft und Offenbarung, wodurch die Theologie stärker in eine Sonderstellung gedrängt wird (vgl. 58). Am Ende des Buches verweist er dann auf die angehängte Rede über den Pedantismus von Ulrich Huber, in der die Verachtung der Philosophie durch die höheren Fakultäten, ebenso wie der Anspruch der Philosophie auf eine allgemeine metaphysische Gesetzgebung als zwei entgegengesetzte Laster hochmütiger Gelehrtheit beschrieben werden (vgl. 235, 259 ff.).
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Zur historischen Infragestellung der Fakultäteneinteilung vgl. auch Thomasius' Entwurfder politischen Klugheit von 1707 (Repr. 1971) und seine Vorrede zu der von ihm kommentierten Ausgabe von Samuel Pufendorfs Severinus de Monzambano de statu imperii germanici (1696). Gelegentlich nähert Thomasius sich sogar schon der Frage, die später noch in der Mittwochsgesellschaft diskutiert wurde, wieweit Philosophie (im Sinne lebendiger Weisheit) überhaupt institutionalisierbar sei.
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rung der überlieferten W ertung 1\ auch wenn sich die Philosophie noch lange nicht so weit befreien konnte, institutionelle Konsequenzen zu fordern. August Friedrich Müller (Einleitung in die philosophischen Wissenschaften I, 1718, 2. Aufl. 1733), der die Philosophie als allgemeine Gelehrsamkeit und die Gelehrsamkeit als scharfsinnige Erkenntnis verstand, proklamierte z. B. schon mit Nachdruck den Vorrang der Philosophie. Die Einteilung der Gelehrsamkeit ist "nicht aus demgrundeder gelehrsamkeit selbst", sondern aus historischen Bedingungen entstanden. Die drei Hauptfakultäten verdanken ihre Stellung vor allem dem Broterwerb und der Verfassung der modernen Staaten mit ihren öffentlichen Ämtern; Halbbildung und Autoritätsinteressen haben dann das Ihre zur Verachtung der Philosophie als Magd beigetragen. "Wer zu beförderung seiner absichten nichts als leichtglaubigkeit und blinden gehorsam in dem menschlichen geschlechte suchet, der kan solchen leuthen, die an ausarbeitung der gesunden vernunft hand anlegen, nichts anders als spinnefeind seyn" (47). Betrachtet man jedoch die sogenannten oberen Fakultäten als wirklich "gelehrte wissenschaften", nicht als ungelehrte Gedächtniswissenschaften oder Handwerkswissenschaften, dann zeigt sich schnell, daß sie alle in der Philosophie gründen, d. h. daß sie nicht "ohne scharfsinnigen begriff, folglich ohne Philosophie" sein können; sie alle setzen die Philosophie "als einen unentbehrlichen grund" voraus- und das gilt auch für die Theologie, soweit sie eine wahre Wissenschaft zu sein beansprucht (vgl. 48 ff.). Für Wolff, der der philosophischen Fakultät angehörte, war der Vorrang der Philosophie vor allen anderen Wissenschaften aufgrund seines Philosophiebegriffs von Anfang an klar. Da die Philosophie als scientia possibilium sich auf alles Mögliche erstreckt und zugleich als Erkenntnis 13
Das bekannteste Beispiel dürfte Johann Georg Walch sein, der in seinem Phi· losophischen Lexikon (1726, 4. Aufl. 1775, Repr. 1968) ähnlich wie Müller die Philosophie als allgemeine Gelehrsamkeit von der Theologie, Jurisprudenz und Medizin als besondere Teile der Gelehrtheit abtrennt (1207 ff.) und ihr damit faktisch den Status einer Basiswissenschaft zuweist. - Walch selbst dürfte außer Thomasius auch Gottlieb Stolle gekannt haben, der in seiner Historie der Gelehrtheit li (1718, 4. Aufl. 1736) schon eine sehr dezidierte Position bezieht. "Hüte dich demnach vor der Mystic, so heilig dir auch diese Feindin vernünfftiger Weißheit vorkommt. Sie ist eine Stütze des Papstthums, so keine wahre Philosophie leiden kan. Laß es seyn, daß der Scholastiker ihre eine Dienstmagd, ja ein Fußhader der Theologie sey. Die reine Gottes-Gelahrheit umfasset die wahre Philosophie als ihre Schwester und küsset sie, ob ihr diese schon, wie billig, die rechte Hand läst und von Hertzen gönnet." (442).
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aller Gründe die höchste Erkenntnis ist, erkennt der Philosoph, wie es schon in der Ratio praelectionum (1718, 2. Aufl. 1735, Repr. 1972) heißt, das, was in den sogenannten höheren Fakultäten nur "vulgari modo" behandelt wird, "excellentius" (108). Die Philosophie liefert den anderen Wissenschaften, aber auch den Bauern und Handwerkern, klare Begriffe und feste Regeln. Eigentlich ist die Philosophie daher die einzige wahre Wissenschaft; sie unterscheidet sich von den anderen sogenannten Wissenschaften nicht aufgrund ihres Objekts, sondern aufgrund ihrer Erkenntnisweise. Wolff erörtert daher in verschiedenen Traktaten den Nutzen der Philosophie, insbesondere den der eigenen, und ihre Stellung, z. B. in der Schrift De philosophia non ancillante (in: Horae subsecivae 1730, Repr. 1983), wo er die Philosophie als Domina bezeichnet. In seiner Ausführlichen Nachricht (1726, 2. Aufl. 1733, Repr. 1973) verkehrt er auch schon wie später Kant die Metapher von der Philosophie als Magd in ihr Gegenteil. Sie bringt erst durch ihre Begriffe Licht in die übrigen Wissenschaften. "Daher pflege ich im Schertze zu sagen: die WeltWeißheit sey in soweit die Magd der höheren Facultäten, in so weit die Frau im finstern tappen müste und öffters fallen würde, wenn ihr die Magd nicht leuchtete" (536, vgl. 526 ff.) 14 • Auf dem Höhepunkt der Aufklärung macht die Philosophie einen Kompetenzanspruch wie schon seit fast 2000 Jahren nicht mehr und wie dann erst wieder im Deutschen Idealismus; sie hat sich in ihrem Selbstbewußtsein von einer Hilfswissenschaft zur Universal- und Fundamentalwissenschaft entwickelt. Aber auch da, wo dieser Anspruch nicht in dieser Form oder nicht so nachdrücklich erhoben wird, hat sie sich durch 14
Johann Christian Eschenbach (Logik oder Denkungswissenschaft 1756) hat dieses Bild noch ausgemalt. "Warum sie die Magd der höhern Wissenschaften heisse, und ob sie vor oder hinter ihre Herschaft hergehen müsse, darüber sind sich diejenigen, die der Philosophie diesen Titel geben, nicht recht einig. Einige nennen sie die Magd, weil sie mit der Fackel voran gehen, und ihrer Frau leuchten, und ihr den rechten Weg zeigen müsse. Ehre genug für die Philosophie, daß die höhern Wissenschaften ohne ihr nicht den rechten Weg finden können, sondern im finstern tappen! Andre sagen, sie müsse hinter her gehen und der Frau nicht wiedersprechen. Homiletischer Witz! Die wahre Philosophie streitet niemalen wieder andre Wissenschaften, vielweniger wieder die göttliche Offenbarung ... So wie gegentheils eine wahre Offenbarung nie Sätze enthalten kann, die der gesunden Vernunft zuwieder lauffen, wie alle Theologi, wenn sie von den Kenzeichen einer Offenbarung reden, die für göttlich ausgegeben wird, ausdrücklich behaupten. Aus gleichem Grunde könte also die Theologie eine Magd der Philosophie genannt werden; welches aber ein lächerlicher Ausdruck wäre." (21) 155
wachsende Ignorierung der Offenbarung bzw. Offenbarungstheologie als Erkenntnisinstanz wieder einmal von Fremdbestimmungen bzw. fremd gewordenen Bestimmungen emanzipiert. Offensichtlich hat die Philosophie im Verlaufe der Aufklärung ein Maß an innerer Freiheit gewonnen, auf das sie am Anfang höchstens hoffen konnte. Die Philosophie hat sich wieder einmal zu sich selbst als freies Denken befreit. Aber da sie immer auch vernünftig und nicht nur frei sein will, erstrebt sie nicht nur eine freie Vernunft, sondern auch eine vernünftige Freiheit. Vernünftige Freiheit, eine zentrale Maxime der deutschen Aufklärung, das ist nicht nur eine innerlich durch Vernunft bestimmte Freiheit (im Unterschied zur bloßen Willkür), sondern auch eine durch vernünftige Beachtung der gegebenen Situation, z. B. der jeweils unüberwindbaren religiösen und politischen Schranken, sich selbst auch äußerlich sichernde Freiheit. Vernünftig philosophieren heißt daher in der deutschen Aufklärung auch: vorsichtig philosophieren, bescheiden und behutsam, also, modern gesprochen, etwa kritisch-bewahrend, philosophieren. Freiheit beruht auf Vernunft, also auf der Anerkennung, daß sie nicht alles und nicht allmächtig ist.
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IV. Die wahre und die höhere Aufklärung Die Aufklärung war, trotz ihrer unbestreitbaren Bedeutung, nicht die größte Epoche der deutschen Geistesgeschichte. Sie hat daher, nachdem sie erst einmal 'überwunden' war, nie wieder so etwas wie eine breite Anerkennung gefunden und steht folglich nicht nur im Schatten der bekannten englischen und französischen Namen der Zeit, sondern auch oder vielmehr vor allem im Schatten der großen deutschen Philosophie seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts. Die deutsche Aufklärung mag noch soviel bewirkt haben, noch soviele Wege frei gemacht haben, die Großen der nachfolgenden Zeit sahen nicht ohne Grund auf sie herab (allerdings meist auch auf die englische und die französische Aufklärung). Soweit dies nicht nur eine Frage der Genialität bzw. des Selbstbewußtseins sondern auch eine Frage inhaltlicher Distanzierung war, d. h. soweit Idealismus und Romantik sowie deren Folgen bis heute im Gegensatz zur Aufklärung stehen, hängt die Beantwortung der Frage nach der Bedeutung der Aufklärung daher immer noch von verschiedenen grundsätzlichen Entscheidungen ab: erstens von der systematischen Einschätzung typisch aufklärerischer Postulate wie Verstand oder Vernunft, Freiheit, Toleranz usw., und zweitens von der historischen Einschätzung der Realisierung dieser Ideen im 18. Jahrhundert. Die Bedeutung von 'Fakten' für uns hängt schließlich nicht zuletzt auch von uns selbst ab. In Anbetracht der Unzahl divergierender Traditionen, die jedes Land hat, und des unvermeidlich selektiven Interesses, mit dem wir unsere eigenen Traditionen rezipieren und akzeptieren, hat ein Land in gewisser Weise zunächst die Tradition, für die es sich entschieden hat- und zugleich ist die Frage, welche Tradition letztlich siegen wird, immer noch offen. Insofern kann man zugespitzt sagen: Deutschland ist das Land der Aufklärung, wenn wir es wollen. Konkreter gesagt, geht es bei der historischen Beurteilung der deutschen Aufklärung vor allem um zwei Fragen. Erstens: Wie ist die deutsche Aufklärung im Verhältnis zur übrigen europäischen Aufklä157
rung, insbesondere im Verhältnis zur französischen Aufklärung und noch spezieller im Verhältnis zur Französischen Revolution, zu beurteilen? Zweitens: Wie ist das Verhältnis der nachaufklärerischen und nachrevolutionären spekulativen Philosophien, aber auch der Kantischen Transzendentalphilosophie, zur Aufklärung zu beurteilen? Mit anderen Worten: War die französische 'Aufklärung' sozusagen 'aufklärerischer' als die deutsche, kann sie immer noch als Norm aller Aufklärung gelten? Oder handelt es sich um zwei geschichtliche Erscheinungen, die man nicht sinnvoll zum Gegenstand eines Wertvergleichs machen kann? Und war die Französische Revolution, soweit sie überhaupt eine Folge der französischen Aufklärung war, der Höhepunkt oder das Desaster dieser Aufklärung (wenn nicht sogar für alle anderen)? Inwieweit war sie ein Durchbruch in eine neue Zeit, inwieweit ein Rückfall sogar hinter die Aufklärung? Vor allem aber fragt sich, in welchem Sinn die deutsche Aufklärung durch die Philosophie seit Kant oder seit Fichte, SeheHing und Hegel überholt ist oder überwunden worden ist. Wurde sie fortgeführt, vertieft und vollendet? Ist sie gescheitert, aus inneren oder äußeren Gründen? Oder wurde sie sogar durch einen neuen Obskurantismus und neue Irrlichter verdrängt? Kurz, in welchem Sinne wurde sie 'aufgehoben'? Offensichtlich hängt die historische Beurteilung der Aufklärung weitgehend von der Beurteilung der nachfolgenden Philosophie ab- und beides wiederum von tiefgreifenden Entscheidungen insbesondere über die Einschätzung des Verhältnisses von Vernunft und Wirklichkeit. Die Unterschiede in der Beurteilung der Aufklärung gründen oft weniger in dem unterschiedlichen Kenntnisstand hinsichtlich der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, speziell der deutschen Aufklärung, obwohl auch der Mangel an originärer Sachkenntnis zweifellos eine große Rolle spielt; sie gründen vielmehr vor allem in den vorausgesetzten 'weltanschaulichen' Prämissen, auf deren Basis solche Diskussionen geführt werden. Aber natürlich kommt erschwerend hinzu, daß Aufklärungsforschung und Aufklärungskritik nach wie vor weit auseinanderklaffen.
a) Historisierung und Enthistorisierung In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann die Aufklärung sich selbst historisch zu werden, sie begann zurückzublicken, und zwar zunächst voller Selbstbewußtsein. Kein Jahrhundert erschien ihr so aufgeklärt, so vorurteilsfrei und so fortschrittlich wie "unser Jahrhundert"; wer nicht überzeugt war, "in einem aufgeklärten Zeitalter" zu leben, der 158
glaubte wenigstens, "in einem Zeitalter der Aufklärung" (Kant) zu leben -auch wenn die Formel "in unseren erleuchteten Zeiten" gelegentlich einen nicht zu überhörenden ironischen Klang hatte. Zwar gab es wie eh und je die Klagen über die Schlechtigkeit der Zeiten - nicht nur bei den alten und neuen Gegnern der Aufklärung, sondern auch immer wieder unvermittelt bei den Aufklärern selber. Im allgemeinen aber überwog der Stolz, in einer Zeit zu leben, die es (vor allem in der Philosophie und den Wissenschaften) unvergleichlich weiter gebracht habe als alle vorhergehenden. Jedenfalls konnte man sich mit anderen Epochen vergleichen, d. h. die Aufklärung begriff sich als historische Erscheinung. Die Selbsthistorisierung der Aufklärung, ihr historisches Selbstbewußtsein (im doppelten Sinn von Reflexion und Stolz), wurde zum Anlaß, die nun als geschichtliche Erscheinung verstandene Aufklärung als Epoche in die Geschichte, d. h. in das bisherige Geschichtsbild, einzuordnen. Wenn die eigene Zeit sich vor anderen Zeiten auszeichnete, mußte sie sich nicht nur sachlich, sondern auch zeitlich von anderen Zeiten unterscheiden lassen. Wann hatte das Zeitalter der Aufklärung eigentlich begonnen, wann würde es möglicherweise enden? Hatte die Aufklärung Vorläufer in einer früheren Aufklärung, würde ihr vielleicht ein weiteres Zeitalter der Aufklärung folgen? Zwar wurden solche historischen Fragen, verglichen mit anderen aktuellen Sachfragen, nur beiläufig gestellt, aber die der Aufklärung wesentliche Reflexionsstruktur implizierte unvermeidlich auch einen historischen Aspekt. Hinzu kam das nicht zuletzt aus der Konfrontation mit der Tradition erwachsene Interesse der Aufklärung an der Geschichte, ihr Bedürfnis nach Aufklärung über Geschichte und nach Aufklärung durch Geschichte. So kam es unvermeidlich auch zu einem Interesse an der Geschichte der Aufklärung: die Aufklärung wurde sich ihrer selbst nicht nur als Geschichtsepoche sondern auch als Geschichtsprozeß bewußt, und zwar als eines nicht auf das 18. Jahrhundert beschränkten Geschichtsprozesses. Ja, die Auffassung der Aufklärung als Geschichte konnte sogar in die Auffassung der Geschichte als Aufklärung umschlagen. So wurde das Epochenbewußtsein der Aufklärung - ihre Überzeugung von ihrer Einzigartigkeit, zusammen mit ihrem Willen zu weiteren Fortschritten - zugleich zu einer wesentlichen Voraussetzung der nun beginnenden Geschichtsphilosophie von Kant bis Hegel oder von Lessing bis Marx. Die Geschichte konnte nun, in Analogie zur christlichen Heilsgeschichte, als ein einziger weltgeschichtlicher Prozeß erscheinen: als ein Prozeß universaler Aufklärung oder Bildung, als ein Prozeß der Zivilisation oder Kultur, kurz, als Geschichte der "Erziehung des Menschengeschlechtes" (Lessing). 159
Der Versuch der Aufklärung, sich über ihre Anfänge Rechenschaft zu geben, hat im 18. Jahrhundert vor allem zu zwei auch heute noch gängigen Antworten geführt. Die allgemeine Grundüberzeugung war, daß nach den finsteren Jahrhunderten einer mittleren Zeit, des Mittelalters, etwa mit Luther und den Humanisten eine neue Zeit, die Neuzeit, begonnen habe. Insofern folgte die Aufklärung, wie immer die Anfänge der Moderne näher bestimmt werden mochten, im wesentlichen der durch die Humanisten etablierten und bis heute üblichen Geschichtsperiodisierung. Zugleich aber hatten viele Aufklärer bereits ein mehr oder weniger deutliches Bewußtsein davon, daß es innerhalb dieser neueren Zeit noch gravierende Unterschiede gebe, daß die Aufklärung nicht mit der sogenannten Neuzeit identisch sei. Insbesondere die deutsche Frühaufklärung (Christian Thomasius) war überzeugt, daß mit ihr selber wiederum eine neue Epoche in der Geschichte bc:gonnen habe, und dem entsprach am Ende des 18. Jahrhunderts, durch die politischen Ereignisse und die bevorstehende Jahrhundertwende provoziert, eine wachsende Tendenz, dieses Jahrhundert als eine Epoche eigener Art, eben als das Jahrhundert der Aufklärung, zu sehen. Die frühe Neuzeit wurde so zum bloßen Vorläufer der Aufklärung, Bacon und Descartes z. B. wurden zu ersten Vorkämpfern im Kampf gegen die Vorurteile und den Aberglauben. So oder so mußte sich (im Rahmen der erst renaissance-, dann aber fortschrittstheoretischen Dreiteilung der Geschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit) der Blick über das medium aevum hinaus auf die Antike richten, und die antike Philosophie konnte nun als eine erste Epoche der Aufklärung des menschlichen Geistes ersC'heinen. Sokrates galt ohnehin als Ideal eines W eltweisen, und ähnlich wetden heute nicht selten Xenophanes oder die Sophistik als "Sturmvogel der 'Aufklärung'" betrachtet. Von einer solchen Aus- und Überdehnung des Aufklärungsbegriffs ist es dann nicht mehr weit bis zur Deutung des Sü::1denfalls als Emanzipation (Selbstbefreiung) oder bis zu heutigen Anschauungen von der Art, die Aufklärung habe im Prinzip schon mit dem Heraustreten des Menschen aus der Natur, also schon mit dem homo sapiens begonnen, die moderne Aufklärung sei eine zweite oder dritte und eine dritte oder vierte stehe bevor. Brisanter als die Frage nach den Anfängen oder Vorstufen der Aufklärung mußte ihren Vertretern gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Frage nach einem möglichen Ende oder überhaupt nach der Zukunft der Aufklärung erscheinen. Hinter einer solchen Fragestellung stand nicht nur das Wissen vorn Wandel aller Zeiten, sondern auch die Erkenntnis, daß die Fortschritte der Aufklärung nicht so groß waren, wie manche es sich erhofft haben mochten, und daß es sogar Rückschläge gab, die viele nicht 160
mehr erwartet hatten; es gab neue äußere Restriktionen sowie Erfahrungen, die die Aufklärung erst einmal mit sich selber machen mußte. Aber selbstverständlich waren die Aufklärer von vornherein nicht so fortschrittsfröhlich und so realitätsblind gewesen, wie ihre Gegner es ihnen bis heute unterstellen. Schon Thomasius hatte, wie dann später noch Kant, große Zweifel hinsichtlich eines über die möglichen Fortschritte an Legalität hinausgehenden Fortschritts an Moralität; dem bloß technischen Fortschritt stand er sogar sehr kritisch gegenüber. Friedrich TI. erkannte nicht nur, daß der Aberglauben unausrottbar war, sondern auch, daß die Aufklärer in ihrer Berufung auf den Verstand oft nicht weniger fanatisch waren als ihre Gegner, die sich auf Gott oder den Glauben beriefen, daß die Aufklärer als dogmatische also gerade nicht tolerant waren. Solche Erfahrungen führten dann, z. B. bei Moses Mendelssohn oder Johann Jakob Engel, zu dem Versuch, das aus der antiken Geschichtsschreibung und Politikphilosophie bekannte Dekadenzprinzip auch auf die Aufklärung anzuwenden und bereits eine Art 'Dialektik der Aufklärung' zu konstatieren. Auch Aufklärung ist ambivalent, sie kann oder muß, wenn schon nicht an äußeren Widerständen, irgendwann durch Selbstverfehlung an sich selbst scheitern, nämlich sich selber durch Mißbrauch oder Maßlosigkeit oder Pseudorationalismus zerstören. So sahen manche Aufklärer am Ende des Jahrhunderts die Gefahr eines Endes der Aufklärung, nämlich den Umschlag in einen neuen Aberglauben durch Selbstzerstörung oder das Aufkommen neuer Mächte der Finsternis, unmittelbar bevorstehen'. Der durch Th. W. Adorno und M. Horkheimer (Dialektik der Aufklärung 1947) bekannt gewordene Ausdruck scheint aus der Romanistik zu stammen. Vgl. F. Schalk, Formen und Disharmonien der französischen Aufklärung, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte XV, 1937 (254). Adorno und Horkheimer verstehen unter Dialektik der Aufklärung vor allem den Umschlag der Aufklärung in "Mythologie", wobei sie den Mythos selbst schon als Anfang der Aufklärung im Sinne rationaler Weltbewältigung interpretieren. Die Begriffe Aufklärung und Mythos werden dabei so weit gefaßt, daß beinahe alles in verschiedenen Hinsichten zugleich Aufklärung und Mythos sein kann und insofern in verschiedenen Varianten ineinander umschlagen kann, wobei das, was Aufklärung bzw. Mythos im engeren Sinne bedeuteten, nahezu untergeht. Der Sache nach war die sogenannte Dialektik der Aufklärung allerdings, zumindest in einigen Aspekten, schon den frühen Aufklärungskritikern, aber auch den Aufklärern selber, bekannt. Vorurteilskritik kann zu einem neuen Vorurteil, zum praejudicium praejudicii, Religionskritik selber zu einer neuen (Pseudo-)Religion werden; die Aufklärung, als Kampf gegen den Aberglauben zum "Extrem der substanzlosen Reflexion seiner selbst in sich selbst" (Hegel) pervertiert, kann selber wieder in Aberglauben umschlagen: sei es, daß ein neuer Aberglaube folgt, sei es, daß die Aufklärung sich selber als Aberglauben erweist. Nicht nur tritt an die
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Sie begannen ihre Hoffnungen bereits wie Kant auf einen unzerstörbaren "Keim" von Aufklärung zu setzen, der alle Stürme überstehen und irgendwann zu neuem Leben erwachen werde. Die Fragen nach dem Anfang und dem Ende der Aufklärung als Epoche und die daraus resultierenden Fragen nach einer Aufklärung vor der Aufklärung und einer Aufklärung nach der Aufklärung führen unvermeidbar zu einer unabsehbaren Erweiterung des Aufklärungsbegriffs. Aufklärung wird zu einer bloßen Denkart, zu einer bloßen kritischen Einstellung oder zu einem sogenannten rationalen DenkstiL Dadurch schlägt der total generalisierte, der sozusagen totalisierte Aufklärungsbegriff am Ende wieder in einen unhistarischen Aufklärungsbegriff um. Die Historisierung des ursprünglich programmatisch-systematischen Aufklärungsbegriffs leitet über die Generalisierungen des späteren historischen Aufklärungsbegriffs zu einer Enthistorisierung dieses historischen Begriffs hin und damit zu einem sozusagen universalhistorischen Aufklärungsbegriff, der dem systematisch-programmatischen Aufklärungsbegriff bis zu einem gewissen Grade - als dessen Erweiterung korrespondiert. Aufklärung in diesem weiten Sinn ist ein nahezu jederzeit möglicher 'kritischer Rationalismus', der allerdings zu bestimmten Zeiten geschichtlich stärker hervortritt. Aber natürlich ist auch der generalisierte Aufklärungsbegriff nicht wirklich überhistorisch, der neue Aufklärungsbegriff bleibt, wenn auch nur in Resten, dem 18. Jahrhundert als seinem Vorbild verbunden. Es ist daher auch die Aufklärung als Zeiterscheinung, die wohl nicht zufällig immer noch als sachliches Problem zur Diskussion steht. Aufklärung ist seit der Aufklärung ein in vielfältigen Nuancen variierender Aktions- und Epochenbegriff zugleich. Man mag dieses Changieren des Aufklärungsbegriffs zwischen einem systematischen oder programmatischen und einem historischen bzw. einem bis zur Universalität enthistorisierten, 'geschichtsphilosophischen' Aufklärungsbegriff als Mangel an begrifflicher Klarheit bedauern, es beweist aber auch die nachhaltige Nachwirkung einer vergangeneu Epoche und den Zusammenhang eines Problemkomplexes. Wenn der Begriff Aufklärung nicht nur zufällig überlebt haben sollte, beweist er die bleibende Aktualität der damit gemeinten Sache. Der deutsche Begriff Aufklärung enthält die Chance, den Zusammenhang zwischen der historischen und der sachlichen Aufklärungsproblematik festzuhalten. Stelle des alten Aberglaubens immer wieder ein neuer, der dann meist nur der alte im neuen Gewande ist; auch Aufklärung selber ist, soweit sie nicht selbstkritisch ist, unvernünftiger Aberglaube.
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b) Selbstdefinition und Selbsttranszendenz Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts kam es zu einer verstärkten Selbstreflexion der deutschen Aufklärung. Sie drehte sich vor allem um die Frage, was Aufklärung in Wahrheit, was also 'wahre' Aufklärung sei. Es ging um die Bedingungen und Folgen der Aufklärung, vor allem um ihre möglichen Grenzen. Angesichts der Fülle der faktisch vorhandenen Ansprüche und Konzeptionen war eine solche Aufklärung über Aufklärung von unbezweifelbarer Dringlichkeit, und sie wurde sowohl von den Aufklärern wie von ihren Gegnern gefordert. Die Hauptimpulse kamen dabei nicht aus der Problematik der Sache selbst, sondern aus dem Zwang zur Selbstverteidigung. Die Aufklärung mußte sich gegen viele von außen an sie herangetragene, aber auch gegen manche im eigenen Kreis entwickelte Auffassungen der Aufklärung zur Wehr setzen und sich mit einer Konzeption der 'wahren' Aufklärung von aller 'falsch' verstandenen Aufklärung absetzen: von falschen Bildern der Aufklärung bei deren Gegnern, aber auch von falschen Aufklärern in den eigenen Reihen. Erste Anstöße dazu kamen wahrscheinlich (außer aus der Theologie) aus der neuen Literatur der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang, die nun, in einer Art Jugendprotest, statt immer mehr Verstandeskultur, plötzlich mehr Gefühl und Leben forderte. Aber auch bei den Aufklärern selber wurde, obwohl sie die Wirkmöglichkeit der Aufklärung meist noch überschätzten, das Vertrauen in Verstand und Vernunft und damit die Möglichkeit von Aufklärung unterminiert - durch die Ausbreitung eines skeptischen Empirismus und durch die Selbstkritik der Vernunft in der Kantischen Philosophie. Die wichtigsten Zwänge zur Selbstaufklärung kamen jedoch aus der Politik: zunächst die von Friedrich II. initiierte Akademiefrage über die Berechtigung des Volksbetrugs, nur wenig später die Wiedererstarkung der alten politischen und religiösen Kräfte nach dem Thronwechsel in Preußen und dann vor allem die Französische Revolution, die von den Gegnern der Aufklärung in diffamierender Absicht als deren unmittelbare Konsequenz gedeutet wurde. So geriet die Aufklärung in Deutschland in die Defensive und mußte sich aus dieser Defensive heraus als "die wahre Aufklärung" definieren. Sich selbst definieren heißt aber auch, sich selbst transzendieren. Die Selbstdefinition der deutschen Aufklärung ist, weil eine Definition aus der Defensive, zu einem guten Teil taktisch bedingt. Sie muß versuchen, die Gegen- wie die Pseudoaufklärung zu unterlaufen und die 'wahre' Aufklärung möglichst unangreifbar (z. B. sehr formal) zu definieren - zumal sich auch Gegen- oder Pseudoaufklärung ihrerseits dieses 163
Begriffs (sei es aus redlichen Motiven, sei es aus taktischen Gründen) bedienen können, wobei jeder sich als den wahren und den anderen als den falschen Aufklärer oder gar als Aufklärungsgegner bezeichnen kann. Der Sache nach geht es jedoch vor allem um eine positive Fortsetzung und Absicherung der von der Aufklärung in Deutschland immer schon verfolgten Generallinie, nämlich um die Idee eines aus Hoffnung auf Vernunft verfolgten Reformkurses. Da in Deutschland eine Revolution nach französischem Muster mangels nationaler und religiöser Einheit unmöglich, ja aus der Sicht der weitaus meisten deutschen Aufklärer im Vergleich zu Frankreich auch unnötig war und angesichts des bedrohlichen Fortgangs der Französischen Revolution auch je länger desto weniger gewollt werden konnte, mußte eine Aufklärung, die ihrer Natur gemäß auf Vernunft und nicht auf mörderische und selbstmörderische Abenteuer setzte, rebus sie stantibus wieder einmal versuchen, das Beste aus den gegebenen Umständen zu machen. Sie mußte, um die durch sie selbst erwirkten Fortschritte nicht zu gefährden, die vorhandenen positiven Ansätze durch Kompromisse absichern und durch eine interpretatio in meliorem partem zur Norm hochloben ohne sich dabei der geistig und politisch erstarkten Restauration zu verschreiben. Gleichzeitig konnte sie den moralischen Druck auf die Institutionen, die der Aufklärung entgegenstanden, erhöhen und sogar mit der Gefahr einer politischen Revolution bei weiterer Reformverzögerung drohen. So konnte die Aufklärung, nachdem sie bereits so etwas wie eine kulturelle Öffentlichkeit in Deutschland und damit so etwas wie eine Kulturnation geschaffen hatte, am Ende sogar noch eine politische Öffentlichkeit als Basis einer politischen Nation konstituieren. Allerdings hatte sie am Ende nicht mehr die Kraft, die Idee einer Reformaufklärung siegreich nach beiden Seiten zu verteidigen. Das 'Projekt' einer Reform durch wahre Aufklärung wurde zwischen den Extremen von Revolution und Reaktion zerrieben, die sich dann wie üblich gegenseitig aufschaukelten. Mit dem Ende der 'Reformkontinuität' wurden so die beiden Hälften der halbierten Aufklärung zu feindlichen und aufklärungsfernen Polen. Der Streit um die Aufklärung kann als rein verbaler Streit erscheinen. Eine bestimmte Richtung soll emphatisch als die wahre Aufklärung oder als die einzige Aufklärung, die diesen Titel verdient, bezeichnet werden. Aber der Kampf um ein Wort zeigt an, daß dieses eine Idee repräsentiert, die nicht mehr ohne weiteres aufgegeben werden kann - der Streit um die richtige Parole (wie heute z. B. um das Wort Freiheit) kann nicht ganz zufällig sein. Das zeigt sich nicht zuletzt an den Versuchen, auch die 164
Umkehrung bisheriger Aufklärungsintentionen, also die sogenannte Gegenaufklärung, als die wahre Aufklärung auszugeben. So wie die neuen Revolutionäre, so konnten auch die neuen Gegenrevolutionäre sich als die wahren Aufklärer bezeichnen und beide die bisherige Reformaufklärung nun von verschiedenen Seiten als falsche, nämlich als maßlose oder als kraftlose Aufklärung kritisieren. Wenn aber der Begriff wahre Aufklärung als Deckmantel verschiedener Intentionen (Reform, Revolution, Reaktion) dienen kann, so kann der Streit um diese Parole erst recht müßig erscheinen. Allerdings setzt die Kritik am beliebigen Gebrauch des Begriffes wahre Aufklärung, z. B. an seiner Verwendung für faktische Gegenaufklärung oder Pseudoaufklärung, die de facto Verdummung sei, unvermeidbar selbst schon wieder einen normativen Begriff von ('wahrer') Aufklärung voraus. Während die Aufklärer noch über den Begriff der wahren Aufklärung stritten (einschließlich Kant, der diesen Begriff vor allem im Hinblick auf eine wahre moralische Religion gebrauchte) und, indem sie in einer Art Krise der Selbsteinschätzung sich dadurch als Aufklärer definierten, die Aufklärung in ihrer bisherigen Form transzendierten, begann gleichzeitig - nur noch in loser Verbindung mit dieser Art von Aufklärung und Selbstbestimmung von Aufklärung - eine neue Generation nach einer anderen, "höheren" Aufklärung zu suchen und auf diese Weise über die bisherige Aufklärung hinauszudenken. Für sie waren die Errungenschaften der inzwischen einhundertjährigen Aufklärung im Grunde schon selbstverständlich und daher kein Thema mehr. Die letzte Generation des 18. Jahrhunderts stand unter dem Eindruck der neuen Empfindsamkeit, des Sturm und Drang, der Kantischen Philosophie und der Französischen Revolution. Die eingefahrenen Gedankengänge der Aufklärung, ja das Wort Aufklärung selber, erregten fast nur noch Überdruß; selbst Kant galt den jungen Philosophen am Ende des Jahrhunderts - in Übereinstimmung mit seinem Selbstverständnis, aber mit entgegengesetzter Wertung- nicht als Überwinder, sondern nur als (halbherziger) Vollender der Aufklärung. Dennoch verstehen auch die neuen Denker sich (zumindest zunächst) nicht selten als Fortsetzer und Vollender der Aufklärung. Schon Fichte, der als radikaler Aufklärer beginnt, möchte die Aufklärung "höher bringen"; Jacobi und SeheHing gehen von der Idee einer Weiterentwicklung der Aufklärung aus, und sogar Hölderlin spricht ausdrücklich von einer "höheren Aufklärung". Selbst Hegel, der zunächst in Auseinandersetzung mit der Weltweisheit der Aufklärung nach einer "höheren Weisheit" suchte, verstand seine Philosophie (auch) als Erfüllung einer immer noch "unbefriedigten" Aufklä165
runlf. Dennoch wächst bei der postkantianischen und postrevolutionären Generation - mit dem Wandel der ideellen und reellen, der geistigen und gesellschaftlichen Voraussetzungen - die Distanz von der Aufklärung des 18. Jahrhunderts bis hin zum Umschlag in die Romantik. Der Deutsche Idealismus ist nicht nur Weiterentwicklung der Aufklärung, sondern auch Ausdruck des Zusammenbruchs der Aufklärung und eines neuen Aufbruchs, ja sogar eines roll back - aufs Ganze gesehen jedoch wohl mehr eine Folge des Scheiterns der Französischen Revolution als des Versagens der deutschen Aufklärung. Jedenfalls überwiegt, obwohl vieles in den neuen Philosophien nur Umformulierung bereits vorhandener Einsichten ist, der Eindruck der genialen Innovation, durch die sogar die kantische und kantianische Philosophie ins Hintertreffen gerät. Aber auch wenn die Diskontinuität größer sein sollte als die Kontinuität {soweit so etwas überhaupt möglich ist), war die Kontinuität wahrscheinlich größer, als den Neuen und ihren Nachfolgern bewußt war. Die neue Mentalität zeigt sich auf vielen Gebieten, grundlegend aber war die Neueinschätzung von Religion, Moral und Kunst und damit auch das neue Selbstbewußtsein der Philosophie. Während die Frühaufklärung noch ganz durch die Gegnerschaft zur Orthodoxie, später auch zum Pietismus, geprägt war und sich allererst den Spielraum für ein freies Denken erkämpfen mußte, hat die letzte Generation des 18. Jahrhunderts bereits ein sehr viel freieres Verhältnis zur Religion. Die christliche Religion in ihrer traditionellen (kirchlichen) Fassung gilt nun, infolge der Zunahme der Religionskritik und Religionsgeschichtsschreibung, fast nur noch als ein bloß historischer Glaube. Die Philosophen des Deutschen Idealismus rekrutieren sich weitgehend aus gescheiterten Theologen, die mit der kirchlichen Theologie gebrochen haben und nun als spekulative Philosophen freie Theologen, "Priester der Wahrheit", sind. Im Unterschied zu den moralischen Aufklärern sind sie wieder Gottsucher, 2
WährendJohannJakob Engel aus Furcht vor der Rückkehr des Aberglaubens "das ewige Erhöhen der Aufklärung" als gefährlich betrachtet, fordert Carl Leonhard Reinhold für den Gelehrten "höhere Aufklärung". Vgl. W. Schneiders, Die wahre Aufklärung 1974 (178, 182). Etwa gleichzeitig forderte dann Fichte, z. B. 1793 in der Vorrede der Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die Aufklärung "höher zu bringen", und zwar im Sinne eines Fortschritts auf deren Linie. Zu Hölderlin vgl. G. Kurz, Höhere Aufklä· rung, Aufklärung und Aufklärungskritik bei Hölderlin (in: Ch. Jamme u. G. Kurz, Idealismus und Aufklärung, Kontinuität und Kritik der Aufklärung in Philosophie und Poesie um 1800 (1988}; zu Hege! vgl. W. Schneiders, Vom Welt· weisen zum Gottverdammten, Über Hege! und sein Philosophieverständnis (ebd.).
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daher auch Geschichtsphilosophen, die mit ihren Konzeptionen von Heilsgeschichte die Offenbarungsreligion nicht mehr kritisch erörtern, sondern sie bereits historisch zu verstehen und damit zu retten versuchen. Philosophie ist jetzt freie und vernünftige Erhebung zum Absoluten; sie ist selber Gottesdienst, sozusagen postchristliches Christentum in der Form der Philosophie - allerdings immer hart am Rande des Pantheismus oder sogar des Atheismus. So beruht der Deutsche Idealismus auf einem produktiven Bruch mit dem etablierten Christentum, auf einer neuen Abwendung und Zuwendung zugleich. Dabei steht die Moral nicht mehr im Vordergrund des Interesses - teils weil ihre theoretische Ausformulierung mit Kant einen gewissen Höhepunkt erreicht hatte, teils weil in der Praxis das Interesse an der Politik das Interesse an der Moral zu verdrängen beginnt, aber sicher auch deshalb, weil die Inhalte der aufklärerischen Moral inzwischen als Platitüden empfunden wurden. Nur beim jungen Fichte hat die Moral noch einen absoluten Stellenwert und bildet eine geradezu atheistische Ersatzreligion. Nun tritt an die Stelle der 'Flucht' in die Moral die 'Flucht' in die Kunst. Während in der ersten Hälfte der deutschen Aufklärung die Kunst kaum als Problem interessiert (mangels einer großen nationalen Kunst und weil das Absolute außer in der kirchlichen Religion zunächst nur in der Form der Moral anerkannt wird, in der Kunst hingegen noch als das Irrationale verdächtig ist), wird nun die Kunst, auf der Basis der Rehabilitation der Sinnlichkeit in der Aufklärung, und insbesondere der sinnlichen Wahrnehmung in der "Ästhetik" der Aufklärung, zu einem ausgezeichneten Ort der Erscheinung des bisher auch hier wegerklärten Absoluten. Die Ästhetik, die sich diesen Namen bekanntlich erst in Deutschland gibt (Alexander Gottlieb Baumgarten), tritt hier nicht nur oder sogar kaum als Regelwerk oder Geschmacksreflexion auf; sie konstitutiert sich vielmehr jetzt als eine philosophische Disziplin mit anfangs mehr erkenntnistheoretischen, dann aber zunehmend metaphysischen Akzenten. Schon bei Kant sind es zwei Dinge, die das Gemüt mit Bewunderung erfüllen, das moralische Gesetz in mir und der gestirnte Himmel über mir, d. h. das Erhabene tritt, wenn auch noch mehr in der Natur als in der Kunst, als eine (noch moralische) ästhetische Erfahrung neben die rein moralische Erfahrung des "Du sollst". Für andere Zeitgenossen und Kants Nachfolger wird Kunst dann, wie für viele bis heute, schon zur metaphysischen Erfahrung par excellence, zur Vorstufe oder Antizipation, wenn nicht sogar zur Vollendung der Wahrheitserkenntnis, die die Philosophie nun mit absolutem Anspruch zu verwalten behauptet. 167
Die hier nur angedeutete Interessenverlagerung findet einen gleichzeitigen Ausdruck in dem neuen Stellenwert der Begriffe Freiheit und Vernunft, die die Vorherrschaft der Parolen Tugend und Verstand ablösen. Offensichtlich waren die Worte Tugend und Verstand um 1800 verbraucht, weil überstrapaziert. Die Aufklärung hatte sich ursprünglich als "Aufklärung des Verstandes" verstanden, weil sie den Verstand (intellectus) wie seit altersher üblich in der Hierarchie der Geistesvermögen als die höchste geistige Kraft, nämlich als ein Vermögen intellektueller Anschauung verstanden hatte. Die Vernunft (ratio) hingegen, obwohl als richtige oder gesunde Vernunft ein zumindest in praktischer Hinsicht vorausgesetzter Maßstab, galt ursprünglich nur als diskursives Vermögen (ratio qua ratiocinatio). Doch wandelte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts aus einer Reihe von Gründen, die hier nicht diskutiert werden können, beinahe untergründig die Einschätzung der Begriffe Verstand und Vernunft und damit auch ihres Verhältnisses so sehr, daß die Rangordnung spätestens bei Kant offenkundig umschlug. Für den Deutschen Idealismus, der sich der Kantischen Terminologie anschloß, war Verstand daher keine evokative Parole mehr. Der Verstand galt nun als unterste Stufe des Denkens, als eine mehr oder weniger mechanische Intelligenz, als etwas Leeres und Totes. Vor allem aber hatte der Verstand der Aufklärer offensichtlich kein Verständnis für die neuentdeckte 'Tiefe' der Wirklichkeit, er war 'seicht' und 'platt' und konnte- was allerdings die deutsche Aufklärung zuletzt schon selber festgestellt hatte - zum "Fanatismus des abstrakten Gedankens" (Hegel) führen. Spätestens hier begann die allgemeine Suche nach einer höheren Vernunft, in der der Verstand, wie auch immer, aufgehoben sein sollte. Es beginnt der Aufstieg der Vernunft. Dabei garantiert der alte und enge Zusammenhang der Begriffe Verstand und Vernunft zunächst noch das Festhalten am 'Rationalismus'; die Vernunft, die sich auf den Verstand stützt und ihn voraussetzt, baut z. B. immer noch auf Wissenschaft bzw. orientiert sich an ihr als Vorbild. Zugleich aber drängt nun auch alles, was sich, besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, unter Parolen wie Gefühl und Leidenschaft, am Rande oder außerhalb der Aufklärungsbewegung angesammelt hatte, was im Pietismus, aber auch in der Musik gleichsam ein Exil gefunden hatte, machtvoll nach vorn. Und zugleich tritt an die Stelle der Vernünftelei, nicht selten eine neue 'Empfindelei'. So beginnt (zunächst unter dem Banner einer höheren Vernunft) der faktische Umschlag der allgemeinen Mentalität in einen 'Irrationalismus'. Er wird begleitet von der schon typisch deutschen Aufwertung des Begriffes Geist, bis dann der "Geist als Widersacher der Seele" auch noch dem Verdikt der Plattheit 168
zum Opfer fällt. Am Ende steht die heute übliche Verteilung von Rationalismus und Irrationalismus nach unterschiedlichen Bereichen. Dies alles hatte natürlich auch sein Pendant in der Praxis, Voraussetzungen in der Praxis und Folgen für das Verständnis von Praxis. Wie gesagt war die Aufklärung von Anfang an mehr gewesen als Aufklärung des Verstandes; sie hatte auf die "Verbesserung des Willens", also auf Tugend, abgezielt. Aber mit der faktischen Degeneration der Tugend zur bürgerlichen Sittsamkeit und der Entwicklung des modernen Staates zum Rechtsstaat mit seinen Bürgern und Beamten treten nun, theoretisch seit langem durch das Naturrecht propagiert, neue Begriffe in den Vordergrund, nämlich Recht und Pflicht - Recht vor allem durch die Französische Revolution, Pflicht vor allem durch die Kantische Philosophie. Gleichzeitig aber wird, in der Philosophie wie in der Politik, Freiheit zur beinahe alles beherrschenden Parole. Zwar war Freiheit immer schon Ziel der Aufklärung; denn Aufklärung ist als solche Selbstbefreiung und auch als rein geistige Emendation immer schon auf Freiheit gerichtet teils weil Wahrheit ohne Freiheit nicht zu finden ist, teils weil die Wahrheit frei macht. Dennoch hatte im Denken der Aufklärung (aufgrund ihres Ausgangs von einer Reform der Religion und nicht von einer Revolution der Politik) zumindest in praktischer Hinsicht nicht die Freiheit, sondern die Tugend im Vordergrund gestanden. Erst allmählich tritt neben dem intellektuellen und moralischen Aspekt der Aufklärung auch deren emanzipatorischer Charakter in den Vordergrund (nicht nur, aber auch in politischer Hinsicht). Schon die Frühaufklärung hattetrotz ihrer moralisch-pädagogischen Absichten durch die systematische Unterscheidung von Recht und Moral das Ideal des (christlichen) Tugendstaates durch das des (weltlichen) Rechtsstaates zurückgedrängt; in der zweiten Hälfte der Aufklärung wird dann, in der Konsequenz der fortschreitenden Aufklärung und vor allem der Französischen Revolution, der ursprünglich absolutistische Rechtsstaat mehr und mehr als ein Garant individueller Freiheiten, als liberaler Rechtsstaat, verstanden. Darüber hinaus aber erscheint nun deutlicher als bisher, vor allem aufgrund der politischen Erfahrungen, Freiheit nur als gemeinschaftliche Freiheit möglich. Zumindest der wahre Staat oder die ideale menschliche Gemeinschaft wird nun als Reich der Freiheit gedacht, das dann zugleich ein Reich der Vernunft ist und den sogenannten Not- und Verstandesstaat der Aufklärung, den als bloßen Vertrag rekonstruierten Rechtsstaat des sogenannten lndividualliberalismus, transzendieren soll. Der angedeutete Wandel der Mentalität am Ausgang des 18. Jahrhunderts fällt in Deutschland nicht zuletzt deshalb so schroff aus, weil er hier 169
von einer einmaligen Anzahl großer, ja genialer Geister getragen wird anders als in England und Frankreich, die ihre geistigen Höhepunkte schon in der ersten bzw. zweiten Hälfte der Aufklärung hatten. Eine wahre Genieschwemme verstellt mehr als in anderen Ländern den Blick auf die vorhergehende Aufklärung. Dabei setzen sich die Protagonisten des neuen Geistes von ihren unmittelbaren Vorgängern und Zeitgenossen verständlicherweise besonders scharf ab - was ihnen auch aufgrund ihres Selbstbewußtseins, das nun Philosophie wieder als Berufung versteht, nicht schwer fällt. An die Stelle der Anmaßungen des Verstandes treten nun die Anmaßungen der Visionäre. Die deutsche Aufklärung (einschließlich Kant) wird so zur bloßen, verachteten Vergangenheit. Durch diesen betonten Bruch wird die Aufklärung in Deutschland zu einer besonders klar umrissenen Epoche, die es schwer hatte, überhaupt noch anerkannt zu werden. Deutschland wird zum Land der verfemten, dann sogar vergessenen Aufklärung. Dennoch geht der Streit um die wahre und die höhere Aufklärung weiter. Zwar spielen diese Begriffe im 19. und 20. Jahrhundert keine auffällige Rolle mehr, und manches, was sich als wahre Vernunft und höhere Einsicht ausgibt, wäre dem kritischen Rationalisten des 18. Jahrhunderts als "Träume eines Geistersehers" erschienen. Doch kann man nicht nur der Sache nach Marx, Nietzsche, Freud oder andere in dieser oder jener Hinsicht als Fortsetzer der Aufklärung ansehen, auch der Begriff Aufklärung wird immer wieder in Anspruch genommen. Die Forderung nach einer wahren oder echten Aufklärung taucht selbst da auf, wo man sie vielleicht am wenigsten vermutet, z. B. bei Karl Jaspers und Martin Heidegger sowie bei den modernen Kritikern der Aufklärung3•
c) Die Armseligkeit der Aufklärung Der Streit um die Aufklärung (Aufklärung als Aufgabe und Aufklärung als Ereignis) ist noch längst nicht ausgestanden - er ist anscheinend gerade erst wieder aufgeflammt. Für die einen ist Aufklärung immer noch eine zugkräftige Parole, für die anderen eher ein Reizwort, für beide aber anscheinend ein Schlüsselwort. Einerseits werden immer noch 3
M. Heidegger (Sein und Zeit 1927,9. Aufl. 1960) versteht die Phänomenologie auch als Vorurteilskritik (vgl. S. 35 f.) und spricht sogar von einer "echten Aufklärung" (178). K. Jaspers (Einführung in die Philosophie 1955, 1958) plädiert im Sinne seiner späteren Vernunftphilosophie und unter Bezug auf Lessing ausdrücklich für eine "wahre Aufklärung" (86 f.).
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Vernunft und Freiheit als Kernforderungen der Aufklärung proklamiert, andererseits werden sowohl die Mängel wie die Folgen der Aufklärung beklagt. Die Kritik am "Elend" der Aufklärung steht unmittelbar neben der Forderung nach mehr Aufklärung, die Feststellung der Mängel oder des Versagens der bisherigen Aufklärung sowie des Endes aller Aufklärung neben dem Postulat einer vernünftigen Freiheit und einer Freiheit des Denkens für alle. Nachdem Aufklärung einige Zeit wieder ein Modewort war, geht die neueste Tendenz offenbar wieder in die entgegengesetzte Richtung, bis hin zu Mystiquerien aller Art. Eine neue geistige Immunschwäche scheint sich auszubreiten, die nun selbst wieder einer neuen Aufklärungskampagne bedarf. Doch ist die Aufklärungsdebatte, die die geschichtliche Aufklärung als Schlüsselereignis der Moderne versteht, natürlich nur ein Aspekt der weitverbreiteten Modernismusdebatte. Sie ist eine Debatte über die Zukunft von Vernunft und Freiheit in Form einer Vergangenheitsbewältigung, und sie kann auch allgemeiner als Diskussion über das Wesen der Neuzeit, den Sinn von Wissenschaft und Technik, oder spezieller als Descartes- oder Kant-Debatte geführt werden. Die Aufklärungskritik ist, wie schon angedeutet, in sich divergent. Sie kann der bisherigen Aufklärung zuviel oder zuwenig Radikalität vorwerfen, sie kann Mängel oder Einseitigkeiten monieren, und sie kann ihre Ambivalenz, ihr Versagen oder ihre Selbstverfehlung feststellen. Titel wie Die Dialektik der Aufklärung, Die verspielte Aufklärung, Die palavernde Aufklärung oder Vom Elend der Aufklärung machen solche unterschiedlichen Perspektiven geltend. Formal haben sie allerdings alle eins gemeinsam: sie reklamieren zumindest für sich selber, bewußt oder unbewußt, eine wahre bzw. eine höhere Aufklärung. Denn natürlich ist auch die systematische Aufklärung über die Mängel und Einseitigkeiten der geschichtlichen Aufklärung immer noch Aufklärung. Auch Aufklärungskritik ist Aufklärung. Nicht nur unterstellen auch moderne Aufklärungskritiken immer wieder ein eigentliches Wesen der Aufklärung, also einen Begriff von wahrer Aufklärung, an dem sie die des 18. Jahrhunderts messen; Feststellungen bzw. Behauptungen über Verkürzungen des Vernunftbegriffs in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, über positivistische Selbstverfälschung und Selbstzerstörung der bisherigen Aufklärung usw. postulieren implizit eine wahre Aufklärung, von der die wirkliche abgefallen ist. Oft fordern sie sogar eine höhere Aufklärung, nach der die wirkliche eigentlich hätte streben sollen; wahre Aufklärung sollte demnach z. B. (über sich selbst) aufgeklärte Aufklärung sein oder sich eines substantiellen Vernunftbegriffs bedienen. Aber auch wenn sie alle ratio171
nale Aufklärung völlig zu verwerfen scheinen, sind die modernen Aufklärungskritiken selbst auf dem Boden eben dieser Aufklärung erwachsen und möchten de facto eine 'Aufklärung' über Aufklärung bieten, die sie implizit als eine höhere Einsicht oder Erleuchtung, als wahre oder höhere 'Aufklärung' behaupten. An irgendeiner Art von Aufklärung scheint also auch die Aufklärungskritik festhalten zu müssen - weniger weil Aufklärung immer noch eine unüberholte Parole ist, sondern weil der Wahrheitsanspruch aller Erkenntnis "in Wahrheit" nur (unter Bezug auf Wahrheit als Norm) durch einen neuen Wahrheitsanspruch, also durch einen Anspruch auf 'klarere' Erkenntnis, bestritten werden kann. Allerdings kann der Hinweis auf die Selbstwiderlegung der Aufklärungskritik in dieser Formalität nicht das letzte Wort sein, d. h. er darf die inhaltliche Diskussion nicht abschneiden wollen. Der unvermeidliche Zirkel aller argumentativen Erkenntniskritik ist kein Grund zur Selbstgerechtigkeit. Um eine Verständigung zu ermöglichen, ist daher allen Aufklärungskritiken von vornherein die Armseligkeit der Aufklärung zuzugeben. Es liegt schließlich auf der Hand, daß kein Mensch nur Aufklärung, also daß alle auch mehr und anderes als Aufklärung wollen. Aufklärung ist kein Selbstzweck, sondern Mittel zur Erreichung einer vorausgesetzten Wahrheit, die selber wahrscheinlich nicht erreichbar ist. Gegen Heils- und Wunderlehrer ist rein rationale Aufklärung nicht konkurrenzfähig. Eine erkannte oder erstellte Ordnung mag noch so richtig sein, das Bedürfnis nach Außerordentlichem wird sie niemals stillen können, zumal sie es selber immer wieder erzeugt. Die Langeweile des alltäglichen Daseins, selbst schon Ausdruck des Bedürfnisses nach Absolutem, verlangt unmittelbar nach ganz anderen Befriedigungen als Klarheit oder Aufklärung; auch das Hoffen auf Wunder ist nur die oftmals banale Erscheinung dieses absoluten Bedürfnisses. Ihm kann die Aufklärung so wenig wie irgendeine Philosophie genügen - schon deshalb nicht, weil sie wesentlich 'negativ' ist. Als potentiell permanente Kritik ist Aufklärung relativierende, also immer auch verendlichende, objektivierende, also immer auch verdinglichende Erkenntnis. Aufklärung selbst ist keine Erfüllung. Dazu müßte sie eo ipso Erkenntnis des Absoluten, Schau Gottes, sein. Sie müßte zumindest "Fenster ins Absolute" öffnen können, anstatt immer nur Pseudoerleuchtungen kritisieren zu müssen. Aufklärung ist keine Freudenfeier, sondern ein trostloses Geschäft. 1. Aufklärung ist ein trostloses Geschäft, weil sie endlos ist. Aufklärung ist eine Sisyphusarbeit. Das Problem der Aufklärung beginnt immer wieder von neuem, nämlich mit jedem Menschen, der geboren wird und dessen natürliche Unwissenheit sich alsbald zum Pseudowissen verhärtet. 172
Es kann keine endgültig aufgeklärte Welt geben. Vor allem aber bleibt die Aufklärung endlos, weil sie in der Sache so gut wie ergebnislos ist; in anbetracht der endlosen Zahl der Probleme schrumpfen die erreichten Lösungen fast auf Null zusammen. Es kann nicht einmal eine momentan vollendete Aufklärung geben. Nur gelegentlich gelingt es der Aufklärung, ein paar Lichter aufzusetzen. 2. Aufklärung ist ein trostloses Geschäft, weil sie langweilig ist. Indem die Aufklärung die bunte Vielfalt unserer individuellen und kollektiven Illusionen zerstört, macht sie gewissermaßen tabula rasa - so wie unsere Industriekultur in ihrem Gefolge die letzten Reste der kulturellen Lebensvielfalt einebnet. An die Stelle der Götterbilder sind weltweit einige dürre Prinzipien getreten; die Wahrheit (d. h. das, was bisher noch dafür gilt) ist monoton geworden - fast schon auf Computerniveau heruntergekommen. Aufklärung scheint unvermeidlich immer inhaltsleerer werden zu müssen. Was seit eh und je als wesentliche Wahrheit galt, ist vielfach als bloßer Wahn aufgeklärt und damit weggeklärt - jetzt stehen wir da: 'aufgeklärt' und was nun? 3. Aufklärung ist ein trostloses Geschäft, weil sie wesentlich negativ ist. Aufklärung ist zwar auf die Aufdeckung der Wahrheit ausgerichtet, aber als Kritik ist sie zunächst nur Aufhebung des falschen Scheins, also Destruktion, nicht Affirmation. Als Negation aber ist Aufklärung relativ auf das, was noch unaufgeklärt ist, d. h. sie lebt von der noch vorhandenen Dunkelheit, also genau von dem, was sie bekämpft. Aufklärung ist eigentlich parasitär. Sie ist eine bloß sekundäre Reflexionskultur, die von der Substanz lebt, die sie zerstört; als Epoche war sie eine ziemlich unschöpferische Metakultur, "ein tintenklecksendes Saeculum". Bestenfalls lebt auch sie von dunklen Ahnungen. Aber natürlich lebt sie auch von den Illusionen, die sie sich selber immer noch wider Willen macht und die sie irgendwann auch angreifen und zerstören muß. Auch die Aufklärung schafft sich ihre Illusionen. Im historischen Abstand erkennen wir, in welchem Maße das 18. Jahrhundert von falschen Hoffnungen gelebt hat, vor allem von den verbliebenen Resten eines säkularisierten Christentums, das die Aufklärung aus sich heraus eigentlich gar nicht mehr rechtfertigen konnte. Obwohl wesentlich negativ, war und ist die Aufklärung vermutlich immer noch zu positiv. 4. Aufklärung ist ein trostloses Geschäft, weil sie hoffnungslos macht. Die Aufklärung war ausgezogen, um ein neues "Fürchtet euch nicht" zu lehren. Aber das Licht hat nicht nur die bösen, sondern auch die guten Geister verjagt- die "Gespensterkammer" war nur ganz oder gar nicht auszuräumen. Mit anderen Worten, das, was uns unsere Furcht nehmen 173
sollte, hat uns auch einen guten Teil unserer Hoffnungen genommen, jedenfalls nicht nur unsere unbegründeten Ängste, sondern auch unsere falschen Hoffnungen. Und nicht selten sind sogar die Ängste geblieben und nur die Hoffnungen geschwunden. Zumindest lassen sich die berechtigten Hoffnungen noch nicht klar ausmachen. Die neuen Wahrheiten, die die Aufklärung bisher als Tröstungen anbieten konnte, waren jedenfalls, wenn überhaupt, nicht viel besser als die alten, so daß die gesuchte erlösende Wahrheit je länger je mehr im Unerreichbaren zu verschwinden droht. Die Kritiker der Aufklärung wissen gar nicht, wie recht sie haben. Aufklärung lebt von der Hoffnung auf Wahrheit. Aber einerseits ist sie eine langweilige destruktive Sisyphusarbeit. Sobald die Faszination der Negation verblaßt ist, zeigt sich, daß die Aufklärung als solche nichts zu sagen hat; sie lebt vom Widerstand: vom Widerstand gegen den Schein und vom Widerstand des Scheins selber. Sie kann, da sie nur Steine statt Brot liefert, mit keiner, wie auch immer gearteten Heilslehre konkurrieren, sie kann diese immer nur kritisieren. Andererseits scheint alle bisherige Aufklärung immer noch zu positiv in ihren Voraussetzungen gewesen zu sein. Sie hat auf das Wahre, Gute und Schöne gesetzt, aber das Gegenteil von dem, was sie erhofft hat, erreicht; denn sie hat das wahrhaft Wahre, Gute und Schöne nicht gefunden. Sie hat das Geltende in Frage gestellt, ohne Endgültiges etablieren zu können. Sie hat sich gleichsam selbst im Wege gestanden, weil ihr zuletzt mit dem falschen Glauben auch ihr eigener Glaube an ihre eigene Mission verloren ging. Sie hat, indem sie den Glauben an die Heilswahrheiten zerstört hat, die Weltzerstörung ermöglicht. Anstatt allen einen Halt zu geben, hat sie allen vorhandenen Halt weggenommen und damit die Menschheit ins Bodenlose gestürzt. Seitdem befinden wir uns im freien Fall. Man mag diese und viele andere Vorwürfe gegen die Aufklärung für übertrieben halten. Vielleicht war die bisherige Aufklärung auch noch nicht die wahre Aufklärung. Richtig bleibt jedoch: Aufklärung ist kein Freudenfest. Aufklärung ist zerstörerisch - zumindest solange sie die Wahrheit noch nicht gefunden hat. Zwar ist sie kritisch um der Wahrheit willen - in der Hoffnung auf eine bessere Wahrheit und unter der Voraussetzung noch ungeprüfter Wahrheiten. Aber dieser Reflexionsprozeß scheint, wenn man ihn nicht willkürlich oder unter Zwang abbricht, nirgendwo endgültig zur Ruhe kommen zu können. Der Aufklärer bzw. der sich selbst Aufklärende kann immer weniger glauben, ohne dafür ein endgültiges positives Wissen zu bekommen. Nicht zuletzt deshalb scheinen wir uns alle gegen die 'negative' Aufklärung zu sperren. 174
Wozu also immer mehr Aufklärung? Die Frage widerspricht sich selbst, insofern sie selbst schon wieder Aufklärung fordert. Die Frage ist daher: Was ist die Alternative zur Aufklärung? Da wir nun einmal aus dem Paradies der kindlichen Unmündigkeit vertrieben sind, vermutlich nicht ohne eigene Schuld, bleibt uns schon aus Selbsterhaltungsgründen gar keine andere Wahl als die Flucht nach vorn. Zwar gibt es immer die Versuchung der Flucht zurück, in eine neue Unmündigkeit durch ein sacrificium intellectus; aber dies führt letztlich nur zu Neurosen. Denken kann man nicht ohne einen Anspruch auf Denken in Frage stellen, also immer nur bestimmtes Denken, nicht Denken als solches. Philosophie kann man nur philosophisch bestreiten, also im Prinzip bejahen - es sei denn, man schlüge die Philosophen einfach tot. Daher machen, wie gesagt, auch die Kritiker der Aufklärung unwillkürlich Anspruch auf eine wahre oder höhere Aufklärung, nämlich durch Behauptung irgendeiner wahren Einsicht oder irgendeines höheren Wissens. Die selbstaufklärerische Aufklärung darf sie also nicht als Feinde, sondern muß sie als verirrte Brüder betrachten, die nicht wissen, was sie tun; denn auch sie hoffen unvermeidlich auf mehr 'Vernunft'. Kurz, Aufklärungskritik gehört selber zur Aufklärung, die immer auch Aufklärung über Aufklärung sein muß, z. B. selbstkritische Reflexion auf ihre eigenen Möglichkeiten. Aufklärungskritik hebt Aufklärung nicht auf, sondern bestätigt sie. Aufklärung ist auch Streit über Aufklärung und Kampf der Aufklärung mit ihrer eigenen U naufgeklärtheit. d) Aufklärung als Aufgabe Der Blick auf die Aufklärungsformation des 18. Jahrhunderts und auf die Aufklärungsdiskussion der Gegenwart fordert fast unabweisbar zu Gedanken über die Zukunft der Aufklärung heraus. Welche Zukunft steht der Aufklärung noch bevor? Anders und direkter gefragt (um der Versuchung zur Weissagung besser widerstehen zu können): Hat die Aufklärung aus heutiger Sicht noch eine Zukunft? Dies kann bedeuten: Wozu überhaupt noch Aufklärung, da doch die bisherige Aufklärung einerseits ihre Aufgabe erfüllt hat, andererseits sich als unzureichend erwiesen hat? Es kann aber auch, wenn an der weiteren Notwendigkeit von Aufklärung festzuhalten ist, bedeuten: Wie soll eine Aufklärung, die heute kaum noch an sich selber glaubt, in Zukunft überhaupt möglich sein?- Falls man sich vor solchen Fragen nicht drücken will (z. B. unter Berufung auf die eigene Inkompetenz), dann muß man allerdings 175
zunächst sagen, was man unter Aufklärung versteht - nun nicht in historischer, sondern wieder in systematischer oder programmatischer Hinsicht. Vom Programmatisch-werden ist es allerdings nur noch ein kleiner Schritt zum Pathetisch-werden: man riskiert, vom Erkennen zum Bekennen, vom Erkennen-wollen zum Bekennen-müssen zu changieren. Will man das Wort Aufklärung überhaupt in irgendeinem emphatischen Sinn festhalten, so wird man zunächst davon ausgehen müssen, daß es dabei primär in irgendeiner Form um Erkennen geht, und zwar weniger um bestimmte Erkenntnisinhalte als um eine bestimmte Erkenntnisweise oder Erkenntnishaltung (auf der Basis eines engagierten Erkenntniswillens). Die Aufklärung sucht ihr Heil in der Wahrheit, und sie erstrebt Wahrheit durch Klarheit. Daher ist für sie die Vernunft, um mit Kant zu sprechen, der letzte "Probierstein" der Wahrheit. Sie fordert geistige Offenheit, d. h. die Bereitschaft, subjektiv klar und objektiv richtig zu denken. Aufklärung will Aufdeckung von verborgenen und Aufhellung von dunklen Sachverhalten sein, insbesondere aber (als Aufklärung im engeren Sinne) Entwirrung von verworrenen oder Klarstellung von ungeklärten bzw. nur scheinbar klaren Sachverhalten und Begriffen, d. h. eigenen und fremden Vorstellungen. Sie ist also nicht nur (als Information) gegen Unwissenheit und Irrtum gerichtet, sondern vor allem (als Kritik) gegen den falschen Schein der Scheinwahrheit bzw. der Halbwahrheit. Aufklärung im weitesten Sinn bedeutet also schon rein kognitiv zumindest viererlei: etwas aus dem Dunkel der Unwissenheit oder Verborgenheit hervorziehen (entdecken), etwas von den Trübungen oder Verwirrungen der Pseudoerkenntnis befreien oder reinigen (klären), etwas in seiner Eigenart oder Struktur sichtbar machen (analysieren oder explizieren) und etwas deutlich von anderem abheben (unterscheiden). Da die Aufklärung jedem Menschen zumutet, daß er die Wahrheit wirklich wolle, fordert sie auch von allen Selbstdenken, d. h. sie richtet sich mit Nachdruck gegen das bloße mechanische Nachdenken vorhandener und womöglich autoritärer Denkschemata. Authentische Erkenntnis als freies Denken aber setzt in aller Regel zunächst einmal eine geistige Selbstbefreiung (Selbstemanzipation) voraus. Vernunft ist ohne Freiheit nicht möglich, und auch diese muß sich allererst selbst finden. Aufklärung ist Befreiung des Denkens zu sich selbst, und zwar durch sich selbst (durch Denken und Freiheit)- ein theoretischer Zirkel, der aber praktisch jederzeit gelöst werden kann. Denken kann und muß, um als Selbstdenken zu sich selbst zu kommen, sich die nötige und mögliche Freiheit, deren es zu seiner jeweiligen nötigen und möglichen Erkenntnis bedarf, selber nehmen; es muß sich von äußeren und inneren Hindernis176
sen befreien wollen, z. B. von auferlegten wie von selbsterzeugten Denkverboten, von illegitimen und irrationalen Zwängen. Spätestens hier, in der Reklamation der notwendigen äußeren Bedingungen für eine innere Freiheit ohne permanente Selbstverleugnung, zeigt sich, daß Aufklärung auch einen praktischen Aspekt hat, daß sie sich als bloße geistige Selbstaufklärung nicht zureichend verwirklichen kann. Die Aufklärung sucht ihr Heil in der Wahrheit, aber nicht nur als eine von aller Existenz in der Welt abgeschottete Erkenntnis, sondern um ein wahrhaftes oder richtiges Leben zu ermöglichen. Insofern zielt Aufklärung eo ipso auf Freiheit als Praxis. Die Welt soll dem Anspruch der Vernunft auf Freiheit entsprechen - allerdings ohne daß der um Aufklärung Bemühte nun gleich verlangen könnte, daß die ganze Welt sich ihm bequeme. Aufklärung ist immer Aufklärung in einer unheilen Welt. Aufklärung ist ihrem Wesen nach zunächst nur Selbstaufklärung, Selbstwerden durch freies Denken, genauer gesagt, Selbstaufklärung durch Sachaufklärung - was immer die Sache, um die es geht, sein mag: Gegenstände oder Verhältnisse, das eigene oder das fremde Ich bzw. die Gesellschaft. Ich bin sozusagen der erste Adressat meiner Aufklärung, denn um andere aufklären zu können, muß ich selbst schon aufgeklärt oder doch auf dem Wege der Aufklärung sein. Nun kann und muß ich mich aber aus verschiedenen Gründen auch um die Aufklärung bzw. Selbstaufklärung der anderen kümmern: z. B. aus Gründen der Selbsterhaltung oder aus Verlangen nach einer besseren Gemeinschaft - von pädagogischen oder philanthropischen Motiven einmal ganz abgesehen. Selbstaufklärung wird so, unter Veränderung ihrer inneren Struktur, zur Fremdaufklärung, zur Aufklärung im gängigen, engeren Sinn des Wortes. Aufklärung ist Vordenken, sozusagen "Vorleuchtung" (Kant). Ich will den anderen informieren, kritisch machen oder emanzipieren, d. h. ihn selber aufklären oder ihn zur Selbstaufklärung veranlassen. Da aber Vernunft und Freiheit nicht aufgedrungen werden können, wenn der andere sie nicht will, d. h. wenn er nicht von sich aus vernunft- bzw. freiheitswillig ist, kann Aufklärung des anderen eigentlich nur ein Appell zur Selbstaufklärung oder ein Angebot zur Denk- und damit indirekt zur Lebenshilfe sein, eine mögliche 'Hilfe zur Selbsthilfe'. Nur äußerstenfalls kann sie (gleichsam unter Absehung von sich selbst, um sich selbst zu ermöglichen) da, wo der andere momentan noch unfähig ist, sich selbst zu helfen, begrenztes Denken und Handeln für den anderen sein, nämlich (als Philosophie und Politik) Wegräumen von geistigen und realen Hindernissen der Selbstaufklärung. 177
Damit ist sie allerdings auch, falls sie nicht immer auch die Vernunft und Freiheit des anderen real respektiert, schon auf dem Weg zum Verrat an sich selbst, nämlich auf dem Weg zu derselben Entmündigung, die sie mit ihrer Forderung nach Selbstdenken bekämpft. Die Pflicht, für andere mitvernünftig sein zu müssen, ist kein Vorrecht, für andere vernünftig sein zu dürfen. Aufklärung ist keine Therapie, die den anderen als grundsätzlich krank und sich selbst als grundsätzlich gesund betrachten kann, sonst wird sie zur "Zwangsaufklärung", zur dogmatischen Indoktrination oder gar zur Zwangstherapie einerseits und zum Krieg gegen alle anderen, die sich dem widersetzen und dann als Antiaufklärer gelten, andererseits. Aufklärung als Philosophie degeneriert so zur Aufklärung als Politik im schlechten Sinne des Wortes, d. h. zu einer bloßen Taktik. Zwar kann nicht jeder jederzeit alles leisten, aber ich kann auch nicht alles für alle tun. Fremdaufklärung kann, von äußersten Ausnahmefällen abgesehen (die nicht zu faktischen Normalfällen werden dürfen), nur eine Einladung zum Mitdenken sein, also ein Angebot, die vermeintlich gefundene Wahrheit zur Diskussion zu stellen. Nur dadurch verliert die Fremdaufklärung ihre gefährliche Eindimensionalität, sie kann zur wechselseitigen Fremdaufklärung oder zur kollektiven Selbstaufklärung werden: Kommunikation statt Mission. Wie aber sollen sich, falls diese formelhafte Kurzcharakteristik brauchbar ist, aus so formalen Bestimmungen konkrete Aufgaben der Aufklärung im Hinblick auf die Gegenwart und Zukunft ergeben? Andererseits, was heißt schon Aufgaben der Aufklärung? Natürlich kann man der Aufklärung, die für die Autonomie des Denkens kämpft, im Grunde genommen genausowenig Aufgaben von außen stellen wie der Philosophie. Das freie Denken findet seine Aufgaben, wenn man seine Intentionen überhaupt so nennen will, selber. Aber es kann sich seine Aufgaben nur stellen, indem es sich der Wirklichkeit stellt, d. h. das Gegebene als Aufgegebenes erfährt und begreift. Der Auftrag der Aufklärung erfolgt, obwohl als freie Selbstverpflichtung, nur unter den Bedingungen der jeweiligen geschichtlichen Situation; auch selbstbestimmtes Denken ist Denken unter nicht von ihm selbst bestimmten Umständen, d. h. unter unabsehbar wechselnden Verhältnissen. Mit anderen Worten, die Aufgaben einer wirklichkeitsbezogenen Aufklärung ändern sich mit den jeweiligen geschichtlichen Vorgaben. Allerdings nicht so, daß die gegebenen Bedingungen automatisch zu einem entsprechenden Denken führen würden. Wozu die Aufklärung sich aufgerufen fühlt und sich selbst berufen wird, läßt sich nicht voraussagen, da das freie Denken sich selbst bestimmt. Insofern kann es eigentlich auch kein Aufklärungsprogramm geben, 178
jedenfalls kein langfristiges und zugleich konkretes Programm. Aufklärung ist eigentlich kein "Projekt", d. h. sie ist nicht wirklich plan bar. Es kann nicht einmal einen inhaltlich allgemeinen und endgültigen und damit normativen Begriff von Aufklärung geben. Einerseits ist auch der formalste Begriff von Aufklärung noch irgendwie inhaltlich und damit normativ, andererseits besteht auch die 'wahre' Aufklärung als Erkenntnis in Aktion aus vielen und wechselnden, einzelnen situations- und interessenabhängigen Aufklärungen, auch aus Aufklärung über Aufklärung oder vielmehr Aufklärungen über Aufklärungen. Es gibt zwar eine mehr oder weniger radikale, aber keine totale Aufklärung; es gibt keine vollendete, also auch keine (über sich selbst) aufgeklärte Aufklärung. Alle Aufklärung ist immer auch falsche Aufklärung, alle wahre Aufklärung ist selber noch Suche nach der wahren Aufklärung. Daher steht im Streit der Aufklärungsbemühungen immer auch Unwahrheit gegen Unwahrheitein selber, in sich selber meist noch 'unwahrer' Streit, der durch Schuldzuweisungen im allgemeinen nicht wahrhaftiger wird. Fragt man, dieser Cautelen eingedenk, trotzdem nach den 'Aufgaben' der Aufklärung, so kann die Antwort zunächst nur lauten, daß es im Prinzip immer dieselben und also immer noch die alten sind. Aufklärung richtet sich als Selbstdenken gegen Autorität und Vorurteile, als Richtigdenken gegen Irrtümer und Aberglauben. Die Welt ist nicht ein für allemal in Ordnung zu bringen. Die bleibende Aktualität der Aufklärung resultiert aus dem bleibenden Aufklärungsbedarf und dem bleibenden Aufklärungsbedürfnis. Aufklärung ist ein immer erneuerter Aufbruch zur Überwindung der stets neu wuchernden Pseudowahrheit. Da die 'Dummen' wie die 'Verdummer' immer wieder nachwachsen, da also mit jedem neugeborenen Menschen Unwissenheit und Irrtümer, Täuschung und Selbsttäuschung wieder von vorne beginnen, ist Aufklärung schon deshalb ein immerwährender Kampf mit einer unbesiegbaren Hydra. Unter den Bedingungen der Desillusionierung, die heute vorauszusetzen ist, kann ihr Hauptsinn letztlich nur darin bestehen, dem Menschen zu helfen, sich nicht als Vernunftwesen aufzugeben. Aufklärung ist wie Philosophie und Politik Kampf gegen das überall und jederzeit androhende Chaos: gegen die tagtäglich anwachsende Masse gesellschaftlich anerkannten Schwachsinns, dessen geballte Macht heute auf perfektionierten Wegen bis in das Innerste des Individuums dringen kann; gegen die böswillige oder wohlmeinende Verdummung seitens derer, die daran interessiert sind, Vormund für andere zu sein, und deren Mittel heute subtiler als je zuvor sein können; vor allem aber gegen die wie eh und je mögliche Selbstverdummung und Selbstentmündigung, zu der heute allerdings eine 179
bisher unbekannte Vielfalt von Verführungen einlädt. Die Grundfrage ist jedoch immer dieselbe: in welchem Maße der Mensch auf vernünftige Weise Mensch sein will und kann. Daher lassen sich die bleibenden Aufgaben der Aufklärung auch immer noch in den Worten des 18. Jahrhunderts formulieren, obwohl zweifellos eine direkte Anknüpfung an die Aufklärung vor Kant heute nicht mehr möglich ist und die Entwicklung seit Kant ebenfalls neue Überlegungen nötig macht. Aufklärung richtet sich nach wie vor - außer gegen Irrtümer und Unwissenheit - gegen Vorurteile und Aberglauben, Schwärmerei und Fanatismus: gegen Vorurteile, also gegen affektive, nur emotional statt rational begründete Urteile bzw. Einstellungen; gegen Aberglauben, also gegen absurde, weil willkürliche oder irrationale Verendlichungen des 'Absoluten'; gegen Schwärmerei, also gegen kritiklose und überschwängliche Verfallenheit an eigene Verabsolu~ierungen; gegen Fanatismus, also gegen unbelehrbares und eiferndes Insistieren auf fixe Ideen. Alle diese Alogismen haben neben ihren alten, meist religiösen, auch ihre modernen, oftmals politischen Erscheinungsformen, z. B. im Extremismus und seinen vielen obskuren und abstrusen Ideologien. Religiöse und politische Wahnideen haben, nicht selten in kaum durchschaubarer Verquickung, immer noch Konjunktur und können jederzeit wieder zu Massenpsychosen eskalieren. Sie sind letztlich unausrottbar und wenn überhaupt eher durch Verbreitung einer allgemeinen kritischen Mentalität in ihrer Entstehung zu behindern als mit Erfolg zu bekämpfen, wenn sie erst einmal da sind; denn sie sind nicht nur "Schwachheiten des Verstandes", sondern tiefverwurzelte affektive Geisteshaltungen. Vor allem aber ist heute deutlicher zu sehen, daß Vorurteile und Aberglauben, Schwärmerei und Fanatismus nicht nur letztlich unvermeidbar und unausrottbar sind, sondern an ihrer Basis auch positive Elemente enthalten und daher trotz ihrer negativen Erscheinungsformen auch legitime und anscheinend unersetzbare Funktionen haben. Natürlich sind Vorurteile irrational und potentiell gefährlich. Aber Vorurteile sind nicht nur als voreilige Pseudourteile erkenntnisverhindernd, sondern auch als vorgreifendes Vorverständnis erkenntnisleitend und erkenntnisermöglichend. Sie haben lebenswichtige Funktionen, da wir als endliche Intelligenz schon aus ganz pragmatischen Gründen nur selektiv ('eklektisch') erkennen können. Wir können gar nicht anders als mit unzureichend begründeten Urteilen ('Vor-urteilen') leben. Wo also ist die Grenze zwischen legitimen und illegitimen Vorurteilen? Natürlich ist Aberglaube irrational und potentiell gefährlich - nicht nur in seinen alten, durch die Kirchen kanalisierten, sondern auch in 180
seinen modernen wilden wie banalen Formen bis hin zum politischen Wunderglauben. Aber da es keinen unbezweifelbaren, 'absoluten' Standpunkt des richtigen Glaubens gibt, ist es kaum möglich, zu sagen, was jeweils guter ('gesunder') Glaube oder bloßer ('kranker') Aberglaube ist. De facto ist jeder Glaube auch Aberglaube, nämlich affektiver Irrglaube als Verendlichung des Absoluten, also immer irgendwo auch intellektuell und moralisch fragwürdig, aber trotz dieses unaufhebbaren Mangels anscheinend unvermeidlich und als sinngebender Halt unersetzlich. Wo also endet der vernünftige Glaube, wo endet die superstitio tolerabilis? Natürlich ist Schwärmerei irrational und potentiell gefährlich. Als kritikloser Glaube an eigene Erleuchtungen oder als leichtfertige Verherrlichung anderer Personen ist sie immer überschwängliche Entfernung von der Wirklichkeit, auch wenn sie nicht zur bösartigen Besessenheit wird. Aber irgendwie glaubt jeder an seine 'Einsichten' und 'Erfahrungen', nichts Wichtiges geschieht ohne Gläubigkeit oder Begeisterung, ohne Einbildung besonderer 'Erkenntnisse'. Wo also ist die Grenze zwischen leidenschaftlicher Hingabe an eine als richtig erkannte Sache und bloßer "Enthusiasterei"? Natürlich ist Fanatismus irrational und potentiell gefährlich. Die emotionalisierte Engstirnigkeit (vom Fußballfan bis zum religiös oder politisch radikalen Ketzerbekehrer) kann jederzeit in Raserei ausarten. Andererseits beruht jedes Handeln auf einem Be-schluß, d. h. auf einer momentanen Abblendung von kritischer Offenheit oder auf einer Horizontverengung durch Konzentration oder engagierte Vereinseitigung. Wo also ist die Grenze zwischen unvermeidbarem praktischen Dogmatismus und eifernder intellektueller Verbohrtheit bzw. emotionaler Verkrampfung? Die Probleme der Aufklärung sind komplexer und dadurch schwieriger geworden. Vor allem ist spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts im Prinzip klar, daß durch die Aufklärung selber eine neue Situation entstanden ist, daß die Aufklärung nun auch mit sich selbst und mit ihren eigenen Wirkungen, z. B. mit ihren unbeabsichtigten Nebenfolgen, konfrontiert ist. Zahlreiche Gegenbewegungen gegen die Aufklärung sind von diesen Folgen ausgegangen und haben die Aufklärung wegen der von ihr angerichteten Schäden angeklagt und die Aufklärung selbst (unter Strapazierung des Mythosbegriffs) als einen neuen Mythos kritisiert. Hält man jedoch im Prinzip an dem durch die Aufklärung eingeschlagenen Weg der Verbreitung von Vernunft und Freiheit fest, so muß sich die Aufklärung auch selbst den durch sie bewirkten oder veranlaßten Situationen und Prozessen stellen und sich selbst nach ihrer möglichen 181
Verblendung, nicht zuletzt nach ihren Fehlformen bzw. ihrem falschen Bild von sich selbst fragen. Sie muß, wie schon einmal in der Spätaufklärung, Selbstaufklärung betreiben und eine Nutzen-Kosten-Rechnung für sich selber aufmachen; sie muß sich wieder einmal nach ihren Möglichkeiten und Grenzen fragen. Mit anderen Worten, die Aufklärung muß sich ihres Zerstörungspotentials bewußter werden, insbesondere ihrer Gefährlichkeit als 'falsche' Aufklärung, die sie immer auch ist- und dies nicht nur im Hinblick auf die Zerstörung der bisherigen Welt, sondern auch im Hinblick auf die Gefahr der drohenden Selbstzerstörung. Aufklärung ist wesentlich destruktiv, nämlich um willender erstrebten Wahrheit negativ gegen das vermeintlich Unwahre; insofern ist sie auch wesentlich anti-konservativ, das Gegebene soll sich vor der Vernunft rechtfertigen. Aber das Recht auf Kritik kann kein Freibrief sein, überall erst einmal tabula rasa machen zu dürfen. Denn die Wahrheit, in deren Namen die Aufklärung auftritt, ist selber nur vermutete Wahrheit, die sich auch immer noch rechtfertigen muß; und eine Wahrheit, die sich nicht ohne vorhergehende totale Vernichtung aller bisheriger W ahrheiten zeigen oder verwirklichen kann, dürfte eine ziemlich leere und unwahrscheinliche Wahrheit sein. Zunächst steht jedenfalls Wahrheit gegen Wahrheit, das Recht oder Unrecht des Gegebenen gegen das Recht oder Unrecht des Gedachten und Gewollten. In einer Welt rasant beschleunigter Veränderungen und grassierender Zerstörungen wird man sich also erst immer wieder fragen müssen: Welche Tradition opfern wir welcher Zukunft, welche Wirklichkeit welcher Vernunft? In einer asynchron zusammenwachsenden Welt, in der die archaischen Verhältnisse der einen zum Abenteuerspielplatz der anderen geworden sind, könnte Bewahren als ein bisher verdeckter Aspekt der Aufklärung in den Vordergrund aller zukünftigen Aufklärung treten und damit sogar der alte Kampf der Aufklärung gegen das Vorurteil der Voreiligkeit einen neuen praktischen Sinn bekommen: "Bewahren" als 'neue' Aufgabe der Aufklärung, d. h. die Welt vor der eigenen Voreiligkeit bewahren. Das später vergessene praejudicium praecipitantiae müßte also wieder die gleiche Beachtung wie das praejudicium autoritatis finden. Kurz, in dubio pro existentia, zerstören kann man immer noch. Man kann das angedeutete Problem auch als ein Problem des Verhältnisses von Tradition und Fortschritt, Herkunft und Zukunft oder als Problem des Verhältnisses von Wirklichkeit und Vernunft diskutieren, obwohl diese Begriffe sehr vorbelastet und zweideutig sind. Zunächst scheint es dann, als ob die Vernunft eine unbedingte Priorität vor der (als unvernünftig verdächtigten) Wirklichkeit habe. Aber die bisher als 182
vernünftig anerkannte Wirklichkeit wäre nur dann grundsätzlich unvernünftig, wenn die Vernunft erst heute mit mir oder für mich vom Himmel gefallen wäre -was eine höchst unvernünftige Annahme wäre. Die Wirklichkeit ist (relativ) vernünftig, insofern sie bisher, d. h. nach Maßgabe der bisher vorhandenen menschlichen Möglichkeiten, vernünftig gestaltet worden ist bzw. als vernünftig gegolten hat. Sie steht also nicht ständig und grundsätzlich unter Legitimationszwang; die Beweislast liegt vielmehr bei dem, der sie verändern will. Tradition, d. h. echte Tradition (nicht Tradition, die um der Traditionwillen gewollt oder gestiftet worden ist), gilt bekanntlich, weil sie - unter den gegebenen Voraussetzungen und bei freier Zustimmung - bisher im allgemeinen als gut galt. Damit ist eine Vernünftigkeitsvermutung gegeben, die zwar die Abwehr bloßer Besserwisserei möglich macht, aber keine automatische Legitimation eines jeden status quo zur Folge hat. Eindeutig unvernünftig wird die Wirklichkeit erst, wenn sie ('vernünftig') in Frage gestellt, sich der Argumentation verweigert; dann wird sie zur bloßen faulen Wirklichkeit. Umgekehrt ist Vernunft keine wirklichkeitsenthobene reine Vernunft, die von einem fingierten absoluten Standpunkt aus die Welt total in Frage stellen könnte. Wie die Kritik relativ auf das Negierte bleibt, so ist auch die Vernunft als Vernehmen auf ein Vernehmbares angewiesen, da sie die Wirklichkeit letztlich nicht allein aus sich selbst herausspinnen kann. Autonomie der Vernunft kann nicht heißen, daß diese, seins- oder situationsunabhängig, also ungeschichtlich und letztlich menschenunabhängig, nur noch leer sich selber setzt. Vernünftigsein heißt auch: anerkennen und gelten lassen können - nicht nur abstrakte Prinzipien, sondern auch 'zufällige' und dennoch vernünftige Wirklichkeit. Es gibt ein Recht des Individuums auf seine geschichtliche Begrenztheit trotz abstrakter U niversalitätspostulate. Ja, Vernunft ist sogar selber geschichtlich, und jede vorgebliche Vernunft ist folglich selber rechtfertigungsbedürftig. Eine von der Wirklichkeit abgeschottete Vernunft fällt zwar nicht aus der Geschichte heraus, sondern bleibt als faule Vernunft deren Anhängsel; aber sie kann, soweit sie nicht 'seicht' oder 'platt' wird, auch in einem abstrakten Fanatismus enden. Es gibt auch eine falsche Klarheit, im Vergleich mit der ein noch unklares oder dunkles Wissen der Wahrheit oder Wirklichkeit durchaus näher, also vernünftiger (vernehmender), sein kann. Die Frage, wie vernünftig die Wirklichkeit sei, ist daher durch die Frage, wie vernünftig die vorgebliche Vernunft ist, zu ergänzen- und zwar durch die Aufklärung selber, falls diese wahre Aufklärung bleiben will. Aufklärung darf die Aufklärung über sich selber nicht vernachlässigen, sonst degeneriert sie zur Pseudoaufklärung und zerstört sich selber. 183
Selbstzerstörung ist eine permanente Gefahr der Aufklärung, und die Selbstverkennung von Vernunft und Freiheit führt zur Selbstverkennung und Selbstzerstörung des Menschen. Das Problem der Selbstzerstörung des Menschen aber ist noch dringlicher als das Problem der Weltzerstörung, zumal die Selbstzerstörung des Menschen die zentrale Ursache der Weltzerstörung sein dürfte. Aufklärung ist daher von Anfang an immer auch Kampf um das wahre Menschsein. Dabei waren ihre Versuchungen, sich selbst mißzuverstehen, von Anfang an nicht weniger gefährlich für sie als die Mißdeutungen, denen sie seitens ihrer Gegner ausgesetzt war. Wenn es um die Entwicklung von Vernunft und Freiheit geht, sind die Gefahren groß, in Pseudorationalismus und Scheinfreiheit abzugleiten, und dies sind weitgehend erst durch die Aufklärung selber ermöglichte Gefahren. Rationalität wird zur bloßen Pseudorationalität, wenn Vernunft zum Vernehmen der Wirklichkeit unfähig wird oder sich davon unabhängig zu machen versucht, d. h. sich auf einem bestimmten Stand von Erfahrung faktisch in sich selber verschließt und nun als immer leerer werdender Verstand in sich kreisend die Wirklichkeit aus sich selbst heraus zu produzieren versucht. Freiheit wird zur bloßen Scheinfreiheit, wenn sie von ihrer grundsätzlichen Bedingtheit durch die widerständige Wirklichkeit abzusehen und sich von ihrer Angewiesenheit auf Vernunftbestimmtheit abzukapseln versucht. Daraus ergeben sich ganz neue Gefahren: der durch den Rationalismus ermöglichte Pseudorationalismus kann jederzeit in offenen Irrationalismus umschlagen, die durch die allgemeine Emanzipation ermöglichte Scheinfreiheit kann jederzeit in terroristische Unterdrückung der Freiheit umschlagen. Hier zeigen sich, ganz abgesehen davon, daß auch 'Verdummung' im Gewande der Aufklärung auftritt, zwei grundsätzliche Gefahren, die aus dem Prozeß der Aufklärung selber resultieren: die Gefahr der Ermüdung und die Gefahr des Umschlags. Die permanente Reflexion und Metareflexion führt ineins mit dem reduktiven Charakter der Kritik zu einer zunehmenden Minimalisierung der Wahrheit bei zunehmender Maximalisierung der Denkprozesse. Die Atemluft der Aufklärung wird sozusagen durch sie selber dünn, zumal die Iteration der Reflexion nicht selten den Bezug zum ursprünglichen Ausgangspunkt in der Wirklichkeit verliert. Daraus resultiert eine unvermeidliche Ermüdung und damit die Gefahr des Absturzes oder des Umschlages des Rationalismus in Irrationalismus, somit meist auch des Umschlages der Selbstüberschätzung in Selbstverachtung, und nicht selten ineins damit des 'Liberalismus' in 'Totalitarismus'. Die permanente Reflexion erzeugt ein fast unwiderstehliches Bedürfnis, an erstbester Stelle auszusteigen, sich der Hoffnung auf 184
eine unmittelbare Offenbarung eines 'Absoluten' in die Arme zu werfen oder doch irgendwo ins sogenannte einfache Leben zurückzuflüchten. Aufklärung ist nicht nur wie alle Erkenntnis jederzeit vom Verfall bedroht, sie steht immer in Gefahr, auch an sich selber zu scheitern letztlich durch Selbstverabsolutierung. Aber Aufklärung ist nicht im Besitze der Wahrheit, sondern sucht nur den Weg zur Wahrheit in der Klarheit. Aufklärung ist ein Zwischenstadium, also eigentlich eine Mangelerscheinung. Sie lebt von dem, was ist, und von dem, was noch nicht ist, von der Zerstörung des falschen Scheins und von der Hoffnung auf Wahrheit - aber ich muß auch erkennen, daß ich die Wahrheit niemals besitzen werde. Aufklärung hat kein WahrheitsmonopoL Sie ist Kampf gegen Unwissenheit und Irrtum - aber ich kann und muß also auch nicht alles wissen und alles kritisieren. Aufklärung darf nicht zur Vielwisserei oder Besserwisserei entarten. Sie ist Kampf gegen Unfreiheit - aber der Dünkel, nicht leben zu können, ohne die Welt nach seinem Kopf eingerichtet zu haben, führt nur zur unkritischen Begeisterung für Kritik, letztlich zur ständigen, infantilen und sterilen Empörung über alles und jedes. Aufklärung ist keine Ersatzreligion. Wahre Aufklärung ist daher immer auch der Versuch, sich über die Grenzen der Aufklärung klar zu werden. Diese selbstbestimmte Selbstbescheidung ist keine äußerliche Selbstbegrenzung. Die autonome Selbstrelativierung ist die wichtigste Waffe der Aufklärung im Kampf gegen die Versuchung der Selbstdogmatisierung und Selbstverabsolutierung. Bedingung wahrer menschlicher Autonomie ist die Anerkennung der unvermeidbaren Heteronomie. Auch die Aufklärung bedarf, um es altmodisch zu sagen, der Tugend der Gelassenheit - die mit Feigheit und Faulheit nichts zu tun hat. Aufklärung ist anstrengend. Aber was ist die Alternative? Wie soll man das Denken stillstellen? Jeder Versuch eines Rückrufes aus dem Weiterdenken, eines Aufrufes zum Denkverzicht zugunsten des angeblich unmittelbaren Lebens und Erlebens, hat sich bisher als Sackgasse erwiesen und nur zu verkrampften Ergebnissen geführt. Jeder Versuch zur Gegenaufklärung ist, falls er sich überhaupt auf Selbstbegründung einläßt, in sich widersprüchlich. Vernunft kann zwar die Begrenztheit und Bedingtheit ihrer Intentionen erkennen, aber sie kann sich selbst vernünftigerweise nicht negieren. Die Aussichten der Aufklärung sind nicht gut - vielleicht sind sie durch sie selber noch schlechter geworden. Aber Aufklärung tut immer noch not. Allerdings muß man sich fragen, ob solche wiederholten Plädoyers für Aufklärung nicht selber wieder naiv ('unaufgeklärt'), ja, ob sie nicht sogar absolut sinnlos sind. Wer sie braucht, wird sie kaum zur Kenntnis 185
nehmen, und wer sie anhört, braucht sie wahrscheinlich nicht. Außerdem, wenn schon Aufklärung, dann doch wohl vor allem konkrete Aufklärung und nicht allgemeines Reden über Aufklärung. Wozu also solche Aufrufe zur Aufklärung? Wozu immer wieder Aufklärung über Aufklärung, sozusagen Metaaufklärung oder Aufklärungen für Aufklärer? Vielleicht liegt ihr einziger Sinn in der Tat darin, dem, der ohnehin Aufklärung will, zur weiteren Aufklärung über sich selbst zu verhelfen. Vielleicht können sie aber auch, sozusagen als Appell an den Aufklärer in uns, Denken wecken helfen und dem Philosophen, der wir alle irgendwie sind, zu Selbstbewußtsein verhelfen. Auch Aufklärung über Aufklärung kann ein konkreter und zugleich prinzipieller Beitrag zur Aufklärung sem. Im übrigen kommt es natürlich auf das Wort Aufklärung genausowenig an wie z. B. auf das Wort Philosophie, obwohl diese geschichtsgesättigten Wörter, die selber schon ihre Tradition haben, nicht leichtfertig aufgegeben werden sollten. Worauf es in der Sache ankommt, ist, daß es auch in Zukunft immer soviel Vernunft und Freiheit geben wird, daß die Welt weder in Chaos versinkt noch in versteinerten Ordnungen erstarrt. Konkret gesprochen bleibt also die Frage, ob es immer genügend Menschen geben wird, die ausreichend wahrheitswillig, und daher vernunft- und freiheitsfähig sind.
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Personenregister
Adorno, Theodor W. 161 Ahlwardt, Peter 136, 138 f. Apollo 71, 86 Aristoteles 4, 36, 42, 52, 56, 100, 127, 129, 134 f., 150 Athene (Pallas Athene) 71, 97, 105 Augustin 137 Bacon, Francis 22, 30, 33, 160 Baumeister, Friedrich Christian 129 ff. Baumgarten, Alexander Gottlieb 132 f., 144, 167 Bayer, Johann 59 Bekker, Balthasar 109 Berkeley, Georg 46 Bilfinger, Georg Bernhard 128 f. Boethius 73 Boehm, Andreas 132 Brucker, Jakob 119 f. Budde, Johann Franz 115- 119, 121 f., 124, 130 f., 136 Christus 77, 94 Chronos 76 Cicero 113, 115, 130, 144 Circe 86 Crusius, Christian August 75 f., 93, 119 f., 124 f. Daphne 86 Darjes, Joachim Georg 101, 104 f., 139 ff. Descartes, Rene 22, 30, 33, 36, 42, 44, 97, 135, 160, 171 Diana von Ephesus 105 Engel, Johann Jakob 161, 166 Epikur 100 Ernesti, Johann August 143 Eschenbach, Johann Christian 139, 141 f., 155 Fabricius, Johann Andreas 131 Faustus, Johann 86 Fichte, Johann Gottlieb 158, 165 ff. Freud, Sigmund 170
Friedrich Il., König von Preußen 37, 161, 163 Frobesius, Johann Nicolaus 129 Gerhard, Ephraim 120 Gottsched, Johann Christoph 136 f., 139 Grosser, Samuel 54, 58, 123 Grotius, Hugo 33 Gundling, Nikolaus Hieronymus 83 f., 86, 89, 93 Hölderlin, Friedrich 165 f. Haller, Albrecht von 37 Harn 97 Hartmann, Georg Volkmar 94, 96 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 14, 33, 39 f., 46, 49, 57, 67, 158 f., 161, 165 f., 168 Heidegger, Martin 170 Heineccius, Johann Gottlieb 120 Hermes 71 Heumann, Christoph August 123 Hobbes, Thomas 33, 52 Hoffmann, Adolph Friedrich 73 f., 76, 119 f., 124 f., 132, 144 Hollmann, Samuel Christian 131, 136, 139 Homer 56, 100 Horkheimer, Max 161 Huber, Ulrich 153 Hume, David 39 f., 46 Hutchinson, Francis 85 f. Ikarus 86 Jacobi, Friedrich Heinrich 165 Jamme, Christoph 166 Japhet 97 Jaspers, Karl 170 Kant, lmmanuel 23, 33, 36 ff., 40 f., 45 ff., 49, 57 ff., 65, 67, 72, 107, 112, 117, 119, 121, 132, 136, 145 f., 149- 152, 155, 158 f., 161 ff., 165, 167 f., 170 f., 177, 180
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Kemmerich, Dietrich Hermann 68 f., 71 Kepler, Johannes 33 Kircher, Athanasius 52 Knutzen, Martin 132 f. Kopernikus, Nikolaus 33 Kurz, Gerhard 166 Lambert, Johann Heinrich 37, 45, 146 Lange, Joachim 97- 100 Lange, Johann Christian 63 f. Lehmann, Johann Jakob 119, 123 Leibniz, Gottfried Wilhelm 22, 33, 40, 43, 46, 112, 137 Lessing, Gotthold Ephraim 30, 37, 159 Locke, J ohn 46 Luther, Martin 160 Möller, Horst 47 Magritte, Rene 108 Marquardt, Conrad Theophil 92 Marx, Karl 159, 170 Meier, Georg Friedrich 106 f., 139, 143 f. Mendelssohn, Moses 41, 63, 139, 143, 145, 161 Montesquieu, Charles de Secondat 46 Montmorency, Fran~ois Henri 89 Musig, Martin 117, 119, 122f. Müller, August Friedrich 72, 119, 121 f., 154 Müller, Gottfried Polycarp 70 f., 119 f. Nietzsche, Friedrich 170 Nieuwentyt, Bernard 101 f., 105, 107 Noah 97 Odysseus 86 Platon 83, 100, 107, 124, 153 Ploucquet, Gottfried 45, 146 Pope, Alexander 23 Pott, Martin 86 Pufendorf, Samuel 33, 153 Pythagoras 100
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Reimarus, Samuel 41, 139, 143 ff. Reinhold, Carl Leonhard 166 Reusch, Johann Peter 129 f. Rousseau, Jean-Jacques 39 f., 46 Rüdiger, Andreas 66 f., 69, 115, 117 ff., 121 f., 124, 138, 144 f. Sauder, Gerhard 47 Schalk, Fritz 161 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 158 Schlobach, Jochen 47 Schneiders, Werner 47, 112, 166 Sem 97 Sisyphus 172 Sokrates 15, 67, 100, 112, 125, 160 Stiebritz, Johann Friedrich 129 Stolle, Gottlieb 119 f., 154 Sulzer, Johann Georg 37 Sylvester II., Papst 89 Syrbius, Johann Jakob 61 f., 119 f. Thales 100 Thomasius, Christian 30 - 33, 38, 40 - 44, 46 f., 52 f., 55, 57 f., 65, 69, 71, 76 ff., 80- 83, 85 f., 89, 100, 111 - 115, 117, 119, 121, 125 f., 135 ff., 139, 144, 148, 151- 154, 160 f. Thümmig, Ludwig Philipp 94 f., 128 f. Vico, Giambattista 52 Vierhaus, Rudolf 112 Walch, Johann Georg 93, 119, 121 f., 154 Weise, Christi an 58 ff. W olff, Christian 30, 32 f., 40 f., 43 - 47, 52, 86- 94, 100, 107, 111 f., 115, 119, 122- 145, 148 ff., 154 f. Wundt, Max 47 Xenophanes 100, 160 Zeno 100 Zimmermann, Johann Liborius 136, 139