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German Pages 159 [160] Year 1999
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 96
Gregor Wittkop
Hölderlins Nürtingen Lebenswelt und literarischer Entwurf
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1999
Die Arbeit wurde gefördert durch ein großzügiges Stipendium der Stadt Nürtingen
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wittkop,
Gregor:
Hölderlins Nürtingen: Lebenswelt und literarischer Entwurf / Gregor Wittkop. Tübingen: Niemeyer, 1999 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; Bd. 96) ISBN 3-484-32096-6
ISSN 0083-4564
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1999 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Industriebuchbinderei Nadele, Nehren
Für Mary Wittkop
Inhalt
Vorbemerkung
1
Jugend in einer Stadt Die Schulzeit Abstriche von einem Bild Ein Trauerhaus Auszug und Verweigerung Der Bruder Geld Zweierlei Heimkunft Vorgänger Vergil Hoffnungen Langer Umweg nach Nürtingen. Hölderlins Briefe an Böhlendorff
3 10 22 27 44 54 66 80 97 104 117
Dokumente zur Erbauseinandersetzung um die Hinterlassenschaft Johanna Christiana Goks
132
Literaturverzeichnis
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VII
Vorbemerkung
Die Frage nach dem Verhältnis Friedrich Hölderlins zu der Stadt Nürtingen erkundigt sich nach Lebenslauf und Werkgeschichte gleichermassen. Nürtingen war die Stadt, in der Hölderlin zehn Jahre seiner Kindheit und Jugend zubrachte, die Stadt seiner Familie und vor allem die seiner Mutter. Nach Nürtingen kam er, widerwillig und meist nur für wenige Monate, wenn er seine Anstellungen verlor oder seine Projekte anderswo, in Waltershausen, Jena, Frankfurt, Homburg, Hauptwil oder Bordeaux, gescheitert waren. Zugleich aber ist die Stadt Gegenstand und Symbol seiner Erinnerungen und Hoffnungen, die in allgemeinerer Form auch im Werk und in den Briefen wiederzufinden sind. Und nicht nur in den Jugendgedichten, auch in den Oden, Elegien und Hymnen der späteren Jahre finden sich immer wieder Abschnitte, die auf die Heimatstadt bezogen sind. In der vorliegenden Arbeit wird versucht, sowohl der biographischen wie der literarischen Komponente des Themas >Hölderlin und Nürtingen zu entsprechen. Die erste Hälfte gilt dem Leben Hölderlins und der Beziehung zu seiner »Vaterstadt«; die zweite beschäftigt sich mit einigen Aspekten seines Denkens und seines Werks, soweit sie auf die »Heimath« in allgemeiner oder auf Nürtingen in besonderer Weise Bezug nehmen. Jedoch lassen sich die beiden Themen sowenig trennen, wie sie in Ubereinstimmung zu bringen sind. Hölderlins Briefe an seine Mutter, zum Beispiel, sind kaum angemessen zu deuten, ohne daß wenigstens ein Seitenblick auf andere Briefe oder Texte geworfen wird, in denen ähnliche Sachverhalte oder Probleme berührt werden; so läßt sich die Elegie >Heimkunft< nicht ohne die Betrachtung der Friedenshoffnungen und auch der Reiseeindrücke des Dichters darstellen. Dieses Verfahren scheint geraten, weil Hölderlin seine Lebenserfahrungen häufig literarisiert hat. In keinem Fall jedoch konnte es darum gehen, mit biographischem Material die Deutung von Gedichten bloß zu illustrieren oder gar ästhetische Konstellationen durch Hinweise auf die Biographie und Chronik beiseite zu schieben. Denn die Probleme finden in der Biographie und der Zeitgeschichte zwar oftmals ihren Ausgangspunkt: aber niemals ihre Lösung. Es gilt, die Beziehungen sichtbar zu machen. 1
Die Durchsicht einschlägiger Bestände im Nürtinger Stadtarchiv erbrachte einige neue Einsichten. Sie förderte Einzelheiten zutage, die das bisherige Wissen vertiefen und konkretisieren, zuweilen wohl auch korrigieren. Materialien, aufgrund derer die seitherige Forschung zum Thema fundamental erweitert bzw. in Frage gestellt werden müßte, wurden nicht erwartet und nicht gefunden. Jedoch kann nun die Karriere des Stiefvaters Johann Christoph Gok präziser nachgezeichnet werden; auch das Bild der Mutter Johanna Christiana Gok und der beiden Geschwister wurde um einige Züge ergänzt. Der weitaus interessanteste Fund allerdings betrifft zwar Hölderlin, Nürtingen und das hier zu besprechende Thema jedoch kaum. Es handelt sich um den zweiten, verschollen geglaubten Teil der Pflegschaftsakte >Friedrich Hölderlin< für den Zeitraum 1833-1843, der mit einer nicht nachvollziehbaren Aktensignatur unter die Papiere einer späteren Generation gereiht war; die wesentlichen Stücke aus diesen Papieren sind unterdessen publiziert.1 Die wichtigste gedruckte Text- und Dokumentensammlung, auf die sich auch die vorliegende Arbeit stützt, stellt nach wie vor die Große Stuttgarter Ausgabe der Werke Hölderlins dar, deren Bände mit römischen Ziffern und der nachfolgenden Seitenangabe zitiert werden; die Teilbände sind nur bei Band ΥΠ in arabischen Ziffern ausgewiesen.
1
2
In: Hölderlin. Der Pflegsohn. Texte und Dokumente 1806-1843 mit den neu entdeckten Nürtinger Pflegschaftsakten. Hrsg. v. G. Wittkop, Stuttgart 1993. Die Entdeckung der Pflegschaftsakten führt auf die Aufmerksamkeit des Museumsangestellten Albrecht Stark zurück.
Jugend in einer Stadt
Die Straße von Oberensingen her mit ihrer jungen Maulbeerbaum-Allee führte an Siechenhaus und Siechenkirche vorbei bis vor das Neckartor der mit Graben und Mauer befestigten Stadt Nürtingen, wo die Häusergiebel langsam zur Laurentius-Kirche mit ihrem beherrschenden Turm aufrückten. Hinter der Stadt zog sich der Steinenberg mit seinen Obstbäumen hin; nach Westen lief eine Kette bewaldeter Hügel auf die Schwäbische Alb zu: Dies muß der erste Eindruck gewesen sein, den Johanna Christiana Hölderlin und ihre Kinder im Herbst 1774 von Nürtingen erhalten haben. Anlage und Grundriß Nürtingens gingen noch auf das 14. Jahrhundert zurück; doch die Stadt, in der der Junge Friedrich Hölderlin aufwuchs, war weitgehend eine Neustadt. Ein Großfeuer hatte in der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember 1750 insgesamt 133 Gebäude in Schutt und Asche gelegt (diese und die folgenden Informationen nach Kocher I, 138-149) und auch den erst 1748 erneuerten Schweizerhof erheblich geschädigt. Damit war praktisch die gesamte Kernstadt - mit Ausnahme von St. Laurentius - vernichtet worden. Erst in der Marktgasse, vor dem Rathaus und einigen anderen öffentlichen Gebäuden, konnten die Flammen aufgehalten werden. Beim Wiederaufbau half der Nürtinger Spital, die größte gemeinnützige Stiftung ihrer Art in Württemberg, mit erheblichen Summen aus; aber auch Herzog Carl Eugen ließ eine Spendenaufforderung an die württembergischen Kommunen ergehen: Das Elend dieser armen Leuthe ist um so grösser, als das Unglück dieselbe zu winterlicher Zeit bey angefüllten Häusern und Scheuren u. Kästen betroffen, und sie mit diesen mehisten Theils ihre Früchten, Futter, Strohe, Holtz und Mobilieri verlohren, mithin, da ihre gröste Nahrung im Ackerbau bestehet, von aller Hülfe und Erhaltungs-Mitteln auf einmahl fast gänzlich entblösset worden, (zit. n. Kocher I, nach S. 148)
Die Stadt erholte sich dank der großzügigen Zuschüsse rasch. Der Innenstadtplan wurde zugunsten einer zweckmäßigeren Straßenführung leicht verändert; die meisten Keller waren unbeschädigt geblieben, so daß auf ihren Fundamenten die Häuser wieder aufgebaut werden konn3
ten. Allerdings nun mit einem gemauerten Erdgeschoß (Benz, 57); erst darüber erhob sich das feuergefährdete Fachwerk (Benscheidt, 17). Die Ursache der Brandkatastrophe wurde nie zweifelsfrei geklärt. Sicher ist nur, daß das Feuer zuerst im Arbeitszimmer des Stadtschreibers Gottlieb Christian Lang ausgebrochen war. Neben der weltlichen Untersuchung von Ursache und Hergang des Unglücks fand sechs Jahre später, der Wiederaufbau war gerade abgeschlossen, auch eine geistliche statt. In einer >Christlichen GedächtnisPredigtCompendium LogicaeDidactica magnaSeptem artes liberales< aus Grammatik, Dialektik und Rhetorik sowie den marginalisierten Fächern Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musik nicht mehr. Beide fordern eine stärkere Berücksichtigung der naturkundlichen und historischen Fächer, teils, weil die Einsicht in natürliche und geschichtliche Prozesse einen Begriff von der Schöpfungsharmonie Gottes vermittelt, teils aber auch - so zumindest bei dem Jüngeren - aus schlicht praktischen und volkswirtschaftlichen Erwägungen. Und beide schließlich verlangen eine Pädagogik, die auf Einsicht und nicht allein auf das reproduktive Talent zielt. Doch Klemms Programm geht über das des Vorgängers noch deutlich hinaus. Das verdankt sich zum einen der Entwicklung und der wachsenden Bedeutung der Naturwissenschaften im 18. Jahrhundert, die den Fortbestand des alten Curriculums fragwürdig erscheinen lassen mußten. Zum anderen aber entstehen Klemms Überlegungen während eines geistesgeschichtlichen Umbruchs, der mit Rousseau begonnen hatte und sich mit Herder und Kant bis zu Goethe und der Humboldtschen Universitätsreform erstreckte. Als wesentliche Programmpunkte können Individualisierung der Pädagogik, Muttersprachlichkeit sowie die Betonung gerade auch der nationalen Geschichte und der moralischen Bildung bewertet werden; diese Fächer bereiten sukzessive auf ein universales Ideal der Humanität vor. Es stand übrigens noch in niemandes Absicht, die autoritären Züge des Schullebens zu reformieren. Wie der Lateinunterricht »sub poena 16
asini« stand, unter der Androhung der Eselskette also (die demjenigen Schüler umgehängt wurde, der aus der Unterrichtssprache Latein ins Deutsche fiel), sollten in der neuen Realschule auch paramilitärisch anmutende Formen Verwendung finden. Für das »Parlieren« schlägt Klemm die folgende Übung vor: jede letzte Viertel- oder halbe Stunde wird das Basedow'sche
Kommandierspiel
ge-
trieben. Man sagt den Knaben 3 oder 4 Sachen vor, die sie tun müssen, und erklärt es ihnen, läßt sie in Reihen stehen und kommandiert es ihnen. Zuerst führen sie das Kommando. z.B. fermez nach: je ferme
la bouche
la bouche,
stumm aus, dann aber sagen sie der Reihe
und dann miteinander: nous fermons
la bouche,
(zit. η.
Herwig, 30)
Ich halte den Mund, wir halten den Mund: »Wer es am besten kann, wird Flügelmann und darf selbst kommandieren« (ebd.). Hölderlin profitierte nur mittelbar von den reformerischen Bemühungen des Dekans, besonders wohl durch seine Bekanntschaft mit dessen Söhnen, aber auch über den Stiefbruder Karl, der die Realschule besucht hat - wenn auch wider seinen Wunsch, auf Wunsch vielmehr der Mutter, die zwei teure Studenten in der Familie nicht haben wollte. Die Schulbücher des Kirchenmanns6 hat Hölderlin nicht mehr benutzt. Dennoch dürfte die Krise der alten Ordnung und das neue Bildungsideal den Heranwachsenden berührt haben. Die geistige Erziehung des jungen Hölderlin beschränkte sich jedoch nicht allein auf den Schulunterricht. Er erhielt außerdem täglich Privatstunden, die - nach der Ausgabenliste Johanna Christiana Goks »vor den L. Fritz« (vgl. Vn.l; 281-293) - vom bloßen Repetieren des Lehrstoffs verschieden gewesen sein müssen. Im Einzelnen ist der Inhalt dieser Stunden nicht zu rekonstruieren; doch darf angenommen werden, daß er allgemeinbildender Art gewesen ist. Darauf weist bereits der Musikunterricht hin - »vom 10 biß zu 12. Jahr bey HE. Magist. taglich 1 stund Ciavier schlagen« (VILI, 281) - , der mit Klavier und später auch der Flöte weniger an die Kirchenmusik, sondern eher an das gesellige Musizieren denken läßt. Und auch eine andere Fertigkeit läßt aufmerken: Uns würdigte einst eurer Weißheit Wille, Der Kirche Dienst auch uns zu weih'n, Wer Brüder säumt, daß er die Schul des Danks erfülle, Die wir uns solcher Gnade freun?
6
Jakob Friedrich Klemm, Elementarbuch für die niedere (herzoglich wirtembergische) Lateinische Schulen. [Teil I] Stuttgart: Metzler 1786. Theil Π das. 1787. Ders., Neuer Atlas für die Jugend. Von 21 Kärtchen mit einer kurzen Anleitung, wie man ihn gebrauchen solle, die Erdbeschreibung auf eine ganz neue Art leicht und nützlich zu lernen. Tübingen: Heerbrandt 1782 [mit Spielsteinkasten].
17
Froh eilt der Wanderer durch dunkle Wälder, Durch Wüsten, die von Hize glühn, Erblikt er nur von fern des Lands beglükte Felder, Wo Ruh' und Friede blühn. So können wir die frohe Bahn durcheilen, Weil schon das hohe Ziel uns lacht, U n d der Bestimmung Sporn, ein Feind von trägen Weilen, Uns froh und emsig macht. Ja, dieses Glük, das, große Mäcenaten, Ihr schenkt, soll nie ein träger Sinn, Bey uns verdunkeln, nein! verehren Fleis und Thaten, U n d Tugend immerhin. Euch aber kröne R u h m und hohe Ehre, Die dem Verdienste stets gebührt, U n d jeder künfftge Tag erhöhe und vermehre, Den Glanz, der euch schon ziert. U n d was ist wohl für euch die schönste Krone? Der Kirche und des Staates Wohl, Stets eurer Sorgen Ziel. Wohlan, der Himmel lohne Euch stets mit ihrem Wohl. (I, 2)
Das sind Verse des vierzehnjährigen Hölderlin, mit denen er vermutlich den Niirtinger Lehrern, voran dem Diakonus Köstlin, für das Vermittelte dankt. Die Befähigung zur Zweckschriftstellerei, von der die vorstehenden Zeilen Zeugnis ablegen, gehörte zu den erwarteten Fertigkeiten wohlausgebildeter Bürgersöhne; ihr dürfte ein Teil der Privatstunden gewidmet gewesen sein. Es ist weiter anzunehmen, daß die Lektüre des Schülers mit den Lehrern besprochen worden ist. Mit archivalischer Sicherheit weiß man nicht viel darüber; nachzuweisen ist nur Klopstocks >Hermannsschlacht Winkel von Hardt< gelesen hat; der Ausflug zu diesem Winkel - eine Steinformation, in der sich Herzog Ulrich vor seinen Verfolgern verborgen haben soll und die später zum Gegenstand eines Gedichts wurde - bezeugt seinerseits eine gewisse historische Aufmerksamkeit des Knaben. Darüberhinaus besaß der Stiefvater Johann Christoph Gok weitere Bücher, Werke von Wieland, Geliert und Klopstock, auch eine >Geschichte der TeutschenBüschings Erdbeschreibung von Asia< oder die 18
>Rußische und Türckische Chronic< eines ungenannten Verfassers, dann auch >Diks Garttenkunst< in zwei Teilen, einige Romane und schließlich pietistische Erbauungsliteratur (vgl. VILI, 275). Die verschiedenen Einflüsse treten zusammen, wie an der vorerwähnten Episode beim Winkel von Hardt besonders deutlich wird. Sie soll hier noch einmal in Hölderlins Worten wiedergegeben werden: Ich dachte [...] an den schönen Mainachmittag, wo wir im Walde bei Hahrd bei einem Kruge Obstwein auf dem Felsen die Hermannsschlacht zusammen lasen. Das waren doch immer goldene Spaziergänge, Lieber, Teurer!
Der schöne Mainachmittag, Verslektüre und vaterländische Geschichte (wie Klemm geagt haben würde) verbinden sich zu einer Erinnerung, die referentiell wird, in der die natürlichen Felsen auf Historisches weisen, und die, durch Klopstocks Drama um die Befreiungsschlacht der Germanen gegen die Römer, in einen größeren Sinnzusammenhang aufgenommen wird. Eine weitere konstante Größe in Hölderlins Erziehung - und zwar gleichviel, ob es sich um die mütterliche, die schulische oder die außerschulische handelt - bildet eine alles Erleben durchformende Frömmigkeit. In ihr finden sich die überindividuellen Züge eines ganz auf Verinnerlichung abgestellten pietistischen Christentums, dessen Geist sich auch bei Reformation des Maientages zeigte. Und noch 1842 gibt sich ein Kirchenvisitationsbericht unzufrieden über die Tatsache, daß die Jugend »beiderlei Geschlechts« sich am Sonntag Abend »auf der Brücke einfindet und durch Gespräche und Lieder das Misfallen der Vorübergehenden erregt« (zit. n. Benscheidt, 24), statt auf »stillen Wegen« zu gehen. Die Wertvorstellungen von bürgerlicher und klerikaler Ehrbarkeit stimmen in dieser Hinsicht überein und wirken autoritär zusammen. Hierhin gehört ein Stück aus einem frühen, 1786 geschriebenen Gedicht Hölderlins, >Die Meinige< überschrieben. Es gilt vor allem der Mutter, aber auch den Geschwistern Heinrike und Karl. [...] Guter Carl! - in jenen schönen Tagen Saß ich einst mit dir am Nekkarstrand. Fröhlich sahen wir die Welle an das Ufer schlagen, Leiteten uns Bächlein durch den Sand. Endlich sah ich auf. Im Abendschimmer Stand der Strom. Ein heiliges Gefühl Bebte mir durchs Herz; und plötzlich scherzt' ich nimmer, Plötzlich stand ich auf vom Knabenspiel.
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Bebend lispelt' ich: wir wollen betten! Schüchtern knieten wir in dem Gebüsche hin. Einfalt, Unschuld wars, was unsre Knabenherzen redtenLieber Gott! die Stunde war so schön. [...] (StA Π, 15)
Auch hier findet sich wieder die Transformation einer begrenzten Episode in einen überwölbenden, genauer: religiösen Zusammenhang. Die Art des geschilderten Erlebnisses, die Plötzlichkeit des Ergriffenwerdens in der Natur vor allem, ähnelt stark den pietistischen Schilderungen von Konversions- und Erweckungserfahrungen. Diese Manier ist mit aller Wahrscheinlichkeit Nathanael Köstlin geschuldet. Der Nürtinger Diakon, gelegentlich auch >Helfer< (des Stadtpfarrers nämlich) genannt, figuriert nicht nur in Schellings Jugendgeschichte an ausgezeichneter Stelle; er ist auch die beherrschende Person in Hölderlins Knabenzeit. Köstlin, 1744 geboren, war seit 1775 Diakon an der Stadtkirche; um 1780 zieht ihn Johanna Christiana Gok zum Privatunterricht heran. Eine Stunde täglich kommt der Geistliche ins Haus; eine weitere Stunde verbrachte der Schüler mit Präzeptor Kraz. Mit welchen Methoden Köstlin auf seinen Schüler eingewirkt hat, ist nicht bekannt. Die Zeitgenossen haben vor allem die Ausstrahlung seiner Persönlichkeit hervorgehoben: Seine Erscheinung flößte Ehrfurcht ein durch eine nicht angenommene, sondern einwohnende Würde, durch den Ausdruck eines von der Richtung auf das Unsichtbare getragenen und geheiligten, von einem zarten und wachsamen Gefühle seiner Pflichtverhältnisse geleiteten Lebens. Sie verbreitete einen eigenen Eindruck von Reinheit des Daseyns, wenn man in seiner Nähe sich befand [...] das milde Wohlwollen, das aus jener Würde hervorstrahlte [...], war geeignet, [...] zugleich mit dem Gefühle der Ehrfurcht das einer vertraulichen Liebe zu erwecken, von der man sich auf's sanfteste bewegt und aufgeschlossen fand. (zit. n. VILI, 487)
Auch bei Hölderlin hat der Diakon derartige Eindrücke hinterlassen. Der erste erhaltene Brief von seiner Hand - er ist vermutlich im Herbst 1785 geschrieben worden - ist an den Nürtinger Lehrer adressiert; er stellt ein bedeutendes Zeugnis für das pietistische Denken dar, unter dessen Maximen seine Erziehung gestanden hatte. Der Absender lebt unterdessen in der Klosterschule Denkendorf und legt sich die Frage vor, »wie man doch Klugheit in seinem Betragen, Gefälligkeit und Religion verbinden könne. Es wollte mir nie recht gelingen«. Köstlin wird dringend um Rat angegangen, der Schüler setzt unbedingtes Vertrauen in den alten Mentor - oder will es in ihn setzen. Denn die dauernde Anrufung des beruhigenden alten Verhältnisses zwischen Lehrer und Schüler, die ständige Betonung dieser Hierarchie sie nimmt die Hälfte des Briefes ein - erweckt eher den Verdacht, daß 20
die neuen Lebenserfahrungen nicht mehr unter die alte Ordnung gebracht werden können. - Es werde, wie es war: »Ihre Lehren, Ihr Rath, und die Mittheilung Ihrer Kenntnisse, diese werden alle meine Wünsche, die sich auf's Zeitliche richten, befriedigen.« Worum geht es? Der Denkendorfer Seminarist sieht sich dem Konflikt von Weltleben und christlicher Frömmigkeit ausgesetzt. Worin die Schwierigkeiten ihre Ursache haben, wird auf das Präziseste bestimmt: im Sinne der pietistischen Theologie. Etliche Betrachtungen, insonderheit seit ich wieder von Nürtingen hier bin, brachten mich auf den Gedanken, wie man doch Klugheit in seinem Betragen, Gefälligkeit und Religion verbinden könne. Es wollte mir nie recht gelingen; immer wankte ich hin und her. Bald hatte ich viele gute Rührungen, die vermuthlich von meiner natürlichen Empfindsamkeit herrührten, und also nur desto unbeständiger waren. Es ist wahr, ich glaubte, jezt wäre ich der rechte Christ, alles war in mir Vergnügen, und insonderheit die Natur machte mir in solchen Augenbliken, (dann viel länger dauerte dieses Vergnügen selten) einen außerordentlich lebhafften Eindruk auf mein Herz; aber ich konnte niemand um mich leiden, wollte immer nur einsam seyn, und schien gleichsam die Menschheit zu verachten; und der kleinste Umstand jagte mein Herz aus sich selbst heraus, und dann wurde ich nur desto leichtsinniger. Wollte ich klug seyn, so wurde mein Herz tükkisch, und die kleinst Beleidigung schien es zu überzeugen, wie sehr die Menschen so sehr böse, so teuflisch seyen, und wie man sich mit ihnen vorsehen, wie man die geringste Vertraulichkeit mit ihnen meiden müsse; wollte ich hingegen diesem menschenfeindlichen Wesen entgegenarbeiten, so bestrebte ich mich vor den Menschen zu gefallen, aber nicht vor Gott. Sehen Sie, Tbeuerster HE Helffer, so wankte ich immer hin und her, und was ich that, überstieg das Ziel der Mäßigung. (VI.3f.)
Weitaus besser hätte Köstlin die Notlage des natürlichen Menschen wohl auch nicht formulieren können. Sie ist geradezu schulbuchhaft und Hölderlin erweist sich als gelehriger Adept pietistischer Religionsauffassungen, wenn er - als Mittel gegen den eigenen Wankelmut - nun nicht mehr von Stimmungen abhängen, sondern Entschlüsse fassen und auf den heiligen Geist vertrauen will. Aber so sehr die Diktion auch von religiöser Formelsprache abhängt, berührt Hölderlin doch bereits Kernprobleme seines Lebens, die ihn auch später beschäftigen werden: die Neigung zu Einsamkeit und Selbstverkapselung, Misanthropie und auffällige soziale Reizbarkeit. - Wie Köstlin geantwortet hat, ist unbekannt. Möglicherweise ist der Briefwechsel nicht mehr fortgesetzt worden, auf jeden Fall aber nicht mehr lange. Denn bald schon wird Hölderlin derartige Anfechtungen nicht mehr allein aus innerseelischem Ungenügen deuten. Bereits im kasernenartigen Alltag von Maulbronn formuliert er die Unvereinbarkeit seiner Bedürfnisse mit den Ansprüchen von Kirche, Akademie und herzoglicher Landeszucht; er erkennt sich als Außenseiter. 21
Abstriche von einem Bild
Im Laufe des Jahres 1767 gab der Lauffener Klosterhofmeister Heinrich Friedrich Hölderlin zwei Porträts in Auftrag. Sie zeigen ihn selbst und seine junge Frau Johanna Christiana, geborene Heyn. Das Paar ist seit einem Jahr, genauer seit dem 17. Juni 1766 verheiratet; Kinder hat es noch nicht. Es dauert mehr als drei Jahre, bis Johanna Christiana zum erstenmal schwanger wird und am 20. März 1770 mit einem Sohn niederkommt, der bereits am Folgetag auf den Namen Johann Christian Friedrich getauft wird. Der Klosterhofmeister stirbt, kaum daß der Junge zwei Jahre alt ist. Friedrich Hölderlin wird das Ölgemälde benötigt haben, um sich Gestalt und Gesicht seines Vaters vor Augen zu führen. Es zeigt eine leger offenstehende Litewka vor dunklem Grund. Manschetten, Kragen und Revers sind mit hellen Bordüren abgesetzt; die Knöpfe mit Stoff überspannt. Der Mann hält seine Hände unter Spitzen und der reichbestickten Blumenweste verborgen. Unter der gepuderten Amtsperücke hat der Maler das Gesicht aufgebaut. Es ist ein Oval von geometrisch exaktem Aufriß und im Verhältnis zum Oberkörper deutlich zu groß proportioniert. In der Mitte sind die Augen eingetragen, mit einem monochromen Braun für die Brauen und etwas Blau für die Iris. Kreisförmig sind die Wangenfurchen angelegt, die den gleichmäßig geschweiften Mund einrahmen, dessen Winkel leicht nach oben zeigen. Der Mann lächelt. So auch die 19jährige Johanna Christiana. Ihr Porträt ist etwas kühner. Kinn und Scheitel sind leicht über das Oval hinausgebildet, und deutlich ist auch die Bemühung zu erkennen, die Linien von Haaransatz und Kieferbildung wiederzugeben. Das weitausgeschnittene, mit Blumen und Füllhörnern bestickte Klád ist üppig mit Spitzen verziert. Den rechten Unterarm hat sie über die Taille gelegt und die Hand vor den Leib. Kuppen und Knöchel von Daumen und Zeigefinger wirken etwas aufgeschwollen; der kleine Finger ist abgespreizt, wohl, um den großen Edelsteinring zur Geltung zu bringen. Der steif um den viel zu langen Hals geschlungene Schal ist reich appliziert. Und irgendjemand hat sich 22
beim Anschauen dieses Bildes zu der These hinreißen lassen, der Schal solle einen Kröpf verbergen. Es handelt sich nicht um einen Kröpf: Es handelt sich um eine Frage des Geldes. Jeder Versuch, aus der Physiognomie der Abgebildeten etwas anderes abzulesen als die Augenfarbe, ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Der Maler dieser Bilder verstand ganz offensichtlich sein Handwerk nicht - oder wollte es nicht verstehen. Denn die Porträtisten der Zeit sind nach den Schwierigkeiten bezahlt worden, die ihr Auftrag ihnen bereitete. Je mehr individuelle Züge sie festzuhalten hatten, desto höher fiel die Abschlußrechnung aus. Was nach der Schablone gefertigt werden konnte, war billig. Billig war es, die Hände unter der Kleidung zu verbergen. Etwas teurer, sie über dem Kleid zu zeigen, wenn es dabei auf mehr nicht ankam, als einen Ring zu präsentieren. Entschieden teurer, wenn sie in ihrer individuellen Besonderheit gezeichnet werden mußten. Ähnliches galt für die Haartracht. Und für Gesichter. Beim Betrachten der beiden Ölgemälde drängt sich der Eindruck geradezu auf, daß die Gesichter in eine Leerform eingelassen worden sind. Ihre schematische Anlage jedenfalls ist unübersehbar. Sie sind offensichtlich mit dem Reißzirkel proportioniert; Nase, Mund und Augenschnitt sind nach physiognomischen Grundformen gearbeitet und geben die Eigenart der Gesichter wohl nur höchst andeutungsweise wieder. Einige Sorgfalt hat der unbekannte Maler dagegen auf Kleidung und Schmuck verwendet, und es darf angenommen werden, daß dies auch im Sinne des Auftraggebers lag. Denn die Bilder zeigen nicht so sehr Heinrich Friedrich und Johanna Christiana Hölderlin als vielmehr die Zugehörigkeit des Klosterhofmeisters und seiner Frau zu einer exponierten bürgerlichen Schicht. Es sind Repräsentationsgemälde. An dieser Tatsache ist ihr Aussagewert zu messen: Zur Charakteristik der Eltern Hölderlins tragen die Bilder wenig oder nichts bei. Es ist völlig sinnlos, aus dem feinen Lippenzug Johanna Christianas auf Sensibilität oder aus der Schläfenpartie Heinrich Friedrichs auf Energie schließen zu wollen. Physiognomie zu treiben, ist vor diesen Porträts unangebracht. Was sie bezeichnen, ist vielmehr die soziale Position, die das Ehepaar anstrebte. Anstrebte: Denn so sehr die Tatsache, daß es sich hat malen lassen, für ihr Standesbewußtsein spricht, so sehr spottet die billige und dilettantische Ausführung dem Mißverhältnis von Sein und Schein. Der Auftraggeber hat sich mit diesen Bildern etwas geleistet, was er sich so ganz noch nicht leisten konnte. Es ist also schwierig, wenn nicht gar unmöglich, von dem Porträt auf das tatsächliche Aussehen der 19jährigen Johanna Christiana zu schließen. Und es ist schwierig, andere Zeugnisse ihres Lebens so in den Blick 23
zu bekommen, daß sie nicht zu Fehlaussagen verleiten. Viele sind es ohnedies nicht, und bei ihrer Bewertung wird die Frage im Vordergrund stehen, über was sie tatsächlich Auskunft geben. Daß die Mutter ein Geschäftsbuch führt, Ausgabenlisten für die Söhne: Sagt dies etwas über ihren Charakter? Oder nicht vielmehr etwas über die Zeit, ihre Vorschriften und Gebräuche? Die Quellenlage ist dürftig. Es sind nur wenige Autographen der zweimaligen Witwe erhalten: ein Brief an Friedrich Hölderlin, neun Briefe an Isaac von Sinclair, der sich zwischen 1804 und 1806 in Homburg um ihren Sohn kümmerte, einen weiteren an dessen Mutter und schließlich einen an den Verleger Friedrich Wilmans. Es gibt die Testamente mit verschiedenen Zusätzen aus den Jahren 1808-1820, je eine Ausgabenliste für Friedrich Hölderlin und Carl Gok sowie schließlich das umfangreiche Geschäftsbuch. Aus dem Zeitraum 1784-1802 sind 73 Briefe Hölderlins an seine Mutter erhalten; einige weitere, an andere Familienmitglieder gerichtete, wird sie mit Wissen und Billigung des Absenders gelesen haben. Daneben gibt es eine Anzahl von Briefen Dritter, die jedoch ausschließlich den Sohn zum Gegenstand haben. Nur selten und verstreut ist Johanna Christiana Gok durch Zeitgenossen beschrieben und eingeschätzt worden. Was diese Quellen jeweils taugen und mit welchen Einschränkungen sie für ein Charakterogramm der Frau oder für die Interpretation der Mutter-Sohn Beziehung heranzuziehen sind, muß jeweils im Einzelfall entschieden werden. Schon ihre kleine Zahl jedoch verbietet es, von den Urteilen über die Mutter Hölderlins Eindeutigkeit und umfassende Geltung zu verlangen. Sicher ist, daß die Charakerisierung Adolf Becks, wie er sie 1946 in einem längeren Artikel darlegte und wie sie immer wieder die Einzelurteile in den Brief- und Dokumentenbänden der Stuttgarter Ausgabe bestimmt, weitaus zu kurz greift. Beck entwirft anhand der wiederaufgefundenen testamentarischen Bestimmungen und der Ausgabenliste das Bild einer Frau, die in selbstloser Treue um das Wohl ihrer Kinder und namentlich um das ihres schwierigen Sohnes bemüht ist. Es handelte sich allerdings um eine Fürsorge, soviel ist festzuhalten, die oft genug entscheidend an Hölderlins Bedürfnissen vorbeiging und nicht selten auch den Zug des Besserwisserischen hatte; auch von eigennützigen Motiven war sie nicht frei. Tatsache ist, daß Hölderlin niemals über sein väterliches Erbteil verfügen konnte, das ihm entweder bei der Eheschließung, spätestens aber mit Vollendung des 25. Lebensjahres zugestanden hätte. Die Briefe zeigen deutlich, daß der Erbberechtigte aus Gründen der Pietät nicht das Kapital beanspruchen wollte, von 24
dessen Zinsen seine Mutter lebte. Vielleicht war diese Pietät eine soufflierte und möglicherweise auch hat es hier und da diskrete Hinweise gegeben, daß die Geschwister zu kurz kommen würden, falls der wieder einmal mittellose Dichter weiterhin von dem Erbe zehren würde. Jedenfalls besaß Hölderlin keinen exakten Uberblick über seine Ansprüche; dies hatte die Mutter zu verhindern gewußt, indem sie ein wichtiges Dokument, das Beibringens-Inventarium ihrer zweiten Heirat, versiegeln und bis zu ihrem Tod auf dem Rathaus verwahren ließ. Die finanziellen Verhältnisse der Familie kannte nur sie selbst. Und da sie stets und mit Nachdruck versucht hat, den Sohn in den Pfarrdienst zu bringen oder doch wenigstens in ihrer Nähe zu halten, ist es nicht ganz unwahrscheinlich, daß sie ihre wirtschaftliche Macht gebrauchte, ihn in ihrem Sinne zu beeinflussen. Adolf Becks Urteile über Johanna Christiana Gok sind von Respekt und Sympathie geleitet, wie der folgende kurze Auszug aus seiner >Hölderlin-Chronik< stellvertretend für andere Einschätzungen belegen mag: »Als Witwe lebte sie ganz für ihre Kinder, tief fromm und pflichtenstreng, ihr schweres Los mit Gottvertrauen tragend, aber auch mit haushälterischer Tugend« (Beck 1975, 212). Der Komplexität ihres Charakters werden sie nicht gerecht. Mit umgekehrten Vorzeichen läßt sich dies auch gegen die Thesen Pierre Bertaux' einwenden, der in seinem Bestreben, für jedes Unglück Hölderlins einen Schuldigen zu finden, der Mutter einen bedeutenden Platz einräumt. Geleitet von diesem Ehrgeiz, läßt er Dokumente als Beweismittel gelten, ohne sie zuvor auf ihren historischen Aussagewert geprüft zu haben. Wie seine Schülerin Eva Carstanjen zeigt er sich fasziniert von der Klausel, mit der Johanna Christiana die Liste der »Ausgaben vor den L. Fritz« - Hölderlin also - überschrieben hatte: »welche aber wan Er im gehorsam Bleibt nicht sollen abgezogen werden« (Vn.l, 281). Nicht abgezogen werden: nämlich vom väterlichen Erbteil. Bertaux vermutet nun, daß die einschränkende Formulierung als Erpressungsmittel gedacht war: Wenn der Sohn den mütterlichen Plänen nicht willfährt, würde er empfindliche finanzielle Einbußen hinzunehmen haben. Er vermutet weiter, daß bereits die Anlage der Liste von diesem Motiv bestimmt gewesen ist. Aber die Führung einer solchen Ausgabenliste ist ohne jeden Aussagewert; weder stützt sie die These Bertaux' noch die Behauptung Becks: »So redet das Dokument mittelbar ergreifend von der Treue einer Mutter« (Beck 1946). Sie wurde vielmehr vom zeitgenössischen Recht erzwungen, das von den Nutznießern eines Erbes genaue Rechenschaft über dessen Verwaltung verlangte. Auf juristische Besonderheiten läßt sich auch die Gehorsamsklausel 25
zurückführen, die sich in der analogen Liste für den Halbbruder Carl Gok nicht finden läßt. Und zwar aus einem schlichten Grund: Dem Landrecht zufolge durften die Kosten der Grundausbildung nicht vom Erbe abgezogen werden; die Kosten des weiterführenden Studiums hingegen mußten sogar verrechnet werden, falls »der Sohn nachher ohne dringende Gründe einen anderen Beruf gewählt« hat (Griesinger, 1. Hauptstück, Paragr. 133) - mit anderen Worten: falls er nicht »im gehorsam Bleibt.« An dieser Stelle sollen weder die Thesen Becks noch die Bertaux' oder Carstanjens eingehender diskutiert werden. Es gilt hier nur zu zeigen, daß die wenigen Zeugnisse auf der einen Seite und elementare Grundsätze der Quellenkritik auf der anderen die Kompilation einer unzweideutigen Charakteristik verbieten. Es lassen sich nur einzelne Züge genauer in den Blick bekommen. Von einem geschlossenen Bild dagegen sind Abstriche zu machen.
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Ein Trauerhaus
Die am weitesten zurückreichende Aussage über ihr Leben formulierte Johanna Christiana Gok am 20. September 1812, in der »2ten beylaage« zu ihrem Testament von 1808. Den erbberechtigten Kindern versucht sie einen lange zurückliegenden Akt der Rechtsbeugung zu erläutern: Anders als gesetzlich vorgeschrieben, hatte sie 1779 die Inventur des Familienvermögens nach dem Tode ihres zweiten Mannes zu verhindern gewußt: Der haubtgrund war, daß ich gewis überzeugt war, daß nach den nachfolgenden Ursachen eine beträchtliche Einbus herausgekomen wäre [...] (VII.2, 390).
In acht Punkten legt die zweifache Witwe daraufhin die verschiedenen Gründe für die Vermögensverluste zwischen 1774 und 1779 dar. Von besonderem Interesse ist dabei der letze Punkt: 8tens waren die Kosten von der Kranckheit u. der Leiche meines IS. [lieben Seligen] Mans, u von 4 Kinder welche Ihrem 1. Vatter vorangiengen wie auch 4 Wochenbette wo lange Kranckheiten bey mir darzukamen sehr beträchtlich. (VII.2, 392)
Die Sätze sind geschrieben worden, um die Verwaltung des Familienerbes von »einem geäuserten Verdacht [...] zu reinigen« (VH.2, 393), über den Näheres nicht bekannt ist; er wird noch am ehesten von Heinrike Breunlin, der verwitweten Schwester Hölderlins, ausgesprochen worden sein, die infolge der undurchsichtigen Vermögenslage finanzielle Nachteile befürchtet haben mag. Doch auch Karl Gok hatte für einen »Verdacht« Gründe. - Manche bedeutende Nachricht aus dem Leben der Gokin ist daher nur überliefert, weil die Erblasserin ihr Rechtfertigungsgebäude zusammentragen mußte; so ist beispielsweise von den schwierigen Wochenbetten nur hier und in keinem anderem Dokument die Rede. Ebenso stammen die wenigen Auskünfte über die beiden Ehen Johanna Christianas aus diesen letztwillentlichen Eröffnungen. Sie stehen im Zeichen eines doppelten Verlusts: des menschlichen und des wirtschaftlichen. Auch Friedrich Hölderlin hat aus der Zeit seiner Kindheit kaum etwas mitgeteilt oder gar ausführlich dargestellt. Nur wenige und dann 27
meistens stilisierte Aussagen haben sich erhalten oder sind überhaupt von ihm zu Papier gebracht worden; denn das Interesse für die eigene Kindheit ist - trotz Rousseau oder Moritz, Jung-Stilling oder Β räker noch keineswegs charakteristisch für das späte 18. Jahrhundert. Es gibt jedoch einen Brief, aus Homburg vor der Höhe am 18. Juni 1799 an die Mutter gerichtet, der eine der seltenen Avisnahmen von dieser Regel darstellt. Er ist in seiner ersten Hälfte ganz dem »fromme[n] Geist« gewidmet, »der zwischen Mutter und Sohn waltet« (VI, 332), wobei die Wahl des Adjektivs getrost der Absicht des Verfassers zugerechnet werden darf, die stets um die Frömmigkeit ihres Sohnes besorgte Johanna ein wenig zu beschwichtigen. Einer ihrer Briefe - er hat sich nicht erhalten - war vorausgegangen. Der Antwort nach zu schließen, wird es ein Mahnschreiben aus christlichem Geiste gewesen sein; die kirchentreue Frau verdächtigte ihren Sohn des öfteren als unsicheren Kantonisten. Übrigens nicht ganz zu Unrecht. Denn das Analysieren und Bedenken der hergebrachten Gotteslehre war so ganz im Sinne der Amtskirche nicht, sondern Thema einer jüngeren Theologie, die sich das Privileg der Philosophie herausnahm und ehrwürdige Glaubenssätze im Licht der Aufklärung betrachtete, nicht selten, um sie danach zu verwerfen. So hat Hölderlin in den Briefen nach Hause mehrfach sein Schweigen »vor den Theologen aus Profession«· (VI, 310) dargelegt und zu rechtfertigen gesucht. - Der Brief der Mutter wiederum wird die Reaktion auf eine schriftliche Klage Hölderlins gewesen sein, der sich wahrscheinlich mißverstanden fühlte und nun nicht in den Ruch der »Ungedult und Weichlichkeit« kommen möchte: »wenn ich klagte, von trostlosen Stunden sprach« (VI, 332). Johanna Christiana Gok hat, dies ist aus der Antwort deutlich zu ersehen, ihrem Sohn den Vater vor Augen gestellt, in seiner unbeirrbaren Heiterkeit, die von mehreren Seiten bezeugt worden ist. Sie hat vielleicht das Durchhaltevermögen ihres ersten Mannes betont, aber das sind nur Vermutungen. Jedenfalls geht Hölderlin darauf ein: Wie herzlich dank' ich Ihnen auch für die lieben Worte von meinem seeligen Vater. Der Gute, Edle! Glauben Sie, ich habe schon manchmal an seine immerheitre Seele gedacht, und daß ich ihm gleichen möchte. Auch Sie, liebste Mutter! haben mir diesen Hang zur Trauer nicht gegeben, von dem ich mich freilich nicht ganz rein sprechen kann. Ich sehe ziemlich klar über mein ganzes Leben, fast bis in die früheste Jugend zuriik, und weiß auch wohl, seit welcher Zeit mein Gemüth sich dahin neigte. Sie Werdens mir kaum glauben, aber ich erinnere mich noch zu gut. Da mir mein zweiter Vater starb, dessen Liebe mir so unvergeßlich ist, da ich mich mit einem unbegreiflichen Schmerz als Waise fühlte, und Ihre tägliche Trauer und Thränen sah, da stimmte sich meine Seele zum erstenmal zu diesem Ernste, der mich nie ganz verlies, und freilich mit den Jahren nur wachsen konnte. (VI, 333)
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Kein Schreiben Hölderlins greift weiter in die eigene Vergangenheit zurück; im Jahre 1779, beim Tod Johann Christoph Goks, treffen sich die ältesten formulierten Erinnerungen von Mutter und Sohn: im Medium der Trauer. Sie haben dieses Gefühl geteilt, und es hat sie geteilt. Und es dürfte kaum ganz zutreffen, daß Johanna Christiana »diesen Hang zur Trauer« nicht mitzuverantworten hatte - sofem sich bei dieser psychischen Disposition von Verantwortung sprechen läßt. Es handelte sich jedoch nicht nur um einen seelischen »Hang«: Grund zur Trauer gab es in der Kindheit Hölderlins und im Leben der jungen Mutter genug. Zwischen 1772 und 1779 hatte die Familie acht Tote zu beklagen. Am 5. Juli 1772 verstarb der erste Mann Johanna Christianas, Johann Heinrich Hölderlin, der Vater Johann Andreas Heyn am 25. September, die Großmutter Johanna Juditha Sutor am 3. November. Die erste Tochter aus der Ehe mit Johann Christoph Gok, Anastasia Carolina Dorothea, stirbt im Alter von vier Monaten am 19. Dezember 1775, nachdem am 16. des Vormonats die viereinhalbjährige Johanna Christiana Friderica Hölderlin verstorben war. Eineinhalb Jahre später, am 11. Mai 1777, verscheidet die Freundin und Schwägerin aus erster Ehe, Maria Elisabetha von Lohenschiold. Am 16. November desselben Jahres verliert Johanna Christiana ihren Sohn Johann Christoph »von der Hebamm gäh getauft, und in 2. Stunden darauf verschieden« (VILI, 280); ihr zweiter Mann erliegt am 8. März 1779 im Alter von 31 Jahren »einer hizigen BrustKranckheit« (VILI, 297). Acht Todesfälle, fünf Schwangerschaften mit den nachfolgenden Wochenbetten und »lange[n] Kranckheiten«: »Trauer und Thränen« dürften zum Alltag der Familie Hölderlin-Gok gehört haben, anders als trauernd oder krank erlebte der Sohn die Mutter kaum, zumindest nicht in der Dekade von 1770-1780. Und auch sonst scheinen Mutter und Sohn von jenem »Hang zur Trauer« nicht frei. In Betracht der unzureichenden Uberlieferung läßt sich dies für Johanna Christiana zwar nicht eindeutig nachweisen, jedoch aufgrund einiger Indizien vermuten. In einem Lebensabriß, den Carl Gok 1842 für den Herausgeber der zweiten Auflage von Hölderlins Gedichten entwirft, schreibt der Stiefbruder: So wohlthätig diese mütterliche Erziehung auf die erste Bildung Hölderlins einwirkte, [...] so mag doch auch der tiefgegründete Kummer der guten Mutter um den Verlust derjenigen, welche ihrem Herzen so theuer waren, obgleich er sich immer in stiller Wehmuth aussprach den Keim zu dem elegischen Character Hölderlins frühe entwikelt haben. (ΥΠ, 3, 240)
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Doch die Mutter warnte nicht nur ihren Sohn vor dem Verzagen, sondern war umgekehrt auch Empfängerin ähnlicher Mahnungen. In einem Brief aus Tübingen schreibt der 19jährige Student im April 1789: Was meine gegenwärtige Lage betrift, so kan ich Sie versichern, daß ich meine Tage ganz heiter u. mit meinem Schiksaal zufrieden verlebte, wenn Ihre Traurigkeit mir nicht eben so viel düstere Stunden machte. Ich bitte so theuer ich kan, ich beschwöre Sie bei Ihren Pflichten, als Mutter u. als Christin, die Sie bis auf den Punkt der allzugroßen Traurigkeit so gewissenhaft erfüllen - heitern Sie sich auf, genießen Sie des schönen Frülings [...] (VI, 45).
In einem Schreiben vom Juli 1797 spielt diese besondere Anfälligkeit ebenfalls eine Rolle. Dabei mögen auch die augenblicklichen Lebensverhältnisse der Mutter ins Gewicht gefallen sein: Die Tochter und die beiden Söhne waren aus dem Haus, das geräumige Familienanwesen, der Schweizerhof, war 1795 an den Bäcker Johann Michael Maier verkauft worden. Zwar bewohnten Johanna Christiana Gok und ihre Mutter, die Pfarrwitwe Heyn, dort noch einige Räume zur Miete, doch kam es mit dem neuen Hausbesitzer bald zu unbekannten Mißhelligkeiten; die beiden Frauen suchten daher nach einer neuen Wohnung. Diesem Arger war unmittelbar vor dem Verkauf des Schweizerhofs - wie Eberhard Benz (61-63) nachgewiesen hat - eine heftige Auseinandersetzung mit der Stadt Nürtingen vorausgegangen. Öffentliche Bauarbeiten im Sommer 1794 hatten das Fundament des Gokschen Hauses beschädigt; die Stadtväter bestritten jedoch - entgegen einem anderslautenden Gutachten - jede Verantwortung für diesen Schaden und weigerten sich folglich, die veranschlagten Reparaturkosten von 406 Gulden zu übernehmen. Erst der Nachbesitzer Maier wurde mit einer Zahlung von 125 Gulden abgefunden, »um aller etwa entstehen mögenden prozessualer Weitläufigkeit überhoben zu sein« (zit. n. Benz, 63). Die Kammerrätin und Bürgermeisterwitwe Gok wird diese Zurückweisung durch die Stadt wohl empfindlich aufgenommen haben; wenigstens läßt die Wortwahl Hölderlins, der abschätzig »von andern [nämlich unerfreulichen] Verhältnissen z.B. mit dem Nürtinger Volke« spricht, »das fatale Nürtingen« (VI, 245) gar zu verlassen empfiehlt, auf eine tiefe Verstimmung der ehemaligen Honoratiorenfamilie schließen. So viel zum Hintergrund. Doch die Ratschläge an die Adresse Johanna Christianas basieren auf einer viel weiter gehenden Einschätzung ihrer Persönlichkeit. Hölderlin vermutet in ihr noch sehr viel gesunde Kräfte [...], die sich durch einen guten Muth und frische Luft, und einen heitern Blik auf das unschuldige Leben der Natur recht sehr leicht wirksam machen ließen (VI, 245).
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Es ist sein eigenes Rezept, das er hier empfiehlt und an das er sich gehalten hat, wann immer es möglich war; doch ist es mehr als fraglich, ob die Mutter es sich zu eigen gemacht hat. Das Sichergehen in frischer Luft gehörte zur Urbanen Kultur und war in ländlichen Gegenden bis weit ins 19. Jahrhundert hinein unbekannt. Oder wollt' ich Ihnen rathen, so viel sie könnten, neben Ihrer Arbeit durch Leetüre Ihren Geist zu beschäftigen, weil der sonst aus natürlicher Lebhaftigkeit, sich Arbeit und Sorge macht, wo ein anderes vieleicht ruhig wäre. Wollen Sie diß nicht, liebste Mutter! so schreiben Sie recht oft und recht lange Briefe an mich, ich will Ihnen mit gleichem Maaße vergelten, und das gäbe doch auch vieleicht Ihrem Gemüth zuweilen eine heitere Richtung. (VI, 245)
Es ist möglich, daß die knapp 50jährige Frau ihre nachlassende Gesundheit beklagt hatte, vielleicht aber auch nur eine vorübergehende Kränklichkeit. Aus den therapeutischen Ratschlägen ist das schwer zu ersehen. Sofern die Satz« aber ihre geistige Verfassung betreffen, zielen sie weit über den Augenblickszustand hinaus. Höflich sind sie gesagt, die Worte über die »natürliche Lebhaftigkeit« des Geistes, der anderweitig beschäftigt werden muß, durch »Leetüre« oder »recht lange Briefe«, um nicht der Unruhe und Sorge zu verfallen; aber der Briefschreiber will charakterlichen Eigenarten steuern, die jedenfalls keine »heitere Richtung« nehmen, sondern vielmehr Furchtsamkeit und Mißtrauen heißen müssen. »Ihre Kinder sind jetzt alle auf eignen Füßen, sind gesund«, versucht Hölderlin die Mutter zu überzeugen, »[···] von allen sind Sie geliebt und verehrt, [...] an Mitteln, sich das Leben leicht zu machen, fehlt es Ihnen nicht, so bald Sie nur sich Ihren Kindern nicht opfern, und um dieser willen, aus einer Tugend, die ich Ihnen nicht vergeben kann, ihr theures Lehen durch leicht vermeitüiche Sorgen sich verkürzen wollen. [...] Ich weiß es, liebste Mutter, daß sich nicht alles vermeiden, und daß Ihr zartempfindenes Gemüth sich nicht so leicht abhärten läßt, aber Sie sollten nur nicht in einen geheimen Bund sich mit dem Schmerz einlassen, und nicht zu generös ihn in sich walten lassen. (VI, 245f.)
Der Brief ist heftig geworden, bedient sich der Unterstreichungen, des Paradoxons, der Vorwürfe im Gewand der Fürsorge. Leicht vermeidlich und lebensverkürzend werden die Kümmernisse der Mutter genannt, womit der Autor etwas ausführt, was er schon in dem zuvor besprochenen Brief leise angeklagt hatte, indem er »den Punkt der allzugroßen Traurigkeit« als christliche Pflichtvergessenheit darstellte. Den Höhepunkt diplomatischer Formulierungskunst bildet das Paradox von »einer Tugend, die ich Ihnen nicht vergeben kann«. Denn selbstverständlich ist da von keiner Tugend die Rede, sondern von der Aberration einer Tugend. Johanna Christianas Opfer- und Leidensbereitschaft 31
hatte sich in einen Leidensstolz verkehrt, in »einen geheimen Bund [...] mit dem Schmerz«, der die Unabhängigkeit der Kinder nicht hinnehmen konnte. Was muß in einem Brief gestanden haben, der mit den zitierten Sätzen beantwortet worden ist? Die Mutter wird ihren Kummer und ihre Besorgnis um die Kinder ausgesprochen und sich niedergeschlagen gezeigt haben. Im Jahr 1797 waren das jedoch - nach aller Überlieferung - in der Tat »leicht vermeidliche Sorgen«; die Tochter Heinrike war in Blaubeuren mit Professor Breunlin verheiratet und erzog unterdessen zwei gesunde Kinder; der Sohn Carl hatte in Markgröningen als Schreiber ein leidliches Auskommen; Hölderlin selbst dachte noch keineswegs daran, die wohlbestallte Hofmeisterstelle in Frankfurt aufzugeben und war seit 1795 finanziell unabhängig. Wenigstens die Kinder boten also keinen erkennbaren Anlaß zur Sorge. Vermutlich wird Johanna Christiana nach einem Vorwand gesucht haben, um ihren »Schmerz« zu objektivieren. Auf diese Weise aber nahm sie die Geschwister für ihr Wohlergehen in Haft und es wird einsichtig, warum Hölderlin diesen Opfergeist als eine Tugend bezeichnet, »die ich Ihnen nicht vergeben kann«. Mit ihrer Traurigkeit hatte sie, wie der vorhin besprochene Brief zeigt, bereits den 19jährigen erschreckt. Der hatte sich für irgendein unbekanntes Vergehen zu verantworten und begann: Es schmerzt mich äußert, liebe Mamma! daß ich Sie so traurig, und niedergeschlagen - u. zwar über mich und mein Betragen - sehen muß. Was das vergangne anbetrift, so bitt ich Sie, liebste Mamma! tausend-tausendmal um Vergebung, u. habe auch, da ich vorgerstern zu Gottes Tisch gieng, ihm insonderheit jenes abgebetten. (VI, 44f.)
Es ist für den Zusammenhang gleichgültig, was Hölderlin sich zuschulden kommen ließ. Bedeutend ist die Tatsache, daß Johanna Christiana ihrem Sohn nicht nur Vorwürfe der Sache wegen gemacht hat, sondern ihre »Traurigkeit« offenbar als Mittel zur Disziplinierung eingesetzt hat. Damit kommt eine indifferente Anschuldigung ins Spiel, die jede offene Verteidigung unmöglich macht: Indem sie sich als das eigentliche Opfer einer Fehlhandlung darstellt, kann der Sohn das eigene Verhalten nicht angemessen reflektieren, sondern muß bedrückt (»düstere Stunden«) und eingeschüchtert auf bestürzend infantile Weise Abbitte leisten. Nicht viel später, Anfang 1790, wurde Hölderlin wiederum zum Einlenken gezwungen. Er hatte das Theologiestudium zugunsten der Juristerei abbrechen wollen und das deprimierende klösterliche Zwangssystem als Hauptgrund für diesen Wunsch angegeben. Die Mutter lehnte 32
ab, und die Reaktion des Sohnes läßt darauf schließen, daß sie sich derselben subargumentativen Taktik bedient hatte wie schon acht Monate zuvor. - »Ich habe mich entschlossen«, antwortet der zerknirschte Hölderlin, von nun an in der Lage zu bleiben, in der ich bin. Der Gedanke, Ihnen unruhige Stunden zu machen, die ungewisse Zukunft, die Vorwürfe, die ich von den lieben Meinigen verdiente, u. die ich mir in redlichem Maaße selbst machen würde wann mich die Hofnung getäuscht hätte, der Rath meiner Freunde, das ekle Studium der Juristerei, die Allfanzereien, denen ich mich beim Advokatenleben ausgesezt hätte, u. von der andern Seite die Freuden einer ruhigen Pfarre, die Hofnung auf gewisse bäldere Bedienstigungen, die Vorstellung, den Seinigen zu lieb vier Järchen hindurch bei Beschwerlichkeiten gleichgültig zu sein, u. über Narrheiten zu lachen all diß bewog mich endlich, Ihnen, liebe Mamma zu folgen. Elternrath beruhigt immerhin. (VI, 48)
Wiederum ist der Student nicht überzeugt, sondern offenbar mit dem Hinweis auf »unruhige Stunden« der Mutter gefügig gemacht worden. Und ebenso offenbar scheint, daß ihm nicht einfach Gehorsam abverlangt wurde, sondern jene vollendete Unterwerfung, die geheuchelte Einsicht fordert. Denn jedes einzelne sachliche Argument, das Hölderlin zur Begründung seines Nachgebens vorbringt, ist zur Gefälligkeit entstellt. Noch kurze Zeit vorher hatte er die Jurisprudenz nüchtern als »Brodstudium« (VI, 47) eingeschätzt; es ist keineswegs glaubhaft, daß ihm die Universitätsausbildung seines Vaters oder des bewunderten Vorbilds Stäudlin nun als »das ekle Studium« erscheinen will. Auch Gleichgültigkeit gegenüber den alltäglichen Pressionen im Stift konnte er sowenig an den Tag legen wie umgekehrt Interesse an den »Freuden einer ruhigen Pfarre«. - Das Kapitulationsschreiben ist nicht unterzeichnet; Hölderlin habe, so nimmt Adolf Beck im Lesartenapparat an, »Grußformel und Unterschrift [...] vermutlich in der Eile, in der offensichtlich die letzten Zeilen geschrieben sind, vergessen« (VI, 548). Das ist möglich; möglich ist jedoch auch, daß der Absender Eile und Vergeßlichkeit nur vorspiegeln wollte, um seinen Namen nicht unter dieses in seinem Leben einmalige - Dokument der Selbstverleugnung setzen zu müssen. So endet der Brief mit der lapidaren Bemerkung: »Hier die schwarze Wäsche« (VI, 49). Es wird nun einsichtig, warum der 27jährige Frankfurter Hofmeister die Sorgen und den Opferwillen der Mutter zurückweist und vor dem »geheimen Bund mit dem Schmerz« ausdrücklich warnt. Er weiß, wie Johanna Christiana jene »Tugend, die ich Ihnen nicht vergeben kann« einsetzt: als Mittel zur Macht.
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Aber wozu wiederum gebrauchte die Frau ihre Macht? Es ist einigermaßen unsinnig, ihrer autoritären Fürsorge irgendwelche unlauteren Motive unterstellen zu wollen. Derartige Absichten setzen eine Souveränität voraus, die sich in den erhaltenen Lebenszeugnissen nicht erkennen läßt - wobei zum wiederholten Male unterstrichen werden muß, daß die wenigen überlieferten Dokumente Stoff für Hypothesen, aber nicht für eindeutige Urteile bieten. Wenn Johanna Christiana Gok Angst, Trauer und Unruhe auch ausgespielt und als Druckmittel teils zum Schaden Hölderlins eingesetzt hat, so gibt es doch auf der anderen Seite keinerlei Indizien, die Zweifel an der Aufrichtigkeit dieser Empfindungen begründen könnten. Im Gegenteil läßt schon die bloße Anzahl der verstorbenen Familienmitglieder ihre Verlustangst plausibel, ja selbstverständlich erscheinen. Zudem waren die Lebenspläne des Sohnes ihr fremd. Sie fürchtete um seine materielle Versorgung, und natürlich zu Recht, denn die literarische Produktion Hölderlins wird bis zu seiner Hospitalisierung im Autenriethschen Klinikum kaum ein paar hundert Gulden abgeworfen haben. Es war ihr wohl auch nicht begreiflich, wie ein Mensch die Schriftstellerei als Lebensaufgabe betrachten kann - wie übrigens noch kaum jemandem im 18. Jahrhundert; sie sah die Poesie höchstens als »Lieblings Studium« an und beklagt sich noch 1804 brieflich bei Hölderlins Homburger Freund Isaac von Sinclair, daß bey ihm alle Curan u. Arzneymittel nicht anschlagen könnten weil er sich nicht dahin bringen läßt, sein Lieblings Studium aufzugeben oder mit maaß zu behandeln (VI, 277).
Auch der Nürtinger Dekan Ludwig Denk urteilt am 11. März 1805 (zu einer Zeit also, da sich die Mehrzahl der Zeugen bereits von der geistigen Verwirrung Hölderlins überzeugt gab): Er hat in den Klöstern sich immer gut aufgeführt, hat gute Studia, excelliert sonderlich in der Griechischen Sprache, ist an zerschiedenen Orten Hofmeister gewesen, aber dadurch von seinem Hauptzwek, dem Studio theologico, abgekommen, wie er dann sich mit vieler Anstrengung auf Neben-Sachen gelegt, z.B. auf die Poesie, den Sophokles iibersezt, und in den Druk gegeben, und ist eben dadurch, nemlich durch das überspannte Studieren in eine solche Verwirrung seines Gemüths gerathen, daß er ganz unbrauchbar worden. (VII.2, 328)
Doch unabhängig davon, daß Johanna Christiana die Verständnislosigkeit gegenüber den Absichten ihres Sohnes nicht im anklägerischen Sinne zur Last gelegt werden kann, hat sie sich aus Kummer mehrfach berechtigt gefühlt, seine Pläne zu hintertreiben. Dies beginnt mit der energischen Ablehnung seiner Studienwünsche um die Jahreswende 1789/90; es setzt sich mit der hartnäckig wiederholten Forderung, 34
Hölderlin möge doch eine Pfarrstelle antreten und heiraten, fort; es gipfelt in dem Versuch, den 34jährigen nicht mehr aus Nürtingen fortzulassen. Seit 1802 bemühte sich Isaac von Sinclair darum, den - vorsichtig ausgedrückt - verschlossenen Hölderlin zu sich nach Homburg zu holen. Dort bot sich dem Dichter Titel und Amt eines Hofbibliothekars, dessen Ansprüche von jährlich 200 Gulden aus dem Gehalt des gräflichen Beamten Sinclair beglichen worden wären - und schließlich auch beglichen worden sind. Der Homburger Freund ahnte jedoch, daß Johanna Christiana ihren Sohn nur widerwillig aus ihrer Obhut entlassen würde: Ich weiß was ein Sohn einer so zärtlichen Mutter ist, als Sie sind, weil auch ich noch das Glück habe meine Mutter zu besizzen: ich habe also wohl überlegt, was ich Ihnen zumuthe indem ich Sie ersuche mir Ihren lieben Sohn anzuvertrauen: ich rechne aber auf das Zutrauen, das Ihre Briefe gegen mich verrathen, und das ich zu erwiedern mich bestrebe. (VII.2, 256)
Dieser Brief vom 17. Juni 1803 bringt die Gokin in einen schweren Konflikt. Das Anerbieten Sinclairs, so freundschaftlich sie es bewertet, verlangt ihr die Trennung von ihrem Sohn ab. Zwar hatte sie in einem früheren Brief eingeräumt, daß Der hiesige H. Doctor Planck u. seine [Hölderlins] übrige Freunde sagen, daß er bey uns benglichen Frauenzimer, so schonend wir ihn auch behandeln, sich nicht leicht besern werde, da wir nicht imstande sind ihn zu unterhalten, u. zu zerstreuen, so sey er zu viel sich selbst überlassen, auch nimt er weder von meiner 1. Tochter die sonst sehr viel bey ihm sich weiß beliebt zu machen, noch von mir etwas an, das ihm dienlich wäre. (VII.2, 242)
- doch weigert sie sich energisch, die Konsequenzen aus der zugegebenen Entfremdung Hölderlins von seiner Familie zu ziehen. Johanna Christiana argumentiert paradox, wenn sie sich auf der einen Seite dem Urteil des Arztes und der Freunde Hölderlins anschließt und andererseits argumentiert, die traurige umstände bey meinen 1. Sohn würden einen Besuch in Homburg unmöglich machen [...]. Ihre [Sinclairs] Großmuth, u. Freundschaft soll nicht mißbraucht werden, (ebd.)
Der aber fühlt sich gar nicht »mißbraucht«. Es beginnt ein seltsamer Disput; seltsam, weil Kontrahent und Kontrahentin sich gegenseitig an Fürsorglichkeit überbieten wollen; seltsam, weil die beiden über Hölderlin verhandeln, als wäre dessen Wille bei alldem nicht im Spiel; seltsam, weil der Briefwechsel im Wesentlichen auf die eine und entscheidende Frage nach der »Gemüths Verwirrung« des Dichters konzen35
triert ist, die von Sinclair wohl unterschätzt, von der Mutter wahrscheinlich übertrieben, von beiden aber als Mittel der Auseinandersetzung gebraucht - oder auch mißbraucht worden ist. Ursula Brauer deutet die Auseinandersetzung zwischen dem Homburger Freund und der Mutter in Nürtingen als Kampf um die Verfügungsgewalt über Hölderlin (vgl. Brauer 182-205). Von daher mußte Sinclair die Auffälligkeiten in Hölderlins Verhalten entweder bagatellisieren oder als Ausdruck eines höheren Geistes stilisieren. Johanna Christiana dagegen war sichtlich bemüht, ihren Sohn als familiären Pflegefall darzustellen; sie bedeutet dem Homburger erst vorsichtig, dann immer entschiedener, er könne den Zustand seines Freundes aus der Feme nicht in seiner ganzen Schwere beurteilen. Sinclair bestreitet das; er geht weiter und wirft der Mutter vor, den Sohn durch solche Urteile über seine Geistesverfassung gar zu kränken; Hölderlin sei doch ein viel zu fein fühlendes Wesen, als daß er nicht auch das geheimste Unheil das man über ihn fällt, im Innern des Herzens lesen sollte: und um wie bekümmerter muß ihn dieses nicht machen (VII.2, 255).
Überdies habe er noch vor wenigen Monaten in Regensburg »nie grösere Geistes u. Seelenkraft als damahls bei ihm gesehen« (VII.2, 254), auch wenn diese Einschätzung dem Befund der »dasigen Arzte« entgegenstünde. Als der einzige Freund, »der ihn und sein Schicksal ganz kennt, und vor dem er nichts verborgnes hat« (VII.2, 255), beabsichtige er ihn bald zu sich nach Homburg zu holen. Die Antwort Johanna Christiana Goks fällt geradezu panisch aus, die Einleitungssätze des Schreibens vom 4. Juli 1803 gehen ihr - mit einer Lieblingswendung Adolf Becks zu sprechen - mehrfach »zu Bruch«. Die Angst, ihren Sohn zu verlieren, ist überdeutlich; andererseits verpflichtet sie Sinclairs Angebot, die wirtschaftliche und persönliche Sorge für Hölderlin zu übernehmen, zu Dankbarkeit. Eine Mischung aus Unterwürfigkeit, Verwirrung und Furcht bestimmt die Tonart des Briefes: Ihnen die Empfindungen bey Lesung Ihres mir so schäzbaren, u. unvergeslichen Briefs, und auch wieder Ihre edle Absicht, doch dieses erlauben Sie mir doch, daß meine Dankbarkeit, die mir unzählbare Thränen über den Ihnhalt Ihres schäzbaren Briefs fließend macht noch oft vor so viele von uns unverdiente Beweise von Liebe, u. Gewogenheit, die Sie vor Ihren Freund meinen unglücklichen Sohn haben vor Ihr W o h l zu dem reichen Vergelder im Himmel fliesen. Laider werden Euer Wohlgeboren aus dem Schreiben meines 1. Sohns seinen Traurigen Gemüths Zustand sehen, und wolte der 1. Gott es wäre noch nicht so weit mit ihm gekomen, u. so wie Sie es vermuthen oder vielmehr aus Liebe vor Ihren unglücklichen Freund es wünschen. Bloß die Hoffnung daß es noch möglich wäre, daß er wieder mit der Hülfe des Herrn noch genesen könnte, erhält mich aufrecht. (VII. 2, 258)
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Hier ist eine Zwischenbemerkung erforderlich, denn Hölderlins »Gemüths Zustand« zwischen 1802 und 1806 stellt sich nach den Quellen durchaus nicht einheitlich dar oder jedenfalls nicht so uneingeschränkt »Traurig[ ]«, wie ihn die Mutter schildert. Mit Sinclair glaubte auch der Stuttgarter Freundeskreis um Christian Landauer, daß Hölderlins Verfassung auf die Schicksalsschläge des Jahres 1802 - namentlich auf den Tod Susette Gontards - zurückzuführen sei und sich bald bessern werde. Ebenso waren sie, einem Regest Gustav Schlesiers zufolge, noch im Juni 1804 der Meinung, daß seine Abreise von Nürtingen u. seine Anstellung in Homburg für seinen Gemütszustand wo nicht eine sehr glückliche, doch wenigstens keine nachtheiligen Folgen haben werde (VII.2, 284).
Schelling hatte sich ein Jahr zuvor entschiedener geäußert und Hegel in einem Brief aus Cannstatt mitgeteilt: Der traurigste Anblick, den ich während meines hiesigen Aufenthalts gehabt habe, war der von Hölderlin. Seit einer Reise nach Frankreich [...] ist er am Geist ganz zerrüttet, und obgleich noch einiger Arbeiten, z.B. des Ubersetzens aus dem Griechischen bis zu einem gewissen Puñete fähig, doch übrigens in einer vollkommenen Geistesabwesenheit. Sein Anblick war für mich erschütternd: er vernachlässigt sein Außeres bis zum Ekelhaften und hat, da seine Reden weniger auf Verrükkung hindeuten, ganz die äußeren Manieren solcher, die in diesem Zustande sind, angenommen. - Hier zu Lande ist keine Hoffnung ihn herzustellen. (VII.2, 261f.)
Hegel hat sich in seinem Antwortschreiben vom 16. August der Prognose Schellings angeschlossen und zugleich verdeutlicht, was »Hier zu Lande« bedeutet: »das sonstige platte und interesselose Wesen, das dort« - in Stuttgart nämlich wie auch in Schwaben allgemein - »zu Hause ist« (VII.2, 263). Doch all diese Urteile sind von geringer Einsicht in das Denken und die Arbeit Hölderlins getragen; dies gilt besonders für Schelling, der am 14. Juli 1804 wiederum Hegel die folgende Mitteilung machte: »Seinen verkommenen geistigen Zustand drückt die Ubersetzung des Sophocles ganz aus« (VII.2,296). Wer, wenn nicht Schelling: der Nürtinger Schulkamerad, Stiftskompromotionale und philosophische Freund - hätte die Bemühungen Hölderlins denn sonst begreifen sollen? Die Übertragung der sophokleischen Tragödien >Antigone< und >Odipus der Tyrann< gelten ebenso wie ihre Kommentierung heute nicht nur als Schlüsselwerke für das Verständnis der geschichtsphilosophischen und dichtungstheoretischen Haltung des Dichters, sondern auch als eine der eigenwilligsten und interessantesten Leistungen dieses Genres am Anfang des 18. Jahrhunderts; keine Rede davon, daß sie einen »verkommenen geistigen Zu37
stand« ausdrücken. Auch die eigene Lyrik nach 1802 wird längst nicht mehr als minderes Nachspiel des früheren Schaffens begriffen, sondern als einer der Gipfelpunkte des Werks: prominente Titel wie >PatmosFriedensfeierHälfte des LebensAndenkenDer Einzigem >Der IsterMnemosyne< und viele andere mehr gehören in diese Arbeitsperiode. An den Werken Hölderlins läßt sich der beginnende Wahnsinn jedenfalls nicht verifizieren - und ebensowenig an den sieben erhaltenen Briefen aus dem Zeitraum vom Sommer 1802 bis 1804. Das allgemeine und totale Unverständnis für das poetische und philologische Spätwerk dürfte für die Bewertung der Zeugenaussagen nicht ganz nebensächlich sein. Wenn Schelling maßgeblich aufgrund der Sophokles-Übersetzungen geistige Verkommenheit diagnostiziert, so ist dieses Attest dank der Verständnislosigkeit seines Urhebers auch schon hinfällig. Was für sicher gelten kann, ist dagegen wenig: Hölderlins Desinteresse für »Außeres«, also Kleidung und Körperpflege, gehört dazu, sowie eine gewisse Initiativlosigkeit, wie sie aus dem weitgehenden Abbruch der Korrespondenz oder aus der passiven Haltung zur Übersiedlung nach Homburg zu sprechen scheint; dem scheint eine allgemeine Kontaktscheu in Nürtingen zu entsprechen. Die Entfremdung von der Familie ist, wie gesagt, von Johanna Christiana selbst bezeugt und wohl auch von Freunden beobachtet und gemeint worden, wenn sie zum Ortswechsel rieten. Ob diese Indizien zureichen, eine psychotische Charakterveränderung bereits als gesichert anzunehmen, muß - vor allem angesichts der enormen intellektuellen Konzentration des Spätwerks - offen bleiben. Aus dem Rückblick, aus der Perspektive des Totalzusammenbruchs von 1806, fällt es allerdings schwer, in diesen Auffälligkeiten nicht zumindest pathologische Tendenzen zu erkennen. Genau dorthin aber zielt der Ehrgeiz Johanna Christiana Goks. Möglicherweise kann sie die Zurückweisung durch ihren Sohn (»auch nimt er weder von meiner 1. Tochter [...] noch von mir etwas an«) nur ertragen, indem sie ihn für mehr oder minder unzurechnungsfähig erklärt; doch grenzen solche Spekulationen an Vulgärpsychologie. Deutlich zu beobachten ist dagegen, daß sie Hölderlins Hilflosigkeit nicht nur in Briefen behauptet, sondern faktisch seine Entmündigung betreibt. Sie kommt um ein Gratial (vgl. Schäfer, 283-305) wegen der »Kränklichkeit« ihres Sohnes ein, begleicht hinter seinem Rücken eine offene Rechnung, ohne daß der Gläubiger auch nur angefragt, geschweige denn gedrängt hätte; und zwar, obwohl sie weiß und eigens darauf hingewiesen wird, daß dies nicht im Sinne ihres Sohnes ist. Landauer im Juli 1802:
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Ich bitte Sie aber, so sehr ich Sie immer bitten kann, doch ja unter keinen Umständen und nie ihm zu sagen, daß Sie mich bezalt haben. Wenn Er mir Geld senden sollte, so werde ich es annehmen, und Ihnen immer wieder zustellen. [...] Sie dürfen Sich durchaus nicht mit der Berichtigung dieses Postens geniren, denn ich wünschte sogar, daß Sie mir erlauben möchten, daß H. noch mein Schuldner bliebe (VII.2, 231).
Im März 1804 greift sie wiederum heimlich in die Geschäfte des Sohnes ein und bittet den Frankfurter Verleger der >Trauerspiele des Sophoklesselbstlose< Frau war Johanna Christiana Gok, solange es um ihren ältesten Sohn ging, sicher nicht. Die Methoden, mit denen sie ihn zu halten und zu bestimmen suchte, können schwerlich rücksichtsvoll genannt werden. Doch die Frage, wie ihre handlungsleitenden Bedürfnisse und Ängste, wie ihre im Ergebnis anmaßende Liebe zu bewerten sind, ist kaum zu beantworten. Noch einmal und weil es gar nicht oft genug betont werden kann: aufgrund von zehn Briefen, zwei Ausgabenlisten und einigen testamentarischen Aufsätzen darf ein Leben von beinahe 80 Jahren nicht abschließend beurteilt werden; aus wissenschaftlichen wie aus moralischen Gründen gilt hier ein erheblicher Irrtumsvorbehalt. Was aber reflektiert werden kann und sich im Falle der Unzulänglichkeit nicht auf Stoffmangel berufen darf, sind die Urteilskriterien. Und genau in dieser Hinsicht treffen sich die Kontrahenten Adolf Beck und Pierre Bertaux. Wo der eine die Selbstlosigkeit der Gokin herausstellt und rühmt, bezweifelt der andere eben jene Selbstlosigkeit und klagt das an. Seltsames Maß! Wollte man es auf Hölderlin anwenden, das Ergebnis wäre betrüblich. Zwei Verlobte verlassen, Freunde enttäuscht, Ehebruch begangen - wo nicht physice, so doch moraliter - , der Familie auf der Tasche gelegen: Doch niemand rechnet dem Mann, dessen Bedürfnisse sozialen Tugenden wenigsten zum Teil entgegenstanden, derartiges an. Seine Arbeit befugt ihn zu Egoismen, und übrigens soll das hier auch nicht in Abrede gestellt werden. Es ist gar nicht einzusehen, weshalb der Dichter ein ungeliebtes Amt antreten, eine Zweckehe beginnen, Langweiler bedienen oder ein Leben nach den Begriffen der schwäbischen Ehrbarkeit des späten 18. Jahrhunderts führen sollte. Nur ist auch nicht einzusehen, was die Frau auf Selbstlosigkeit verpflichten sollte. Es ist ihr weder Geiz noch Lieblosigkeit nachzusagen, sofern es um den Erstgeborenen ging. Freilich lassen sich ihr Fehler nachweisen; es sind aber Fehler, die ihr 42
aus elementaren Bedürfnissen erwuchsen, wobei stets vier tote Kinder und zwei frühverstorbene Ehemänner mitzubedenken sind: und die Wertbegriffe der Ehrbarkeit, von denen Johanna Christiana Gok sich zu lösen keine Gelegenheit hatte; vor denen ihr Sohn - und damit auch ihre Lebenspläne - gescheitert waren. Daß ihre Bedürfnisse mit denen Hölderlins in Konflikt gekommen sind, daß ihre Methoden nicht eben elegant waren, kann ebenfalls nicht bestritten werden. Doch ist hier weder Dispens zu erteilen noch der Stab zu brechen: Das Mutter-SohnVerhältnis wird als Dilemma noch am ehesten zu begreifen sein.
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Auszug und Verweigerung
Jezt zur Sache Der unglükliche Hölderlin war schon im Muterleibe zum Mißgeschük bestirnt. A l s seine Mutter mit Ihm schwanger war, that Sie ein gelübte soll es ein Sohn sein ihn dem Herrn zu bestimen wie sie sich ausdrükte, nehmlich ein Theologe zu werden (VU, 3; 132).
Wem Ernst Zimmer, der Tübinger Kostherr des entmündigten Friedrich Hölderlin, im Dezember 1835 diese Nachricht zukommen ließ, ist ebenso unbekannt wie die Antwort auf die Frage, woher er sie hatte. Sie kann Legende sein, ein aufgeschnapptes an dit, wie manches in dem langen Brief, wo sie zu finden ist. Die Formulierung »wie sie sich ausdrükte« könnte bedeuten, daß Johanna selbst von einem derartigen »gelübte« geschrieben hatte, wobei - gemessen an den erhaltenen Briefen Zimmers - der persönliche Ton, den eine solche Mitteilung wohl voraussetzt, für die Korrespondenz von Mutter und Kostherr nicht anzunehmen ist. Richtig ist jedoch, daß Johanna Christiana Gok ihren Ältesten zur Theologie bestimmt hatte und diesen Vorsatz mit einer Energie verfolgte, als ob sie durch ein »gelübte« verpflichtet gewesen wäre. Und richtig ist auch, daß dieser Entschluß an Hölderlins »Mißgeschük«, am Scheitern seiner bürgerlichen Existenz also, Anteil hatte. Noch der erwachsene Mann mußte seine Entscheidungen mit Rücksicht auf das Konsistorium treffen, dem er durch das Stipendium verpflichtet war; ein Stipendium, das ihn gleich nach der Konfirmation auf die niedere Klosterschule Denkendorf, dann auf die höhere in Maulbronn und schließlich zum Theologiestudium ins Tübinger Stift geführt hatte. Diese Gratisausbildung wurde jährlich etwa 50-60 Schülern zuteil, die ihre Begabung zuvor im Stuttgarter Landexamen unter Beweis gestellt hatten. Die 14- und 15jährigen bezogen dann die niederen Klosterschulen und verpflichteten sich im Gegenzug mich auf keine andere Profession, dann die Theologiam zu legen, und in allweg mit Gottes Gnade dahin zu arbeiten und zu richten, damit Ihrer Hoch-Fiirstl. Durchlaucht oder Deroselben Landschafft, wie auch ausländischen Herrschafften, und also wohin ihre Hoch-Fürstl. Durchlaucht mich zu leihen, oder zu verschicken befehlen werden, ich bey Kirchen oder Schulen, als ein Kirchen- oder SchulDiener zu gebrauchen seyn möge [...] und unerlaubt in keine andere Dienste mich
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einzulassen, auf den widrigen Fall aber [...] Ihrer Hoch-Fürstl. Durchl. alle und jede in Deroselben Closter-Schul und Stipendio zu Tübingen à dato meiner Reception auf mich gewendete Unkosten, und zwar für jedes Jahr, allein für die Kost, Sechzig Gulden ohngeweigert und vollkommentlich zu refundiren, und wieder zu erlegen [...] (VILI, 355f.).
Dies der Anfang vom »Mißgeschük«. Hölderlins früh formulierte Abneigung gegen das Klosterschul- und Stiftssystem stellt beileibe keine Ausnahme dar. Folgt man den erhaltenen Schilderungen früherer oder späterer Alumni (Zöglinge), so erscheinen die Internate beinahe durchwegs als Pressionsanstalten. Eher noch launig hatte sich ein entfernter Onkel Hölderlins 1757 ausgelassen: Noch bin ich, wie Prometheus am fernen kaukasus Berge, An Clösterliche Mauren geschmiedet. Wo mir lateinische Sorgen, Monaden und Zänkische kezer, Wie jenem der Adler, das Herze zerfleischen. Wo Schwermuth die Jugend erstikt, nicht durch die Porzen verjaget Und nicht im feindlichen böchser ersäuft. Erlösten Donquixote nicht aus bezauberten Schlössern Verwünschte Mädchen nach RitterGebrauch? Noch einmahl entsage dem Rost o lanze u. rette die Freyheit Verwünschte Jünglinge Seufzen um Sie. (VILI, 264)
Weitaus drastischer äußerst sich dagegen ein Kommilitone und Freund Hölderlins, der um zweieinhalb Jahre ältere Rudolf Magenau: Das theol. Stift war mir von der ersten Stunde an bis zu meinem Abschiede unerträglich. Uberai Unordnung, und Planloßigkeit. Tausend Demüthigungen für den guten Kopf, alte mönchische Etiquette, ein Regiment nach keinem vesten Masstabe [...] (VILI, 386).
Auch Karl Philipp Conz attestiert dem Stift 1786 »so viel niederdrükkendes geisttödtendes« (VILI, 388); ein Urteil, das im 19. Jahrhundert immer wieder bekräftigt und schließlich in Hermann Hesses Jugendroman >Unterm Rad< ausführlich begründet werden wird. Aber die allgemein mißgünstigen Meinungen über die theologische Einrichtung, die Martin Leube (115-139) besonders für den Zeitraum der Französischen Revolution ausführlich referiert hat, können hier beiseite bleiben. Sie sprechen alle mehr oder minder den Grundwiderspruch eines Systems aus, dessen Zöglinge zwar eine brilliante philologische und philosophische Ausbildung erhielten, gleichzeitig aber die entwürdigendste Behandlung erdulden mußten. - »Wie erschrak ich«, notiert Magenau in seinen Erinnerungen, als ich zum erstenmal die Stimme des Prälaten vernahm, der uns, eines Augenbliks wegen, den wir zu spät von dem SpazierGange ins Closter zurükgekehrt waren, mit Rejekzion und mit schröklicher Einkerkerung drohte! (VILI, 332).
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Hölderlins Freund zählt noch weitere Nichtigkeiten auf, die Bestrafung nach sich ziehen konnten - und auch das sicherste Mittel, um sie abzuwenden: »Den grösten Fehler vergütete ein beschwerter Brief vom Vater des Verbrechers«. Aber selbst wenn Magenaus Schilderungen übertrieben sein mögen und Hölderlins wenige Bestrafungen - sie bestanden in ein- oder zweimaligem Entzug des Tischweins - ebenso lächerlich geringfügig waren wie die Vergehen, sprechen sie doch von einer Atmosphäre erniedrigender Bevormundung. Ob die Pastorentochter Johanna Christiana Gok schon während der Schwangerschaft über die spätere Laufbahn ihres ersten Kindes entschieden hatte, steht dahin. Erst 1776, mit der Einschulung Hölderlins, läßt sich dieser Entschluß belegen: Der Sechsjährige besucht die Lateinschule und erhält vom achten Jahr an zusätzlich Privatunterricht, der vermutlich zur Vorbereitung des Landexamens dienen sollte. Ganz sicher ist das nicht, denn die Ausgabenliste, der diese Daten entnommen sind, verzeichnet nur den Preis, nicht aber den Inhalt der außerschulischen Lehrstunden. Und ergänzenden Unterricht erhielt auch der jüngere Stiefbruder in gleichem Umfang, wie aus einer analogen Liste »Vor den L. Carl« hervorgeht, für den »Vom 6 bis zum 14 Jahr« »Vor Schul geld u Privat Unterricht bey HE. Colaborator, Magister, Precebtor. HE. Helffer, u. Reallehrer« sogar noch einige Gulden mehr aufgewendet werden und der ebenso wie Hölderlin das »Claffier schlagen« erlerat (StAN, Inventuren und Theilungen Nr. 8193, Fase. IV Nr. 27). Es ist nicht anzunehmen, daß Johanna Christiana Gok auf ihren Altesten Druck ausüben mußte, um ihn zum Besuch der Klosterschule zu bewegen. Nathanael Köstlin - jener »Helffer«, der Hölderlin »vom 12 biß ins 14 Jahr taglich 1 stund« (VILI, 281) unterwiesen hatte - wird dem Jungen als Vorbild vor Augen gestanden haben. Wenigstens bekennt der Denkendorfer Schüler im November 1785 - es ist das erste erhaltene Schreiben von seiner Hand - dem Theologen eine solche Ehrfurcht und Liebe zu Ihnen, daß ich, es aufrichtig zu sagen, Sie nicht anders, als wie meinen Vater betrachten kan. (VI, 3)
Vermutlich hat die. Gestalt Köstlins den 14jährigen hinreichend für eine Kirchenlaufbahn motiviert; es dürfte daher nicht nötig gewesen sein, andere Uberzeugungs- oder gar Pressionsmittel zu gebrauchen.
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Eine verkleinerte Kopie dieser Liste findet sich auch bei Carstanjen (S. 56), die im Text jedoch nur auf den Titel Bezug nimmt. Die Lesart »For« (»For den L. Carl«) ist eindeutig falsch.
In diesem Brief an den väterlichen Lehrer und Vertrauten sind freilich auch schon jene Probleme keimhaft enthalten, die Hölderlin schon bald dem Klosterleben entfremden und schließlich zu einer ablehnenden Haltung gegenüber dem Pfarrdienst im besonderen und der Kirche im allgemeinen führen werden. - »[...] wie man doch Klugheit in seinem Betragen, Gefälligkeit und Religion verbinden könne« (VI, 3), erkundigt er sich bei Helfer Köstlin und gesteht ein: »Es wollte mir nie recht gelingen; immer wankte ich hin und her« (ebd.). Er spricht dann von Momenten der Erhebung, die ihn gar glauben ließen, nun »der rechte Christ« zu sein; doch wären diese Zustände instabil und vor allem nicht eben nächstenfreundlich: »[...] ich konnte niemand um mich leiden, wollte nur immer einsam seyn [...]« (ebd.). Auch die Klugheit führe ihn zur Menschenverachtung und wenn er sich dagegen wehre, »so bestrebte ich mich vor den Menschen zu gefallen, aber nicht vor Gott« (ebd.). In der Manier pietistischer Selbstprüfungen erklärt der Briefschreiber den Konflikt von Einsam und Gemeinsam aus der eigenen inneren Unreife. Doch bleibt dies nicht lange so. Schon bald erkennt und bezeichnet Hölderlin die Umstände genauer, die seine Integration in den Internatsalltag verhindern. Ein »Ansaz von meinen Knabenjahren [...], so eine wächserne Weichheit« sei ihm noch die liebste seiner Eigenschaften, aber eben dieser Theil meines Herzens wurde am ärgsten mishandelt so lang ich im Kloster bin [...] - und daher hab ich einen traurigen Ansaz zur Roheit [...]. Hier mag mich keine Seele. (VI, 7)
Die Jugendbriefe an Immanuel Nast dürften allesamt ein wenig überhitzt sein; sie sind überdies in jener von Gedankenstrichen zerfetzten Prosa der Schillerschen >Räuber< geschrieben, in der jeder Einfall, jede Erwägung von einem affektiven Schub begleitet wird und zu der Einschränkungen und moderate Töne so wenig passen wollen. Der 17jährige Hölderlin hat diesen Stil ganz offenbar für nachahmenswert gehalten: Denn sage mir, Freund, warum soll ich mir um meine besten Absichten Pallisaden sezen, meine unschuldigste Handlungen für Verbrechen auslegen lassen - daß es doch so schlechte Menschen giebt, unter meinen Cameraden so elende Kerls [...]. Wenn ich nur auch einmal etwas recht lustiges schreiben könnte. Nur Gedult! 'S wird kommen - h o f f ich - oder - oder - hab ich dann nicht genug getragen? (VI, 8f.)
Auch wenn der auftrumpfende Ton der Leidensbekenntnisse ein forciertes Pathos verrät: das Gefühl der Einsamkeit ist glaubhaft. Und im Frühjahr 1787 taucht dann zum erstenmal der Wunsch auf, die Theologenausbildung abzubrechen. Wie er formuliert und vorgetragen wurde 47
und wie die Mutter darauf reagierte, ist nicht bekannt; schriftlich erhalten hat sich nur das einlenkende Schreiben Hölderlins: Sie können mirs jezt gewiß glauben [...] daß mir nie mehr der Gedanke kommen wird aus meinem Stand zu tretten - Ich sehe jezt! man kann als Dorfpfarrer der Welt so nüzlich, man kann noch glüklicher sein, als wenn man, weis nicht was? wäre. (VI, 13)
Nun, er wußte da schon was, aber die Schriftstellerei konnte er der Mutter nicht ernstlich als Alternative vorschlagen; auch zwei Jahre später hat er sich nicht so weit vorgewagt, sondern nur gebeten, statt der Theologie Jura studieren zu dürfen. Hölderlin insistiert nicht offen auf seinen Wünschen, sondern schildert der Mutter stattdessen beklagenswerte Maulbronner Zustände: die Ernährung sei erbärmlich, manche Schüler - suggeriert er geschickt hätten deshalb gar schon Schulden gemacht (auch möge die Adressatin verzeihen, daß er auf so schlechtem Papier schreibe ...), der Prälat sei launenhaft und ungerecht usw. Wenig später beklagt er sich noch einmal bei Nast: Hier halt' ichs nimmer aus! nein wahrlich! Ich muß fort - ich habe mir vest vorgenommen, entweder meiner Mutter morgen zu schreiben - daß sie mich gar aus dem Closter nimmt, oder den Prälaten um eine Curzeit von etlich Monathen zu bitten, weil ich öfters Blut auswerfe. (VI, 16)
Es nicht klar, ob Hölderlin das eine oder das andere getan hat. Erst im November 1789 tritt er dann wieder mit seiner Bitte hervor; sie datiert bereits aus dem Stift: Sie sehen, liebste Mamma, meine körperliche, und Seelenumstände sind verstimmt in dieser Lage; Sie können schließen, daß der immer wärende Verdruß, die Einschränkung, die ungesunde Luft, die schlechte Kost, meinen Körper vieleicht früher entkräftet, als in einer freiem Lage. Sie kennen mein Temperament das sich eben weil es Temperament ist, schlechterdings nicht verläugnen läßt, wie es so wenig für Mishandlungen, für Druk und Verachtung taugt. [...] [S]oll ich einst sagen müssen >meine Universitätsjahre verbitterten mir das Leben auf immer.« (VI, 45f.)
Aber all diese Vorhaltungen führen nur dazu, daß Johanna Christiana »den Rath einsichtsvoller Männer« (VI, 47) sucht und sich schließlich wie aus dem im vorangegangenen Abschnitt zitierten Antwortschreiben Hölderlins ersichtlich - entschieden gegen einen Wechsel in die Juristerei ausspricht. Neben dem Hinweis auf ihre »unruhige[n] Stunden« wird sie wohl auch die Tugend des Erduldens ins Spiel gebracht haben, die in der Verständigung von Mutter und Sohn einen bedeutenden Platz hatte, - »denn wenn ich dulden will, darf ich nur ihrem Beispiel folgen« (VI, 53). Wieviel zu erdulden ist, verschweigt Hölderlin auch weiterhin 48
nicht, doch mildert er die Klagen deutlich ab. In den folgenden Briefen ist nun vermehrt von Geld die Rede; die Mutter ist offenbar mißtrauisch und verlangt detaillierte Rechenschaft. Es ist bereits erwähnt worden, daß Hölderlin spätestens seit dem Revolutionsjahr 1789 nicht mehr ernsthaft daran dachte, auf die »Freuden einer ruhigen Pfarre« hinzuarbeiten. Was er der Mutter darüber schrieb, war rein zu ihrer Beruhigung gedacht, - »Daß ich noch im Kloster bin ist Ursache die Bitte meiner Mutter. Ihr zu lieb kann man wol ein paar Jahre versauren« (VI, 71), heißt es offen im November 1791. Und vorsichtig bereitet er die Frau darauf vor, daß eine bürgerliche Laufbahn nicht in seinem Sinne liegt: »Bei Gelegenheit muß ich Ihnen sagen, daß ich seit Jar und Tagen fest im Sinne habe, nie zu freien. Sie können's immerhin für Ernst aufnehmen« (VI, 68). Doch Johanna Christiana wird diese Erklärung, die der Sohn mit seinen charakterlichen Eigenarten begründet, sowenig anerkennen, wie seine spätere Weigerung, in den Pfarrdienst einzutreten. Wenigstens akzeptiert sie im Sommer 1793 Hölderlins Wunsch, nach Ende des Studiums für eine Weile als Hofmeister zu leben und nicht sogleich eine Vikarsstelle anzunehmen. Glauben Sie, liebe Mamma, daß es gewiß kein Schwindelgeist ist, der mich solch einen Bestimmungsort auf eine kleine Zeit wählen läßt (VI, 90),
beteuert der Sohn, der mit Sicherheit von der »kleinefn] Zeit« andere Vorstellungen hegte als die Gokin, die dem ganzen Unternehmen mit einer gewissen »Unruhe« (VI, 91) gegenüberstand. Jedenfalls gab das Konsistorium den gerade Examinierten los und nahm am 6. Dezember 1793 zu Protokoll, es werde dem M. Hölderlin gestattet eine Parastatur [Hofmeisterstelle] bei dem v. Kalb [...] bei Jena auf 3 Jahre anzunehmen wobei er zum Predigen und Fortsetzung s. Studien erinnert. (VII.l, 478)
Aber Johanna Christiana insistierte auf ihren Vorstellungen. Bereits im Dezember 1794, ein Jahr nach der Abreise aus Württemberg, hatte Hölderlin sich zum erstenmal gegen den Vorschlag der Mutter zu wehren, er möge doch eine Pfarrstelle in Neckarhausen bei Nürtingen antreten. Sein Abschied als Hofmeister steht kurz bevor und damit auch die Entlassung in finanziell ungesicherte Verhältnisse. Dennoch lehnt er das Angebot ab, da es mit meinen jezigen Beschäftigungen und mit dem Fortgange meiner Bildung zu unvereinbar ist, als daß es nicht eine mißliche Revoluzion in meinem Karakter bewirken müßte. (VI, 145)
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Und er fügt hinzu: »Auch ferne ist man sich nahe, liebe Mutter!« (ebd.). Denn soweit aus den Antwortbriefen zu ersehen ist, war Johanna Christiana anhaltend bestrebt, den Sohn wieder in ihre Nähe zu holen. Hölderlin hat es mitzuverantworten, daß die Mutter nicht aufhörte, ihn zum Kirchendienst zu drängen. Eine offene Absage hat er ihr niemals erteilt, sondern sie stattdessen hingehalten und mit Eventualitäten vertröstet; so in seinem »dreißigsten Jahre« hielte er eine kleine Landpfarre für bekömmlich, heißt es in dem Dezemberbrief von 1794. Und noch im Januar 1799 bittet er sich einige weitere Jahre aus, obwohl er längst entschieden hat, sich dieser Laufbahn zu verweigern. Anfang 1795 entfaltet er Johanna Christiana seine Zukunftspläne, noch unentschlossen, ob er in Jena Vorlesungen halten oder eine weitere Hofmeisterstelle suchen soll. Diese neuen Hoffnungen, die literarischen Pläne, die prompte Zurückweisung ihres Vorschlags und schließlich auch die Tatsache, daß ihr Sohn weiterhin in Jena zu bleiben beabsichtigt, dürften die Mutter verwirrt und sie zu jener ängstlichen Erkundigung verleitet haben, die Hölderlin am 22. Februar beantwortete: Sie fragen, ob ich Sie lieb habe, könnten Sie in mein Herz sehen! Ich bin gewis, daß mir diese innige Anhänglichkeit an Sie bleiben wird, so lang ich das Gute lieben werde. (VI, 158)
Mitte Juni des Jahres kehrt Hölderlin zurück nach Nürtingen und wird dort mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit an seine theologische »Bestimmung« gemahnt worden sein. Doch bemüht er sich umgehend wieder um eine neue »Prästatur«; der Aufenthalt in der Heimatstadt ist offenbar von »Maladie und Verdruß« (VI, 180) gekennzeichnet; »Ich friere und starre in dem Winter, der mich umgiebt«, heißt es in dem berühmten Brief an Schiller vom 4. September, und: »So eisern mein Himmel ist, so steinern bin ich« (VI, 181). Vor allem die Furcht vor dem Konsistorium quält ihn, und so mahnt er im November den Heidelberger Arzt Johann Gottfried Ebel dringend, ihm die erwartete Hofmeisterstelle in Frankfurt so rasch wie möglich zu verschaffen: Es ist Ihnen wohl unbekannt, wie sehr w i r Wiirtembergischen Theologen von unserm Konsistorium dependiren; unter anderem disponiren diese Herrn auch über unsern Aufenthalt. Weil ich nun nicht gerade in einer öffentlichen Beschäfftigung begriffen bin, so muß ich erwarten, mit nächstem [...] zu einem Pfarrer geschikt zu werden [...]. (VI, 183).
Und Neuffer gegenüber klagt er: Wär ich doch geblieben, wo ich war. Es war mein dümmster Streich, daß ich ins Land zurükgieng. Jezt find ich hundert Schwierigkeiten, nach Jena zurükzugehn;
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man konnte mir keine Gewalt anthun, wenn ich blieb, jezt müßt ich Wunderdinge hören, wenn ich wieder hin wollte. (VI, 187)
Die »unsichtbare[ ] streitende[ ] Kirche« (VI, 185), der er sich mit Ebel zurechnet, ist nicht die Kirche des Konsistoriums und schon gar nicht diejenige Johanna Christiana Goks, sondern eine von »Vernunft und Freiheit« (Hegel an Schelling, Ende Januar 1795 (= Hegel 18)) bestimmte: [I]ch glaube, es wäre interessant, die Theologen, die kritisches Bauzeug zur Befestigung ihres gotischen Tempels herbeischaffen, in ihrem Ameisen-Eifer so viel [als] möglich zu stören, ihnen alles [zu] erschweren, [sie] aus jedem Ausfluchtswinkel herauszupeitschen, bis sie keinen mehr fände[n] und sie ihre Blöße ganz zeigen müßten (Hegel 17).
Wie kategorisch auch Hölderlin sich der Stiftstheologie verschlossen hatte, belegt ein Brief an Hegel vom 24. Oktober 1796. Wenn wir einmal auf dem Sprunge sind, H o l z zu spalten, oder mit Stiefelwachs und Pomade zu handeln, dann laß uns fragen, ob es nicht etwa doch besser wäre, Repetent in Tübingen zu werden. Das Stipendium riecht durch ganz Würtemberg und die Pfalz herunter mich an, wie eine Bahre, worinn schon allerlei Gewürm sich regt. (VI, 220)
Der Mutter dürften derartig scharfe Urteile schwerlich zu Ohren gekommen sein. Denn kurz darauf versucht sie ihn zur Annahme einer »Präceptoratstelle« - also eines Lehramtes - an der Niirtinger Lateinschule zu bewegen, wohl vor allem, um den Sohn wieder zurückzuholen. Und das erste, was Hölderlin in seinem Frankfurter Antwortschreiben vom 20. November beteuert, ist denn auch die »Verläugnung«, die es ihn koste, die »tägliche Gegenwart« seiner Mutter »entbehren zu müssen« (VI, 224). Doch dann begründet er seine Ablehnung. Die gerade begonnene Erziehung des achtjährigen Henry Gontard erlaube ihm die Abrase nicht; außerdem möge Johanna Christiana seine labile Gesundheit bedenken, und wie er »am Gemüthe litt, den Sommer über, den ich in Nürtingen zubrachte« (VI, 225). Schließlich würde er die Konkurrenz von Amt und literarischer Arbeit nicht verkraften: zu deren Bedeutung er sich vor der Mutter im vorliegenden Brief erstmals offen bekennt. Es hilft nichts. Schon im darauffolgenden Januar muß Hölderlin erneut eine mütterliche Offerte zurückweisen; diesmal schlägt sie ihm die Einheirat in eine Pfarre vor. Er betont seine charakterlichen Eigenarten, die ihn »zu irgend einem festen häuslichen Verhältniß« (VI, 232) untauglich machten und führt noch einige nachgeordnete Argumente ins Feld, damit die neuerliche Ablehnung nicht zu schroff wirke; weil sie allesamt 51
nur vorgeschoben sind, damit das kategorische Nein nicht ausgesprochen werden muß, können sie hier beiseite bleiben. Johanna Christiana scheint sich daraufhin mit konkreten Vorschlägen zurückgehalten zu haben. Aber den Briefen ihres Sohnes ist immer wieder der anhaltende Rechtfertigungsdruck anzumerken. Wenn es um das heikle Thema der Versorgung geht, betont er vorbeugend seine Abneigung gegen die »Kanzel, die ich nicht betreten mag, weil sie zu himmelschreiend entweiht wird« (VI, 268) oder gegen die »Schriftgelehrten und Pharisäer unserer Zeit«, ja, gegen die »Theologen von Profession« (VI, 309 u.310) überhaupt. Wahrscheinlich hofft Hölderlin, daß die Mutter diese Äußerungen richtig verstehen wird und ihm so das verletzend deutliche Nein zum Kirchendienst erspart bleibe. Doch Johanna Christiana läßt sich ihre Hoffnungen nicht so leicht nehmen, zumal der Sohn sie unaufrichtigerweise nährt. Am 28. November 1798 (und ähnlich auch im Januar 1799) versichert er, der inzwischen als freier Schriftsteller in Homburg lebt: Meine jezige Arbeit soll mein lezter Versuch seyn, liebste Mutter, auf eignem Wege, wie sie es nennen, mir einen Werth zu geben; mislingt mir der, so will ich ruhig und bescheiden, in dem anspruchlosesten Amte, das ich finden kann, den Menschen niizlich zu werden suchen, ich will das Streben meiner Jugend für [...] übertriebene Neigung [nehmen], aus der Sphäre mich zu entfernen, die mir vorgeschrieben ist [...] (VI, 292).
Was sollte dies für die Gokin anders heißen, als daß er unter Umständen endlich in den Kirchendienst einzutreten bereit sei? Zu der Sorge um Amt und Brot gesellte sich bald noch eine andere. »Liebste Mutter!«, heißt es in einem Brief vom 11. Dezember 1798, Sie haben mir schon manchmal über Religion geschrieben, als wüßten Sie nicht, was Sie von meiner Religiosität zu halten hätten. (VI, 297)
Hölderlin beteuert emphatisch seine Loyalität zum Credo der Mutter. Doch der hohe Ton stimmt mißtrauisch; er schlägt ihn stets an, wenn er der Mutter widersprechen will. So auch hier. O meine Mutter! es ist etwas zwischen Ihnen und mir, das unsere Seelen trennt; ich weiß ihm keinen Nahmen; achtet eines von uns das andere zu wenig, oder was ist es sonst? (VI, 298)
Es ist das alte Lied. Johanna Christiana hat offenkundig wieder einmal ihre »Unruhe« geltend gemacht, nachdem sie von dem Plan ihres Sohnes erfahren hatte, in Homburg als freier Schriftsteller zu leben. Hölderlin versucht, ihr das auszureden und sie zu einer weniger mißtrauischen Haltung zu bewegen; es ist dasselbe Argumentationsmuster wie in dem Julibrief von 1797, der im vorigen Abschnitt besprochen worden ist. 52
Für eine kurze Zeit gibt sich die Mutter beschwichtigt, äußert gar »Freude über meine Religiosität« (VI, 305f.), wie Hölderlin dem Bruder mitteilt. Sie verfliegt bald, und die alten Sorgen, die unruhigen Momente gewinnen wieder Platz, wie aus Hölderlins beschwichtigenden Antwortbriefen zu ersehen ist. Sie dominieren auch den einzigen erhaltenen Brief der Gokin an ihren Sohn, der in seiner Mischung aus unterwürfig fomulierter Sehnsucht, religiöser Ermahnung und hilfloser Fürsorge die verlorenen Schreiben repräsentieren dürfte. [...] wan D u mir nur auch wieder einmahl schreiben woltest, daß Du die L. Deinige noch liebst, u. an uns denckest. Vieleicht habe ich Dir ohne mein Wisen, u. Willen Veranlasung gegeben, daß Du empfindlich gegen mich bist, u. so bitter entgelten läsest, seye nur so gut, u, melde es mir, ich will es zu verbesern suchen. [...] Besonders aber Bitte ich Dich herzlich daß Du die Pflichten gegen unser 1. Gott u Vatter im Himel nicht versäumest, wir können auf dieser Erde keine grösere Glückseligkeit erlangen, als wan wir bey unserem 1. Gott in gnaden stehen, nach diesem wollen wir mit allem ernst streben, daß wir dort ein ander wieder finden w o keine Trenung mehr sein wird. ich sende Dir anbey ein Wämsele u 4 Paar strümpf u 1 paar Handschu als einen Beweis meiner Liebe und Andencken. [...] (VII.l, 186).
Den letzten bekannten Versuch Johanna Christianas, ihrem Sohn ein Amt anzutragen, beantwortet dieser am 29. Januar 1800 abschlägig, jedoch mit deutlich schlechtem Gewissen. »Ich wollte«, heißt es einige Monate später, »Sie hätten einmal Ruhe mit mir« (VI, 391).
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Der Bruder
Hölderlins Beziehung zu seiner Familie, besonders aber zu dem jüngeren Stiefbruder Karl Christoph Friedrich Gok ist nicht leicht zu verstehen. Sie bleibt lange Zeit von Freundlichkeit und jener Aufmerksamkeit bestimmt, die den korrespondierenden Dichter einen konstanten, jedoch der jeweiligen Lage und Eigenart des Adressaten entsprechenden Ton suchen läßt. Zwischen 1802 und 1804, der Bordeauxheimkehrer lebte für zwei Jahre wieder in Nürtingen, scheinen einige Spannungen aufgetreten zu sein, über deren Ursache nichts verlautet und die nur in dem einen Satz von Johanna Christiana Gok erkennbar werden: »Auch nimmt Er weder von mir noch von meiner Tochter etwas an«. Viel später, im Dezember 1835, notiert der Tübinger Kostherr des entmündigten Hölderlin, Ernst Zimmer, in einem Brief: Auch kan E r Seine verwarnen nicht ausstehn und wan sie Ihn nach langen Jahren besuchen, fahrt E r wütend auf sie ein (VII,3, 134).
Worin die Gründe für diese schließliche Eskalation der familiären Verhältnisse zu suchen sind, kann dokumentarisch nicht geklärt werden. Weder Hölderlin, kein anderes Familienmitglied und noch gar Dritte haben sie überliefert; das Feld bleibt Spekulationen überlassen. Einige mögen einleuchtend klingen wie jene, Hölderlins spätestens nach 1806 manifeste pathologische Reizbarkeit habe sich bereits Jahre vorher abgezeichnet. Das ist wahrscheinlich, als Gewißheit jedoch sowenig anzunehmen wie beinahe alle Mutmaßungen über den Krankheitsverlauf. Möglich ist auch, daß die späten Ausbrüche Verwerfungslinien folgen, die in und zwischen den Beteiligten lange schon latent verliefen. Es kann, drittens, sein, daß die Hypothesen verbunden werden müssen, daß sowohl objektive wie subjektive Verhältnisse ihre Rolle gespielt haben, ebenso Hölderlins seelische Entkräftung wie auch eine familiäre Verfassung, die einfach zu nennen sich wohl niemand erkühnen würde.
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Karl tritt spät, als über Fünfzigjähriger, mit Bänden über den Weinbau hervor. Mit siebzig, Pensionär bereits, legt er eine zwei Teile umfassende Abhandlung zur älteren Geschichte Schwabens vor, je den römischen Heerstraßen und dem Limes gewidmet, die 1846 und 1847 in den Druck gegeben werden;8 Studien, die beileibe kein Rentnerplaisir darstellen, sondern von der Zunft bis heute gelesen und zitiert werden. Davor figuriert er - wenig glücklich, wie Adolf Beck behauptet - im unerfreulichen Streit der Geschwister um das Erbe der Mutter, bei dem andere freilich auch keine gute Figur machen. Als Korrespondent, Zeuge und Rechtsinhaber der Hölderlinschen Werke tritt er gegenüber dem Verlag und den Herausgebern von 1826 und 1842 nüchtern kalkulierend auf und gelegentlich reizbar, wenn er sich als Verwaltungsmann durch die mitunter zum Hochmut neigenden Walter des Geistes herausgefordert fühlt. Denn ähnlich wie sein sechs Jahre älterer Bruder glaubte er, seine Ausbildung, lange auch, seinen Beruf verfehlt zu haben. Der 1776 geborene Karl Christoph Friedrich Gok kam gleich nach der Konfirmation und dem Realschulabschluß zu dem Nürtinger Stadtschreiber Gottlob Friedrich Planck in die Lehre; ein Lehrgeld von 155 Gulden wurde für drei Jahre im voraus bezahlt. Mit ihrer Entscheidung, den Sohn aus zweiter Ehe ein Kameralamt erlernen zu lassen, bewahrt Johanna Christiana Gok die Familientradition; auch in ihrer ersten Ehe waren durch den Lauffener Klosterhofmeister und Vater Hölderlins sowie durch sie selbst, die Pfarrerstochter, Verwaltungsleute und Geistlichkeit repräsentiert. Diese Berufe bildeten die Träger der württembergischen Ehrbarkeit, jener bürgerlichen Schicht also, die über ungewöhnlich große Rechte gegenüber der Feudalherrschaft verfügte. Karl wurde es allerdings nicht gestattet, auf dem Wege eines juristischen oder kameralwissenschaftlichen Studiums die Magistrale einzuschlagen; vielmehr mußte er sich, wie sein Vater, mit einer Ausbildung als Schreiber zufriedengeben. Die Stadt- oder Amtsschreiber stellten - nach Oberamtmann, Bürgermeistern, Gerichts- und Ratsverwandten - die Spitze der Kommunalverwaltung. Sie wurden ausgezeichnet honoriert und mit verschiedenen Privilegien materieller und gesellschaftlicher Art entlohnt, darunter auch das Recht auf einen festen Platz neben den Bürgermeistern in der
C.G., Die Wein-Rebe und ihre Früchte. Stuttgart 1836. Ders., Urkunden und Beiträge zur älteren Geschichte von Schwaben und Südfranken. 1. Theil: Die römischen Heerstraßen der schwäbischen Alp und am Bodensee. Stuttgart 1846. 2. Theil: Der römische Grenzwall von der Altmühl bis zur Jagst. Stuttgart 1847. (vgl. VI, 517)
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Kirche. Ein guter und begehrter Posten also, der freilich schwer zu erlangen war, zumal alteingesessene Familien dieses Amt oft unter ihren Angehörigen vergaben - wie in Nürtingen, wo sich die Bilfingers und Plancks generationenlang darin abwechselten. Von der Ausbildung bis zur Bestallung mußte ein langer Weg zurückgelegt werden. Beinahe vierzehn Jahre dauerte es bei Karl Gok, bis er, nach einer Durststrecke als miserabel entlohnter Skribent (Hilfsschreiber), Rechnungsprobator und Substitut in verschiedenen Kleinstädten des Landes im November 1803 schließlich zum Amtsschreiber und -pfleger in Zwiefalten berufen wurde. Ein Grund zur Unzufriedenheit: jedoch nicht der einzige und besonders nicht der entscheidende. Karl begegnet vornehmlich in den Briefen seines Bruders; von seinen eigenen Schreiben hat sich nur weniges erhalten. Das Wenige zeigt jedoch einen Bildungshorizont und ein Ausdrucksvermögen, die durch den eingeschlagenen Beruf in keiner Weise gefördert oder gar befriedigt werden konnten. Ohne jede Frage war er zum Studium, wie er es sich gewünscht und Hölderlin es ihm emphatisch zugetraut hatte, befähigt. Die Absicht wurde durch Johanna Christiana Gok vereitelt, die sich in ihrem ersten Testamentsaufsatz vom Oktober 1808 dafür rechtfertigt: meine 2.te bitte betrifft meinen jüngeren Sohn, welcher [zu] wiederholten mahlen mich bath, Ihn Studieren zu lasen, u. da ich aus mancherlei Gründen es Ihm nicht verwilligen konnte, so versprach ich Ihm wan Er davon abstehen werde, als Schadloshaltung gegen seinen altern Bruder von meinem Vermögen als Voraus 500 fl. zu geben, um Ihn zu überzeügen daß ich nicht ganz aus intrese Ihn suchte davon abzubringen, bey seiner Verheürathung erhielt Er auser seinem Vätterlichen 100 fl hieran, ich hoffe seine 1. Geschwister werden Ihm solches nicht misgönnen da Er weniger Vätterlich Vermögen hat. (VII, 3, 387)
Von den »mancherlei Gründen« ist nur einer sicher nachvollziehbar. Naheliegend ist die Annahme, Johanna Christiana habe wenigstens bei ihrem jüngeren Sohn der Renitenz entgegenwirken wollen, die den älteren zur Ablehnung des Pfarrberufs und in eine unsichere Existenz geführt hatte. Möglich, daß sie den beruflichen Aussichten eines akademischen Studiums mißtraute; möglich auch, daß sie zumindest den Jüngeren in ihrer Nähe halten wollte. Karl Gok klagte früh, gleich nach Ausbildungsbeginn im November 1790, über die langweilige Tätigkeit, den Stadtschreiber bei seinen Aufgaben zu unterstützen: Der hatte als Aktuar bei den Gerichts und Magistratssitzungen und den Rug- und Waisengerichten das Protokoll zu führen, die Akten zu sammeln, die ganze Gerichtsund Stadtregistratur zu besorgen, die Zubringens-, Verlassenschafts-, Gant- und
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Vormundschaftsinventarien, Erbschaftsteilungen u.a. zu fertigen, die Gemeinde-, Spital-, Armen-, Amtsschadens- und in der Regel auch die Pflegschaftsrechnungen zu stellen, die Lagerbücher in Ordnung zu halten, die Hauptgeschäfte bei der Steuerverteilung zu versehen, die Bürgerliste zu führen; in halbamtlicher Weise verfaßte er Verträge, Testamente, Eingaben an Behörden u. dgl. (Kocher II, 20).
Es ist kaum verwunderlich, daß Karl von diesen Geschäften nicht eben hingerissen war, zumal seine Begabung vielleicht nicht weit hinter der des Bruders zurückstand - wenn man bedenkt, daß Hölderlin in Klosterschulen und Stift keineswegs, wie etwa der Kommilitone Schelling, als Genie auftrumpfte, vielmehr ein zäher Lerner und Arbeiter war. Der Altere beschwichtigt zuerst, will den Jüngeren wenigstens teilweise geistig schadlos halten. »Den guten Karl bedaur' ich«, heißt es 1790 in einem Brief an die Schwester, daß er so bald ein bitter Kräutlein im Schreiberstande findet. Sag ihm, ich habe ein Kräutlein gefunden, das jenes bittre ganz vergessen mache. Es sei - Beschäftigung des denkenden Geistes. - O b wir nicht zu dem Ende kleine Aufsäze wechseln wolten, mein Karl und ich? - ob er mir nicht in glüklichen Stunden die Frage außeinandersezen wolle: wie gelangt man zur waren Zufriedenheit? Ich will auch einen kleinen Aufsaz darüber machen, und dann, wenn Karl den seinen mir geschikt hat, ihm auch den meinen kommunizieren. Oder soke ihm eine andere Materie gerade geläufiger sein, er soll sie wählen [...]. (VI, 59)
Mitgefühl und bestärkende Worte finden sich in vielen Briefen Hölderlins an den Bruder: Ich bedaure Dich, Lieber! daß Deine zum Theil wirklich alberne Lage Dir böse Launen abnötigt. Vergiß Dich in Ideen; das ist freilich ein kurzer Rath, ein kalter Trost, aber gewiß Deiner und meiner würdig. (VI, 201)
Oder: Schwimm hindurch, braver Schwimmer, und halte den Kopf nur immer oben! Bruderherz! ich hab' auch viel, sehr viel gelitten und mehr, als ich vor Dir, vor irgendeinem Menschen jemals aussprach [...]. (VI, 277)
Aber die Brüder begnügen sich nicht mit Trost und Klage. Bereits 1794 in Waltershausen dachte und wirkte Hölderlin daran, dem Stiefbruder zu einer besseren Ausbildung zu verhelfen; 1795 bildete sich die Absicht heraus, Karl solle in Jena studieren: und zwar auf Kosten des Alteren, dessen Erbteil hinreichen würde, dieses Projekt zu finanzieren. »Ich kann unmöglich glauben«, schreibt Hölderlin im Juli 1796 an den Stiefbruder, daß unsere theure Mutter den soliden Gründen, die ich ihr vorlegen werde, ihren Beifall versagen und ihren Willen und Seegen Dir nicht zu einer Reise nach Jena geben wird. [...] Den Plan zu Deinem Studium möcht' ich zuvor von Dir selbst hören, um ganz in Beziehung auf Deinen eigenthümlichen Wunsch und Karakter
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meinen Vorschlag zu machen. [...] An Aussichten kann es Dir zur rechten Zeit nicht fehlen. Du magst ein Fach ergreifen, welches Du willst, so bin ich gewiß, daß Du es darinn nicht bei der Mittelmäßigkeit wirst bewenden lassen, und Männer, die im Kameralfach oder in der Rechtspflege und Wissenschaft mehr als mittelmäßig, sind eben ihrer Seltenheit wegen jezt überall zum Lehrstuhl oder zum Geschäfftsleben äußerst gesucht. In jedem Falle kannst Du Hofmeister werden, so gut wie ich [...]. (VI, 21 lf.)
Möglicherweise hätte Hölderlin den letzten Satz besser nicht geschrieben; denn die Hofmeisterei war nicht das, was Johanna Christiana Gok für ihre Söhne wünschte. Sie konnte ihr als Signal für jene unwillkommene Selbständigkeit gelten, mit der der Altere sich ihrem hartnäckig verfolgten Wunsch widersetzte, in den geistlichen Dienst einzutreten. Überdies wünschte sie ihre Söhne in der Nähe zu halten, wie nicht nur aus einem Brief Hölderlins hervorgeht, der Karl für einige Zeit nach Frankfurt holen möchte (»Aber das darf ich vor Ihnen nicht laut sagen.« (VI, 226)); der Versuch, Hölderlin zu einem Präzeptorat in Nürtingen oder wenig später zur Einheirat in eine Neckarhausener Pfarrstelle zu drängen, darf wohl auch unter diesem Gesichtspunkt verstanden werden. Hauptsächlich aber scheiterte Karls Studienwunsch an den finanziellen Einwänden der Mutter, denen die Söhne sich schließlich fügen mußten. Was Sie mir über unsre ökonomischen Verhältnisse sagen, nehm' ich mit Dankbarkeit und Uberzeugung an. Ich weiß gewiß, Sie werden für unsern Karl, der uns und dem Vaterlande so viel verspricht, in der Folge thun, was Sie können [...]. (VI, 226)
Wie die Gokin genau argumentiert hat, ist nicht überliefert; es bleibt bei Hölderlins vager Formulierung. Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob ein Studium aus dem von der Mutter verwalteten Vermögen der beiden Brüder überhaupt zu finanzieren gewesen wäre. Wenn man von der Ausgabenliste für Hölderlin ausgeht, so beliefen sich die Kosten seines fünfjährigen Studiums in Tübingen auf exakt 1549 Gulden und 33 Kreuzer. Darin enthalten waren Bücher, Kolleggelder, reichlich bemessene Kleider- und Reisekosten sowie etwas Taschengeld. Nicht enthalten sind freilich die Aufwendungen für Kost und Logis, die der Stipendiat im Stift kostenlos erhielt. Diesen Posten mit jährlich 250 Gulden zu veranschlagen, ist eher noch großzügig gerechnet; er orientiert sich an der Summe, die von 1807 an der Tübinger Pflegefamilie Zimmer für Hölderlin bezahlt werden mußte, wobei unabhängig von der Teuerung zu bedenken ist, daß der Betrag nicht nur »Kost, Wein, Wasch«, sondern auch die »Pfleg« (VII.3,135) des Kranken einschloß. Zusammen wären also für ein großzügig berechnetes Studium von fünf Jahren um die 2700-2800
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Gulden zu veranschlagen gewesen. Doch läßt sich dieser Betrag noch erheblich vermindern, denn das Studium der Rechte oder auch der KameraiWissenschaft en, wie es Karl offensichtlich vor Augen stand, hätte sich durchaus in drei energischen Jahren absolvieren lassen; schließlich wären etwa 1700 Gulden aufzuwenden gewesen. Dieses Geld war vorhanden, wenngleich es teilweise angelegt war. Karl standen aus dem väterlichen Erbe insgesamt 1655 fl. und einige Kreuzer zu, Fahrnis und Bargeld allerdings zusammengerechnet. Hölderlin hatte sich, auch dies im Rahmen seiner Ansprüche, bereiterklärt, dem Bruder auszuhelfen. Doch Johanna Christiana Gok, die einstweilen noch die Verfügungsgewalt über das Kapital des Jüngeren besaß und sie über das des Älteren nicht preisgab, verwahrte sich dagegen. Die ökonomischen Bedenken allerdings erweisen sich bei näherem Betracht als Vorwände, wobei freilich nicht zu verkleinern ist, daß der in Rede stehende Betrag auch für sie keine nur geringfügige Belastung dargestellt hätte. Insgesamt entsteht jedoch der Eindruck, daß andere, weniger rationale Erwägungen der Mutter das Studium ihres jüngeren Sohnes verhindert haben. Karl Gok mußte als Skribent und später dann als Amtsschreiber fortarbeiten. Erst spät konnte er sein kameralistisches Talent in Amtern unter Beweis stellen, die seiner Begabung adäquat waren; seine Leistungen als Verwalter, später dann als Hof- und Domänenrat trugen ihm 1831 gar die Nobilitierung ein. Hölderlins Briefwechsel mit seinem Bruder beginnt im November 1790 mit dem Vorsatz, auf den Jüngeren erzieherisch einzuwirken und die Nachteile der unterbliebenen höheren Schulausbildung geistig auszugleichen. Der erste - als Regest - erhaltene Brief aus dieser Korrespondenz datiert jedoch erst vom Juli 1793, so daß die Anfänge dieser besonderen Beziehung nicht dokumentiert werden können. Die pädagogische Ambition aber ist nicht das einzige Moment, das Hölderlins Briefe regiert. Zugleich sind sie auch eine ständige Beschwörung nicht nur der gewöhnlichen Bruderliebe, sondern auch eines nach philosophischen Mustern konzipierten Bundes. Zwar wird sehr wohl der Freundschaft gehuldigt: Ich werd's auch nie vergessen, wie lieb wir uns hatten, als Buben, und als Jünglinge. Sieh! lieber Karl, das dacht' ich auch, als Du über Mangel eines Freundes klagtest. Ich kenn' es wol, dieses Erwachen des jugendlichen Herzens [...]. (VI, 92)
Aber im gleichen Zug wird auch bestimmt, unter welchem Zeichen die Gemeinschaft stehen möge:
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Und, so glaub' ich, geschieht es, daß ich mit etwas weniger Wärme an einzelne Menschen mich anschließe. Ich möchte ins Allgemeine wirken, das Allgemeine läßt uns das Einzelne nicht gerade hintansetzen, aber doch leben wir nicht so mit ganzer Seele für das Einzelne, wenn das Allgemeine einmal Gegenstand unserer Wünsche und Bestrebungen geworden ist. Aber dennoch kann ich noch Freund eines Freundes sein, vieleicht kein so zärtlicher Freund, wie ehmals, aber ein treuer, tätiger Freund. O! und wenn ich eine Seele finde, die, wie ich, nach jenem Ziele strebt, die ist mir heilig und teuer, über alles teuer. Und nun, Herzensbruder! Bildung, Besserung des Menschengeschlechts, jenes Ziel das wir in unserm Erdenleben nur vieleicht unvollkommen erreichen, das aber doch um so leichter erreicht wird von der bessern Nachwelt, je mer auch wir in unserem Wirkungskreise vorbereitet haben - jenes Ziel, mein Karl! lebt, ich weiß es, vieleicht nur nicht so klar, auch in Deiner Seele. Willst Du mich zum Freunde, so soll jenes Ziel das Band sein, das von nun an unsre Herzen vester, unzertrennlicher, inniger vereinigt. O! es giebt viele Brüder, aber Brüder, die solche Freunde sind, giebts wenige. (VI, 93) A u f diesem »Vertrage, den unsere Herzen gestiftet« (VI, 130) insistiert Hölderlin i m m e r wieder. E r ermahnt den Bruder, in seiner nachgeordneten Schreiberstelle jene im Gedankenaustausch entwickelten Maximen zu enfalten, sich einstweilen für eine bessere Zeit zu sparen. »Es gibt in jeder menschlichen Thätigkeit eine Vollendung, auch unter den Akten«, beschwichtigt er Karl, was keineswegs gönnerhaft herablassenden Trost darstellt, sondern auf philosophische Uberzeugungen verweist,
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denen später die Rede sein wird. Die Korrespondenz ändert sich. Paul Raabe, dessen Dissertation über >Die Briefe Hölderlins< nach wie vor als Standardwerk gilt, kommentiert dies wie folgt: Nicht nur mit dem Scheitern des Studienplans für den Bruder und dessen Ubersiedlung nach Markgröningen und der Tatsache, daß die Mutter jetzt nicht mehr Mitleserin ist, hängt es zusammen, daß sich seit 1797 die Art des Zuspruchs und der Förderung grundsätzlich wandelt. Vielmehr verlangt es auch die bittere Erfahrung, die Hölderlin in der Frankfurter Gesellschaftswelt inzwischen gemacht hat, eine andere Einstellung zum Bruder: er will ihm schwere Enttäuschungen ersparen. Er kann ihm unmöglich mehr raten, seinen Weg als Vorbild zu nehmen. (Raabe, 51) Hölderlin rückt von seinem pädagogischen Hauptamt gegenüber dem Bruder merklich ab und bezieht ihn in - auffällig unpersönlich gehaltene - philosophische Debatten ein. U n d Karl emanzipiert sich zunehmend in der Beziehung. Der Altere ist es nun, der betont, den Bruder nötig zu haben. Es ist mir unendlich viel werth, mein Wesen so wirksam und so freundlich aufgenommen in einer Seele zu finden, wie die Deine ist. Es stillt und besänftiget mich nichts mehr, als ein Tropfen lauterer, unverfälschter Liebe [...]. (VI, 253)
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Und Karl Gok zeigt sich in seiner Antwort, dem längsten der erhaltenen Briefstücke an den Alteren, durchaus befähigt, den Bruder einzuschätzen. Karl vergleicht das Temperament des Bruders mit Rousseau, spricht von dessen »Liebe zur stillen großen Natur, zur lautersten Wahrheit und zur wahren Freiheit«. Doch hält er ebenso fest: aber auch jene Reizbarkeit, die natürliche Folge eines für die Empfindung geschaffenen Herzens, die jenem guten Mann so manche Stunde seines Lebens vergellte, ist Dein, und leider auch Dir wird sie noch manchen trüben Augenblick bereiten, und nur der Umgang mit guten biedern Menschen und der Genuß der Freuden der Natur und Kunst kann die Summe derselben verkleinern. (VII. 1, 54)
Das Verhältnis von Ratgeber und Ratsuchendem hat sich zwar nicht umgekehrt, doch tritt Karl nun stärker als konturierte Persönlichkeit in den Vordergrund. Hölderlin erscheint nicht mehr nur lehrend (»Ich schreibe das alles mehr um meinetwillen, weil das Herz mir voll davon ist. Du brauchst diese Predigt nicht sehr.« (VI, 263)) und beklagt bisweilen ganz offen seine Nöte. Zwischen 1799 und 1800 tritt eine längere Unterbrechung im Briefwechsel. ein. In Homburg habe sich, wie Hölderlin schreibt, »ein Unglaube an die ewige Liebe [...] sich meiner bemächtigt« (VI, 418); die (nicht überlieferten) Briefe Karls bleiben aufgrund dieser Krise unbeantwortet oder werden »Kalten Ton[s]« (ebd.) abgefertigt. Nun, da er in Hauptwil die Schwierigkeiten überwunden glaubt, bittet er um »Bundeserneuerung, die gewiß nicht Ceremonie oder Laune ist« (VI, 419). In diesem Brief kehrt auch das frühe Problem des Allgemeinsinns wieder, das Hölderlin in Waltershausen gehindert hatte, in unvermittelte Beziehung zu seiner Umgebung zu treten. Und wiederum findet er sich konfrontiert mit dem Einzelnen: Es ist nur ein Streit in der Welt, was nemlich mehr sei, das Ganze oder das Einzelne? Und der Streit widerlegt sich in jedem Versuche und Beispiele durch die That, indem der, welcher aus dem Ganzen wahrhaft handelt, von selber zum Frieden geweihter und alles Einzelne zu achten darum aufgelegter ist, weil ihn sein Menschensinn, gerade sein Eigenstes, doch immer weniger in reine Allgemeinheit, als in Egoismus oder wie Du's nennen willst, fallen läßt. (ebd..)
Es ist kein beliebiges Thema, von dem Hölderlin hier spricht, keines jedenfalls, das von der Beziehung zum Bruder abstrahiert werden könnte. »Ich habe es auch erfahren«, heißt es nämlich im Satz zuvor, daß alles hin ist, wenn die Einigkeit, die heilige, die allgemeine Liebe, der die Liebe des Bruders so leicht wird, hin ist. (ebd)
Die verzweifelte Formulierung ist bezeichnend für einen Mann, in dessen Gesamtwerk keinerlei circensische, ironische oder gar humoreske 61
Elemente zu finden sind. Hölderlin zeigt sich auch in seiner Korrespondenz außerstande, freundschaftliche Beziehungen allein aus Sentiment einzugehen und zu pflegen. Stets formuliert er die Maximen des Bundes; sind sie nicht länger einzuhalten, wankend oder überlebt, bricht der Dichter auch den Kontakt ab. Bloße Sympathie trug ihn nicht: Das »Ziel [ist] das Band.« Und es ist daher »gewiß nicht Ceremonie oder Laune«, wenn er den Briefwechsel mit dem Bruder als »Bundeserneuerung« im Zeichen des »a deo principium« (ebd.) begriffen wissen will. Selbst die Bruderliebe bedurfte für ihn einer vermittelnden Idee. Insgesamt läßt sich der Primat des Philosophischen über die briefliche Beziehung von Karl Gok und Friedrich Hölderlin, der Primat des Allgemeinen über das Besondere, nicht verkleinern. Paul Raabe hat recht, wenn er behauptet: Hölderlins Glaube an den Bruder [...] erwuchs aus der Homburger Konzeption, war aber entschieden mehr Ideal als Wirklichkeit. (Raabe, 54).
Doch ist die vermutete »Enttäuschung« (ebd.) über Karls heteronome Entwicklung zum Walter der öffentlichen Angelegenheiten keineswegs so evident. Sie trifft sich sogar mit den philosophischen Versuchen Hölderlins. Die Briefe an Karl bilden den umfangreichsten philosophischen Corpus innerhalb der Korrespondenz Hölderlins überhaupt. In einigen der Schreiben ist nur oberflächlich von einzelnen Philosophen wie Hemsterhuis oder Macchiavelli die Rede oder von der Philosophie überhaupt (»Philosophie mußt Du studiren, und wenn Du nicht mehr Geld hättest, als nöthig ist, um eine Lampe und Ol zu kaufen« (VI, 218)); andere sind ausführliche Referate über Kant und Fichte, die der ersten Orientierung dienen sollen; wieder andere tragen mehr den Charakter philosophischer Kladden, in denen originäre Theoreme zum erstenmal formuliert werden, mühevoll und umwegig formuliert, offenbar mehr dazu bestimmt, die Gedanken des Absenders zu ordnen als den Empfänger aufzuklären. Schon früh jedoch zielte Hölderlins Ehrgeiz nicht etwa darauf, den Lebensgang des Bruders dem eigenen förmlich anzuverwandeln; vielmehr wollte es ihn »so herzlich freuen, einmal in Dir den Dichter und Geschäfftsmann, wie es sich gehört, vereint zu sehen« (ebd.), der idealische Kopf thut am besten, das Empirische, das Irrdische, das Beschränkte sich zum Elemente zu machen. Sezt er es durch, so ist er, und auch nur er, der vollkommene Mensch. (VI, 252).
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Die Verschiedenheit der Lebensformen unter denselben Leitmaximen wird von ihm sogar ausdrücklich begrüßt, die Unähnlichkeit täte der Bruderliebe keinen Abbruch. Als Karl Gok Anfang des Jahres 1798 von seinen schriftstellerischen Ambitionen schreibt, bleibt Hölderlin gar reserviert: Ist es Dein Ernst, als Schriftsteller auf den deutschen Karakter zu wirken und diß ungeheure Brachfeld umzuakern und auszusäen, so wollt' ich Dir rathen, es lieber in oratorischen, als poetischen Versuchen zu thun. Du würdest schneller und sicherer zum Zweke gelangen. Ich wunderte mich schon oft, daß unsere guthen Köpfe nicht häufiger darauf gerathen, eine kraftvolle Rede zu schreiben, z.B. über den Mangel an Natursinn bei den Gelehrten und Geschäfftsleuten, über religiöse Sclaverei p.p. Dir liegen politische und moralische Gegenstände im Vaterlande besonders nah, z.B. Zünfte, Stadtrechte, Communrechte p.p. Zu geringfügig sind derlei Objecte gewiß nicht, und Du bist durch Deine Lokalkenntniß dazu berufen, wenigstens für den Anfang. Doch will ich mit allem Dir nichts ein- und ausreden. (VI, 263)
Karl hat sich den Rat spät zu eigen gemacht, mit seinen nützlichen önologischen und historischen Untersuchungen; zu der Zeit genügte er seinen Ambitionen offenbar nicht. An Hölderlins aufrichtiger und theoretisch fundierter Bewunderung für den »Gemeingeist« (VI, 407), den - in seinen Augen - gerade die Tätigkeit des Bruders zu befördern vermochte, herrscht freilich kein Zweifel. Sie trifft sich durchaus mit dem stufenweisen Konzept zur Ausbildung der Nation, wie er es in dem (später ausführlicher zu behandelnden) Neujahrsbrief von 1799 entwikkelt hatte. Dort war von dynamischer Verflechtung der »politischen Lektüre«, der Philosophie und der Poesie die Rede gewesen. Die beiden erstgenannten nur als bloße Vorformen der endlich poetisch zu erzielenden Einheit zu betrachten geht nicht an; Hölderlin entwirft das Bild von einer permanenten De- und Rekonstruktion von Allgemeinsinn, in der das Politische, in der Karls idealisiertes Bestreben einen emanzipierten Platz behauptet. Wann die Entfremdung eintrat, bleibt ungewiß. Zwischen 1802 und 1804 lebte Hölderlin wieder in Nürtingen bei der Mutter und zusammen mit der unterdes verwitweten Schwester und ihren Kindern; er war ihnen, wie die Mutter beteuert, nicht mehr zugänglich, weder ihrer Fürsorge noch ihrer kuratorischen Empfehlung, weniger angestrengt zu arbeiten. Um sein bürgerliches Fortkommen hat er sich nicht mehr geschert; zumindest bietet die Uberlieferung keinen Hinweis auf eine derartige Initiative. Ob auch Karl, der bis zum Dezember 1803 als Substitut in Nürtingen beschäftigt gewesen war, korrigierend auf ihn einzuwirken versucht hat, ist nicht bekannt. Geschrieben hat Hölderlin 63
seinen nächsten Angehörigen nach der letzten Abreise aus Nürtingen mit einer Ausnahme - nicht mehr; nicht aus Homburg, nicht während der ersten Tübinger Jahre. Erst 1812 bringt Ernst Zimmer ihn dazu, einige störrische Zeilen an die Mutter zu richten; regelmäßig folgen dann Episteln, die zwischen aufgenötigter Artigkeit und (vielleicht) ironisch gebrochenem Maximendeutsch changieren; einige weitere an die Schwester, tonverwandt spröde, folgen. In diesen Schreiben regiert das Vokabular von Gehorsam und Pflicht. Anders in dem einzigen Brief an Karl aus jener Zeit. Mag sein, daß er es - neben Heinrike - vor allen seiner »verwanten« gewesen ist, der den kranken Mann im Tübinger Turm besucht hat; von der Mutter jedenfalls ist eine solche Visite nicht bezeugt. Möglich daher auch, daß er es war, auf den Hölderlin, wie Zimmer das sagt, losfuhr, obwohl mindestens zwei der Besuche Goks bei Hölderlin keine agressive Reaktion auslösten. Immerhin hat er ihn besucht, wenngleich der Bruder ihn später nicht mehr zu kennen vorgab. Ein Brief Hölderlins an Karl G o k - ob weitere geschrieben worden sind, bleibt unbekannt - ist aufbewahrt worden: er stammt vermutlich von 1822 oder 1823. In ihm tritt das Zeremoniöse, das Pflicht- und Gehorsamspathos, zugunsten einiger und wie es scheinen will: freundlicher Sätze zurück. Theuerster Bruder! Du wirst es gut aufnehmen, daß ich Dir einen Brief schreibe. Ich bin überzeugt, daß D u es glaubst, daß es ein wahres Vergnügen für mich ist, wenn ich weiß, daß es Dir gut geht und daß Du gesund bist. Wenn ich Dir nur sehr wenig schreibe so nehme den Brief als ein Zeichen der Aufmerksamkeit von mir an. Ich merke, daß ich schließen muß. Ich empfehle mich Deinem wohlwollenden Angedenken und nenne mich Deinen Dich schäzenden Bruder Hölderlin. (VI, 469)
Karl Christoph Friedrich Gok ist durch ein eklatantes Fehlurteil von Adolf Beck in Verruf geraten. Es ist hier zu berichtigen. Der Mitherausgeber der Stuttgarter Ausgabe hatte Gok nachgesagt, dieser habe nach dem Tode der Mutter einen »sinn- und pietätlosen« Prozeß um das Erbe angestrengt. Einzelheiten werden im nächsten Kapitel beschäftigen; hier ist nur auf die Grundlinien hinzuweisen. Mit dem Tod der Johanna Christiana Gok stand ein erhebliches Vermögen zur Disposition. Unberaten hatte die Frau letztwillig darüber verfügt; die testamentarischen Aufsätze genügten weder formal noch inhaltlich den Bestimmungen. Sie vergab teils, was ihr nicht gehörte, das >AnerstorbeneTodtenbuch< im Nürtinger Kirchenregisteramt festhält, am »Nachlaß der Natur« (VII.3, 95). Ihre verschiedenen letztwilligen Erklärungen fanden sich bei der amtlichen Obsignation (Versiegelung) am 20. Februar »in dem Trühlen, worin das Geld und die Capital briefe waren« (VII.3, 96). Im Beisein von Hölderlins Schwester Heinrike Breunlin, seinem Stiefbruder Karl Gok und Hölderlins amtlichem Vormund Gottlob Israel Burk wurden die Papiere geöffnet und ihr Inhalt verlesen. Im Obsignationsprotokoll (der offiziellen Erfassung aller nachlaßrelevanten Papiere) heißt es unter Punkt b. 1): Das mit den Worten mein lezter Wille überschriebene Papier ist öffters gesiegelt, und wieder erbrochen und endlich wieder gesiegelt, und mit Spanisch Wachs verklebt, und theilweis kein Siegel aufgedrükt worden: Deßhalb wurde die Siglung nicht erbrochen, sondern behutsam abgeschnitten. (ebd.)
Die konfuse Versiegelung entspricht dem Charakter des Dokuments. Auf sechs Blättern hatte die Frau niedergeschrieben, wie nach ihrem Tode mit dem Vermögen zu verfahren sei. Das erste Testament datiert vom 15. Oktober 1808, der letzte Nachtrag von 1820; verschiedene Randnotizen, Beilagen und Zusätze korrigieren, ergänzen oder widerrufen die Verfügung, bis sie sich endlich ganz unübersichtlich darstellt. So zuerst in den Augen der Obsignanten, die resigniert vermerken: Der Innhalt kann der Weitläufigkeit, und der vielen Abänderungen wegen nicht zu P r o t o k o l l genommen, es muß sich vielmehr auf den Inhalt der Papiere selbst bezogen werden [...] (ebd.).
Und so erschienen die Papiere auch den Gerichten, die im nachfolgenden Erbstreit der Geschwister zu urteilen hatten. Die letztwilligen 66
Verfügungen der Mutter wurden aufgrund von Formfehlern und Widersprüchen nicht als rechtsverbindliches Testament anerkannt. Johanna Christiana Gok hatte dieses Vermögen nur teilweise in Besitz; zum größeren Teil gehörte es ihren Kindern und setzte sich aus der Hinterlassenschaft des jeweiligen Vaters und anderer Verwandter zusammen. Der Mutter stand die Nutznießung des Kapitals zu, mit anderen Worten: der Zins, den die zu 4,5-5 % verliehenen Gelder eintrugen. Erst mit der Verheiratung oder mit der Vollendung des 25. Lebensjahres konnte die Auszahlung des Kapitals von den Erben verlangt werden; jedoch haben nur Karl und Heinrike anläßlich ihrer Hochzeit von diesem Recht Gebrauch gemacht. Allerdings dürfte keines der Geschwister eine genaue Ubersicht über das erlangt haben, was ihnen zustand. Am wenigsten Karl Gok, der nicht wußte, wieviel sein Vater ihm hinterlassen hatte. Daß es wenig war: nach Ansicht der Mutter zu wenig, um seinen Wunsch nach einer Universitätsausbildung erfüllen zu können, hatte er als Amtsschreiberlehrling schmerzlich erfahren müssen. Die Papiere, die ihn exakt über seine Ansprüche unterrichtet hätten, lagen jedoch versiegelt in der Registratur des Nürtinger Rathauses; es handelte sich um ein Beibringens-Inventarium und um einen Erbverzicht der Mutter zugunsten des Sohnes. Insgesamt belief sich sein »Anerstorbenes« auf 1655 Gulden, 31 Kreuzer und 3 Heller. Auch Friedrich Hölderlin wird sich nicht im klaren gewesen sein, wie hoch seine Ansprüche waren. Einen beträchtlichen Teil seines - aus verschiedenen Erbschaften resultierenden - Kapitals glaubte er, der so oft Zuschußbedürftige, bereits verbraucht zu haben. Oft hatte er die Bitte um Geld mit der Bedingung versehen, ihm das Ubersandte vom Erbe abzuziehen: Und in der Tat notierte Johanna Christiana Gok sorgfältig, was sie dem Altesten zukommen ließ. Heinrike Breunlin, die nach dem Tod ihres Mannes wieder nach Nürtingen gezogen war und in den letzten 28 Lebensjahren der Mutter mit ihr einen gemeinsamen Haushalt führte, wird noch am ehesten Einblick in die komplizierte Vermögenslage gewonnen haben. Doch auch sie sah sich über wichtige Einzelheiten wie den Inhalt des Testaments getäuscht; ihre Mutter, so schreibt Heinrike in einer ersten Stellungnahme zur Erbauseinandersetzung vor dem Nürtinger Waisengericht, habe am Altergründen ihre Wünsche nicht mehr oder jedenfalls nicht mehr deutlich formulieren können. Vor ihr, der Tochter, habe Johanna Christiana Gok sich anders geäußert. Das ist gut möglich. Aber die Ursache hierfür muß nicht unbedingt »bei den altersschwachen GeistesKräften« (StAN, Inventuren und Theilungen Nr. 8193, Fasz. VII Nr. 21) gesucht werden, wie Heinrike Breun67
lin dies - in etwas peinlicher Weise - suggerieren möchte. Es könnte vielmehr in der Absicht der Gokin gelegen haben, die Familienmitglieder und erst recht jeden Außenstehenden über ihre finanziellen Verhältnisse im unklaren zu lassen. Mindestens zweimal ist dieser Vorsatz klar nachzuweisen; die Beispiele sind bereits erwähnt worden. Sinclair gegenüber hatte sie behauptet, Hölderlin erziele nicht mehr als jährlich 125 fl. »an Zinß auß seinem Vermögen« (VII.2, 281) - der erwähnte Burk jedoch errechnet für die Jahre von 1803-1806 einen jährlichen Schnitt von knapp 220 fl., wobei er noch den für Hölderlin ungünstigsten Fall annimmt und sämtliche Kosten, die dieser als Schüler, Student, Hofmeister und Skribent verursacht hatte, von den Kapitalerträgen abzieht (StAN Inventuren und Theilungen Nr. 8193, Fasz. VII Nr. 18). Der Sinn dieser Vortäuschungen ist nicht einzusehen, denn Johanna Christiana sandte ihrem Sohn mit 550 fl. weitaus mehr Geld nach Homburg als diesem nach ihrer Behauptung zustand. Geiz war es also nicht, was sie bewog, Sinclair zu belügen - und es ist gar kein Zweifel, daß es sich um eine Lüge handelt und nicht um einen Irrtum: Burk hatte sich mit seinen Berechnungen strikt an das amtlich geprüfte und gegengezeichnete Geschäftsbuch sowie an die Ausgabenliste »vor den L. Friz« gehalten; beide Dokumente sind von Johanna Christiana sorgfältig geführt worden. Vielleicht wollte sie den Hofbeamten durch ihre Großzügigkeit beeindrucken, vielleicht aber auch nur ein weiteres Mal die Unselbständigkeit ihres Sohnes unterstreichen. Bei dem anderen erwähnten Fall handelt es sich um die unterdrückte Eventualteilung - also die Vermögensaufnahme - nach dem Tode ihres zweiten Mannes. Das war ein klarer Verstoß gegen das Landrecht, den die Bürgermeisterwitwe nur mit der Hilfe von Stadtschreiber Planck und Oberamtmann Bilfinger begehen konnte; und - wie sie behauptete - mit Unterstützung der »HE Waisenrichter« (vgl. VILI, 390). Akten über diesen Dispens liegen allerdings nicht vor, so daß das Waisengericht wenigstens keinen förmlichen Beschluß gefaßt, sondern die Sache, wenn überhaupt, nur stillschweigend hingenommen hat. Was Planck bewog, die Vorschriften zu mißachten, ist unbekannt; eine nähere Beziehung zur Familie Gok ist nicht nachzuweisen. Wahrscheinlich wollte er nur dem vorgesetzten Oberamtmann gefällig sein. Zu umgehen war der Stadtschreiber jedenfalls nicht. Er war es, der die Inventuren vornahm, und er war auch der Leiter der städtischen Registratur, in der solche Dokumente verwahrt wurden. Da Planck mitspielte, konnte das Fehlen der Teilungsakte niemandem auffallen. Karl Friedrich Bilfinger dagegen war der Familie gleich zweifach verbunden. Seit dem Tod Heinrich Friedrich Hölderlins vertrat er Johanna Christiana als 68
>KriegsvogtUble Haushälterei< - Verschwendung und Schuldenmacherei also - konnte nach der >Großen Kirchenordnung< von 1587 mit verschiedenen Strafen bis hin zum völligen Entzug der Geschäftsfähigkeit geahndet werden. Doch wäre das in ihrem Fall eher unwahrscheinlich gewesen, denn die wirtschaftlichen Verluste zwischen 1774 und 1779 hätten derartige rechtliche Folgen keineswegs nach sich gezogen. Um für »mundtot« geschäftsunmündig - erklärt zu werden, bedurfte es massiver Verfehlungen; von einem solchen Schuldspruch waren meist fragwürdige Existenzen betroffen, Kreditbetrüger oder Trinker, die ihre Familien um Haus und Hof brachten. - Es läßt sich einwenden, daß Ängste oft irrational sind oder daß schon die bloße Rufschädigung ärgerlich genug gewesen wäre. Vermutlich aber wird das Motiv für die unterlassene Teilung, wie Johanna Christiana es in ihrer »beylaage« vom 20. September 1812 darstellt, nur ein vorgeschütztes gewesen sein. Denn daß die Vermögensverluste, die von ihr in »8 Punckte[n]« (VII.2,392) dargelegt werden, ihr Kapital zwar schmerzlich, jedoch nicht bedrohlich vermindert haben, räumt sie selbst ein: wo jeder Hausvatter, sich selbst vorstellen kan daß bey denen in Wahrheit [: aufrichtig] angegebene Ursachen nicht mein ganzes Vermögen durch diese 8 Punckte daraufgegangen [...] (VII.2, 392).
Außerdem hatte die Frau jene lang zurückliegende wirtschaftliche Pechsträhne längst wieder ausgeglichen; bis zu ihrem Tod wird sie das Familienvermögen beinahe verdoppelt haben. - Was hat es also mit den ausführlichen Einlassungen der »2.te[n] beylaage« von 1812 auf sich? Wiederum erläutert sie das selbst: nicht aus eigen Liebe, sondern von einem geäuserten Verdacht mich zu reinigen wurde ich bewogen dises aufzuzeichnen [...] (VII.2, 393).
Wer ein Interesse gehabt haben kann, diesen Verdacht zu äußern und worin er bestanden haben mag, ist im vorangegangenen Abschnitt bereits kurz erwogen worden. Sowohl Heinrike Breunlin wie auch Karl Gok hätten durch die mütterliche Manipulation von 1779 Nachteile 69
erleiden können. - Es ist nun nötig, den juristischen Hintergrund ein wenig auszuleuchten. Das württembergische Erbrecht war im Grundsatz einfach, in der Durchführung jedoch kompliziert und vor allem aufwendig. Das Vermögen eines Erblassers wurde gleichmäßig unter alle Erbberechtigten verteilt, und zwar ganz gleichgültig, ob es sich um Männer oder Frauen handelte. Das hört sich gerecht an und ist es wohl auch; der volkswirtschaftlichen Entwicklung des alten Württemberg stand es jedoch entschieden im Wege. Die Vorschrift, die seit 1555, mit der ersten Verabschiedung des Württembergischen Landrechts, in Kraft war, verhinderte die Organisation von kostenintensiven Gütern oder Manufakturen und führte stattdessen zur fortschreitenden Zersplitterung von Landbesitz, Betrieben und Kapitalvermögen. Überdies erforderte das Gesetz einen enormen Verwaltungsaufwand. Denn bei jeder Personenstandsveränderung, bei Heirat und Wiederheirat, bei der Verwitwung und zuletzt auch nach dem Tod, mußte seit >Des Herzogthümbs Württemberg Ernewert Gemein Landtrecht< von 1610 eine differenzierte Bestandsaufnahme des Gesamtvermögens vorgenommen werden. Bei der Hochzeit wurde ein >Beibringensinventar< angefertigt; es wurde sorgfältig festgehalten, was die Brautleute jeweils an Land, Geld und Gegenständen in die Ehe brachten. Beim Tod eines Ehepartners fiel dessen gesamte Hinterlassenschaft an den überlebenden Teil, sofern keine Kinder oder andere Erben vorhanden waren. Im anderen Fall gehörte der ursprüngliche Besitz zu gleichen Teilen den Kindern und der Witwe bzw. dem Witwer. Ebenso verhielt es sich mit dem Vermögenszuwachs während der Ehe; waren dagegen Verluste zu tragen, so zog man sie ebenfalls vom Grundkapital - also dem >Beibringen< - der Eheleute ab. Doch blieb der Erbteil der Kinder bis zu deren 25. Lebensjahr oder der Verheiratung unter der Verwaltung von Vater oder Mutter, denen auch die Zinsen aus dem Vermögen zustanden (»Nutznießung«). Um diese Verhältnisse festzuhalten und die Ansprüche aller Erbberechtigten zu sichern, wurde nach dem Tod eines Ehepartners, spätestens aber bei einer geplanten Wiederheirat der oder des Uberlebenden eine >Eventualteilung< vorgenommen. Wiederum auf der Basis eines Inventars mußte festgehalten werden, was den Kindern aus erster Ehe von Besitz und Zuerwerb des verstorbenen Elternteils im Erbfall zustehen würde; dieser Posten wurde dann nicht in die Gütergemeinschaft der zweiten Ehe eingebracht und konnte von den Nachkommen aus der späteren Verbindung demnach auch nicht beansprucht werden. Erst mit dem Tod des überlebenden Ehegatten wurde die >Realteilung< vorgenommen. Erneut mußte nun inventarisiert und nach
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Ansprüchen differenziert werden, wobei Aussteuern oder ähnliche Vorleistungen gegebenenfalls auf dem Wege der >Einwerfung< (>CollationInventuren und Theilungen< in den meisten Stadtarchiven Württembergs den größten Einzelbestand darstellen. Inventarisiert wurde der gesamte Besitz vom Haus bis zum Holzlöffel, und zwar nach einem gesetzlich festliegenden Schema. Immobilien wurden zunächst verzeichnet, dann folgte das Barvermögen. (Diese Rubrik konnte eine Schreiberseele schon einmal in poetische Schwingungen versetzen; so findet sich in einem Inventar von 1800 ein Spaltentitel, nein: ein Vers, der mit dem gesamten vokalischen Register der deutschen Sprache musiziert und einen alliterationssatten trochäischen Fünfheber bildet: »baar an guten Gold und Silber Sorten«.) Auf Schmuck und Wertgegenstände folgten dann Silbergeschirr, Bücher' und schließlich in verschiedenen Rubriken der übrige Hausrat wie Kleidung, Küchengeschirr, Getreidevorräte, Möbel usw. Außenstände und Schulden wurden zuletzt rubriziert (vgl. a. Benscheidt, 7-10). Mit Johann Christoph Gok hatte Johanna Christiana einen Mann geheiratet, dessen Vermögen deutlich kleiner war als das ihrige. 1774 belief es sich - ausweislich des Beibringens-Inventars - auf 1655 Gulden, 31 Kreuzer und drei Heller in Bargeld und Sachwerten (vgl. VH.l, 275); die Braut verfügte dagegen über eine Summe von 10794 Gulden, 15 Kreuzern und 2 Hellern. Davon gehörten ihr rund 4000 Gulden; den Rest verwaltete sie für die Kinder. - Doch ist das Beibringens-Inventar Goks vom 12. Oktober 1774 unvollständig. In der einleitenden Rubrik »Liegenschaften« ist demonstrativ eine Null eingetragen (VILI, 275). Das trifft jedoch nicht zu: Gok war seit dem 30. Juni Eigentümer des Schweizerhofs. Er erwarb das Gebäude vom Spital für einen Kaufpreis
Die hervorragende Stellung von Druckerzeugnissen im württembergischen Inventar dürfte weniger als Folge protestantischer Hochachtung vor dem Wort, sondern vielmehr als Relikt einer Zeit anzusehen sein, in der Bücher dank schweinslederner Decken, reicher Einbandbeschläge und aufwendiger Schließen kostspielige Wertgegenstände darstellten. Lange vor dem Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich das geändert. In den wenigen umfangreicheren Privatbibliotheken Württembergs dominierten billige Raubdrucke, oft aus dem Reutlinger Gebiet stammend, wo man sich auf diese F o r m der Kriminalität im Dienste der Aufklärung besonders verstand. Aber auch anderswo waren die Sortimenter dazu übergegangen, Bücher in fahrig gehefteten, unbeschnittenen Lagen zu verkaufen; ihr Wert bezifferte sich meist nur noch nach Kreuzern.
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von 4500 Gulden, die in Raten zu zahlen waren; im November war die erste Hälfte der Anzahlung von insgesamt 1200 fl. fällig, im darauffolgenden April die zweite; die restliche Summe von 3300 fl. sollte dann vom November 1775 an in jährlichen »Ziehlern« (Raten) von 100 fl. abgetragen werden (nach VILI, 273 u. StAN, Κ 23 F 4: Gerichts- und Amtsversammlungsprotocoll 1774-1777, Bl. 32" u. 33r). Doch bereits die erste Hälfte der Anzahlung hätte Goks Barvermögen erschöpft; sie ist mit Sicherheit von Johanna Christiana beglichen worden. Die aber hatte sich durch das Beibringens-Inventar ihres zweiten Mannes rückversichert: da die Immobilie dort (anders als im städtischen Kaufbuch) nicht eingetragen war, würde ihr Erwerb als ehelicher Zugewinn betrachtet werden und folglich beiden gehören. Vermutlich dachte das frischverheiratete Paar mit Blick auf die vielversprechende Karriere des Mannes daran, das Haus auf lange Sicht gemeinsam zu finanzieren und ebenso auch die übrigen Liegenschaften, die bald mit dem Geld Johanna Christianas hinzugekauft wurden. Kein unvernünftiger Gedanke: Weinhandel, Landwirtschaft und städtische Amter würden im Laufe der Zeit einiges abgeworfen haben. Doch der frühe Tod Johann Christoph Goks im März 1779 machte diese Spekulation zunichte. Mindestens 3000 Gulden aus dem Privatvermögen der zweifachen Witwe waren in Immobilien festgelegt, die ihr nach dem Erbrecht jetzt nur noch anteilig gehören sollten; weiter hatte sie jene Kapitaleinbußen, von denen die >2te beylaage< spricht, zur Hälfte mitzutragen. Wie hoch der Verlust war, läßt sich nicht beziffern, denn Johanna Christiana scheut exakte Angaben überall dort, wo die Summen nicht ohnehin bekannt sind. Sie neigt jedoch zu starker Ubertreibung; im ersten, noch die Ehe mit Heinrich Friedrich Hölderlin betreffenden Punkt ihrer Darlegung behauptet sie gar wissentlich falsch, daß die Güther, der Antheil an einem Hauß, u. alle Mobilen besonders auch Wein und Fäser sehr hoch bey der ersten Inventur angeschlagen wurden, [...] so daß bey dem Verkauf weit weniger gelößt wurde. (VII.l, 391)
Auch der »grose Zieglerisch Garten« (392) - ein »Baum- Graß und Kuchin Gärdten« (VILI, 277) - , den Gok 1775 für 1200 fl. gekauft hatte und den sie 1792 für 1000 fl. wieder veräußerte, wird zwar erhebliche Kosten verursacht haben, doch keineswegs so hohe, wie die Frau 1812 glauben machen will. Daß er »auf 3 Seiten einen Kostbaren Zaun nöthig« (Vn.2, 392) hatte (auf der vierten stand eine Mauer), ist richtig aber der war bereits vorhanden und mußte nur repariert werden. Und was das Material anbetraf, so hatte Gok sich am 26. Februar 1776 an die Stadt gewandt und mit Erfolg um einen »billichen Ansaz gebetten« 72
(StAN, Κ 23 F 4: Gerichts- und Amstversammlungsprotocoll 1774-77, Bl. 160r). Auch die Differenz zwischen Kauf- und Verkaufspreis muß ein wenig relativiert werden, denn der Garten wurde Anfang Juli 1775 und damit vor der Erntezeit erworben, jedoch 1792 erst nach der Ernte und vor der Aussaat veräußert; bei einem Gelände von knapp vier Morgen keine ganz uninteressante Tatsache. Doch genug der kleinlichen Nachrechnerei, denn obwohl die einzelnen Aufwendungen im Laufe der zweiten Ehe bei näherem Hinsehen nicht immer so »sehr beträchtlich« (Vn.2, 391) scheinen wie Johanna Christiana suggeriert, werden die Verluste mindestens 1500 Gulden betragen haben. Rechtlich betrachtet, gehörten ihr die Immobilien, die mit ihrem Geld erworben wurden, nun nur noch anteilig; auch die Kinder hatten Anspruch darauf. Sie mußte weiterhin mit ihrem persönlichen Vermögen für die Hälfte der Einbußen aufkommen und ein Haus abbezahlen. Überdies war aus dem kleinen Besitz des verstorbenen Gok nicht viel zuzusetzen, doch durften auch die Ansprüche der Hölderlinschen Kinder nicht beschnitten werden. Mit anderen Worten: Johanna Christianas Privatvermögen war beinahe aufgezehrt; sie lebte von den Kapitalzinsen der Hölderlinschen Kinder. - So wäre es jedenfalls bei der Eventualteilung festgeschrieben worden: und deswegen mußte diese mit allen Mitteln abgewehrt werden. In der Folge nun organisiert die Mutter das Familienvermögen, als ob es eine eheliche Gütergemeinschaft mit Gok niemals gegeben habe. Sie stellt nach und nach den vorehelichen Zustand wieder her. Bis 1795 sind alle Liegenschaften wieder veräußert, und ein Erbverzicht der Mutter zugunsten des einzigen überlebenden Kindes aus der zweiten Ehe, Karl Gok, trägt diesem 1787 den unverminderten Anspruch auf das väterliche Beibringen ein. Johanna Christiana verzichte, wie es in scheinbarer Großzügigkeit heißt: Theils zu Abschneidung aller Weitläufigkeiten mit Begreifen eines specifiquen Inventarli, und theils aus Uberzeugung, daß in diesem kurzen Ehestand [...] wenig oder gar nichts acquiriert - wo nicht vielmehr etwas eingebüßt worden [...] (VII.l, 571).
Eingebüßt hatte vor allem sie; doch da die Eventualteilung unterblieb, konnte Karl Gok seinen väterlichen Anteil am Güterzuwachs - also an den Immobilien - nicht geltend machen. Er hatte also durchaus Grund, wegen der unterbliebenen Inventur von 1779 einen »Verdacht« zu äußern. Doch wahrscheinlich war es gar nicht der Sohn aus zweiter Ehe, der sich beklagt hatte. Es scheint vielmehr, daß die rechtfertigende
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»beylaage« mehr auf »die Hölderlinische 1. Kinder« zielte, denen die fehlende Eventualteilung aber nach Meinung der Mutter weder nuzen noch schaden könnte wird der Vorwurff der mich deswegen treffen könnte u auch schon hat wegfallen daß ich dieses zu vermeiden suchte. (VII.2, 391)
Da Friedrich Hölderlin bereits seit 1806 entmündigt und unter Aufsicht in Tübingen lebte und sich auch vorher nie für seine Erbschaft interessiert hatte, werden die »Hölderlinische 1. Kinder« wohl durch seine Schwester Heinrike vertreten worden sein. Die seit 1800 verwitwete Heinrike Breunlin fürchtete vermutlich nach dem Vielen, was ihr Bruder bereits verbraucht hatte, auch noch dem Halbbruder Karl mehr lassen zu müssen, als bei ordentlicher Buchführung nötig gewesen sein würde. Denn falls Johanna Christiana vor ihrer Tochter ein ähnliches Lamento über die Vermögensverluste angestimmt haben sollte, wie sie es in der »2.te[n] beylaage« getan hatte, dann durfte diese glauben, daß der Besitz Johann Christoph Goks vollständig verbraucht worden war; mit der Auszahlung des >Väterlichen< wären alle weiteren Ansprüche abgegolten gewesen, da es einen Zugewinn nicht gegeben hatte. Entsprechend hätte sich der Erbanteil der Kinder aus erster Ehe vergrößert. Arme Heinrike! Und armer Karl! Zu ihrer Entzweiung nach dem Tod der Mutter wäre es wohl nicht gekommen, wenn Johanna Christianas Manipulationen nicht jedem der beiden das Gefühl vermittelt hätte, übervorteilt worden zu sein. Die Dokumente, die über das Geschäftsgebaren der Gokin Auskunft geben, sind nicht eben reichhaltig. Überdies sind einige von ihnen für eine Charakteristik der Frau gar nicht auszuwerten. So verhält sich es beispielsweise mit ihrem umfangreichen, 108 Blatt Folio umfassenden Geschäftsbuch. In diesem Band war festgehalten, wieviel Geld sie gegen einen Zins von 4,5 bis 5,5% an welchen Schuldner verliehen hatte; denn seit dem Tod Johann Christoph Goks hatte sie ihre Geschäfte auf dieses Gewerbe reduziert. So gelang es ihr nicht nur, die Verluste der zweiten Ehe abzugleichen, sondern auch, das Vermögen zwischen 1774 und 1828 um rund 8000 Gulden anwachsen zu lassen. - Aber das Geschäft war nicht eben originell; der Geldverleih war üblich, galt als risikoarm und ließ eine sichere Rendite von durchschnittlich fünf Prozent erwarten. Auch das Geschäftsbuch zeigt kaum individuelle Merkmale; seine Anlage war vorschriftsgemäß und wurde von der Behörde vierteljährlich geprüft. Nur die etwas fahrigen und seitenbeherrschenden Schriftzüge fallen von Kanzleiidealen etwas ab. Es sind vor allem die Testamen-
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te sowie die beiden Avisgabenlisten für ihre Söhne, die für ihre Haltung zum Geld aufschlußreich sind. Die Liste der >Ausgaben vor den L. Fritz.< wurde 1784 begonnen, nach der Aufnahme Hölderlins in das niedere Seminar Denkendorf; rückwirkend sind die Aufwendungen für die Erziehung bis 1776, dem Jahr der Einschulung, nachgetragen worden. Die Eintragungen enden mit dem Jahr 1814, doch wahrscheinlich nicht, wie Adolf Beck nahelegt, weil »das Alter der Greisin die Feder aus der Hand zwang« (VILI, 294). Johanna Christiana Gok hatte sich vielmehr in einer (nicht unterzeichneten) Beilage zu ihrem Testament am 13. Februar 1813 entschieden, die Verfügungen von 1808 aufzuheben und ihre Kinder ungeachtet des jeweiligen väterlichen Vermögens zu gleichen Teilen erben zu lassen; eine Abänderung, die vor allem Karl Gok begünstigte. Die Erblasserin formuliert ihren letzten Willen als Wunsch: [...] so hoffe ich kein unrecht zu begehen wan ich bitte daß meine 3 1. Kinder mein hinderlasenes Vermgen in 3 gleiche Theil Erben, ich hoffe durch den Beystand von oben es werde der 3te theil zureichen das mein 1. Sohn [Hölderlin] kein Mangel leiden darff. (VII.2, 393)
Der »Beystand von oben« ist keine religiöse Formel, sondern bezeichnet das königliche Gratial in Höhe von jährlich 150 Gulden, das dem kranken Hölderlin ausgesetzt worden war und die Kosten für Verpflegung und Unterbringung beim Tübinger Schreinermeister Ernst Zimmer spürbar verminderte; sie beliefen sich auf durchschnittlich 270 fl im Jahr, wobei die Aufwendungen für kleine Reparaturarbeiten an Kleidung, Schuhen usw. bereits mitgerechnet sind. Mit diesem letzten Willen war die Ausgabenliste überflüssig geworden. Ihre Bedeutung bestand darin, im Erbfall jene Kosten berechnen zu können, die Hölderlin verursacht hatte, damit diese entsprechend von seinen Ansprüchen abgezogen werden konnten. Das aber sollte nun im Jahr 1813 - nicht mehr geschehen. Bis dahin scheint Johanna Christiana daran gedacht zu haben, die Uberschrift ihrer Liste zu widerrufen. Sie lautet vollständig: >Ausgaben vor den L. Fritz, welche aber wan Er im gehorsam Bleibt nicht sollen abgezogen werden.< (VILI, 281). Die Kondition »wan Er im gehorsam bleibt« verdankt sich dem zeitgenössischen Recht, wie oben bereits erwähnt worden ist. Niemand aber, weder die Mutter noch die Geschwister Hölderlins, hat von dieser rechtlichen Möglichkeit Gebrauch gemacht und auch nur erwogen, die Studienkosten des Pfarrdienstverweigerers von seinen Ansprüchen abzuziehen. Anders verhielt es sich mit den Ausgaben nach dem Ende der Stiftsausbildung. Johanna Chri75
stiana muß zumindest zeitweise in Betracht gezogen haben, diese Aufwendungen abzurechnen, etwa, als sie Sinclair schrieb, ihr Sohn habe nicht mehr als 125 fl. Zinsen aus dem väterlichen Vermögen zu beanspruchen. 125 fl. sind 5% von 2500 fl.; die Gokin hatte also die überschlägig 1500 fl., die Hölderlin seit dem Studienende und der Abreise nach Homburg 1804 erhalten hatte, von dem »Vätterlichen und Baasen Guth« (Vn.l, 388) in Höhe von rund 3700 fl. voll abgezogen (daß ihm noch rund 746 fl. aus dem Erbe seiner frühverstorbenen Schwester zustanden, scheint Johanna Christiana übersehen zu haben; sie erwähnt es nirgendwo). Vielleicht handelte sie unter Druck: »meine Tochter hat zwar alle Liebe vor Ihren unglücklichen Bruder«, schreibt sie Sinclair am 14. Juni 1804, D a aber der 1. Hölderlin vor ihr schon so viel empfing, u. sie Wittwe ist u. Kinder hat, glaubt sie aber auch vor ihre Kinder sorgen zu müssen. (VII.l, 281)
Heinrike scheint jedoch nicht erst 1804 auf die Ungleichbehandlung zugunsten ihres Bruders hingewiesen zu haben. Nachdem der im Juni 1799 - zum erstenmal seit beinahe fünf Jahren - ein Geldangebot von 100 fl. akzeptiert hatte, schreibt er im Juli seiner Schwester: Ich kam sehr ungerne daran, da diese gütige Mutter während meiner Universitätsjahre so viel für mich gethan hat, ihr gestehen zu müssen, daß ich für dieses Jahr mit dem, was ich von Frankfurt brachte, nicht ganz ausreichte, wie ich dachte, da ich meine Maladie, und die fast vierteljährige Veränderung meiner Kost, zu der sie mich nöthigte, auch den harten Winter, und einige andere Ausgaben nicht voraussehn konnte. Ich habe mirs aber ausdrüklich und mit wiederhohltem Ernste ausbedungen, die 100 fl, die sie mir schicken will, und alles übrige, um das ich sie im Nothfall noch bitten möchte, ja nicht unbemerkt zu lassen, und mich nur vor der Zeit, so viel es die Umstände erfordern, auf diese Zeit auszusteuern. (VI, 353)
Hölderlin wird gewußt haben, warum er die Schwester mit einer so detaillierten Darlegung seiner finanziellen Notlage und der Verrechnungsmodi beruhigt. Plauderlust wird es kaum gewesen sein. Doch scheint Johanna Christiana nur unter Druck daran gedacht zu haben, die Ausgaben für Hölderlin vom Erbteil abzuziehen. So heißt es in dem versiegelten Testament von 1808, daß [...] ich meine 1. Tochter u. 1. Jüngern Sohn bitte, von dem was Ihr 1. Bedauerenswürdiger Bruder zum Studieren, Reiß kosten als Hoffmeister, u. während seiner trauerigen Gemüths Kranckheit nöthig hatte nichts anzurechnen [...] (Vn.2, 386).
Vielleicht ahnte sie auch, daß die Behauptung, ihr Sohn habe sein Erbe längst schon verbraucht, nicht aufrechtzuerhalten war; vielleicht auch, daß die Ausgabenliste bei genauerer Prüfung möglicherweise Verdacht 76
erregen könnte. Denn einige der Preise, die sie dort für Kleidung oder Schuhe eingetragen hatte, sind schlichtweg astronomisch. So sollen nach ihren Angaben »2 Paar neu seidene strümpf« zusammen 10 Gulden, »3 Paar feine gefärbte u weiß Baumwollen Strümpf« (VILI, 290) 6 Gulden gekostet haben. Demnach müßte ein Paar Seidenstrümpfe nach dem niedrigsten Umrechnungssatz, wie ihn das Württembergische Hauptstaatsarchiv vorschlägt, ca. DM 250, ein Paar Baumwollstrümpfe DM 100 gekostet haben. Diese Preise stehen in keinem Verhältnis zu dem, was in kulturhistorischen Arbeiten als üblicher Warenwert beziffert wird. Wie dem auch sei, das Nürtinger Waisengericht kassierte all die testamentarischen Verfügungen Johanna Christiana Goks, sah die Ausgabenliste nicht weiter an und erkannte Hölderlin am 1. Mai 1828 den vollen Anspruch auf das »Anerstorbene« von Vater, Tante und der verstorbenen Schwester zu; des weiteren ein Drittel der mütterlichen Hinterlassenschaft, insgesamt also rund 9186 fl. Eine einfache Zinsberechnung hatte ergeben, daß die Aufwendungen für den ältesten Sohn keineswegs sein »Vätterliches und Baasen Guth« aufgezehrt hatte und die Mutter folglich nicht verfügen konnte, daß die Hinterlassenschaft von 18863 Gulden unter den Geschwistern gleichmäßig verteilt werde; 4462 fl. davon gehörten ihr gar nicht. Aber der Erbstreit, den Heinrike Breunlin, Karl Gok und der Pfleger Hölderlins, Gottlob Israel Burk, zuerst vor dem Nürtinger Waisengericht, dann vor dem Königlichen Oberamtsgericht und schließlich vor dem Königlichen Obertribunal austrugen, drehte sich in der Hauptsache nicht so sehr um diese Bestimmung der Mutter, sondern um eine andere: wenigstens was Bruder und Schwester betraf. Es handelte sich um das Nacherbe. Um 1810 waren die erbrechtlichen Bestimmungen geändert worden; danach fiel die Hinterlassenschaft einer Schwester oder eines Bruders nur noch den Voll-, nicht aber, wie bisher, auch den Stiefgeschwistern zu. Karl Gok hatte damit keinen Anspruch mehr auf Hölderlins Nachlaß. Die Mutter empfand das als ungerecht und bat ihre Tochter in der »erste[n] Beylaage« zu ihrem Testament von 1812, daß sie meinen 1. Sohn [Karl Gok], oder desen Frau oder 1. Kinder gleich mit Erben läßt, das Löb. Waisen Gericht wird meine Bitte nicht unbillig finden, u. ich traue es meiner 1. Tochter zu das Sie es ihrem Lieben Bruder nicht misgönen werde [...] (Vn.2, 390).
Sie mißgönnte. Im März 1828 erkundigte sie sich beim Waisengericht: [...] an die einstige Verlassenschaft desselben [Hölderlins] (wenn nämlich Gott ihm die Kraft zum Selbsttestieren nicht mehr schenkte) wird ausser mir und mei-
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nen Kindern Niemand eine Ansprache machen dürfen? Wenigstens verwahre ich mich zum Voraus feierlich dagegen, und zwar: weil nicht nur schon die Geseze Uns das Ganze zueignen, sondern weil auch die täglich sich ausgesprochene Liebe der Verewigten für meine Kinder nie annehmen l'äßt, Sie habe unsere Rechte nur im Geringsten verkürzen wollen, und weil Sie in dem lezten halben Jahre Ihres Erdenlebens mir oft und deutlich zu verstehen gab, wie günstig Dieselbe für mich in Betreff Ihrer Verlassenschaft gesinnt seye, ja! Sie verlangte während jener Zeit selbst die - Ihren lezten Willen enthaltenden Papiere mehrmals von mir, um Aenderungen zu meinem Vortheil darinn vorzunehmen, aber natürlich hielt mich gerade dieses ab, in Ihr Verlangen zu willigen. (Vgl. Anhang, S. 149f.)
Nun hatte sich Johanna Christiana Gok in ihren Testamenten gerade umgekehrt erklärt; auch wird die Liebe zu den Kindern Karl Goks nicht gerade um 5000 Gulden geringer gewesen sein als diejenige zu den Kindern Heinrike Breunlins. Karl jedenfalls, der mehrfach Zurückgesetzte, hatte Grund, gegen den Bescheid des Waisengerichts zu klagen. Wenigstens hier wollte er nicht übervorteilt werden. Das Königliche Obertribunal drängte die Kontrahenten »zwischen welchen wenigstens früher das innigste Verhältniß bestanden« (VII.3, 99) zu haben scheine, im September schließlich zum Vergleich: Hölderlin erhielt demnach 9074 fl. und 8 Kreuzer, die beiden Geschwister jeweils 5230 fl. und 49 Kreuzer. Karl würde nach dem Tode Hölderlins zu einem Achtel an dessen Hinterlassenschaft beteiligt werden und wurde verpflichtet, zur Hälfte die Kosten für seinen Unterhalt mitzutragen, falls diese je seine Kapitalzinsen und das Gratial übersteigen sollten - was aber nicht vorkam. Mit dem »innigsten Verhältniß« der Geschwister Karl und Heinrike war es freilich aus. Als Gok nach dem Tode Hölderlins ein teures Grabdenkmal bestellte, verweigerte er der Schwester gar jeden Anteil an diesem Akt des Gedenkens. »Das Wort Familienbande«, schreibt Karl Kraus, »hat einen Beigeschmack von Wahrheit«. Der Streit der Geschwister um das Erbe der verstorbenen Johanna Christiana Gok ist von Adolf Beck nicht ausführlich dokumentiert, sondern nur in Hinsicht auf die juristisch entscheidenden Stationen ausgewertet und überblicksartig zusammengefaßt worden (S. VII, 3, 96 100). Eine vollständige Publikation aller einschlägigen Akten verbot sich für den Mitherausgeber der Stuttgarter Ausgabe allein schon mit Blick auf deren Umfang: Mit allen Beilagen macht der Vorgang einen Papierstoß von ungefähr 20 cm Höhe aus. Überdies wird Hölderlin von dem Erbstreit der Geschwister und seines Pflegers Burk kaum etwas erfahren haben; mit großer Wahrscheinlichkeit hat ihm sein Tübinger Kostherr Ernst Zimmer - stets besorgt um den reizbaren Kranken - nichts von diesen Vorgängen mitgeteilt. 78
Als Quelle für Leben und Werk Friedrich Hölderlins kommt die Akte »Inventuren und Teilungen Nr. 8193< mithin kaum in Betracht. Doch enthält sie Briefe und Stellungnahmen des Stiefbruders Carl Christoph Gok und der Schwester Heinrike, verwitwete Breunlin, die auf dem Hintergrund der sachlichen Auseinandersetzung einiges auch zu deren Charakteristik beitragen. Es geht jedoch nicht nur um Affekte; Gok, der sich zurückgesetzt fühlte, weil die zwar eindeutigen, aber nicht zwingend rechtsverbindlichen letztwilligen Verfügungen (VII, 2, 386-394) der Mutter zu seinen Gunsten nicht anerkannt wurden, hatte gute Gründe für seine Rechtsauffassung. Ein differenziertes Rechtsgutachten des Gerichtsnotars Holder ist zusammen mit den Stellungnahmen Burks und Heinrike Breunlins im Anhang dokumentiert, um den Eindruck zu vermeiden, Gok habe skrupellos den eigenen Vorteil zum Schaden der Geschwister durchzusetzen versucht, oder einen sinn- und pietätlosen Prozeß vom Zaun gebrochen. Davon kann nicht die Rede sein; vielmehr glaubte er sich im Einvernehmen mit dem mütterlichen Willen, den die Kontrahenten, teils mit juristischen Gründen, teils mit dem Argument: die altersschwache Johanna Gok habe sich in den späteren Beilagen zu ihrem Testament nur nicht mehr klar auszudrücken vermocht - außer Kraft zu setzen suchten.
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Zweierlei Heimkunft
Ich werd' auch wol nicht ewig ausbleiben. Hölderlin an seine Mutter, 12. März 1795
In Werk und Leben Friedrich Hölderlins spielt die Wanderschaft eine gleichermaßen herausragende Rolle. Sie ist teils ersehnt und teils erzwungen; in den Anfangsjahren war sie beides. Dem Dichter stellt sie sich als geschichtsphilosophisch begründete Notwendigkeit dar und wird so in den großen Elegien und Hymnen thematisiert und beschrieben. Eine Untersuchung zur Bedeutung der Wanderschaft und ihrer Komponenten Aufbruch, Fremde und Heimkunft ergäbe - gleichsam als Nebenprodukt - einen überraschend vollständigen Abriß der Biographie und Werkgeschichte Hölderlins.10 Eine solche Untersuchung hätte die kurzen Bildungsreisen des Schülers und Studenten an den Rhein oder in die Schweiz einzubeziehen, die mehrtägigen Ausflüge in die Umgebung seiner jeweiligen Wohnorte, die Fahrten nach Kassel, Rastatt und Regensburg; aber auch die oft umwegigen Wanderungen zu bzw. von den verschiedenen Herrschaften, die den Hofmeister in Waltershausen, Frankfurt, Hauptwil oder Bordeaux angestellt hatten. Sie hätte den Wandel der inneren Haltung des Reisenden darzustellen, sein »ewiges Sehnen von einer Stelle der Welt zur anderen« (VI, 124) mit den »bittrefn] Thränen«, die es ihn gekostet hatte, sein »Vaterland noch jezt zu verlassen« (VI, 427f.) zu kontrastieren: den Bogen, der sich von Enthusiasmus und Hoffnung bis zu Resignation und Verzweiflung spannt. Es wäre von finanzieller Not und wirtschaftlicher Abhängigkeit zu reden und in diesem Zusammenhang auch von Nürtingen. Eine Studie über die Wanderschaft hätte sich allerdings auch mit dem Werk zu beschäftigen, mit den dichterischen Ausflügen nach Griechenland, mit den Oden, die das Verhältnis von Heimat und Fremde meditieren, mit den Elegien >Der Wanderen oder >HeimkunftPatmosHeimkunftTheogonie< ausbildete, sondern an Vergils chiliastischer Deutung. Die »wandernde Zeit«, der »bacchantische Morgen«, die unendlicher, kühner gemischten Jahre, Stunden und Tage aus der >Heimkunft< sind Reminiszenzen aus der Dichtung des Römers: »Magnus ab integro saeclorum nascitur ordo« (Ecl. 4, ν 5: »die große Ordnung der Zeitalter entsteht von frischem«). Mag sein, daß auch die Verse 149-151 aus >Brod und Wein< in Beziehung auf Vergils Friedenslyrik geschrieben sind: 102
Was der Alten Gesang von Kindern Gottes geweissagt, Siehe! wir sind es, wir! Frucht von Hesperien ists! Wunderbar und genau ists als an Menschen erfüllet. (Π, 95)
Auch dies ist eine Heimkunft: in ein Hesperien Vergils, der dieses Wort zwar nicht geprägt, ihm jedoch erst den utopischen Sinn verliehen hat, in dem Hölderlin es gebraucht.
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Hoffnungen
Heimkunft an die Verwandten l.
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Drinn in den Alpen ists noch helle Nacht und die Wolke, Freudiges dichtend, sie dekt drinnen das gähnende Thal. Dahin, dorthin toset und stürzt die scherzende Bergluft, Schroff durch Tannen herab glänzet und schwindet ein Stral. Langsam eilt und kämpft das freudigschauernde Chaos, Jung an Gestalt, doch stark, feiert es liebenden Streit Unter den Felsen, es gährt und wankt in den ewigen Schranken, Denn bacchantischer zieht drinnen der Morgen herauf. Denn es wächst unendlicher dort das Jahr und die heiigen Stunden, die Tage, sie sind kühner geordnet, gemischt. Dennoch merket die Zeit der Gewittervogel und zwischen Bergen, hoch in der Luft weilt er und rufet den Tag. Jezt auch wachet und schaut in der Tiefe drinnen das Dörflein Furchtlos, Hohem vertraut, unter den Gipfeln hinauf. Wachstum ahnend, denn schon, wie Blize, fallen die alten Wasserquellen, der Grund unter den Stürzenden dampft, Echo tönet umher, und die unermeßliche Werkstatt Reget bei Tag und Nacht, Gaaben versendend, den Arm. 2.
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Ruhig glänzen indeß die silbernen Höhen darüber, Voll mit Rosen ist schon droben der leuchtende Schnee. Und noch höher hinauf wohnt über dem Lichte der reine Seelige Gott vom Spiel heiliger Stralen erfreut. Stille wohnt er allein und hell erscheinet sein Antliz, Der ätherische scheint Leben zu geben geneigt, Freude zu schaffen, mit uns, wie oft, wenn, kundig des Maases, Kundig der Athmenden auch zögernd und schonend der Gott Wohlgediegenes Glük den Städten und Häußern und milde Reegen, zu öffnen das Land, brütende Wolken, und euch, Trauteste Lüfte dann, euch, sanfte Frühlinge, sendet, Und mit langsamer Hand Traurige wieder erfreut, Wenn er die Zeiten erneut, der Schöpferische, die stillen
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Herzen der alternden Menschen erfrischt und ergreifft, Und hinab in die Tiefe wirkt, und öffnet und aufhellt, Wie ers liebet, und jezt wieder ein Leben beginnt, Anmuth blühet, wie einst, und gegenwärtiger Geist kömmt, Und ein freudiger Muth wieder die Fittige schwellt. 3.
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Vieles sprach ich zu ihm, denn, was auch Dichtende sinnen Oder singen, es gilt meistens den Engeln und ihm; Vieles bat ich, zu lieb dem Vaterlande, damit nicht Ungebeten uns einst plözlich befiele der Geist; Vieles für euch auch, die im Vaterlande besorgt sind, Denen der heilige Dank lächelnd die Flüchtlinge bringt, Landesleute! für euch, indessen wiegte der See mich, Und der Ruderer saß ruhig und lobte die Fahrt. Weit in des Sees Ebene wars Ein freudiges Wallen Unter den Seegein und jezt blühet und hellet die Stadt Dort in der Frühe sich auf, wohl her von schattigen Alpen Kommt geleitet und ruht nun in dem Hafen das Schiff. Warm ist das Ufer hier und freundlich offene Thale, Schön von Pfaden erhellt grünen und schimmern mich an. Gärten stehen gesellt und die glänzende Knospe beginnt schon, Und des Vogels Gesang ladet den Wanderer ein. Alles scheinet vertraut, der vorübereilende Gruß auch Scheint von Freunden, es scheint jegliche Miene verwandt. 4.
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Freilich wohl! das Geburtsland ists, der Boden der Heimath, Was du suchest, es ist nahe, begegnet dir schon. Und umsonst nicht steht, wie ein Sohn, am wellenumrauschten Thor' und siehet und sucht liebende Nahmen für dich, Mit Gesang ein wandernder Mann, glükseeliges Lindau! Eine der gastlichen Pforten des Landes ist diß, Reizend hinauszugehn in die vielversprechende Ferne, Dort, wo die Wunder sind, dort, wo das göttliche Wild Hoch in die Ebnen herab der Rhein die verwegene Bahn bricht, Und aus Felsen hervor ziehet das jauchzende Thal, Dort hinein, durchs helle Gebirg, nach Komo zu wandern, Oder hinab, wie der Tag wandelt, den offenen See; Aber reizender mir bist du, geweihete Pforte! Heimzugehn, wo bekannt blühende Wege mir sind, Dort zu besuchen das Land und die schönen Thale des Nekars, Und die Wälder, das Grün heiliger Bäume, wo gern Sich die Eiche gesellt mit stillen Birken und Buchen, Und in Bergen ein Ort freundlich gefangen mich nimmt.
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Dort empfangen sie mich. O Stimme der Stadt, der Mutter! O du triffest, du regst Langegelerntes mir auf! Dennoch sind sie es noch! noch blühet die Sonn' und die Freud' euch, O ihr Liebsten! und fast heller im Auge, wie sonst. Ja! das Alte noch ists! Es gedeihet und reifet, doch keines Was da lebet und liebt, lasset die Treue zurük. Aber das Beste, der Fund, der unter des heiligen Friedens Bogen lieget, er ist Jungen und Alten gespart. Thörig red ich. Es ist die Freude. Doch morgen und künftig Wenn wir gehen und schaun draußen das lebende Feld Unter den Blüthen des Baums, in den Feiertagen des Frühlings Red' und hoff' ich mit euch vieles, ihr Lieben! davon. Vieles hab' ich gehört vom großen Vater und habe Lange geschwiegen von ihm, welcher die wandernde Zeit Droben in Höhen erfrischt, und waltet über Gebirgen Der gewähret uns bald himmlische Gaaben und ruft Hellern Gesang und schikt viel gute Geister. O säumt nicht, Kommt, Erhaltenden ihr! Engel des Jahres! und ihr, 6.
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Engel des Haußes, kommt! in die Adern alle des Lebens, Alle freuend zugleich, theile das Himmlische sich! Adle! verjünge! damit nichts Menschlichgutes, damit nicht Eine Stunde des Tags ohne die Frohen und auch Solche Freude, wie jezt, wenn Liebende wieder sich finden, Wie es gehört für sie, schiklich geheiliget sei. Wenn wir seegnen das Mahl, wen darf ich nennen und wenn wir Ruhn vom Leben des Tags, saget, wie bring' ich den Dank? Nenn ich den Hohen dabei? Unschikliches liebet ein Gott nicht, Ihn zu fassen, ist fast unsere Freude zu klein. Schweigen müssen wir oft; es fehlen heilige Nahmen, Herzen schlagen und doch bleibet die Rede zurük? Aber ein Saitenspiel leiht jeder Stunde die Töne, Und erfreuet vieleicht Himmlische, welche sich nahn. Das bereitet und so ist auch beinahe die Sorge Schon befriediget, die unter das Freudige kam. Sorgen, wie diese, muß, gern oder nicht, in der Seele Tragen ein Sänger und oft, aber die anderen nicht. 14
Die Textwiedergabe folgt der Reinschrift Hölderlins im Homburger Folioheft, wie sie in Π, 96-99 wiedergegeben wird. Ob die späteren Änderungen Hölderlins als neue Fassung oder nur als Varianten zu betrachten sind, ist umstritten. Beißner verneint dies und teilt die Änderungen im Apparat mit (Π, 624). Dietrich E. Sattler glaubt aus Reinschrift und Nachträgen einen »konstituierten Text« gewinnen zu können (FHA 6, 291-319); Uffhausen (225) rechtfertigt eine weitere Version. Uber dem Stand der Diskussion informiert ein vorzüglicher Aufsatz von
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>Heimkunft< ist ein Gedicht über die Zeit. Sie erscheint in den Formen des Anbruchs, im ersten Morgengrauen (»helle Nacht« - v. 1) und im frühen Licht (»blühet und hellet die Stadt/ Dort in der Frühe sich auf« v. 46f.) oder als Jahresbeginn im Frühling (v. 29). Sie erscheint in Stunden, Tagen, Jahren und in allen ihren Funktionen: als Gegenwart im Geschehen und Handeln, als Vergangenheit in Erinnerung und Treue, als Zukunft in Hoffnung und Beschwörung. Sie erscheint in ihren Gegenbegriffen Unendlichkeit und Ewigkeit; sie erscheint im Wachstum als Jugend und Alter. Die >Heimkunft< ist zugleich ein Gedicht der Beziehungen. Nur oberflächlich ist die Elegie mit ihren sechs Strophen zu je 18 Versen in drei enger zusammengehörige Blöcke geteilt. Strophen 1 und 2 sprechen von der Schöpfungsmacht der chaotischen Hochgebirgsnatur und von derjenigen Gottes; in den folgenden beiden steht der Sänger und Wanderer allein und erwägt sein Verhältnis zu Gott und den »Landesleute[n]« (v. 43). Die zwei letzten Strophen zeigen die Wiedervereinigung der Getrennten im Zeichen des »heiligen Friedens« (v. 79) und bald erwarteter »himmlische[r] Gaaben«: das Bild einer untereinander und mit Gott versöhnten Gemeinschaft. Doch so streng sind die Blöcke nicht voneinander abgesetzt. Bereits die erste Strophe, die in ihren ersten 12 Versen ein in sich geschlossenes Widerspiel der Elemente schildert, deutet diesen Vorgang in ihrem letzten Drittel als zweckbestimmte Werkstattarbeit und greift so »Gaaben versendend« (v. 18) - in die Menschenwelt hinüber. Beziehungen zu den Elementen und zu den Menschen unterhält auch die zweite Strophe, die von Gott spricht. Nummer 3 und 4 sind nicht der Figur des wandernden Sängers an sich vorbehalten, sondern seinen Relationen zu Gott und der Gemeinschaft, zur elementaren Fremde und zur kultivierten Natur der Heimath. Der Schlußblock schließlich vereinigt nicht nur das sprechende Ich mit seinen Verwandten zur alt-neuen Gemeinschaft, sondern fragt zugleich nach den »Geister[n]« (v. 89) und Boten (»Engel« - v. 90) Gottes - wie auch nach der umgekehrten Möglichkeit (»ein Saitenspiel [...] erfreuet vieleicht Himmlische« - v. 103f.), Gott ansprechen zu können. Und die >Heimkunft ist ein Gedicht über die reale Rückkehr Hölderlins aus der Schweiz nach Nürtingen. Bei aller hermeneutischen VorWolfram Groddeck (in H J b 28/1992-1993, S. 239-263), der seinerseits neue Aufschlüsse zur letzten Überarbeitungsschicht vermittelt. - Insgesamt sei noch auf die diplomatische Umschrift des sog. >Homburger Foliohefts< (307/1-4) durch Dietrich E. Sattler und Emery George verwiesen.
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sieht würde es an Mutwilligkeit grenzen, diese unübersehbare autobiographische Schicht ganz beiseitelassen zu wollen. Peter Härtling hat den interessanten Versuch unternommen, die Elegie im Ganzen als ein Stück versifizierter Lebensgeschichte zu lesen (s. HJb 25/1986-1987, S. 1-11). Hier wird, am Schluß, zu fragen sein, ob die Wechselbeziehungen von poetischer Komposition und familiärer Situation nur private oder auch ästhetische Aufschlüsse zu vermitteln vermögen. Doch von vorn. Die Verse 1-6 zeigen ein geschlossenes System. Es ist klar lokalisiert und datiert, die Szene spielt »Drinn in den Alpen« (v. 1), in einem »gähnende[n] Thal« (v. 2), »unter den Felsen«, »in den ewigen Schranken« (v. 7) des Gebirges - in einer Naturlandschaft also, die von menschlicher Arbeit nicht erreicht und verändert werden kann. Nach oben durch eine Wolke abgeschlossen (v. lf.), bewegen sich die gegensätzlichen Elemente des Tals ineinander und auseinander. Tag und Nacht, Licht und Dunkelheit, Feuer und Wasser, Erde und Dampf sind noch nicht deutlich voneinander getrennt, befinden sich noch halb im nasziven Zustand. Die vielen Oxymora der Strophe zeigen dies an: »helle Nacht« (v. 1), »glänzet und schwindet ein Stral« (v. 4), »langsam eilt« (v. 5), »feiert es [das Chaos] liebenden Streit« (v. 6); die »Bergluft« »toset und stürzt« »dahin, dorthin« und wird doch als »scherzende« (v. 3) bezeichnet; aus der Erde kommende »Wasserquellen« (v. 16) werden mit ihrem exakten Gegenteil, dem Feuer vom Himmel verglichen, sie sollen »schon, wie Blize, fallen« (v. 15); das Element Erde (»der Grund«) »dampft« (v. 16). Doch steigert sich die Energie dieser konträren Vorgänge erst langsam, mit dem anbrechenden Morgen. Im ersten Doppelvers sind die Elemente noch im >Ungeschiedenen< - wie die deutsche Ubersetzung des griechischen >Chaos< lautet - , d.h. in der Nacht, auch wenn diese nun hell zu werden beginnt und das »Thal« mit dem Beiwort »gähnend[e]Heiligen Ehe< (>Hieros GamosGeorgica< als Befruchter und Spender anzusehen, als Gott der Jahreszeiten. Mindestens wäre so der Gedanke vom unendlicheren Wachstum des Jahrs in ein und demselben Mythologem integriert und die Uberleitung zum »Dörflein« (v. 13), das »Wachstum ahnend« (v. 15) in die Höhe schaut, durch die menschenfreundliche Haltung des tellurischen Bacchus vermittelt. Unabhängig von dem modellgebenden Mythos jedoch wird das Drama durch das gesteigerte Adjektiv »bacchantischer« von einem bloßen Naturereignis zu einem Götterschauspiel gesteigert. »Gewittervogel« (v. 11), »Blize« (v. 15) und »Werkstatt« erweitern diesen mythischen Assoziationsrahmen diskret um die Attribute des Zeus und des Hephaistos. Und wenn im letzten Drittel schließlich von Menschen bzw. von ihrem Wohnort (»Dörflein«) gesprochen wird, so sind die Epochen der griechischen Schöpfungsgeschichte vollständig angedeutet: Von dem generierenden Chaos des ersten Strophendrittels über die Differenzierung in einzelne Elemente, Zeiten und Götter im zweiten bis zu der nach Oben und Unten gegliederten Ordnung- griechisch >Kosmos< - welche die Menschen mitumfaßt. - Das ephemere Ereignis der Morgendämmerung wird so als tägliche Wiederholung der Schöpfung gedeutet. Dreiteilung ist nicht nur das Merkmal der ersten, sondern aller sechs Strophen des Gedichts. Die Drittel sind dabei mehr oder minder dem Idealverhältnis von 6 : 6 : 6 Versen angeglichen. So auch in der zweiten Strophe. Von Zeile 19-24 ist nicht mehr vom Innenraum der Alpen die Rede, sondern von dem, was darüber ist, den »silbernen Höhen« (v. 19) und - »noch höher hinauf [...] über dem Lichte« (v. 21) - vom »reine[n]/ Seelige[n] Gott« (v. 21f.). Der Kosmos griechischer Vorstellung in seiner Permanenz der verschiedenen Schöpfungsphasen wird nun um den christlichen Gott erweitert. Im Unterschied zu den vorangegangenen Ereignissen resultièrt seine Existenz nicht aus konfligierenden Gegensätzen. Sie konstituiert sich auch nicht erst in Aktionen, sondern wird zunächst - rein passiv, als An-sich-Sein vorgestellt. Im Unterschied auch zur allumschließenden, gebärenden Dunkelheit der ersten Strophe erscheint er von vorneherein im Hellen. Fünfmal tauchen in den Versen 19-23 Vokabeln aus dem Wortfeld des Strahlens und Leuchtens auf: »glänzen«, »leuchtende«, »Lichte«, »heiligen Stralen« und »hell erscheinet«. - Vom absoluten Sein Gottes spricht Vers 24: »Der ätherische 110
scheint Leben zu geben geneigt«. Die Unabhängigkeit der göttlichen Majestät könnte vorsichtiger als durch das zweifelnde Prädikat »scheint geneigt« nicht ausgedrückt werden. Die folgende Handlung jedenfalls entspringt keiner Notwendigkeit; sie entspringt der bloßen Neigung Gottes »wie ers liebet« (v. 34). Der Zweck dieser Handlungen ist »Freude zu schaffen, mit uns« (v. 25). Daher ist das göttliche Tun ganz an den Bedürfnissen der »Athmenden« - der Menschen also, die durch das Atmen zugleich auch an der Sphäre des »Ätherischen« teilhaben - orientiert. Im zweiten Strophendrittel dominieren die Ausdrücke des Maßnehmens und der Rücksicht: »kundig des Maases« (v. 25), »zögernd und schonend« (v. 26), Wohlgediegenes Glük« (v. 27), »milde Reegen« (v. 28), »Trauteste Lüfte«, »sanfte Frühlinge« (v. 29), »mit langsamer Hand Traurige wieder erfreut«. Mit diesen von den Bedürfnissen und Verhältnissen des Menschen bestimmten Akten ist ein bedeutender Unterschied zu den Vorgängen der ersten Strophe festgehalten. Dort war der Schöpfungsakt einer immanenten Logik der Gegensätze entsprungen, an deren Ende erst die menschliche Siedlung ihren Platz hatte. Hier resultiert er aus Gnade (»geneigt«) und Liebe, aus der lebensspendenden Kraft. Die Natur ist als Natur Gottes nicht länger Generator, sondern Medium der Schöpfung. Alles, was in den ersten 18 Versen der Elegie aus originärer Bewegung der Elemente entstanden zu sein schien, erweist sich nun als das Werk des »Schöpferischefn]« (v. 31), der »hinab in die Tiefe wirkt und öffnet und aufhellt« (v. 32), »die Zeiten erneut« (v. 31), Einstiges und Gegenwärtiges, »Anmuth« und »Geist« (v. 35) zu »freudige[m] Muth« (v. 36) verbindet. Erst in der dritten Strophe macht die Elegie ihren Titel auch zum Thema. Mit dem ersten Vers tritt der wandernde Sänger in Erscheinung; er sucht zunächst die Beziehung zum creator spvritus der vorangegangenen Zeilen: »Vieles sprach ich zu ihm denn, was auch Dichtende sinnen oder singen, es gilt meist den Engeln und ihm« (v. 37f.). Die Beziehung ist vorerst einsinnig: Der »Dichtende« spricht zu Gott oder singt ihm oder - wie es in Vers 39 heißt - bittet Dritten »zu lieb«. Damit ist das Dichten zugleich als Medium bestimmt und der Dichter als Mittler; dieser Begriff wirkt auch auf die »Wolke« zurück, die zu Beginn des Gedichts das Alpental, »Freudiges dichtend«, bedeckt hatte. Zwar hat Friedrich Beißner wohl recht, wenn er im Stellenkommentar >dichten< von seiner älteren Bedeutung, vom »mittelhochdeutschen ticken: schaffen ins Werk setzen« (Π, 626) herleitet; doch indem die Wolke Freudiges ins Werk setzt, ist ihre Arbeit auch schon auf andere bezogen, ist folglich kommunikativ. - Im ersten Strophendrittel wird nun das Amt des
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Dichters genauer bestimmt. Es definiert sich, wie gesagt, zuerst durch die Beziehung zu Gott, an dessen Werken es durch das gemeinsame »Schöpferische« (im alten wie im heutigen Sinn von >dichtenvideri< und >lucere< hält, von >den Anschein haben< und >leuchtenHeimkunft< also nicht bloß als Beieinander verstanden, sondern als Versöhnung der Lebensalter. Und wiederum ist es das Verb »blühen« assoziiert mit dem Zyklus der Jahreszeiten und der Schöpfungsmacht Gottes -, das die Erneuerung: »fast heller im Auge, wie sonst« (v. 76) anzeigt. Einst und Jetzt sind im Bilde des Wachstums und durch die Treue über die Zeiten hinweg verbunden. Die umfassende Kommunion steht allerdings noch aus: »Aber das Beste, der Fund, der unter des heiligen Friedens/ Bogen lieget, er ist Jungen und Alten gespart.« (v. 79f.). Worin »der Fund« besteht, der sich im Zeichen des Friedens ankündigt, vermittelt wiederum der Sänger, der nicht nur - wie in Strophe 3 - zw Gott spricht, singt oder betet, sondern auch von ihm »Vieles gehört« (v. 85) und »Lange geschwiegen« (v. 86) hat. Ihn, den »großen Vater« (v. 85), erkennt er als Herrn der Zeit. Damit sich die Zeit vollende, muß Gott selbst nun durch »Gaaben« (v. 88), »Gesang« und »Geister« in das Gespräch und das Leben der Menschen eintreten. Hölderlin wähnt diese Zeit nahe; die Grenze der fünften Strophe wird im beschwörenden Anruf der Gottesboten - »Kommt Erhaltenden ihr! Engel des Jahres!« (v. 90) - durchbrochen und mündet in die eschatologische Vision der sechsten und letzten ein: »und ihr,// Engel des Haußes, kommt! in die Adern alle des Lebens,/ Alle freuend zugleich, theile das Himmlische sich!« (v. 90-92). Erst dann, wenn »das Himmlische« sich in die Adern geteilt hat wie ein Blutverwandtes, kann im elaborierten Sinne von >Heimkunft< (die ja ausdrücklich den »Verwandten« gewidmet ist) geredet werden, gehört es als Heiligendes in den Kreis der Liebenden, die »wieder sich finden« (v. 95). Galt die erste Trias der dritten Strophe der Anrede Gottes, die beiden übrigen Drittel dann aber seiner Wirksamkeit »mit uns«, so ist das Verhältnis hier umgekehrt. Die erste Trias ist den »himmlischen[n] Gaaben« gewidmet; die Schlußtriaden aber befassen sich mit dem Problem des Danks. Die Sorge um das »Schiklich[e]« und Angemessene bestimmt die Verse 97-102, »Ihn zu fassen, ist fast unsere Freude zu klein« (v. 100). Der Sänger konstatiert: »Es fehlen heilige Nahmen« (v. 101). Mit diesem Vorsatz ist auch die Aufgabe des Dichters vollständig beschrieben: nach Anruf und Verkündigung nun die Danksagung. Aber zwischen Aufgabe und Möglichkeit herrscht ein Mißverhältnis: »Herzen 114
schlagen und doch bleibet die Rede zurück?« (v. 102). Die letzte Trias beschäftigt sich mit dieser »Sorge« (v. 105). Wenn schon die »Rede« versagt undfixierende»Nahmen« den Unfaßlichen per definitionen nicht fassen können, »erfreuet vieleicht Himmlische« (v. 104) »ein Saitenspiel« (v. 103). Die Töne der Lyra sind wie die des Psalters - beides Instrumente der Dichter - auf eine Harmonie göttlichen Ursprungs gestimmt. Daher kann sie auch »jeder Stunde die Töne« (v. 103) leihen, indem sie mit menschlichem Geschick gespielt doch »heilige« Klangverhältnisse erneuert. Befriedigt ist die »Sorge«, erfüllt ist die Aufgabe des Dichters durch das Saitenspiel jedoch nicht oder nur »beinahe« (v. 105). Daher steht er ein wenig abseits vom allgemeinen Fest und von der allgemeinen Freude. Der letzte Doppelvers hält diese Position fest: Sorgen, wie diese, muß, gern oder nicht, in der Seele Tragen ein Sänger und oft, aber die anderen nicht.
Die Frage nach dem Modus von Gesang und Rede, die Alternative von »thörig« reden oder schweigen vor dem Unnennbaren, wendet das Gedicht ins poetologische; es separiert zugleich das Sänger-Ich, den »Flüchtling« oder »Fremdling« von der Gemeinschaft der Städter, von der »Stimme der Stadt, der Mutter«. Diese Differenz wird durch die spätere Überarbeitung noch verschärft; an die Stelle der Verse 77-80, die vom »Beste[n], vom »Fund, der unter des heiligen Friedens/ Bogen lieget« sprechen, treten nun die folgenden Zeilen: Ja! das Alte noch ist's! das Ständige. Viel ist, doch nichts, was Liebt und berühmt ist, läßt beinerne Treue zurük. Blutlos. Aber der Schaz, das Deutsche, der unter des heiligen Friedens Bogen lieget, er ist Jungen und Alten gespart.«
Dies ist die Lesart, die Groddeck vorschlägt (HJb 28/1992-1993, 248); Hölderlins zunächst auffälligste Korrektur betrifft die exakte Benennung desrätselhaften»Fund[s]«: es handelt sich um »das Deutsche«. (Der »Fund« - ein Hinweis, den ich Gerhard Kurz verdanke - kann nach dem Grimmschen Wörterbuch, Bd. 4, Sp. 531, auch »dichterische erfindung« heißen, was die späte Auflösung begreiflicher erscheinen läßt.) Damit wird zugleich eine Opposition innerhalb der Strophe deutlich, die vorher kaum erkennbar war: die Linie von der bloßen »Stimme« zur Sprache, die freilich noch »gespart« bleibt. Sie ist das Integral für Junge und Alte und das Medium eines Vorlands, der eigentlichen Heimat, für das die Mutterstadt mehr nicht als Vorform sein kann. »Aber die anderen nicht«: Wird hier wieder der Befund der sozialen Isolation erhoben, der in den Briefen an den Bruder öfter angesprochen wird, die Unfähigkeit des Dichters Hölderlin, anders denn nach Maßga115
be einer Idee mit seinen Mitmenschen umgehen zu können? Aber die Differenz der Sorge bezeichnet hier kein kategorisches Zerwürfnis, keinen Rückfall in die Monadengesellschaft, vielmehr konturiert sie die Rolle des Sängers in einer Gemeinschaft, deren individualisierte Teile im Zeichen des Friedens zusammenwirken können. Der kurze Frieden von Lunéville hatte Hölderlin die Hoffnung auf einen endgültigen Frieden und eine endgültige >Heimkunft< in eine gens aurea vermittelt, in der sich die Transsubstantation des Himmlischen sich nicht mehr symbolisch, durch Brot und Wein, vollziehen würde, sondern in der es real »in die Adern alle des Lebens« geteilt sein würde; der historische Frieden hatte ihn zugleich darum betrogen.
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Langer Umweg nach Nürtingen Hölderlins Briefe an Böhlendorff
Die beiden Schreiben, die Hölderlin am 4. Dezember 1801 und im November 1802 formulierte, stellen den letzten groß angelegten Versuch einer Selbstdeutung dar, der Werk und Schicksal des Dichters gleichzeitig zum Gegenstand hat. Nach Thema und Leitvorstellungen gehören die Briefe - trotz des knappen Jahres, das zwischen ihrer Niederschrift liegt - eng zusammen. Sie sind in der Hauptsache mit dem Verhältnis der modernen Kunst und Literatur zu derjenigen der Griechen befaßt, beschäftigen sich mit der Position des »Eigenen, Nationellen« gegenüber dem »Fremde[n]« (VI, 433) der Antike. Doch ist das erste Schreiben als theoretische Reflexion gehalten, das zweite als pathetisch vorgetragener Erfahrungs- und Reisebericht. Hölderlin spricht darin nicht mehr über die Kunst, sondern von sich als »Künstler« (VI, 433). Der Aufenthalt in Frankreich, die »Erschütterungen und Rührungen der Seele« (ebd.), denen er im Ausland und später in seiner »Vaterstadt« (ebd.) - namentlich durch den Tod Susette Gontards - in dem Jahr zwischen den beiden Briefen ausgesetzt war, finden sich im zweiten Schreiben weitgehend analog zur Programmatik des ersten gedeutet. Beide Briefe sind nicht originalschriftlich erhalten. Aber während das Schreiben vom 4. Dezember 1801 in einer Abschrift Sinclairs vorliegt, an deren Zuverlässigkeit, von orthographischen Eigenwilligkeiten abgesehen, zu zweifeln kein Grund besteht, ist vom zweiten nur die Entwurfsfassung in Abschriften und Regesten von Christoph Theodor Schwab und Gustav Schlesier erhalten. Beide Schreiben hat Hölderlin in Nürtingen verfaßt - das eine kurz vor seiner Abreise nach Bordeaux, das andere längere Zeit nach seiner Rückkunft, im Herbst, jedenfalls spätestens in der zweiten Hälfte des November 1802 (vgl. VI, 1086). Die Antwort Böhlendorffs vom 2. Dezember 1802 ist gleichfalls nicht originalschriftlich erhalten, sondern wiederum nur als Regest Schlesiers: Dankt für Hölderlins Brief und begrüßt den Heimgekehrten ins Vaterland. - Erbittet sich Beiträge für sein nächstes Taschenbuch. Er will das nächste Mal seine Wahl noch sorgfältiger beschränken. (VII.2, S. 175).
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Es ist kaum glaublich, daß der Freund in Berlin auf die umfänglichen philosophischen Notate Hölderlins mit keinem anderen Worte als einem konventionellen Willkommensgruß eingegangen sein soll. Aber Schlesier hatte schon den Brief Hölderlins für wenig überlieferungswürdig gehalten und sich mit dem Bemerken: »Schreiben mit allen Zeichen der Geistesverwirrung« (VI, 1087) von den Mühen der Zusammenfassung dispensiert; es ist daher naheliegend, daß er Böhlendorffs Replik ebenfalls auf das in seinen Augen Bemerkenswerte verkürzt hat. Und das ist, wie man oben sieht, nicht viel. Es ist durchaus möglich und wurde von der älteren Forschung sogar mit Bestimmtheit angenommen, daß sich Hölderlins Psychose spätestens seit der Rückkunft aus Bordeaux deutlich entfaltet hat. Mehrere Zeugen, unter ihnen Schelling und Matthisson, haben dem Rückkehrer - übrigens nicht ohne eine gewisse Lust an der dramatischen Schilderung - Wahnsinn attestiert. Andere wie der Stuttgarter Freund Landauer haben sich zurückhaltender geäußert und Hölderlins Verhalten als Reaktion auf die Lebenskatastrophe verstanden, die der Tod Susette Gontards im Juni 1802 für ihn bedeutet hat. Wie auch immer: Es gibt verschiedene Indizien, die in Richtung einer psychotischen Episode weisen. Sie sind hier nicht das Thema. Denn anders als Schlesier und selbst noch, wenngleich vorsichtiger in der Formulierung, Adolf Beck meinen, findet sich für die Ferndiagnose Schizophrenie auch im zweiten Schreiben an Böhlendorff kein Anhaltspunkt. »Zeichen erlahmender Kraft im sprachlichen Ausdruck tiefer Einsichten und in der gedanklichen Entfaltung der Intuitionen«, die in den Augen Becks »wohl unverkennbar« (VI, 1086) scheinen, mögen vollständig auf die Tatsache zurückgehen, daß Hölderlins Schreiben an Böhlendorff eben nicht als Brief, sondern als Entwurf zu einem Brief überliefert ist; seine Auffälligkeiten wären also zunächst nicht psychologisch, sondern textkritisch zu begreifen. Uber Hölderlins Verhalten zum Adressaten der beiden Briefe ist nicht viel bekannt. Der 1775 in Mitau geborene Casimir Ulrich Böhlendorff war 1799 seinem Freund Muhrbeck nach Homburg gefolgt, wo sich die beiden Männer dem Kreis um Sinclair anschlossen und Hölderlin sie kennenlernte. Aus der Bekanntschaft wurde rasch eine Freundschaft. Bereits im Mai heißt es in einem Brief Böhlendorffs an einen Bekannten: Ich habe hier einen Freund [Sinclair] der Republikaner mit Leib und Leben ist auch einen anderen Freund, der es im Geist und in der Wahrheit ist, die gewiß, wenn es Zeit ist, aus ihrem Dunkel hervorbrechen werden; der lezte ist Dr Hol-
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derlin, der Verfasser des Hyperion, einer Schrift, die Epoche zu machen, im tiefsten Sinne verdient [...] (VI, 572)
Der als Lyriker und Dramatiker dilettierende Böhlendorff dürfte in Hölderlin sein schriftstellerisches Vorbild gesehen haben; jedenfalls hält er den Kontakt über seine Abreise hinaus. Im November 1801 übersendet er Hölderlin seine soeben erschienene dramatische Idyllec »Fernando oder die KunstweiheWirFernando< Hölderlins Überlegungen zum Verhältnis von griechischer und moderner Kunst. Übrigens hat Adolf Beck schlüssig nachgewiesen, daß Hölderlin das Drama kaum mehr als flüchtig gekannt haben kann und besonders den Schluß »nicht gelesen oder verstanden hatte« (VI, 1076f.). Er beschränkt sich darauf, das Kernthema des Stücks - Fernandos Streben nach künstlerischer Vollkommenheit - aufzugreifen und »benutzt [...] das Werk als bloße Grundlage« (VI, 1076f.). Wiederum ist also nicht der sachliche Bezug von Interesse, sondern die kommunikative Geste,
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das fingierte Gespräch unter Freunden, in dem der Autor seine Gedanken darlegt. Auch der letzte Teil vor dem Abschiedsgruß sucht den engen Anschluß sowohl an den Freund wie an die vorangegangenen Erwägungen. Hölderlin spricht von sich und kündigt einen längeren Brief über das an, »was ich treibe und bringen werde« (VI, 427). Aber auch dieses avisierte Schreiben steht ausdrücklich im Zeichen der Gemeinschaftlichkeit und soll Rechenschaft darüber ablegen »wie weit ich Dein [Böhlendorffs] und meiner Freunde werth geblieben und geworden bin« (ebd.). Anschließend teilt der Autor seine bevorstehende Abreise nach Bordeaux und seinen augenblicklichen Zustand mit. Einiges aus dem theoretischen Teil des Briefes - das »Feuer vom Himmel« und das »Nationelle« kehrt nun in gebrochener Form wieder. Er erlebt das Gewitter als Zeichen Gottes und spricht zugleich seine Befürchtungen aus. Denn unter allem, was ich schauen kann von Gott, ist dieses Zeichen mir das auserkorene geworden. Sonst' könnt ich jauchzen über eine neue Wahrheit, eine bessere Einsicht deß, das über und um uns ist, jezt fürcht' ich, daß es mir nicht geh' am Ende wie dem alten Tantalus, dem mehr von Göttern ward, als er verdauen konnte. Aber ich thue, was ich kann, so gut ichs kann, und denke, wenn ich sehe, wie ich auf meinem Wege auch dahin muß wie die andern, daß es gottlos ist und rasend, einen Weg zu suchen, der vor allem Anfall sicher wäre, und daß für den T o d kein Kraut gewachsen ist (ebd.).
Theorie und Fatum erscheinen so in enger Verknüpfung. Und schließlich benennt der Absender noch seine persönlichen Bindungen an das »Vaterland«, sowohl in affektiver (»was hab' ich lieberes auf der Welt?« (VI, 427)) wie auch in normativer Hinsicht: Deutsch will und muß ich übrigens bleiben, und wenn mich die Herzens- und die Nahrungsnoth nach Otaheiti triebe (VI, 428).
Soviel zum Aufbau des Briefes. Doch was ihn berühmt werden ließ, ist nicht die Stringenz der Komposition, sondern die Radikalität seiner Thesen im theoretischen Teil. Hölderlin - der sich wie kaum ein anderer Dichter der deutschen Literaturgeschichte mit den Griechen befaßt hatte - nennt es nun gefährlich, sich die Kunstregeln einzig und allein von griechischer Vortrefflichkeit zu abstrahiren. Ich habe lange daran laborirt und weiß nun, daß außer dem, was bei den Griechen und uns das höchste seyn muß, nemlich dem lebendigen Verhältnis und GeschikjWir nicht wohl etwas gleich mit ihnen haben dürfen (VI, 426).
Die Bedeutung, die in dieser Abkehr vom normativen Ideal der griechischen Antike und damit von der Ästhetik des deutschen Klassizismus 120
liegt, ist unumstritten. Jedoch wäre es falsch, in dem Absatz ein glatte Absage an die Alten oder auch nur an die Maximen des Klassizismus im Gefolge Winckelmanns zu sehen. Vielmehr denkt Hölderlin Winckelmanns Thesen konsequent zu Ende. Diese Behauptung wird schwer verständlich bleiben, solange man die 1755 erschienene Schrift des Kunsthistorikers - >Gedanken über die Nachahmung der griechischen Wercke in Mahlerey und Bild-Kunst< nur auf ihre dekrethaft am Anfang stehende Empfehlung zusammenschnurren läßt: »Der einzige Weg für uns groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten« (S. 6). Denn entgegen einem weitverbreiteten Vorurteil ist Winckelmann gerade nicht der autoritäre Schulmeister, der Mann des Dekrets und des >Du sollstWeilDaher< und >Deshalbepischeren< Tones verlebendigen will. Nach Diktion und Perspektive ist der zweite Böhlendorff-Brief vom ersten grundsätzlich verschieden. Dies mag - wie bereits besprochen darauf zurückführen, daß der Brief vom November 1802 wahrscheinlich nur in einer Entwurfsfassung überliefert ist. Doch ist fraglich, ob das abgesandte Schreiben entscheidende stilistische Unterschiede gegenüber dem Entwurf aufgewiesen hat. Denn auch die wenigen Briefe, die nach 1802 noch geschrieben wurden bzw. erhalten sind, zeigen dieselbe Tendenz zu kurzen, kaum modulierten Absätzen, zu sentenzenhaft verschlossenen Formulierungen, zur Verweigerung des intimen Tons, wie sie den Novemberbrief an Böhlendorff charakterisieren. Darin jedoch »Zeichen der Geistesverwirrung« oder auch nur »erlahmender Kraft im sprachlichen Ausdruck tiefer Einsichten« usw. erkennen zu wollen, ist zumindest voreilig. Die Urteile erstaunen umso mehr, als sich die Kommentatoren gar nicht erst die Frage vorgelegt zu haben scheinen, ob der so offensichtlich veränderte Stil Hölderlins nicht auch auf den literarischen Willen des Autors zurückgehen könnte. Im Herbst und Winter 1802 arbeitete Hölderlin an der Hymne >PatmosPatmos< setzt - ungewöhnlich genug für ein Gedicht um 1800 - mit Thesen ein: Nah ist Und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. (Π, 165)
Auf die paradoxen Behauptungen folgt dann der abrupte Bildwechsel in eine Alpenlandschaft, der die Aussagen des Strophenbeginns keineswegs nur illustriert:
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Im Finstern wohnen Die Adler und furchtlos gehn Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg Auf leichtgebaueten Brüken. (Π, 165).
Die beiden Versblöcke haben zunächst nichts weiter gemein als ihre entschiedene Diktion, in der das Unselbstverständliche ohne erkennbaren Zweifel statuiert wird. >Patmos< ist hier nicht weiter zu besprechen. Doch stellt die auffällige stilistische Verwandtschaft von Gedicht und Brief doch wohl mehr als eine bloße Zufälligkeit dar. Sie erstreckt sich bis in den Satzbau, der wie die Hymnensprache auf umständliche Nebensatzkolonnen weitgehend verzichtend - Ungleichartiges in Formulierungen von protokollarischer Nüchternheit aneinanderreiht. So gleich der erste Absatz: Ich habe Dir lange nicht geschrieben, bin indeß in Frankreich gewesen und habe die traurige einsame Erde gesehn [...] (VI, 164).
Keine Entschuldigung, keine Uberleitung, kein erläuterndes Wort: stattdessen die Konzentration auf das >WasHeimkunftBoehlendorff